Wo sich Amerika erfand
Große Erinnerungsorte in Neuengland
1007
2015
978-3-7720-5576-8
978-3-7720-8576-5
A. Francke Verlag
Arno Heller
Neuengland ist eine Region im äußersten Nordosten der USA, etwa halb so groß wie Deutschland, mit 15 Millionen Einwohnern in sechs Bundesstaaten, die weniger als ein Fünfzigstel des amerikanischen Territoriums ausmachen. Und doch schlägt hier das historische und kulturelle Herz der Nation. Nirgendwo wird das europäische Vorurteil eines geschichtslosen Amerika eindrucksvoller widerlegt als hier. Jeder Ort pflegt selbstbewusst mit Museen, Gedenkstätten und Denkmälern seine Geschichte und kulturellen Hervorbringungen. Dabei geht es nicht nur um die Weitergabe von Wissen und Traditionen, sondern immer auch um die Suche nach nationaler Identität.
Arno Heller erzählt die Geschichte der amerikanischen Selbst(er)findung auf überaus originelle Weise - bewusst nicht in Form einer historischen Übersicht, sondern anhand anschaulicher, spannender und auch kritisch hinterfragender Erkundungen von acht zentralen Gedächtnisorten der USA. In Wort und Bild wirft er einen neuen Blick auf die Keimzelle des amerikanischen Traums, auf Natur und Kultur, Literatur und Kunst, Geschichtliches und Kurioses, Tradition und Moderne.
<?page no="0"?> Wo sich Amerika erfand Arno Heller Große Erinnerungsorte in Neuengland <?page no="2"?> Wo sich Amerika erfand <?page no="4"?> Wo sich Amerika erfand Arno Heller Große Erinnerungsorte in Neuengland <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildungen Außen: Massachusetts State House, Boston (Aufnahme des Autors) Abbildungen rechts (von oben nach unten): Alte Wetterfahne (Aufnahme des Autors) Hexenfolklore in Salem (Aufnahme des Autors) Asher B. Durand, „Kindred Spirits“ (1849) (Crystal Bridges Museum of Art, Bentonville, AR) Slave Kidnap Poster (Boston, 1851, Aufnahme des Autors) Innen: Übersichtskarte Neuengland (Map Resources, Order 100010908 / Arno Heller) Basketball-Coach „Red“ Auerbach (Bronzeskulptur von Lloyd Lillie (1985) am Faneuil Hall Market in Boston, Aufnahme: privat) © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in the EU ISBN 978-3-7720-8576-5 <?page no="6"?> Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Plymouth-- wo alles begann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Salem-- Stadt der Hexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4. Boston-- Wiege der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 5. Hancock Shaker Village-- religiöser Exzeptionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6. Concord-- ein amerikanisches Weimar. . . . . . . . . . . . . . . 168 7. New Bedford und Mystic Seaport-- Herman Melvilles Walkosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 8. Lowell - Aufstieg und Scheitern einer industriellen Utopie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 9. Hartford - Mark Twain als Connecticut Yankee . . . . . . . 273 10. Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 11. Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Konsultierte Werke-- eine Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 <?page no="8"?> Vorwort 7 Vorwort Das vorliegende Buch möchte das geschichtliche und kulturelle Selbstverständnis der USA, wie es sich von seinen Anfängen im frühen 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart entwickelt hat, einem amerikainteressierten Lesepublikum auf erzählende Weise nahe bringen. Dies geschieht nicht in der Form eines historischen Überblicks, sondern anhand anschaulicher, zuweilen kritisch hinterfragender Erkundungen der großen Erinnerungsorte Neuenglands, wo sich entscheidende Phasen dieses Selbstfindungsprozesses vollzogen. Die kleinste und geschichtsträchtigste Region der USA mit ihren 15 Millionen Einwohnern und sechs Bundesstaaten im äußersten Nordosten-- Massachusetts, Connecticut, Rhode Island, Vermont, New Hampshire und Maine-- ist etwa halb so groß wie Deutschland und umfasst weniger als ein Fünfzigstel des amerikanischen Territoriums. Aber es ist das Ursprungsgebiet der amerikanischen Nation und geographisch Europa ähnlicher als die Prärien, Wüsten und Gebirge im Westen. Die zerklüfteten Küsten und kleinen Fischer- und Hummerorte am Atlantik, die grünen Hügellandschaften und schmucken Dörfer im Landesinneren und die riesigen, im Herbst farbenprächtigen Laubwälder, Seen- und Gebirge im bevölkerungsarmen Norden sind von eindrucksvoller Vielfalt. Der südliche Teil mit seiner pulsierenden Millionen- Metropole Boston ist hingegen dicht besiedelt und Industrialisierung und Urbanisierung haben überall tiefe Spuren hinterlassen. Kulturhistorisch ist es das Herzland der Region und steht im Mittelpunkt dieses Buches. Nirgendwo wird das europäische Vorurteil eines geschichtslosen Amerika eindrucksvoller widerlegt als hier, denn die Begeisterung der Neuengländer für ihre Vergangenheit stellt alles Vergleichbare in Europa in den Schatten. Fast jeder Ort pflegt mit Museen, Denkmälern und Gedenkstätten selbstbewusst seine Geschichte und seine kulturellen Errungenschaften. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung von Überlieferungen, sondern immer auch <?page no="9"?> 8 Vorwort um die Suche nach regionaler und nationaler Identität. In einem Land mit einer relativ kurzen Geschichte und einer heterogenen Bevölkerungsstruktur scheint das Streben nach historischer und kultureller Orientierung stärker ausgeprägt zu sein als anderswo. Das Fehlen jahrhundertelanger Traditionen zwang die Einwanderer, sich in ihrer besonderen Eigenart selbst neu zu „erfinden“ und zu definieren. Die „amerikanische Nation“, die von Neuengland ihren Ausgang nahm, beruht genau genommen auf ideologischen und kulturellen Konstruktionen, die jedoch für die Menschen, die sich mit ihnen identifizieren, längst zur Realität geworden sind. Im Mittelpunkt des Buches stehen acht zentrale Gedächtnisorte. Sie sind in vieler Hinsicht Bildungsstätten, an denen die nationale Selbstfindung in ihren Wesenszügen stattfand und immer noch stattfindet. Hier wirkten die frühen herausragenden Geistesgrößen der amerikanischen Literatur-- William Bradford, Nathaniel Hawthorne, Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Herman Melville, Emily Dickinson, Mark Twain-- und verliehen dem äußeren Werdegang eine innere Substanz. Wenn es dem Buch gelingt, die vielfältigen Aspekte zu einem Ganzen zusammenzufügen und den Lesern ein Sensorium für diesen faszinierenden Teil der Welt zu vermitteln, dann hat es sein Ziel erreicht. Ich danke allen, die mich bei den Recherchen und Forschungsaufenthalten für dieses Buch unterstützt und ermutigt haben. Gudrun Grabher, Sonja Bahn, Bernhard Nicolussi, Günter Steinacker und Franz Trenkwalder danke ich für die kritische Lektüre des Manuskripts, meiner Frau Monika für ihre Korrekturarbeit und wertvollen Ratschläge und meinem Sohn Matthias für die Mithilfe bei der digitalen Bilderstellung und Grafik. Arno Heller, im Sommer 2015 <?page no="10"?> Einführung 9 1. Einführung Neuengland als kulturgeschichtlicher Mikrokosmos der USA L iest man die Kapitel in ihrer Abfolge, dann fügen sie sich am Ende zu einem Gesamtbild zusammen. Jeder der acht Erinnerungsorte-- Plymouth, Salem, Boston, Hancock Shaker Village, Concord, New Bedford, Lowell und Hartford-- verkörpert auf jeweils verschiedene Weise und über den lokalen Kontext hinaus einen wichtigen Ausschnitt im Entwicklungsprozess Neuenglands von 1620 bis ins frühe 20. Jahrhundert: Exploration und Landnahme, Kolonialisierung, Revolution und Republikgründung, religiöser und kultureller Neubeginn, landwirtschaftlicher Niedergang, industrielle Revolution und Entindustrialisierung. Die vielen Querverbindungen zwischen den Kapiteln bilden ein Netzwerk geschichtlicher und kultureller Bezüge, die sich als roter Faden durch das Buch ziehen. An den beschriebenen Schauplätzen erschufen die Amerikaner die Grundlagen ihrer nationalen Identität und zelebrieren diese bis heute. Europäern mögen diese Orte zunächst nur Einblicke in einen vielschichtigen Kultur- und Geschichtsprozess vermitteln, mit dem sie weniger vertraut sind als vermutet. Darüber hinaus aber eröffnet das Gegenüber von Innen- und Außenperspektive ein tieferes interkulturelles Verständnis für die USA insgesamt und hinterfragt herkömmliche transatlantische Stereotypen und Vorurteile. Es war der englische Seefahrer und Explorer John Smith, der 1614 die Ostküste Amerikas erstmals kartographierte und ihr den Namen „Neuengland“ gab. „Von den vier unbewohnten Weltteilen, die ich gesehen habe,“ schreibt er in seinem Reisejournal, „würde ich hier lieber leben als irgendwo anders und, wenn es möglich wäre, eine Kolonie gründen.“ 1 Seine Berichte und Karten ermutigten eine Gruppe verfolgter, nach Holland geflüchteter englischer <?page no="11"?> 10 Einführung Kalvinisten zu dem Entschluss, in die Neue Welt auszuwandern. Als die 102 Passagiere der Mayflower am 11. November 1620 nach sechs Wochen stürmischer Atlantiküberfahrt in der Bucht von Cape Cod Zuflucht suchten, schlossen sie noch vor dem ersten Landgang den legendären Mayflower Compact. Es war ein Vertrag, in dem die separatistischen und weltlichen Auswanderer (pilgrims und strangers) übereinkamen, ihre Zukunft trotz weltanschaulicher Gegensätze gemeinsam zu bewältigen. Historiker haben den Pakt längst zum Urdokument der amerikanischen Demokratie erhoben, obwohl er in Wirklichkeit nur eine Art Lebensversicherungspolice in einer prekären Extremsituation war. Kurze Zeit später gründeten die Ankömmlinge am gegenüberliegenden Festland die Kolonie Plymouth Plantation (s. Kap. 2). Die Hälfte von ihnen starb in den darauffolgenden Monaten an Krankheiten und Mangelerscheinungen, während die übrigen mit Hilfe des benachbarten Indianerstammes der Wampanoag überlebten. Im November 1621 bedankten sie sich dafür mit einem gemeinsamen Erntedankfest. 242 Jahre später, am Höhepunkt des Bürgerkrieges erhob Präsident Lincoln Thanksgiving zum Staatsfeiertag. Alljährlich am vierten Donnerstag im November wird dieser mit Truthahn und pumpkin pie als das größte amerikanische Familienfest begangen. Für die Indianer jedoch ist es ein nationaler Trauertag, denn der Beistandspakt, den sie mit den Weißen schlossen, läutete ihren Untergang ein. Nach siebzig Jahren ging die Eigenständigkeit der Plymouth-Kolonie zu Ende, als sie von der mächtigen Massachusetts-Kolonie absorbiert wurde. Aber das Vermächtnis der „Pilger“ für die spätere amerikanische Nation blieb aufrecht. In der Zeit der frühen Republik wurde ihre Entschlossenheit, mit Gottvertrauen und harter Arbeit allen Widrigkeiten zum Trotz ein Gemeinwesen aufzubauen, zum mythisch überhöhten Leitbild der Nation. Plymouth Plantation ist das erste große Kapitel in der Gründungsgeschichte der USA, und das Freilichtmuseum, das an dieser Stelle errichtet wurde, hält die Erinnerung daran wach. <?page no="12"?> Einführung 11 Die auserwählte Nation Historisch gesehen war die Ankunft von über 20 000 von der anglikanischen Staatskirche unterdrückten englischen Puritanern zwischen 1629 und 1642 für die Zukunft Neuenglands ungleich wichtiger als Plymouth. Für die Puritaner bedeutete die Gründung einer theokratischen Kolonie in der neuen Welt den krönenden Höhepunkt ihrer Heilsgeschichte. Sie erhoben Boston als ihr „Neues Jerusalem“ zum Regierungssitz und benützten die nüchterne Geschäftscharter der Massachusetts Bay Company als Grundlage der kolonialen Selbstverwaltung. Die puritanischen Immigranten waren gottesfürchtige, kompetente und arbeitsame Geschäftsleute, Handwerker und Farmer, und materieller Wohlstand galt ihnen als sichtbares Zeichen göttlicher Erwähltheit. Ihre Arbeitsethik, Sittenstrenge und das rückhaltlose Streben nach persönlichem Erfolg wurden zum bis heute nachwirkenden puritanischen Erbe (Puritan Heritage) der Amerikaner. Im religiösen Bereich konnte sich das kongregationalistische Prinzip der Plymouth-Kolonie in Form eigenständiger und selbstverantwortlicher Kirchengemeinden durchsetzen. Das Zusammenleben verschiedener religiöser Gruppierungen auf engem Raum und die meeting houses in den Dörfern und Städten, wo nicht nur Gottesdienste, sondern auch die politischen Versammlungen abgehalten wurden, sind bis heute ein Wahrzeichen Neuenglands. Die Kehrseite der puritanischen Machtübernahme zeigte sich schon bald im Umgang mit der indianischen Urbevölkerung. Hatten die Pilgerväter mit dieser noch Verträge abgeschlossen, so gingen die puritanischen Kolonisten skrupelloser vor. Das Fehlen einer Vorstellung von festem Landbesitz bei den halbnomadischen Stämmen nahmen sie als Freibrief für ihre Besitzergreifung. Nach biblischem Befehl machten sie sich das Land untertan, gründeten Gemeinden, rodeten die Wälder und kultivierten das Land. Die zersplitterten indianischen Völker, die im King Philip’s War von 1675/ 76 viel zu spät Widerstand leisteten, mussten am Ende der weißen Übermacht weichen. Als Hindernis für den Fortschritt der christlichen Zivilisation wurden sie vertrieben und vernichtet, wo <?page no="13"?> 12 Einführung immer sie im Wege standen. In der Westeroberung des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelten sich Landraub und Gewalt gegenüber den Indianern zum allgemein praktizierten Handlungsprinzip. Das Erwähltheits- und Herrschaftsbewusstsein der Puritaner war die entscheidende Antriebskraft von Manifest Destiny, der von der göttlichen Vorsehung verheißenen Ausbreitung des amerikanischen Imperiums vom Atlantik bis zum Pazifik. In ihrer Geschichte haben sich die Amerikaner immer wieder als Garant einer neuen Weltordnung gesehen und suchten diese im Inneren und Äußeren mit missionarischem Eifer und-- wenn nötig-- mit Gewalt durchzusetzen. Dieses Bestreben trat immer dann besonders stark hervor, wenn sie sich von innen oder außen bedroht fühlten. Das spektakulärste frühe Beispiel dafür waren die Hexenprozesse von Salem des Jahres 1692 (s. Kap. 3). Die Angst vor Indianerangriffen und-- damit zusammenhängend-- einer drohenden Invasion aus dem französischen Quebec sowie interne Machtkämpfe und gegenseitige Verdächtigungen steigerten sich zur Massenhysterie. Satan, so warnten die puritanischen Prediger, habe sich gegen die christliche Kolonie verschworen, um sie zu Fall zu bringen. All dies führte am Ende zu einer Vernichtungsorgie, die in der nationalen Erinnerung eine Art Trauma hinterlassen hat. Über 350 Menschen wurden als Hexen und böse Zauberer angeklagt und vor Gericht gestellt, 150 eingekerkert und 20 hingerichtet. Nathaniel Hawthorne, der 150 Jahre später in Salem geborene, von Schuldgefühlen geplagte Nachkomme eines Hexenrichters, setzte sich mit den düsteren Ereignissen literarisch auseinander. Die bis heute gültigsten Schlussfolgerungen aus dem Geschehen zog jedoch Arthur Miller in seinem packenden Drama The Crucible (1952, dt. Hexenjagd). Darin begründet er den Hexenwahn als Folge einer kollektiven Paranoia und zieht Parallelen zur Kommunistenjagd der McCarthy-Zeit, aber auch zur Judenverfolgung der Nazis oder den politischen Säuberungen im Stalinismus. In den USA wurde die puritanische Aufteilung der Welt in Gut und Böse und die daraus abgeleitete moralische Verpflichtung, das vermeintlich Böse, wo immer man es zu finden glaubte, rigoros zu bekämpfen, zu einer Konstante politischen und <?page no="14"?> Einführung 13 gesellschaftlichen Handelns. Die variationsreiche Projektion des Bösen in ausgegrenzte und diskriminierte Gruppierungen-- von den Loyalisten der Revolutionszeit, den Indianern, Afro-Amerikanern und anderen ethnischen Minderheiten, über Immigranten und Kommunisten bis zu den „Terroristen“ der Gegenwart-- schuf immer neue Anlässe, die eigene, als unantastbar erachtete Identität zu bestätigen. Unabhängigkeit und Selbstbestimmung Der Erregung der Hexenprozesse folgte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Phase der Ernüchterung, aber auch des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums im Rahmen einer weitreichenden politischen Autonomie. Erst als nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges im Jahr 1763 Großbritannien daran ging, nach der Annexion des vormals französischen Kanada das Empire straffer zu verwalten und die entstandenen Kriegsschulden durch Importzölle und neue Steuern auf die Kolonien abzuwälzen, flammte der Widerstand gegen die Kolonialmacht auf. Boston wurde zum ersten Austragungsort der amerikanischen Revolution und stieg in der Folge zum Symbol des amerikanischen Strebens nach Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie auf. Der Freedom Trail in Boston, der dies dokumentiert, ist die größte historische Gedenkstätte der USA (s. Kap. 4). Die ungeheure Mythisierung und heroische Legendenbildung, die sich im Umkreis der revolutionären Ereignisse und des Unabhängigkeitskrieges herausbildeten, überdecken dabei bewusst oder unbewusst die ökonomischen Interessen, die das politische Geschehen ursprünglich anheizten. Einer Elite aus Bostoner Geschäftsleuten und Unternehmern, die um ihre Privilegien bangten, gelang es, die Mehrheit der Bevölkerung zum Widerstand gegen das britische Mutterland zu mobilisieren. Dass dieses „patriotische“ Verhaltensschema im Selbstverständnis vieler Amerikaner verankert blieb, zeigt sich heute unter anderem in den ultrakonservativen politischen Vorstellungen der Tea Party-Aktivisten am rechten Rand der republikanischen Par- <?page no="15"?> 14 Einführung tei. Wie die legendären Gründerväter wehren sie sich mit Zähnen und Klauen gegen Steuern und Big Government, d. h. die Einmischung des Staates in Wirtschaft und Privatleben. Auch die amerikanische Verfassung, die 1787 die Unabhängigkeitsbewegung abschloss und seitdem zu einer unantastbaren nationalen Ikone geworden ist, war im Grunde das Produkt einer „Gegenrevolution“ der mächtigen sozio-ökonomischen Oberschicht. Sie schränkte die von der Declaration of Independence verkündeten basisdemokratischen Freiheiten durch ein kompliziertes System von Elektoraten, Vetorechten und Mehrheitsklauseln (checks and balances) ein und verminderte damit den direkten Zugriff des Volkes auf das politische Geschehen. Der eigentliche Sündenfall der Verfassungsgeber war jedoch der Ausschluss der afroamerikanischen Sklaven und anderer ethnischer Minderheiten vom demokratischen Prozess. Erst der konsequente Kampf schwarzer und weißer Bostoner Bürgerrechtskämpfer (abolitionists) gegen die Sklavenwirtschaft im Vorfeld des amerikanischen Bürgerkrieges bahnte der verfassungsrechtlichen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1862 den Weg. Diese sog. „Zweite Revolution“ machte Boston noch einmal zur Speerspitze von Freiheit und Demokratie. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Verfassung war die Verankerung der Religionsfreiheit als demokratisches Grundrecht. Die Trennung von Kirche und Staat setzte der Vorherrschaft des Puritanismus und seiner Unterdrückung religiöser Minderheiten ein Ende. Die Folge war eine ungeheure Individualisierung und Aufsplitterung der Religionsgemeinschaften. In ihrem Streben nach einem verinnerlichten Gottesverhältnis wandten sich die Gläubigen in großen Erweckungsbewegungen von den in ihrer Tradition erstarrten puritanischen Kirchen ab und gründeten eine Vielzahl evangelikaler Freikirchen und Sekten. Der große Einfluss religiöser Fundamentalisten auf Politik und öffentliches Leben in den USA wirkt bis heute nach und ist zu einem weiteren Charakteristikum des amerikanischen Exzeptionalismus geworden. Ein Musterbeispiel dieser Entwicklung waren die Shaker, eine der erfolgreichsten und am längsten bestehenden Sekten. Sie verstanden sich als Vorboten des tausendjährigen Reiches Gottes auf Erden nach der <?page no="16"?> Einführung 15 Wiederkunft Christi, gründeten autarke Gemeinschaften, praktizierten Zölibat und Besitzlosigkeit und schufen eine funktionale, noch heute modern anmutende materielle Kultur. Zwar lösten sich die Shaker bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend auf, aber ihr perfektionistisches Streben nach religiöser und ökonomischer Autonomie bildete einen wichtigen Neuaufbruch. Das Hancock Shaker Village am Westrand von Massachusetts, heute die wichtigste museale Gedenkstätte der Shaker, gibt Einblick in ihre Lebenswelt (s. Kap. 5). Vision und Realität im Transzendentalismus Die grundlegende Alternative zur über 200 Jahre vorherrschenden religiösen Orientierung Neuenglands bildete der Transzendentalismus. Er säkularisierte den liberalen, humanistisch und pantheistisch ausgeprägten Unitarismus und wurde zur spezifisch amerikanischen Ausprägung der Romantik. Von Concord, Massachusetts, ausgehend bewirkten die Transzendentalisten ab den 1830er Jahren einen tiefgreifenden geistigen Aufbruch und trugen zur Überwindung der europäischen Kulturdominanz in den USA bei (s. Kap. 6). Ihr Hauptvertreter Ralph Waldo Emerson, der 1832 sein Amt als unitarischer Pastor niederlegte, erhob die radikale Forderung nach individueller Selbstverwirklichung zur allgemeinen Lebensmaxime. Nur durch die Befreiung von religiösen und politischen Zwängen und die intuitive Einfühlung in die Natur, so argumentierte er, kann der Mensch zu seiner wahren Identität finden. Die bis heute nachwirkende, spezifisch amerikanische Ausprägung des Individualismus, seine Umsetzung in der sog. American Literary Renaissance und im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der USA wären ohne Emersons Breitenwirkung kaum vorstellbar. Emersons größter Schüler war Henry David Thoreau. Der gesellschaftliche Außenseiter, der sich über zwei Jahre in eine primitive Waldhütte außerhalb von Concord zurückzog, naturwissenschaftliche Feldforschungen und philosophische Studien betrieb und die- <?page no="17"?> 16 Einführung se in sein literarisches Werk einfließen ließ, hat in der Gegenwart eine erstaunliche Neubewertung erfahren. Über seinen Mentor hinausgehend weitete er das anthropozentrische Naturverständnis des Transzendentalismus zu einer ökozentrischen Lebenseinstellung aus. Thoreaus autobiographisches Hauptwerk Walden, or Life in the Woods (1854; dt. Walden oder das Leben in den Wäldern) hat ihn zum Urvater des Wildnismythos in aller Welt gemacht. Das Selbstverständnis der USA als Nature’s Nation in Literatur und Landschaftsmalerei sowie die Nationalpark- und Naturschutzbewegung erhielten von Thoreau entscheidende Anstöße. Über das Philosophische und Literarische hinaus waren die Transzendentalisten jedoch auch Pragmatiker und setzten sich mit den politischen und sozialen Problemen ihrer Zeit kritisch auseinander. Sie bekämpften die Sklavenwirtschaft und den politischen Imperialismus der USA gegenüber Mexiko und der indigenen Bevölkerung im Westen, verurteilten die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter und nahmen Elemente der späteren Frauenemanzipation vorweg. Sozialutopische Kommunen, wie etwa das von George Ripley in Concord gegründete Brook Farm-Experiment, konnten sich jedoch gegen die sich damals etablierenden kapitalistischen Tendenzen nicht durchsetzen. Emersons und Thoreaus konsequentes Eintreten für individualistische Lösungen und ihr Misstrauen gegenüber kollektivistischen Bestrebungen haben dazu beigetragen, dass der „Sozialismus“ fortan als „unamerikanisch“ abgestempelt wurde und in den USA keinen fruchtbaren Boden fand. Zweifel am amerikanischen Traum So tiefgreifend die Ideen der Transzendentalisten die amerikanische Kultur beeinflussten, so wenig konnten sie die wirtschaftlichen Zwänge des laissez faire-Kapitalismus und der Industrialisierung aufhalten. Ihre Vorboten zeigten sich schon in der Walfangindustrie, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wirtschaft Neuenglands dominierte. Die Hafenstadt New Bedford <?page no="18"?> Einführung 17 an der Südküste Neuenglands, von wo alljährlich an die 700 Walfangschiffe in die Weltmeere ausliefen, stieg zur Welthauptstadt des Walfangs auf, bis die Entdeckung des Petroleums im Jahr 1859 dem Boom ein Ende bereitete. Amerikas großer Schriftsteller Herman Melville, der als junger Seemann von New Bedford aus drei Jahre lang auf einem Walfänger die Weltmeere befuhr, hat in seinem Roman Moby-Dick (1851) dieser Epoche ein einzigartiges Denkmal gesetzt. Auf über 800 Seiten weitet er die Welt des Walfangs von seinen realistischen und ökonomischen Grundlagen ausgehend zu einem philosophischen Mikrokosmos aus. Der von Seinszweifel und existentieller Angst überschattete Roman gilt heute als kühner Vorgriff auf die Moderne und als Gegenpol zum optimistischen Fortschrittsglauben Amerikas. Mit seiner pessimistischen und labyrinthischen Diktion stieß er bei den Zeitgenossen auf wenig Verständnis, traf jedoch umso mehr den Lebensnerv des modernen Menschen im 20. Jahrhundert. Melville wurde zu einem der großen Vorläufer einer skeptischen und selbstkritischen Geisteshaltung im amerikanischen Selbstverständnis. Die Gedenkstätten, die heute in New Bedford an ihn erinnern, vor allem das großartige New Bedford Whaling Museum und das maritime Freilichtmuseum von Mystic Seaport in Rhode Island, locken alljährlich zehntausende Literatur- und Kulturbegeisterte an (s. Kap. 7). Um die Jahrhundertmitte eröffnete die rapid fortschreitende Westexpansion einen riesigen Binnenmarkt, führte den Niedergang der Landwirtschaft in Neuengland herbei und bahnte der Industriellen Revolution den Weg. Überall sprangen Industrieanlagen aus dem Boden und verdrängten die vormaligen Farmen, Dörfer und Kleinstädte. Dieser tiefgreifende Wandel begann in Lowell, Massachusetts (s. Kap. 8), wo in den 1820er Jahren der Bostoner Unternehmer Francis C. Lowell im Zusammenwirken mit einer Gruppe von Finanziers einen Riesenkomplex mechanisierter Textilfabriken nach englischem Vorbild errichtete. Seine Absicht war, dem monströsen sozialen Elend des „Manchester-Industrialismus“ eine nicht nur profitable, sondern auch humane amerikanische Alternative entgegenzustellen. Zehntausende Farmerstöchter, die <?page no="19"?> 18 Einführung durch den Verfall der Landwirtschaft beschäftigungslos geworden waren, fanden in den neuen Textilfabriken gut bezahlte Arbeit und menschenwürdige Unterkünfte. Das „noble Experiment“, das wegen seiner Fortschrittlichkeit von aller Welt gepriesen wurde, scheiterte jedoch schon nach wenigen Jahren an wachsendem Konkurrenzdruck, Lohndumping und der Masseneinwanderung billiger Arbeitskräfte aus Irland und anderen Ländern. Der Geist rücksichtsloser Profitmaximierung setzte sich durch, und die legendären Mill Girls mussten das Feld räumen. Proletarisierung, Arbeitskämpfe, Streiks, Fabrikschließungen und die massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften in den Süden und Westen mündeten schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den industriellen Kollaps. Der Initiative engagierter Bürger und der von ihnen durchgesetzten Gründung eines Industrie-Nationalparks ist es zu verdanken, dass Lowell nicht wie die meisten anderen Industrieorte Neuenglands zu einer Geisterstadt wurde. Heute ist der Lowell National Historical Park mit seinen restaurierten Fabrikanlagen, Kanälen und „Interpretationszentren“ ein einzigartiger industriehistorischer Museumskomplex. Sein Anliegen ist es, die industrielle Entwicklung in den USA und die ideologischen, ökonomischen und sozialdarwinistischen Kräfte, die sie antrieben und zum Teil immer noch antreiben, zu dokumentieren und öffentlich zur Diskussion zu stellen. Mark Twain scheint auf den ersten Blick nicht in den Kontext dieser Entwicklungen zu passen. Dennoch geben sein bewegtes Leben, sein luxuriöses Haus in Hartford, Connecticut, und sein finanzielles Scheitern Anlass zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensrealität Neuenglands im ausgehenden 19. Jahrhundert an. Twain, der sich 1871 als aufsteigender, aus Missouri stammender Schriftsteller im vornehmen Villenviertel Nook Farm in Hartford niederließ, heiratete eine reiche Millionärstochter, baute ein prächtiges Haus und häufte mit seinen erfolgreichen Romanen und humoristischen Vortragsreisen ein Vermögen an. Risikoreiche Finanzspekulationen und die Fehlinvestition in eine technisch revolutionäre Setzmaschine beendeten jedoch seine Glückssträhne und brachten ihn an den <?page no="20"?> Einführung 19 Rand des finanziellen Ruins. 1891 verließ Twain als gescheiterter Geschäftsmann mit seiner Familie das unerschwinglich gewordene Haus und bemühte sich über ein Jahrzehnt, im billigeren Europa seine Finanzen zu sanieren. Vor seiner Abreise veröffentlichte er den Roman A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (1888; Ein Yankee an König Artus’ Hof), eine Art Schwanengesang auf das Neuengland seiner Zeit. Der Romanheld, ein typischer Connecticut Yankee, versucht auf einer Zeitreise von Hartford ins frühmittelalterliche England an den Hof von König Artus, die Segnungen des demokratischen, industrialisierten und kapitalistischen Neuengland in die Alte Welt zu verpflanzen. Aber sein missionarischer Eifer entlarvt sich am Ende als Schimäre und mündet in ein blutiges Massaker mit 25 000 Toten. Der bei seinem Erscheinen wenig erfolgreiche Roman hat in neuerer Zeit eine erstaunliche Aktualisierung erfahren. Mit hellseherischer Weitsicht scheint Twain jene Katastrophen und Niederlagen im 20. Jahrhundert vorausgeahnt zu haben, die die von den USA propagierte demokratische Neue Weltordnung in Vietnam, im Irak und anderswo erleiden musste. Nach seiner Rückkehr aus Europa und tragischen Todesfällen in der Familie verkaufte Twain sein Haus zu einem Spottpreis an einen Versicherungsunternehmer. 1969 erwarb ein Sponsorenkonsortium das heruntergekommene, vom Abriss bedrohte Gebäude und schuf mit dem Twain House das berühmteste Schriftstellermuseum der USA. Kulturhistorikern dient es heute als Musterbeispiel für das Gilded Age, jener Epoche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der das maßlose Streben nach materiellem Erfolg seinen ersten Höhepunkt erreichte und in der Folge scheiterte. Die Endphase dieses Prozesses verkörpern die Schätze, die superreiche Kunstsammler in ihren Privatmuseen anhäuften sowie die monströsen Paläste der Milliardäre in Newport, Rhode Island (s. Kap. 10). Hinter dem epigonalen Glamour der Prunkbauten, die heute die Touristenmassen begeistern, verbirgt sich stärker und symbolkräftiger als irgendwo anders in den USA die Übersteigerung und Hinfälligkeit des amerikanischen Traumes. <?page no="21"?> 20 Plymouth 2. Plymouth-- wo alles begann Vorgeschichte J edem amerikanischen Schulkind ist Plymouth, Massachusetts, ein Begriff. Es ist jener Ort, wo Ende November 1621 erstmals Thanksgiving, das beliebteste aller amerikanischen Familienfeste, gefeiert wurde. Zwar unterscheidet sich die kleine Küstenstadt 30 Meilen südlich von Boston mit ihren auf alt restaurierten Häusern, Motels und Touristenrestaurants kaum von anderen Orten Neuenglands, aber drei berühmte Wahrzeichen locken alljährlich hunderttausende Besucher an: Mayflower- II, Plymouth Rock und Plymouth Plantation. Der Mythos, der sich um sie rankt, gehört zur Gründungsgeschichte der USA. Das vielschichtige Geflecht aus Legenden, literarischen Texten, geschichtlichen Darstellungen, Bildern und Filmen und seine Protagonisten, die sog. Pilgrim Fathers, sind so erschöpfend erforscht und popularisiert worden, dass sich der Unmenge des Geschriebenen und Dargestellten kaum noch etwas hinzufügen lässt. Dennoch stößt man in der aktuellen Geschichtsforschung immer wieder auf wenig bekannte Details, die den Mythos in ein neues Licht stellen. So erweist sich schon die Bezeichnung „Pilgerväter“ bei näherem Hinsehen als fragwürdig, denn die Passagiere der Mayflower hatten gar nichts Väterliches an sich. Sie waren im Durchschnitt nicht älter als 35 Jahre, und nannten sich schlicht pilgrims oder saints, um sich von den strangers, d. h. der „weltlichen“ Hälfte der Auswanderer auf der Mayflower, abzugrenzen. Erst im 19. Jahrhundert erhob sie der populäre Mythos zu nationalen „Gründervätern“, die durch Fleiß und harte Arbeit das Wohlgefallen Gottes errangen und sich der jungen Republik als willkommenes Ideal anboten. 1 Im alten Hafen von Plymouth liegt die Mayflower II vor Anker, der geschichtsgetreue Nachbau jenes Segelschiffes, das die Pilgerväter im Jahr 1620 auf einer stürmischen sechswöchigen Überfahrt in <?page no="22"?> Plymouth 21 die Neue Welt brachte. Der Legende nach betraten diese am 20. Dezember auf einem Felsen am Sandstrand erstmals das amerikanische Festland. Heute erinnert an dieses Ereignis die pompöse Gedenkstätte von Plymouth Rock, ein neo-klassizistischer Tempel, der 1880 an der vermeintlichen Stelle errichtet wurde. Die berühmte Chronik Of Plimoth Plantation (1647), die William Bradford, der erste Gouverneur der Kolonie, schrieb, erwähnt die Felsplatte allerdings mit keinem Wort. Sie wurde erst 1841 ausgegraben, um dem neu gegründeten Pilgrim Hall-Museum als Touristenattraktion zu dienen, bevor sie später an den ursprünglichen Ort zurückgebracht wurde. Auch die legendären Darstellungen der an Land gehenden Pilger mit wallenden Gewändern und schwarzen Spitzhüten sind Fantasieprodukte. In Wirklichkeit waren es fünf ruppige junge Männer-- Bradford und vier Seeleute -, die den Strand betraten, um einen geeigneten Ort für eine künftige Siedlung auszukundschaften. Von der Kolonie, die in den darauffolgenden Monaten an der Plymouth Rock-Gedenkstätte <?page no="23"?> 22 Plymouth Stelle der heutigen Stadt Plymouth entstand, ist heute so gut wie nichts mehr vorhanden. Plimoth Plantation-- die alte historische Schreibweise wird im folgenden nur für die Museumsanlage selbst beibehalten-- wurde um die Mitte des 20. Jahrhunderts drei Meilen weiter südlich auf jener Anhöhe errichtet, wo sich einst die indianische Siedlung Patuxet befand. 2 Plymouth war keineswegs der erste Ort in Nordamerika, wo sich Europäer auf Dauer niederließen. Schon 1540 hatten die Spanier von Mexiko aus den Südwesten erkundet und den Aufbau einer Kolonialprovinz mit der Hauptstadt Santa Fe in die Wege geleitet. St. Augustine, Florida, die erste spanische Siedlung an der Atlantikküste, entstand 1565. 1603 erkundete der französische Explorer Samuel de Champlain die nordamerikanische Ostküste und gründete 1608 Quebec als Stützpunkt für eine französische Kolonie in Kanada. Henry Hudson befuhr 1609 als Erster den später nach ihm benannten Fluss und bereitete die Gründung von New Netherland vor, einer holländischen Kolonie mit dem Hauptstützpunkt New Amsterdam im Bereich des heutigen Manhattan. Großbritannien hatte schon 1497 durch die Entdeckungen des Seefahrers John Cabot seinen Besitzanspruch auf Nordamerika angemeldet. 1585 erkundete der englische Seefahrer Sir Walter Raleigh mit mehreren Expeditionsschiffen die amerikanische Atlantikküste und nannte sie zu Ehren der jungen Königin Elizabeth I. „Virginia“. Aber erst der Sieg über die spanische Armada im Jahr 1588 bahnte den Weg zu Englands transatlantischer Kolonialpolitik. 1607 gründete Kapitän John Smith im heutigen Staat Virginia Jamestown, die erste britische Kolonie. 1614 brach er zu einer zweiten Expeditionsfahrt auf, erforschte und kartographierte den nördlichen Abschnitt der amerikanischen Ostküste und gab ihr den Namen New England. In seiner Description of New England; or; Observations and Discoveries in North America (1616) preist er das fruchtbare, fisch- und waldreiche Land im Norden für die Gründung einer britischen Kolonie als hervorragend geeignet. 3 Schon bald danach überquerten englische Kabeljau-Schiffe alljährlich den Atlantik und errichteten Stützpunkte entlang der Küste bis hinauf nach Maine. 4 <?page no="24"?> Plymouth 23 Die Virginia Company unter Führung von Sir Ferdinando Gorges, in dessen Auftrag Kapitän Smith seine Unternehmungen durchführte, war eine private, profitorientierte Handelsgesellschaft im Dienst der britischen Krone. Wie andere Kolonialgesellschaften dieser Zeit setzte sie sich aus Entrepreneuren, Aktionären, Kaufleuten und adeligen Regierungsbeamten zusammen und besaß das königliche Privileg, Freibriefe (charters) an künftige Kolonisten zu vergeben. Sie finanzierte und organisierte die Schiffstransporte über den Atlantik und versorgte die neu gegründeten Kolonien mit Nachschub an Waren und Gütern aus dem Mutterland. Als Gegenleistung mussten sich die Kolonisten auf viele Jahre verpflichten, den Investoren die Kosten und Zinsen für die geleisteten Dienste in Form von Naturalien zurückzuzahlen. 5 Die „Pilger“ lebten in dieser Zeit als religiöse Dissidenten im holländischen Exil und dachten zunächst nicht an eine Auswanderung in die Neue Welt. Sie gehörten einer radikal kalvinistischen Reformbewegung an, die sich unter dem Einfluss des Reformators Robert Browne am Beginn des 17. Jahrhunderts von der anglikanischen Staatskirche abgespalten hatte. Eines ihrer Zentren war Scrooby in Nottinghamshire, wo eine Gruppe strenggläubiger „Separatisten“ eine illegale Untergrundgemeinde unterhielten. Zu ihren religiösen Prinzipien gehörten die Wahl der Prediger und Gemeindevorsteher, die Ablehnung jeder Form klerikaler Hierarchie sowie die Eliminierung aller vom Katholizismus herrührenden Zeremonien und Bräuche. Bei der staatskirchlichen Obrigkeit unter König James I. stießen ihre als sektiererisch erachteten Ideen auf heftige Ablehnung. Man brandmarkte sie als Häretiker, erklärte ihre Kongregationen für illegal und verjagte die Prediger aus ihren Ämtern. Auch die Gemeindevorsteher von Scrooby, unter ihnen William Brewster, wurden verfolgt und mit Kerker bedroht. Um sich der Repression zu entziehen, flohen die Gemeindeglieder mit ihren Familien 1609 in die religiös liberaleren Niederlande. 125 Exilanten gelangten über Amsterdam nach Leiden, dem Sitz von Hollands größter protestantischer Universität. Dort mussten sie sich in den Textilmanufakturen der Stadt oder als Handwerker eine neue Existenz aufbauen. Einige von ihnen, etwa der dynami- <?page no="25"?> 24 Plymouth sche junge William Bradford, konnten Fuß fassen und das Bürgerrecht erlangen, während andere weniger erfolgreich waren. Aber sie alle empfanden den Verlust ihrer vormals landwirtschaftlichen Existenz und die Anpassung an die laxere Lebensweise in der holländischen Fremde zunehmend als Bedrohung ihrer religiösen Identität. Als 1618 Brewster wegen der Veröffentlichung polemischer Pamphlete gegen die anglikanische Kirche ins Visier englischer Agenten und der holländischen Behörden geriet, fasste er den Entschluss, zusammen mit einigen Familien nach Nordamerika auszuwandern, um dort ein „Neues Jerusalem“ zu errichten. 6 Die Pilger kannten Smiths Berichte und Karten, aber da sie sich nicht zu einem Instrument der britischen Kolonialpolitik machen lassen wollten, weigerten sie sich zunächst, die Dienste der Virginia Company in Anspruch zu nehmen. Die Kolonie von Jamestown mit ihren anglikanischen „Kavalieren“ kam für sie aus religiösen Gründen von vorne herein nicht in Frage. Als der Versuch scheiterte, ein holländisches Kolonialpatent zu erlangen, gerieten sie in große Bedrängnis. Die angespannte Situation nützte der Londoner Unternehmer Thomas Weston geschickt aus. Im Namen von 70 englischen Investoren (adventurer merchants) im Umkreis der Virginia Company trat er an Brewster heran und gewann ihn und seine Gefährten für ein Kolonisierungsprojekt südlich des Hudson River. Eine Plymouth Charter wurde abgeschlossen, die auswanderungsbereiten Separatisten verkauften ihren Besitz und erwarben den 60-Tonnen-Segelfrachter Speedwell. Im Juli 1620 schifften sie sich nach tränenreicher Verabschiedung von ihren zurückbleibenden Glaubensgenossen in Delftshaven nach England ein. In Southampton stand die von Weston gecharterte Mayflower bereit und nahm die Pilgrims zusammen mit einer fast gleich großen Zahl von nicht-separatistischen Auswanderern auf. Im August stachen die beiden Schiffe in See, aber die Speedwell, die für den Fischfang in der Kolonie vorgesehen war, erwies sich nach 300 Seemeilen als hochseeuntauglich und musste nach Plymouth zurückgebracht werden. Am 6. September 1620 brach die Mayflower mit der reduzierten Zahl von 102 Passagieren und großer Verspätung endgültig auf. 7 <?page no="26"?> Plymouth 25 In den heftigen Herbststürmen driftete das Schiff nach Norden ab und erreichte nach 66 Tagen weit entfernt vom ursprünglich angestrebten Ziel die Küste Neuenglands. Ein Versuch, entlang der Küste nach Süden vorzustoßen, scheiterte an der rauen See und den gefährlichen Sandbänken. In der Bucht von Cape Cod fand die Mayflower schließlich Schutz vor den Meeresunbillen und ging an der Innenseite der langgezogenen Halbinsel vor Anker. 8 Das Abweichen vom vorgesehenen Reiseziel und damit von den Vertragsbedingungen der Charter stellte die Angekommenen vor eine schwierige Rechtssituation. Ein Pakt zwischen den Separatisten und den „weltlichen“ Strangers- - überwiegend kleine Gewerbetreibende, Ex-Soldaten und Abenteurer-- musste noch vor der Landnahme beschlossen werden. Die Männer der beiden Gruppierungen setzten sich zusammen und erarbeiteten ein für die damalige Zeit erstaunlich pragmatisches und zukunftsorientiertes Dokument. Um künftigen Gefahren und Aufgaben gewachsen zu sein, beschlossen sie, als Gruppe zusammenzubleiben und gemeinsam eine Kolonie aufzubauen. Diese sollte sich gemäß den separatistischen Prinzipien selbst regieren und ihre Führer frei wählen. Das Ungewöhnliche an diesem Pakt war, dass die Macht der künftigen Kolonie nicht mehr von einer äußeren Autorität, sondern von der Selbstverwaltung freier Männer ausging. In der Kapitänskajüte unterzeichneten die 41 Verantwortlichen das Dokument und wählten John Carver zum ersten Gouverneur. Obwohl die Vereinbarung eine von den Umständen erzwungene Notlösung war und Frauen und Unfreie von der Mitbestimmung ausgeschlossen Cape Cod <?page no="27"?> 26 Plymouth waren, gilt der Mayflower Compact heute als Ursprungsdokument der amerikanischen Demokratie. Dies ist sein berühmter Wortlaut: In Gottes Namen, Amen. Wir, deren Namen unterzeichnet sind, die getreuen Untertanen unseres erhabenen Herrschers König Jakob, durch Gottes Gnade König von Großbritannien, Frankreich und Irland, Hüter des Glaubens [...], die wir zu Gottes Ruhm, zur Ausbreitung des christlichen Glaubens und zur Ehre unseres Königs und Landes eine Fahrt unternommen haben, um die erste Kolonie in den nördlichen Teilen von Virginia zu gründen, kommen durch Gegenwärtiges feierlich und gegenseitig vor Gottes Angesicht und einander überein und verbinden uns zu einem bürgerlichen Gemeinwesen [civil body politic] zu unserer besseren Ordnung, Bewahrung und Förderung der vorgenannten Zwecke; und kraft dessen erlassen wir, setzen fest und entwerfen solche gerechte und billige Verordnungen, Akte, Satzungen und Ämter, von Zeit zu Zeit Gesetze, wie sie für am tauglichsten und zweckmäßigsten für das gemeine Wohl der Kolonie gehalten werden, welchen wir alle schuldige Unterwerfung und Gehorsam geloben. Zum Zeugnis dessen wir hier unsere Namen unterschrieben haben bei Cape Cod, den 11. November [...] Anno Domini 1620. 9 Überfahrt und Landnahme Der heute in Plymouth vor Anker liegende Dreimaster Mayflower II ist eine geschichtsgetreue Rekonstruktion der originalen, nicht mehr existierenden Mayflower aus dem Jahr 1606. Die Idee zum Nachbau kam 1947 von einem britischen Kriegsveteranen, der aus Dankbarkeit für den amerikanischen Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg die Freundschaft zwischen den beiden Nationen vertiefen wollte. Gebaut wurde das funktionsfähige Segelschiff 1955 von einem amerikanischen Schiffarchitekten in einer Werft in Devonshire, England. Ein Jahr später überquerte es in 55 Tagen den Atlantik, wurde 1958 vom Staat Massachusetts offiziell übernommen und in die Museumsanlage von Plymouth Plantation eingegliedert. <?page no="28"?> Plymouth 27 Das 30 Meter lange und acht Meter breite 180-Tonnen-Schiff wurde nach sorgfältig recherchierten historischen Vorlagen aus Eichenholz mit vollständiger Takelage nachgebaut. Die Kapitänskajüte und die Offiziersunterkünfte befanden sich in einem Holzaufbau oberhalb des Hecks, die Kombüse und die Kojen der 30-köpfigen Schiffsmannschaft im sog. forecastle am Bug, während Fracht, Vorräte und eine zerlegte Schaluppe im Schiffsbauch verstaut waren. Die 102 Passagiere- - 50 Männer, 19 Frauen, 14 Jugendliche und 19 Kinder-- wurden samt ihrem Reisegepäck in das klaustrophobisch enge, nur 1.50 m hohe und dunkle Zwischendeck gepfercht. Sie mussten selbst für ihre Ernährung sorgen, wobei Trockenbrot, Pökelfleisch, Wasser und Bier die tägliche Ration bildeten. Sie kochten und wärmten sich an kleinen Holzkohlefeuern, die den Raum mit beißendem Rauch füllten. Als während eines Sturms der Hauptmast brach und Wasser und Kälte durch die beschädigten Planken ins Zwischendeck eindrangen, erreichten die Qualen der Auswanderer ihren Höhepunkt. Wegen der feuchtkalten Umgebung, der stickigen Luft und der unzureichenden Ernährung erkrankte ein Großteil von ihnen an Lungenentzündung, Tuberkulose und Skorbut und starb in den Wintermonaten nach der Ankunft. Die 42 Pilger verbrachten die langen Tage und Nächte hauptsächlich mit Bibellesen, Gebeten und Gesängen und nervten damit ihre nicht-separatistischen Leidensgenossen. Spannungen und Streitig- Mayflower II <?page no="29"?> 28 Plymouth keiten zwischen den beiden Gruppen und die feindselig herablassende Haltung der Mannschaft trugen zum allgemeinen Unmut bei, so dass die Ankunft in Cape Cod als Erlösung gefeiert wurde: „Als sie in einem sicheren Hafen ankamen und an Land gebracht wurden,“ so berichtet Bradford, „sanken sie auf ihre Knie und dankten Gott, der sie über das unendliche, wilde Meer gebracht und sie von Elend und Gefahren befreit hatte.“ 10 Am 11. November 1620 betraten 16 Männer nahe der heutigen Stadt Provincetown erstmals Land. Die Küste, die vor ihnen lag, war karg und abweisend: endlose, windgepeitschte Strände und hohe Sanddünen, dahinter Wälder mit undurchdringlichem Dickicht, wenig Trinkwasser und ein unfruchtbarer sandiger Boden. Ein Erkundungstrupp unter William Bradford und Captain Miles Standish stieß auf indianische Grabhügel, abgeerntete Maisfelder, verlassene Rindenhäuser, und mit Mais und Bohnen gefüllte Vorratskörbe. Die wenigen Indianer, die sie zu Gesicht bekamen, flohen vor ihnen in wilder Panik. Bradford beschreibt die trostlose Situation mit folgenden Worten: Innenansicht der Mayflower 1 Kapitänskajüte 2 Offiziersmesse 3 Zwischendeck 4 Laderaum 5 Forecastle Sie konnten nichts anderes sehen als eine schreckliche und trostlose Wildnis voll mit wilden Tieren und wilden Menschen. Und wie groß deren Menge war, wussten sie nicht. [...] Das ganze Land, das mit Wäldern und Dickicht bedeckt war, machte einen wilden und unwirtlichen Eindruck. Und wenn sie hinter sich schauten, war da der mächtige Ozean, den sie überquert hatten und der sich <?page no="30"?> Plymouth 29 Auf einem ihrer Landgänge wurden die Männer von Indianern aus dem Hinterhalt mit Pfeilen beschossen und mussten sich in der Nacht in einem provisorisch errichteten Lager verschanzen. Der Ort in der Nähe von Eastham, an dem dies geschah, trägt bis heute den Namen First Encounter Beach. Die Lage war deprimierend, und jedes weitere Zögern angesichts des herannahenden Winters lebensbedrohlich. Heute ist Cape Cod einer der beliebtesten Ferienparks Neuenglands. Die Cape Cod National Seashore erstreckt sich über 64 Kilometer Länge von Chatam im Süden bis nach Provincetown im Norden. 1961 ließ Präsident Kennedy das Gebiet unter Naturschutz stellen. 1962 hatte sein Vater, der Multimillionär Joseph Kennedy, in Hyannis am Südrand der Halbinsel ein vornehmes Cottage erworben, das seitdem als Sommerresidenz des Kennedy-Klans dient. In Provincetown erinnert der 77 Meter hohe Turm des Pilgrim Memorial Monument und das Provincetown Museum mit eindrucksvollen Dioramen an die Ankunft der Pilger. Ansonsten ist die idyllische Kleinstadt, die einst berühmte Dramatiker wie Eugene O’Neill und Tennessee Williams beherbergte, eine Künstlerkolonie mit vielen Galerien und schicken Boutiquen. Nach der Rückkehr der Männer zur Mayflower wurden die Teile der mitgeführten Schaluppe eilends entladen, zusammengebaut, und ein 32-köpfiger Trupp zur Erkundung der Bucht ausgesandt. Nach längerer Suche stieß er auf jenen Ort, den Kapitän Smith 1614 unter dem Namen New Plymouth in seine Seekarte eingetragen hatte. Es war ein bewaldeter, zu einer Meeresbucht abfallender Hügel, umgeben von aufgelassenen Mais- und Kürbisfeldern und Wasser führenden Bächen. Die Ansammlung indianischer Behausungen, die sie vorfanden, waren schon seit längerer Zeit menschenleer. Wie sich später herausstellte, gehörten die vormaligen ca. 2000 Bewohner des Patuxet-Dorfes zum Stamm der Wampanoag. Von europäischen Seefahrern eingeschleppte Seuchen hatten sie zwischen 1616 und 1618 fast zur Gänze ausgelöscht. jetzt als großer Riegel und Abgrund zwischen ihnen und allen zivilisierten Teilen der Welt auftat. 11 <?page no="31"?> 30 Plymouth Die Pilger verstanden den tragischen Untergang der indianischen Bevölkerung, die leer stehenden Felder und gerodeten Wälder als ein Geschenk des Himmels und einen Beweis dafür, dass Gott für sein auserwähltes Volk Raum geschaffen hatte. Fünf Tage später ging die Mayflower im Hafen vor Anker und am Weihnachtstag 1620 begann die Entladung. Gleichzeitig wurden die Vorarbeiten und Planungen zum Bau einer Siedlung in Angriff genommen. Zuerst errichtete man ein 60 Quadratmeter umfassendes Gemeindehaus (common house), um die Kranken notdürftig unterzubringen. Sieben weitere Häuser für die auf dem Schiff ausharrenden Familien entstanden entlang einer zum Meer abfallenden zentralen Straße. Aus Furcht vor Indianerangriffen sicherte man die Siedlung am oberen Ende mit einer provisorischen Verteidigungsplattform (rendezvous) ab. Trotz des grimmigen Winters schritt der Ausbau des Dorfes zügig voran. Dennoch kam für die meisten an der great sickness Erkrankten jede Hilfe zu spät. 52 der 102 Kolonisten überlebten die Wintermonate nicht. Eine Handvoll Gesundgebliebener pflegte die Kranken und begrub die Verstorbenen in hastig ausgehobenen Gräbern. All dies musste heimlich bei Nacht geschehen, denn die Indianer, die die Vorgänge in der Plantation ständig beobachteten, mussten aus Sicherheitsgründen über das wahre Ausmaß der Katastrophe und die Zahl der Toten im Unklaren gehalten werden. 12 Ein unerwartetes Ereignis trat am 16. März 1621 ein, als ein Indianer unvermittelt Zutritt zur Siedlung verlangte und die Pilger in gebrochenem Englisch ansprach. Samoset, wie er sich nannte, war ein Angehöriger des Abenaki-Stammes, der 1619 mit einem englischen Kabeljauschiff von seinem Heimatort in Maine nach Massachusetts gekommen war. Kurze Zeit später brachte er Squanto, einen weiteren Indianer, ins Dorf mit, der noch besser Englisch konnte als er selbst. Wie sich herausstellte, war er der letzte Überlebende des nahe gelegenen Patuxet-Dorfes. Noch vor der großen Seuche hatte ihn 1614 ein Begleitschiff der Smith-Expedition unter Kapitän Thomas Hunt zusammen mit 27 anderen Indianern entführt und nach Malaga in Spanien gebracht. Dort wurde er als Sklave an ein Kloster verkauft, dessen Mönche ihn <?page no="32"?> Plymouth 31 zu „zivilisieren“ versuchten. Nach einigen Jahren wurde er freigelassen, gelangte nach England und konnte auf einem britischen Neufundland-Explorationsschiff in seine Heimat zurückkehren. Obwohl Squanto, wie man heute weiß, ein intrigantes Machtspiel mit den benachbarten Indianerstämmen trieb, war er für die Pilger eine Art „Himmelsbote“. Er diente ihnen als Kundschafter und Dolmetscher und stellte die Verbindung zu Massasoit her, dem obersten Wampanoag-Häuptling (sachem), der 40 Meilen südlich von Plymouth in Pokanoket seinen Wohnsitz hatte. Im März 1621 besuchte Massasoit in Begleitung von 60 Mann erstmals die Plantation. Die in voller Gesichtsbemalung, mit Pfeil und Bogen anrückenden Krieger und der würdevolle, groß gewachsene, in einem Pelzumhang gekleidete, mit Muschelperlen geschmückte Sachem hinterließen in Plymouth einen überwältigenden Eindruck. Der Häuptling hatte zwar in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Europäern gemacht, aber da sein von Epidemien stark reduzierter Stamm die Pilger als Verbündete gegen den verfeindeten Stamm der Narragansett im Süden brauchte, war er zur Kooperation bereit. Ein gegenseitiger Nichtangriffs- und Beistandspakt wurde beschlossen und den Kolonisten 48 Quadratkilometer Land zugesichert. Ob es sich dabei tatsächlich um eine Landabtretung handelte oder nur um eine zeitlich begrenzte Nutzungserlaubnis, wird von Historikern bis heute widersprüchlich diskutiert. 13 Jedenfalls vertiefte sich das gute Verhältnis zwischen Wampanoag und den Pilgern, als der todkranke Massasoit von ihnen gesund gepflegt wurde. Der Friede hielt erstaunlicherweise 50 Jahre lang. Am 5. April 1621 trat die Mayflower mit ihrer durch Todesfälle stark reduzierten Mannschaft die Rückreise nach England an. Nach dem plötzlichen Tod von Thomas Carver wurde Willliam Bradford zum neuen Gouverneur gewählt-- ein Amt, das er mit einer kurzen Unterbrechung bis zu seinem Tod im Jahr 1657 innehatte. Unter seiner umsichtigen Führung begann sich die Kolonie von den Entbehrungen und Verlusten des ersten Winters allmählich zu erholen. Von Squanto lernten sie den Fischfang, den Maisanbau mit Hilfe von Fischdünger, das Fallenstellen, das Sammeln von Beeren und Wurzeln, die Gewinnung von Ahornsirup und <?page no="33"?> 32 Plymouth vieles andere. Als im Herbst 1621 die Maisernte reichlich ausfiel und das erste Versorgungsschiff Fortune einlangte, schien die Gefahr des Verhungerns vorerst gebannt. Die Pilger feierten ein dreitägiges Fest, das über das in England übliche kirchliche Erntedankfest weit hinausging. Sie hatten ihre erste große Prüfung in der Neuen Welt bestanden und waren überzeugt, dass Gott ihre Bitten erhört und ihre Mühen belohnt hatte. Da sie wussten, dass sie ohne ihre indianischen Nachbarn kaum überlebt hätten, feierten sie das Fest vor allem als Dankeszeichen für die Wampanoag. Mais, Kürbisse, Truthähne, Enten, Gänse, von den Indianern beigesteuerte Hirsche sowie Aale, Hummer und wilde Pflaumen wurden in Hülle und Fülle aufgetischt. 14 Was in den populären Darstellungen und volkstümlichen Nachinszenierungen jedoch zumeist unterschlagen wird, ist, dass die 90 indianischen Krieger, die an den Spielen, Wettkämpfen und Essgelagen teilnahmen, den Kolonisten zahlenmäßig auf gefährliche Weise überlegen waren. Manche Historiker haben später die zur Schau getragene Friedfertigkeit über die tatsächliche Situation hinaus zu einem echten „The First Thanksgiving“ (1899)-- zwischen Geschichte, Mythisierung und Kitsch <?page no="34"?> Plymouth 33 Freundschaftsbund zwischen Weißen und Indianern hochstilisiert. In Wirklichkeit war es jedoch eher eine von Überlebensangst und unterschwelligem Misstrauen diktierte pragmatische Zweckpartnerschaft. Die Pilger hatten, wie aus zeitgenössischen Briefen und Chroniken hervorgeht, keinerlei Verständnis für die indianische Lebensweise und Religion und Massasoit seinerseits verwehrte sich hartnäckig gegen alle Missionierungsversuche. Schon nach einem Jahr kam es zu einer bedrohlichen Krise, als der Häuptling Squanto des Verrats bezichtigte und seine Auslieferung forderte. Dieser hatte offensichtlich versucht, seine Machtposition bei anderen Stämmen auf Kosten des Häuptlings auszubauen. Nur mit viel Geschick konnte Bradford die Hinrichtung seines indianischen Kompagnons abwenden. Den späteren populären Mythisierungen der „Freundschaft“ mit den Indianern tat dies jedoch keinen Abbruch. 1863 erhob Präsident Lincoln Thanksgiving zum nationalen Feiertag, und bis heute ist der vierte Donnerstag im Novem- Häuptling Massasoit William Bradford <?page no="35"?> 34 Plymouth ber mit Truthahn und pumpkin pie das wichtigste amerikanische Familienfest. Im Gegensatz zum Mythos veranstalteten im Jahr 1970 die amerikanischen Indianerverbände eine wirkungsvolle Protestaktion und erklärten Thanksgiving zum Nationalen Trauertag (National Day of Mourning). 15 Bei einem Rundgang durch die heutige Stadt Plymouth stößt man auf Schritt und Tritt auf ihre Geschichte. Etliche Motels, Restaurants, Tankstellen und Straßen erinnern mit ihren Namen an die historischen Protagonisten. Am 22. Dezember jeden Jahres feiert der Ort mit Paraden und öffentlichen Reden den Forefathers’ Day. Der Old Colony Club, der das Fest 1769 einführte, errichtete 1859 auf einem Hügel über der Stadt das 27 Meter hohe National Monument to the Forefathers, dessen Symbolfiguren an die fünf Tugenden der Pilger gemahnen-- Glaube, Gesetz, Bildung, Moral und Freiheit. Das sorgfältig ausgestattete Pilgrim Hall Museum an der Main Street pflegt die alten Erinnerungen und Mythen. Es wurde 1819 von der lokalen Pilgrim Society eingerichtet und ist das älteste Museum der USA. Neben einer Bibliothek, alten Möbeln, Waffen und Bildern sind Bradfords gedrechselter Amtssessel und das Schwert von Miles Standish die Prunkstücke. Am Cole’s Hill oberhalb von Plymouth Rock liegt das Plymouth Wax Museum, wo 26 Dioramen in Lebensgröße die Geschichte Plymouths vom holländischen Exil bis zur Thanksgiving-Feier von 1621 veranschaulichen. Unweit davon steht die eindrucksvolle überlebensgroße Bronzestatue von Häuptling Massasoit und etwas tiefer das Bronzedenkmal von Gouverneur Bradford. Am nahen Burial Hill, dem alten Friedhof der Stadt, der ursprünglich neben dem alten Fort und Meeting House angelegt wurde, findet man inmitten vieler anderer kolonialer Gräber das Grabdenkmal William Bradfords. Aufstieg der Kolonie Alle bislang erwähnten Ereignisse werden in William Bradfords berühmter Chronik Of Plimoth Plantation ausführlich berichtet. Bradford begann seine Aufzeichnungen über die Geschichte der <?page no="36"?> Plymouth 35 Kolonie im Jahr 1630, zehn Jahre nach dem Geschehen, und vollendete sie 1647. Als erstes in Amerika geschriebenes Buch wurde es später zu einem Grundpfeiler des amerikanischen Selbstverständnisses. Nach Bradfords Tod gelangte das in Schönschrift geschriebene und in Kalbsleder gebundene Manuskript nach Boston, wo es der puritanische Gelehrte Cotton Mather las und in seiner Chronik Magnalia Christi Americana (1702) erwähnt. In den Wirren der Revolutionszeit verschwand das Werk aus dem Archiv der Bostoner Old South Church und tauchte erst 1844 im bischöflichen Fulham Palace in London wieder auf. Möglicherweise hatte es ein Loyalist oder britischer Armeeangehöriger nach England gebracht. 1856 wurde das Werk von einem Historiker der Massachusetts Historical Society kopiert und erstmals veröffentlicht. 1897 gelang es der Regierung von Massachusetts, das Original für die USA zurückzugewinnen. Seitdem wird es als kostbarer Schatz in einer Bronzevitrine im Massachusetts State House in Boston verwahrt. 16 Of Plimoth Plantation besteht aus zwei „Büchern“, die sich in ihrer Gestaltung deutlich voneinander unterscheiden. Während die zehn Kapitel des erstes Teils den Weg der Separatisten von England über Holland nach Amerika in narrativer Form berichten, besteht der zweite Teil aus eher kunstlos aneinandergereihten Annalen. Den Höhepunkt der Chronik bildet das 9. Kapitel mit seiner anschaulichen Schilderung der transatlantischen Reise der Pilger und ihrer Ankunft in der Neuen Welt. Von der welthistorischen Dimension der Landnahme als Gründungsakt der späteren amerikanischen Nation konnte Bradford noch nichts wissen, aber irgendwie ahnte er ihre Einzigartigkeit: „Sollten nicht die Kinder dieser Väter später mit Recht sagen,“ so schreibt er, „unsere Väter waren Engländer, die über den großen Ozean herüberkamen und bereit waren, in dieser Wildnis unterzugehen? Aber sie riefen den Herrn an und er erhörte ihre Stimme und blickte auf ihre Not.“ 17 Hier und in vielen anderen Passagen wird die starke religiöse Motivation sichtbar, die hinter Bradfords Bericht steht. Nicht Nostalgie oder der Wunsch nach historischer Faktensicherung stand für ihn im Vordergrund, sondern das mahnende Vermächtnis <?page no="37"?> 36 Plymouth für die nachkommenden Generationen. Die Chronik sollte als Vorbild dafür dienen, dass ein Überleben in schweren Zeiten nur durch Gottvertrauen, Beharrlichkeit und harte Arbeit möglich ist. 18 Bradford vergleicht die Auswanderung der Pilger mit dem biblischen Exodus der Israeliten aus Ägypten. Aus der religiösen und politischen Zerrissenheit Europas flüchteten sie in die Neue Welt, um dort ihr Neues Jerusalem zu gründen. Die Dünen von Cape Cod erinnerten Bradford an den biblischen Berg Pisgah, von dem Moses ins Gelobte Land schaute. Die Koloniegründung war für ihn ein heilsgeschichtlicher Akt, durch den Gott mit den Pilgern einen heiligen Bund (covenant) schloss wie zuvor mit den Israeliten. 19 Im ersten Jahr nach ihrer Ankunft hausten die Kolonisten in armseligen Holzhütten, um die herum sie Gemüsegärten, Mais- und Kürbisfelder anpflanzten. Im November 1621 brachte das Versorgungsschiff Fortune neben Vorräten und Gebrauchsgegenständen auch 35 neue Siedler und erhöhte dadurch die Einwohnerzahl der Kolonie auf 50 Männer und 16 Frauen. Unter den Angekommenen befanden sich alte Bekannte und Verwandte aus Leiden, etwa William Brewsters Sohn Jonathan und Robert Cushmer, der kompetente Diakon und Geschäftsführer der Leidener Gemeinde. Aber in die Freude über ihre Ankunft mischten sich neue Sorgen. Ein geharnischtes Schreiben Thomas Westons enthielt die Aufforderung, den längst überfälligen Handelsvertrag mit den Investoren der Plymouth Company zu unterzeichnen und den darin festgelegten Verpflichtungen nachzukommen. Innerhalb von sieben Jahren mussten die Schulden in Form von Naturalien für die empfangenen Dienstleistungen gezahlt werden, andernfalls würde jegliche Unterstützung aus dem Mutterland ausbleiben. Für die Pilger war dies eine Bürde, die sie nur unter größten Anstrengungen erfüllen konnten. Dennoch brachte die Fortune einen von William Bradford und Edward Winslow verfassten erstaunlich positiven Lagebericht über die Koloniegründung zurück nach England. Er wurde 1622 in London unter dem Verlegertitel Mount’s Relation veröffentlicht und enthält neben dem Mayflower Compact auch einige in Bradfords Chronik fehlende Details. 20 <?page no="38"?> Plymouth 37 Zum Leidwesen der Kolonisten fiel schon die erste Ladung von Pelzen, Holz und anderen Gütern, die die Fortune auf ihrer Rückreise aufnahm, vor der Ankunft in England einem französischen Piratenüberfall zum Opfer. Und auch sonst verdüsterte sich die Situation der Kolonie zunehmend. Dem Narrangassett-Stamm im Bereich des heutigen Rhode Island war die militärische Allianz zwischen der Kolonie und den Wampanoag ein Dorn im Auge. Ihr Häuptling übersandte Bradford ein in eine blutige Schlangenhaut gewickeltes Pfeilbündel, was dieser prompt mit einer Handvoll ebenso verpackter Bleikugeln erwiderte. Dieser Beweis von Stärke zeigte offenbar Wirkung, denn der erwartete indianische Angriff blieb aus. Als Vorsichtsmaßnahme ließ Bradford nun anstelle der provisorischen Plattform an der höchsten Stelle des Dorfes ein Fort erbauen, in dessen Obergeschoss sechs Kanonen postiert wurden. Um Überraschungsangriffen vorzubeugen, umgaben die Kolonisten die Siedlung mit einem vier Meter hohen und 700 m langen Palisadenzaun. Alle Männer mussten sich an der wochenlangen Knochenarbeit beteiligen, hunderte von Bäumen fällen und zu Plymouth Fort (Nachbau) <?page no="39"?> 38 Plymouth Pfählen verarbeiten. Als weitere Maßnahme wurden alle waffenfähigen Männer mit Musketen ausgerüstet und einem strengen Waffendrill unterzogen. 21 Im Sommer 1622 trafen zwei weitere Schiffe mit sechzig neuen Siedlern in Plymouth ein. Da diese nicht über ausreichende Nahrungsreserven verfügten, entstand erneut eine verzweifelte Versorgungssituation. Die „New Comers“ bekamen den Auftrag, im 40 Meilen weiter nördlich liegenden indianischen Ort Wessagussett eine eigene Kolonie zu gründen. Von Hungersnot bedroht begannen diese jedoch bald, die Vorratslager ihrer indianischen Nachbarn zu plündern, und stießen damit auf erbitterte Gegenwehr. Bradford, der inzwischen von dem blutigen Massaker mit über 300 niedergemetzelten Kolonisten in Jamestown, Virginia, erfahren hatte, erkannte die tödliche Gefahr. Miles Standish, der einzige professionelle Soldat der Kolonie, wurde mit acht bewaffneten Männern nach Wessagussett entsandt, um die Ordnung wieder herzustellen. Unter Vortäuschung eines Pelzhandels lockten sie den Häuptling Wituwanat in einen Hinterhalt und töteten ihn samt seinen sechs Begleitern. Den Kopf des Häuptlings brachte Standish in die Plantation, wo er als Abschreckung auf einem Pfahl hoch über dem Dach des Forts zur Schau gestellt wurde. Bradford verschweigt in seinem Bericht die haarsträubenden Details dieses Massakers. Es war der erste große Sündenfall der Kolonie gegenüber den Indianern und verbreitete unter den umliegenden Stämmen Abscheu und Schrecken. Die Krieger flohen in die Wälder, kehrten jedoch kurze Zeit später zurück, zerstörten die Wessagussett-Kolonie und vertrieben ihre Bewohner. 22 Im Juli 1623 brachten zwei Schiffe weitere 93 Kolonisten nach Plymouth, zwei Drittel davon Strangers. Weston verfolgte offensichtlich die Strategie, die Pilger in ihrer Kolonie zu einer Minderheit zu machen. Sogar ein anglikanischer Geistlicher namens John Lyford wurde eingeschleust, um heimlich Gottesdienste und subversive Versammlungen abzuhalten. Bradford deckte die Machenschaften auf und verbannte den Verräter. Wie bedrohlich er diese Angelegenheit und den Zustand der inzwischen auf 180 Bewohner ange- <?page no="40"?> Plymouth 39 wachsenen Kolonie empfand, zeigt die auf 18 Seiten ausgebreitete Erörterung der Ereignisse in seiner Chronik. 23 Die beiden Schiffe lieferten erstmals auch Rinder, Ziegen und Schweine, so dass mit dem Aufbau einer Viehzucht begonnen werden konnte. Bradford verteilte die Tiere anteilsmäßig an die Kolonisten und beendete damit die bis dahin vorherrschende kollektive Nahrungsversorgung. Da er zudem jeder Familie 20 Morgen Ackerland für den Mais- und Gemüseanbau zur Verfügung stellte, spornte er sie zur Eigeninitiative und damit zu erhöhter Arbeitsleistung an. Auch bei der Schuldenrückzahlung an die Investoren beschritt Bradford neue Wege. Er entsandte seinen Vertreter Isaac Allerton nach London, um die Anteile der Virginia Company auf Kredit aufzukaufen und so die Kolonie längerfristig in das Eigentum der Kolonisten zu überführen. Dies wurde von London unter der Bedingung akzeptiert, dass der Kredit innerhalb von neun Jahren durch Warenlieferungen im Wert von 200 Pfund jährlich zurückgezahlt werde. Um diese Leistungen aufbringen zu können, wurde nun der wenig ertragreiche Fischfang zurückgestellt und durch die Lieferung von Biber- und Otterpelzen ersetzt, die man bei den Indianerstämmen einhandelte. Plimoth Plantation um 1627 <?page no="41"?> 40 Plymouth Die von den Indianern heiß begehrten Metallwerkzeuge sowie wampum, d. i. zu Ketten und Gürteln zusammengefügte Meeresschneckenperlen und Muscheln, dienten dabei als Zahlungsmittel. Empfindlich gestört wurde Plymouths Pelzhandelsmonopol, als im Jahr 1624 englische Entrepreneure die Kolonie Mount Wollaston als Konkurrenzunternehmen in der Nähe der heutigen Stadt Quincy gründeten. Der Eigentümer, Kapitän Wollaston, verfügte über 30 unfreie Dienstverpflichtete (indentured servants), die ihre Überfahrts- und Unterhaltskosten durch Arbeit ableisten mussten. Schon kurze Zeit später jedoch setzte er sich nach Jamestown ab und überließ seinem Stellvertreter Thomas Morton die Führung. Morton änderte den Namen der Kolonie in Merrymount um, solidarisierte sich mit den Massachusetts-Indianern und intensivierte zum Leidwesen der Pilger den Pelzhandel. Das Fass kam zum Überlaufen, als Bradford Berichte über Alkoholexzesse, den freizügigen Umgang mit indianischen Frauen und heidnische Praktiken zu Ohren kamen. Voller Abscheu berichtet er darüber in seiner Chronik: „Sie errichteten einen Maibaum, tranken tagelang Alkohol, nahmen sich indianische Frauen, tanzten und tollten mit ihnen herum wie Kobolde und praktizierten noch Schlimmeres. Es war, als wollten sie die Feste der römischen Göttin Flora und ihre animalischen Praktiken der Bachanalien wieder beleben.“ 24 Eine Art Kriegszustand brach aus, als 1628 der „Lord of Misrule“, wie Bradford Morton abfällig nannte, die Indianer mit Rum und Feuerwaffen zu beliefern begann. Wiederum wurden Miles Standish und seine Miliz ausgesandt, um das drohende Chaos abzuwenden. Der Haudegen nahm den Handelsposten in einem kurzen Handgemenge ein, fällte den Maibaum, nahm Morton gefangen und überführte ihn nach Plymouth. Dort wurde er an den Pranger gestellt und anschließend auf eine Insel in New Hampshire verbannt. Aber Morton ließ sich nicht einschüchtern. Er entkam auf einem englischen Schiff nach London, schmiedete Vergeltungspläne und kehrte im folgenden Jahr nach Merrymount zurück. Der Wiederaufbau der Kolonie gelang ihm jedoch nicht mehr, denn inzwischen hatte sich in England ein gewaltiger politischer <?page no="42"?> Plymouth 41 Erdrutsch vollzogen, der auch in Neuengland die Lage grundlegend veränderte. Die Thronbesteigung des Stuart-Königs Charles I. im Jahr 1625 und die Schreckensherrschaft des Erzbischofs von Canterbury William Laud hatten zu rigorosen Repressions- und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber religiösen Nonkonformisten geführt. Als es 1629 einer Gruppe von puritanischen Kaufleuten, Unternehmern und Landadeligen gelang, eine königliche Charter zur Gründung der Massachusetts Bay Colony zu erwirken, löste dies eine riesige Auswanderungswelle aus. Als Erster segelte John Endecott mit einer Vorhut von 200 Kolonisten nach Neuengland und gründete die Stadt Salem. Als er von den Zuständen in Merrimount erfuhr, entsandte er unverzüglich eine Strafexpedition, brannte die verhasste Nachbarkolonie nieder und vertrieb ihre Bewohner. Der nach England abtransportierte Morton führte noch mehrere Jahre einen erbitterten, aber letztlich erfolglosen Prozess gegen die Massachusetts Bay Colony. In seiner polemischen Schrift New English Canaan (1637) verurteilte er Pilger und Puritaner als tyrannische und engstirnige religiöse Eiferer. Darüber hinaus lieferte er die erste ausführliche und erstaunlich positive Darstellung der Lebensweise, Religion und Bräuche der Indianer in Neuengland. 25 Nach der Ausschaltung der Konkurrenz blühte Plymouths Handel mit Biber- und Otterpelzen noch einmal auf. Die Pilger gründeten Handelsposten im Connecticut Valley und in Maine, was zu Spannungen und Konflikten mit den Neu-Holländern bzw. Franko-Kanadiern führte. Aber das Schicksal von Plymouth Plantation wurde schließlich durch die fortschreitende massive Zuwanderung von Puritanern im Zuge der sog. Great Migration besiegelt. 1630 brachte der dynamische puritanische Rechtsgelehrte und Politiker John Winthrop 17 Schiffe mit über 1000 Einwanderern in die Massachusetts Bay. In seiner berühmten Predigt „A Model of Christian Charity“ (1630) an Bord des Auswandererschiffes Arabella entwarf er eine utopische Zukunftsvision von Neuengland als Gottes City upon a Hill. Schon 1636 gründete er im benachbarten Cambridge Harvard College, das für die Aufrechterhaltung der reinen Lehre und die Ausbildung von Geistlichen sorgen sollte (s. Kap. 10). Win- <?page no="43"?> 42 Plymouth throps Schriften sowie die Geschichtswerke anderer puritanischer Gelehrter-- etwa Edward Johnsons Wonder-Working Providence of Sion’s Saviour in New England (1654) oder Cotton Mathers Magnalia Christi Americana (1702)-- preisen die Verschmelzung von weltlicher und religiöser Macht in Neuengland als Manifestation eines göttlichen Welterlösungsplanes. Der bis heute bestehende moralische Führungsanspruch der USA als Garant einer neuen Weltordnung findet hier seine erste vorsäkulare Ausformung. Als neuer Gouverneur erhob Winthrop die von ihm gegründete Stadt Boston zum kolonialen Regierungssitz und baute mit puritanischer Strenge und pragmatischer Umsicht eine theokratische Kolonie auf, die Kirche und Staat, Frömmigkeit und Geschäftstüchtigkeit zu verbinden wusste. Als Grundlage diente ihm die Charter der Massachusetts Bay Colony. Obwohl diese im Grunde nichts anderes war als die Geschäftsordnung einer kolonialen Aktiengesellschaft mit freien Aktionären, baute er diese zu einer autonomen Selbstverwaltung aus. Die „Freibürger“ (freemen), traten einmal im Jahr zu einer Hauptversammlung (General Court), zusammen, wählten den Gouverneur, die Beiräte (magistrates) und Deputierten und setzten die Direktoren der Gesellschaft als Rechtsbeamte und Exekutivorgane ein. 26 Als es Winthrop gelang, in London die Verlegung der Charter nach Boston durchzusetzen, wurde aus der Massachusetts Bay Company stillschweigend eine weitgehend unabhängige Kolonialregierung ohne nennenswerte Einmischung von Krone und Parlament. Die Stimmberechtigten des politischen Systems waren bekehrte und wohlhabende Kirchenmitglieder und Familienoberhäupter. Nach kalvinistischer Manier glaubten sie an die göttliche Vorherbestimmung (predestination) des Menschen und betrachteten ihr persönliches Heilsstreben als politischen Auftrag. Die Unsicherheit darüber, ob man zu den von Gott Erwählten (elect) gehörte oder nicht, wirkte als ein unerhörter Leistungsansporn. Disziplin, Sittlichkeit und Arbeitsamkeit wurden zu den grundlegenden Lebensprinzipien, und Erfolg im Sinne von Wohlstand und Reichtum galt als sichtbares Zeichen göttlicher Auserwähltheit. Max Weber leitete daraus in seinem berühmten Werk Die protestantische Ethik und der Geist <?page no="44"?> Plymouth 43 des Kapitalismus (1920) den Ursprung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ab. 27 Indianerkriege und das Ende von Plymouth Plymouth passte sich den neuen Entwicklungen der Massachusetts Bay Colony erstaunlich schnell an. Seine Landwirtschaft profitierte vom Export in die sich rasch entwickelnde Nachbarkolonie und Getreideanbau und Viehzucht florierten. Um ihr Acker- und Weideland und damit ihre Profite zu vergrößern, gründeten die Pilger neue Siedlungen außerhalb der zu eng gewordenen Plantation. Orte wie Duxbury, Marshfield und Barnstable entstanden entlang der Küste und später auch im Landesinneren. Die Vorgangsweise folgte der puritanischen Praxis: Die Siedler erhielten parzelliertes Farmland zur agrarischen Nutzung und wurden zur Gründung eigenständiger und selbstversorgender Kommunitäten verpflichtet. Um einen zentralen Platz (common) herum entstanden auf einem rechtwinklig angeordneten, erweiterbaren System von Straßen (grid) das Versammlungshaus (meeting house), Schulen, Wohnhäuser und Werkstätten. Das Grundprinzip aller späteren amerikanischen Ortsgründungen war damit geschaffen. 28 Um 1645 zählte die Kolonie insgesamt ca. 3000 Einwohner, von denen nur noch 150 in der alten Plantation lebten. Bradford verfolgte diese Entwicklung mit großer Besorgnis. Er beklagte, dass der neuen Generation die Vermehrung von Besitz und Wohlstand wichtiger war als die religiöse Gemeinschaft. Aus Sorge um die Zukunft der Kolonie ermahnt er in seiner Chronik die Nachgeborenen, an den religiösen Vorstellungen der Vorfahren festzuhalten. 29 Obwohl er wusste, dass Plymouth der demographischen und politischen Entwicklung in Massachusetts auf Dauer nicht gewachsen war, wollte er zumindest das religiöse Erbe sicherstellen. Diese Bemühungen stießen bei den Puritanern auf fruchtbaren Boden. 1648 übernahmen sie auf der sog. Cambridge Platform das separatistische Prinzip selbstverwalteter „Kongregationen“ und etablierten die Congregational Church als eine Art Staatskirche. Die <?page no="45"?> 44 Plymouth Organisation autonomer Einzelgemeinden ohne Bischöfe und klerikale Hierarchien wurde in ganz Neuengland zur Norm. Dorf- oder Stadtgemeinden wählten einen geistlichen Führer (minister) und machten das Meeting House zum zentralen Treffpunkt sowohl für die Gottesdienste als auch für gesellschaftliche, politische und kulturelle Zwecke. Das Wort church bezog sich dabei immer auf die Kirchengemeinde selbst und nicht auf das Gebäude, wo die Gottesdienste stattfanden. Die schlichten, zumeist weiß gestrichenen Holzbauten mit Säulenportikus, spitzgiebeligen Türmen und großflächigen Fenstern sind zu einem Wahrzeichen Neuenglands geworden. Bis heute dienen sie noch vielerorts für die town meetings, in denen die Gemeindemitglieder über die Verteilung ihrer Finanzen und andere wichtige Angelegenheiten beraten und abstimmen. 30 Aber so sehr sich die Plymouth-Kolonie im religiösen Bereich durchsetzen konnte, so wenig gelang es ihr, wirtschaftlich und politisch mit der expandierenden Massachusetts Bay Colony Schritt zu halten. Im Gegensatz zu den überwiegend bäuerlichen und kleinbürgerlichen Pilgern waren die Puritaner dynamische und machtbewusste Vertreter der oberen Mittelklasse. Als kompetente Geschäftsleute, Farmer, Handwerker und Reeder verfügten sie über ungleich größere finanzielle Ressourcen und wirtschaftliche Kompetenzen. In kurzer Zeit bauten sie eine effiziente Landwirtschaft auf, dominierten den Pelzmarkt und betrieben einen ausgedehnten Seehandel, während Plymouth seine vormalige Führungsposition einbüßte. Meeting House <?page no="46"?> Plymouth 45 Die größte Bedrohung in dieser Zeit waren die eskalierenden Spannungen mit den Indianern. Durch die rapid anwachsende puritanische Zuwanderung, die die weiße Bevölkerung bis zur Jahrhundertmitte auf über 20 000 anwachsen ließ, breiteten sich die kolonialen Siedlungsgebiete immer weiter nach Westen und Norden aus. Je mehr Pilger und Puritaner neue Außenposten für den Pelzhandel und landwirtschaftliche Siedlungen gründeten, umso mehr gerieten sie mit der dort ansässigen indianischen Bevölkerung in Konflikt. Im Unterschied zu den Pilgern, die Land zumeist noch über Verträge und Absprachen erwarben, okkupierten es die Puritaner ohne Skrupel. Für die Ureinwohner bedeutete dies nicht nur den Verlust ihrer materiellen Existenz, sondern auch die Vernichtung ihrer religiösen und kulturellen Grundlagen. Am Ende konnten sie nur noch um ihr nacktes Überleben kämpfen. Vor der Ankunft der Europäer gab es in Neuengland an die 100 000 Native Americans. Hunderte verschiedener Stämme und Klans lebten in verstreuten Siedlungen innerhalb ihrer Stammesgebiete und ernährten sich von Fischfang, der Jagd und dem Anbau von Mais, Bohnen und Kürbissen. In ihrer halbnomadischen Lebensweise gab es keinen fest umrissenen Landbesitz, was die englischen Kolonisten als Freibrief für ihre Expansionsbestrebungen missverstanden. Nur wer das Land besaß und kultivierte, hatte ihrer Auffassung nach das Recht, dieses für sich zu beanspruchen. Deshalb drangen sie in das größtenteils ungenutzte Land ein, nahmen es in Besitz und rodeten die Wälder, um Acker- und Weideland zu gewinnen. Zu Hilfe kam ihnen dabei, dass die Indianer gegen von Weißen eingeschleppte Krankheiten nicht immun waren und zu Zehntausenden in Epidemien hinweggerafft wurden. 31 Auf ihre schwindende Bevölkerungszahl und den zunehmenden Verlust von Stammesgebieten durch Landraub oder Zwangsverträge konnten die Stämme schließlich nur noch mit gewaltsamem Widerstand reagieren. Es kam zu Überfällen auf koloniale Stützpunkte und Siedlungen, die prompt mit brutalen Straf- und Rachefeldzügen geahndet wurden. Ein permanenter Kriegszustand war die Folge. Eines der frühesten und grimmigsten Ereignisse in diesem Zusammenhang war ein militärischer Feld- <?page no="47"?> 46 Plymouth zug von Pilger- und Puritaner-Milizen gegen die Pequot-Indianer im Connecticut Valley im Jahr 1637. Der durch eine verheerende Pockenepidemie stark dezimierte und von weißen Siedlern in die Enge getriebene Stamm lehnte sich gegen die Aggressoren auf und zahlte dafür mit seiner eigenen Vernichtung. In einem blutigen Massaker fanden über 400 indianische Männer, Frauen und Kinder den Tod. Dies ist Bradfords Schilderung des traumatischen Geschehens: Die Engländer näherten sich lautlos dem befestigten Dorf und umstellten es, so dass die Indianer nicht ausbrechen konnten. Dann griffen sie unerschrocken an, beschossen das Fort und drangen schnell in dieses ein. Sie stießen auf heftigen Widerstand und kämpften die Feinde nieder. Andere rannten zu den Häusern und steckten sie in Brand. Da diese eng beieinander lagen und ein starker Wind wehte, brannten die Matten in kürzester Zeit lichterloh. Mehr Indianer kamen im Feuer um als dass sie erschlagen wurden. Die dem Feuer entkommen konnten, wurden mit dem Schwert niedergemetzelt und in Stücke gehauen. Andere versuchten die Reihen der Angreifer zu durchbrechen, aber nur wenige konnten entkommen. An die 400 fanden den Tod. Es war ein grausiger Anblick, wie sie im Feuer verbrannten und das Blut in Strömen floss. Ein schrecklicher Gestank breitete sich aus. Unter den Engländern forderte der Sieg nur wenige Opfer und sie priesen Gott, dass er sie so wunderbar behütet hatte. 32 Aus Furcht vor einem konzertierten indianischen Gegenschlag schlossen sich die Kolonien Massachusetts, Plymouth, Connecticut und New Haven 1643 zu den United Colonies of New England zusammen. Bei den Indianerstämmen hingegen, die sich über Jahrhunderte hinweg misstrauisch gegenüberstanden, dauerte es noch 20 Jahre, bis sie sich 1665 zu einer stammesübergreifenden Konföderation durchringen konnten und der weißen Expansion mit vereinten Kräften entgegentraten. Ihr Anführer war Massasoits jüngerer Sohn Metacomet, den die Kolonisten wegen seines angenommenen englischen Namens King Philip nannten. Von seinem Wohnsitz am Mount Hope in Rhode Island aus gelang es ihm, die anderen Stämme für eine gemeinsame Strategie zu gewinnen. Im King Philip’s War von 1675 bis 1676 standen 15 000 indianische <?page no="48"?> Plymouth 47 Krieger einer Übermacht von 35 000 Kolonisten in einem aussichtslosen Kampf gegenüber. Schlecht koordinierte, spontan agieren de, mit eingeschmuggelten Feuerwaffen aus Quebec ausgerüstete Banden überfielen weiße Siedlungen und Farmen, brandschatzten sie, töteten die Männer und entführten Frauen und Kinder. Von 90 englischen Siedlungen wurden 52 überfallen und 13 niedergebrannt. Der Untergang von Lancaster, Massachusetts, mit der legendären Gefangennahme und Entführung der Pionierfrau Mary Rowlandson ist als besonders schreckenerregender Vorfall in die Kolonialgeschichte eingegangen. Rowlandsons autobiographischer Bericht Narrative of the Captivity and Restoration of Mrs. Mary Rowlandson (1682) ist zu einem Klassiker der puritanischen Literatur geworden. Auch die Plymouth-Kolonie war jetzt zum ersten Mal seit ihrem Bestehen vom Untergang bedroht und die Pilger reagierten mit rigoroser Gewalt. Indianer, die sich ihnen entgegenstellten, wurden vertrieben oder getötet, Dörfer niedergebrannt und gefangene Überlebende als Sklaven an die Zuckerplantagen der westindischen Inseln verkauft. Sogar die sog. Gebetsorte (praying towns), in denen der puritanische Missionar John Eliot christianisierte und zivilisierte Indianer angesiedelt hatte, verdächtigte man der Komplizenschaft. Man verfrachtete sie auf eine Insel im Hafen von Boston oder bekämpfte sie gleich wie alle anderen. 1675 führte der Gouverneur von Plymouth Josiah Winslow eine 1000 Mann starke Miliztruppe gegen die Narragansett, die sich in den Sumpfgebieten von Rhode Island verschanzt hatten. Ihr Befehlshaber Benjamin Church machte sich indianische Kampftaktiken zu eigen, griff ihren Stützpunkt an und verübte ein grausames Blutbad. Mit der Vernichtung von 600 indianischen Männern, Frauen und Kindern im sog. Great Swamp Massacre erreichte der Krieg seinen Höhepunkt. Erbittert schlug King Philip noch einmal zurück und legte Siedlungen im südlichen Neuengland in Schutt und Asche, bevor er am 12. August 1676 bei Mount Hope im Kampf erschossen wurde. Church überführte seinen Kopf im Triumph nach Plymouth, wo er zwanzig Jahre lang zur Schau gestellt wurde. Church, der sich in seinem autobiographischen Kriegsbericht Entertaining Passages <?page no="49"?> 48 Plymouth Relating to King Philip’s War (1716) selbst ein Denkmal setzte, gilt bis heute als der erste Great Indian Fighter in Amerika und wurde zum Vorbild der späteren frontiersmen im Westen. Mit King Philips Tod war der Krieg zu Ende, die Macht der Stämme gebrochen und die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben für alle Zeiten zerstört. Auf Seiten der Kolonisten gab es 600 Gefallene, davon ca. die Hälfte aus der Plymouth-Kolonie. Von den Indianern Neuenglands starben ca. 2000 im Kampf, 3000 an Hunger und Krankheiten, 1000 wurden in die Sklaverei verkauft und 2000 konnten zu den Irokesen im Süden und den Abenaki in Maine oder nach Kanada fliehen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts lebten im südlichen Teil Neuenglands nur noch an die 4000 Indianer unter härtesten Bedingungen. Mit dem gewaltigen Aderlass an Menschenleben und Land war ihr Schicksal besiegelt. Sie spielten in der Weiterentwicklung der Region keine nennenswerte Rolle mehr. Heute leben noch ca. 2500 Nachfahren der Wampanoag in zwei Reservaten auf Martha’s Vineyard und Cape Cod. Der King Philip’s War gilt in der amerikanischen Geschichte als der verhängnisvolle Vorläufer aller späteren Vertreibungs- und Vernichtungskriege gegen die indigene Bevölkerung. 33 In seinem Umfeld bildete sich eine radikale indianerfeindliche Ideologie heraus, die bis ins späte 19. Jahrhundert zum Allgemeingut weißer Amerikaner wurde. Hatten sich die Pilger anfangs noch um friedliche Koexistenz mit den Indianern bemüht, so kam es mit dem Krieg zu einer aggressiven, mit religiösen Verdammungsurteilen untermauerten Gewaltpolitik. Pilger und Puritaner sahen in den Indianern nur noch ein von Gott verlassenes, gefallenes Urvolk, dessen Degeneration sich in einer als ungezügelt und heidnisch erachteten Lebensweise niederschlug. Da sie dem Aufstieg des christlichen Gottesreiches im Wege standen, mussten sie vertrieben oder vernichtet werden. 34 1691 wurde die Plymouth-Kolonie, die in den 70 Jahren ihres Bestehens auf 7500 Bewohner angewachsen war, durch eine neue königliche Charter in die Massachusetts Bay Colony eingegliedert und verlor damit ihre eigenständige Existenz. Aber auch die Puritaner büßten ihre vormalige Unabhängigkeit ein, denn die <?page no="50"?> Plymouth 49 Regierung in London setzte ihrem theokratischen Regierungssystem ein Ende, indem auch Nicht-Kirchenmitglieder im kolonialen Great Court ein Stimmrecht bekamen. Der König ernannte den jeweiligen Gouverneur und hatte zudem in allen legislativen und steuerlichen Belangen der Kolonie ein Vetorecht. Andere, nicht-kongregationalistische Religionsgemeinschaften wurden nun zugelassen und erhielten bald großen Zulauf. Das Unbehagen der Kolonie über den Verlust der Unabhängigkeit sollte in den darauf folgenden acht Jahrzehnten zum Nährboden der amerikanischen Revolution werden. Plimoth Plantation als Living History Museum Erstaunlicherweise gehört Plimoth Plantation nicht zum National Park Service, sondern ist ein genossenschaftlich geführtes Freilichtmuseum, das von Eintrittsgeldern, Subventionen und privaten Sponsoren erhalten wird. Im Jahr 1947 entstand im Ort auf Anregung der lokalen Pilgrim Society eine bescheidene Museumsan- Plimoth Plantation <?page no="51"?> 50 Plymouth lage zum Gedenken an die Pilgerväter. Sie bestand aus einigen Holzhäusern und Ausstellungsräumen am Hafen mit Schaufiguren und Gegenständen aus der Gründerzeit. Der nächste Schritt erfolgte 1958, als Ralph Hornblower, ein reicher Großunternehmer, seinen ausgedehnten Landbesitz im Bereich des vormaligen Indianerdorfes Patuxet südlich der Stadt dem Museumsverein vermachte und den Bau eines Museumsdorfes sponserte. Auf einer Anhöhe wurden zuerst einige historische Häuser errichtet und 1964 kam ein indianisches Rindenhaus am Rand der Siedlung hinzu. In den darauf folgenden Jahren wuchs das Dorf schrittweise zum heutigen Umfang heran-- insgesamt 19 Wohnhäuser samt Gärten, Ställen und Schuppen, ein Blockhaus-Fort und eine Palisadenumzäunung. Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Freilichtmuseums trat 1969 ein, als der angesehene Harvard Anthropologe James Deetz die Idee eines Living History Museum durchsetzen konnte. Sein Leitgedanke war, die ursprüngliche Plantation, so wie sie im Jahr 1627 existierte, ohne Zugeständnisse an die Gegenwart auf genauer historischer und archäologischer Grundlage neu entstehen zu lassen. Alle musealen Bewegungseinschränkungen, Hinweistafeln, Aufschriften, Erklärungen und künstlichen Schaufiguren wurden beseitigt. Auch die im Vorgängermuseum verwendeten, zumeist aus England importierten Antikmöbel wurden unter dem Protest lokaler Traditionalisten aus der Museumsanlage entfernt. Sogar die in Freilichtmuseen üblichen handwerklichen Vorführungen lagerte man in ein separates Crafts Center aus. Die Rollenspieler <?page no="52"?> Plymouth 51 größte Neuerung jedoch war, dass die üblichen Museumsführer durch eingeschulte Schauspieler ersetzt wurden, die die historischen Gestalten so authentisch wie möglich zu verkörpern hatten. 1978 wurde dieses Konzept in die Realität umgesetzt und verwandelte das Museum in eine große Freilichtbühne. 35 Plimoth Plantation betritt man durch ein Außentor in der Palisadenumgrenzung. Das Dorf präsentiert sich in jenem Zustand, den der holländische Besucher Isaack de Rasieres 1627 vorfand und in einem Brief beschrieb. 36 Es war das letzte Jahr, in dem noch alle Kolonisten in der ursprünglichen Dorfgemeinschaft zusammenlebten, bevor sie sich in die weitere Umgebung aussiedelten. Entlang zweier rechtwinklig zueinander verlaufender Straßen stehen neben Vorratshütten, Ställen und Scheunen 19 von Zäunen umgebene Wohnhäuser aus grau verwittertem Zedernholz. In jedem von ihnen „wohnt“ eine historisch nachweisbare Familie und verfügt über einen eigenen Gemüse- und Kräutergarten. An der Kreuzung der beiden Straßen in der Dorfmitte liegt das Domizil des Gouverneurs, das durch vier kleine Hinterladerkanonen abgesichert ist. Am oberen Rand der Siedlung erhebt sich das mit sechs Kanonen bestückte zweistöckige Verteidigungsfort mit einem Ausblick über die gesamte Dorfanlage. Das Untergeschoss diente den Plantagenbewohnern als Meeting House für Gottesdienste sowie für Versammlungen aller Art. 37 Der heutige Besucher betritt also eine Siedlung, wie sie vor 400 Jahren ausgesehen haben muss. Die Wohnhäuser und anderen Objek- Frauen beim Maisschälen Rollenspieler <?page no="53"?> 52 Plymouth te sind bis ins letzte Detail in der Bauweise und den Materialien des 17. Jahrhunderts rekonstruiert worden. Alle Gegenstände und Möbel sind als Spezialanfertigungen eigens für das Museum hergestellt und mit einer Patina des Alten und Gebrauchten versehen worden. An Türen, Fenstern und offenen Kaminen hängen Zeichen und Talismane zur Abwehr von Hexen und Dämonen. Die „Dorfbewohner“ treten in historischer Kostümierung auf, die Frauen mit Häubchen, Hüten, langen Kleidern und Schürzen, die Männer in Leinenhemden, Wolljacken und Bundhosen. In den Häusern bereiten Hausfrauen am offenen Herdfeuer in zeitgenössischen Pfannen und Töpfen Mahlzeiten zu und nehmen diese zusammen mit anderen Familienmitgliedern mit simplen zweizackigen Gabeln ein. Darüber hinaus führen die Frauen viele weitere Tätigkeiten aus. Sie schälen Maiskolben, tragen Wassereimer vom Brunnen herbei, waschen Wäsche, jäten, graben und pflanzen in den Gärten und backen Brot in eigenen Backöfen außerhalb der Hausanlagen. Überall auf den Straßen und kleinen Plätzen des Dorfes herrscht ein emsiges Treiben. Die Männer hacken, sägen, Living History <?page no="54"?> Plymouth 53 schleifen, reparieren Zäune, decken Strohdächer, schmieden oder betreiben einen Holzkohlen-Meiler. Sie führen die Rinder auf die Weiden außerhalb der Palisaden und feuern gelegentlich einen Schuss aus einer alten Steinschloss-Muskete ab. Die geschäftigen, vor sich hin werkelnden „Dorfbewohner“ sowie die herumlaufenden Rinder, Ziegen, Schafe und Hühner vermitteln einen überaus lebendigen Gesamteindruck. Ein besonderes Markenzeichen von Plimoth Plantation ist, dass die Rollenspieler dazu verpflichtet sind, ihre Tätigkeiten mit größtmöglicher historischer Genauigkeit auszuführen. Zu diesem Zweck werden sie in die Sprache des 17. Jahrhunderts eingeführt und mit den Lebens- und Denkweisen und historischen Hintergründen dieser Zeit vertraut gemacht. Alle Fragen der Besucher müssen in der ersten Person im Bewusstseinsstand des Jahres 1627 beantwortet werden. Darüber hinaus spielen die Akteure die Rollen historisch bekannter Personen wie William Bradford, Miles Standish, William Brewster, Edward Winslow und andere, so dass insgesamt ein komplexes Netzwerk aus Herkunft, Beziehungen und Handlungsvorgängen entsteht. Auch bestimmte Ereignisse wie das Erntedankfest, Hochzeiten, Paraden, Verhandlungen mit Indianern oder Besuche von außen werden in Form von Mini-Dramen inszeniert. Manche Rollenspieler entwickeln erstaunliche schauspielerische Talente, insbesondere wenn sie ihre Rolle improvisieren müssen. 38 So bekam ich, als ich mich als ein Besucher aus Österreich zu erkennen gab, folgende Reaktion von einem der Männer: „Das Haus Habsburg führt zur Zeit Krieg in Europa. Euer Besuch ist willkommen, auch wenn Ihr Katholiken seid, aber nach einem Tag solltet Ihr die Kolonie besser wieder verlassen.“ Den Betreibern des Museums wurde im Verlauf der Zeit bewusst, dass trotz des überwiegenden Interesses der Besucher am Leben der Pilger die indianische Seite der Geschichte nicht zu kurz kommen durfte. 1972 wurde deshalb der Plan konzipiert, die Wohnanlage (homesite) des Wampanoag-Indianers Hobbamock, der in der Gründerzeit als Verbindungsmann zu Massasoit fungierte und mit seiner Familie in seinem Wigwam am Rand der Plantation lebte, <?page no="55"?> 54 Plymouth wieder herzustellen. In Zusammenarbeit mit indianischen Gruppierungen und ethnologischen und archäologischen Experten sollte dieses Ambiente möglichst klischeelos und ohne ethnozentrische Einseitigkeit gestaltet werden. Der erste Schritt in diese Richtung erwies sich jedoch als überaus schwierig. Eine Konferenz in Concord über die Situation der Indianer in Neuengland, zu der auch Vertreter der Native American Community eingeladen wurden, sollte die Voraussetzungen klären. Aber als der Plan der Errichtung einer indianischen Heimstätte in Plimoth Plantation zur Diskussion gestellt wurde, stieß dies auf den heftigen Widerstand der Indianervertreter. Sie fanden es absurd, sich an der musealen Darstellung eines historischen Ereignisses zu beteiligen, das im Endeffekt zum Untergang der Indianerkulturen in Neuengland geführt hatte. Sie verwehrten sich außerdem gegen das Ansinnen, den weißen Besuchern als exotische Schauobjekte vorgeführt zu werden. Das indianische Kulturerbe, so argumentierten sie, sei für sie ein unveräußerliches Gut, das nur sie selbst verwalten und in das sich Weiße nicht einmischen durften. Um diesen Einwänden gerecht zu werden, wurde ein Native American Studies Program etabliert, zu dem sich schließlich auch Angehörige des Wampanoag-Stammes meldeten. Angesichts der Tatsache, dass von den zehntausenden Vorfahren, die vor der Ankunft der Europäer in 67 Dorfgemeinschaften lebten, nur noch eine verschwindend kleine Minderheit übrig geblieben war, erkannten sie schließlich die kulturhistorische Bedeutung des Unternehmens auch für ihre eigene Gruppe. Zwei indianische Vertreter wurden an die Smithsonian Institution in Washington und an das Wampanoag-Korbflechterin <?page no="56"?> Plymouth 55 Peabody Museum in Harvard entsandt, um die ethnographischen und archäologischen Grundlagen ihrer Stammeskultur zu erforschen. Mit Hilfe sachkundiger Wissenschaftler sammelten sie ausreichendes Informationsmaterial für die vorgesehene Rekonstruktion einer indianischen homesite. Auf dieser Grundlage wurde diese 1989 am Eel River unterhalb der Plantation in der heutigen Form fertiggestellt und Personen mit indianischer Herkunft als Interpreten und Schausteller ausgebildet. 39 Auch die Problematik der indianischen Selbstdarstellung löste man, indem man vom üblichen Rollenspiel in der ersten Person Abstand nahm. Im Gegensatz zu ihren weißen Kollegen dürfen die indianischen Museumsangestellten Besucherfragen frei beantworten, auch wenn diese über den zeitgenössischen Rahmen hinausgehen und sich auf ihre konkrete heutige Situation beziehen. Um peinliche Situationen in diesem Zusammenhang zu vermeiden, wurde am Eingang eine eigene Hinweistafel aufgestellt, die diskriminierende Fragen wie „Sind Sie ein echter Indianer? “ oder „Zu wie viel Prozent sind Sie indianischer Herkunft? “ ausschließt. Auch das Indianerspielen von Kindern, die Begrüßung mit „How“ oder die Anrede mit „Häuptling“ (chief) oder „Krieger“ (brave) wurden als realitätsfremde Stereotypisierungen verboten. Die indianischen Schauspieler tragen zwar keine hundertprozentig an das 17. Jahrhundert angepasste Kleidung, aber ihre indianischen Leder-Leggings und Pelzumhänge führen den Besuchern vor Augen, dass die Wampanoag im 17. Jahrhunderts anders aussahen als die üblichen Film-Rothäute, nicht in Tipis wohnten, ohne Pferde lebten und keinen Federschmuck trugen. Bemühungen dieser Art zeigen, dass sich das Museum heute grundsätzlich als eine Institution versteht, die die geschichtlichen Ereignisse aus zwei verschiedenen kulturellen Perspektiven darzustellen versucht. Die Hobbamock’s Homesite versteht sich nicht als Anhängsel zum Pilgrim Village, sondern als eine eigenständige Anlage auf ethnographischer Grundlage. Der im Visitor Center gezeigte Film „Two Peoples, One Story“ führt den Besuchern dieses museumspädagogische Konzept eindrucksvoll vor Augen. Die kleine Ansiedlung besteht aus einem Familienwigwam am Flussufer mit mehreren Hütten und Vorratsspeichern inmitten von <?page no="57"?> 56 Plymouth Maisfeldern, Kürbis- und Bohnengärten. In einem großen tonnenförmigen Rindenhaus (wetu) aus gebogenen Ästen mit einer Abdeckung aus Rinde, Tierfellen und Leder betritt man einen dunklen Innenraum, in den nur durch einen Rauchabzug spärliches Licht einfällt. Die sorgfältig vernähten bunten Matten aus Rindenbast und Schilf und viele kunsthandwerklich gefertigte Gebrauchsgegenstände wie Bögen, Pfeile, Lanzen, gewebte Stoffe, Körbe und Krüge sowie die kenntnisreichen Erzählungen einer sachkundigen Indianerin laden zum Verweilen ein. Obwohl die auftretenden Personen, rekonstruierten Behausungen und gezeigten Objekte letztlich nur Annäherungsversuche an die untergegangene Kultur der Wampanoag sind, bemüht sich die Anlage insgesamt mit ihren Geräuschen und Gerüchen, den rauchenden Feuerstellen und herumlaufenden Hühnern und Ziegen um einen möglichst authentischen Gesamteindruck. Auch hier gehen die Bewohner spezifischen Tätigkeiten nach: Die Frauen backen Maisfladen, flechten Körbe, braten Fische und kochen Gemüse auf kleinen Holzfeuern. Die Männer sind mit dem Ausbrennen eines Einbaums, dem Bau Wampanoag Wigwam <?page no="58"?> Plymouth 57 oder Ausbessern von Rindenhäusern und der Herstellung von Gegenständen aller Art beschäftigt. Die Rollenspieler antworten bereitwillig auf alle Fragen, unter anderen auch über die indianische Sprache, die sie neben Englisch mehr oder weniger rudimentär zu sprechen versuchen. Da die Sprache der Wampanoag ausgestorben ist, mussten sie Ethno-Linguisten auf der Grundlage der Übersetzung der Eliot-Bibel aus dem Jahr 1663 sowie durch Vergleiche mit verwandten Algonkin-Sprachen rekonstruieren und die Nachkommen des Stammes darin unterrichten. Das Living History Museum Plimoth Plantation ist mit seiner sorgfältigen Simulation und Rekonstruktion der historischen Vergangenheit ein gelungenes museumspädagogisches Experiment, das sich in den USA nur noch mit Old Sturbridge Village und Colonial Williamstown vergleichen lässt. Der Gang durch ein koloniales Dorf des 17. Jahrhunderts, das Plaudern mit den „Dorfbewohnern“ in den Küchen, Werkräumen oder über Gartenzäune hinweg und die vielen Geschichten und Anekdoten, die man dabei zu hören bekommt, vermitteln ein Geschichtserlebnis besonderer Art. Es schafft einen zwar illusionären, aber dennoch geschichtsnahen Gegenpol zu den romantisierenden Verkitschungen, die der Geschichte der Pilger und Indianer im Lauf der Jahrhunderte übergestülpt wurden. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Plimoth Plantation geht weit über das rein Museale, Materielle und Folkloristische hinaus und ist zu einem wichtigen Bestandteil des amerikanischen Gründungsmythos geworden. Um der relativ geschichtsarmen, heterogenen und rastlosen Nation einen inneren Zusammenhalt zu geben, griff er aus der konkreten Geschichte das heraus, was für die Zukunft brauchbar war. Obwohl die nachfolgende Massenzuwanderung der Puritaner in der Great Migration und die Errichtung einer funktionierenden Kolonialverwaltung zweifellos nachhaltiger war, übte Plymouth insgesamt einen intensiveren Einfluss auf das amerikanische Selbstverständnis aus als die puritanische Theokratie. Der Mayflower Compact als Prototyp einer auf Interessenausgleich und freiem Wahlrecht beruhenden Selbstverwaltung und der konsequente Aufbau einer autonomen <?page no="59"?> 58 Plymouth Kommunität durch harte Arbeit, Durchhaltevermögen und Gottvertrauen gaben der Nation eine grundlegende Orientierung. Wie berechtigt oder nicht der teilweise noch heute erhobene moralische Führungs- und Vorbildanspruch der USA sein mag-- hier fand er seine früheste Ausprägung. 40 Als Präsident Lincoln 1863 in den Wirren des amerikanischen Bürgerkrieges Thanksgiving zum Nationalfeiertag erhob, verstand er dies als einen symbolischen Akt in Hinblick auf den von ihm angestrebten nationalen Konsens. Dass dieser letztlich einem ethnozentrischen Machtanspruch unterlag, der längerfristig zum Untergang der indigenen Bevölkerung führte, wurde dabei lange Zeit verdrängt. Erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts drang diese Erkenntnis zunehmend in das kollektive Selbstverständnis der Nation ein. Die Museumsanlage bemüht sich mit ihrer bikulturellen Ausrichtung um diese Zusammenhänge und ist damit zu einer der fortschrittlichsten Bildungseinrichtungen der USA geworden. <?page no="60"?> Salem 59 3. Salem-- Stadt der Hexen Eine Legende wird vermarktet D ie ehemalige Hafenstadt Salem mit ihren ca. 45 000 Einwohnern liegt 30 km nördlich von Boston und ist heute eine Touristenattraktion ersten Ranges. Alljährlich besuchen über eine Million Menschen die Witch City, wo an jeder Straßenecke Hexenmuseen und Hexenläden Gruselatmosphäre verbreiten. Haunted Footsteps Ghost Tours oder Witch Memorial and Cemetery Tours schleusen die Besucher durch die Stadt, und besonders zu Halloween-- in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November-- tummeln sich die Massen in grotesken Teufels- und Hexenkostümen in den Straßen. Shows und Paraden aller Art werden abgehalten, und am historischen Galgenhügel Hexenfolklore <?page no="61"?> 60 Salem feiern unheimliche Hexengestalten obskure Zeremonien. Die Ausschlachtung dieser populären Phantasiewelt durch die Tourismusindustrie begann in den 1970er Jahren und dauert bis heute an. Den Anfang setzte Laurie Cabot, eine clevere Geschäftsfrau, die sich 1971 in Salem niederließ und als selbsternannte Hexen-Hohepriesterin Aufsehen erregte. Sie präsentierte sich der Öffentlichkeit mit Spitzhut, Amuletten und schwarzen Gewändern, trat für die Rechte der Hexen in aller Welt ein und verbreitete ihre krausen Vorstellungen in populären Büchern. Die Hexengemeinde der Wiccans formierte sich und zelebrierte New Age-Geheimlehren und magische Rituale. Mit Crow Haven Corner, dem ersten Hexenladen in Salem, erzielte Cabot erstaunliche Gewinne und wurde zum Vorbild aller nachfolgenden Geschäftemacher in diesem Bereich. Die Magic Shops bieten alles an, was mit witchcraft in Verbindung gebracht werden kann- - schwarze Roben und Hüte, Teufelsmasken, magische Glaskugeln, Hexenbesen, Hexen- T-Shirts, fünfzackige Hexensterne, schwarze Katzen und Krähen, Weihrauch und geheimnisvolle Kräuter und Tinkturen. Darüber hinaus gibt es eine Menge einschlägiger „Museen“ wie Dracula’s Castle, The Museum of Myths and Monsters oder The New England Pirate Museum und sie locken mit ihren Vampiren, Werwölfen, grüngesichtigen Trollen und Monstern jede Menge Schaulustiger an. Witch City ist zur amerikanischen Ikone geworden und der Hexentourismus zum Big Business. 1 Nur das 1972 in einer aufgelassenen neugotischen Kirche eröffnete Salem Witch Museum wird der historischen Realität einigermaßen gerecht und zeigt auf volkstümliche Weise den Verlauf der Hexenprozesse anhand lebensgroßer multimedialer Tableaus. Das Abstruse an Salems Hexenkult ist, dass er mit den historischen Hexenprozessen, die die Stadt im Jahr 1692 erschütterten, so gut wie nichts zu tun hat. Die 20 unschuldigen Menschen, die damals hingerichtet wurden, waren keine Hexen und Zauberer, sondern Opfer einer wild gewordenen kollektiven Hysterie. Und Halloween war den Puritanern, die heidnische und katholische Bräuche verabscheuten, unbekannt. Das beliebte Familien- und Kinderfest geht auf keltische Neujahrsriten zurück, die in Irland <?page no="62"?> Salem 61 mit dem katholischen Allerheiligenfest verschmolzen und erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von irischen Einwanderern in die USA eingeführt wurden. Vom kolonialen Salem, der ersten puritanischen Siedlung in Massachusetts, ist außer einem kleinen nachgebauten Pioneer Village heute so gut wie nichts mehr vorhanden. Roger Conant, ein englischer Einwanderer in Plymouth Plantation, der dem religiösen Eifer der Pilgrims entkommen wollte, gründete 1626 mit einer Gruppe Gleichgesinnter den Ort an der Stelle des untergegangenen indianischen Fischerdorfes Naumkeag am Nordrand der Massachusetts Bay. Drei Jahre später ging der puritanische Entrepreneur John Endecott mit 200 Kolonisten als Vorhut der Great Migration im Hafen vor Anker und nahm den Ort sowie die umliegenden indianischen Maisfelder, Jagd- und Fischgründe in Besitz. Er unterstellte die Siedlung der königlichen Charter der Massachusetts Bay Colony und gab ihr den Namen Salem (hebr. shalom, Frieden). Auf indianische Rechte musste er keine Rücksicht mehr nehmen, denn der vormals dort lebende Pawtucket-Stamm war zwischen 1616 und 1619 durch eingeschleppte Seuchen fast zur Gänze ausgelöscht worden. Die aufgelassenen Rindenhütten wichen bald den Holzhäusern der puritanischen Siedler. 2 Endecott war ein militanter puritanischer Autokrat. Als erster Gouverneur der Kolonie entsandte er umgehend eine Miliztruppe in das nahe gelegene nicht-puritanische Konkurrenzunternehmen Merrimount und brannte es kurzerhand nieder. 1637 machte er sich durch seine Teilnahme am blutigen Massaker an den Pequot-Indianern einen gefürchteten Namen. In Salem führte er ein strenges, auf Unterdrückung und Angst basierendes theokratisches Regime und baute eine Gemeinde auf, in der Zucht und Ordnung die obersten Prinzipien waren. Die Geistlichen herrschten mit einem rigiden System religiöser und moralischer Kontrolle, in dem es außer Religion und Arbeit nichts geben durfte. Wer gegen die kirchliche und weltliche Ordnung und Obrigkeit verstieß oder von der geltenden Doktrin abwich, wurde bestraft oder aus der Kirchengemeinde ausgestoßen. Das Fernbleiben vom Sonntagsgottesdienst, unsittliches oder ungebärdiges Beneh- <?page no="63"?> 62 Salem men, Trunksucht und andere Vergehen wurden mit Pranger und Gefängnis geahndet, und auf Ehebruch stand die Todesstrafe. 3 Ein liberalerer Geist wie der junge Pastor Roger Williams, der sich für Toleranz gegenüber Andersgläubigen und eine faire Behandlung der Indianer einsetzte, wurde als häretischer Abweichler aus der Kolonie verbannt. Er flüchtete 1636 in den Süden Neuenglands und gründete Providence Plantation, aus der später die Kolonie Rhode Island hervorging. Sie wurde zum Zufluchtsort für verfolgte religiöse Gruppierungen, vor allem die von den Puritanern unterdrückten Quäker. 4 Im Lauf der Zeit begannen sich in Salem zwei verschiedene soziale Gruppierungen herauszubilden. Während Salem Town am Hafen den wohlhabenden Kaufleuten, Schiffseigentümern und Kolonialbeamten vorbehalten war, lebte der weniger begüterte Bevölkerungsteil in den verstreuten Farmen von Salem Village. Es dauerte nicht lange, bis Streitigkeiten über Landbesitz, kirchliche Einflussbereiche, Steuern, unklare Grenzziehungen und Erbstreitigkeiten zu einem schwelenden Konflikt eskalierten. Zu den inneren Spannungen traten Bedrohungen von außen hinzu. So verbreiteten der rechtlose Zustand der Kolonie nach der Aufkündigung der Massachusetts Bay Charter durch König William III. im Jahr 1684 und die ständige Gefahr einer franko-kanadischen Invasion aus dem Norden Angst. Am größten war jedoch die Furcht vor indianischen Überfällen, die seit dem King Philip’s War von 1675/ 76 in Neuengland herrschte. Frauen und Kinder, die von Indianern entführt worden waren, kehrten in die Kolonie zurück und verbreiteten Horrorberichte (captivity tales) über ihre Gefangenschaft bei den angeblich von Dämonen besessenen Indianern. Die Geistlichen taten ein Übriges und heizten die allgemeine Paranoia noch weiter an. In ihren Predigten brandmarkten sie das moralische Versagen der Kolonie und warnten vor einem bevorstehenden Großangriff Satans. In Salem und in anderen Orten von Essex County herrschte ein kollektiver Panikzustand, der schließlich zum Ausbruch des Hexenwahns führte. 5 <?page no="64"?> Salem 63 Die Hexenprozesse in Salem im Jahr 1692 Der Hexenaberglaube war keineswegs eine Erfindung neuenglischer Puritaner. Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit breitete er sich über ganz Europa aus. Da man für außergewöhnliche Ereignisse wie Naturkatastrophen, Missernten, Fehl- und Missgeburten, seltsame Krankheiten und abnorme psychische Zustände keine rationalen Erklärungen hatte, führte man diese auf vom „Teufel“ herrührende Ursachen zurück. Der 1486 von zwei deutschen Dominikanern herausgegebene und in 29 Sprachen übersetzte Hexenhammer führte hunderte „übernatürliche“ Erscheinungen dieser Art an, um damit Verfolgungen durch die Inquisition zu rechtfertigen. Das enzyklopädische Werk war bis ins 18. Jahrhundert neben der Bibel eines der meist rezipierten Bücher Europas und machte auch in England den Hexen- und Teufels-Aberglauben zum Allgemeingut. 6 Die Puritaner brachten diesen auch nach Neuengland, und schon vor 1692 kam es dort zu Hexenverfolgungen. Kein Geringerer als der berühmte Theologe Cotton Mather veröffentlichte 1689 die Schrift Memorable Providences, Relations to Witchcraft and Possessions, die in Neuengland zum Leitfaden für den Umgang mit vermeintlichen Teufeln, Hexen und Dämonen wurde. Die tragischen Ereignisse in Salem im Jahr 1692 werden auf diesem Hintergrund verständlich. Das Unheil begann im Haus des Pastors von Salem Village, Reverend Samuel Parris. Der Sohn eines englischen Zuckerrohr-Pflanzers auf den Barbados, der in jungen Jahren auf Wunsch des Vaters ein Theologiestudium in Harvard absolviert hatte, setzte sich nach dem Scheitern der väterlichen Plantage 1680 nach Boston ab. Dort lebte er einige Jahre als Geschäftsmann, bevor er sich für eine geistliche Laufbahn entschied und 1689 das Pastorenamt in Salem übernahm. Zu seinem Haushalt gehörten neben seiner Frau, zwei Töchtern und der Nichte Abigail Williams auch die westindische Haussklavin Tituba. Schon in den ersten zwei Jahren stieß Parris mit seiner streng orthodoxen Amtsführung auf den Widerstand der Gemeinde. Als diese für seine wachsenden Lebenskosten nicht mehr aufkommen wollte, kam es zu heftigen Streitigkeiten. Eine <?page no="65"?> 64 Salem Gegenfraktion bildete sich, die den Gottesdiensten fernblieb und die Kirchenabgaben verweigerte. In die Enge getrieben, drangsalierte Parris seine Widersacher mit drastischen Predigten, in denen sich Lokalpolitik und Theologie auf verhängnisvolle Weise vermischten: Der Teufel ist unter uns und hat sich mit bösen Zauberern und Hexen gegen das Lamm Gottes erhoben, obwohl sie dies ableugnen. [...] Wer sich gegen das Lamm und seine irdischen Vertreter erhebt, ist des Teufels oder ein Instrument des Teufels. Es gibt nur zwei Parteien: die einen, die für das Lamm Gottes und die anderen, die für den Teufelsdrachen eintreten und damit den Frieden und das Wohlergehen Zions bedrohen. Einen neutralen Mittelgrund gibt es nicht. 7 Die Krise spitzte sich zu, als sich im Pfarrhaus seltsame Vorgänge abzuspielen begannen. Die neunjährige Tochter Betty, ein verschlossenes, überangepasstes Mädchen, das dem Teufel- und Höllenfanatismus des Vaters hilflos ausgeliefert war, litt zunehmend an hysterischen Anfällen. Unter heftigen Krämpfen und Verrenkungen warf sie sich zu Boden und halluzinierte unheimliche Geistererscheinungen. Kurze Zeit später zeigte auch die zwölfjährige Abigail ähnliche Symptome. Da die herbeigerufenen Ärzte keine organischen Ursachen feststellen konnten, verdichtete sich die Angst, dass der Teufel seine Hand im Spiel haben könnte. Der Verdacht fiel zunächst auf die dunkelhäutige Tituba, die heimlich Wahrsagerei und magische Voodoo-Riten mit den Mädchen praktiziert hatte und diese damit in eine bedrohliche Situation brachte. Um sich und seine Familie vor übler Nachrede zu bewahren, übte Parris Druck auf die Mädchen aus und zwang sie, die Namen der Quälgeister preiszugeben, von denen sie sich heimgesucht fühlten. Eine verhängnisvolle Serie von Verdächtigungen und Hexenanklagen kam ins Rollen. 8 Betty und Abigail beschuldigten zuerst zwei Frauen aus der Nachbarschaft, sie als Hexengeister attackiert und mit Kneifen und Würgen gequält zu haben. Der Witwe Sarah Good, einer verarmten Außenseiterin, sagten sie nach, das Vieh ihrer Nachbarn mit Krankheiten zu verhexen. 9 Die zweite Anschuldigung richtete sich gegen Sarah Osborne, eine <?page no="66"?> Salem 65 sechzigjährige Witwe, die ihren zwei Söhnen das väterliche Erbe vorenthielt. Beide Frauen wurden ins Gefängnis geworfen und nach langen Verhören, Zeugenaussagen und Verhandlungen zum Tod verurteilt. Sarah Osborne starb noch vor der Vollstreckung des Urteils an der qualvollen Haft und Sarah Good wurde am 12. Juli 1692 am Galgenhügel von Salem gehängt. Legendär geworden ist die Verwünschung, die sie dem Richter ins Gesicht schleuderte: „Ich bin nicht mehr eine Hexe als Sie und wenn Sie mir mein Leben nehmen, dann wird Ihnen Gott Blut zu trinken geben.“ 10 Nathaniel Hawthorne verwendete diese Worte 60 Jahre später in seinem Roman The House of the Seven Gables (1852). Zu den anklagenden Parris-Mädchen gesellte sich bald die zwölfjährige Ann Putnam, die Tochter des benachbarten wohlhabenden Farmers Thomas Putnam, der zur Parris-Fraktion gehörte. Ihre Mutter hatte kurz zuvor eine Fehlgeburt erlitten und die Schwester war unter ungeklärten Umständen gestorben. Mit der Rückendeckung ihres Vaters wurde Ann zur Rädelsführerin der inzwischen auf acht „besessene“ Mädchen angewachsenen Gruppe. Hatten sich ihre Anklagen bis dahin gegen wenig geachtete Außenseiter gerichtet, so scheuten sie jetzt auch vor der Beschuldigung respektabler Gemeindeglieder nicht zurück. Das nächste Opfer war Rebecca Nurse, eine 71jährige Farmersfrau, deren Mann mit den Putnams in eine Fehde über Landbesitz verstrickt war. Neben den üblichen Heimsuchungen wurde ihr vorgeworfen, ihre Opfer anzuhalten, sich in das Buch des Teufels einzuschreiben. Die Frau beteuerte ihre Unschuld und setzte sich vor Gericht gegen die Anschuldigungen heftig zur Wehr. Erst als die als Zeuginnen geladenen Anklägerinnen während der Verhöre ihre üblichen Anfälle demonstrierten, war Rebeccas Schicksal besiegelt. Trotz vieler Petitionen von Mitbürgern wurde sie aus der Kirchengemeinde ausgestoßen, zum Tod verurteilt und am 22. September gehängt. 11 Ihr koloniales Haus in Danvers ist erhalten geblieben und heute ein beliebter Anziehungspunkt für Hexenromantiker. Weitere Opfer waren der achtzigjährige zänkische Nachbar Giles Cory und seine Frau Martha, denen die Mädchen Zauberei vorwarfen. Auch sie wurden zum Tod verurteilt. Cory erlitt ein besonders tragisches <?page no="67"?> 66 Salem Schicksal, als ihn das Gericht wegen Aussageverweigerung zum qualvollen Erstickungstod unter einer tonnenschweren Steinpresse verurteilte. Jahre später rechtfertigte Ann Putnam ihre tödliche Denunzierung damit, dass sie selbst von Satan verführt worden sei. Mit derselben Begründung gelang es auch Tituba, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Als sie unter Hexenverdacht geriet, verteidigte sie sich als eine vom Teufel Heimgesuchte und legte ein fantasiereiches Geständnis ab. 12 Salems spektakulärste „Hexe“ in der Volksüberlieferung war Bridget Bishop, die am 10. Juni 1692 hingerichtet wurde. Die streitbare Frau, die eine Taverne betrieb, hatte angeblich Männer zu Trinkgelagen, Glücksspiel und illegitimen Beziehungen verleitet. Neben der üblichen Beschuldigung, mit dem Teufel im Bund zu stehen, verdächtigte man die dreimal Verheiratete, ihre Ehemänner aus dem Weg geräumt zu haben. Bishops leidenschaftliche Unschuldsbeteuerungen fruchteten nichts. Der Umstand, dass man in ihrem Haus eine Stoffpuppe mit eingestochenen Nadeln als Indiz für ihre Verhexung fand, wurde ihr zum Verhängnis. 13 Eine andere couragierte, zum Tod verurteilte Frau war Mary Easty, die Schwester von Rebecca Nurse. Sie bot den Richtern mutig die Stirn, indem sie die Entfernung der hysterisch agierenden Anklägerinnen aus dem Gerichtssaal forderte. Nach ihrer Verurteilung stellte sie in einem leidenschaftlichen Appell an die Richter die Rechtmäßigkeit der Prozessführung in Frage: „Ich weiß, dass meine Zeit abgelaufen ist und ich sterben muss. Aber ich appelliere an Sie, nicht noch mehr unschuldiges Blut zu vergießen. Auf Grund meiner eigenen Unschuld weiß ich, dass Sie auf dem falschen Weg sind.“ 14 Alle Anklagen beruhten auf „Geister-Evidenz“ (specter evidence), d. h. subjektiven, durch niemanden verifizierbaren Aussagen über Teufels- und Hexenbesessenheit. Das Gericht ignorierte alle weltlichen und psychologischen Motive wie Besitzgier, Missgunst, Neid und Eifersucht, die möglicherweise hinter den Denunziationen standen. Die Prozesse liefen alle nach dem gleichen Muster ab: Die Angeklagten wurden ins Gefängnis geworfen, unter Beisein der Anklägerinnen mit den Anschuldigungen konfrontiert und strengen Verhören unterzogen. Diejenigen, die ein Schuldbe- <?page no="68"?> Salem 67 kenntnis ablegten, kamen mit einer Gefängnisstrafe davon oder wurden freigesprochen, während andere, die ihre Unschuld beteuerten oder sich gegen das Gerichtsverfahren auflehnten, zum Tod verurteilt wurden. Die Verweigerung eines Schuldgeständnisses galt als Beweis für fehlendes Sünden- und Sühnebewusstsein und damit als Konspiration mit dem Teufel. Die Logik dieser perversen Rechtssprechung lag darin, dass sich die Verdächtigten durch Selbstanklage oder durch Anklagen gegenüber anderen retten konnten. Je reibungsloser dieser Mechanismus ablief, umso weniger waren die Richter bereit, von der verhängnisvollen Praxis abzugehen. Der Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verfahren hätte die Autorität des Gerichts untergraben und sie selbst zu Schuldigen gemacht. Dieser fatale Schneeballeffekt steigerte sich zu immer neuen Anschuldigungen, Einkerkerungen und Verurteilungen und fand in den gehäuften Hinrichtungen in der zweiten Hälfte des Jahres 1692 seinen tragischen Höhepunkt. Mindestens 350 Menschen, drei Viertel davon Frauen, wurden angeklagt und 150 in den Kerker geworfen. 44 legten ein Geständnis ab und überlebten, neun entzogen sich durch Flucht der Verurteilung, vier starben an den unmenschlichen Haftbedingungen und 15 Frauen und 5 Männer wurden hingerichtet. Die verhängnisvolle Verquickung von Aberglauben, Misstrauen und Hass blieb keineswegs auf Salem beschränkt, sondern griff auch auf andere Orte im Exeter County wie Andover und Ipswich über. 15 Nach vier Monaten erreichte die Prozessmaschinerie mit den sich überstürzenden Massenanklagen, Verhaftungen, Verhören und erpressten Geständnissen ihren Höhepunkt. Als die Richter den Ansturm nicht mehr bewältigen konnten, griff William Phips, der Gouverneur der Massachusetts-Kolonie, in das Verfahren ein und setzte Ende Mai 1692 einen Sondergerichtshof ein. Zum Vorsitzenden ernannte er den Vizegouverneur und fanatischen Hexenverfolger William Stoughton. Dieser verschärfte die bis dahin geübte Gerichtspraxis, indem er die Richter John Hathorne, Jonathan Corwin, Samuel Sewall und John Hale dazu nötigte, die Prozesse durch straffere Verhöre und schnelle Urteile zu beschleunigen. Ein Anwachsen der Todesurteile war die Folge. Eine ungeheure <?page no="69"?> 68 Salem Welle aufgestauter Frustrationen und Aggressionen brach unter der rigiden puritanischen Oberfläche hervor und verlangte nach immer mehr Opfern. Allein am 22. September 1692 wurden neun Menschen-- die Hälfte aller zum Tod Verurteilten-- gehängt und ihre Leichen in anonymen Gräbern verscharrt. 16 Das Gericht schreckte nun auch vor der Verdächtigung oder gar Verurteilung angesehener Männer nicht mehr zurück. So wurde der vormalige Pastor von Salem George Burroughs, ein hühnenhafter, leicht dunkelhäutiger Mann, der nach dem Ausscheiden aus der Gemeinde zu den verbotenen Baptisten übergelaufen war, beschuldigt, der geheime Rädelsführer und oberste Zeremonienmeister der Hexenverschwörung zu sein. Der verhörende Increase Mather war überzeugt, dass der gerissene Teufel den Geistlichen dazu auserkoren hatte, den puritanischen Gottesstaat zu Fall zu bringen. Das Gericht verurteilte den als Black Monster Difffamierten zum Tod. Aber als Burroughs noch auf der Leiter zum Galgen leidenschaftlich seine Unschuld beteuerte und das Vaterunser betete, war die versammelte Menschenmenge zutiefst verunsichert. 17 Der prominenteste männliche Angeklagte war John Proctor, ein wohlhabender Farmer, der mit seiner Frau Elizabeth in Salem Town eine Taverne betrieb. Als seine Schwägerin Rebecca Nurse unter Hexenverdacht geriet, beschuldigte er die anklagenden Mädchen der Lüge und des kaltblütigen Betruges. Sein Zorn richtete sich vor allem gegen seine Dienstmagd Mary Warren, die seine Ehefrau als Hexe anschwärzte. Warren widerrief ihre Aussage, nahm sie jedoch unter dem massiven Druck der Anklägerinnen kurze Zeit später wieder auf. In einem Schreiben an Increase Mather und andere führende Theologen beteuerte Proctor seine Unschuld und die seiner Frau und forderte die Verlegung des Prozesses nach Boston: „Unsere eigene Schuldlosigkeit und die Feindseligkeit unserer Ankläger, Richter und Geschworenen, die es auf unser unschuldiges Blut abgesehen haben und uns schon vor dem Prozess verdammt und dem Wüten des Teufels überschrieben haben, ermutigt uns, Ihren Beistand zu erbitten.“ 18 Die einzige Reaktion war, dass nun auch er beschuldigt wurde, mit dem Teufel im Bund <?page no="70"?> Salem 69 zu stehen. 31 Mitbürger unterschrieben ein Gnadengesuch, und sogar die Richter drängten Proctor, sich durch ein Geständnis vor dem Galgen zu retten. Dennoch blieb er standhaft und starb den Märtyrertod. Seine Frau, deren Hinrichtung wegen einer Schwangerschaft aufgeschoben wurde, kam mit dem Leben davon und kämpfte nach Beendigung der Hexenprozesse mehrere Jahre für die Wiedereinsetzung ihrer Ehrenrechte und die Rückerstattung des von den Behörden konfiszierten Besitzes. Proctor war einer der ganz wenigen aus der Menge herausragenden Persönlichkeiten, die sich über die abergläubische Enge des Zeitgeistes erheben konnten und das absurde Spiel durchschauten. 19 Nach der Hinrichtungsorgie vom 22. September 1692 wuchs das Unbehagen in der Bevölkerung und immer mehr kritische Stimmen wurden laut. In dieser prekären Situation zog Gouverneur Phips die Notbremse und setzte dem Albtraum ein Ende. Er verbot weitere Anklagen, löste am 29. Oktober das Gericht auf und ein in Boston zusammengerufener Superior Court wickelte die restlichen Fälle ab. Es kam zu keinen neuen Verurteilungen mehr und die noch Eingekerkerten wurden nach einiger Zeit freigelassen. 20 Zwar wagte noch niemand, die Existenz von Satan, Hexen und Dämonen grundsätzlich in Frage zu stellen, aber die juridische Rechtmäßigkeit des Hexentribunals wurde jetzt zunehmend hinterfragt. Am radikalsten rechnete der Bostoner Kaufmann Robert Calef 1697 in einer Streitschrift mit dem Hexenwahn ab. Anhand von Gerichtsunterlagen und Zeugenaussagen überprüfte er die Prozessabläufe und gelangte zu einem vernichtenden Urteil. Seine Kritik wandte sich vor allem gegen Cotton Mathers Schrift Wonders of the Invisible World (1693), die die Hexenprozesse noch nachträglich als gottgefälligen Abwehrkampf gegen den Totalangriff Satans auf die Massachusetts-Kolonie zu rechtfertigen versuchte. Calef entlarvt Mather als einen bigotten Eiferer, der die Menschen „zu blinder und blutrünstiger Wut gegen tugendhafte und gläubige Menschen aufhetzte.“ 21 Calefs unter dem Titel More Wonders of the Invisible World (1697) in London veröffentlichtes Buch wurde am Harvard Square in Cambridge öffentlich verbrannt. Es kam zu keinem generellen <?page no="71"?> 70 Salem Schuldbekenntnis der Gerichtsbehörden. Führende Hexenrichter wie Stoughton und Hathorne zeigten keinerlei Reue, hielten an ihrer Rechtsauffassung fest und kaum jemand wurde je zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, die Rehabilitierung unschuldig Verurteilter, die Zurücknahme von Exkommunikationen und die Rückerstellung von gerichtlich beschlagnahmtem Vermögen zogen sich noch über mehrere Jahre hin. 22 Eine erstaunliche Ausnahme bildete nur der Theologe und Hexenrichter Samuel Sewall. In seiner lateinisch abgefassten Apologie Phaenomena quaedam Apocalyptica (1697) legte er ein öffentliches Sühnebekenntnis ab und forderte zu Buß- und Bettagen auf. 23 Was stand hinter dem Hexenwahn? Kein anderes Ereignis in der Geschichte Neuenglands hat so viele widersprüchliche Meinungen und Erklärungsversuche hervorgerufen wie die Salemer Hexenprozesse. Wie war es möglich, so fragten Religionswissenschaftler, Historiker, Soziologen und Psychologen, dass eine kleine Gruppe offensichtlich persönlichkeitsgestörter Mädchen einen mörderischen Flächenbrand dieses Ausmaßes auslösen konnten? Wie gelang es, respektable Bürger, vor allem Frauen und sogar Geistliche mit Hexerei in Verbindung zu bringen? Was veranlasste hochgelehrte Theologen und Juristen, den monströsen Anschuldigungen Glauben zu schenken und ihre Mitbürger an den Galgen zu bringen? Und wie konnten sich die Mitglieder einer christlichen Gemeinde überhaupt in eine derart mörderische Hassorgie hineinsteigern? Kulturhistorische, theologische, psychologische, soziologische und feministische Quellenforschungen bemühen sich seit mehreren Jahrzehnten, die hinter den Fakten verborgenen Zusammenhänge zu ergründen. Die kulturhistorischen Erklärungen decken sich größtenteils mit den theologischen. Vor allem die Erforschung zeitgenössischer „Jeremiaden“, d. h. religiöser Traktate und Predigten über den Sittenverfall im puritanischen Neuengland und das dafür drohende Strafgericht Gottes, ergab, dass die weit verbreitete Vorstellung <?page no="72"?> Salem 71 eines kosmischen Kampfes zwischen Satan und der mit Gott verbündeten Kolonie den Hexenwahn entfachte. 24 Die Mächte des Bösen, so glaubte man, verschworen sich gegen das Gotteswerk in der Neuen Welt, um es zu vernichten. Theologen und Prediger schürten die allgemeine Paranoia und erlangten durch ihre Schuldzuweisungen Macht über die Bevölkerung. In engem Zusammenhang dazu stehen psychologische und medizinische Erklärungen. Sie führen den Hexenwahn auf psychopathologische Erscheinungen zurück und sehen die Besessenen als Opfer einer repressiven puritanischen Lebenswelt. Da man Kinder und Jugendliche, vor allem Mädchen, mit Strenge und in ständiger Höllenangst aufzog, zu harter Arbeit verpflichtete und jede Form von Unterhaltung, Spiel, Phantasie und Kreativität aus ihrem täglichen Leben verbannte, gab es für sie keine Entfaltungs- oder Fluchtmöglichkeiten. In einer Zeit der Krise verdichteten sich die aufgestauten Ängste, Neurosen und Schuldkomplexe schließlich zu einer Art Massenpsychose. „Die Mädchen waren nicht kaltblütige und bösartige Ungeheuer,“ konstatiert der Mediziner Ernest Caulfield, „sondern psychisch kranke, in der schlimmsten Form mentaler Verzweiflung lebende Kinder. Sie bangten um ihr Leben bzw. das Überleben ihrer Seelen. Hysterie war die äußere Manifestation ihres Versuchs, mit der zutiefst verunsichernden, grausamen und deprimierenden Welt von Salem Village und ihrer alles durchdringenden Höllenangst fertig zu werden.“ 25 Ergänzt werden diese Erkenntnisse durch soziologische Untersuchungen. Vor allem die statistischen Erhebungen von Paul Boyer und Stephen Nissenbaum in Salem Possessed. The Social Origins of Witchcraft (1974) sowie das von ihnen herausgegebene Quellenmaterial sind zu wissenschaftlichen Meilensteinen geworden. Den zentralen Motivationshintergrund für den Hexenwahn sehen diese Forschungen im Konflikt zwischen der ökonomisch unterprivilegierten, konservativen Landbevölkerung von Salem Village und dem Herrschaftsanspruch der aufsteigenden merkantilen Oberklasse von Salem Town. Für diese These spricht, dass auffallend viele Anklagen aus dem ländlichen Bereich kamen, wo erbitterte Besitzkonflikte, Erbstreitigkeiten, Familienfehden und Rivalitä- <?page no="73"?> 72 Salem ten an der Tagesordnung waren. Der Hexenwahn wird auf diesem Hintergrund zum emotionalen Vulkanausbruch einer von inneren Gegensätzen, verfeindeten Netzwerken und politischen Machtspielen zerrissenen Gesellschaft. Nicht selten standen dabei Kinder und Frauen unter dem manipulierenden Einfluss eigennütziger Intriganten, die hinter den Kulissen skrupellos ihre Interessen verfolgten. 26 Seit den 1970er Jahren beschäftigt sich die feministisch orientierte Frauenforschung intensiv mit den Hexenprozessen. Sie richtet ihr Augenmerk auf die patriarchalen Machtstrukturen im puritanischen Neuengland. So waren unter den verurteilten „Hexen“ auffallend viele Witwen im Alter von 50 bis 70 Jahren, die für ihre Erbansprüche kämpften und damit die etablierte maskuline Ordnung bedrohten. 27 Verstärkt wurde die latente Frauenfeindlichkeit dieser Zeit durch den volkstümlichen Teufelsglauben. Unerklärliche körperliche Beschwerden (afflictions), Schmerzen, Hautausschläge und Warzen, Wundmale und Missbildungen wurden als Einwirkungen übernatürlicher Kräfte gedeutet. Mit ihren fragileren Körpern und sensibleren Psychen galten Frauen als besonders anfällig für gewaltsame Zugriffe des Teufels. Der Black Man fügte ihnen Qualen und Verletzungen aller Art zu, drang in sie ein und ergriff von ihrer Seele Besitz. Deshalb wurden die Körper der beschuldigten Frauen im Zuge der Verhöre regelmäßig nach Angriffsmerkmalen des Teufels abgesucht. Die Frauen glaubten diese abstrusen Vorstellungen zum Teil selbst. Das Gefühl der eigenen Hinfälligkeit und Verderbtheit veranlasste sie, sich und ihre Geschlechtsgenossinnen zu verdächtigen. Anklagen oder auch Schuldgeständnisse empfanden sie als eine Art Selbstreinigung, die ihnen die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ermöglichte. Offen bleibt dabei, wie viele der Denunziationen auf betrügerische Absichten zurückgingen. Zweifellos versuchten viele verunsicherte Frauen, die Beachtung der Öffentlichkeit auf sich zu lenken und ihre eigene Hilflosigkeit zu überwinden, indem sie durch ihre Anklagen Macht über andere ausübten. 28 Religiöser Fanatismus, Machtstreben, psychopathologische Phänomene, Mysogynie und kriminelle Energien schaukelten sich <?page no="74"?> Salem 73 zu einem kollektiven Psychodrama mit verbrecherischen Konsequenzen auf. Die meisten Zeitgenossen verstanden diese Zusammenhänge nicht und wurden gegen ihren Willen in das Desaster hineingezogen. Der Dramatiker Arthur Miller erkannte wie kein anderer die Komplexität dieser Zusammenhänge und gestaltete sie auf packende Weise in seinem Bühnenstück The Crucible (1952; Hexenjagd). Sein unmittelbares Interesse an der Thematik wurde durch die auffallenden Analogie zwischen dem Hexenwahn des 17. Jahrhunderts und den McCarthy-Prozessen seiner eigenen Zeit geweckt. In den Salemer Hexenprozessen sah er eine historische Parallele zur Kommunistenjagd des ultrakonservativen republikanischen Senators McCarthy in den 1950er Jahren, in die auch er selbst hineingezogen wurde. Die Massenhysterie, dass eine verborgene kommunistische Unterwanderung den Untergang des demokratischen Systems in den USA herbeiführen würde, war für Miller die Entsprechung zum Hexenwahn von 1692. Dem Hexengericht vergleichbar sammelte das von McCarthy eingesetzte House Committee of Un-American Activities schwarze Listen politisch Verdächtiger und übte damit auf tausende Menschen großen gesellschaftlichen und psychischen Druck aus. Vor allem Intellektuelle, Künstler, Schauspieler und Schriftsteller wurden unter Strafandrohung dazu genötigt, ihre eigenen als subversiv erachteten politischen Aktivitäten sowie die ihrer Kollegen dem Tribunal bekanntzugeben. Als sich Miller auf das in der amerikanischen Verfassung verankerte Recht auf Meinungsfreiheit berief und sich weigerte, Namen preiszugeben, wurde er wegen Missachtung des Gerichts verurteilt. 29 Miller recherchierte intensiv in den Salemer Archiven und Gerichtsakten und gelangte dabei zu Einsichten, die der damaligen Geschichtsforschung voraus waren. Dennoch ist The Crucible weit mehr als ein faktengetreues Geschichtsdrama. Im Mittelpunkt steht ein ethischer Gewissenskonflikt-- die Auflehnung des wegen Hexerei angeklagten John Proctor gegen eine wild gewordene autokratische Justizgewalt. Miller konzentrierte sich vor allem auf selbstsüchtige und korrupte Motive der Beteiligten und hielt sich dabei nicht immer streng an die historischen Quellen. So führte <?page no="75"?> 74 Salem er eine Liebesaffäre zwischen Proctor und Abigail Williams als fiktionales Handlungselement ein. Abigail erscheint als eine von Eifer- und Rachsucht angetriebene Intrigantin, die Proctor und seine Frau durch ihre Anklagen zu vernichten sucht. Ein psychologisches Meisterstück ist die zwischen Angst, Hysterie und Berechnung hin und her schwankende Dienstmagd Mary Warren. Am Höhepunkt des Dramas steht Proctor vor der Entscheidung, mit dem Geständnis eines Teufelspakts sein Leben zu retten und damit das Unrechtssystem zu rechtfertigen oder seine persönliche Schuld auf sich zu nehmen. Er hält an seinen ethischen Prinzipien fest und stirbt dafür am Galgen. Die psychologische Modernisierung des historischen Konflikts begründete den ungeheuren Publikumserfolg von The Crucible. Mit der Erstaufführung des Stückes im Jahr 1952, als die nationale Paranoia ihren Höhepunkt erreichte, erfuhren die Salemer Hexenprozesse eine ungeheure Aktualisierung. Sie wurden zur zeitlosen Parabel für politische Unterdrückung, Massenhysterie und Intoleranz nicht nur im Rahmen von Puritanismus und McCarthyismus, sondern auch in Hinblick auf den Faschismus und Stalinismus in Europa. Die Salemer Bevölkerung allerdings stand zu diesem Zeitpunkt Millers Recherchen noch mit großer Reserviertheit gegenüber und wollte im Grunde nicht an die düstere Hexenvergangenheit ihrer Stadt erinnert werden. Die einzigen authentischen Denkmäler waren damals der Grabstein John Hathornes am Old Burying Point und das historische Wohnhaus des Hexenrichters Jonathan Corwin. 1948 wurde dieses restauriert und als Witch House der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Erst 1992 anlässlich des 300-jährigen Gedenkens der Hexenprozesse wurde das Salem Witch Trial Memorial errichtet und dem von den Nazis verfolgten Nobelpreisträger Elie Wiesel gewidmet. Arthur Miller hielt seine berühmt gewordene Eröffnungsrede. Die schlichte und würdevolle Gedenkstätte besteht aus einer als Sitzbank gestalteten Granitmauer, in der die Namen der 20 Hingerichteten eingemeißelt sind. <?page no="76"?> Salem 75 Salem Witch Memorial Salems Aufstieg im Ostasien-Seehandel Zu Beginn des 18. Jahrhunderts beruhigte sich die Situation und es folgten sechs Jahrzehnte provinzieller Ereignislosigkeit. Erst in der Zeit der amerikanischen Revolution erwachte die Provinzstadt aus ihrem Dornröschenschlaf und erlebte einen unerwarteten Aufschwung. Durch ihre Randlage litt sie weniger unter den negativen wirtschaftlichen und militärischen Auswirkungen des Unabhängigkeitskrieges als Boston und New York und entwickelte sich zum wichtigsten Überseehafen an der Ostküste. Während des Krieges stellten sich die Salemer Schiffseigner als Freibeuter (privateers) dem Freiheitskampf auf hoher See zur Verfügung, enterten mit kanonenbestückten Brigantinen englische Handelsschiffe und plünderten sie aus. Die dadurch erzielte hohe Beute machte einige von ihnen, vor allem den berühmten Kapitän Elias H. Derby, zu Millionären. Als nach dem Krieg die merkantilistische Kolonialwirtschaft mit England zusammenbrach und amerikanische Handelsschiffe aus dem britisch beherrschten Atlantik <?page no="77"?> 76 Salem verbannt wurden, rückte der Handel mit Ostasien in das Interesse der profitorientierten Entrepreneure. Als erstes Handelsschiff stach 1785 Derbys Dreimaster Grand Turk in Richtung China in See und kehrte zwei Jahre später mit einer Riesenladung wertvoller Luxuswaren zurück. Pfeffer, Kaffee, Tee, Porzellan, Elfenbein, Möbel aus Sandelholz, Silberwaren und Seidenstoffe erzielten sagenhafte Gewinne. Andere Salemer Unternehmer folgten Derbys Beispiel und weiteten den Seehandel über China hinaus nach Sumatra, Japan, Indien, Arabien und Afrika aus. Salem wurde eine Zeit lang zur Hauptstadt des globalen Seehandels mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der USA. Was heute von der historischen Bausubstanz der Stadt erhalten geblieben ist, stammt größtenteils aus dieser Blütezeit. Die meisten der mit Chinoiserien angefüllten Luxusvillen gehen auf die legendären Merchant Princes zurück. 30 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Salem mit seiner prächtigen Architektur, seinen Gärten und Parkanlagen sowie den an den Kais vor Anker liegenden Handelsschiffen eine glamouröse Stadt. Die kosmopolitisch gesinnten Bürger legten hohen Wert auf Kultur, unterhielten gute Schulen, Theater und Bibliotheken und leisteten sich hervorragende Museen und hochkarätige wissenschaftliche Gesellschaften. 1799 gründete eine Gruppe von reichen Ostasien-Händlern die Salem East India Marine Society und errichtete an der Essex Street die East India Marine Hall, eine Mischung aus Versammlungszentrum, Bank und Museum für kunsthandwerkliche Kuriositäten aus Übersee. In den 1830er Jahren, als der Boom zu Ende ging, übernahm der kulturbeflissene Großunternehmer George Peabody die Bestände und integrierte sie in ein von ihm gegründetes Museum. 1992 wurde dieses samt der Bibliothek und den historischen Sammlungen des 1821 gegründeten Essex Institute zum heutigen Peabody Essex Museum vereint. Ein 2003 fertig gestellter moderner Anbau erweiterte die Ausstellungsfläche für insgesamt 1,3 Millionen Exponate. In 30 Ausstellungsräumen kann man die Schätze des Salemer Asienhandels bewundern-- Sammlungen von chinesischem Porzellan, Möbel und Sänften aus Mahagoni, kostbare Elfenbeinschnit- <?page no="78"?> Salem 77 zereien, Kunstgegenstände und Textilien aller Art sowie das historische Geschäfthaus eines reichen chinesischen Kaufmanns. Im Maritime Department veranschaulicht ein riesiges Diorama den Hafen von Salem in seiner Blütezeit mit seinen hunderten vor Anker liegenden Segelschiffen. Seekarten, nautische Geräte, Schiffsmodelle, geschnitzte Bugfiguren, Porträts von Reedern und Kapitänen vermitteln dem Besucher einen umfassenden Einblick in den Überseehandel dieser Zeit. Die ethnographische Abteilung widmet sich den Kult- und Kunstgegenständen, Geräten, Waffen und Masken, die die Handelsschiffe aus Afrika, Indonesien und den pazifischen Inseln nach Hause brachten, darunter die riesige Holzskulptur eines hawaiischen Kriegsgottes. Ebenfalls zum Museumskomplex gehören 24 der wertvollsten historischen Gebäude der Stadt. Die meisten von ihnen wurden vom Salemer Baumeister Samuel McIntire im Federal Style, dem neo-klassizistischen Stil der neuen Republik, erbaut und sind bis heute eine große Attraktion für Architekturbegeisterte. An den Chinahandel erinnern die vielen chinesischen Ornamente an Fassaden, Balustraden und Gittern. Besonders das Gardner-Pingree House (1804) besticht durch seinen eleganten, von vier korinthischen Säulen flankierten Eingang, eine geschwungene Freitreppe im Inneren, handgemalte Tapeten, reich ornamentierte offene Kamine und das luxuriöse chinesische Mobiliar. 31 Gardner-Pingree House <?page no="79"?> 78 Salem In den 1830er Jahren, als die Hochseehäfen von Boston und New York mit größeren und schnelleren Klippern Salem den Rang abliefen, versiegte der Fernosthandel und die Stadt verlor ihre vormalige Bedeutung. Gleichzeitig schuf die beginnende Expansion in den amerikanischen Westen neue wirtschaftliche Realitäten. Der Niedergang der Landwirtschaft in Neuengland und das dadurch freigesetzte Potential an Arbeitskräften führte zu Landflucht, Industrialisierung und Urbanisierung. Die beginnende industrielle Revolution setzte 1845 mit der Gründung der Naumkeag Steam Cotton Company den ersten Paukenschlag. In wenigen Jahren entwickelte sich Salem zu einer florierenden Industriemetropole mit dem Schwerpunkt auf der Textil- und Schuhproduktion. Zehntausende Zuwanderer aus aller Welt strömten in die Stadt und ließen bis zur Jahrhundertwende die Einwohnerzahl auf 36 000 hinaufschnellen. Der Großteil der Industriearbeiter waren Frankokanadier, Polen, Iren und später auch Lateinamerikaner. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts fand die industrielle Phase ihr Ende. Wirtschaftskrisen, erbitterte Arbeitskonflikte und Streiks führten zur Schließung der Fabriken oder deren Verlegung in die billigeren Südstaaten. Die vormalige Mill Town verlor ihre Existenzgrundlage, die Arbeiter wanderten ab, die großen Warenhäuser sperrten zu oder wichen in die Einkaufszentren an der Peripherie aus. Das einst so belebte Geschäftsviertel von Downtown Salem verödete, und alle Versuche der Stadtverwaltung in den 1970er Jahren, das Geschäftsleben wiederzubeleben, scheiterten. 32 Dies war die Zeit, als sich die Stadt ihrer legendären Hexenvergangenheit erinnerte und diese kommerziell auszubeuten begann. Der Hexenkult stellte die architektonischen und kulturellen Kostbarkeiten in den Schatten und wurde zum neuen Markenzeichen. Nathaniel Hawthorne als Salems genius loci Vor allem Nathaniel Hawthorne, der schon im 19. Jahrhundert zum amerikanischen Klassiker wurde, ist es zu danken, dass der Puritanismus im kollektiven Gedächtnis der Nation präsent blieb. <?page no="80"?> Salem 79 Wie kein anderer stand er im Bann der Hexenvergangenheit und sein Roman The Scarlet Letter (1850; dt.: Der scharlachrote Buchstabe) machte Salem zu einer literarischen Ikone. 33 Im Gegensatz zum optimistischen Fortschritts- und Demokratieglauben seiner Zeit richtete sich Hawthornes Interesse auf die dunkle Kehrseite des amerikanischen Traums. Schon in jungen Jahren vertiefte er sich in der Bibliothek des Salemer Athenäums in die puritanische Vergangenheit Neuenglands und sammelte Material für historische Erzählungen. Prägend war dabei seine innere Auseinandersetzung mit seinen puritanischen Vorfahren. William Hathorne, der 1630 im Zuge der Great Migration nach Salem gekommen war, ordnete als Richter die Auspeitschung einer Quäkerfrau an. Vor allem aber ist sein Sohn John Hathorne als fanatischer Hexenrichter in die Geschichte eingegangen. „Die Gestalt dieses Urahns, der von der Familienüberlieferung mit einer unklaren und düsteren Größe ausgestattet wurde,“ schreibt Hawthorne in „The Custom House“, „war meiner knabenhaften Phantasie immer gegenwärtig, John Hathornes Grab <?page no="81"?> 80 Salem soweit ich mich zurückerinnern kann.“ 34 Die Todesurteile, die dieser verhängte, lasteten wie ein Fluch auf der Familiengeschichte und verursachten in Hawthorne Schuldkomplexe. Als Zeichen seiner inneren Distanzierung änderte er die Schreibung seines Namens von Hathorne auf Hawthorne. Nathaniel Hawthorne wurde 1804 im Haus seiner Eltern in der Union Street von Salem geboren. Sein Vater, ein Schiffskapitän, starb auf einer Ostasienfahrt an Gelbfieber, als der Sohn erst vier Jahre alt war. Zusammen mit seinen beiden Schwestern wuchs er unter der Obhut seiner Mutter auf, die einer alteingesessenen Salemer Kaufmannsfamilie entstammte. Als Witwe kehrte sie mit ihren Kindern in das große, dunkle Haus ihrer Eltern in der Herbert Street zurück. Ein einschneidendes Erlebnis in Hawthornes Kindheit war eine schwere Beinverletzung, die er als Neunjähriger erlitt. Sie schränkte mehrere Jahre seine Bewegungsfreiheit stark ein und zwang ihn zu einer hausgebundenen Lebensweise. Isolation und Einsamkeit waren die prägenden Erfahrungen seiner Hawthornes Geburtshaus <?page no="82"?> Salem 81 Jugend und ließen ihn zu einem übersensiblen, introvertierten Menschen werden. Im Anschluss an die Lateinschule in Salem besuchte er mit der finanziellen Unterstützung seiner mütterlichen Familie das angesehene Bowdoin College in Maine. Dort schloss er mit einem Studienkollegen, dem späteren amerikanischen Präsidenten Franklin Pierce, eine lebenslange Freundschaft. Nach seiner Graduierung im Jahr 1825 verbrachte Hawthorne zwölf zurückgezogene Jahre im Haus seiner Mutter und schrieb Texte zur Geschichte Neuenglands, die er in literarischen Journalen und später in seiner ersten Erzählsammlung Twice-Told Tales (1837) veröffentlichte. Eine wichtige Förderin in dieser Zeit war Elizabeth Peabody, die in Boston einen Buchverlag führte und mit führenden Literaten in engem Kontakt stand. Sie eröffnete dem zurückgezogenen Hawthorne den Zugang zur literarischen Welt und machte ihn mit ihrer jüngeren Schwester Sophia bekannt. Ihre Natürlichkeit, Spontaneität und scharfe Beobachtungsgabe bildeten einen wohltuenden Gegenpol zu seiner Verschlossenheit und zwischen den beiden entstand eine tiefe Zuneigung. 1841 übersiedelte Hawthorne nach Concord und unterhielt mit Emerson, Thoreau, Margaret Fuller und anderen Transzendentalisten einen regen Gedankenaustausch (s. Kap. 6). Er beteiligte sich sogar ein halbes Jahr lang an George Ripleys sozialutopischem Brook Farm-Experiment, verließ dieses jedoch, als ihm die Diskrepanz zwischen idealistischem Anspruch und der Realität unerträglich wurde. In seinem Roman The Blithedale Romance (1852) rechnete er zehn Jahre später in der Gestalt des Idealisten Hollingworth mit dem transzendentalistischen Illusionismus ab. 1842 heiratete er Sophia Peabody und verbrachte mit ihr drei glückliche Jahre in Emersons The Old Manse in Concord. Der Erzählband Mosses from an Old Manse (1846) ist das wichtigste literarische Ergebnis dieser Lebensphase. Die allegorisch vertieften und formal brillanten Short Stories zeugen vom großen künstlerischen Fortschritt, den Hawthorne in dieser Zeit machte. 35 Die herausragende Erzählung der Sammlung ist „Young Goodman Brown“ („Der junge Nachbar Brown“), in der Hawthorne den Hexenwahn mit großer Eindringlichkeit gestaltet. Im Mittelpunkt <?page no="83"?> 82 Salem steht ein junger Puritaner aus Salem, der wenige Wochen nach seiner Hochzeit eine nächtliche Reise mit ungewissem Ziel antritt. Obwohl ihn seine hübsche, mit einem rosaroten Haubenband geschmückte Braut Faith inständig bittet, sie in dieser Nacht nicht alleine zu lassen, bricht er bei Sonnenuntergang auf. Der Weg führt ihn in einen gespenstischen, dunklen Wald, wo wie verabredet ein seltsamer Weggenosse zu ihm stößt. Der ältere Mann, der ihm auf unheimliche Weise ähnlich sieht, ist von weltmännischem Gehabe und kennt in Neuengland alle Personen von Rang und Namen, darunter auch Browns Vater und Großvater. Der schlangenförmige Wanderstab seines Begleiters lässt Brown schließlich erahnen, dass er sich mit dem Teufel eingelassen hat. Sein Unbehagen schlägt in Schrecken um, als ihn der Gemeindepfarrer, der Diakon und seine alte Katechismus-Lehrerin in einer Hexengruppe hoch in der Luft überholen. Zusammen mit vielen anderen Gestalten streben sie zu einem geheimnisvollen Ort in der Tiefe des Waldes. Brown hört die Stimme seiner Braut und sieht mit Entsetzen ihr rosarotes Band vom Himmel flattern. In Panik möchte er seine Reise abbrechen, aber der Wanderstab seines inzwischen verschwundenen Begleiters führt ihn zur Stätte eines monströsen Hexensabbats. Im Widerhall tausender Stimmen, höhnischen Gelächters, blasphemischer Gesänge, brüllender Indianer und heulender wilder Tiere zelebriert ein teuflischer Zeremonienmeister an einem von brennenden Bäumen umgebenen Altar einen schwarzen Initiationsritus. Brown und seine junge Frau werden als Novizen in den Kreis der Teufelsanbeter aufgenommen: „Nun sind Euch die Augen geöffnet! Das Böse ist die Natur des Menschen. Das Böse muss Euer einziges Glück sein. Willkommen, meine Kinder, in der Gemeinschaft Eures Geschlechts.“ 36 Mit einem Verzweiflungsschrei mahnt Brown Faith zur Umkehr, das dämonische Spektakel zerstiebt und er findet sich allein in der menschenleeren Stille des Waldes wieder: „War er im Wald eingeschlafen und hatte einen wilden Traum vom Hexensabbat geträumt? “ 37 Der Erzähler lässt diese Frage offen, aber nach seiner Heimkehr ist Brown nicht mehr der Mensch, der er vorher war. Mit Misstrauen und Abscheu blickt er in die Gesichter der Dorfbewohner, an Faith geht er grußlos <?page no="84"?> Salem 83 vorüber und auch für sich selbst empfindet er nur noch Ekel. Seine nächtliche Hadesfahrt hat die Welt für ihn zu einer einzigen großen Täuschung werden lassen. Sein Leben bleibt fortan von der Trauer über die Heuchelei und Verderbtheit des Menschengeschlechts überschattet. Die literarische Kritik hat die Erzählung auf vielschichtige Weise interpretiert-- als Schuldkomplex eines jungvermählten Puritaners über die Unvereinbarkeit von Sexualität und christlicher Moral, als archetypische Initiationsreise eines jungen Menschen in die verborgenen Abgründe menschlicher Existenz, als fiktionale Gestaltung von Hawthornes tragisch-pessimistischem Lebensgefühl oder als Abrechnung mit der kalvinistischen Doktrin der angeborenen Verworfenheit des Menschen. Für welche Deutung sich der Leser entscheidet, im Gedächtnis bleibt letztlich eine nicht auflösbare Ambivalenz. 38 Hawthornes Texte spielen, wie er selbst seine Erzählweise erklärt, in „einem neutralen Gebiet, irgendwo zwischen realer Welt und Märchenland, wo das Wirkliche und das Vorgestellte einander begegnen und mit ihrer jeweiligen Natur durchtränken können.“ 39 Es war diese poetische und gleichzeitig erkenntnisskeptische Erzählstrategie, die für sein späteres Werk bestimmend wurde. 40 1845 verließ Hawthorne Concord und kehrte mit Sophia und seinen zwei Kindern in seine Geburtsstadt Salem zurück. Da er seine Familie von der Schriftstellerei nicht erhalten konnte, zog er wieder in das Haus der Schwiegereltern. In dieser schwierigen Situation verschafften ihm seine demokratischen Freunde aus der Collegezeit die Position eines Zollinspektors im Custom House von Salem. Die Blütezeit des ehemals geschäftigen Hafens gehörte zu dieser Zeit allerdings schon der Vergangenheit an. Die einstigen Überseeschiffe waren Transportkähnen mit Tierhäuten und Baumwolle für die neuen Fabriken gewichen und die alten Werften und Lagerhäuser an den Kais verfielen. In „The Custom House“, dem Einleitungskapitel zum Roman The Scarlet Letter, beschreibt Hawthorne ausführlich das obsolet gewordene Zollhaus und übergießt seine schrulligen Kollegen und Amtsvorgänger-- graubärtige ehemalige Seekapitäne und Kriegsveteranen-- und ihre ineffi- <?page no="85"?> 84 Salem zienten Amtsgeschäfte mit feiner Ironie. Auch seine Heimatstadt, in der seine Vorfahren lebten und wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte, schildert er aus ironischer Distanz. „Nicht aus Liebe, sondern aus Instinkt,“ so stellt er fest, ist er in ihre provinzielle Vertrautheit zurückgekehrt, als wäre sie der „unausweichliche Mittelpunkt des Universums“. 41 Bei den Bürgern der Stadt kam diese kritische Wahrnehmung nicht gut an und machte Hawthorne eine Zeit lang zur persona non grata. 42 Die geruhsame Beamtentätigkeit ließ Hawthorne genügend Muße, in den abgelegten Verwaltungsakten, Dokumenten und Schriften im Archiv des Zollhauses zu stöbern. Was er dabei fand, brachte ihn auf die Idee, einen historischen Roman zu schreiben und darin seinen Gedanken, Gefühlen und Fantasien freien Lauf zu lassen. Ein einschneidendes Ereignis gab schließlich den Anstoß zur Realisierung dieses Plans. 1848 verloren die Demokraten die Präsidentenwahl und damit auch das Recht auf die Besetzung öffentlicher Ämter. Trotz heftigen Protests büßte Hawthorne seine Beamtenstellung ein und stand vor dem Nichts. In dieser prekären Situation stürzte er sich in die Arbeit an dem Roman und stellte ihn in wenigen Monaten fertig. The Scarlet Letter (1850) brachte ihm den Durchbruch zum national anerkannten Schriftsteller und wurde zu einem großen Klassiker der amerikanischen Literatur. Den geeigneten Einstieg fand Hawthorne in der literarischen Konvention der Herausgeberfiktion. Bei seinen Recherchen, so macht er den Leser glauben, stieß er eines Tages auf ein Päckchen Der junge Hawthorne (1840) <?page no="86"?> Salem 85 vergilbter Schriften, dem ein mysteriöses rotes Tuch mit einem kunstvoll gestickten Buchstaben „A“ beigelegt war. Jonathan Pue, einer seiner Vorgänger im Amt, habe die Geschichte vor über achtzig Jahren von Zeitzeugen erzählt bekommen und kurz vor seinem Tod in groben Umrissen niedergeschrieben. Als ein nachgeborener Amtskollege sieht sich der Erzähler verpflichtet, die fragmentarischen Aufzeichnungen zu vollenden und seinen Zeitgenossen zugänglich zu machen. Schon im ersten Kapitel „The Prison-Door“ lässt er das Grundthema des Romans metaphorisch anklingen: den Zusammenstoß zwischen der engen puritanisch-moralischen Gesetzeswelt Neuenglands am Ende des 17. Jahrhunderts und dem liberalen naturverbundenen Geist der Romantik 200 Jahre später. Vor dem düsteren Gefängnis blüht auf einem von Unkraut überwucherten Grasfleck ein duftender Rosenstock. Niemand beachtet ihn, denn alle Augen richten sich auf Hester Prynne, eine junge Frau mit dunklem, üppigem Haar, die mit ihrem neugeborenen Kind am Arm durch das Gefängnistor schreitet, um vor einer Menge finsterer Puritaner den Pranger zu besteigen. Mit Würde trägt sie das an ihre Brust geheftete äußere Zeichen ihrer Schmach-- den von ihr selbst kunstvoll gestickten scharlachroten Buchstaben „A“ für „adulteress“-- Ehebrecherin. Die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, entfaltet sich in den folgenden 24 Kapiteln in der Form eines klassischen Dramas-- fünf Akte mit kontrastiv gestalteten dramatischen Szenen und drei symmetrisch angeordneten Tableaus. Hesters Schicksal vollzieht sich zwischen zwei gegensätzlichen Männern, ihrem Ehemann Roger Chillingworth, einem kalten Wissenschaftler und Intellektuellen, der seine junge Frau in die Neue Welt vorausschickte und sie dort zwei Jahre lang sich selbst überließ, und Arthur Dimmesdale, einem charismatischen und sensiblen Seelsorger, der sich ihrer annimmt. Dem geheimen Liebesverhältnis, das zwischen den beiden entsteht, entspringt Pearl, ein kapriziöses Naturkind, dem die streng puritanische Gemeinde dämonische Züge zuschreibt. Als der zurückgekehrte Chillingworth vergeblich versucht, von Hester den Namen des Kindesvaters zu erfahren, entwickelt sich zwischen den beiden Männern ein <?page no="87"?> 86 Salem fataler pas de deux. Chillingworth wird zum Leibarzt des sich selbst kasteienden und von Schuldgefühlen gepeinigten Pastors, errät instinktiv dessen Geheimnis und setzt alle psychischen Druckmittel ein, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Sieben Jahre bringt Hester sich und ihr Kind mit Näharbeiten und Krankenpflege durch, während Dimmesdale in der Gemeinde zum hochverehrten Prediger aufsteigt. Am Höhepunkt der Krise besteigt der gequälte Pastor am Rande des Wahnsinns zu nächtlicher Stunde den Pranger und schreit ungehört seine Schuld hinaus. Danach treffen er und Hester noch einmal im Wald zusammen, wo sie einst ihren Fehltritt begingen. Zum Missfallen Pearls legt sie den gewohnten scharlachroten Buchstaben ab, öffnet ihre Haarpracht und schließt Dimmesdale in ihre Arme: „Was wir taten, hatte seine eigenen Weihe. Wir empfanden es so. Wir sagten es einander! Hast du es vergessen? “ Und Dimmesdale stimmt zögernd zu: „Wir, Hester, wir sind nicht die schlimmsten Sünder auf der Welt. Es gibt einen Schlimmeren als selbst den befleckten Priester! Die Rache jenes alten Mannes war schwärzer als meine Sünde. Er hat kalten Blutes das Heiligtum eines menschlichen Herzens geschändet. Du und ich, Hester, haben das nie getan! “ 43 Der Augenblick liebenden Einverständnisses bildet den emotionalen Höhepunkt des Romans und gehört zu den berühmtesten Passagen der amerikanischen Literatur: Auf einmal, wie ein plötzliches Lächeln des Himmels, brach der Sonnenschein hervor, und ergoss eine wahre Flut in den dunklen Wald, erfreute jedes grüne Blatt, verwandelte die gefallenen gelben in Gold und rieselte an den grauen Stämmen der ernsten Bäume herunter. Die Dinge, die bisher Schatten geworfen hatten, fingen nun die Helligkeit auf. Den Lauf des kleinen Baches konnte man an seinem lustigen Glitzern bis tief in das Geheimnis des Waldinnern hinein verfolgen, das ein Geheimnis der Freude geworden war. Das war die Teilnahme der Natur-- jener wilden, heidnischen Natur des Waldes, der nie einem menschlichen Gesetz unterworfen, nie von höherer Wahrheit erleuchtet war-- an dem Glück dieser beiden Menschen. 44 <?page no="88"?> Salem 87 Aber die romantische Wende ist nicht von Dauer, denn die Vision reiner Liebe jenseits aller gesellschaftlicher Bindungen entpuppt sich am Ende als Illusion. Hesters Plan, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und in Europa ein neues gemeinsames Leben zu beginnen, scheitert. Nach selbstquälerischer Gewissenserforschung verwirft Dimmesdale die schon vereinbarte Flucht. Am Tag der Amtseinführung des neuen Gouverneurs preist er vor einer großen Menschenmenge in der Festpredigt Neuenglands heiliges Experiment. Dann besteigt er zu Tode erschöpft den Pranger, bekennt öffentlich seine Schuld und stirbt in Hesters Armen. Als kurze Zeit später auch Chillingworth stirbt, verlassen Mutter und Tochter Amerika. Pearl findet in England eine neue Heimat, Hester jedoch kehrt nach Neuengland zurück, um ihre Sühne zu vollenden und ihr Leben in Not geratenen Frauen zu widmen. Sie fühlt sich als Vorläuferin einer zukünftigen „helleren Zeit, wenn die Welt dafür reif geworden sei [...], um die ganzen Beziehungen zwischen Mann und Frau auf einen festeren Boden gegenseitigen Glücks zu stellen.“ 45 Der Widerspruch zwischen puritanischer Sündenangst und romantischer Selbstbestimmung bleibt am Ende unaufgelöst und die Frage stellt sich, welche Position Hawthorne selbst einnahm. Er schrieb seinen Roman in einer Zeit, als der Transzendentalismus in Concord seinen Höhepunkt erreichte und kannte die Werke Emersons, Thoreaus und Margaret Fullers (s. Kap. 6). Aber wie Herman Melville, mit dem ihn eine künstlerische Seelenverwandtschaft verband, misstraute er deren idealistischen Höhenflügen und vertiefte sich stattdessen in die dunklen Seiten der menschlichen Psyche im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. 46 Wenn am Ende Calvin über Rousseau, das puritanische Gewissen über den romantischen Impuls den Sieg davonträgt, so bleibt dies eingebettet in eine letztlich unauflösbare Ambivalenz. Hawthorne war weder ein verspäteter Puritaner, noch ein verkappter Romantiker, sondern verinnerlichte in seinem Werk die für ihn unauflösbaren Widersprüche menschlicher Existenz. Seine tiefenpsychologische Einsichten vorwegnehmende Charakterisierungskunst haben ihn zu einem Vorläufer der Moderne gemacht. <?page no="89"?> 88 Salem In The House of the Seven Gables (1852; Das Haus der Sieben Giebel) thematisierte Hawthorne ein letztes Mal die puritanische Vergangenheit in Neuengland. Angeregt von Salems berühmtem Geisterhaus, das seiner Cousine Susannah Ingersoll gehörte, erzählt er die von der zeitgenössischen Schauerliteratur inspirierte Geschichte. Die Familie des angesehenen Salemer Richters Jaffrey Pyncheon wird von einem uralten Fluch heimgesucht. Einer seiner Vorfahren, der Puritaner Colonel Pyncheon, bewirkte aus Eigennutz in den Hexenprozessen das Todesurteil über den ursprünglichen Besitzer des Hauses. Der Fluch, den der Verurteilte Mathew Maule unter dem Galgen gegen den Richter ausstößt-- „Gott wird ihm Blut zu trinken geben,“ 47 -- wird zum Damoklesschwert der nachfolgenden Generationen. In ihren Fehden und kriminellen Verfehlungen wirkt die böse Tat weiter und lässt die Geschichte der Pyncheon-Familie und ihres Hauses zu einer unheilvollen Schicksalstragödie werden. 48 Am Ende holen die Schuldverstrickungen Judge Pyncheon ein und er stirbt unter dem Porträt seines puritanischen Vorfahren an einem Blutsturz. Aber durch die Erfüllung des Fluches wird der Weg zur Versöhnung und Eheschließung zwischen den beiden jüngsten Nachfahren der verfeindeten Familien-- Phoebe Pyncheon und Holgrave-- frei. Mit diesem Happy End und den vielen lokalhistorischen Reminiszenzen war der Roman beim zeitgenössischen Lesepublikum weitaus populärer als The Scarlet Letter, reichte aber an dessen künstlerische Intensität nicht mehr heran. 1852 verschaffte Franklin Pierce anlässlich seiner Inauguration zum amerikanischen Präsidenten seinem alten Schulfreund, der für ihn die Wahlkampfbiographie geschrieben hatte, die Position eines Konsuls in Liverpool. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in England und Italien kehrten er und seine Familie 1860 in die USA zurück. Hawthorne ließ sich jedoch nicht mehr in Salem nieder sondern in Concord, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1864 das ehemalige Alcott-Haus The Wayside bewohnte (s. Kap. 6). Salem hat ihm später diesen „Verrat“ verziehen und ihn zum genius loci der Stadt erhoben. Ein überlebensgroßes bronzenes Denkmal prangt am Hawthorne Boulevard und mehrere Erinnerungsstätten halten das Gedächtnis an ihn wach. <?page no="90"?> Salem 89 Hawthornes Geburtshaus steht allerdings nicht mehr an seiner ursprünglichen Stelle in der Union Street, sondern wurde 1958 abgetragen und am Hafen im Rahmen des Salem Maritime National Historic Site neu errichtet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft steht das House of the Seven Gables, Salems spektakulärste Sehenswürdigkeit. Das unheimliche, tiefschwarze, Holzgebäude mit seinen sieben Giebeln, das seit seinem Bestehen mehrfach umgebaut wurde, ist zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden. Hawthorne machte es zur Legende, obwohl es keinen konkreten historischen Bezug zu seinem Roman gibt. Das 1668 errichtete koloniale Haus gehörte über mehrere Generationen hinweg den Nachkommen eines puritanischen Kapitäns. 1782 erwarb es der East India Trader Samuel Ingersoll und vermachte es 1804 vor seinem Tod seiner Frau Susannah, einer Cousine Hawthornes. Bei dessen häufigen Besuchen erzählte sie ihm spannende lokalhistorische Geschichten, unter anderem über eine Stiege im Inneren des Hauses, die als geheimer Zugang zu einem Versteck entflohener Sklaven gedient House of the Seven Gables <?page no="91"?> 90 Salem haben soll. 49 Hawthorne setzte der kulturbeflissenen alten Dame im Roman in der Gestalt von Hepsibah Pyncheon ein literarisches Denkmal. Das absolute Hawthorne-Prunkstück Salems ist das 1819 aus rotem Backstein erbaute Old Custom House am Hafen mit den nüchternen Amtsräumen, wo der Autor als Beamter tätig war. Eine steinerne Freitreppe, ein klassizistischer Säulenportikus und der mächtige goldene Staatsadler am Giebel mit seinem martialischen Blitzbündel unterstreichen sein repräsentatives Äußeres. Im Obergeschoss kann man noch das Original von Hawthornes Schreibpult bewundern, und ein sachkundiger Führer erzählt interessante Details und Anekdoten aus seinem Leben. Vom Balkon schweift der Blick hinaus auf die langgezogene Derby Wharf im Hafen, wo einst die stolzen East India-Handelsschiffe vor Anker lagen. Die The Old Custom House <?page no="92"?> Salem 91 Hafenanlage ist mit einigen Kais und dem alten Leuchtturm erhalten geblieben. Von den vielen Lagerhäusern jedoch, in denen einst die kostbaren exotischen Waren aus Übersee zur Verzollung zwischengelagert wurden, ist bis auf einen einzigen Nachbau nichts mehr vorhanden. Nur das wiederhergestellte koloniale East India Goods Store an der Waterfront bietet einen kleinen Einblick in den vergangenen Luxus von Porzellan, Seide, exotischen Gewürzen und Tees. 50 Insgesamt fügen sich in Salem die Relikte der Hexenvergangenheit, der alte Hafen, die vornehmen Häuser der Kapitäne und Schiffseigner sowie die Hawthorne-Erinnerungsstätten zu einem vielschichtigen Erinnerungsort amerikanischer Kultur- und Literaturgeschichte zusammen. Vor allem aber ist das Trauma des Hexenwahns, das Hawthorne und Miller kritisch und tiefschürfend gestaltet haben, zu einem wichtigen Bestandteil nationaler Selbstreflexion geworden. Die puritanische Vergangenheit mit ihrer Aufteilung der Welt in Gut und Böse und die daraus abgeleitete Legitimation, das vermeintlich Böse rigoros zu bekämpfen, ist zu einer Konstante amerikanischen politischen und gesellschaftlichen Handelns geworden. In Zeiten der Krise, d. h. immer dann, wenn sich das auserwählte Volk von innen oder außen bedroht fühlt, tritt es in Form kollektiver Paranoia in Erscheinung und bedient sich-- wenn nötig-- gewaltsamer Konfliktlösungen. Nicht nur die Kommunistenjagd der McCarthy-Zeit, die Miller bewegte, sondern auch die Ausgrenzung und Verfolgung ethnischer Minderheiten- - Indianer, Afro-Amerikaner, Mexikaner, Asiaten- - sowie die Terrorismus-Hysterie der Bush-Administration nach Nine Eleven und die daraus hervorgehende Missachtung demokratischer Bürgerrechte und geheimdienstliche Bespitzelung von Menschen in aller Welt sind ein Teil dieses Syndroms. <?page no="93"?> 92 Boston 4. Boston-- Wiege der Freiheit Der Aufbruch in die amerikanische Revolution D ie Hauptstadt des Bundesstaates Massachusetts mit ihren 6,5 Millionen Einwohnern ist eine der wohlhabendsten und traditionsreichsten Metropolen Amerikas. Neben ihrer großen Bedeutung für die Gründungsgeschichte der USA verfügt Boston über eine Fülle von hervorragenden Museen, Universitäten, Bibliotheken, Theatern, Konzerthäusern und anderen kulturellen Einrichtungen. Aus ihnen ragen die ehrwürdige Harvard Universität mit ihren sechs exquisiten Museen (s. Kap. 10), das Massachusetts Institute of Technology, die historische Museumsbibliothek des Boston Athenaeum, das Museum of Fine Arts und das gediegene Isabella Stewart Gardner-Privatmuseum hervor. Vor allem aber ist Boston heute ein pulsierendes Finanz-, Wirtschafts- und Verwaltungszentrum mit großstädtischen Boulevards, eleganten Einkaufszentren, prächtigen Parks und glitzernden Wolkenkratzern aus Glas und Beton. Eine auch nur annähernd ausführliche Darstellung der urbanen Glanzpunkte und kulturellen Einrichtungen dieser Großstadt würde einen eigenen Band erfordern. Das folgende Kapitel beschränkt sich auf Bostons Rolle in der amerikanischen Revolution und die historischen Schauplätze, die an diese Zeit erinnern. „Cradle of Liberty“, Wiege der Freiheit, nennen die Geschichtsbücher die Stadt, von der die amerikanische Revolution ihren Ausgang nahm. Die historischen Ereignisse, die 1776 zur Loslösung der 13 Kolonien Nordamerikas von Großbritannien führten, machten Boston als die Heimstätte großer „Patrioten“ und „Gründerväter“ zur nationalen Ikone. Aber schon lange zuvor, ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, spielte der koloniale Regierungssitz eine herausragende Rolle. Boston wurde 1630 von John Winthrop, dem ersten Gouverneur der Massachusetts Bay Company im <?page no="94"?> Boston 93 Zuge der puritanischen Great Migration (s. Kap. 2) gegründet. Die puritanischen Einwanderer ließen sich zunächst im Gebiet des nördlichen Vororts Charlestown nieder, entschieden sich jedoch wegen der besseren Wasserversorgung und größeren Sicherheit schließlich für die Shawmut Peninsula an der Südseite des Charles River. Die birnenförmige, von drei Hügeln überragte Halbinsel, die sie dem frühen englischen Siedler Reverend William Blackstone abkauften, war mit dem Festland durch einen engen Flaschenhals (the Neck) verbunden, den ein Fort absicherte. Das alte Stadtzentrum bestand anfänglich nur aus einer Ansammlung unansehnlicher Holzhäuser entlang einiger gewundener Straßen und einem Meeting House. Winthrop hatte die Vision, seine City upon a Hill als religiösen Mittelpunkt der neuen Welt auszubauen. Aber noch zu seinen Lebzeiten machten dynamische Unternehmer und Kaufleute das „Neue Jerusalem“ zur wichtigsten Hafen- und Handelsstadt Neuenglands. Während die Plantagenwirtschaft in den Südstaaten auf Sklaverei setzte, entstand in Neuengland eine auf Handel beruhende kapitalorientierte Gesellschaft. Die wichtigste Einnahmequelle bildete anfänglich der Kabeljaufang. Riesige Mengen von getrocknetem Fisch wurden zu den Westindischen Inseln und nach Europa exportiert und brachten der Stadt Wohlstand. Noch heute erinnert The Sacred Cod, ein überlebensgroßer, aus Holz geschnitzter vergoldeter Kabeljau im Plenarsaal des New State House an die Gründungszeit. Das zweite wirtschaftliche Standbein war die Herstellung von Rum aus der von den westindischen Zuckerrohrinseln angelieferten Melasse. In Boston war dies einer der ertragreichsten Produktionszweige, und Küstenorte wie Newport oder Marblehead verdanken ihren Aufstieg den Rum-Destillerien. Als im Laufe der Zeit der beschränkte Raum von Boston für den raschen Bevölkerungs- und Wirtschaftszuwachs nicht mehr ausreichte, schütteten die Bürger das umliegende Wattenmeer und Marschland systematisch mit Erd- und Schottermaterial auf, um neue Siedlungsflächen zu schaffen. In nur 80 Jahren wurde die ursprüngliche Halbinsel völlig in das umliegende Festland eingebettet. Auch der an ihrem Westrand liegende, ursprünglich von <?page no="95"?> 94 Boston einem Leuchtfeuer gekrönte Beacon Hill wurde teilweise abgetragen und für die Aufschüttungen verwendet. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lebten in der alten Kolonialstadt ungefähr 15 000 Menschen, dann setzte der Ausbruch der amerikanischen Revolution der provinziellen Beschaulichkeit ein Ende. 1 Bostons Eintritt in die Revolutionsgeschichte begann im Jahr 1763 mit dem Friedensvertrag von Paris, der den Siebenjährigen Krieg zwischen Großbritannien und Frankreich beendete. Der French and Indian War, wie ihn die Amerikaner nennen, spielte sich vorwiegend im Bereich der großen Seen in den Grenzgebieten zu Kanada ab. Nach der Niederwerfung der Franzosen in Quebec und ihrer verbündeten Indianerstämme kam Kanada an Großbritannien. Die Gefahr frankokanadischer Angriffe aus dem Norden, die lange Zeit wie ein dunkler Schatten über Neuengland hing, war damit gebannt und England hatte als unverzichtbare militärische Schutzmacht ausgedient. Außerdem hatten tausende amerikanische Kolonisten auf der Seite der britischen Armee gekämpft und erstmals ein Gefühl kolonialer Zusammengehörigkeit erfahren. Umso ernüchternder war es, als die britische Regierung nach dem Pariser Friedensschluss sehr unpopuläre Wege in der Kolonialverwaltung beschritt. Da der Krieg und die Stationierungskosten der britischen Armee in Amerika Unsummen verschlungen hatten, wurden nun die Kolonien zur Kasse gebeten. Bostons Aufschüttungen (= graue Flächen) <?page no="96"?> Boston 95 Das britische Parlament führte neue Zölle, Steuern und Abgaben ein und stieß damit bei den Kolonisten, die über 150 Jahre eine relativ eigenständige Selbstverwaltung genossen hatten, auf heftigen Widerstand. Boston als zentraler Umschlagplatz für den Überseehandel mit den Westindischen Inseln und England war besonders stark betroffen und wurde zum ersten Austragungsort des sich anbahnenden Konflikts. Politische Agitatoren heizten mit öffentlichen Brandreden und Versammlungen die Emotionen an, während hunderte in Umlauf gebrachte Pamphlete auf die verfassungsrechtlich verbrieften Rechte der Kolonien pochten. Obwohl zu diesem Zeitpunkt von einer politischen Loslösung vom Mutterland noch keine Rede war, eskalierte die Spannung zwischen der Kolonie und der britischen Regierung. 2 Den Anfang der repressiven Maßnahmen machte im März 1764 der vom Parlament erlassene Sugar Act, ein Gesetz, das den Import von Melasse aus den Zuckerrohrplantagen der Westindischen Inseln und der Karibik in die Kolonien mit einer hohen Zollabgabe belegte. Es war eine Wiederaufnahme des schon 1733 erlassenen, aber am Widerstand der Kolonien gescheiterten Molasses Act und ein schwerer Schlag gegen den so wichtigen Wirtschaftszweig der Rumproduktion. Um den über Jahrzehnte hinweg grassierenden Melasseschmuggel einzudämmen, wurden auch die als zu lax erachteten Kolonialbehörden dem Seegericht der britischen Vize-Admiralität direkt unterstellt. Als die Kolonisten die weitreichenden negativen Auswirkungen dieser Maßnahmen zu spüren bekamen, erwachte ihr Widerstandsgeist. Was die Regierung in London für fiskalisch gerechtfertigt hielt, interpretierten sie zunehmend als autoritären Eingriff in ihre gewohnten Freiheitsrechte. Der Bostoner Anwalt James Otis prangerte in seiner Protestschrift Rights of the British Colonies Asserted and Proved (1764) die Einhebung von Steuern in den Kolonien, ohne dass diese im britischen Parlament vertreten waren, als verfassungswidrig an. Sein Slogan „No Taxation Without Representation“ wurde zur allgemeinen Kampfansage. Die angespannte Situation verschärfte sich, als das britische Parlament im Januar 1765 den Stamp Act erließ, der alle Drucker- <?page no="97"?> 96 Boston zeugnisse-- Dokumente, Zeugnisse, Urkunden, Zeitungen, Plakate etc.-- mit einer Stempelgebühr belegte. Juristen, Zeitungsmacher, Schriftsetzer und Kaufleute waren davon besonders betroffen. Das Gesetz wurde als unerhörter Eingriff in die Steuerhoheit der Kolonien empfunden und löste leidenschaftliche Protestreaktionen aus. Unter dem Namen Sons of Liberty formierte sich in Boston eine Bürgervereinigung, die bald zur treibenden Kraft des revolutionären Prozesses wurde. Ihren führenden Mitgliedern Samuel Adams, John Hancock, James Warren und Paul Revere gelang es, durch provokative Streitschriften und öffentliche Brandreden in den town meetings den Straßenmob zu politischen Protestaktionen gegen die verhassten Maßnahmen zu mobilisieren. Der Volkszorn richtete sich vor allem gegen die königlichen Zoll- und Steuereintreiber, die man nun aus ihren Ämtern vertrieb und durch das Verbrennen oder Aufhängen von symbolischen Strohpuppen öffentlich anprangerte. 3 Die Stamp Act-Krise blieb nicht auf Boston beschränkt, sondern griff bald auch auf die anderen Kolonien über. Im Oktober 1765 trat auf Initiative von Massachusetts der First Continental Congress in New York zusammen. Delegierte aus neun der insgesamt 13 Kolonien forderten nach mehrwöchigen Beratungen die Rücknahme des Stamp Act und beschlossen einen flächendeckenden Boykott britischer Waren. Die Auswirkungen dieser Maßnahme auf die englische Staatskasse waren gravierend. Da die Verluste durch den Importstopp die neuen Zolleinnahmen bei weitem überstiegen, wurde das unliebsame Gesetz schließlich wieder aufgehoben. Aber der revolutionäre Prozess hatte erstmals eine interkoloniale Dimension angenommen. Die Erfahrung, die imperiale Regierung in London durch gemeinsame Aktionen wirksam unter Druck zu setzen, hatte sich in den Köpfen der Kolonisten festgesetzt. 4 Der Wunsch nach Loslösung von der britischen Kolonialmacht spielte jedoch zu diesem Zeitpunkt gegenüber wirtschaftlichen, finanziellen und steuerlichen Interessen noch keine zentrale Rolle. Die Kolonisten rebellierten gegen die ihnen aufgezwungene Herabwürdigung zu Bürgern zweiter Klasse, ohne dabei die britische <?page no="98"?> Boston 97 Staatsmacht selbst in Frage zu stellen. Der merkantile Seehandel als Bostons Haupteinnahmequelle hatte zur Herausbildung einer wohlhabenden Oberschicht aus Großkaufleuten, Reedern und Juristen geführt, die auf Erhaltung ihres Besitzstandes bedacht war. Daneben gab es eine Mittelschicht aus Professionisten, Ladenbesitzern, Handwerkern, Kleinfarmern und Pächtern und eine breite Masse von Unterprivilegierten und Besitzlosen am unteren Ende der sozialen Skala-- einfache Arbeiter, Seeleute, Fischer, Tagelöhner, Arbeitslose, Ex-Sklaven und Deklassierte aller Art. Die weniger Begüterten litten am meisten unter den schlechten Lebensbedingungen und machten ihrem Unmut in den öffentlichen Bürgerversammlungen Luft. 5 Die sozioökonomische Elite der Sons of Liberty nützte die aggressive Stimmung in der Bevölkerung geschickt aus und wiegelte sie zu politischen Aktionen auf. Als sich 1767 die wirtschaftliche Situation durch neue Zoll- und Abgabengesetze (Townshend Acts) weiter verschlechterte, riefen sie erstmals zur Auflehnung gegen die britischen Machthaber auf. Ein viel beachtetes Pamphlet dieser Zeit war John Dickinsons Letters from a Farmer in Pennsylvania (1767), das die vom britischen Parlament auferlegten Abgaben für unrechtmäßig erklärte und in den Kolonien Mobaktionen auslöste. Den Höhepunkt erreichten die Unruhen in Boston, als die Zollbehörden ein Handelsschiff des Bostoner Kaufmanns John Hancock wegen Warenschmuggels zur Verantwortung zog und die Ladung beschlagnahmte. Der aufgeputschte Pöbel plünderte und verwüstete die Häuser königlicher Beamter und den Ansitz des britischen Gouverneurs Thomas Hutchinson. Unter dem Eindruck dieser Gewalteruption ging unter den politisch Verantwortlichen erstmals die Angst um, die Straßenaktionen könnten außer Kontrolle geraten und längerfristig auch ihre eigenen Besitzstände und Privilegien gefährden. 6 Der erste große Eklat in dieser angespannten Situation war das Boston Massacre. Am 5. März 1770 provozierte vor dem Old State House ein aufgebrachter Mob britische Soldaten und bedrohte sie mit Wurfgeschossen und Knüppeln. Einige Rotröcke verloren die Nerven, schossen in die Menge und streckten fünf Randalierer nieder. Unter den Opfern war auch der farbige Crispus Attucks, <?page no="99"?> 98 Boston der später als erster afro-amerikanischer Patriot in die Revolutionsgeschichte eingegangen ist. Paul Revere, der den Zwischenfall in einem berühmten Kupferstich festhielt, verfälschte die Darstellung der Situation in bewusst propagandistischer Absicht. Die Schüsse fielen nicht, wie die Abbildung vorgibt, auf Befehl eines säbelschwingenden Offiziers aus einer militärischen Formation heraus, sondern in einem Augenblick unkontrollierter Panik. Die Opfer waren auch keine respektablen Bostoner Bürger mit Hüten und Perücken, sondern ein zusammengewürfelter Haufen aus aufmüpfigen Rüpeln, unzufriedenen Arbeitern und Seeleuten. 7 Paul Reveres „Boston Massacre“ <?page no="100"?> Boston 99 Die Soldaten, die die Schüsse abfeuerten, mussten sich gerichtlich verantworten, wurden jedoch von dem prominenten Strafverteidiger und späteren amerikanischen Präsidenten John Adams von der Mordanklage entlastet und vom Gericht frei gesprochen. Dennoch schlachteten die „Patrioten“ den Vorfall politisch aus. Tausende emotionalisierte Bostoner Bürger schlossen sich dem Trauerzug an, um den „Märtyrern“ die letzte Ehre zu erweisen. Die schockierten Briten zogen daraufhin ihre Truppen aus Boston ab und hoben die Townshend-Gesetze auf. 8 1773 erreichte der Konflikt zwischen den Kolonisten und der britischen Regierung einen entscheidenden Höhe- und Wendepunkt. Um der in finanzielle Turbulenzen geratenen East India Company aus der Klemme zu helfen, verabschiedete das Parlament in London den Tea Act, ein Gesetz, das den Import von Tee in die Kolonien mit einem Einfuhrzoll belegte und gleichzeitig der kolonialen Handelsgesellschaft das Monopol einräumte. Trotz heftiger Proteste beharrte König Georg III. auf der Durchsetzung dieser Maßnahmen und löste damit in Boston einen Volksaufstand aus. „Boston Tea Party“ (1846) <?page no="101"?> 100 Boston Drei im Hafen liegende Teeschiffe wurden daran gehindert, ihre Fracht zu löschen. Als die Armee einzugreifen drohte, enterten am 12. Dezember 1773 an die 100 als Indianer verkleidete Rebellen in einer Nacht- und Nebelaktion die Schiffe und warfen 342 Kisten Tee im Wert von 10 000 Pfund (heute ca. 700 000 Euro) ins Hafenbecken. Die sog. Boston Tea Party, die von manchen Historikern mit dem Sturm auf die Bastille verglichen wird, wurde zur Initialzündung der amerikanischen Revolution. Das dramatische Ereignis und seine symbolische Tragweite sind zu einem zentralen Aspekt des amerikanischen Nationalbewusstseins geworden. 9 Noch heute schmückt sich der ultrakonservative Rand der republikanischen Partei, der Steuererhöhungen oder staatliche Einflüsse auf die Wirtschaft radikal ablehnt, mit der Bezeichnung Tea Party. Großbritannien reagierte auf die Provokation mit dem Beschluss, die aufrührerischen Kolonien mit Waffengewalt zur Räson zu bringen. Im März 1774 erließ das Parlament eine Reihe von einschneidenden Gesetzen (Coercive Acts), die die Kolonisten als Intolerable Acts empfanden. Der Hafen von Boston wurde für Handelsschiffe gesperrt und die Bostoner Bevölkerung dazu verurteilt, für die Verluste der Tea Party aufzukommen. Die Kolonialregierung von Massachusetts, deren Rechtsanspruch auf Selbstverwaltung auf der Charter des Jahres 1692 beruhte, wurde abgesetzt und einem vom König ernannten Gouverneur unterstellt. Um die Unruhen unter Kontrolle zu bringen, stationierten die Briten zwei Regimenter in Boston und verpflichteten die besetzte Stadt zur Versorgung der Truppen. Als zudem die britischen Soldaten ihren miserablen Sold durch Gelegenheitsarbeiten aufzubessern suchten, stießen sie bei den lokalen Arbeitern und Handwerkern auf heftigen Widerstand. Immer häufiger kam es zu Ausschreitungen von Straßenmobs gegen Armeeangehörige, so dass Gouverneur Hutchinson in einem dringlichen Schreiben an die Regierung in London vor der sich anbahnenden Eskalation warnte. 10 In dieser prekären Situation konstituierte sich am 5. September 1774 in Philadelphia der First Continental Congress mit 56 Delegierten aus den 13 Kolonien. Alle Versuche der britischen Regierung, einen Keil zwischen dem politisch radikalen Norden und <?page no="102"?> Boston 101 dem zu diesem Zeitpunkt noch gemäßigteren Süden zu treiben, schlugen fehl. Die Kolonien solidarisierten sich mit Massachusetts, erklärten die „intolerablen Gesetze“ für verfassungswidrig und verstärkten die Boykottmaßnahmen gegen England. Gleichzeitig wurde die militärische Aufrüstung der Kolonien in Angriff genommen, lokale Volksmilizen aufgestellt und geheime Waffendepots angelegt. Aber aus Furcht vor einem wirtschaftlichen und politischen Desaster hielt die Mehrheit der Abgeordneten noch immer an König Georg III. als legitimem Souverän fest. 11 Das Ringen um die Unabhängigkeit Zum endgültigen Bruch mit dem Mutterland kam es einige Monate später. Am 19. April 1775 brach eine 700 Mann starke britische Armeeeinheit von Boston zum 30 km entfernten Concord auf, um ein Waffenarsenal der Rebellen auszuheben. Der Bostoner Patriot Paul Revere und sein Begleiter William Dawes bekamen den Auftrag, durch einen nächtlichen Gewaltritt die in Concord und Lexington stationierten Miliztruppen vor der herannahenden Armee zu warnen. Im Hauptquartier in Lexington holte Revere die Rebellenführer Samuel Adams und John Hancock zu mitternächtlicher Stunde aus dem Bett, und im Morgengrauen kam es zu einer gefährlichen Situation. 77 Mann der Rebellenmiliz unter Führung von John Parker nahmen als Zeichen des Protests am Village Green Aufstellung, jedoch ohne Absicht, den übermächtigen Gegner mit Waffengewalt aufzuhalten. Sie folgten zögernd dem Befehl des britischen Majors Pitcairn sich aufzulösen, als unvermittelt ein undefinierter Schuss fiel. Die British Regulars gerieten in Panik, feuerten eine Gewehrsalve in die abziehende Gruppe und streckten acht von ihnen nieder. Die Kunde vom Massaker verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Umgebung und mobilisierte in kürzester Zeit tausende rachedurstige Rebellen. Der Battle Green von Lexington ist heute eine nationale Gedenkstätte, wo alljährlich am 19. April die legendären Geschehnisse in Szene gesetzt werden. Eine Statue von John Parker, ein Revolutionsmo- <?page no="103"?> 102 Boston nument, das Grab der gefallenen Rebellen und ein Einschussloch an der Tür der historischen Buckman Tavern am Rand des Platzes erinnern an den Beginn des Unabhängigkeitskrieges. Auf dem Weiterritt nach Concord lief Revere einer britischen Patrouille in die Arme und musste umkehren. Nicht Revere, den Longfellows berühmtes Gedicht „Paul Revere’s Ride“ (1861) glorifiziert, sondern der zufällig hinzugestoßene junge Arzt Samuel Prescott konnte sich aus dem Staub machen und die Miliz in Concord alarmieren. 400 Minutemen, d. h. innerhalb weniger Minuten bereit stehende patriotische Kämpfer, rotteten sich zusammen und stellten sich an der Old North Bridge drei britischen Kompanien entgegen. In einem kurzen Schusswechsel fielen drei britische „Rotröcke“, der Rest zog sich in das Ortszentrum zurück. Der nachfolgende Rückmarsch nach Boston wurde für die Briten zu einem katastrophalen Spießrutenlauf. An die 3500 Aufständische nahmen die Truppenkolonnen auf offenem Feld unter Beschuss und fügten ihnen schwere Verluste zu. 73 britische Soldaten fielen und 174 wurden verwundet, während die Rebellen nur 49 Todesopfer und 39 Verwundete zu beklagen hatten. Hunderttausende Menschen besuchen alljährlich den 1959 eröffneten Minute Man National Historical Park, wo die militärischen Zusammenstöße in Lexington und Concord und die acht Kilometer lange historische Battle Road in Gedenkstätten zum nationalen „Battle Road - 19. April 1775“, Wandfresko von John Rush im Minute Man Visitor Center Lexington <?page no="104"?> Boston 103 Mythos erhoben wurden. Statt der Äcker, Felder und Viehweiden des 18. Jahrhunderts ist die Gegend heute weitgehend von Laubwäldern bedeckt. Alle Ereignisse sind minutiös erforscht worden und die Besucher können sie am Straßenrand bis ins letzte Detail nachvollziehen. Schautafeln informieren über Reveres bzw. Prescotts nächtlichen Ritt, die Kampfhandlungen in Lexington und Concord und die Scharmützel während des verlustreichen Rückmarsches der britischen Armee. Auch Reste der alten Staubstraße, Steinwälle, einige Tavernen und koloniale Farm- und Gutshäuser sind erhalten geblieben. Sie sind heute museale Gedenkstätten, wo Park-Angestellte in historischer Kostümierung den Besuchern die dramatischen Vorfälle vor Augen führen. 12 Im Minute Man Visitor Center beim Ostzugang des Parks vermitteln ein riesiges Wandgemälde und eine eindrucksvoll gestaltete Multimedia-Show mit Filmsequenzen und living history-Schlüsselszenen einen Gesamtüberblick über die historischen Vorkommnisse. Auf dem Weg nach Concord bilden die Paul Revere Capture Site und die alte Hartwell Tavern mit ihrer historisch authentischen Atmosphäre und live gespielten Szenen die Hauptattraktionen. Die Ereignisse in Concord werden im North Bridge Visitor Center dargestellt. An der alten Holzbrücke, wo das erste Scharmützel stattfand, steht ein Grabobelisk zum Gedenken an die gefallenen britischen Soldaten. 1875 wurde an dieser Stelle anlässlich des hundertjährigen Jubiläums die von Daniel French geschaffene eindrucksvolle Bronzestatue eines Minute Man aufgestellt. 13 Minuteman Statue in Concord <?page no="105"?> 104 Boston Im Mai 1775 trat der zweite Kontinentalkongress zusammen und übernahm de facto die Regierungsgewalt über die Kolonien. Ein interkolonialer Postdienst wurde eingerichtet und der Dollar als Papiergeldwährung eingeführt. Angesichts der fortdauernden Bedrohung durch die britische Armee rief der Kongress den Kriegszustand in den Kolonien aus. Im Juni 1775 wurde der Oberbefehl über die amerikanische „Kontinentalarmee“ George Washington, einem dynamischen Revolutionsführer aus Virginia, übertragen. Die Truppen bestanden zu diesem Zeitpunkt nur aus unzureichend ausgebildeten, schlecht ausgerüsteten und kriegsunerfahrenen Männern aus der sozialen Unterschicht unter der Führung wenig kompetenter Offiziere. 14 Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen setzten die aufständischen Truppen die Kampfhandlungen ohne offizielle Kriegserklärung fort. Sie eroberten das britische Fort Ticonderoga am Lake Champlain und nützten in Boston den strategischen Vorteil gegenüber den 4000 auf der Halbinsel festsitzenden Soldaten der britischen Garnison. Die Rebellen errichteten einen Belagerungsring um die Stadt und gingen im Bereich des Bunker Hill oberhalb von Charlestown in Stellung. Britische Geschütze nahmen daraufhin vom Copp’s Hill und von im Hafen liegenden Kriegsschiffen aus die feindlichen Frontlinien unter Dauerbeschuss, bevor vier Regimenter mit 2200 Soldaten die Belagerer in zwei frontalen Sturmangriffen aus ihren Schützengräben zu werfen versuchten. Letztere behielten jedoch die Nerven und folgten dem Befehl ihres Kommandanten William Prescott, das Feuer erst zu eröffnen, wenn sie das „Weiß in den Augen der Angreifer“ sahen. Die Folgen waren für die Briten verheerend. 1034 Mann fielen im Kugelhagel. Erst im dritten Anlauf konnten sie sich mit ihren überlegenen Bajonetten im Nahkampf behaupten. Am Ende verloren die Rebellen die Schlacht und beklagten an die 400 Gefallene, aber der moralische Erfolg war ungeheuer. Erstmals war es gelungen, einer regulären britischen Armeeeineinheit Stand zu halten und ihr empfindliche Verluste zuzufügen. Die Schlacht am Bunker Hill ist deshalb in die amerikanische Geschichtsschreibung als großes Ruhmesblatt eingegangen. 15 <?page no="106"?> Boston 105 Ein Verhandlungsangebot der Kolonien (Olive Branch Petition), das der britischen Krone Loyalität zusicherte, für den Fall, dass die Kriegshandlungen eingestellt würden, schlug fehl. Georg III. beharrte auf einem kompromisslosen militärischen Durchgreifen. Der vom Parlament erlassene Prohibitory Act verbot ab sofort alle Handelsbeziehungen mit den Kolonien und britische Kriegsschiffe verhängten im Dezember 1775 eine Seeblockade. Die Royal Navy kaperte amerikanische Handelsschiffe auf hoher See und zwang amerikanische Seeleute in den britischen Militärdienst. Die Lebensgrundlage der Kolonien war nun ernstlich bedroht. Radikale Kongressabgeordnete unter Führung von Patrick Henry, Samuel Adams und Thomas Jefferson, die vehement die Loslösung der Kolonien von Großbritannien forderten, konnten sich erstmals im Kongress durchsetzen. In dieser entscheidenden Phase lieferte der britische Revolutionär Thomas Paine, der in Philadelphia als politischer Publizist aktiv war, wichtige ideologische Schützenhilfe. Paine hatte sich 1774, nachdem er wegen politischer Agitationen in England in Schwierigkeiten geraten war, mit Unterstützung Benjamin Franklins in die Kolonien abgesetzt. In seiner im Januar 1776 veröffentlichten Schrift Common Sense forderte er den sofortigen Austritt der amerikanischen Kolonien aus dem britischen Empire. Er begründete dies mit einem Frontalangriff auf das monarchische System in England und in der Welt insgesamt. Hauptaufgabe der amerikanischen Revolution sei es, keine Kompromisse mehr zu machen und so schnell wie möglich die Unabhängigkeit der sich formierenden „Vereinigen Staaten von Amerika“ zu erringen. Ein neues, demokratisches Regierungssystem, das sich auf die Prinzipien der Menschenrechte gründet und alle Formen der Unterdrückung und Sklaverei abschafft, sei überfällig. 16 Paines Schrift und ihre weltpolitische Zielsetzung erteilte dem von partikularistischen Interessen geleiteten Zögern vieler Kolonisten eine Abfuhr und gab der amerikanischen Revolution eine weltpolitische Zielsetzung: <?page no="107"?> 106 Boston Niemals gab es unter der Sonne etwas Wichtigeres. Dies ist nicht nur die Angelegenheit einer Stadt, einer Provinz, eines Landes oder eines Königreiches, sondern die eines ganzen Kontinents, mindestens ein Achtel des gesamten Globus. Es ist nicht die Bestrebung eines Tages, eines Jahres oder einer Epoche: die gesamte Nachwelt wird von dieser Auseinandersetzung betroffen und bis zum Ende der Zeit von ihr mehr oder weniger geprägt sein. 17 Common Sense hatte eine ungeheure Wirkung. Mehr als 100 000 Exemplare wurden innerhalb von drei Monaten veröffentlicht und in 25 Auflagen in den Kolonien verbreitet. Keine andere politische Streitschrift heizte die antibritische, republikanische und aufklärerische Stimmung stärker an als sie. Kurioserweise war der zugewanderte Brite Paine trotz seiner visionären Weitsicht und beispiellosen Breitenwirkung in den USA nie sonderlich populär und fand keine bleibende Aufnahme in die patriotische Ehrengalerie. Nur wenige Denkmäler erinnern an ihn. Die politischen und sozialen Ideen des aufklärerischen Intellektuellen waren ihrer Zeit weit voraus, so dass sie die Amerikaner als zu radikal empfanden. 1787 kehrte Paine nach Europa zurück, ließ sich in Paris nieder und nahm 1793 als Mitglied des Nationalkonvents an der Französischen Revolution teil. Am 7. Juni 1776 legten die Delegierten aus Virginia dem Kongress eine Resolution vor, die die offizielle Loslösung von Großbritannien forderte. Ein fünfköpfiges Komitee unter der Leitung von Thomas Jefferson wurde beauftragt, eine Unabhängigkeitserklärung zu formulieren. Diese wurde am 4. Juli 1776 vom Kongress ratifiziert und in Windeseile in Zeitungen, Nachdrucken, Abschriften und Anschlägen in Kirchen, Gemeindeämtern, Milizunterkünften, Wirtshäusern und Geschäften überall in den Kolonien publik gemacht. Die darin verkündeten Ideen von Gleichheit, Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung griffen größtenteils auf die politische Philosophie der europäischen Aufklärung zurück. Schon John Locke hatte in seinen Two Treatises of Government (1689) argumentiert, dass eine Regierung nur dann legitim sei, wenn sie auf der Zustimmung der Regierten beruht und die Naturrechte Leben, Freiheit und Besitz (rights to life, liberty, and pro- <?page no="108"?> Boston 107 perty) aufrecht erhält. Fehlen diese Voraussetzungen, dann haben die Regierten ein legitimes Recht auf Widerstand. Jeffersons Formulierung, die Lockes Naturrecht auf Privatbesitz (property) zum idealistischen „Streben nach Glück“ (pursuit of happiness) hochstilisierte, waren nicht neu, aber die Wirkung, die von ihnen ausging, war die eines gewaltigen Paukenschlages. Was bis dahin nur als philosophische Thesen oder Theorien diskutiert worden war, wurde nun erstmals zur politischen Realität. Die Präambel verkündet feierlich die dem Menschen von Gott verliehenen Naturrechte, definiert die Aufgaben einer demokratischen Regierung und verurteilt jede Form von Tyrannei. 18 Die folgenden Sätze kann heute jedes amerikanische Schulkind auswendig: Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: Dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass wann immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen. 19 Den grundlegenden „Wahrheiten“ folgt eine Auflistung der Pflichten eines Souveräns, die König Georg III. gröblich verletzt hatte. Die angeführten 27 Beschwerdepunkte (grievances), sind heute der am wenigsten beachtete Teil der Unabhängigkeitserklärung, dennoch bilden sie das Rückgrat des Dokuments. Sie rechtfertigen die Revolution und verkünden abschließend die Loslösung von der britischen Kolonialmacht: Wir verkünden hiermit feierlich, und erklären im Namen und aus Macht der guten Menschen dieser Kolonien, dass diese vereinigten Kolonien freie und unabhängige Staaten sind [...] und dass alle politische Verbindung zwischen ihnen und dem Staat von Großbritannien hiermit gänzlich aufgehoben ist. 20 Die Unabhängigkeitserklärung ist bis heute das zentrale Gründungsdokument der Vereinigten Staaten und Grundpfeiler ihrer <?page no="109"?> 108 Boston nationalen Identität. Darüber hinaus gab sie eine entscheidende Weichenstellung für die 13 Jahre später ausbrechende Französische Revolution. Jedes Jahr erinnert der Staatsfeiertag des Fourth of July an ihre Ratifizierung, und die Independence Hall in Philadelphia, wo dies geschah, ist zu einem nationalen Kultort geworden. Aber die offizielle Verabschiedung des Dokuments war eine Sache, eine andere war es, sie politisch und militärisch durchzusetzen. Der Unabhängigkeitskrieg dauerte insgesamt acht Jahre bis 1783. Nach dem Debakel vom Bunker Hill zogen die Briten 1776 ihre Truppen aus Boston ab und verlagerten den Kriegsschauplatz in die mittelatlantischen Kolonien und später in den Süden. Die neue Strategie der britischen Generalität, Neuengland von den übrigen Kolonien zu isolieren und die Kontinentalarmee in einer Entscheidungsschlacht vernichtend zu schlagen, ging jedoch am Ende nicht auf. Im August 1776 eroberten die Briten New York und im Jahr darauf die Kongressstadt Philadelphia. Der ca. 40 000 Mann starken britischen Armee samt ihren deutschen Söldnereinheiten (Hessians) stand zu diesem Zeitpunkt die nur 8000 Mann starke, schlecht ausgerüstete und kriegsunerfahrene Kontinentalarmee gegenüber. Dennoch gelang es Washington trotz aller Widrigkeiten, seine Einheiten über die Runden zu bringen. Er nützte die überlegene Ortskenntnis in den weglosen Wildnisgebieten geschickt aus, ging offenen Feldschlachten aus dem Weg und verlegte sich auf eine Guerillataktik, die den Feind durch kleine Scharmützel, raschen Standortwechsel, Überraschungsangriffe aus dem Hinterhalt und die Behinderung von Nachschubwegen zermürbte. 21 In der Schlacht von Saratoga gelang es sogar, eine starke von Kanada nach Süden vorstoßende britische Armeeeinheit zu stoppen. Die wirklich kriegsentscheidende Wende trat jedoch erst ein, als Frankreich auf Betreiben Benjamin Franklins, des damaligen amerikanischen Gesandten in Paris, mit den Rebellen einen Bündnisvertrag abschloss und die französische Kriegsflotte in den Krieg eintrat. Die Absicht der Briten, nach der Besetzung der südstaatlichen Städte Savannah und Charleston den Krieg von Süden her neu aufzurollen, war dadurch zum Scheitern verurteilt. In der Schlacht von Yorktown, Virginia, geriet der britische Gene- <?page no="110"?> Boston 109 ral Cornwallis im Oktober 1781 in eine Umklammerung durch französische Kriegsschiffe und amerikanische Einheiten und war zur Kapitulation gezwungen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erkannten die Briten, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war und zogen sich zurück. Im Friedensvertrag von Paris 1783 musste Großbritannien seinen Besitzanspruch auf die 13 Kolonien aufgeben und seine Truppen und die Kriegsmarine von Amerika abziehen. Nur Kanada blieb weiterhin im britischen Empire. 22 Bostons Freedom Trail Der Freedom Trail ist die größte und in ihrer Art einzigartige Gedenkstätte der amerikanischen Revolution. Eine vier Kilometer lange Linie aus roten Klinkerziegeln zieht sich durch die gesamte Innenstadt Bostons und berührt 15 historische Punkte: Kirchen, Friedhöfe, öffentliche Gebäude, Denkmäler, Gedenkstätten sowie das Kriegsschiff USS Constitution. Der erste Teil verläuft vom Zentrum durch den Finanzdistrikt bis zum Nordrand der Stadt, während der zweite den Charles River überquert und zum alten Kriegshafen von Charlestown und dem dahinter liegenden Bunker Hill führt. An die drei Millionen Menschen legen alljährlich den Walk into History zurück. Obwohl sich die Gedenkstätten teilweise in Privatbesitz befinden, wird der Trail seit 1974 vom National Park Service verwaltet und von Rangern-- zumeist in historischer Kostümierung-- betreut. Das Visitor Center des Boston National Historical Park, der den Freedom Trail verwaltet, liegt in der State Street gegenüber dem Old State House. Dort kann man sich vor Antritt des Besichtigungsganges mit einer Routenkarte und den offiziellen Broschüren des National Parks eindecken. 23 Der Trail beginnt am Boston Common, der grünen Oase im Herzen der Stadt, die in der Kolonialzeit als Viehweide, Richtstätte oder auch als Exerzier- und Übungsgelände für die Milizen diente. In der Revolutionszeit fanden dort die großen Aufmärsche und Protestversammlungen der Rebellen statt. Nach der Tea Party 1773 besetzten britische Truppen den Park und benutzten ihn <?page no="111"?> 110 Boston Boston Freedom Trail und Black Heritage Trail - - - - - -
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- - - - - - - - - - - - - - - <?page no="112"?> Boston 111 als Feldlager. Im April 1775 marschierten von hier aus 700 Rotröcke nach Lexington und Concord und lösten den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aus. 1798 wurde an der Nordseite des Parks das pompöse New Massachusetts State House von Charles Bulfinch erbaut (s. Titelbild). Bei seiner Grundsteinlegung fuhr Samuel Adams, der legendäre Revolutionsführer und erste gewählte Gouverneur des Bundesstaates Massachusetts, mit einer von 15 Schimmeln gezogenen Kutsche vor. Ein neo-klassizistischer Säulenportikus und die leuchtende Goldkuppel machten das erste große Repräsentationsgebäude der New Republic zum Symbol des nationalen Neubeginns. Im Inneren erinnert eine Fahnenhalle an die glorreichen Zeiten der Revolution und Republikgründung. 1858 glorifizierte der Schriftsteller Oliver Wendell Holmes das Gebäude als den „Mittelpunkt des Universums“ (The Hub of the Solar System), was Boston den Spitznamen The Hub einbrachte. 24 Am Ostrand des Common liegt der sog. Brimstone Corner mit der 1809 erbauten Park Church. Ihr hoch aufragender weißer Turm erinnert an die Christopher Wren-Kirchen in London. Direkt neben der Kirche liegt der Old Granary Burying Ground mit den Gräbern der großen „Patrioten“ Samuel Adams, John Hancock und Paul Revere sowie der im Boston Massaker ums Leben gekommenen fünf „Märtyrer“. Der Name des von einem Eisengitter und einem neo-ägyptischen Eingangstor umrahmten Friedhofs erinnert an den Getreidespeicher, der in der frühen Kolonialzeit an dieser Stelle stand. 2300 weitere Grabsteine aus puritanischer Zeit, darunter das von einem Obelisken überragte Grab der Familie Benjamin Franklins, machen den Friedhof zu einer Fundgrube für Lokalhistoriker. Nur wenige Schritte entfernt wurde 1754 an der Stelle eines früheren puritanischen Meeting House die King’s Chapel als erste anglikanische Kirche Neuenglands erbaut. Der massige, turmlose, im Georgian Style aus dunklem Granit errichtete Bau überrascht im Inneren durch seine für Neuengland untypische Architektur-- eine von korinthischen Säulen getragene Galerie, Kristallluster und eine prunkvolle Kanzel. Eine Orgel diente zur Aufführung von Chorkonzerten und Oratorien. Den Puritanern <?page no="113"?> 112 Boston war die anglikanische „Kapelle“ ein Dorn im Auge und sie widmeten sie nach der Revolution unverzüglich zur ersten Unitarischen Kirche Bostons um. Im benachbarten Friedhof ist Gouverneur John Winthrop begraben, und an die ursprünglich daneben liegende, nicht mehr erhaltene Public Latin School erinnert die überlebensgroße Bronzestatue ihres berühmtesten Schülers Benjamin Franklin. Auf dem Weiterweg erreicht man den ehemaligen Old Corner Bookstore, ein stattliches koloniales Backsteingebäude, das 1718 am Ort der vormaligen Heimstätte der von den Puritanern verbannten „Häretikerin“ Anne Hutchinson errichtet wurde. Das Haus beherbergte ursprünglich eine Apotheke und im 19. Jahrhundert das berühmte Buchgeschäft und Verlagshaus Tricknor & Fields, wo Schriftsteller wie Longfellow, Emerson, Thoreau und Hawthorne ihre Werke veröffentlichten. Als in den 1960er Jahren das heruntergekommene Gebäude einem Neubau weichen sollte, rettete es eine Bostoner Bürgervereinigung vor dem Untergang. Mit finanzieller Unterstützung der Boston Globe-Zeitung wurde es gründlich restauriert und als Corner Bookstore wieder eingerichtet. Seit dem Bankrott des Verlags im Jahr 2009 dient das Gebäude als Geschäftshaus und Restaurant. Schräg gegenüber am Rand des Finanzdistrikts liegt das ehrwürdige Old South Meeting House, das in der Revolutionszeit eine überaus wichtige Rolle spielte. Das rote Backsteingebäude mit einem hoch aufragenden Glockenturm wurde 1729 errichtet. Das geräumige, in Weiß gehaltene Innere besticht durch seine von Säulen getragenen Holzgalerien, die in Boxen unterteilten Kirchenbänke und die pompöse Kanzel. 1772 wurde die Kirche säkularisiert und für Bürgerversammlungen und andere weltliche Zwecke verwendet. In der Revolutionszeit benützten James Otis, Joseph Warren, John Hancock, Samuel Adams und andere Patrioten den Raum für ihre propagandistischen Massenveranstaltungen. Am 16. Dezember 1773 versammelten sich hier 5000 wütende Patrioten, um gegen den verhassten Tea Act zu protestieren und Vorbereitungen für die Tea Party zu treffen. Die Vergeltung der britischen Armee folgte auf dem Fuß. Nach der Besetzung Bostons <?page no="114"?> Boston 113 zerstörten Soldaten die Inneneinrichtung, zerhackten Kirchenbänke und Kanzel zu Feuerholz und benützten den Saal als Pferdestall. Auch die Bibliothek, die William Bradfords berühmte Chronik enthielt, wurde geplündert. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurde das Gebäude wieder instandgesetzt und für öffentliche Veranstaltungen genutzt. 1970 konnten es geschichtsbewusste Bostoner Bürger vor dem Abriss bewahren und als Museum für Erinnerungsstücke und Dokumente aus der Revolutionszeit einrichten. In Audio- und Multimedia-Installationen kann man heute die authentisch inszenierten Reden und Diskussionen der Revolutionsführer verfolgen. Das nahe gelegene 1713 erbaute Old State House ist das älteste erhalten gebliebene öffentliche Gebäude Bostons. Zwischen den hoch aufragenden Hochhausfassaden aus Glas und Beton wirkt es wie ein zierliches Puppenhaus. Der schlichte rechteckige Ziegelbau mit dem aufgesetzten Türmchen diente verschiedenen Zwecken-- als Regierungssitz, Rathaus, Gericht, Postamt und Kaufmannsbörse. Vor der Unabhängigkeit residierten dort der General Court und The Old South Meeting House außen und innen <?page no="115"?> 114 Boston die kolonialen Gouverneure. Die links und rechts am Dach angebrachten königlichen Wappentiere Löwe und Einhorn erinnern an diese Zeit. Patriotische Heißsporne zerschlugen am 18. Juli 1776 die verhassten Symbolfiguren, nachdem am Balkon im zweiten Stock die Declaration of Independence vor einer versammelten Bürgermenge verlesen wurde. Nach der Revolution diente das Gebäude kurze Zeit als Sitz der ersten republikanischen Regierung, bevor diese in das 1789 fertiggestellte New Massachusetts Statehouse übersiedelte. In den 1880er Jahren wurde das alte Gebäude in ein Geschichtsmuseum umgewidmet. Über einen spiralförmigen Treppenaufgang gelangt man in die Ausstellungsräume, wo Mobiliar, Bilder und Gegenstände aus der Kolonial- und Revolutionszeit zu sehen sind. Auch die erwähnten abgeschlagenen Wappentiere am Dach stellte man in originalgetreuen Nachbildungen wieder her. Auf dem Platz vor dem Gebäude spielte sich am 5. März Old State House Boston Massacre Site <?page no="116"?> Boston 115 1770 das Boston Massacre ab. Eine schlichte Gedenkstätte in Form eines in den Boden eingelassenen Kreises aus Pflastersteinen erinnert an das Geschehen. In den 1950er Jahren wurde in das Stadtzentrum das pompöse Government Center samt einer riesigen Plaza hineingeklotzt. Ihm gegenüber bildet das alte Marktgebäude der Faneuil Hall einen wohltuenden Kontrast. Der stattliche dreistöckige Backsteinbau mit seiner von Säulen und weißen Bogenfenstern durchbrochenen Fassade macht einen eleganten Eindruck. Der im Sklavenhandel zu Reichtum gekommene Großkaufmann Peter Faneuil ließ es 1742 am Rand des alten, heute zugeschütteten Hafengeländes errichten. Die alte Wetterfahne in Form einer vergoldeten Heuschrecke aus Kupfer auf der Kuppel des Dachtürmchens ist eine Nachbildung des Originals an der Royal Exchange in London und heute ein Wahrzeichen Bostons. Nach einem Großbrand 1761 wurde die Faneuil Hall neu errichtet. In den ursprünglich offenen Arkaden des Erdgeschosses befand sich der erste große Lebens- Faneuil Hall <?page no="117"?> 116 Boston mittelmarkt der Stadt, während im darüber liegenden Auditorium Bürgerversammlungen abgehalten wurden. Das an der Rückseite des Gebäudes aufgestellte Denkmal von Samuel Adams sowie die historischen Skulpturen und Gemälde im Inneren verweisen auf die zentrale Rolle, die das Gebäude in der Revolutionszeit spielte. Als das Old Meeting House zu klein wurde, fanden hier die großen Protestversammlungen der Patrioten gegen die britischen Steuergesetze statt. Nach der Tea Party benützten die Briten den Gebäudekomplex als Soldatenquartier und Garnisonstheater. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt der große Saal seine politische Funktion zurück und diente unter anderem für die großen Anti-Sklaverei-Veranstaltungen dieser Zeit. Berühmte Abolitionisten wie Frederick Douglass und William Lloyd Garrison hielten hier ihre flammenden Reden. Im Verlauf ihres über 200-jährigen Bestehens wurde die Faneuil Hall mehre Male umgebaut und renoviert. 1806 erweiterte sie Bulfinch, fügte die klassizistischen Säulen in die Außenfassade ein und baute die Galerien im Inneren aus. Während der Urban Renewal-Bestrebungen der 1960er Jahre konnten umsichtige Stadtplaner das ehrwürdige Gebäude vor der Spitzhacke bewahren und zu einem der beliebtesten historischen Orte der USA ausbauen. Noch immer dient es für öffentliche Vorträge, Feiern und Konzerte und auch die ursprüngliche Idee des Marktes wurde erfolgreich wiederbelebt. Die 1824 an die Faneuil Hall im Greek Revival Style angebauten drei langgestreckten Gebäude des Quincy Market sind mit ihrer Mischung aus Geschäften, Boutiquen, Marktständen und Restaurants zum populärsten Treffpunkt Bostons geworden. Das quirlige Leben, die vielen Straßenkünstler und der Überfluss an Waren auf den Holztischen erinnern ein wenig an Les Halles in Paris. Insgesamt gelten der Markt und die belebte Fußgängerzone im Umkreis der Faneuil Hall heute als Musterbeispiel einer perfekten Stadtkernrevitalisierung, wo sich die Erhaltung der historischen Bausubstanz auf gelungene Weise mit kommerzieller Nutzung verbindet. Im weiteren Verlauf führt der Freedom Trail nach der Unterquerung des Fitzgerald Expressway ins Bostoner North End. Seit dem <?page no="118"?> Boston 117 17. Jahrhundert war dieses ein dicht verbautes Stadtviertel, wo wohlhabende Bürger und berühmte Persönlichkeiten wie Cotton Mather, Benjamin Franklin und Gouverneur Thomas Hutchinson ihre Wohnsitze hatten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts zog die gehobene Bürgerschicht fort und übersiedelte in die neuen vornehmen Viertel am Beacon Hill und in der aufgeschütteten Back Bay. Als 1847 während der großen Hungersnot in Irland 30 000 Iren nach Boston einwanderten, ließen sie sich in diesem größtenteils vakant gewordenen Stadtteil nieder. Die alten Häuser wichen mehrstöckigen Mietshäusern, die die Immigrantenmassen aufnahmen. Diese arbeiteten in den neuen Textil- und Schuhfabriken, im Eisenbahnbau oder bei den Aufschüttungen. Die ungebildeten katholischen Proletarier mit ihren kinderreichen Familien wurden von den Bostonians als Bürger zweiter Klasse behandelt und mussten ihr Leben mit Hungerlöhnen fristen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sank das Viertel am Hafen mit billigen Absteigen, Spielhöllen, Bars und Bordellen vollends zum Slum herab. Erst im frühen 20. Jahrhundert änderte sich die Bevölkerungsstruktur noch einmal, als das North End zum Anziehungspunkt italienischer Zuwanderer wurde. Noch heute erinnern die vielen italienischen Restaurants und Gemüsemärkte an Little Italy. Mitten in dieser Umgebung am North Square liegt wie ein Fossil das 1680 errichtete Paul Revere House. Es ist das älteste erhalten gebliebene Wohnhaus am Freedom Trail. Hier lebte von 1770 bis 1800 der legendäre Revolutionsheld und Silberschmied Paul Revere mit seiner neunköpfigen Familie. Als Hansdampf in allen Gassen nahm er am öffentlichen und politischen Leben der Stadt teil, mischte bei der Boston Tea Party mit, hielt die politischen Ereignisse in Zeichnungen und Stichen fest und stellte sie in den Fenstern seines Hauses zur Schau. Das Haus mit seiner grauschwarzen, auskragenden Holzfassade, den dunklen Schindeln, uralten Deckenbalken und offenen Kaminen hinterlässt beim Besucher einen fast mittelalterlichen Eindruck. Auch Gegenstände aus Reveres Besitz sind zu sehen; nur die von ihm gefertigten Silberwaren wurden in das Boston Museum of Fine Art ausgelagert. <?page no="119"?> 118 Boston In unmittelbarer Nachbarschaft liegt die älteste Kirche Bostons, die 1723 erbaute Old North Church. Ihre ursprüngliche, an Christopher Wren angelehnte Baustruktur ist erhalten geblieben, und nur der durch Brände und Stürme beschädigte Glockenturm wurde mehrmals erneuert. Welch wichtige Rolle die Kirche in der Revolutionsgeschichte spielte, demonstriert das Reiterstandbild von Paul Revere im Park hinter der Kirche. Als in der Nacht zum 5. August 1775 die britischen Truppen zu ihrem Marsch nach Concord aufbrachen und den Charles River überquerten, hatte Paul Newman, der Küster der Kirche, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Um den schon vorher in einem Ruderboot nach Charlestown übergesetzten Revere über die Truppenbewegung zu informieren, hängte er als vereinbartes Signal zwei Lampen in den Glockenturm der Kirche. Die Briten entdeckten den Verrat und Newman konnte nur mit knapper Not durch ein Kirchenfenster entkommen. Paul Revere-Denkmal Geschichte(n)erzähler am Freedom Trail <?page no="120"?> Boston 119 Dass ein Friedhof Geschichte machen kann, zeigt der an der höchsten Stelle des nördlichen Stadtteils gelegene Copp’s Hill Burying Ground. Hier brachten 1775 die britischen Truppen ihre Geschütze in Position, um die Stellungen der Rebellen am Bunker Hill unter Beschuss zu nehmen. Darüber hinaus birgt der Friedhof einige historische Kostbarkeiten. Neben hunderten halb verfallenen Grabsteinen aus der Kolonialzeit mit ihren skurrilen Totenkopfdarstellungen befinden sich hier die Gräber der berühmten Theologen und Hexenverfolger Increase und Cotton Mather. Um zur USS Constitution im alten Werftgelände von Charlestown und dem dahinter liegenden Bunker Hill zu gelangen, muss man den Charles River überqueren. Da beide Gedenkstätten für die Amerikaner nationale Ikonen sind, scheuen diese sich in der Regel nicht, die weite Wegstrecke am Ende des Trails zurückzulegen. Die USS Constitution ist das älteste erhalten gebliebene Kriegsschiff der USA. Obwohl die junge Republik keine großen Marineambitionen hatte, zwangen Piratenüberfälle auf amerikanische Handelsschiffe Präsident Washington zum Bau von insgesamt sechs Fregatten. Als erste lief 1794 die schnelle und robust gebaute Constitution vom Stapel. Ihr Eichenholzrumpf wurde an der Außenseite mit von Paul Revere gefertigten Kupferplatten verstärkt, was ihr den Spitznamen Old Ironside einbrachte. Nach Einsätzen im Mittelmeer und im Südatlantik gelangte das Schiff 1812 im Krieg gegen England zu Ruhm. Vor der Küste von Nova Scotia versenkte es ein britisches Kriegsschiff und blieb auch in 42 weiteren Seegefechten siegreich. In den 1850er Jahren folgten Einsätze gegen Sklavenschiffe an der Westküste Afrikas. Ihre letzte Überseefahrt unternahm die Constitution im Jahr 1878, als sie die amerikanischen Objekte zur Weltausstellung nach Paris brachte. Heute wird Old Ironside an jedem Unabhängigkeitstag von Schleppbooten durch den Hafen von Boston gezogen und mit Salutschüssen begrüßt. Eine halbe Million Menschen besichtigen alljährlich das Schiff und lassen sich von Guides in historischen Navy-Uniformen die alten Geschichten erzählen. Das Bunker Hill Monument bildet den Endpunkt des Freedom Trail. Ein 72 Meter hoher, 1843 erbauter Obelisk aus Granit glorifiziert <?page no="121"?> 120 Boston die verlorene Schlacht. Ursprünglich gab es an dieser Stelle nur ein Denkmal für den gefallenen Patrioten Dr. Joseph Warren. Erst 1825 wurde der Grundstein für den Obelisk gelegt und dieser nach langer, durch Geldmangel unterbrochener Bauzeit 1843 fertiggestellt. Es war das erste große nationale Monument in den USA. Im nahe liegenden Bunker Hill Pavillon veranschaulicht die Multimedia Show „The Whites of the Eyes“ den Verlauf der Schlacht. Die Kehrseite des Mythos Wie keine andere Gedenkstätte der USA verkörpert der Freedom Trail die ungeheure Fülle der Mythen und Legenden, die die Amerikaner im Umkreis der Revolution hervorgebracht haben. Jedes Detail ist genau erforscht und dokumentiert worden und wird in Schulbüchern, populären Geschichtswerken und Museen verbreitet und an Staatsfeiertagen in Sonntagsreden und Paraden gefeiert. So gut wie jeder US-Bürger ist mit dieser Tradition und den alten Geschichten vertraut. Weniger bekannt sind die im offiziellen Diskurs zumeist ausgeblendeten negativen und wenig ruhmreichen Aspekte des Geschehens. So war die Loslösung vom Mutterland anfänglich keineswegs ein idealistischer Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit, sondern ein überwiegend von materiellen und finanziellen Motiven ausgelöster Prozess. Eine merkantile Oberschicht, die um ihre wirtschaftlichen Vorteile und Steuerprivilegien besorgt war, spannte die Mittel- und Unterschichten durch massive Propaganda vor ihre ökonomischen Interessen. Das „loyalistische“ Drittel der Bevölkerung hingegen, das dem englischen Königshaus treu blieb und dem überhitzten „patriotischen“ Zeitgeist ablehnend gegenüberstand, wurde zur Zielscheibe rücksichtsloser Verfolgung. 19 000 von ihnen kämpften in britischen Einheiten. 25 Am Höhepunkt des Krieges häuften sich die Zusammenstöße zwischen Loyalisten (tories) und Rebellen und führten zu einem erbitterten Bürgerkrieg. Gewaltakte, die Konfiskation und Plünderung von Privateigentum, die Zerstörung ganzer Siedlungen sowie eine weit verbreitete Lynchjustiz gegenüber Loyalisten-- hauptsächlich <?page no="122"?> Boston 121 Kolonialbeamte, Anglikaner und Monarchisten-- verbreiteten in den Kolonien Angst und Schrecken. Manche Gebiete, etwa New Jersey und das von den Briten besetzte New York, blieben den ganzen Krieg hindurch Zufluchtsort für flüchtende Königstreue. An die 80 000 von ihnen flohen nach Halifax in Nova Scotia und in andere Teile Kanadas oder setzten sich nach England ab. Nur wenige kehrten nach Beendigung des Krieges in die USA zurück. 26 Ein anderer, häufig unter den Teppich gekehrter Aspekt ist, dass mit dem Fortschreiten der „Revolution“ die Kluft zwischen Ideologie und Wirklichkeit, d. h. zwischen der offiziellen aufklärerisch freiheitlichen Rhetorik und der politischen Realität immer größer wurde. 27 Propagierte die Unabhängigkeitserklärung noch radikale demokratische Prinzipien, so kam es im Verlauf der langwierigen Verhandlungen über die künftige föderative Verfassung der Union zu einer deutlichen Domestizierung dieser Ideen. Die ursprünglichen Einzelverfassungen der unabhängig gewordenen Kolonien hatten aus Furcht vor einer übermächtigen zentralen Staatsgewalt die Macht der Regierenden noch stark eingeschränkt, während die vom Verfassungskonvent (Grand Convention) in Philadelphia im Mai 1787 verabschiedete Constitution weit weniger progressiv war. Die Angst vor der emotionalen Unberechenbarkeit des einfachen Volkes, die schon während der Revolution so manche Führerpersönlichkeit beunruhigt hatte, trat nun offen zu Tage. Konservative Verfassungsväter traten für eine starke Zentralregierung ein und erachteten nur die weiße, besitzende Oberschicht-Elite für hohe politische Ämter befähigt, während andere Bevölkerungsgruppen von den demokratischen Grundrechten ausgeschlossen blieben. Ein ausgewogenes System der Gewaltenteilung (checks and balances) zwischen Bund und Einzelstaaten, Legislative, Exekutive und Judikatur wurde ausgeklügelt und wesentliche Elemente der konstitutionellen Monarchie Englands übernommen. Die große Symbolmacht des amerikanischen Präsidenten, die bikamerale Gliederung des Parlaments in Repräsentantenhaus und Senat und eine strenge Kontrolle demokratischer Wahl- und Entscheidungsvorgänge in Form von Elektoraten, Vetorechten und Mehrheitsklauseln sowie die Einsetzung eines über alles wachenden Supreme <?page no="123"?> 122 Boston Court sind darauf zurückzuführen. 28 Die Constitution ist die älteste geschriebene Verfassung der Welt und wird dementsprechend von den Amerikanern als Inbegriff der Demokratie hoch gehalten. Sie ist ex lege unantastbar und ihre Urfassung wird zusammen mit der Unabhängigkeitserklärung in den National Archives in Washington wie eine Reliquie verwahrt. Ihre Ratifizierung durch die damaligen 13 Kolonien im Jahr 1789 vollendete die offizielle Gründung der „Vereinigten Staaten von Amerika“ und krönte das sich über ein Vierteljahrhundert hinziehende Ringen um Unabhängigkeit und politische Souveränität. Im Endeffekt waren die Gründerväter jedoch weniger an einer egalitären Gesellschaftsveränderung interessiert als an der Bewahrung überkommener Privilegien und Besitzverhältnisse. Grundlegende Umwälzungen im Bereich sozialer Strukturen kamen deshalb nicht zustande. Die sozioökonomische Elite, d. h. eine Oberschicht von vermögenden Unternehmern, Großgrundbesitzern, Juristen, Zeitungsmachern und Bankern, die vor der Revolution das Sagen hatte, bediente auch in der neuen Republik die Hebel der Macht. Die weniger Vermögenden und Besitzlosen, die Frauen, die Immigranten und die ethnischen Minderheiten blieben weiterhin unterprivilegiert und von den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. 29 Als mit der beginnenden Westexpansion ein riesiger Binnenmarkt entstand, erlebten die USA einen beispiellosen Aufschwung des freien Unternehmertums. Das individuelle Streben nach Besitz und Erfolg wurde als eine Art Naturrecht zur allgemein akzeptierten Staatsideologie. Die Nichteinmischung des Staates in das freie Spiel der Marktkräfte, die uneingeschränkte Herrschaft des Finanzkapitals und das Prinzip der Profitmaximierung wurden zu den Grundpfeilern der Nation. 30 Abolitionismus-- Bostons „Zweite Revolution“ Das größte Versäumnis der amerikanischen Revolution und der Verfassung, die aus ihr hervorging, war, dass die südstaatliche Sklavenwirtschaft auch in der neuen Republik aufrecht blieb. Die Tat- <?page no="124"?> Boston 123 sache, dass ein Fünftel der damaligen amerikanischen Bevölkerung Sklaven waren, stand im krassen Gegensatz zu den demokratischen Prinzipien der Revolution. Jefferson hatte zwar unter Thomas Paines Einfluss ursprünglich einen Abschnitt in die Unabhängigkeitserklärung eingefügt, der die Sklaverei verurteilte, aber der Kongress strich ihn nach dem Einspruch der Südstaaten wieder heraus. Die Sklavenwirtschaft dauerte unvermindert an und erst die Abolitionsbewegung in den Jahren vor dem Bürgerkrieg rückte die Problematik in den Mittelpunkt des nationalen Interesses. Boston und seine revolutionäre Geschichte spielten dabei noch einmal eine herausragende Rolle. Beacon Hill ist heute einer der begehrtesten und teuersten Stadtteile Bostons. Das auf einem Hügel über dem Common liegende Wohnviertel mit seinen kopfsteingepflasterten Straßen, Backsteintrottoirs und Gaslaternen vermittelt den Besuchern eine fast europäisch anmutende Atmosphäre. Die eleganten Wohnhäuser im Federal Style der jungen Republik erwecken mit ihren reich verzierten schmiedeeisernen Balkonen, Erkern und Fensterläden sowie den Stuckdecken und Holzvertäfelungen im Inneren einen großbürgerlichen Eindruck. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen sich hier die sog. „Bostoner Brahminen“ nieder- - neben wohlhabenden Kaufleuten und Unternehmern auch angesehene Schriftsteller. Ein Rundgang durch die illustren Adressen am Louisbourg Square, an der Mount Vernon oder der Chestnut Street gehört zu den kulturgeschichtlichen Highlights einer Besichtigung Bostons. 31 Am Beacon Hill <?page no="125"?> 124 Boston Kaum jemand würde jedoch vermuten, dass sich am nördlichen Hang des Beacon Hill einst die größte Ansiedlung freier Afro-Amerikaner in den damaligen USA befand. 32 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebte nur wenige Blocks von den Patrizierhäusern entfernt etwa ein Viertel der ca. 2000 schwarzen Bewohner Bostons. Die von ihnen erbauten und bewohnten Wohnhäuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert-- etwa das John Coburn House, das John Smith House oder die Backstein-Mietshäuser am Smith Court-- heben sich durch ihre schlichtere Bauweise von den vornehmen Bürgerhäusern der Nachbarschaft ab. Am ältesten ist das George Middleton House, Pinckney Street 5, das 1797 von einem afro-amerikanischen Milizführer im Revolutionskrieg errichtet wurde. Schon in den 1820er und 1830er Jahren brachten die schwarzen Kirchengemeinden Aktivisten hervor, die sich nicht nur gegen die Sklaverei, sondern auch gegen jede Form von Rassendiskriminierung auflehnten. Sie kämpften für die Aufhebung der Segregation in Schulen, Kirchen und öffentlichen Verkehrsmitteln und forderten bessere Lebensbedingungen und politische Rechte für die afro-amerikanische Bevölkerung. Ihren Demonstrationen, Petitionen und Protestaktionen ist es zu verdanken, dass Boston in der interethnischen Auseinandersetzung schon vor dem amerikanischen Bürgerkrieg-- im Vergleich etwa zu New York oder Philadelphia- - als eine progressive und liberale Stadt galt. Die Abolitionsbewegung erreichte hier ihre ersten Höhepunkte und machte die Stadt für die südstaatlichen Sklaven zum Inbegriff von Freiheit und Toleranz. Der bedeutendste Anti-Sklaverei-Vorkämpfer dieser Zeit war William Lloyd Garrison, ein weißer Journalist, Schriftsteller und öffentlicher Redner, der sein Leben in den Dienst der Sklavenbefreiung stellte. Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Zeitgenossen lehnte er eine schrittweise Emanzipation ab und plädierte für die sofortige und vollständige Befreiung aller Sklaven, wenn nötig durch eine Abänderung der amerikanischen Verfassung. Ab 1831 gab er die Wochenzeitschrift The Liberator heraus. Diese vertrat abolitionistische Grundsätze, veröffentlichte programmatische Artikel, Reden und literarische Texte von Ex-Sklaven und versorg- <?page no="126"?> Boston 125 te die afro-amerikanische Bevölkerung mit einschlägigen Informationen. Die Zeitschrift wurde zum wichtigsten Sprachrohr der Abolitionsbewegung und Garrison in den Südstaaten zum meist gehassten Mann der USA. Der Staat Georgia setzte sogar ein Kopfgeld von 5000 Dollar auf ihn aus. Am 1. Januar 1832 gründete Garrison im African Meeting House am Beacon Hill die New England Anti-Slavery Society, der sich bald andere gleichgesinnte Vereine anschlossen. Garrison war zeitlebens heftigen rassistischen Anfeindungen und gewaltsamen Anschlägen ausgesetzt und musste 1835 sogar vor einem Lynchmob im Old State House Zuflucht suchen. Dennoch gelang es ihm im Lauf der Zeit, eine immer größere Zahl weißer Bostoner Bürger für die abolitionistische Sache zu gewinnen. Ermutigt durch diese Entwicklung wählten tausende südstaatliche Sklaven die alte „Wiege der Freiheit“ zum Ziel ihrer Flucht aus dem Süden und gelangten über abenteuerliche Schleich- und Schlepperwege, der sog. Underground Railroad, in die Stadt. 33 Afroamerikanische Wohnhäuser am Beacon Hill <?page no="127"?> 126 Boston Garrison vertrat eine konsequente Philosophie der Gewaltlosigkeit und geriet deshalb mit der immer militanter werdenden schwarzen Bevölkerung in Konflikt. Radikale Aktivisten, wie William Cooper Nell oder der Ex-Sklave Frederick Douglass forderten in Massenveranstaltungen nicht nur die Abschaffung der Sklaverei, sondern auch die völlige Gleichstellung der Afro-Amerikaner mit den Weißen in allen Lebensbereichen. Im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stand die materielle, organisatorische und humanitäre Unterstützung entflohener südstaatlicher Sklaven. Die Flüchtlinge, deren Zahl in Boston in den 1850er Jahren auf über 600 anwuchs, wurden zumeist in privaten Unterkünften am Beacon Hill vor ihren Verfolgern versteckt, bevor vielen von ihnen zur Flucht nach Kanada oder England verholfen wurde. Es waren illegale Maßnahmen, die gegen den Fugitive Slave Act verstießen, den Präsident Fillmore 1850 verordnete. Das Gesetz forderte die bedingungslose Rückführung entflohener Sklaven an ihre rechtmäßigen Besitzer in den Südstaaten und stellte Zuwiderhandeln unter hohe Geld- und Freiheitsstrafen. Der Präsident wollte unter allen Umständen einen Bruch mit den Südstaaten vermeiden und erhielt dafür in Neuengland die massive Unterstützung der aufstrebenden Textilindustrie und ihrer Aktionäre. Da die Entrepreneure von den Baumwollimporten aus den Südstaaten abhängig waren, befürchteten sie Restriktionen und Handelseinbußen. Alle Versuche der Abolitionisten, die Behörden durch Petitionen, Demonstrationen und spontane Gegenaktionen von den Verfolgungen abzubringen, blieben erfolglos. Im Gegenteil, die Verhaftung entflohener Sklaven und die Rückstellung an ihre Besitzer nahmen zu und heizten den Widerstand weiter an. Zu einem ersten Aufstand von Abolitionisten kam es 1846, als der entsprungene Sklave George Latimer auf einem Schiff im Bostoner Hafen verhaftet wurde und zu seinem Besitzer in Virginia zurückgeschickt werden sollte. Eine Massenversammlung in der Faneuil Hall unter Führung des radikalen Predigers Theodore Parker kulminierte im Beschluss, eine Bürgerwehr (Committee of Vigilantes) auf der Basis freiwilliger Mitgliedschaft aufzustellen. Ihr Ziel war, den Sklavenjägern einen Riegel vorzusetzen, wenn nötig unter Anwendung von Gewalt. Ex-Sklaven wurden systematisch unter <?page no="128"?> Boston 127 Schutz gestellt und dazu ermuntert, sich in Boston niederzulassen und für ihre Rechte zu kämpfen. 34 Ein dramatischer Vorfall ereignete sich 1850, als die hellhäutige Sklavin Ellen Craft als weißer Gentleman verkleidet ihren als Diener getarnten schwarzen Ehemann nach Boston schmuggelte. Der Besitzer setzte Agenten auf ihre Spur, um das Paar zu kidnappen. Das Vigilantenkomitee bekam davon Wind und alarmierte die schwarze Bevölkerung am Beacon Hill. Die Verfolgten fanden in der Heimstätte des Ex-Sklaven und Aktivisten Lewis Hayden Unterschlupf. Als die Verfolger mit Waffengewalt in das verbarrikadierte Haus einzudringen versuchten, drohte Hayden, dieses samt Insassen mit zwei im Haus versteckten Pulverfässern in die Luft zu jagen. Die Verfolger ließen daraufhin von ihrem Vorhaben ab und die Crafts konnten sich nach England absetzen. Der Vorfall wirbelte ungeheuren Staub auf, Hayden wurde auf Betreiben von Präsident Fillmore vor Gericht gestellt und ein Aufsehen erregender Prozess folgte. Die beiden renommierten abolitionistischen Anwälte Richard Henry Dana und John P. Hale konnten jedoch seine Verurteilung abwenden. Das spektakulärste Ereignis fand 1854 statt: Der entlaufene Sklave Anthony Burns war von Virginia nach Boston geflohen und hatte dort Arbeit gefunden. Ein US-Marshall wurde auf ihn aufmerksam und verhaftete ihn im Bostoner Courthouse. Als dies publik wurde, rottete sich eine riesige protestierende Menschenmenge vor der Faneuil Hall zusammen und verlangte Burns’ Freilassung. Gleichzeitig stürmten schwar- Sklaven-Kidnap-Poster (1851) <?page no="129"?> 128 Boston ze Aktivisten das Gerichtsgebäude, wobei ein US-Marshall im Handgemenge den Tod fand. Der Einsatz von zwei Militärkompanien war notwendig, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Gerichtsverhandlung, die unter massivem militärischem Schutz stattfand, verfügte Burns’ Zwangsrückstellung nach Virginia per Schiff. Ein ganzes Regiment der Massachusetts Infantry wurde aufgeboten, um den Bostoner Hafen vor einer wütenden Menschenmasse abzuriegeln und den Abtransport durchzuführen. Innerhalb eines Jahres brachte die schwarze Baptistengemeinde am Beacon Hill die geforderte Geldsumme für Burns’ Freikauf zusammen und dieser kehrte einige Zeit später nach Boston zurück. Mit Hilfe von Sponsoren ließ er sich am liberalen Oberlin College ausbilden und trat in der Folge als Zeitzeuge und abolitionistischer Aktivist mit großem Erfolg auf. 35 Ereignisse dieser Art führten in Boston in den Jahren vor Ausbruch des Bürgerkrieges zu einem hohen Grad an Solidarität zwischen weißen und schwarzen Abolitionisten. Jede Verhaftung oder Gerichtsverhandlung eines entlaufenen Sklaven wurde von der Öffentlichkeit mit Argusaugen verfolgt und erzwungene Rückführungen mit allen Mitteln verhindert. Massendemonstrationen gegen die human kidnappers waren an der Tagesordnung und steigerten sich gelegentlich zu gewaltsamen Befreiungsversuchen und Angriffen auf öffentliche Einrichtungen. Wurde ein verurteilter Ex-Sklave von einer Militäreskorte abtransportiert, drapierte man die Häuser entlang den Straßen mit schwarzen Tüchern und verkehrt aufgehängten amerikanischen Fahnen. Die Überzeugung setzte sich durch, dass die Sklaverei nicht nur durch die Zurücknahme des Fugitive Slave Act, sondern durch eine neue „Zweite Revolution“ beseitigt werden könne. Crispus Attucks, der im Boston Massaker sein Leben gelassen hatte, wurde nun als erster schwarzer Freiheitskämpfer und Märtyrer zur heroischen Symbolfigur. Das erstarkte Selbstbewusstsein der afro-amerikanischen Bevölkerung mündete schließlich in den Wunsch, in der Unionsarmee ein eigenes schwarzes Freiwilligenregiment aufzustellen. Nach Präsident Lincolns Emanzipationsproklamation im Januar 1862, die die Freisetzung aller Sklaven verkündete, wurde unter großer <?page no="130"?> Boston 129 Anteilnahme der Bevölkerung das 54. Regiment der Massachusetts Volunteer Infantry mit afroamerikanischen Rekruten unter Führung des weißen Offiziers Colonel Robert G. Shaw ins Leben gerufen. Die Einberufung und Musterung der Freiwilligen fanden unter der Federführung von Frederick Douglass und Lewis Hayden im African Meeting House am Beacon Hill statt. Nach einer kurzen und intensiven militärischen Ausbildung wurde das Regiment im Mai 1863 im Bostoner Hafen von einer großen Menschenmenge zum Kriegseinsatz verabschiedet und in die Südstaaten eingeschifft. Seine blutige Feuertaufe erhielt es in der Belagerung von Fort Wagner, einem konföderierten Befestigungswerk im Hafen von Charleston, South Carolina. Im Kampf gegen die konföderierte Übermacht fielen im Juli 1863 Colonel Shaw und 29 seiner afro-amerikanischen Kampfgenossen. 149 wurden verwundet und viele von ihnen erlagen später den Folgen ihrer Verwundungen. Als nach Beendigung des Krieges die sterblichen Überreste von Colonel Shaw in einem militärischen Massengrab gesucht wurden, legte seine abolitionistische Familie Protest ein. Auch im Grab sollte er mit seinen schwarzen Kameraden vereint bleiben. Obwohl die Schlacht von Charleston mit insgesamt 1600 Gefallenen für die Unionsarmee ein Debakel war, hatte sich das 54. Regiment hervorragend geschlagen. Der Rekrutierung von Afro-Amerikanern stand hinfort nichts mehr entgegen, und bis Kriegsende kämpften an die 180 000 afroamerikanische Soldaten auf der Seite der Union. 36 1865 beschlossen die Bostoner Bürger, den gefallenen schwarzen Infanteristen und ihrem idealistischen weißen Anführer ein Denkmal zu setzen. Aber es sollte noch 19 Jahre dauern, bis die nötigen Geldmittel dafür aufgebracht werden konnten. Den Auftrag erhielt schließlich der junge Bildhauer Augustus Saint-Gaudens, der weitere 14 Jahre für die Fertigstellung des Werks brauchte. Das gegenüber dem New State House am Nordrand des Common errichtete Shaw/ 54th Regiment Memorial besteht aus einem Bronzerelief auf einem Marmorsockel und gehört heute zu den künstlerisch bedeutendsten öffentlichen Kunstwerken Bostons. In einer gelungenen Mischung aus Realismus und Allegorie zeigt es Colonel Shaw hoch <?page no="131"?> 130 Boston zu Ross, umgeben von seinen schwarzen Kampfgenossen, deren Gesichter, Waffen und Ausrüstungsgegenstände detailgetreu und einfühlsam ausgeführt sind. Auf der Rückseite wurden die Namen der gefallenen Soldaten des Regiments angebracht, und bei der Einweihung im Mai 1897 hielt der berühmte schwarze Bürgerrechtler und Reformpädagoge Booker T. Washington die Festrede. 37 Das Denkmal bildet den Beginn des zwei Kilometer langen Black Heritage Trail am Beacon Hill. Die größte afro-amerikanische Gedenkstätte in den USA besteht aus historischen Kirchen, Schulen, Versammlungsorten und Wohnhäusern sowie einem Museum für afro-amerikanische Geschichte. 1980 erhob der Kongress den Trail zum Boston African American National Historic Site und unterstellte ihn dem National Park Service. Im Mittelpunkt steht das African Meeting House am Smith Court, die erste von freien Afro-Amerikanern selbst erbaute Gemeindekirche der USA. Das einfache, 1806 fertig gestellte Backsteinge- Colonel Shaw Monument <?page no="132"?> Boston 131 bäude mit seinen hohen Bogenfenstern diente auch als Schule, Gemeindezentrum und Versammlungsort für kulturelle und politische Veranstaltungen. William L. Garrison, Frederick Douglass und die erste schwarze Frauenrechtlerin Maria W. Stewart hielten hier ihre Aufsehen erregenden Reden. Im 20. Jahrhundert fand das Meeting House eine Zeit lang als Synagoge Verwendung, bevor es 1972 von der öffentlichen Hand aufgekauft, renoviert und seinem heutigen Zweck zugeführt wurde. Seit 2000 beherbergt das Gebäude das Museum of African American History, das neben interessanten Ausstellungsangeboten Bildungsprogramme zur afroamerikanischen Geschichte veranstaltet. Zum Museumskomplex gehört auch die daneben liegende ehemalige Abiel Smith School, die 1835 von einem weißen Philanthropen als erste öffentliche Schule für afro-amerikanische Schüler in Amerika eingerichtet wurde. In der nahen Pinckney Street liegt die Phillips School, die ab 1855 als erste integrierte Schule in Boston fungierte. Ein weiteres sehenswertes Gebäude ist das Charles Street Meeting House, das im frühen 19. Jahrhundert einer weißen Baptistengemeinde gehörte. Am Beacon Hill (s. Karte auf Seite 110) African Meeting House <?page no="133"?> 132 Boston 1835 erregte der fortschrittliche Gemeindepfarrer einen Sturm der Entrüstung im Bostoner Establishment, als er farbige Baptisten zum Gottesdienst einlud und sie in den vordersten Bankreihen Patz nehmen ließ. Das schon erwähnte Lewis and Harriet Hayden House in der Phillips Street ist das geschichtsträchtigste Wohnhaus am Beacon Hill. Der ehemalige Besitzer, der Ex-Sklave Lewis Hayden aus Kentucky, dessen Familie in den Deep South verkauft worden war, flüchtete 1846 mit seiner zweiten Frau Harriet über die Underground Railroad nach Boston. Dort arbeitete er sich zum angesehenen Textilkaufmann hoch und unterstützte moralisch und finanziell abolitionistische Aktionen, unter anderen John Browns legendären Angriff auf das bundesstaatliche Waffenarsenal von Harper’s Ferry im Oktober 1859. Als Mitglied des Vigilante Committee stellte Hayden sein Haus als Herberge für schwarze Flüchtlinge zur Verfügung und geriet damit ins Visier den Behörden. Als Hayden 1873 als erster schwarzer Abgeordneter in das Massachusetts House of Representatives gewählt wurde, war dies der abschließende Höhepunkt seiner kämpferischen politischen Laufbahn. In den 1850er besuchte Harriet Beecher Stowe das Hayden-Haus und sammelte in Gesprächen mit entflohenen Sklaven authentisches Material für ihren berühmten Roman Uncle Tom’s Cabin (1852). Der von ganz Amerika gelesene Bestseller gewann einen großen Teil der Bevölkerung für den Abolitionismus und übte auch auf Präsident Lincoln einen nachhaltigen Einfluss aus. Lincoln, der in der Sklavenfrage eine Zeit lang zögerte und auf die Einheit der Nation bedacht war, wollte anfänglich nur die Ausbreitung der Sklaverei in die neu in die Union aufgenommenen Staaten im Westen verhindern. Dass er sich schließlich für die Emanzipation der Sklaven und damit für den Bürgerkrieg entschied, konnte nur auf der Grundlage der Zustimmung geschehen, die sich in dieser Frage in der nordstaatlichen Bevölkerung durchsetzte. Unmittelbar vor der siegreichen Beendigung des Krieges, d. h. ohne Anwesenheit der Abgeordneten der Sezessionsstaaten, konnte Lincoln im Dezember 1865 im Repräsentantenhaus den Antrag auf Abschaffung der Sklaverei als 13. Verfassungszusatz <?page no="134"?> Boston 133 (13th Amendment) mit einer hauchdünnen republikanischen Mehrheit durchsetzen. Die damit vollzogene offizielle Beseitigung der Sklaverei wäre ohne die politische Vorarbeit in Boston kaum denkbar gewesen. Noch einmal hatte sich die Stadt als Vorkämpferin von Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung in ihrer „Zweiten Revolution“ bewährt. <?page no="135"?> 134 Hancock 5. Hancock Shaker Village-- religiöser Exzeptionalismus Wer die Shaker waren und woher sie kamen H ancock Shaker Village liegt eingebettet in die liebliche Hügellandschaft der Berkshires am Nordwestrand von Massachusetts. Der Ort erinnert an die merkwürdige „Schüttler“-Sekte (shakers), die durch ihre ekstatischen religiösen Tänze, ihr zölibatäres und besitzloses Leben in Kommunen sowie die formschöne materielle Kultur, die sie hervorbrachten, berühmt geworden ist. In Amerika etablierte sich die Shaker-Bewegung während des Unabhängigkeitskrieges, einer Zeit großer politischer und spiritueller Unruhe. Die Auflehnung der Revolution gegen etablierte Autoritäten und Institutionen im Namen individueller Freiheit griff nun auch auf den religiösen Bereich über. Die vollzogene Trennung von Kirche und Staat, die Abwesenheit einer zentralen Staatskirche wie etwa im Katholizismus oder Anglikanismus und nicht zuletzt die Reformunwilligkeit der in der puritanischen Tradition erstarrten Kongregationen ließen tausende verunsicherte Menschen in evangelikalen Erweckungsbewegungen ihr Heil suchen. Während des sog. Second Awakening sprangen neue Glaubensgemeinschaften allerorts aus dem Boden und hatten großen Zulauf. Ihnen gemeinsam war ein angsterfülltes Endzeitbewusstsein, das Streben nach einer von spirituellen Eingebungen getragenen religiösen Innerlichkeit sowie das Bestehen auf dem Gewissen als höchster moralischer Entscheidungsinstanz. Die aus England vertriebenen Shaker fanden in diesem Ambiente den geeigneten Nährboden für ihre Missionstätigkeit. Sie waren eine der radikalsten und konsequentesten religiösen Gruppierungen, verzichteten auf ein dogmatisch festgeschriebenes Glaubensbekenntnis, lehnten die Sakramente ab und verkündeten das Second Coming, die unmittelbar bevorstehende Wiederkehr Christi auf Erden. 1 <?page no="136"?> Hancock 135 Im Mai 1774 überquerten neun Sektenmitglieder aus Manchester den Atlantik in Richtung Neue Welt. Die Männer fielen durch ihre breitrandigen Hüte und langen Mäntel auf, während die Frauen mit ihren einfachen langen Kleidern und Häubchen betont schlicht auftraten. Ihre geistliche Anführerin war Ann Lee, die Tochter eines verarmten Schmiedes, die sich schon als Kind in den ausbeuterischen Textilfabriken ihr Brot verdienen musste. Im Alter von 22 Jahren schloss sie sich den Shaking Quakers an, einer separatistischen Sekte, die 1747 von James Wardley in Lancashire gegründet worden war und unter dem Einfluss französischer Kamisarden stand. Die French Prophets, wie man sie nannte, waren radikale Hugenotten aus den Cevennen, die nach der blutigen Niederschlagung eines Aufstandes im Jahr 1703 aus Frankreich vertrieben wurden und in England Zuflucht suchten. Ihr Markenzeichen waren tranceartige rituelle Tänze, in denen sie ihre religiösen Gefühle zum Ausdruck brachten. 2 Neun Jahre lang rang Ann durch Askese und Selbstkasteiung um spirituelle Läuterung und wurde darüber zu einer Art evangelikalen Heiligen. Sie fühlte sich vom Heiligen Geist durchdrungen und war überzeugt, direkt von Gott spirituelle Eingebungen zu empfangen. Nach einer unerfüllten Ehe und vier im Kindbett verstorbenen Kindern brach sie mit ihrer familiären Vergangenheit und machte den Verzicht auf Ehe und Privatbesitz zur bedingungslosen Voraussetzung makellosen christlichen Lebens. Sie war durchdrungen von der ihr von Gott befohlenen Verpflichtung, der Wiederkehr Christi den Weg zu bahnen. Christus offenbarte sich ihr als ein duales Geistwesen, das männliche und weibliche Prinzipien auf mystische Weise in sich vereint und zu dessen irdischer Stellvertreterin sie sich auserwählt fühlte. 3 In England wurden die Sektenmitglieder wegen ihrer häretischen Vorstellungen von der anglikanischen Kirche rigoros verfolgt und ins Gefängnis geworfen. In der Zeit höchster Bedrängnis empfing Ann in einer ihrer Eingebungen die Aufforderung Gottes, in die Neue Welt auszuwandern, um dort die einzig wahre Kirche zu gründen. Während der Überfahrt über den Atlantik machte sich die Gruppe mit ihren wilden Tänzen und Gesängen so unbeliebt, <?page no="137"?> 136 Hancock dass sie der Kapitän über Bord zu werfen drohte. Nach der Ankunft in New York hielten sich die neun mittellosen Einwanderer eine Zeit lang mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bevor sie sich in der abgelegenen Landgemeinde Niskayuna bei Albany, New York (heute Watervliet), niederließen. Dort hausten sie mehrere Jahre in einfachen Holzhütten, rodeten und kultivierten in harter Arbeit das Sumpfland und pflegten ihre religiösen Tänze und Bräuche. 4 Der entscheidende Durchbruch gelang ihnen im Frühjahr 1779 in New Lebanon, New York, auf einer großen, von „erleuchteten“ New Light-Baptisten veranstalteten Erweckungsversammlung. Am 21. Mai 1789, dem sog. Dark Day, verfinsterte dichter Smog, der von Waldbränden und Schlechtwetter verursacht wurde, den Himmel auf unheimliche Weise und löste damit eine Weltuntergangsstimmung aus. Dies war der richtige Moment für den ersten öffentlichen Auftritt von „Mother Ann“. Die groß gewachsene, stattliche Frau und ihre Anhänger erregten mit ihren aufrüttelnden Endzeit-Predigten, Tänzen und Gesängen ungeheures Aufsehen. 5 Die Shaker verkündeten, dass das Millennium, d. h. die in der Offenbarung des Johannes prophezeiten letzten tausend Jahre von der Wiederkehr Christi bis zum Ende der Zeit, schon angebrochen sei und dass die Shaker die von Gott eingesetzten Wegbereiter wären. Alle, die ihre Sünden öffentlich bekennen, ihrem fleischlichen Begehren entsagen und in ein neues gemeinschaftliches, ehe- und besitzloses Leben eintreten, könnten schon im Hier und Jetzt am Millennium teilhaben. Die emotionale Überzeugungskraft dieser Botschaft sowie Mother Anns charismatische Persönlichkeit zogen die verunsicherten Menschen in ihren Bann. In großen Scharen pilgerten sie nach Nikayuna, um sich vom religiösen Enthusiasmus der Shaker inspirieren zu lassen. Immer mehr Bekehrte, vor allem Kleinfarmer, Landarbeiter, alleinstehende Frauen und Witwen samt Kindern, schlossen sich der neuen Sekte an und gründeten nach der Rückkehr in ihre Heimatorte eigene Gemeinden. 6 Ein zweiter großer Wendepunkt trat 1781 ein, als Joseph Meacham, der leitende baptistische Pastor in New Lebanon als erster prominenter Amerikaner samt seiner Gemeinde zum Shakerglauben übertrat und eine rege Missionstätigkeit in Gang setzte. Mother <?page no="138"?> Hancock 137 Ann unternahm mit einigen Glaubensgenossen eine ausgedehnte Missionsreise durch Neuengland, um die Neubekehrten beim Aufbau ihrer Gemeinden zu unterstützen. Die intensive Missionstätigkeit, die sich über drei Jahre hinzog, bildete die Grundlage für die erstaunlich rasche Ausbreitung der Sekte. Diese stieß jedoch bei den anderen Religionsgemeinschaften, die um ihren eigenen Bestand fürchteten, auf immer heftigeren Widerstand. Die wachsende Aggression wurde noch geschürt durch die stark antibritischen Emotionen in der Bevölkerung in dieser Zeit. Die politische Abstinenz der englischen Zuwanderer, ihre Weigerung, Waffen zu tragen und im Unabhängigkeitskrieg Militärdienst zu leisten, wurden von den Patrioten angeprangert. Man verdächtigte sie als Spione, die der amerikanischen Revolution insgeheim feindlich gegenüber standen. Aufgewiegelte Mobs griffen die Missionare mit Knüppeln und Steinen an, bedrohten die Gottesdienste mit Gewehrschüssen und überfielen Shakersiedlungen. Mother Ann und ihre Gefährten wurden des Hochverrats bezichtigt, mehrere Male ins Gefängnis geworfen und am Ende gewaltsam aus Massachusetts vertrieben. 7 Einer der erbittertsten Widersacher war Valentine Rathbun, ein Baptistenprediger aus Pittsfield, der 1780 zu den Shakern übergetreten war, aber in der Folge die Sekte wieder verließ und einen heftigen theologischen Machtkampf vom Zaun brach. 1782 veröffentlichte er einen vernichtenden Bericht über seine Erfahrungen mit der Sekte, der trotz seiner Polemik bis heute als realistische Darstellung der Frühphase der Shaker in den USA gilt. Rathbun warf ihnen Blasphemie, religiösen Betrug und Zügellosigkeit vor. Mit ihren wilden Tänzen, die sie oft halb nackt und unter Alkoholeinfluss zelebrierten, verstießen sie gegen die christliche Moral, entzweiten Ehen, entfremdeten Kinder von ihren Eltern und störten das friedliche Zusammenleben der Menschen. In erstaunlicher Vorwegnahme moderner Psychologie beurteilte Rathbun die stundenlangen, in Trancezustände übergehenden Tänze nicht als Ausdruck übernatürlicher Eingebungen, sondern als die selbstquälerische Kasteiung verdrängter und irregeleiteter sexueller Energie. 8 <?page no="139"?> 138 Hancock 1784 brach Ann unter den ständigen Anfeindungen, Verunglimpfungen und Gewaltandrohungen zusammen und starb im Alter von nur 48 Jahren. Erstaunlicherweise jedoch tat ihr Tod der Weiterentwicklung der Shaker keinen Abbruch. Im Gegenteil, die verfolgten Verweigerer von Gewalt und politischer Vereinnahmung wurden nun von vielen Zeitgenossen als Märtyrer verehrt. Ihr Ansehen wuchs und sie nahmen ihre Missionstätigkeiten wieder mit großem Erfolg auf. Mother Anns Nachfolger, der 33jährige James Whittaker konnte die 36 verstreuten Gemeinden, die inzwischen entstanden waren, zu 19 zahlenmäßig starken, wirtschaftlich autarken Societies zusammenzuführen. 1786 entstand in New Lebanon die erste große Shaker-Gemeinde mit einem zentralen Meeting House und den typischen mehrstöckigen Shaker-Wohnhäusern aus Backstein. Nach Whittakers Tod im Jahr 1787 übernahm Meacham die Gemeinde in New Lebanon und baute sie zur religiösen Leitungszentrale der Shaker aus. „Father Joseph“, wie man ihn nannte, vernetzte die Gemeinden untereinander und führte eine einheitliche hierarchische Führungsstruktur ein. Mit überragendem Organisationstalent vollendete er die materielle und spirituelle Loslösung der Gemeinden von der Welt der Ungläubigen und schloss die Shaker zur United Society of the Believers in Christ’s Second Coming zusammen. 9 Trotz vieler Widrigkeiten wuchs die Shaker-Sekte immer weiter an, und der Zulauf von Konvertiten sowie die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen nahm ständig zu. Nicht selten traten ganze Familien in die Gemeinden ein und überschrieben ihnen ihren Besitz-- Ackerland, Viehbestand und Gehöfte-- ohne irgendwelche Rückerstattungsrechte bei Austritt oder Tod. 10 Zwischen 1810 und 1850 erreichten die Shaker ihre größte Verbreitung mit insgesamt 5000 Mitgliedern. Erst ab den 1850er Jahren kam es zu einer Trendwende. Die Mitgliederzahlen nahmen kontinuierlich ab und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Sekte zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. Nur am Sabbath Day Lake in Maine konnte sich eine kleine Gruppe halten und pflegt dort bis heute ihre alten religiösen Bräuche. 11 Von den einst von Leben erfüllten Gemeinden, die über Neuengland, New York, Kentucky, <?page no="140"?> Hancock 139 Site Map <?page no="141"?> 140 Hancock Ohio und Indiana verstreut waren, sind nur noch ein paar museale Erinnerungsstätten übrig geblieben. Neben Mount Lebanon im Staat New York, dem Enfield Shaker Museum und dem Canterbury Shaker Village in New Hampshire ist das Hancock Shaker Village bei Pittsfield, Massachusetts, das größte und am besten erhaltene Shaker-Freiluftmuseum in den USA. Die City of Peace, wie die Shaker die Gemeinde nannten, wurde im Jahr 1783 gegründet und erreichte um 1830 mit 338 Mitgliedern, 100 Gebäuden und einer 12 Quadratkilometer großen landwirtschaftlichen Fläche ihren Höhepunkt. Bis 1870 sank die Gemeinde auf 125 und bis 1900 auf 43 Mitglieder herab. Als sie 1960 endgültig aufgelassen wurde, erwarb eine Gruppe lokaler Sponsoren die Anlage, um das Shaker-Erbe für die Nachwelt museal zu bewahren. Sie restaurierten 20 der erhalten gebliebenen Gebäude und stellten einen kleinen Teil der ehemaligen Garten- und Anbauflächen wieder her. 1961 wurde das restaurierte Hancock Shaker Village zum National Historic Landmark erhoben und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 12 Vom Visitor Center aus kann man auf einem mehrstündigen Rundgang die lose Ansammlung von Meeting House, Schule, Wohnhäusern, Werkstätten, Scheunen, Ställen sowie die Obst- und Gemüseplantagen besichtigen. Alljährlich machen zehntausende Besucher von diesem kulturell einzigartigen Angebot Gebrauch. 13 Die Selbstorganisation der Shaker In der Regel bestand eine Shaker-Gemeinde aus mehreren kommunalen Großfamilien mit jeweils bis zu 90 Mitgliedern. Jede von ihnen unterstand einem vierköpfigen Führungsgremium aus zwei „Ältesten“ (elders und eldresses), die für geistliche, seelsorgerliche und disziplinäre Aufgaben zuständig waren, sowie zwei Diakonen bzw. Diakoninnen (diacons) für soziale und administrative Angelegenheiten. Die Führungspersonen stimmten ihre Entscheidungen in täglichen Besprechungen untereinander ab; darüber hinaus jedoch gab es keine demokratischen Strukturen. Älteste <?page no="142"?> Hancock 141 und Diakone wurden ähnlich der katholischen Kirchenhierarchie von der jeweils höheren geistlichen Autorität auf unbegrenzte Zeit eingesetzt. 14 An der Spitze aller Shaker stand das geistliche Führungsgremium (Lead Ministry) in New Lebanon. Diesem unterstanden die Gemeinden (Bishopric Ministries) und auf der Ebene darunter die Brüder und Schwestern in den Großfamilien (Church Families). Father Joseph schränkte den anfänglich überschießenden Kult persönlicher Offenbarungen und Eingebungen ein und erließ die Gospel Orders, d. h. die Verpflichtung zu strengem Gehorsam, regelmäßiger öffentlicher Beichte, gemeinsamer Arbeit und Verzicht auf Privatbesitz und Ehe. Zweifellos verhinderte diese strenge Reglementierung längerfristig ein Auseinanderdriften der Meinungen und Interessen und ermöglichte damit das erstaunlich lange Überleben der Shakergemeinden. 15 Im Gegensatz zu den weltlichen sozialutopischen Gemeinschaften in den USA (s. Kap. 6), die zumeist nach kurzer Zeit an Meinungs- und Interessensunterschieden scheiterten, hielten sich die Shaker mit einer Balance aus Spiritualität, Pragmatik und Geschäftstüchtigkeit bis ins 20. Jahrhundert. 1796 übergab Father Joseph mit Zustimmung des Ältestenrates die Führung der Lead Ministry an Eldress Lucy Wright, eine charismatische Frau, mit der er viele Jahre zusammengearbeitet hatte. Als Verantwortliche für die „weibliche Linie“ in New Lebanon hatte sie durch Kompetenz und tiefe Frömmigkeit hohes Ansehen erworben. Es war das erste Mal in den USA, dass eine Frau die Leitung einer evangelikalen Religionsgemeinschaft übernahm. 25 Jahre-- von 1796 bis 1821-- führte sie die Shaker mit großem Erfolg und trug wie keine andere Führerpersönlichkeit zur Herausbildung der typischen Shakerwelt bei. Sie festigte das innere Regelwerk, gründete sieben neue Gemeinden und weitete die Missionstätigkeit nach Kentucky, Ohio und Indiana aus. 16 Historiker und Historikerinnen verweisen heute auf die wichtige Vorreiterrolle der Shaker in Hinblick auf die spätere Frauenemanzipation. Durch den Zölibat, d. h. den Wegfall von Ehe- und Haushaltsverpflichtungen, Geburten und Kinderaufzucht eröffneten sich für die Shakerfrauen ungewöhnliche Möglichkeiten. 17 Im <?page no="143"?> 142 Hancock Gegensatz zu den meisten weltlichen Frauen dieser Zeit, für die es außerhalb der Ehe kaum eigenverantwortliche Betätigungsfelder gab, hatten sie nicht nur die gleichen Mitspracherechte und Handlungsspielräume wie die Männer, sondern auch konkrete Aufstiegschancen in der Hierarchie der Sekte. Eine Sister konnte in die Position einer Diakonin oder Eldress erhoben werden und sogar die oberste Führungsposition erringen. Ob sich jedoch die Shakerfrauen in ihrem streng konformistischen und restriktiven Umfeld, das keinerlei Privatsphäre zuließ, wirklich im heutigen Sinn selbst verwirklichen konnten, wie feministisch orientierte Historikerinnen annehmen, bleibt eine offene Frage. Zeitgenössische Besucher berichten jedenfalls auffallend häufig, dass die Frauen in den Gemeinden gegenüber den robuster und erdverbundener wirkenden Männern zwar geistig und spirituell wacher, aber gleichzeitig abgehärmt und altjüngferlich wirkten. 18 Nathaniel Hawthorne, der 1850 in Begleitung von Herman Melville Hancock Village besuchte, war von dem, was er dort wahrnahm, abgestoßen. „Der extreme und systematische Mangel jeglicher Privatsphäre,“ so kritisiert er in American Notebooks, „das enge Zusammenleben, die ständige gegenseitige Überwachung-- all dies ist hassenswert und ekelhaft; je schneller diese Sekte vom Erdboden wieder verschwindet, umso besser. Die Shaker sind die sonderbarste und vertrackteste menschliche Gruppierung, die es je in einem zvilisierten Land gab.“ 19 In seiner Erzählung „The Shaker Bridal“ (1842) bringt er seine Vorbehalte gegenüber dem zölibatären Shakerleben auf fiktionale Weise zum Ausdruck. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen zwei junge Liebende, die vor Armut und Not in eine Shakergemeinde flüchten, auf die Ehe verzichten und im Verlauf der Zeit zu lebenden Toten werden. Als sie nach vielen Jahren als Elder bzw. Eldress zu höchsten Würden kommen, bricht die Frau unter der Last ihres vergeudeten Lebens zusammen und stirbt. Erstaunlicherweise gab es in den Shaker-Gemeinden trotz des Fehlens natürlicher Familien viele Kinder. Zöglinge, Lehrlinge und Waisenkinder wurden in großer Zahl aufgenommen, und Witwen oder Ehepaare, die sich voneinander getrennt hatten, brachten ihre Kinder in die Kommune mit. Dort wuchsen sie separiert von ihren <?page no="144"?> Hancock 143 leiblichen Eltern in der kommunalen Großfamilie auf und wurden in eigenen Jungen- und Mädchen-Häusern großgezogen. Zwar gab es eine gemeinsame Schule, aber die Mädchen besuchten diese nur im Sommer, während die Burschen in der Feldarbeit unabkömmlich waren. Der Unterricht war stark praxisorientiert und beschränkte sich auf grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten für das tägliche Leben. Höhere Bildung galt bei den Shakern als ein überflüssiger Luxus. Jungen und Mädchen waren ganz in das alltägliche Arbeitsleben integriert und bekamen Aufgaben zugewiesen, die sie in Kleingruppen unter Anleitung von Erwachsenen „Church Family“ um 1880 <?page no="145"?> 144 Hancock ausführten. 20 Beim Erreichen der Volljährigkeit konnten sie selbst darüber entscheiden, in der Gemeinschaft zu bleiben oder diese zu verlassen. Zum Leidwesen der Shaker entschied sich in der Spätzeit die überwiegende Zahl der männlichen Jugendlichen für die Welt draußen. In ihrer religiösen Organisation beriefen sich die Shaker- - im Gegensatz etwa zu den Mormonen-- auf keinen von Gott geoffenbarten schriftlichen Gründungstext. Auch die Autorität der Bibel war für sie nicht so absolut wie bei anderen fundamentalistischen Evangelikalen. Statt dogmatischer Lehren oder einer systematischen Theologie stand der spontane spirituelle Kontakt mit Gott im Mittelpunkt ihres Glaubens. Als wichtigste Orientierung dienten Mother Anns Lebensgeschichte und Offenbarungen, die 1816 unter dem Titel Testimonies of the Life, Character, Revelations, and Doctrines of Our Ever Blessed Mother Ann Lee veröffentlicht wurden. 1821 erschien darüber hinaus ein von Mother Lucy in Auftrag gegebenes umfassendes Regel- und Instruktionswerk unter dem Titel Millennial Laws, Gospel Statutes and Ordinances. Es war die vollständige Kodifizierung aller Regeln und Normen und diente mehreren Shaker-Generationen als Orientierung in allen Lebensbereichen. Darin enthalten waren Auflagen für das zölibatäre Leben, strikte Benehmens- und Verhaltensregeln, Vorschriften für religiöse Feiern, Kindererziehung, Hygiene und Kleidung, Richtlinien für die Herstellung materieller Güter und die geschäftlichen Beziehungen mit der Außenwelt. Auf heutige Leser wirkt das Regelwerk mit seiner Prüderie und der pedantischen Auflistung hunderter Details überaus befremdlich. Sie reichen vom Verbot von Haustieren, Regenschirmen, Uhren, Geschenken bis zu peniblen Ess- und Toiletteregeln oder dem Verbot, Tieren beim Kopulieren zuzusehen. Nicht-religiöse Bücher, Zeitungen und Bilder waren verboten, Hüte durften nicht größer sein als die der Elders, beim Beten musste der linke Daumen über dem rechten liegen, Sitzen mit gekreuzten Beinen war verboten, Männer und Frauen durften sich nicht die Hand geben und ohne Beisein Dritter miteinander reden und auch Briefe waren verboten. Das Sammelsurium von Verboten, Barrieren, Unfreiheiten und Bespitzelungen <?page no="146"?> Hancock 145 war letztlich extrem lebensfeindlich und die spätere Auflehnung gegen sie vorprogrammiert. 21 Nach Jahren der Stagnation kam es 1837 in den Gemeinden noch einmal zu einer spirituellen Erweckungsbewegung, die fast sechs Jahre andauerte. Sie ist unter der Bezeichnung Era of Manifestations in die Shaker-Annalen eingegangen. Die Rückbesinnung auf die spirituelle Intensität der Gründungszeit führte noch einmal zu einer stark emotionalen Wiederbelebung der Gesänge und rituellen Tänze. 22 Die Gottesdienste wurden nun häufig in die freie Natur verlegt, um die Botschaften aus dem Jenseits unmittelbarer zu empfangen. In Hancock hielt man die mountain meetings auf dem benachbarten Sinai-Hügel ab. Eine erstaunliche Neuerung war, dass zu diesen Feiern auch gelegentlich Indianer aus der Umgebung zugelassen wurden und ihre Gesänge und Tänze beitragen durften. Die Shaker hatten offensichtlich erkannt, dass sie mit den Native Americans einiges gemeinsam hatten. Wie diese glaubten sie an die magische Verbindung mit jenseitigen Geistwesen und brachten ihre Gottesverehrung ebenfalls in rituellen Tänzen zum Ausdruck. 23 Die religiöse Erregtheit und Begeisterung dieser Zeit schlug sich in der großen Zahl individueller Eingebungen nieder, die inspirierte Gläubige direkt von Gott oder von Mother Ann zu empfangen glaubten. Erst als diese so überhand nahmen, dass sie die herrschende kollektive Ordnung bedrohten, wurden eigene Tests eingeführt, um zwischen Phantasieprodukten, Täuschungen und genuinen Eingebungen zu unterscheiden. Die meisten „spirituellen Manifestationen“ fanden ihren Niederschlag in neuen Liedern und erstaunlicherweise auch in bildlichen Darstellungen, die mit Tinte oder Wasserfarbe auf Papierblättern aufgebracht wurden. Obwohl in der streng ikonoklastischen Welt der Shaker Abbildungen der konkreten Lebenswelt verboten waren, sah man in visualisierten Eingebungen keinen Regelverstoß. Sie bestanden zumeist aus geometrisch formalisierten, emblematischen oder symbolisch stilisierten Gestaltungen von spirituellen Orten, Gärten und Früchte tragenden Bäumen. Um dem Vorwurf der verbotenen Gegenständlichkeit zu entgehen, beriefen sich die Shaker-Zeich- <?page no="147"?> 146 Hancock ner und Maler auf spontan empfangene Visionen (spiritual spectacles), die sie mechanisch kopierten. Sie empfanden sich dabei nicht als kreative Künstler, sondern als „Instrumente“ im Dienst des Heiligen Geistes. 24 Ein Musterbeispiel ist das in Hancock 1854 entstandene, zur Shaker-Ikone gewordene Aquarell „Tree of Life“ (1854) von Sister Hannah Cohoon. Der Baum mit seinen stilisierten Blättern und Früchten bezieht sich auf den in der Offenbarung des Johannes erwähnten himmlischen Lebensbaum und versinnbildlicht die organisch gewachsene, verzweigte und Früchte tragende Gemeinschaft der Shaker. Lange Zeit blieben Bilder dieser Art als simple Produkte amerikanischer Volkskunst unbeachtet. Erst in jüngerer Zeit haben sie die Kunsthistoriker wieder entdeckt und ihre religiösen und ästhetischen Parameter herausgearbeitet. 25 Sister Hannah Cohoon, „Tree of Life“ (1854) <?page no="148"?> Hancock 147 Die Lieder, die während der Gottesdienste gesungen wurden und nach deren Rhythmus getanzt und geklatscht wurde, unterschieden sich bewusst von den damals üblichen protestantischen Kirchenliedern. Sie dienten dazu, religiöse Energien unmittelbar ausströmen zu lassen und die Loslösung von allen irdischen Bindungen kundzutun. Gesungen wurde häufig ohne Worte, durch Summen und unverständliche Laute oder nach improvisierten Melodien, die dem Augenblicksgefühl entsprangen und sich zu großer emotionaler Intensität steigerten. Schon Mother Ann hatte mit ihrem charismatischen Gesang die Zuhörer fasziniert, und in der Erweckungszeit gingen davon noch einmal starke Impulse aus. Die meisten Lieder, die die Shaker simple gifts nannten, entstanden in dieser Zeit. Sie wurden schriftlich festgehalten und finden heute bei Musikwissenschaftlern und auf viel gekauften CDs Beachtung. 26 Als nach sechs Jahren die enthusiastische Erweckungsphase abflaute, kehrte das alte Unbehagen in die Gemeinden zurück. Als Reaktion darauf brachte 1845 die Lead Ministry eine umfassende Neuauflage der Millennial Laws heraus. Diese präzisierte und verschärfte das vorhandene Regelwerk vor allem im Bereich des materiellen Lebens. So wurde der Erwerb oder Gebrauch von Porzellan, verzierten Gläsern oder Silberbesteck als materialistischer Luxus gebrandmarkt und der Genuss von Schweinefleisch, Tee und Kaffee untersagt. Die Auswirkungen dieser Neuregelungen erwiesen sich jedoch als kontraproduktiv, da immer mehr Mitglieder, besonders junge Männer, die Sinnhaftigkeit dieser rigiden Disziplinierung in Frage stellten. Der Glaube an die eigene Existenzberechtigung geriet ins Schwanken, die Austritte häufen sich und einige Gemeinden begannen sich aufzulösen. Die alten Bräuche des religiösen Tanzens und Singens traten zurück und wichen allmählich dem pragmatischen und rationalen Zeitgeist. Auch die herkömmlichen handwerklichen Tätigkeiten verloren an Bedeutung, als die Shakergemeinden im Zuge der Industrialisierung zunehmend fabrikmäßig erzeugte Produkte verwendeten. 27 <?page no="149"?> 148 Hancock Das Alltagsleben in einer Shaker-Gemeinde Es gibt viele Beschreibungen, die zeitgenössische Besucher von Shaker-Gemeinden hinterlassen haben. Zumeist stimmen sie darin überein, dass sich der Wohlstand und die stattliche äußere Erscheinung ihrer Dörfer auffallend von der Umgebung abhoben. Sie bewundern ihre Sauberkeit, Ordnung und Effizienz, die klare Anordnung der weiß gestrichenen Häuser und Wirtschaftsgebäude, die geraden Linien der Straßen und Zäune, die gut bestellten Gärten, Äcker und Obstplantagen und den gesunden Viehbestand. Der äußeren Ordnung entsprach die innere Ordnung und Aufgeräumtheit ihrer Häuser und Werkstätten. All dies stand im Gegensatz zu dem damals vorherrschenden Wildwuchs und Schmutz amerikanischer Dörfer-- ein Aspekt, der heute nach den vielen seit dem späten 19. Jahrhundert erfolgten Restaurierungen und Verschönerungen zumeist vergessen wird. 28 Auch der Tagesablauf der Bewohner war bis ins kleinste Detail geregelt: Wecken um 5 Uhr früh durch die Glocke am Dach des Wohnhauses, Ankleiden und Aufräumen, Frühstück um 6.30 Uhr, Arbeit, Mittagessen, Arbeit, Abendessen um 18 Uhr, soziale Zusammenkünfte und abschließend Abendandacht und Nachtruhe. Die Gottesdienste fanden am Sabbat und viermal in der Woche am Abend statt. Die Shaker betrachteten ihren Lebensraum als ein Abbild göttlicher Ordnung, aus der sie alles Unreine, Chaotische und Provisorische konsequent zu verbannen suchten. Die englische Kulturhistorikerin Harriet Martineau, die 1835 Hancock Village besuchte, war überzeugt, dass die Shaker in ihrem äußeren Leben „das summum bonum auf Erden“ Im Shaker-Dorf <?page no="150"?> Hancock 149 erreicht hätten. 29 Ähnlich äußerten sich die Frühsozialisten und transzendentalistischen Sozialutopisten (s. Kap.6) sowie sozial gesinnte Industrielle. Sie nahmen sich die wohl geordneten Shaker-Kommunen zum Vorbild, lehnten aber gleichzeitig ihre skurrilen sektiererischen Auswüchse ab. Das typische mehrstöckige Shaker-Wohnhaus (Brick Dwelling House) mit geradlinig schlichter Backsteinfassade und grün gestrichenen Fensterläden und Türen bildete den Mittelpunkt des kommunalen Lebens. In seinem Äußeren lässt sich das Gebäude am ehesten mit den Studentenwohnhäusern alter amerikanischer Universitäten vergleichen, übertrifft diese jedoch an Wohnlichkeit und ästhetischer Gestaltung. In Hancock bestand die im Haus lebende church family ursprünglich aus 94 Mitgliedern-- 46 Männer und 48 Frauen. Das Grundprinzip der Geschlechtertrennung bei gleichzeitigem Zusammenleben unter einem Dach prägte die innere Struktur des Hauses. Dieses ist in der Mitte zweigeteilt und verfügt über zwei getrennte Eingänge und Stiegen-- für die Männer links und die Frauen rechts. In den oberen Stockwerken liegen auf beiden Seiten eines breiten Korridors die Wohn- und Schlafräume (retiring rooms) der Brüder und Schwestern. Trotz ihrer spartanischen Einfachheit sind die mit Rollen versehenen Holzbetten, der Eisenofen und andere Einrichtungsgegenstände praktisch, bequem und äußerlich ansprechend. Die gedämpften Farben der Hancock Shaker Brick Dwelling House <?page no="151"?> 150 Hancock Wände und Möbel und der goldgelbe, blank gebohnerte Fußboden in den hellen Räumen sind aufeinander abgestimmt und verbreiten eine Atmosphäre von Harmonie und Wärme. Die Großküche im Erdgeschoss verfügte über fließendes Wasser, einen großen Backofen, mehrere Herde und einen Speiseaufzug zum darüber liegenden Speisesaal. Dort nahmen Männer und Frauen die Mahlzeiten an separaten Tischreihen ein. Alles unnötige Reden, lautes Lachen und Berührungen aller Art verstießen gegen die Hausordnung und waren verboten. Nur in der arbeitsfreien Zeit gab es Möglichkeiten zu einiger Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Da Männer und Frauen nie allein in einem Raum zusammen sein durften, gab es eigene Aufenthaltsräume (family rooms) für soziale und religiöse Zusammenkünfte. Dort saßen Brüder und Schwestern auf Stuhlreihen einander gegenüber, hielten Konversation oder sangen gemeinsam religiöse Lieder. 30 Über das zölibatäre Zusammenleben von Männern und Frauen in den Shaker-Gemeinden haben schon die weltlichen Zeitgenossen Retiring Room <?page no="152"?> Hancock 151 viel gelästert. Als besonders fragwürdig angesehen wurde, dass die Frauen trotz der bestehenden Geschlechtertrennung den Männern zu Dienstleistungen zugeteilt waren und für sie Haushaltspflichten verrichten mussten. 31 Da sich Außenstehende nicht vorstellen konnten, wie das Zusammenleben der Geschlechter am gleichen Stockwerk in einem gemeinsamen Haushalt problemlos funktionierte, kam es vielfach zu abfälligen Mutmaßungen und Verdächtigungen. Ausgetretene Abtrünnige (apostates) verbreiteten diffamierende Geschichten, vor allem über die sog. „spirituellen Paare“, die eine angeblich platonische Beziehung miteinander unterhielten, aber nur in den abendlichen union meetings miteinander kommunizieren durften. Tatsächlich kam es gelegentlich vor, dass Paare zusammenfanden, sich für die Ehe entschieden und die Gemeinschaft verlassen mussten. Insgesamt aber empfanden vor allem die Frauen den Zölibat als eine willkommene Möglichkeit, den Zwängen und Abhängigkeiten der damals üblichen Ehe zu entkommen, ohne auf materielle Sicherheit zu verzichten. Besonders Witwen oder von ihren Männern verlassene Frauen fanden bei den Shakern die Geborgenheit, die sie suchten, so dass nur Shaker-Speisesaal <?page no="153"?> 152 Hancock wenige von ihnen wieder austraten. Die geregelten und fairen Arbeitsbedingungen und das von materiellen Sorgen befreite Gemeinschaftsleben boten ihnen Schutz vor Armut, Krankheit und Einsamkeit im Alter. In Krisenzeiten schätzten auch viele Männer die materielle Absicherung. So traten die sog. Winter Shakers im Herbst in eine Kommune ein, um der Winterarbeitslosigkeit zu entkommen, und suchten im Frühjahr wieder das Weite. Insgesamt verleiteten die besseren Verdienst- und Karrieremöglichkeiten mehr Männer als Frauen, in die „Welt“ zurückzukehren. Dies erklärt, warum die Zahl der weiblichen Mitglieder in den Gemeinden immer größer war als die der männlichen und es am Ende an manchen Orten nur noch Frauenkommunen gab. 32 Einen auffallenden Gegensatz zum pragmatischen und zweckorientierten Lebensalltag der Shaker bildete ihre religiöse Erregtheit. Den Mittelpunkt ihres Lebens bildeten die Gottesdienste im Meeting House, dem geistlichen Zentrum der Gemeinde. Da die Gottesdienst-Saal <?page no="154"?> Hancock 153 Shaker Sakramente und dogmatische Lehren ablehnten, gab es keine Abendmahlfeiern, keine Predigten und keine gemeinsam gesprochenen Gebete. Man beschränkte sich auf „Ermahnungen“ (exhortations), das Verlesen von Bibelstellen und das stille Gebet. Die Sabbatfeier konzentrierte sich ganz auf die spirituelle Selbstversenkung, wobei das Singen religiöser Lieder und der Tanz im Mittelpunkt standen. Diesen liturgischen Prinzipien entsprach die bauliche Struktur des Meeting House. In Hancock steht noch ein vom Shaker-Baumeister Elder Moses 1786 entworfenes Gebäude, das 1962 aus einer aufgelassenen Kommune dorthin gebracht und neu errichtet wurde. Der außen weiß und innen blau gestrichene zweistöckige Holzbau imitiert mit seinem Mansardendach den holländischen Kolonialstil und unterscheidet sich bewusst von den üblichen Meeting Houses in Neuengland. Man betritt das Gebäude durch zwei Eingänge, einen linksseitigen für die Männer und einen rechtsseitigen für die Frauen. Durch ein Vestibül gelangt man in den zentralen ca. 100 Quadratmeter großen Gottesdienstsaal. Wegen der rituellen Tänze gleicht dieser mit seiner weiten Bodenfläche eher einem Ballsaal als einem Kirchenraum. Es gibt weder Kanzel noch Altar, kein Kreuz, keine religiösen Bilder und Symbole. Nichts Äußerliches sollte die Gläubigen von ihrem verinnerlichten Umgang mit Gott ablenken. An den Seiten stehen Stühle, die man während des Tanzes auf Holzzapfen (pegs) an den Wänden aufhängte. Im Obergeschoss des Meeting House lagen die Wohnungen der Elders und Eldresses, die über separate Treppenaufgänge zugänglich waren. Dazwischen lag ein gemeinsamer Besprechungsraum. Die Mahlzeiten wurden im Haupthaus in einem eigenen Speiseraum eingenommen und für die handwerklichen Tätigkeiten stand ein eigenes Ministry Shop zur Verfügung. Darüber hinaus gab es keine weiteren Privilegien für die Ältesten und auch die Ausstattung ihrer Wohnbereiche unterschied sich kaum von jenen anderer Gemeindeglieder. Die Tänze im Meeting House verloren im Lauf der Zeit die individuelle Ekstase der Gründerzeit. An die Stelle der ursprünglichen <?page no="155"?> 154 Hancock heftigen Dreh-, Spring- und Schüttelbewegungen, denen sich die Tänzer oft bis zur tranceartigen Erschöpfung hingaben, trat unter dem Einfluss von Mother Lucy der feierliche Square Order Shuffle mit den einstudierten Formen und vorgeschriebenen Regeln eines Gesellschaftstanzes. Die Frauen kleideten sich zu diesem Anlass in weiße Roben und Hauben, blaue Schürzen und Schuhe mit hohen Absätzen, während die Männer weiße Hemden, Überröcke und Hosen trugen. Männer und Frauen formierten sich in gegenüberstehenden Reihen oder bildeten Kreise um eine zentrale Singgruppe herum. Berührungen gab es keine, denn auch mit den Händen mussten die Tänzer festgelegte symbolische Bewegungen ausführen. 33 Die folgende Beschreibung eines Shaker- Gottesdienstes stammt von einem zeitgenössischen Besucher: Tanz im Meeting House vor Besuchern Zuerst knien die Gottesdienstbesucher auf dem blitzblanken Fußboden am rechten Knie in einem stillen Gebet nieder. Dann erheben sie sich und gliedern sich in zwei Reihen, die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. <?page no="156"?> Hancock 155 Einige von ihnen stimmen einen Gesang an, nach dessen Rhythmus alle zu tanzen beginnen und mindestens eine halbe Stunde lang perfekten Gleichschritt halten. Männer und Frauen sind einander zugewandt und treten während der Vorführung abwechselnd einige Schritte nach vorne und zurück. Nach Beendigung des Tanzes nehmen sie auf den Stühlen Platz und folgen einer Ermahnung. Nach einiger Zeit erheben sie sich und singen gemeinsam ein Lied. Dann nehmen sie wieder ihren Platz ein, und eine weitere Ermahnung beendet den Gottesdienst. 34 Als die aktive Missionstätigkeit der Shaker vorüber war, ließen sie weltliche Besucher als Zuschauer zu den Tanzzeremonien zu, um ihre religiöse Botschaft nach außen zu vermitteln. Die als pinguinhaft empfundenen Männer und die mageren und bleichen Frauengestalten mit ihren marionettenhaften Bewegungen stießen jedoch zumeist auf Ablehnung, so dass die Besuche bald wieder untersagt wurden. Besonders abschätzig reagierte Fanny Longfellow, die Frau des berühmten Dichters, auf einen Gottesdienst in Hancock im Jahr 1839: Kein Hexensabbat oder Bachanal könnte unwirklicher, abstoßender, deprimierender und verwirrender sein. Die sich pausenlos hinziehende Mechanik der stereotypen Schrittfolgen, das angestrengte Vorwärtsneigen der Körper, die spasmodischen Sprünge, das Verdrehen der Hälse, die geisterhaften Gesichter der Frauen und ihre leichenhaften Hauben, die schrillen Singstimmen und die rigiden Mienen-- dieses erbärmliche und widerliche Spektakel würde gut in einen höllischen Tanzsaal oder in einen Albtraum passen. 35 Das Shakerdorf als Produktionsgemeinschaft Die Shakergemeinden verstanden sich als autarke Produktionsgemeinschaften. In ihren hellen und geräumigen, nach Männern und Frauen separierten Werkstätten (shops) wurde alles produziert, was für das tägliche Leben in der Kommune notwendig war. Im Umkreis des Wohnhauses gab es eine Bäckerei, eine Schmiede, Tischler-, Böttcher-, Gerber- und Sattlerwerkstätten sowie eine <?page no="157"?> 156 Hancock Druckerei. Die Männer waren mit der Herstellung von Möbeln, Zinnlampen, Besen, Knöpfen, Schuhen und vielen anderen Gegenständen beschäftigt. Einige der Brethren Shops sind heute als Schaubetriebe eingerichtet. In einem von ihnen kann man die komplizierte Erzeugung der berühmten Shaker-Spanschachteln verfolgen. Als Mehrzweckbehältnisse in verschiedenen Größen und Farben dienten sie der Aufbewahrung von Mehl, Zucker, und Gewürzen oder auch als Nähzeugschatullen. Für ihre Herstellung wurden dünn geschnittene Holzbrettchen mit Wasserdampf über ovale Holzformen gebogen und die schwalbenschwanzförmigen Enden mit Kupferstiften vernietet. Die Frauen waren in der Spinnerei und Weberei sowie in den Schneiderwerkstätten tätig und produzierten Stoffe, Decken, Bettvorleger und die typische Shaker-Bekleidung. Darüber hinaus arbeiteten sie in den kollektiven Wäschereien und Büglereien. Das Laundry & Machine Shop in Hancock gibt einen aufschlussreichen Einblick in das Funktionieren eines derartigen Großbetriebs mit seinen verschiedenen, von den Shakern selbst erfundenen Wasch-, Wring- und Bügelmaschinen. Der Lebensrhythmus in einer Shakergemeinde mit ihren geordneten Tätigkeiten und Pflichten war gleichförmig und unaufgeregt. Müßiggang wurde nicht geduldet, aber auch Stress und Überarbeitung gab es kaum. Weltliche Vergnügungen und Ablenkungen gab es keine und die spärliche Freizeit diente ausschließlich der religiösen Erbauung. In Gemeinden, wo mehrere Großfamilien Im Spanschachtel-Workshop Shaker-Spanschachtel <?page no="158"?> Hancock 157 nebeneinander lebten, herrschten besonders für Männer flexible Arbeitsbedingungen und eine Menge handwerklicher und landwirtschaftlicher Spezialisierungen. Die Frauen hingegen waren trotz des Wegfalls von Ehe und Mutterschaft in den herkömmlichen Bereichen weiblicher Arbeit tätig. Sie versahen die häuslichen Putz-, Wasch- und Kochdienste, deckten die Tische, beseitigten den Müll und waren für die Erzeugung der Milchprodukte verantwortlich. Nur in den Gärtnereien und der manufakturmäßigen Verarbeitung, Sortierung und Verpackung von Samen oder Heilkräutern arbeiteten Männer und Frauen kooperativ zusammen. Alle Gemeindeglieder wurden dazu angehalten, ihre Arbeit als eine Art Gottesdienst zu betrachten und ständig zu verbessern. Dieses religiös motivierte Streben nach Perfektion wirkte sich ungemein positiv auf die Qualität der erzeugten Produkte aus. 36 In der landwirtschaftlichen Produktion übertrafen die Shaker deutlich alle anderen Farmer. Sie führten eine Reihe arbeitsparender Geräte ein wie den Säwagen, die Rotationsegge, geländegängige Round Stone Barn <?page no="159"?> 158 Hancock Pflüge sowie diverse Schäl-, Enthülsungs- und Schneidegeräte. Auch ihre Scheunen, Ställe und Wirtschaftsgebäude errichteten sie nach streng ökonomischen und arbeitssparenden Prinzipien. Im Unterschied zu den Amischen waren sie für technische Neuerungen durchaus empfänglich und gehörten zu den Ersten, die die Elektrizität wirtschaftlich nutzten. Eine große zentrale Wasserradanlage betrieb ein eigenes Sägewerk, versorgte die Kommune mit Wasser und erzeugte elektrische Energie. Die technisch herausragendste Leistung in Hancock ist die Round Stone Barn aus dem Jahr 1826. Die Scheunen- und Stallanlage stellt in jeder Beziehung ein einzigartiges Bauwerk dar, das die für die Shaker typische funktionale Ästhetik eindrucksvoll zum Ausdruck bringt. Die massive kreisrunde Außenmauer aus Kalkstein hat einen Umfang von 90 Metern und ist 7 Meter hoch. Ein zentraler 17 Meter hoher Holzaufbau mit konisch auf Holzsparren aufgesetztem Dach bildet einen geräumigen Luftschacht oberhalb des zentralen Heubodens. 1864 zerstörte ein Feuer die ursprüng- Holzkonstruktion im Inneren der Round Barn <?page no="160"?> Hancock 159 liche Dachkonstruktion, und man ersetzte sie durch einen hutschachtelförmigen Turmaufbau mit aufgesetzter „Laterne“ für den natürlichen Lichteinfall. Das Scheunengebäude umfasst drei Stockwerke. Auf der Hauptebene in der Mitte liegen 13 Stallabteile mit nach innen gerichteten Futterkrippen für insgesamt 52 Rinder. Der Zugang zu den Ställen führt über eine Rampe und durch ein Holztor an der Südseite. Zum Parapet im darüber liegenden Stockwerk gelangten die Heuwagen über eine Auffahrtsrampe. Das Heu wurde von oben in den zentralen Heuboden geworfen und auf die 13 Futterkrippen verteilt. Im Untergeschoss unter den Ställen wurde der durch Klappen herunterfallende Kuhmist als Dünger eingesammelt. Das Geniale an dem Bau ist die Verbindung von durchrationalisierter Logistik mit formal vollendeter Holzbaukunst. Ein einziger Mann konnte alle 52 Tiere mit Heu versorgen und den Mist entsorgen. Schon im 19. Jahrhundert erregte die Rundscheune großes Aufsehen. Herman Melville, der 1850 das Dorf besuchte, bezeichnet sie in einer Notiz lapidar als „erstaunlich“ (amazing). 37 Mit dem Niedergang der Hancock-Gemeinde und ihrer Landwirtschaft im 20. Jahrhundert drohte das Gebäude zu verfallen. 1968 wurde es gründlich restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und gehört heute zu den bekanntesten und meist fotografierten Wahrzeichen Neuenglands. Führend waren die Shaker auch im Gartenbau. In einer Zeit, in der das Kreuzen von Pflanzen noch weitgehend unbekannt war, unternahmen sie über Jahre hinweg genaue Beobachtungen, Selektionen und Züchtungen und entwickelten eine Menge neuer Obst-, Beeren- und Gemüsesorten sowie eine hervorragende Weinrebe. Die Shaker waren auch die Ersten, die Gemüsesamen als Massenprodukt erzeugten und vermarkteten. Die geernteten Samen wurden sortiert und getrocknet, in beschriftete, bunt bedruckte Papiersäckchen verpackt und für 6 Cent zum Verkauf angeboten. Auch größere Kollektionen in bemalten Holzkisten waren eine beliebte Handelsware. Die Shaker lieferten ihre Erzeugnisse auf den für sie typischen Einspännern zu den Märkten und Kommissionsläden der Umgebung. Für die amerikanischen Zeitgenossen waren die <?page no="161"?> 160 Hancock „Brüder“ mit ihren breitkrempigen Hüten ein skurriles Kuriosum, dennoch schätzten sie ihre Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. Mit ihren seriösen Geschäftspraktiken und hervorragenden Produkten erwarben sie sich großen Respekt. Die Handelsbeziehungen florierten und brachten den Gemeinden einen beachtlichen Wohlstand. 38 Der Handel mit Heilkräutern, bzw. die aus ihnen gewonnenen Derivate bildeten ein anderes wichtiges Standbein der Shaker-Ökonomie. Dahinter stand eine lange Tradition spirituellen Heilens durch Gebete, Handauflegen und natürliche Arzneien. Vieles übernahmen sie von indianischen Medizinmännern, deren Naturheilkunde sie bewunderten. Nach eingehender Erprobung wurden die Heilkräuter großflächig angebaut, zu Elixieren, Sirups, Tinkturen, Salben und Tabletten verarbeitet und in Fläschchen, Dosen und Schachteln samt Beipackzetteln verkauft. Im Gegensatz zur offiziellen Schulmedizin der Zeit, die zu drastischen Therapien wie Aderlassen, Purgativen, Schwitzkuren oder chirurgischen Eingriffen neigte, nahmen die Shaker alternative Heilmethoden Shaker-Samenschachtel <?page no="162"?> Hancock 161 vorweg. Insbesondere ihre Blutreinigungs-, Blasen- und Nierenmittel, ihre Beruhigungs- und Schlaftrunke erfreuten sich großer Beliebtheit und wurden bis nach Europa exportiert. Die Heilmittelproduktion der Shaker war so erfolgreich, dass sie zu ihrer lukrativsten Einnahmequelle wurde. 39 Die berühmteste und nachhaltigste Leistung erbrachten die Shaker jedoch in der Erzeugung von Möbeln und Gebrauchsgegenständen. Auch hier wurden ihr Erfindungsreichtum und ihr handwerkliches Können zu einem Markenzeichen. Der Einbauschrank, der hochlehnige Sessel, der energiesparende Ofen aus Gusseisen oder der Flachbesen gehen auf die Shaker zurück. Wie alles andere war auch die Erzeugung dieser Gegenstände in ein strenges Regelwerk eingebettet. So schrieben die Millennial Laws (1841) vor, dass nichts an diesen Produkten überflüssig und unzweckmäßig sein durfte, da dies gegen das Gebot christlicher Anspruchslosigkeit verstoßen würde: Gläubige dürfen keine Gegenstände gebrauchen oder kaufen, die für sie ungeeignet sind, weil sie auf überflüssige Weise bearbeitet, ornamentiert und verfeinert sind [...] Sie dürfen unter keinen Umständen Gegenstände herstellen oder zum Kauf anbieten, die auf überflüssige Weise so gestaltet sind, so dass sie den Hochmut und die Eitelkeit der Menschen fördern und deshalb für den Gebrauch unzulässig sind. 40 Die Shaker betrachteten sich nicht als „Kunsthandwerker“, die sie als Erzeuger von Überflüssigem verachteten, sondern als einfache Tischler, die nützliche und solide Dinge herstellten. Sie duldeten keine verschnörkelten Tischbeine und Einlegearbeiten, keine Zierkanten und Metallbeschläge und keine pompösen Himmelbetten. Da sie von modischen Einflüssen unabhängig und keinen wirtschaftlichen Zugzwängen unterworfen waren, hatten sie genügend Muße für Kreativität und Innovation. Sie arbeiteten ohne persönliches Profitinteresse, da die Verkaufserträge ihrer Produkte ausschließlich der Gemeinschaft zugute kamen. Arbeit war für sie keine aufgezwungene Pflicht oder besondere Tugend, sondern ein praktischer Beitrag zum Funktionieren der Gemeinschaft. Die <?page no="163"?> 162 Hancock Erfindung der Waschmaschine ergab sich aus den täglich anfallenden Riesenmengen von Schmutzwäsche, die Kreissäge war ein Nebenprodukt ihrer täglichen Tischlerarbeit, Einbauschränke waren notwendig, um die Kleidung und Wäsche der vielen Hausbewohner unterzubringen, und die Eisenöfen ersetzten die damals üblichen offenen Kamine, um Brennholz zu sparen. Die Stühle hängten sie an hölzerne Wandzapfen, um Raum für die zeremoniellen Tänze zu schaffen, und mit ihren Flachbesen konnten sie die großen Bodenflächen in den Gemeinschaftsräumen rascher und effizienter kehren als mit den üblichen Reisigbesen. Da die Shaker ihre Erfindungen einer möglichst großen Zahl von Menschen zukommen lassen wollten, ließen sie diese nicht patentieren. Erst als ihre Möbel von weltlichen Herstellern massenhaft nachproduziert wurden, führten sie eine eigene Handelsmarke ein. Zu ihren Bestsellern gehörten Drehsessel, Klapptische und vor allem der legendäre Schaukelstuhl, der im 19. Jahrhundert zum Shaker-Erfindungen Säwagen <?page no="164"?> Hancock 163 Standardinventar amerikanischer Haushalte wurde. Auch praktische Dinge für den täglichen Gebrauch wie dreibeinige Kerzenständer, Holzbottiche, Körbe, Bürsten, Hauben und Umhänge erfreuten sich großer Beliebtheit und wurden in großen Mengen hergestellt. Für ihre Stühle erfanden die Shaker ein eigenes Kippgelenk an den Stuhlbeinen, das eine Beschädigung von Fußböden und Teppichen verhinderte. Die Einbauschränke waren standardisiert und bestanden aus Schubladen im unteren Teil und einem Schrank darüber. Eine effiziente Neuerung war der Shaker-Nähtisch mit einer ausziehbaren Arbeitsfläche und seitlichen Schubladen, an dem zwei Frauen gleichzeitig arbeiten konnten. Auch dieses überaus zweckmäßige Möbelstück besticht durch seine einfache, dekorlose, dennoch elegante Formgebung. Die Objekte, die die Shaker hervorbrachten, waren nie Selbstzweck, sondern Ausdruck einer religiösen Lebenshaltung. Was sie schufen, folgte keinen ästhetischen Regeln, sondern war das Nebenprodukt eines konsequenten Strebens nach gottgefälliger Perfektion. Da alles Überflüssige als verwerflicher Luxus galt, der Shaker-Möbel <?page no="165"?> 164 Hancock nichts zur Qualität des Produkts beitrug, mussten die Gegenstände, die sie herstellten, so einfach, geradlinig und haltbar wie möglich sein. Die daraus resultierende Formgebung war das Ergebnis einer konsequent zu Ende gedachten Funktionalität. Dennoch wären die Shaker heute zweifellos verwundert oder gar verärgert über den Kult und hochpreisigen Handel, der mit ihren Möbeln betrieben wird. Auf diesem Hintergrund ist die Aussage von Sister Mildred R. Barker zu verstehen, die bis zu ihrem Tod im Jahr 1990 ein Mitglied der Shaker-Gemeinde in Sabbath Lake war: „Ich möchte als jemand in Erinnerung bleiben, die sich in den Dienst Gottes gestellt und diesen so gut wie möglich erfüllt hat, und nicht als ein Stück Möbel.“ 41 Was von den Shakern geblieben ist Vielleicht hätten die Shaker mit einiger Kompromissbereitschaft eine Chance gehabt, auch in der modernen Zivilisationswelt der USA zu überleben. Dies zeigt sich am Wirken von Elder Frederick W. Evans, ihrer genialsten und progressivsten Führerpersönlichkeit. Der englische Sozialreformer hatte sich in seiner Heimat vehement für eine Landreform und menschenwürdige Arbeitsbedingungen eingesetzt. Unter dem Einfluss des Frühsozialisten Robert Owen wanderte er 1820 in die USA aus, um sich mit den dort entstehenden utopischen Kommunen auseinanderzusetzen. Er schloss sich jedoch nicht Owens genossenschaftlicher Produktionsgemeinschaft New Harmony in Indiana an, sondern entschied sich für die Shaker. Obwohl er ein aufklärerischer Deist war, trat er ihnen 1830 bei, weil er ihre religiös-kommunistische Gemeinschaft für die beste aller Welten hielt. Aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten konnte er gegen den Widerstand der religiösen Traditionalisten der Sekte zum Leiter des Führungsgremiums in New Lebanon aufsteigen. In dieser Funktion bemühte er sich, die Shaker aus ihrer gesellschaftlichen Isolation herauszuführen und mit anderen zeitgenössischen Reformbewegungen in Verbindung zu bringen. Er unternahm ausgedehnte Auslandsreisen, korres- <?page no="166"?> Hancock 165 pondierte mit sozialreformerischen Vordenkern wie Leo Tolstoi und Henry George und pries in seinen Schriften die vorbildhafte Sozialrevolution der Shaker. Als überzeugter Pazifist beteiligte er sich an der damaligen Friedensbewegung und veröffentlichte einschlägige Artikel in der nationalen Presse. Während des amerikanischen Bürgerkriegs gelang es ihm durch einen persönlichen Kontakt zu Präsident Lincoln, die Shaker von der allgemeinen Wehrpflicht zu befreien. Als Gegenleistung bot er die Versorgung notleidender und hungernder Soldaten mit Nahrungsmitteln aus den Kommunen an. Auch befreite Ex-Sklaven wurden in die Gemeinden aufgenommen und es entstanden sogar einige afro-amerikanische Shaker-Kommunen. 42 Aber all diese Modernisierungs- und Anpassungsversuche erwiesen sich längerfristig als wenig erfolgreich. Je mehr die Shaker am kulturellen und politischen Leben teilnahmen und zum öffentlichen Diskurs beitrugen, umso mehr versiegte ihr religiöser Enthusiasmus und damit ihre gemeinschaftsbildende Kraft. Ihr realitätsfremdes Regelwerk wurde am Ende zur Last und der Verzicht auf Ehe und Fortpflanzung und die daraus folgende Überalterung erwiesen als ein verhängnisvoller Bumerang. Die rigide Lebenswelt der Shaker stand zu sehr im Widerspruch zur pragmatischen und individualistischen Lebenseinstellung der Bevölkerungsmehrheit und konnte deshalb nicht überdauern. Schon 1842 brachte Charles Dickens anlässlich seines Besuchs von Hancock sein großes Unbehagen gegenüber den Shakern zum Ausdruck und stand damit zweifellos in Einklang mit den meisten seiner amerikanischen Freunde und Bekannten. Als ihm im Trustee’s Office der Zutritt zum Meeting House von einem alten grimmigen Diakon verweigert wurde, brach er über den „finsteren kleinen Commonwealth“ den Stab: Ich verabscheue und verachte aus tiefster Seele den Ungeist, der, gleichgültig von welcher Klasse oder Sekte er ausgeht, das Leben seines natürlichen Glücks beraubt, der Jugend ihre unschuldigen Vergnügungen missgönnt, alten Menschen die kleinen Freuden streitig macht und die menschliche Existenz auf einen engen Pfad in Richtung Grab zwingt. [...] In diesen breitkrempigen Hüten und <?page no="167"?> 166 Hancock Auf die stärkste Kritik der Zeitgenossen stieß jedoch nicht ihre religiöse Enge-- dafür gab es im evangelikalen Fundamentalismus genügend andere Beispiele-- sondern der von ihnen praktizierte Realkommunismus. Die Forderung nach Besitzlosigkeit und die Verweigerung von Privatleben gegenüber dem Anspruch der Kommune wurden als zutiefst unamerikanisch empfunden, denn sie widersprachen dem aufsteigenden kompetitiven Unternehmergeist der Zeit. Als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Industrialisierung, Technologisierung und Finanzkapitalismus im Namen eines alles beherrschenden Fortschrittsglauben in den USA Platz griff, begannen die Shaker, die selbst kompetente Geschäftsleute waren, an ihrem missionarischen Auftrag zu zweifeln. Sie zogen sich immer mehr in eine selbstgenügsame Frömmigkeit zurück und wurden mit der Zeit zum Relikt ihrer eigenen Vergangenheit. Wie die anderen sozialutopischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, denen sie in vieler Hinsicht als Vorbild dienten, erlitten sie das Schicksal, mit der neuen Lebensrealität nicht mehr kompatibel zu sein. Es gab kaum noch Neueintritte, charismatische Persönlichkeiten blieben aus, die Jungen zogen sich zurück und die Gemeinschaften lösten sich auf. Um die Jahrhundertwende waren von den 19 Shaker-Kommunen nur noch drei kleine, überwiegend aus älteren Frauen bestehende Grüppchen übrig. Die Anlagen wurden nach ihrer Auflassung von weltlichen oder kirchlichen Institutionen übernommen und in der Regel in Bildungseinrichtungen umgewandelt. Die Shaker gerieten allmählich in Vergessenheit, und erst in neuerer Zeit entdeckte man ihr eindrucksvolles Erbe wieder. Einem Menschen des 21. Jahrhunderts mag der religiöse Fanatismus der Shaker als abseitig und nicht nachvollziehbar erscheinen. Und dennoch war ihr kreatives und formbewusstes Schaffensprinzip ein erstaunlichen Beitrag zur Moderne: Nur was aus sich selbst heraus zweckmäßig ist, ist auch schön. 1896 brachte es der säkulare dunklen Mänteln und der halsstarrigen Frömmigkeit in ihren feierlichen Gesichtern, erkenne ich die schlimmsten Feinde von Himmel und Erde. Auf den Hochzeiten dieser kargen Welt verwandeln sie Wasser nicht in Wein, sondern in Galle. 43 <?page no="168"?> Hancock 167 Chicagoer Architekt Louis Sullivan lapidar auf den Punkt: „Form follows function.“ 44 Sullivan und in der Folge der berühmte Architekt Frank Lloyd Wright sowie das deutsche Bauhaus unter Walter Gropius erhoben in den 1920er Jahren den Funktionalismus zur ästhetischen Leitidee. In den 1930er Jahren machte Kaare Klint, Architekt und Leiter des Museums für dekorative Kunst in Kopenhagen, den Shaker-Schaukelstuhl zum Mustermodell eines neuen Möbelstils, der in der Folge in Skandinavien prägend wurde. 45 Der große Einfluss, den die Shakerkreationen auf ein modernes Stilverständnis in der materiellen Kultur und Architektur nicht nur in den in den USA, sondern auch in Europa ausübte, wird heute nicht mehr in Frage gestellt. Darüber hinaus gibt es noch einen anderen, möglicherweise nicht weniger wichtigen Gesichtspunkt zum Erbe der Shaker. In ihrem Buch The Roots of American Culture (1942) beurteilt die amerikanische Kulturhistorikerin Constance Rourke die Lebenswelt, die die Shaker schufen, als einen entscheidenden Neuaufbruch in der amerikanischen Kultur insgesamt. Der 200-jährigen kalvinistischen Tradition stellten sie eine neue wagemutige Vision entgegen. Ähnlich wie der säkularisierte Transzendentalismus lehnten sie die Verkrustungen herkömmlicher Autoritäten und Obrigkeiten ab, verwarfen den rückwärtsgewandten puritanischen Determinismus und Pessimismus und realisierten mit erstaunlicher Organisationsfähigkeit ungewöhnliche Formen gemeinschaftlichen Lebens. 46 Ihr sektiererischer Radikalismus, vor allem Zölibat und Besitzlosigkeit, fand in den nachfolgenden Generationen keine Akzeptanz mehr, dennoch gingen von ihrer pragmatischen Lebensgestaltung starke Impulse auch auf nicht-religiöse Lebensbereiche aus. Ihre millenaristische Zukunftsgläubigkeit, ihr Wille zu religiöser und ökonomischer Autonomie, ihr pragmatischer Erfindergeist und das konsequente Streben nach Perfektion wurden zu wichtigen Wesenszügen des amerikanischen Exzeptionalismus. 47 Trotz aller Ambivalenz steckt möglicherweise in vielen Amerikanern noch immer ein Anteil Shakergeist, den sie an einem Ort wie Hancock bestätigt finden. <?page no="169"?> 168 Concord 6. Concord-- ein amerikanisches Weimar Ein kultureller Kraftort entsteht C oncord, Massachusetts, ist eine beschauliche, von Wäldern und Feldern umgebene Kleinstadt mit ca. 18 000 Einwohnern 30 km nordwestlich von Boston. Sie gehört zum Vorortgürtel dieser Metropole und ist heute ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflügler und kulturinteressierte Touristen. 1636 wurde sie von puritanischen Einwanderern nach einem Handelsvertrag (concord) mit den dort lebenden Indianern als erste landwirtschaftliche Siedlung im Landesinneren gegründet. 1 In ganz Amerika berühmt wurde der Ort als Schauplatz der ersten kämpferischen Auseinandersetzung im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Am 19. April 1775 stellten sich 400 Rebellen an der Old North Bridge einer britischen Armeeeinheit entgegen, verwickelten sie in einen kurzen Schusswechsel und zwangen sie zum Rückzug (s.-Kap.-4). Zu kultureller Bedeutung gelangte Concord jedoch erst ein halbes Jahrhundert später, als es in den 1830er Jahren zum Ursprungsort des Transzendentalismus, der amerikanischen Ausformung der Romantik, wurde. Seitdem genießt die Stadt in der amerikanischen Literatur- und Geistesgeschichte einen ähnlichen Ruf wie Weimar in Deutschland. War dieses der Mittelpunkt First Parish Church in Concord <?page no="170"?> Concord 169 der deutschen Klassik mit Goethe als genius loci, so spielte Ralph Waldo Emerson diese Rolle für Concord. Emerson entstammte einer alten Pastorendynastie, die zu den Gründervätern des Ortes gehörte. Sieben seiner Vorfahren waren Pastoren und der Großvater Hauptpfarrer an der First Parish Church. Sein Sohn William begann unter den Fittichen des Vaters ebenfalls eine geistliche Laufbahn, bevor er sich als unitarischer Pastor in Boston niederließ. Dort kam 1803 Ralph Waldo als drittes von insgesamt acht Kindern zur Welt, und auch für ihn schien der Weg seiner Väter vorgezeichnet. Er studierte Theologie am Harvard College, wurde Pastor an der Second Church in Boston und heiratete 1829 Ellen Tucker, die Tochter einer wohlhabenden Bostoner Kaufmannsfamilie. Dann aber warf eine tragische Lebenskrise seine Zukunfts- und Karrierepläne über den Haufen. Nach kurzer, glücklicher Ehe starb seine 19jährige Frau an Tuberkulose und ihr Tod stürzte Emerson in tiefe Verzweiflung. In einer quälenden Phase der Skepsis an der Sinnhaftigkeit seiner Existenz als Geistlicher verlor er den Boden unter den Füßen. 1832 legte er sein Amt nieder und versuchte auf einer mehrmonatigen Europareise in Italien, Frankreich und England Klarheit über sein künftiges Leben zu gewinnen. Eine Art Durchbruchserlebnis erfuhr er beim Besuch des Jardin des Plantes in Paris im Juli 1833. Die nach neuesten wissenschaftlichen Kriterien angeordnete Pflanzenpracht des berühmten botanischen Gartens begeisterte Ralph Waldo Emerson (1846) <?page no="171"?> 170 Concord ihn, und er fasste spontan den Entschluss, sein künftiges Leben dem Studium der Natur zu widmen und ein Dichterphilosoph zu werden. Nicht mehr in der Bibel und in den Regeln und Normen der Religion, sondern in der „Sprache der Natur“ 2 wollte er einen neuen Zugang zu den verborgenen Ordnungsprinzipien des Universums finden. Nach seiner Rückkehr wählte er nicht Boston, sondern das bukolische Concord zum Ort dieses Neubeginns. 1836 ließ er sich in der Stadt nieder und widmete ihr als Zeichen seiner Verbundenheit das Gedicht „Concord Hymn“ (1837) mit der berühmt gewordene Zeile über den „Schuss, der um die ganze Welt gehört wurde.“ 3 Nur wenige Meter von der Brücke entfernt, wo das legendäre erste Scharmützel des Unabhängigkeitskrieges stattfand, steht The Old Manse, der Familiensitz der Emersons, von dessen Obergeschoss der Großvater einst das Kampfgeschehen beobachtet hatte. In dieses Haus kehrte der 33jährige zurück und begann ein intensives Leben als freier Schriftsteller, Denker und Vortragender. In England hatte er die von ihm verehrten romantischen Dichter Samuel Coleridge und William Wordsworth besucht und in Schottland mit dem Historiker und Schriftsteller Thomas Carlyle eine lebenslange Freundschaft begründet. 4 Nach dessen Vorbild begann er, seine Ideen in Essayform niederzulegen und in öffentlichen Vorträgen zu präsentieren. Diese hielt er zunächst im Lyzeum von Concord, einem Vorläufer der amerikanischen „Volkshochschule“, aber bald auch in Boston und auf Vortragsreisen nach New York, Philadelphia, Washington, St. Louis, San Francisco und in viele andere Städte. Die insgesamt über 1500 Vorträge, die Emerson im Lauf seines Lebens hielt, machten ihn überall in den USA bekannt. 5 Unter seinem Einfluss entfaltete sich seine vormals provinzielle Heimatstadt erstaunlich schnell zum herausragenden Entstehungsort der literarischen American Renaissance. 6 1835 vermählte sich Emerson ein zweites Mal. Er heiratete Lydia Jackson, die Tochter eines angesehenen Schiffseigentümers in Plymouth. Mit Lidian, wie er sie nannte, und den vier Kindern, die sie gebar, bewohnte er ein komfortables Haus am Cambridge Turnpike in Concord und machte es zu einem Brennpunkt intellektu- <?page no="172"?> Concord 171 ellen Austausches. Die Gesinnungsgenossen und Freunde, die er dort um sich scharte, bildeten eine lose Gemeinschaft von ehemaligen Studienkollegen, Theologen, Pädagogen, Philosophen und Schriftstellern. Obwohl sie kein klar definiertes gemeinsames Programm hatten, ging von ihren vielfältigen Aktivitäten, Vorträgen, Publikationen und der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift The Dial (1840-1844) eine weit über Concord hinausreichende Wirkung aus. Die Hauptvertreter der Gruppe waren neben Emerson der unitarische Ex-Geistliche George Ripley, der Philosoph und Pädagoge Amos Bronson Alcott, die Reformpädagogin Elizabeth Peabody, die junge Literatin Margaret Fuller und der Naturenthusiast und Schriftsteller Henry David Thoreau. Auch Nathaniel Hawthorne, der mit Elizabeth Peabodys Schwester Sophia verheiratet war und von 1842 bis 1845 in dem von Emerson gemieteten Old Manse wohnte, stand der Gruppe nahe. 7 Das Ralph Waldo Emerson-Haus in Concord <?page no="173"?> 172 Concord Emersons transzendentalistische Philosophie Der wichtigste Nährboden für Emersons Denken und für den amerikanischen Transzendentalismus insgesamt war der Unitarismus. Unter dem Einfluss des aufklärerischen Deismus der Revolutionszeit hatte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts an der Harvard Universität und in den Kirchengemeinden Bostons eine theologische Elite herausgebildet, die sich an dieser vom Rationalismus geprägten Religiosität orientierte. Die liberalen unitarischen Theologen rebellierten gegen den traditionellen, kalvinistisch ausgerichteten Puritanismus und verwarfen die Prädestinationslehre und die Doktrin der angeborenen Verderbtheit des Menschen. Statt der Dreifaltigkeitslehre stellten sie die Verehrung des historischen Menschen Jesus und seiner Lehre in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Die Unitarier sahen in Christentum und menschlicher Vernunft keinen Gegensatz und lehnten jede Form von Dogmatismus ab. Sie setzten sich für eine tolerante Religiosität der Nächstenliebe ein und erklärten die spirituelle Selbstbildung des Menschen zur Hauptaufgabe christlichen Lebens. 8 Die erste unitarische Kirchengemeinde wurde 1782 in Boston gegründet. Weitere Gemeinden folgten und schlossen sich 1825 zur American Unitarian Association zusammen. Der charismatische Geistliche William Ellery Channing gilt heute als der eigentliche Gründervater des Unitarismus. In seiner Schrift „Unitarian Christianity“ (1819) fasste er dessen theologische Grundprinzipien zusammen und in seiner berühmten Predigt „Likeness to God“ (1828) vollzog er einen entscheidenden Brückenschlag zum Transzendentalismus. Nur über die menschliche Vernunft und im Einklang mit der Natur ist der Zugang zu Gott möglich. Nicht in kirchlichen Institutionen, sondern im eigenen Selbst und dessen Verwirklichung im konkreten Leben gibt sich Gott zu erkennen. „Gott ist ein anderes Wort für die menschliche Intelligenz,“ verkündete Channing, „die sich über Irrtum und Unvollkommenheit erhebt und nach der höchsten Wahrheit strebt.“ 9 Dies waren radikale Ansichten, die ihrer Zeit weit voraus waren und an denen sich die Geister schieden. Während konservative <?page no="174"?> Concord 173 Theologen und die hinter ihnen stehende Bevölkerungsmehrheit an der überkommenen Lehre, vor allem an der göttlichen Trinität, festhielten, bewegte sich die liberale Elite in Richtung Pantheismus und Säkularisierung. Diskussionsgruppen und soziale Aktionsgemeinschaften trafen sich an den Lyzeen und in Harvard, Vorträge wurden gehalten und Pamphlete veröffentlicht, um die neuen Ansichten zu verbreiten. Eine der glühendsten Anhängerinnen Channings war seine Assistentin Elizabeth Peabody, deren Verlagsbuchhandlung am Rand des Boston Common Treffpunkt liberaler Theologen, Literaten und Intellektueller war. 1836 regte dort der Harvard-Philosoph und Kenner des deutschen Idealismus Frederic Hedge die Gründung eines Transcendental Club an. Die geistesverwandten Mitglieder dieses Gesprächskreises trafen sich regelmäßig in Boston oder Concord und diskutierten ihre Ideen. Margaret Fuller engagierte sich für philosophische Konversationsstunden für Frauen, während sich Emerson von seiner Vergangenheit als unitarischer Theologe löste und an seiner ersten transzendentalistischen Essaysammlung schrieb. 10 Emersons elektrisierende Rede „The American Scholar“, die er im August 1837 an der Harvard University hielt, gilt in der amerikanischen Geistesgeschichte als „intellektuelle Unabhängigkeitserklärung Amerikas“. 11 Sie fordert die Selbstbefreiung der Amerikaner aus der Bevormundung Europas im Sinne eines radikalen Neubeginns: „Wir haben zu lange auf die höfischen Musen Europas gehört. Die Geisteshaltung der freien Amerikaner droht, furchtsam, epigonal und gezähmt zu werden [...]. Wir müssen auf eigenen Füßen stehen, mit eigenen Händen arbeiten und unsere eigene Meinung vertreten.“ 12 Eine neue Art des amerikanischen Gebildeten, d. h. einer selbständig denkenden und praktisch handelnden Persönlichkeit sollte die muffige Gelehrtenwelt überwinden. Die innerste Motivation dieses Man Thinking sollte nicht aus den Büchern und Kunstwerken des alten Europa kommen, sondern aus den kreativen, mit der Natur in Harmonie stehenden Kräften des Selbst: „Die Welt ist nichts, der Mensch ist alles. In dir selbst wirken die Gesetze der Natur und schlummert die universale Vernunft. Es liegt an dir, alles zu wissen und alles zu wagen.“ 13 Im <?page no="175"?> 174 Concord Jahr darauf hielt Emerson vor den Absolventen der theologischen Fakultät in Harvard eine noch provokantere Rede-- „The Divinity School Address“ (1838). Darin erklärt er die institutionellen Kirchen und Konfessionen für todgeweiht, rät den jungen Theologen, die Abhängigkeit von kirchlichen Vorschriften und Doktrinen zu überwinden und ganz der eigenen spirituellen Intuition zu folgen. Der von den Kommilitonen begeistert aufgenommene Appell löste im konservativen Establishment Harvards heftige Kontroversen aus und machte Emerson lange Zeit zur persona non grata. 14 Emersons Pochen auf kulturelle Eigenständigkeit stand bei genauem Hinsehen in einem merkwürdigen Widerspruch zu seiner starken Abhängigkeit von europäischen Vorbildern. Aus kulturgeschichtlicher Sicht war er alles andere als amerikanisch. So nahm er in sein biographisches Werk Representative Men (1850) zwar Plato, Shakespeare, Montaigne, Napoleon, Swedenborg, Wordsworth und Goethe auf, aber keinen einzigen Amerikaner. Auch sein Denken insgesamt ist von Paradoxien und Widersprüchen geprägt, die aus der unsystematischen und intuitiven Art seines Philosophierens resultieren und durch die offene Form des Essays noch verstärkt wurden. Professionelle Philosophen neigen deshalb dazu, Emerson nicht vorbehaltlos ihrer Zunft zuzurechnen. Aber auch viele Literaten können sich für seine assoziativ ausschweifenden Prosatexte und philosophisch abstrakten Gedichte nicht immer erwärmen. Dennoch begeisterte Emerson seine Zeitgenossen mit der positiven Kraft seiner Gedanken und der lebendigen Art ihrer Vermittlung. Auch in Europa fand er viele Anhänger, etwa in Friedrich Nietzsche, der in ihm einen Geistesverwandten sah. 15 Emersons Essaysammlung Nature (1836; dt. Natur) war der erste große Paukenschlag des Transzendentalismus und ist zu einer amerikanischen Ikone geworden. Emerson übernahm den Begriff „transzendental“ von Kant, jedoch ohne dessen epistemologische Komplexität und Tiefe. In seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) versteht Kant unter „transzendental“ die Frage nach den Bedingungen und Kategorien der Erkenntnis. Diese ist ein Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung und den a priori-Formen der Anschauung, während das „Ding an sich“ für ihn nicht erkennbar <?page no="176"?> Concord 175 ist. In Anlehnung an seinen englischen Dichterkollegen, den Romantiker Samuel T. Coleridge, vereinfacht Emerson Kants Erkenntnistheorie, indem er reason (Vernunft) als intuitiven Zugang zur universellen Wahrheit höher stellt als understanding (Verstand), die bloß rationale Analyse des sinnlich Wahrnehmbaren. Im Gegensatz zu den „mechanistischen“ Naturwissenschaften mit ihrer Betonung von Fakten, Systemen und kausalen Zusammenhängen bemühte sich Emerson um die Erfassung des Weltganzen aus der Intuition. Um zwischen der materiellen Natur und der geistig-spirituellen Welt eine Brücke zu schlagen, entwirft er eine vom Neuplatonismus inspirierte „transzendentalistische“ Mischung aus Philosophie, Theologie und Poesie, in der die Triade Gott, Natur und menschliches Selbst zum Urquell aller Erkenntnis wird. 16 Die folgende Passage über den „durchsichtigen Augapfel“ (transparent eyeball), in dem sich Naturerleben und spirituelle Intuition im wahrnehmenden Individuum vereinen, ist zum Leitmotiv des romantischen Transzendentalismus geworden: Zeitgenössische Karikatur von Emersons „durchsichtigem Augapfel“ In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück. Dort fühle ich, dass mich im Leben nichts treffen kann-- keine Schande, kein Unheil, das die Natur nicht heilen kann. Wenn ich auf dem kahlen Erdboden stehe-- meinen Kopf in die heitere Luft getaucht und in den unendlichen Raum erhoben -, schwindet alle eitle Selbstgefälligkeit. Ich werde zu einem durchsichtigen Augapfel; ich bin nichts; ich sehe alles; die Ströme des universellen Wesens durchwogen mich; ich bin ein Teil oder Splitter Gottes. 17 <?page no="177"?> 176 Concord Emerson beklagt die retrospektive Vorliebe seiner Zeitgenossen für Vorfahren, Grabdenkmäler, Geschichtsbücher, während frühere Generationen „Gott und die Natur von Angesicht zu Angesicht schauten.“ 18 Dieses ursprüngliche Verhältnis zum Universum wiederzugewinnen und das Göttliche im eigenen Selbst und in der Natur neu zu entdecken, ist für ihn die primäre Aufgabe des Menschen: „Wir leben für kurze Zeit im Schoße der Natur, deren Lebensfluten uns umströmen und durchwallen und die uns durch ihre Kräfte einlädt, ihr gemäß zu handeln; warum sollten wir da in den trockenen Knochen der Vergangenheit herumwühlen? “ 19 Jene Zeitgenossen Emersons, die mit der Philosophie des deutschen Idealismus vertraut waren, erkannten in Einsichten dieser Art nichts umwerfend Neues. Kant, Fichte, Schelling, Schleiermacher und Hegel standen Pate für seine Thesen und Goethe verehrte er als das herausragende Vorbild harmonischer Selbstbildung. In Emersons umfangreicher Bibliothek befanden sich darüber hinaus buddhistische Inkarnationslehren, Werke von Plato, Plotin und den Naturmystikern Jakob Böhme und Emanuel Swedenborg. Emerson verschmolz sein umfassendes philosophisches und theologisches Wissen zu einer allgemein verständlichen Synthese und gab diese nach Art eines säkularen Predigers an seine Zuhörer weiter. Der Naturkult, der um die Jahrhundertmitte in den Bildungs- und Kulturzentren an der amerikanischen Ostküste aufkam, wäre ohne Emersons Einfluss kaum vorstellbar gewesen. So stand Thomas Cole, der Begründer der Hudson River School of Painting, unter seinem Einfluss und kämpfte für die Befreiung der amerikanische Malerei von europäischen Vorbildern. In seinem „Essay on American Scenery“ (1836) erhob er die Darstellung der Erhabenheit unberührter Naturwildnis (the sublime) zur zentralen Thematik amerikanischer Kunst. Da es in Amerika die alten Traditionen, antike Tempel, Klöster, Burgen und Schlösser nicht gibt, sei es die Aufgabe der Nation, sich aus ihrer wilden Natur heraus zu regenerieren und sich als Gegenpol zur überzivilisierten dekadenten Kultur Europas zu deklarieren. Coles Schüler Asher Durand und Frederic Church führten diese Anregungen in ihren romantischen Naturbildern weiter. 20 Zur Ikone geworden ist Durands Gemälde <?page no="178"?> Concord 177 „Kindred Sprits“ (1849), das den Menschen-- hier den Maler Cole und den Dichter William Cullen Bryant-- in eine erhabene, übermächtige Natur stellt. Während der Erschließung des amerikanischen Westens nach dem Bürgerkrieg fand die Wildnisbegeisterung mit Landschafts- Asher Durand, „Kindred Spirits“ (1849) <?page no="179"?> 178 Concord malern wie Albert Bierstadt und Thomas Moran ihren absoluten Höhepunkt. Auch John Muir, der Gründervater der Nationalparkbewegung, stand unter Emersons Einfluss. Schon als Student in Wisconsin hatte er sich für dessen Schriften begeistert und widmete sein Leben der Erkundung und Bewahrung der unberührten Naturlandschaften des Westens. Als der 68-jährige Emerson dem jungen Naturenthusiasten 1871 auf einer Kalifornienreise im neu gegründeten Yosemite State Park begegnete, entstand zwischen den beiden Geistesverwandten eine enge Freundschaft. 21 Auf der Grundlage seines transzendentalistischen Denkansatzes trat Emerson leidenschaftlich für die Erneuerung des Menschen durch Selbstbestimmung ein und wurde darüber zum wichtigsten Wegbereiter des amerikanischen Individualismus: „Wer Mensch sein will, muss Nonkonformist sein,“ 22 lautet einer der meist zitierten Sätze aus seinem Essay „Self-Reliance“ („Selbstvertrauen“). Emersons Bestreben war, das „Göttliche“ aus allen dogmatischen und institutionellen Verkrustungen zu befreien und den Zugang zur Erkenntnis ins Innere des Menschen zu legen: „Wir liegen im Schoße großer Intelligenz, die uns zu Empfängern ihrer Wahrheit und zu Organen ihrer Tätigkeit macht.“ 23 Im Essay „The Oversoul“ geht Emerson noch einen Schritt weiter in Richtung Pantheismus und definiert die „Überseele“ als unerschöpfliches universelles Reservoir spiritueller Energien. Da diese jenseits aller Institutionen und gesellschaftlicher Konventionen unmittelbar in die menschliche Seele einströmen, kann selbst der einfachste Mensch Gott ähnlich werden. Emerson machte keinen hierarchischen Unterschied zwischen Oben und Unten, Gebildeten und Ungebildeten, Arbeitern und Dichtern und wurde darüber zu einer Leitfigur des demokratischen Selbstverständnisses der Amerikaner. In Emersons späterem Werk kam es unter dem Eindruck tragischer Lebenserfahrungen-- vor allem der Tod seines fünfjährigen Sohnes Waldo und die als negativ empfundene Gesellschaftsentwicklung in den USA-- zu einer spürbaren Desillusionierung. In Essays wie „Experience“ (1844) und „Fate“ (1850) erkennt er die Realität von Illusion und Schicksal und lässt neben freier Selbstbestimmung und Intuition auch die Erfahrung als Erkenntnisquelle <?page no="180"?> Concord 179 zu. Ein skeptischerer Ton dämpft seinen früheren Optimismus, und auch seine Einstellung gegenüber den politischen und ökonomischen Missständen seiner Zeit wird kritischer und engagierter. 24 Zwar vermied er weiterhin in seinen Schriften jeglichen politischen Aktionismus, aber in Reden und Petitionen wandte er sich entschieden gegen die Sklavenwirtschaft und bekämpfte das Fugitive Slave-Gesetz, das die Rückstellung entlaufener Sklaven an ihre südstaatlichen Besitzer vorschrieb (s. Kap. 4). Er trat mit dem Ex-Sklaven Frederick Douglass in Verbindung, dessen berühmte Autobiographie damals in aller Munde war, und lud sogar den radikalen Abolitionistenführer John Brown nach Concord ein. Die Gefangennahme Browns nach seinem legendären Überfall auf das US-Waffenarsenal von Harper’s Ferry im Jahr 1858 und seine nachfolgende Hinrichtung wegen Hochverrats erfüllten Emerson mit Entsetzen. Browns Exekution, so prophezeite er in einem Nachruf, „wird den Galgen so ruhmreich machen wie das Kreuz.“ 25 Emerson unterstützte die Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten und sah im Bürgerkrieg die einzige Chance, der Sklaverei ein Ende zu setzen. Der realitätsbezogene Idealismus in Emersons Spätwerk hatte wichtige Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der amerikanischen Philosophie in Richtung Pragmatismus, etwa bei Charles S. Peirce und William James. In der amerikanischen Kulturgeschichte jedoch gilt er bis heute vor allem als der große Optimist, Individualist und Naturenthusiast, der in Zeiten politischen und sozialen Umbruchs Menschen geistigen Halt und emotionale Ermutigung gab. Er beflügelte Dichter, Denker und Reformer, trat z. B. mutig für Walt Whitmans radikal demokratische Leaves of Grass (1855) ein, und inspirierte Emily Dickinson, die erste große amerikanische Lyrikerin, die in ihren Gedichten den Transzendentalismus ungemein verinnerlichte (s. Kap. 10). 26 Emerson zählt als Literat und philosophischer Vorkämpfer für eine spezifisch amerikanische Form des Individualismus noch immer zu den großen Geistesgrößen seiner Zeit, sein gesellschaftskritisches und politisches Engagement hingegen ist weitgehend in Vergessenheit geraten. <?page no="181"?> 180 Concord Sozialutopische Experimente Die Mitglieder des Transcentental Club bildeten keine homogene Gruppe und verfolgten unterschiedliche Denkansätze und Interessen. Lediglich in der Ablehnung des Puritanismus und des vorherrschenden Zeitgeistes waren sie sich einig. Im Gegensatz zu vielen europäischen Romantikern zogen sie sich nicht in eine weltabgewandte Innerlichkeit zurück, sondern strebten nach Veränderung der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Sie verurteilten die Sklavenwirtschaft, die Vertreibungspolitik gegenüber den Indianern, den imperialistischen Krieg gegen Mexiko und den ausbeuterischen laissez faire-Kapitalismus. Es war kein Zufall, dass sich der Transzendentalismus zu einer Zeit herausbildete, als sich die USA in einem tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Umbruch befanden. Die Finanzkrise von 1837 versetzte die Nation in Panik, die herkömmliche Landwirtschaft in Neuengland löste sich auf und die Industrielle Revolution mit ihren neuen Technologien breitete sich allerorts aus. Im Umkreis von Boston schossen gigantische Fabrikanlagen aus dem Boden und beschleunigten Landflucht, Urbanisierung und Vermassung (s. Kap. 8). Die Transzendentalisten sahen in diesen Entwicklungen eine fundamentale Bedrohung des demokratischen und freiheitlichen Wertesystems der USA. Sie waren überzeugt, dass der Mensch nur durch die Befreiung von sozialen, ökonomischen und materiellen Zwängen seine Individualität entfalten kann. Dementsprechend strebten sie nach Selbstbestimmung und Naturnähe als Voraussetzung für eine neue Form gesellschaftlichen Zusammenlebens. Am weitesten gingen die proto-marxistischen Ideen von Orestes Brownson, dem radikalsten Tranzendentalisten in Emersons Umkreis. In seiner Schrift The Laboring Classes (1840) forderte er die Abschaffung aller gesellschaftlichen Privilegien, der Banken und des ererbten Privatbesitzes, um der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich und der Ausbeutung durch Arbeit ein Ende zu setzen: „Kein Mensch kann Christ sein,“ verkündete er, „der sich nicht für die Reform der menschlichen Gesellschaft einsetzt, um sie nach Gottes Willen und der Natur des <?page no="182"?> Concord 181 Menschen zu gestalten, so dass alle Menschen dazu befreit werden, sich in Schönheit und Kraft zu entfalten.“ 27 Die Transzendentalisten waren keineswegs nur weltfremde theoretisierende Idealisten. Sie zeigten sich in ihren Aktivitäten als erstaunlich weltoffen, demokratisch und pragmatisch und machten Concord eine Zeitlang zu einem Brennpunkt pädagogischer und sozialutopischer Reformprojekte. 1841 gründete Emersons Onkel George Ripley die transzendentalistisch inspirierte Landkommune Brook Farm. Wie andere frühsozialistische und kommunitäre Gemeinschaften, die sich in diesen Jahren in den USA formierten, strebte Ripley die Befreiung des Menschen von Unwissenheit, Armut und entfremdeter Arbeit an. Seine Vision war die eines einfachen und natürlichen Lebens in basisdemokratischen Produktionsgemeinschaften ohne Privatbesitz und jenseits des üblichen Profit- und Konkurrenzstrebens. Manuelle und geistige Arbeit, individuelle Selbstverwirklichung und das Leben in einer egalitären Gemeinschaft sollten in harmonischen Einklang zueinander gebracht werden. 28 Ripleys Bitte an Emerson, sich an seinem Experiment zu beteiligen, stieß jedoch auf Ablehnung. In einem Brief an Carlyle berichtet er darüber skeptisch: „Wir sind hier alle mit den vielen sozialen Reformprojekten ein wenig wild geworden. Es gibt kaum noch einen gebildeten Menschen, der nicht den Entwurf einer neuen Kommunität in der Westentasche hat.“ 29 Emerson misstraute grundsätzlich allen Institutionen und Kollektiven und hielt wie sein Schüler Thoreau strikt an einer individualistisch orientierten Lebenseinstellung fest. Dies erklärt, warum sich in Concord trotz der gemeinsamen transzendentalistischen Basis letztlich zwei gegensätzliche Gruppierungen herausbildeten. Alle Beteiligten glaubten an die Notwendigkeit, das positive Entwicklungspotential des Menschen zu entfalten. Aber im Gegensatz zu Emerson und Thoreau hielten die Sozialreformer eine vorhergehende tiefgreifende Umgestaltung der gesellschaftlichen, institutionellen und ökonomischen Voraussetzungen für unabdingbar. Agrarisch-pädagogische Kommunen sollten als konzeptuelle Experimentierfelder für die Neugestaltung der Arbeitswelt dienen. Nur wenn Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Armut <?page no="183"?> 182 Concord beseitigt werden, so argumentierten sie, kann sich das Individuum frei entfalten. „Unser aller Herzen schlagen in Sympathie mit den Millionen entrechteter Arbeiter,“ proklamiert die erste Nummer des Brook Farm-Journals The Harbinger. „Jedes Bemühen für ihre rasche Befreiung findet in uns entschlossene und unermüdliche Vorkämpfer.“ 30 Brook Farm war in den ersten Jahren einigermaßen erfolgreich und wuchs bis 1842 auf über 70 Personen an. Jedes Mitglied zahlte 500 Dollar Subskription ein, die mit 5 % verzinst wurden, und verpflichtete sich, eine Arbeitsleistung von 60 Stunden pro Woche zu erbringen. Dafür waren Unterkunft und Verpflegung frei. Vor allem Ripleys Erwachsenenschule, an der Emerson, Alcott, Fuller und andere Transzendentalisten regelmäßig Vorträge hielten, lockte zahlende Studierende an. Dennoch fand Emerson seine Skepsis bestätigt, als sich die Kommune immer mehr den genossenschaftlichen Ideen des französischen Frühsozialisten Charles Fourier annäherte. Der sozialreformerische Journalist Albert Brisbane hatte mit seinem Buch Social Destiny of Man, or Association and Reorganization of Industry (1840) Fouriers Vision einer auf Gemeinwohl ausgerichteten industriellen Gesellschaft in den USA publik gemacht. 31 Auf diesem ideologischen und organisatorischen Hintergrund sollte Brook Farm in eine fourieristische Musterphalanx umgewandelt werden, deren Mitglieder verschiedenen Arbeitsbereichen wie Landwirtschaft, Handwerk, Hauswirtschaft und Bildung zugeordnet waren. Einschlägige Statuten und Organisationspläne wurden beschlossen und ein zentrales Verwaltungszentrum errichtet. Der Plan scheiterte jedoch abrupt im Jahr 1846, als das neue Gebäude einer Brandkatastrophe zum Opfer fiel und das Unternehmen aus finanziellen Gründen aufgegeben werden musste. Desillusioniert verließ Ripley Concord und begann eine Karriere als Journalist und Zeitungsherausgeber in New York. Hawthorne, der sich ein halbes Jahr am Brook Farm-Experiment beteiligt hatte, zog sich schon vorher enttäuscht zurück. Später setzte er in seinem Roman The Blithedale Romance (1852) dem missglückten Unternehmen ein kritisches Denkmal. Heute sind die ehemaligen Gebäude von Brook Farm verschwunden, und nur <?page no="184"?> Concord 183 eine Gedenktafel erinnert an das erste nicht-religiöse kommunale Experiment in Neuengland. Der Staat Massachusetts, in dessen Besitz sich das historische Areal befindet, erwägt seit geraumer Zeit Pläne für eine Gedenkstätte. 32 Brook Farm war nicht das einzige sozialutopische Experiment der Transzendentalisten. 1843 gründete Amos Bronson Alcott im nahen Harvard die Agrarkommune New Eden at Fruitlands. Auch sie folgte dem Prinzip organischer Selbstbildung durch manuelle, intellektuelle und pädagogische Arbeit, jedoch ohne kollektivistische Tendenzen. Die Mitglieder strebten nach autarker Selbstversorgung, ernährten sich vegan, tranken nur Wasser, trugen Kleider aus nicht-tierischen Materialien und lehnten Arbeitstiere ab. Nach nur sieben Monaten scheiterte die Kommune jedoch an ihren hochgesteckten idealistischen Ansprüchen und an Geldmangel. Bronson zog sich zurück und eröffnete in Concord eine eigene School of Philosophy, 33 wo er seine reformpädagogischen Ideen selbstgesteuerten und dialogischen Lernens verwirklichte. Zu Beginn des 20. Jahrhundert kaufte die Bostoner Mäzenin Clara E. Sears das vormalige Fruitlands-Areal auf, renovierte und erweiterte, was vom alten Hausbestand übrig geblieben war, und machte daraus ein bei den Bostonern beliebtes Freilichtmuseum und Ausflugsziel. Margaret Fuller und die Frauenemanzipation Ein relativ wenig beachteter Aspekt ist das Eintreten von Transzendentalisten für die Gleichberechtigung der Frau. Das aktive Mitwirken von Frauen an ihren geistigen und reformerischen Aktivitäten war erstaunlich intensiv und hatte nachhaltige Auswirkungen. So war Emersons Frau Lidian ein aktives Mitglied der Concord Female Anti-Slavery Society und engagierte sich für die Underground Railroad, der Fluchthilfeorganisation für entlaufene Sklaven. Sophia Ripley und Abigail Alcott zeichneten sich durch ihr großes soziales Engagement aus, und Elizabeth Peabody war eine einflussreiche Reformpädagogin und Begründerin des ame- <?page no="185"?> 184 Concord rikanischen Kindergartenwesens. Vor allem aber trat Emersons Mitarbeiterin Margaret Fuller mit ihren feministischen Bestrebungen hervor und gilt heute als eine Vorläuferin der modernen Frauenbewegung. Die hochintelligente, von ihrem Gelehrtenvater exzellent ausgebildete, sprachbegabte und überdurchschnittlich belesene junge Bostonerin kam 1836 über Elizabeth Peabody mit Emerson in Kontakt und erlebte diese Begegnung als entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben. Emersons kompromisslose Aufforderung zu individueller Selbstverwirklichung empfand sie als große existentielle Befreiung. Entgegen den patriarchalen und gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit übertrug sie die transzendentalistische Selbstkultur konsequent auf die Situation der Frau. Emerson war von seiner genialen und selbstbewussten Elevin zutiefst beeindruckt. Er bewunderte ihr lebendiges Temperament, ihren Scharfsinn und ihre Beredsamkeit und vertraute ihr 1840 die Herausgabe der Zeitschrift The Dial an. Eine Entfremdung zwischen den beiden trat erst später ein, als sich ihre Beziehung emotional komplizierte. Emerson bestand auf einer platonischen Geistesfreundschaft, ging auf innere Distanz und frustrierte damit die impulsive junge Frau. 34 Die Spannungen und Enttäuschungen, die Fuller in Emersons Umgebung erfuhr, ließen sie schließlich zur Feministin heranreifen. In ihrem Essay „The Great Lawsuit“ (1843), den sie in The Dial veröffentlichte, brachte sie ihre rebellischen Gedanken erstmals zum Ausdruck und forderte für Frauen ein höheres Maß an gesellschaftlicher und geistiger Unabhängigkeit. In ihrem Buch Woman in the Nineteenth Century (1845) weitete sie diese Ideen zu einem groß angelegten Plädoyer für die Befreiung der Frau aus patriarchaler Bevormundung aus. Trotz der Unstrukturiertheit des Buches und des Übermaßes an literarischen und mythologischen Bezügen gilt es heute als das erste feministische Dokument in der amerikanischen Literatur. Fuller ging es darin weniger um die soziale und politische Gleichberechtigung der Frau als um die Möglichkeiten, spezifisch weibliche Begabungen und Interessen voll zu entfalten. Die Forderung nach Selbstverwirklichung für jeden Menschen, gleich welchen Geschlechts, bildet den Kern ihres emanzipatorischen Anliegens: <?page no="186"?> Concord 185 Männlich und weiblich repräsentieren die zwei Seiten eines großen radikalen Dualismus. In Wirklichkeit aber gehen die beiden Pole ständig ineinander über. Fließendes verfestigt sich und Festes wird fließend. Es gibt keinen vollkommen maskulinen Mann und keine vollkommen feminine Frau. Der Mann nimmt als Apoll am Femininen teil und die Frau als Minerva am Maskulinen. [...] Aber der Mann erkennt diese Doppelseitigkeit nicht, deshalb muss die Frau die Abhängigkeit von ihm überwinden. Sie muss sich auf sich selbst zurückziehen, die Grundlagen ihres Lebens erkunden und ihr innerstes Geheimnis entdecken. 35 Die am Ende unvermeidliche Loslösung von Emerson eröffnete Fuller ein für Frauen dieser Zeit ungewöhnlich eigenständiges Leben. 1844 nahm sie Horace Greeley, der Herausgeber der liberalen New York Tribune, in seinen Redaktionsstab auf und entsandte sie als erste weibliche Auslandskorrespondentin nach Europa. In Florenz geriet sie 1848 in die Wirren des italienischen Risorgimento. Sie begeisterte sich für die republikanischen Ideen Giuseppe Mazzinis, der für die Selbstbestimmung der europäischen Völker und die Vereinigung des zersplitterten Italiens in einer unabhängigen Republik kämpfte. In Rom lernte sie den Marchese Giovanni Ossoli, einen Mitstreiter Mazzinis, kennen, heiratete ihn heimlich trotz des katholischen Mischeheverbots und brachte einen Sohn zur Welt. Als die Revolution fehlschlug und die Lebensbedingungen des Paares in Italien unhaltbar wurden, beschloss sie 1850, samt Mann und Kind in die USA zurückzukehren. Das Schiff scheiterte jedoch vor der Küste New Jerseys in einem Orkan und riss alle drei in den Tod. Emerson entsandte Thoreau an den Ort des Unglücks, um nach Überresten zu suchen. Aber die Leichen wurden nicht gefunden, und auch Fullers Schriften, vor allem ein fertig gestelltes Buchmanuskript Margaret Fuller um 1840 <?page no="187"?> 186 Concord über die italienische Revolution ging für immer verloren. Der Tod der erst 40jährigen progressiven und kosmopolitischen Vordenkerin war in einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs ein ungeheurer Verlust. Emerson verfasste in seiner Nachrede ein ausgewogenes Charakterportrait Fullers und veröffentlichte dieses samt ihren autobiographischen Aufzeichnungen und Briefen in The Memoirs of Margaret Fuller Ossoli (1852). 36 Concord als literarischer Erinnerungsort The Old Manse in unmittelbarer Nachbarschaft der Old North Bridge und Minute Man-Gedenkstätte ist ein guter Ausgangspunkt für eine literarische Erkundung Concords. Das graue Holzhaus wurde 1770 von Reverend William Emerson inmitten von Feldern und hohen Bäumen am Ufer des Concord River erbaut. Nach dem frühen Tod ihres Mannes im Revolutionskrieg heiratete die Witwe The Old Manse <?page no="188"?> Concord 187 seinen Nachfolger an der First Parish Church-- Reverend Ezra Ripley. Von 1834 bis 1836 bewohnte Emerson nach der Niederlegung seines Pastorenamtes in Boston das Haus und verfasste im Wohnsitz der Vorfahren seine ersten bedeutenden Schriften. 1842 mietete Nathaniel Hawthorne nach seinem Ausscheiden aus dem Brook Farm-Experiment mit seiner Frau Sophia Peabody The Old Manse und ließ sich von Thoreau einen Gemüsegarten anlegen. Das jung vermählte Paar verbrachte drei glückliche Jahre in diesem idyllischen Ambiente. An diese Zeit erinnern heute einige eingeritzte Zeilen der beiden in einem Fensterglas des oberen Stockwerks. Mit der Erzählsammlung Mosses from an Old Manse (1846) begann Hawthornes Karriere als Schriftsteller (s. Kap. 3). Danach blieb das Haus bis ins 20. Jahrhundert im Besitz der Emerson- und Ripley-Familien. 1939 übergaben es die Nachkommen einer privaten Stiftung, die es als Museum der Öffentlichkeit zugänglich machte. Auf dem Weg ins Stadtzentrum kommt man am Sleepy Hollow Cemetery vorbei, dem literarischsten Friedhof der USA. Es ist ein eindrucksvoller Ort der Rückbesinnung auf die große kulturgeschichtliche Bedeutung Concords. Viele seiner Geistesgrößen-- Emerson, Thoreau, Hawthorne, Alcott und Elizabeth Peabody-- liegen hier begraben. Neben Emersons massigem Grabmonument aus unbehauenem Rosenquarz und den Grabsteinen seiner beiden Die Gräber Emersons und seiner zwei Frauen Thoreaus Grab <?page no="189"?> 188 Concord Frauen ist Thoreaus winzige, nur mit seinem Vornamen versehene Ruhestätte von rührender Bescheidenheit. Die vielen Blumen, Tannenzapfen, Steine und Briefe jedoch, die Besucher auf sein Grab legen, zeigen die große Verehrung, die der Autor bis heute genießt. Die Mainstreet mit ihren hübschen alten Häusern, Restaurants, Kaffeehäusern und Buchgeschäften hat noch etwas von ihrem alten Flair bewahrt. Die Concord Free Public Library widmet sich der großen Vergangenheit der Stadt und stellt alte Fotos, Dokumente und Manuskripte aus. Am Weiterweg kommt man an der im klassizistischen Stile erbauten First Parish Church vorbei, wo Emersons Vorfahren als Pastoren wirkten. Die Kirche liegt an der Einmündung der Lexington Road in den Cambridge Turnpike in unmittelbarer Nähe zu Emersons Wohnsitz. Das stattliche weiß gestrichene Ralph Waldo Emerson House ist heute ein viel besuchtes Museum, dessen Geräumigkeit und Helle noch immer etwas von der großzügigen Atmosphäre der Emerson-Familie spüren lässt. In der Eingangshalle stehen ein paar der Spazier- und Wanderstöcke, mit denen der Hausherr und seine Besucher von der Obstplantage im Garten zum Walden Pond hinaus wanderten. Die Gespräche mit Freunden und Kollegen fanden in Emersons Studio an der Vorderseite des Hauses statt. Leider wurde der elegant möblierte Raum mit seinem Drehtisch und den bis zur Decke reichenden Bücherregalen 1930 aus Feuerschutzgründen in das gegenüberliegende Concord Museum verlegt. An der Nordseite der Lexington Road liegt am Fuß eines bewaldeten Hügelkammes das aus der Kolonialzeit stammende, später mit Seitenflügeln und Veranden erweiterte stattliche Wohnhaus The Wayside. Nach dem Scheitern der Fruitlands-Kommune erwarb Amos Bronson Alcott mit Emersons finanzieller Unterstützung das Haus, das er Hillside nannte, und bewohnte es sieben Jahre mit seiner Familie. Seine Schriftsteller-Tochter Louisa Alcott schildert in ihrem Roman Little Women (1868) die glücklichen Kindheitsjahre, die sie hier mit ihren drei Schwestern verbrachte. 1857 kaufte der aus Europa zurückgekehrte Hawthorne das Anwesen und gab ihm wegen seiner Lage an der belebten Durchzugs- <?page no="190"?> Concord 189 straße seinen jetzigen Namen. Er ließ einen zentralen dreistöckigen Turm anbauen und richtete im obersten Stock einen vom Familienbetrieb abgeschirmten sky parlor ein. 1965 übernahm der National Park Service das historische Gebäude und gliederte es in den Minute Man National Park ein. Das geschichtstreu und geschmackvoll eingerichtete Haus ist voller Erinnerungen an die Alcotts und Hawthornes, und sachkundige Führer erzählen den Besuchern die einschlägigen Geschichten und Anekdoten. Das benachbarte Orchard House, dessen Namen von einem einstmaligen Obstgarten herrührt, erwarb Alcott im Jahr 1857 und bewohnte es mit seiner Familie 20 Jahre lang. Das Prunkstück des Hauses ist das Studio, wo Louisa Alcott Little Women und andere Werke schrieb. Diese waren so populär, dass sie mehr Geld einbrachten als alle Veröffentlichungen ihrer transzendentalistischen Freunde und Verwandten zusammen. Auf dem daneben liegenden Grundstück errichtete Alcott Hillside Chapel, wo er seine School of Philosophy unterbrachte. Die philosophischen Seminare, die er The Wayside <?page no="191"?> 190 Concord dort in den Sommermonaten hielt, waren überaus beliebt und wurden zu einem Meilenstein in der amerikanischen Erwachsenenbildung. Noch heute dient das alte im neugotischen Stil gestaltete Holzhaus kulturellen Veranstaltungen und Literatur-Workshops. Walden-- die Welt Henry David Thoreaus Zwei Meilen südöstlich von Concord liegt Walden Pond, ein ca. 250 000 Quadratmeter großer stiller See, umgeben von Wäldern. Dies ist der Ort, wohin sich Concords zweiter großer Genius Henry David Thoreau 1845 als Einsiedler zurückzog. Am Nordrand des Sees führt die Fitchburg-Eisenbahnlinie vorbei, die im gleichen Jahr fertiggestellt wurde. Auf einem Grundstück am Seeufer, das Emerson gehörte, errichtete Thoreau eine drei mal fünf Meter kleine Holzhütte (cabin) und lebte darin über zwei Jahre. Die Bretter und Balken stammten vom aufgelassenen Schuppen eines irischen Eisenbahnarbeiters, mit dem er sich angefreundet hatte. Das umliegende Gebiet war wenige Jahre zuvor gerodet worden und weit weniger bewaldet als heute. 37 Thoreau hackte die Baumstümpfe aus dem Boden und verwendete sie als Brennholz. Das übrig gebliebene Waldstück, in dem er die Hütte baute, diente den Bauern als Holzreserve und war umgeben von heute verschwundenen Viehweiden, Äckern und Getreidefeldern. Von einem benachbarten Farmer lieh sich Thoreau ein Pferd aus, pflügte ein Stück Land um und pflanzte darauf Bohnen, Mais, Kartoffeln, Rüben und Tomaten. Neben der Haus- und Gartenarbeit und den täglichen Streifzügen in die umliegende Landschaft machte er seine extensiven Journaleintragungen. Zwischendurch las er eine Menge Natur-, Reise- und Expeditionsbücher sowie die antiken Klassiker und schrieb gleichzeitig an den verschiedenen Fassungen seiner Schriften. Die 26 Monate, die Thoreau in seiner Waldhütte hauste, war die intensivste und kreativste Zeit seines Lebens. Heute ist Walden ein Teil der Walden Pond State Reservation, einem beliebten Naherholungsgebiet der Bostoner. Spazierwege, Badestrände, Lehr- und Naturpfade locken alljährlich an die <?page no="192"?> Concord 191 800 000 Besucher an. Sie kommen zum Schwimmen, Joggen und Bootfahren. Nur ein relativ kleiner Prozentsatz interessiert sich für die kulturelle Vergangenheit des Ortes. Die Thoreau-Fans wandern zu Fuß-- am romantischsten im Spätnachmittagslicht-- den bewaldeten Uferweg entlang zu Thoreau’s Cove, einer kleinen Bucht an der Nordwestseite des Sees, wo einst die Hütte stand. Aus Pietät für den genügsamen und zurückgezogenen Einsiedler haben die Reservationsbetreiber auf eine pompöse Gedenkstätte verzichtet. Außer einer Holzplatte mit einer eingravierten Textpassage, einem Steinhaufen und einer Schautafel gibt es nicht viel zu sehen. Eine Rekonstruktion der cabin und eine lebensgroße Bronzeskulptur Thoreaus wurden am Rand des Parks aufgestellt. Wer mehr über Thoreau erfahren möchte, findet im Concord Museum eine ihm gewidmete Abteilung. Dort steht auch eine noch originalgetreuere Rekonstruktion seiner Holzhütte samt ihrem spartanischen Inventar. Thoreau war Emersons größter Schüler und gleichzeitig sein Vollender und Überwinder. Als Zwanzigjähriger beendete er 1836 sein Studium in Harvard und versuchte sich in seiner Heimatstadt als Hilfslehrer. Aber schon nach kurzer Zeit gab er die Stelle an der Concord Public School aus Empörung über die dort üblichen autoritären Unterrichtsmethoden auf. Mit Begeisterung las er in dieser Zeit Emersons Schriften, und es gelang ihm, die Aufmerksamkeit des um 14 Jahre älteren verehrten Mentors auf sich zu lenken. Emerson nahm den jungen naturbegeisterten Mann als Heimwerker, Hauslehrer und Gärtner in sein Haus auf und zwischen ihnen entwickelte sich eine Freundschaft. Während Emersons langer Abwesenheiten und Reisen vertraute er ihm auf Wunsch seiner Frau die Hausverwaltung an. Neben seinen häuslichen Aktivitäten vertiefte sich Thoreau in das transzendentalistische Gedankengut, machte regen Gebrauch von der Hausbibliothek und veröffentlichte in The Dial seine ersten literarischen Versuche. Auf Anraten Emersons begann er, ein Tagebuch zu führen. Auf einer Flussreise durch Neuengland, die er 1839 mit seinem älteren Bruder John unternahm, schrieb er ein Reisejournal, das ihm später als Grundlage für sein erstes Buch A Week on the Concord and Merrimac <?page no="193"?> 192 Concord Rivers (1847) diente. In diese Zeit fällt auch Thoreaus erste, einzige und unerfüllte Liebe. Die von ihm innig verehrte 17jährige Ellen Sewall wies auf Befehl ihres Vaters seinen Heiratsantrag zurück und Thoreau blieb für den Rest seines Lebens Junggeselle. 38 In Temperament und Lebensweise waren Thoreau und Emerson sehr verschieden. Letzterer war ein kosmopolitischer, philosophisch gebildeter Intellektueller und Schriftsteller, der mit den Geistesgrößen seiner Zeit in Kontakt stand. Thoreau hingegen kam aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war der Nachkomme einer französischen Einwandererfamilie und betrieb etwas außerhalb von Concord eine kleine Bleistiftmanufaktur. Im Gegensatz zum gesellschaftlich arrivierten brillanten Denker und Vortragenden Emerson war Thoreau ein rebellischer Einzelgänger und leidenschaftlicher Debattierer. Abgesehen von kurzen Reisen nach New York, Minnesota und Kanada kam er über Neuengland nie hinaus. Hawthorne beschreibt ihn als einen etwas „ruppigen, aber höflichen Naturmenschen“ 39 und Emerson charakterisiert ihn so: „Er war für keinen Beruf ausgebildet, er hat nie geheiratet, er ging nie zur Kirche und beteiligte sich an keiner Wahl; er weigerte sich, dem Staat Steuern zu zahlen, er aß kein Fleisch, trank keinen Wein, rauchte nicht, und trotz seines Lebens in der Natur benützte er nie ein Gewehr oder eine Falle.“ 40 Seine Mitmenschen beeindruckte Thoreau durch seine ausdrucksvollen hellblauen, zumeist zu Boden gerichteten Augen und seinen energischen Gang. In simpler Wanderkleidung, robusten Stiefeln und mit einem Strohhut am Kopf durchstreifte er stundenlang mit Notizbuch und Fernglas die Gegend. Er war ein hervorragender Schwimmer, Läufer und Ruderer und die Farmer schätzten ihn als Henry David Thoreau (1856) <?page no="194"?> Concord 193 kompetenten Landvermesser. Die meisten Zeitgenossen jedoch wunderten sich über den jungen Harvard-Absolventen, der sich lieber in den Wäldern herumtrieb, als einer geordneten Arbeit nachzugehen. Über die Gründe, warum Thoreau im Alter von 28 Jahren seine bürgerliche Existenz gegen die eines Einsiedlers eintauschte, ist viel geschrieben worden. Fest steht, dass er in eine tiefe Lebenskrise stürzte, als sein geliebter Bruder John völlig unerwartet an einer Tetanus-Infektion starb. Sein Schreiben stagnierte, er hatte kein festes Ziel vor Augen und keinerlei Zukunfts- oder Karriereaussichten. Für eine eigene Behausung in Concord fehlte ihm das Geld, und seinen Eltern, in deren Betrieb er gelegentlich mitarbeitete, wollte er nicht länger zur Last fallen. Vor allem aber hatte er zu dieser Zeit das Bedürfnis, sich von Emersons übermächtigem Einfluss zu befreien und eigene Wege zu gehen. Ursprünglich plante er, an der Brook Farm-Kommune teilzunehmen, aber da er auf seine Unabhängigkeit nicht verzichten wollte, entschied er sich am Ende für eine Art frontier-Leben am Rande der Zivilisation. Als Naturbeobachter, Denker und Poet suchte er eine radikal alternative Existenz abseits aller gesellschaftlichen Bindungen. Walden war für ihn keine Flucht, sondern ein notwendiger Neubeginn in seinem Streben nach Selbstverwirklichung. In der folgenden Passage aus Walden (1854), die heute auf einer großen Holztafel am einstigen Standort seiner Hütte eingraviert ist, begründet er seinen Schritt: Ich zog in den Wald, um bewusst zu leben und den fundamentalen Fakten des Lebens zu begegnen. Herausfinden, ob ich nicht lernen könnte, was es zu lehren hat, so dass ich nicht, wenn es ans Sterben geht, erkennen muss, dass ich nicht gelebt habe. Ich wollte nicht am Leben vorbeileben, noch in unnötige Resignation verfallen. Das Leben ist so kostbar. Ich wollte tief leben, das Mark des Lebens aussaugen, hart und spartanisch, auf dass alles, was nicht Leben ist, ausgemerzt wird. 41 Dennoch war Thoreau keineswegs der radikale Eremit, zu dem ihn spätere Wildnis-Enthusiasten hochstilisierten. Viele seiner Streifzüge unternahm er mit seinem Freund, dem jungen Poeten Ellery <?page no="195"?> 194 Concord Channing, einem Neffen des berühmten unitarischen Pastors. Außerdem besuchte er regelmäßig Verwandte und Freunde in Concord, redete mit Farmern, Anglern und Jägern, denen er begegnete, und freundete sich mit Holzfällern und Bahnarbeitern an. Darüber hinaus war seine Hütte ein beliebtes Ausflugsziel von Nachbarn und Bekannten. Besonders deren Kinder, etwa die aufgeweckte Louisa Alcott, verehrten den kauzigen Naturburschen, erfreuten sich an seinem Flötenspiel, genossen das Herumtollen und Spielen im Wald und die Bootsfahrten auf dem See. Begeistert lauschten sie den spannenden Geschichten, die er ihnen über Pflanzen, Tiere und Naturphänomene erzählte. 42 Thoreau war trotz seiner Abneigung gegenüber Institutionen und Regierung kein gesellschaftlicher Aussteiger, sondern ein Mensch mit starken politischen Überzeugungen. 1859 schrieb er ein leidenschaftliches Plädoyer für den zum Tode verurteilten Abolitionisten John Brown und verhalf entlaufenen Sklaven zur Flucht nach Kanada. Er weigerte sich, für einen Staat Steuern zu zahlen, Holztafel in Walden <?page no="196"?> Concord 195 der die Sklavenwirtschaft zuließ und einen imperialistischen Krieg gegen den Nachbarstaat Mexiko führte. Dafür landete er für eine Nacht im Gefängnis von Concord, worauf er zeitlebens stolz war. In seiner einflussreichen Schrift Resistance to Civil Government, or Civil Disobedience (1849; dt. Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat) formuliert er sein Prinzip des passiven Widerstandes und des gewaltlosen Ungehorsams gegenüber der autoritären Macht des Staates. Der Text diente später Mahatma Ghandi, Martin Luther King, den Anti-Vietnam-Demonstranten und Hippies der 1960er Jahre und anderen Aufmüpfigen in aller Welt als Maxime für ihr politisches Handeln. Lapidare Sätze aus Civil Disobedience wie die folgenden sind bis heute seinen Anhängern vertraut: Thoreaus „Cabin“ in Walden Wohnraum Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert. 43 Kann es denn keine Regierung geben, in der nicht die Mehrheit über richtig und falsch urteilt, sondern das Gewissen (13)? Nicht für eine Sekunde kann ich eine politische Organisation als meine Regierung anerkennen, die zugleich die Regierung von Sklaven ist (17). <?page no="197"?> 196 Concord Unter einer Regierung, die jeden Beliebigen unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis auch für einen rechtschaffenen Menschen der einzig wahre Platz (35). Es wird nie einen wirklich freien und aufgeklärten Staat geben, solange der Staat nicht endlich das Individuum als höhere und unabhängige Macht anerkennt (66). Thoreaus alternatives Naturverständnis Thoreaus politische Thesen und Aktivitäten hatten nachhaltige Auswirkungen, dennoch blieben sie letztlich ein Nebenschauplatz in seinem Denken. Sein Hauptanliegen galt der Beobachtung der Natur. Er betrieb intensive Feldstudien und erwarb im Verlauf der Jahre ein enormes naturwissenschaftliches Wissen. Tag für Tag durchstreifte er beobachtend, messend und botanisierend die Umgebung, sammelte Pflanzenexemplare für sein Herbarium, ruderte in seinem Boot über den See, maß Temperaturen und Wassertiefen, mikroskopierte Kleinorganismen und fertigte Zeichnungen und Beschreibungen an. Er verfolgte die Arbeit der benachbarten Farmer und die ökologischen Veränderungen, die sie herbeiführten. Alle Beobachtungen trug er in Notizhefte ein, die von 1837 bis 1861 zum riesigen, 12 Bände umfassenden Kompendium seines Journal anwuchsen. Da dieses erst 44 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde, blieb es den Zeitgenossen verborgen. Anfangs ergänzte Thoreau seine Eintragungen häufig mit Lesefrüchten, aber die späteren Bände konzentrieren sich fast ausschließlich auf Beobachtungen vor Ort- - Landschaften, Seen, Teiche und Bäche, Pflanzen, Tiere, klimatische Verhältnisse, den jahreszeitlichen Zyklus und andere natürliche Phänomene. Die spontanen Eintragungen ignorieren die übliche Zeichengebung mit Punkt und Komma, lassen keinen roten Faden erkennen und münden in kein abschließendes „Ergebnis“. 44 Jede der zahllosen Beschreibungen steht für sich selbst und konzentriert sich auf die genaue Wiedergabe konkreter Wahrnehmungen-- Farben, Formen, Geräusche, Gerüche, Texturen, Fließbewegungen etc. Tho- <?page no="198"?> Concord 197 reau folgte bewusst dem ästhetischen Prinzip des „unschuldigen Auges“, d. h. der direkten, von menschlichen Projektionen freien Deskription, die der von ihm bewunderte englische Kunstkritiker und Maler John Ruskin in Modern Painters (1843) propagierte. 45 Er schrieb insgesamt 24 Jahre an seinen Journalen, die heute von der literarischen Kritik überwiegend als seine größte Lebensleistung gewertet werden. Die folgende Beschreibung des Auftauens von gefrorenem Lehm und Sand entlang einer Eisenbahnböschung im Vorfrühling kann als Beispiel dienen: Wenige Phänomene geben mir mehr Freude, als im Frühling die Formen des auftauenden Lehms und Sandes zu beobachten, die an den Seiten des Eisenbahneinschnitts, dem ich entlang gehe, herabfließen. Besonders der Lehm bildet eine unendliche Variation von Formen-- die träge und unbewegte Masse aus Sand und Lehm liegt den ganzen Winter auf der schräg abfallenden Oberfläche. Aber wenn die Frühlingssonne das Eis schmilzt, das diese Masse zusammenhält, beginnt sie wie Lava die Böschung herabzufließen. Die kleinen Bäche und Wellen des Lava-Lehms verrinnen und verflechten sich ineinander einer mythologischen Pflanzenwelt vergleichbar [...]. Der fließende Lehm nimmt die Formen von Adern an-- von Tierfüßen und Klauen-- vom menschlichen Gehirn, oder von Lungen oder Eingeweiden-- manchmal ist er bläulich gefärbt und vermischt sich dann mit dem rötlichen Eisensand. Über eine Viertelmeile lang auf beiden Seiten des Einschnitts ist der Lehm in jedem Variationsgrad von Feinheit und Farbnuance mit der satten üppigen Flora bedeckt [...]. Wenn die fließende Masse den Graben am Fuß der Böschung erreicht, breitet sie sich in flachen Strähnen über den Sand aus wie eine Flussmündung- - die verschiedenen Ströme verlieren ihre halbzylindrische Form, werden flacher und breiter und fließen ineinander über, solange sie noch feucht sind, bis sie eine fast flache wundersam schattierte Sanddüne bilden, auf der man noch immer die ursprünglichen Pflanzenmuster wahrnehmen kann. Es scheint, als enthalte diese Böschung das innerste Prinzip aller Vorgänge der Natur [...]. Ich erkenne, dass dieselbe Kraft, die in diesem Lehm wirksam ist, auch mich selbst, mein Gehirn, meine Lungen, meine Eingeweide, meine Finger & Zehen hervorgebracht hat-- ich stehe in der Werkstatt eines Künstlers. 46 <?page no="199"?> 198 Concord In den pflanzenartigen Fließmustern des Lehms erkennt Thoreau die Urform allen organischen Lebens-- von den Adern eines Blattes über das Geäst eines Korallenstocks bis zu den Gehirnwindungen des Menschen. Mit seiner Beobachtung, dass das, was auf den ersten Blick in der Natur chaotisch erscheint, sich zu einer höheren Ordnung formiert, nahm Thoreau mit erstaunlicher Hellsicht die Rückkoppelungs- und Synergieeffekte der modernen Chaostheorie vorweg. 1860 stellte er nach der Lektüre von Darwins Origin of the Species (1859) erstaunt fest, dass er in seinen Beobachtungen Aspekte der Evolutionstheorie, etwa die komplexe Entwicklung von niederen zu höheren Naturwesen, vorausgesehen hatte. 47 Thoreaus Umgang mit Naturphänomen, wie dieses Beispiel und zahllose andere im Journal zeigen, unterschied sich grundlegend von der Naturbetrachtung seiner transzendentalistischen Zeitgenossen. Während Emerson stets anthropozentrische Schlussfolgerungen aus der Natur zog, oder die Maler der Hudson River School ästhetisierende Landschaftskompositionen schufen, dachte Thoreau biozentrisch, d. h. er konzentrierte sich auf die unmittelbare Deskription natürlicher Phänomene. In einer Art Bewusstseinsstrom registriert er das Nahe, Konkrete, scheinbar Unbedeutende und betritt damit Neuland: „Ich weiß nicht,“ so schreibt er, “wo es in irgendeiner Literatur, alt oder modern, eine vergleichbare Darstellung der von mir wahrgenommenen Natur gibt.“ 48 Dennoch plagten ihn auch Zweifel, ob er durch die Konzentration auf das Faktische und Vordergründige nicht das Ganze aus den Augen verlieren würde: „Ich fürchte, dass die Art meines Wissens von Jahr zu Jahr detaillierter und wissenschaftlicher wird [...]. Ich enge mich auf den Ausschnitt des Mikroskops ein, sehe Details, nicht Ganzheiten oder auch nur Schatten des Ganzen.“ 49 Später versuchte er in seinem Hauptwerk Walden; or, Life in the Woods (1854; dt.: Walden oder Leben in den Wäldern) einen Ausgleich zu schaffen, indem er die im Journal gesammelten Beobachtungen und Beschreibungen als Rohmaterial übernahm, redigierte und in größere Zusammenhänge einfügte. Er straffte oder erweiterte Textstellen, unternahm sprachliche Glättungen und gedankliche <?page no="200"?> Concord 199 Umstrukturierungen-- manchmal auf Kosten der ursprünglichen Authentizität und sinnlichen Frische. Im Gegensatz zum chaotisch wirkenden Wildwuchs des Journal ist Walden ein philosophisch und ästhetisch durchkomponiertes Buch. Es komprimiert die 26 Monate, die Thoreau in den Wäldern verbrachte, auf ein Jahr-- den Ablauf der Jahreszeiten vom Sommer über Herbst und Winter zum Frühling, der krönenden Wiedergeburt des Lebens. Die in Gegensatzpaaren angeordneten 18 Kapitel folgen einem durchdachten thematischen Konzept, in dem sich der geistige Kosmos des Buches entfaltet. Insgesamt schrieb Thoreau sieben Jahre an seinem opus magnum, überarbeitete und vertiefte es unermüdlich, bis er 1854 die letzte Fassung veröffentlichte. Im ersten und umfangreichsten Kapitel „Ökonomie“ versucht Thoreau eine Art materielle und wirtschaftliche Grundlegung seines Experiments. In gesellschaftskritischer Manier stellt er die Lebensgewohnheiten, Denkmuster und Wertsysteme seiner Zeit auf den Kopf. Seine Angriffsziele sind das übertriebene Streben nach materiellem Besitz, Luxus und Vergnügen. Der Preis, den der Mensch dafür zahlt, sind entfremdete Arbeit und die Unterwerfung unter das Diktat der Technik und des Strebens nach Gewinn. Technische Erfindungen machen den Menschen nicht glücklich, sondern reduzieren ihn längerfristig „zum Werkzeug seiner Werkzeuge“ (W 48). „Die große Masse der Menschen führt ein Leben voll stiller Verzweiflung. Was man Resignation nennt, ist manifeste Erstausgabe von Walden, or Life in the Woods (1854) <?page no="201"?> 200 Concord Verzweiflung“ (W 20). Dagegen erhebt Thoreau die Forderung nach Einfachheit, Naturnähe und Beschränkung auf das Notwendigste. Nur wenn der Mensch allen unnötigen Ballast über Bord wirft und seine Lebensbedürfnisse-- Nahrung, Wohnen, Kleidung und Wärme-- auf das absolut Unverzichtbare reduziert, ist spirituelle und gesellschaftliche Selbsterneuerung möglich: „Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Lass deine Geschäfte zwei oder drei sein, sage ich dir, und nicht hundert oder tausend“ (W 99). Eindringlich beschreibt Thoreau seine Anspruchslosigkeit: Meine Einrichtung, die ich mir zum Teil selbst machte-- das übrige, worüber ich noch keine Rechenschaft ablegte, kostete mich nichts -, bestand aus einem Bett, einem Tisch, einem Pult, drei Stühlen, einem drei Zoll im Durchmesser großen Spiegel, einer Feuerzange und einem Feuereisen, einem Kessel, einem Tiegel, einer Bratpfanne, einem Schöpfer, einem Wasserzuber, zwei Messern und Gabeln, drei Tellern, einem Becher, einem Löffel, einem Krug für Öl, einem solchen für Sirup und einer lackierten Lampe. Niemand ist so arm, dass er auf einem Kürbis sitzen müsste. (W 73-74). Mit akribischer Genauigkeit erörtert Thoreau die Sparsamkeit, die er bei seinem Hüttenbau walten ließ und listet seine minimalen Kosten bis zum letzten Cent auf. Aber hinter der vordergründig pedantischen Buchhaltung verbirgt sich Thoreaus Schalk. Er spielt den cleveren Geschäftsmann und macht sich insgeheim lustig über die utilitaristische, nur auf materiellen Erfolg ausgerichtete Ökonomie seiner Zeit. Immer wieder konfrontiert er den Leser mit zentralen Sinnfragen: Was ist im Leben wirklich wesentlich? Wie kann sich der Mensch von ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen befreien? Wie kann er zu einem ursprünglichen und erfüllten Leben zurückfinden? Es sind dieselben Probleme, die auch die transzendentalistischen Sozialreformer in Concord bewegten. Aber im Gegensatz zu ihren utopisch-kollektivistischen Reformbemühungen gab es für Thoreau nur individuelle Lösungen. Im zweiten Kapitel „Wo und wofür ich lebte“ beschreibt er in der für ihn typischen lyrischen Bildhaftigkeit das Streben nach spiritueller Erneuerung als intensives Ausloten des Seins in seinen verborgenen Tiefendimensionen: <?page no="202"?> Concord 201 Walden Pond im Abendlicht Die Zeit ist nur ein Fluss, in dem ich fischen will. Ich trinke daraus, aber während ich trinke, sehe ich seinen sandigen Grund und entdecke, wie seicht er ist. Seine schwache Strömung verläuft, aber die Ewigkeit bleibt. Ich möchte in tieferen Zügen trinken, im Himmel fischen, dessen Grund voll Kieselsterne liegt. Ich kann nicht einen zählen. Ich kenne nicht den ersten Buchstaben des Alphabets. (W 105) Die einzelnen Kapitel des Buches umkreisen jeweils ein konkretes Thema: Naturgeräusche, Einsamkeit, Bücherlesen, das Dorf, Besucher, das Bohnenfeld, Tiere, die Teiche, Frühlingsbeginn, wobei Autobiographisches und Philosophisches, poetische Naturschilderungen und allegorische Ausdeutungen einander abwechseln. Lyrische Höhepunkte erreicht Walden vor allem in jenen Abschnitten, in denen Naturerleben und philosophisch vertiefte Aussagen verschmelzen. So wird an einer Stelle der Sonnenaufgang und das morgendliche Bad im See als ein kosmisches Ritual zelebriert, das „das heroische Zeitalter“ zurückbringt-- „die ewig neue Ankündigung der unzerstörbaren Jugendkraft und Fruchtbarkeit der Welt (W 96)“. An einer anderen Stelle erscheint der Walden-See <?page no="203"?> 202 Concord als ein gewaltiges Auge, das den Zugang zum Wesen der Natur und der Seele des Menschen eröffnet: „Er ist das Auge der Erde. Wer hineinblickt, ermisst an ihm die Tiefe seiner eigenen Natur. Die Bäume dicht am Ufer, die sein Wasser saugen und in ihm zerfließen, sind die schlanken Wimpern, die es umsäumen, und die waldigen Hügel und Felsen die Augenbrauen, die es überschatten (W 188).“ Das Kapitel „Spring“ („Frühling“) mündet in eine Art Schöpfungshymnus, der die Ankunft des Frühlings als „Erschaffung des Kosmos aus dem Chaos“ feiert (W 305). Die Schilderung eines Märztages beginnt mit Beobachtungen am See, Messungen von Temperaturen und Wassertiefen, Beschreibungen von bizarren Eisbildungen und dem unheimlichen Dröhnen und Krachen des aufbrechenden Eises und kulminiert schließlich in der aus dem Journal übernommenen, aber jetzt philosophisch und poetisch vertieften Passage über den auftauenden Lehm: Was ist der Mensch anderes als eine Masse auftauenden Tones? Die Fingerspitze ist nur ein gefrorener Tropfen. Die Finger und Zehen fliehen vor der tauenden Masse des Körpers, nach der äußersten Grenze hin. Wer weiß, wie sich der menschliche Körper ausdehnen würde unter einem günstigeren Himmel? Ist nicht die Hand mit ihren Flächen und Adern ein sich ausbreitendes Palmenblatt? (W 299) Die Erde ist kein bloßes Fragment toter Geschichte, Schicht über Schicht gelagert wie die Blätter eines Buches, das hauptsächlich von Geologen und Altertumsforschern studiert werden soll, sondern lebendige Poesie, wie die Blätter eines Baumes, welche den Blüten und Früchten voraneilen-- keine fossile Erde, sondern eine lebendige Erde. (W 300) Die Walden-Erfahrung war für Thoreau, wie er im Schlusskapitel ausführt, eine Art internalisierte Weltreise, vergleichbar den großen Expeditionen seiner Zeit. Die neuen Erdteile, die er erforschen wollte, sind jedoch nicht äußerliche wie etwa bei Lewis und Clark, sondern innere „Kontinente und Meere, in welchen jeder Mensch eine von ihm selbst noch unerforschte Bucht oder Landung ist. Es ist leichter, tausend Meilen weit in einem Regierungsschiff mit fünfhundert Männern und Jünglingen durch Kälte, Stürme <?page no="204"?> Concord 203 und Kannibalen zu segeln, als die eigene See zu erforschen, den Atlantischen oder Stillen Ozean der eigenen Einsamkeit“ (W 312). Thoreau maßt sich am Ende des Buches nicht an, seine Leser über den Sinn des Lebens zu belehren, denn jeder Mensch muss seinem eigenen inneren „Trommler“ (W 316) folgen. Was er jedoch aus seinem Lebensexperiment gelernt hat, ist, dass man nur Erfüllung erlangt, wenn man seinem eigenen Lebenstraum treu bleibt: „Hast du Luftschlösser gebaut, so braucht deine Arbeit nicht verloren zu sein. Eben dort sollten sie sein. Jetzt lege das Fundament darunter! “ (W 314). Am Ende kehrt Thoreau in die Zivilisation zurück, um nicht auf die ausgefahrenen Gleise der Gewohnheit zu geraten und darüber andere wichtige Lebenserfahrungen zu versäumen. Eine zweiwöchige Kanu- und Wanderreise, die er schon im Sommer 1846 in die Urwälder und Gebirge von Maine unternahm, ist eine davon. Bei der Besteigung des Mount Katahdin (indianisch „Ktaadn“), des höchsten Berges dieser Region, kam er erstmals mit einer von weißen Menschen nie zuvor betretenen Wildnis in Berührung, die sich von der pastoralen Natur am Walden Pond grundlegend unterschied. Im Essay „Ktaadn“ (1848), den er später in sein Reisebuch The Maine Woods (1864; dt. Die Wildnis von Maine. Eine Sommerreise) einfügte, schildert er das Geschaute als eine primordiale chaotische Welt, die dem Menschen schroff und abweisend gegenüber steht: „Ich erkannte, dass es eine urzeitliche, ungezähmte, niemals zähmbare Natur war [...], gewaltig, öde, unmenschlich, wild und erschreckend, aber auch schön [...]. Die Gegenwart einer Urmacht war spürbar, die dem Menschen nicht freundlich gesinnt ist, ein Ort heidnischer, abergläubischer Riten für Wesen, die den Felsen und wilden Tieren näher stehen als uns.“ Nicht mehr die romantische Einfühlung in Mutter Natur, sondern die Kontaktaufnahme mit einer völlig andersartigen Realität war hier gefordert: „Felsen, Bäume, der Wind auf unseren Wangen! Die nackte Erde! Die wirkliche Welt! Kontakt! Kontakt! Wer sind wir? Wo sind wir? “ 50 Das Eintreten in eine vorzivilisatorische Natur wird für Thoreau zu einer schockierenden Erfahrung, die Emersons anthropozentrische Weltsicht endgültig hinter sich lässt. Die <?page no="205"?> 204 Concord menschenferne Wildnis sieht er nun als Inbegriff des Erhabenen, wo Gottes ursprünglicher Weltentwurf unverfälscht fortlebt. Die Bewahrung der Wildnis, so erkennt er, ist notwendig für die Regeneration des Menschen aus seinen Ursprüngen und damit die Voraussetzung für den Weiterbestand lebendiger Kultur. In seinem letzten Essay „Walking“ (1862; dt. „Vom Gehen durch die Natur“) macht Thoreau die Wildnis zur Metapher eines virtuellen Westens: „Der Westen, von dem ich spreche, ist nur ein anderes Wort für die Wildnis, und was ich damit sagen möchte, ist, dass in der Wildnis der Schlüssel zur Bewahrung der Welt liegt.“ 51 Mit diesen Gedanken wurde Thoreau zum Begründer der Wildnis-Ethik, die in der ökokritischen Diskussion bis herein in die Gegenwart noch immer eine zentrale Rolle spielt. 52 Auf diesem Hintergrund bekamen nun auch die indianischen Ureinwohner für ihn einen neuen Stellenwert. Eine zweite Reise in Maine, die er 1857 mit einem Kanu unter Führung eines ortskundigen Indianers unternahm, machte ihn neugierig auf die indigene Lebenswelt. Er verschlang ethnographische Bücher, füllte elf umfangreiche Notizbücher mit Exzerpten und Aufzeichnungen und sammelte Material für ein geplantes Buch über die Indianer. Aber dieses kam nicht mehr zur Ausführung, denn im Jahr 1862 starb Thoreau 45-jährig an Tuberkulose. Zu seinen Lebzeiten war Thoreau im Gegensatz zu Emerson in Amerika weitgehend unbekannt. Nach seinem Tod im Mai 1862 veröffentlichte Emerson in Atlantic Monthly ein biographisches Portrait seines Schülers und Freundes. Er preist ihn als brillanten „Naturalisten“ und herausragenden Charakter, verliert jedoch kein Wort über seine Bedeutung als Dichter, Philosoph und Schriftsteller. Stattdessen bedauert er seinen „Mangel an Ehrgeiz“, der ihn in den Augen vieler Zeitgenossen zum bloßen „Anführer einer Beerensucherpartie“ („captain of a huckleberry-party“) erscheinen ließ. 53 Heute hat Thoreau seinen Mentor längst an Einfluss, Wertschätzung und Popularität überholt. Das Vorurteil, Thoreau sei lediglich ein Epigone Emersons gewesen, der dessen philosophische Ideen in die Praxis umsetzte, ist längst ausgeräumt. Während der romantische Idealismus, den Emerson aus Europa in die <?page no="206"?> Concord 205 USA verpflanzte, im Lauf der Jahrzehnte verblasste, hält Thoreaus Ausstrahlung unvermindert an. In den1960er Jahren entdeckte ihn die Gegenkultur als Leitfigur und seine Schriften und Gedanken fanden zahllose neue begeisterte Anhänger. Walden und Civil Disobedience gehören heute zu den meist gelesenen und interpretierten Werken der amerikanischen Literatur. Naturenthusiasten aus aller Welt haben Thoreau zu einem „grünen“ Heiligen erhoben und feiern ihn als Begründer des Wildnis-Mythos, der Naturschutzbewegung und der Ökokritik. Darüber hinaus wurde er zum Vorläufer aller nachfolgenden amerikanischen Naturschriftsteller (nature writers) - von John Muir und Aldo Leopold über Annie Dillard, Edward Abbey und Gary Snyder bis zu Barry Lopez und Jon Krakauer. Alex, der junge Aussteiger in Krakauers non fiction-Roman Into the Wild (1996), sucht in den Urwäldern Alaskas die ultimative Wildniserfahrung und stirbt am Ende in völliger Abgeschiedenheit an einer Pflanzenvergiftung. Unter den Habseligkeiten, die man bei seiner Leiche fand, war auch ein zerlesenes Exemplar von Thoreaus Walden mit folgendem Eintrag: „Ich bin wiedergeboren. Dies ist meine Morgendämmerung. Das wahre Leben hat gerade begonnen. Bewusstes Leben: wache Aufmerksamkeit gegenüber den Grundlagen des Lebens und unaufhörliche Rücksichtnahme gegenüber der natürlichen Umwelt und ihren Bedürfnissen.“ 54 Was blieb vom Transzendentalismus? In Concord stößt man auf das Vermächtnis eines individualistischen, naturbegeisterten und sozialutopischen Amerika, dessen nachhaltige Auswirkungen nicht nur Literatur und Philosophie betreffen, sondern die amerikanische Kultur- und Gesellschaftsentwicklung insgesamt. Die Transzendentalisten waren trotz ihrer idealistischen Grundeinstellung auch engagierte Pragmatiker, die sich dem aufkommenden Industriekapitalismus, Materialismus und Imperialismus vehement entgegenstellten. Sie bekämpften die rassistische Vertreibungspolitik gegenüber den Indianern und <?page no="207"?> 206 Concord anderen ethnischen Minderheiten und bildeten die Speerspitze der Abolitionsbewegung gegen die Sklaverei. Darüber hinaus trugen die Ideen der Geistesgrößen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Neuengland entwickelt wurden, maßgeblich zur Herausbildung eines neuen, bis heute nachwirkenden nationalen Selbstverständnisses bei. Die old values von Freiheit, Demokratie und Individualismus, die schon die amerikanische Revolution verkündet hatte, fanden im Transzendentalismus eine ungeheure Vertiefung und Differenzierung, auf die sich Politiker, Pädagogen oder auch Unternehmer bis heute berufen. Vor allem Ralph Waldo Emerson hat mit seiner Verabsolutierung individueller Selbstbestimmung und der Ablehnung staatlicher und institutioneller Bevormundung die Ideologie des American Dream und des Selfmade Man nachhaltig geprägt. 55 Thoreau, der Emersons Neubewertung der Natur als regenerative Kraft weiterentwickelte, trug in Zeiten rapider Urbanisierung und Umweltzerstörung wesentlich zur Herausbildung der Vision Amerikas als Nature’s Nation bei. 56 Seine Breitenwirkung, etwa auf John Muir, Aldo Leopold und viele andere Umweltaktivisten, bereiteten den Weg für den amerikanischen Umweltschutz und die Nationalparkbewegung. Darüber hinaus begründete Thoreau den Wildnis-Kult, der bis heute nicht nur in Amerika, sondern überall in der Welt begeisterte Anhänger findet. Im Gegensatz dazu fielen die sozialutopischen Ideen der Transzendentalisten auf weniger fruchtbaren Boden. Während sich im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts erste Entwicklungen in Richtung Sozialstaat abzeichneten, fanden derartige Bestrebungen in den USA keinen nachhaltigen Widerhall. Den Gedanken eines transzendentalistisch begründeten Sozialismus mit kommunitären Gemeinschaften und den Verzicht auf Privateigentum empfanden die Zeitgenossen-- wenn man die Shaker als Sonderentwicklung ausnimmt- - als realitätsfremd und unamerikanisch. Er widersprach grundsätzlich dem Fortschrittsglauben und Erfolgsstreben uneingeschränkten Unternehmertums und dessen Herrschaftsanspruch. Die weitgehende Wirkungslosigkeit sozialdemokratischer oder gar kommunistischer Bemühungen wurde deshalb zu einem Charakteristikum des amerikanischen Exzeptionalismus. Bis in <?page no="208"?> Concord 207 die unmittelbare Gegenwart sind jedoch manche der gegensätzlichen politischen Grundströmungen erhalten geblieben, die sich im Umfeld des Transzendentalismus herausgebildet hatten. Die USA sind heute politisch und gesellschaftlich nicht weniger gespalten als damals. Die Tea Party-Bewegung am rechtskonservativen Rand der republikanischen Partei und die sozialstaatlichen Tendenzen der Demokraten stehen sich unversöhnlicher gegenüber als je zuvor. Eine Rückbesinnung auf die pragmatischen, gesellschaftskritischen und ökologischen Ansätze der Transzendentalisten wäre auf diesem Hintergrund möglicherweise nicht ganz so obsolet, wie man gemeinhin annimmt. <?page no="209"?> 208 New Bedford 7. New Bedford und Mystic Seaport-- Herman Melvilles Walkosmos New Bedford: Auf Melvilles Spuren N ew Bedford wurde im 17. Jahrhundert von Plymouth aus an der Südküste von Massachusetts gegründet. Sein hochseetauglicher Hafen an der Mündung des Acushnet River veranlasste 1780 den Quaker William Rotch, sein Walfangunternehmen von der vorgelagerten Walfanginsel Nantucket dorthin zu verlegen. Andere Entrepreneure folgten ihm und ihre Kalkulation ging auf: In wenigen Jahren stellte New Bedford Hafen von New Bedford um 1860 <?page no="210"?> New Bedford 209 Nantucket in den Schatten, monopolisierte den Walfang und stieg bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zur Welthauptstadt der Walfangindustrie auf. Die Hälfte aller Einkünfte in Neuengland kam in dieser Zeit aus dem Walfang und machten die Stadt vorübergehend zu einer der reichsten der USA. Als die Walfanggründe im Atlantik erschöpft waren, stießen die Walfänger ab 1790 über Kap Hoorn in die unendlichen Weiten des Pazifik vor. Jährlich stachen tausende Seeleute auf über 700 Walfangschiffen in See. Die Schiffe kamen nach der zumeist bis zu drei Jahre dauernden Fahrt durch die Weltmeere mit ca. 1500 Fass Öl zurück. Sie gingen im Hafen unterhalb der terrassenförmig angelegten Stadt vor Anker, und auf den Kais türmten sich Berge von Ölfässern. Zusammen mit den Kerzenfabriken und Raffinerien der Umgebung verbreiteten sie einen durchdringenden Geruch von Tran und Schmierstoffen. Die Wal-Industrie mit ihren tausenden Arbeitern verarbeitete den Tran zu Kerzen und Lampenöl und machte New Bedford zur „Stadt, die die Welt mit Licht versorgt.“ 1 Insgesamt wurden im „goldenen Zeitalter des Walfangs“ an die 250 000 Wale erlegt und damit die Spezies fast ausgerottet. Die Entdeckung des Petroleums in Pennsylvania im Jahr 1859 verdrängte schließlich das Walöl vom Markt und setzte dem Walfang-Boom ein Ende. Die aufkommende Industrielle Revolution drang in das Vakuum ein und verwandelte die Stadt in wenigen Jahren in ein Zentrum der Textilindustrie. Der Hafen diente nun hauptsächlich der Einfuhr von Baumwolle aus den Südstaaten, und verlor seinen ursprünglichen Charakter. Fabrikanlagen breiteten sich aus und prägten mit ihren ausgedehnten Backsteinbauten, Schloten und Eisenbahnanlagen das triste Erscheinungsbild der Stadt. Zehntausende Immigranten, vor allem Iren, Franko-Kanadier und Portugiesen, wanderten zu und ließen sich in den ärmlichen Arbeitervierteln nieder. Bis zum Beginn der Depressionszeit konnte sich die Textilproduktion in der Stadt einigermaßen über Wasser halten, dann setzte ihr die billiger produzierende südstaatliche Konkurrenz ein Ende. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen der Fischfang und kleinere Industriebetriebe die aufgelassenen Anlagen und Kais und eröffneten neue Wirtschafts- <?page no="211"?> 210 New Bedford zweige. Aber der alte Status der Stadt als Walfang-Metropole war für immer vorbei. Heute ist New Bedford eine Industriestadt mit knapp 100 000 Einwohnern. Ohne ihre Walfangvergangenheit und ohne den Mythos, den Amerikas großer Schriftsteller Herman Melville mit seinem Roman Moby-Dick (1851) schuf, würde die Stadt kaum Besucher anlocken. Dabei war Melville kein geborener Neuengländer. Er kam 1819 in New York zur Welt, wuchs in New Albany auf und ließ sich 1850 nach mehreren Jahren zur See und als junger Schriftsteller zuerst in New York und dann in Neuengland nieder. Melvilles Vater Allan war ein angesehener New Yorker Geschäftsmann, und seine Mutter Maria Gansevoort die Enkelin eines berühmten Generals im Unabhängigkeitskrieg. Die Familie mit ihren acht Kindern wurde vom Unglück heimgesucht, als in der Wirtschaftskrise der frühen 1830er Jahre die Firma des Vaters bankrott ging und sein Versuch scheiterte, in Albany eine neue Existenz aufzubauen. Der Tod des seelisch gebrochenen Vaters im Jahr 1832 und die finanzielle Notsituation der Familie zwangen den 16jährigen Melville, seine Schulausbildung abzubrechen und als Lehrling in der Pelzfirma des älteren Bruders unterzukommen. Nach einem abgebrochenen Studium an der Albany Academy und dem missglückten Versuch, als Schullehrer Fuß zu fassen, beschloss er 1839, zur See zu gehen. Er verdingte sich als Schiffsjunge auf dem Frachter St. Lawrence für eine Fahrt von New York nach Liverpool und zurück und erlebte seine Initiation in das harte Seemannsleben. Nach seiner Rückkehr und weiteren vergeblichen Versuchen, eine geeignete Arbeit zu finden, musterte er im Januar 1841 in New Bedford als Matrose auf dem Walfangschiff Acushnet an und brach zu einer dreijährigen Fahrt in die Südsee auf. 2 Arbeitslosigkeit und Geldmangel, Abenteuerlust und Fernweh und nicht zuletzt die Lektüre von Richard Henry Danas Reisebericht Two Years Before the Mast (1840) hatten ihn zu diesem entscheidenden Schritt bewogen. Insgesamt verbrachte Melville vier Jahre auf See. Seine Romane Typee, Omoo, Mardi, White Jacket, Redburn und vor allem Moby-Dick basieren auf den Eindrücken <?page no="212"?> New Bedford 211 und Erfahrungen dieser Jahre und fügen sich zu einem großen fiktionalen Kosmos zusammen. Der Umstand, dass sich der 21-jährige Melville vor seinem großen Aufbruch in die Welt einige Tage in New Bedford aufhielt und dort Moby-Dick beginnen lässt, hat die Stadt zu einem Mekka für Melville-Enthusiasten gemacht. Den ersten Anstoß zur Wiederentdeckung der Walfang-Vergangenheit im Zeichen Melvilles gab 1956 John Hustons monumentaler Film Moby-Dick, in dem der beeindruckende Gregory Peck die Hauptrolle des Kapitän Ahab spielt. Unter dem Einfluss dieses Films begannen die Bewohner der Stadt, sich auf ihr kulturhistorisches Erbe zu besinnen und es längerfristig zu vermarkten. Ein effektiver Denkmal- und Ensembleschutz etablierte sich. Die alten Kopfsteinpflaster, Gaslaternen und Kais wurden wieder hergestellt und die übrig gebliebene historische Bausubstanz vor dem Abriss gerettet und restauriert. Heute umfasst der New Bedford Historic District 20 alte Gebäude, darunter das klassizistische Custom House, wo der junge Melville 1840 seine Heuer anmeldete, das Old District Courthouse, das Mariner’s Home, mehrere Banken, eine Kerzenfabrik, ein Glasmuseum und die museale Luxusvilla des einstigen Walfangprofiteurs William Rotch. Die größte Attraktion jedoch ist das 1907 gegründete, später mehrmals erweiterte New Bedford Whaling Museum. Es gehört heute zu den herausragenden kulturellen Sehenswürdigkeiten Neuenglands. An Melvilles persönliche Anwesenheit in New Bedford erinnert vor allem die Seamen’s Bethel Church aus dem Jahr 1832, die Melville als „Whalemen’s Chapel“ in Moby-Dick beschreibt. Während seines neuntägigen Aufenthalts Ende Dezember 1840 hörte er dort den kauzigen Seemannsprediger Enoch Mudge, der ihn zur Figur des Father Mapple und seiner Predigt über die Rettung von Jonas aus dem Walfischbauch im 9. Kapitel des Romans inspirierte. Eine Plakette auf einer der hinteren Kirchenbänke erinnert an Melvilles Besuch. Auch die im Roman beschriebenen schwarz gerahmten, an tragische Walfängerunglücke gemahnenden Marmortafeln hängen noch immer an den Seitenwänden. In der Kirche mischen sich auf kuriose Weise biographisch belegte Realität, Fiktion und Legende. So gab es die spektakuläre Kanzel in Form eines Schiffs- <?page no="213"?> 212 New Bedford bugs, die Melville erwähnt, zu seinen Zeiten noch nicht, denn diese wurde erst in Anlehnung an Hustons Film in den 1950er Jahren eingebaut. Auch der exotisch tätowierte Südseeinsulaner Queequeg, mit dem der Ich-Erzähler Ishmael in einem fiktiven „Spouter Inn“ das Bett teilt, ist ein Phantasieprodukt. Es ist nicht bekannt, wo Melville seine Nächte verbrachte, und auch die Überfahrt nach Nantucket auf einem Schoner fand in Wirklichkeit nie statt. Stattdessen begleitete ihn sein älterer Bruder Gansevoort auf der Suche nach einer geeigneten Heuer als einfacher Matrose. Diese bekam er schließlich auf der Acushnet, die am 3. Januar 1841 vom gegenüberliegenden Fairhaven aus in See stach. In der Figur Queequegs und der spontanen Freundschaft, die sich zwischen Ishmael und ihm entwickelt, machte Melville von seinen Erfahrungen in der Südsee Gebrauch. Seine Schilderung des multikulturellen Treibens in den Straßen New Bedfords im 6. Kapitel fügt sich gut in diesen Hintergrund ein: Seamen´s Bethel Church Schiffskanzel <?page no="214"?> New Bedford 213 In jedem bedeutenden Seehafen wird man auf den Straßen unweit der Kaianlagen häufig die seltsamsten, sonderbarsten Gestalten aus aller fremden Herren Länder zu sehen bekommen. [...] Aber New Bedford übertrifft alle Waterstreets der Welt bei weitem. An den letztgenannten Orten sieht man nur Seeleute, doch in New Bedford stehen echte Menschenfresser schwatzend an Straßenecken, wahre Wilde, von denen manche noch ungetauftes Fleisch auf den Knochen haben. Da steht der Fremde, starrt und staunt. 3 An einem der Abende in New Bedford verirrt sich Ishmael beim Streunen durch die düsteren Gassen eines abgelegenen Viertels in eine „Negerkirche“: „Wohl hundert schwarze Gesichter wandten sich in ihren Reihen um und gafften, und dahinter, auf einer Kanzel, hämmerte ein schwarzer Engel des Jüngsten Gerichts auf ein Buch ein. [...] Der Text des Predigers handelte von dem Dunkel der Finsternis und dem Weinen und Heulen und Zähneklappern dort unten“ (MD 43). Neuere Forschungen haben herausgefunden, dass der „schwarze Engel“ in aller Wahrscheinlichkeit der aus dem Süden geflohene Ex-Sklave Frederick Douglass gewesen sein muss, der sich damals in New Bedford als Hilfsprediger aufhielt. 4 Fünf Jahre später veröffentlichte dieser seinen autobiographischen Bericht A Narrative of the Life of Frederick Douglass (1845), der ihn in ganz Amerika berühmt machte. Als führender schwarzer Abolitionist hielt er unermüdlich aufrüttelnde Reden, in denen er die südstaatliche Sklavenwirtschaft verurteilte und mit einem „schlummernden Vulkan“ verglich (s. Kap. 4). Später übernahm Melville diese Metapher wörtlich in seine Erzählung „Benito Cereno“ (1855), die wie Douglass’s Roman The Heroic Slave (1853) von einer Revolte auf einem Sklavenschiff handelt. Als Ishmael mit Queequeg nach Nantucket übersetze, um auf der Pequod anzuheuern, muss er ein langes Palaver mit den schrulligen Quäker-Schiffseigentümern Peleg und Bildad (MD 136) zu seiner Entlohnung über sich ergehen lassen. Diese Szene und ein eigenes Kapitel über Nantucket gaben Melville Gelegenheit, seinen Lesern diesen Ursprungsort des amerikanischen Walfangs vor Augen zu führen, obwohl er diesen in Wirklichkeit erst 1852 nach der Veröffentlichung von Moby-Dick besuchte. 5 Die Schilderungen, die <?page no="215"?> 214 New Bedford er gängigen Geschichtsbüchern entnahm, berichten, dass in Nantucket schon vor 1700 die indianischen Ureinwohner gestrandete Wale ausschlachteten oder an den Meeresküsten erlegten und damit dem späteren kommerziellen Walfang den Weg bereiteten. „Die Nantucketer,“ schreibt Melville in Moby-Dick, „waren die ersten Vertreter des Menschengeschlechts überhaupt, welche den großen Pottwal mit Harpunen aus zivilisiertem Stahl zur Strecke brachten“ (MD 684). Die 125 Quadratkilometer große, halbkreisförmige Insel mit ihren Mooren, Preiselbeersträuchern und langen Sandstränden liegt vor der Südspitze von Cape Cod und ist mit der Fähre von Hyannis oder Harvich Port aus zu erreichen. Der Ort gehört zu den besterhaltenen historischen Ensembles der USA und steht ganz im Zeichen seiner Walfanggeschichte. Das Ortsbild ist geprägt von den schlichten Häusern der Seeleute und Walfänger. Das alte Quaker Meeting House an der Fair Street erinnert daran, dass viele von ihnen vom Festland vertriebene Quäker waren. Das Gefängnis mit seinem Pranger zeugt von der strengen puritanischen Gerichtsbarkeit, die einst im ruppigen Seemannsort herrschte. An der kopfsteingepflasterten, von Ulmen beschatteten Main Street stehen die stattlichen Häuser der Kapitäne und Kaufleute, die durch den Walfang reich wurden. Sie bzw. ihre Witwen verbrachten hier ihren Lebensabend. Über vielen Hauseingängen der mit Holz verkleideten Backsteinbauten hängen Schiffsmodelle oder Wal-Darstellungen. Das älteste Haus stammt aus dem Jahr 1686 und gehörte dem berühmten Walfänger Peter Coffin. 6 Das Whaling Museum an der Broad Street breitet die Geschichte Nantuckets in allen Details aus. Neben einer Unmenge von Schiffsmodellen, Darstellungen und Gemälden, enthält es Walfanggeräte und Werkzeuge aller Art und eine beachtliche Sammlung von bunt bemalten Galionsfiguren. Eine Spezialität des Museums sind die vielen gravierten oder geschnitzten Pottwalzähne und Walknochen (scrimshaw), die die Seeleute von ihren Seereisen aus aller Welt nach Hause brachten. <?page no="216"?> New Bedford 215 Gallionsfigur Scrimshaw Melvilles Walfangreise in die Südsee Melvilles reale Schiffsreise verlief ganz anders als im Roman. Die Acushnet steuerte zuerst die Pottwalgründe im Umkreis der Kapverdischen Inseln an und im Anschluss daran die Küste Südamerikas. In Rio de Janeiro wurde die Tranausbeute der ersten Monate gelöscht, bevor das Schiff über die Falklandinseln und Kap Hoorn in den Südpazifik einfuhr. Im Juni 1841 ging es im peruanischen Hafen Santa Martha vor Anker und betrieb von dort aus ein Jahr lang am Äquator zwischen den Galapagos- und den Marquesas-Inseln Walfang. Die Fangerträge waren jedoch mäßig und die Stimmung an Bord verschlechterte sich zusehends. Im Juli 1842 desertierte Melville zusammen mit seinem Schiffskameraden Tobias Greene (Toby), als die Acushnet in der Hafenbucht der Marquesas-Insel Nukuhiva vor Anker ging. 7 Nur wenige Wochen zuvor hatte der französische Admiral Dupetit-Thouars die Insel militärisch in Besitz genommen und mit dem Bau eines Forts begonnen. 8 Melville entzog sich dem kolonialen Treiben und der Gefahr einer Festnahme und setzte sich mit Toby in einem mehr- <?page no="217"?> 216 New Bedford tägigen Fußmarsch in das abgelegene, von der Zivilisation unberührte Tal der Taipi ab, die sie freundlich aufnahmen. Die angeblich authentischen Beschreibungen und Beobachtungen dieses Aufenthalts aus der Erzählperspektive des fiktionalen Matrosen Tommo in Melvilles erstem Roman Typee (1846; dt. Taipi: Ein Blick auf polynesisches Leben) sind allerdings mit Vorbehalt aufzunehmen, denn Melville bediente sich bei seiner späteren Abfassung verschiedener ethnologischer Quellen, ohne diese zu erwähnen. Fest steht jedoch, dass die Begegnung mit einer vorzivilisatorischen Kultur, ihren religiösen Bräuchen, Fruchtbarkeitsriten und Handwerkskünsten auf ihn einen tiefen und nachhaltigen Eindruck hinterließ. 9 Die ungezwungene Nacktheit der Menschen und die polygame Freizügigkeit ihres Zusammenlebens in einer üppigen Tropennatur aus Brotfruchtbäumen und Kokospalmen brachten das strenge Weltbild des jungen Puritaners ins Wanken und ließen ihn zu einem entschiedenen Verächter der westlichen Nuku-Hiva 1846 <?page no="218"?> New Bedford 217 Zivilisation werden. Der Kolonialismus, vor allem der zerstörerische Einfluss der christlichen Missionen, wurde zur Zielscheibe seiner Kritik. Unvergesslich für den Rest seines Lebens blieb dem 23-Jährigen die Begegnung mit den Eingeborenenmädchen, die ihn mit Tänzen, Gesängen, Ölsalbungen und köstlichen Früchten verwöhnten. In der Figur Fayaways setzte er ihnen im Roman ein Denkmal. Die freizügigen Darstellungen und die Kritik an den Missionen in der englischen Erstausgabe stießen in kirchlichen Kreisen auf Ablehnung, so dass der amerikanische Verlag in seinem Abdruck etliche Passagen streichen musste. Melvilles Aufenthalt im vermeintlichen irdischen Paradies war jedoch keineswegs so unproblematisch, wie sein exotischer Südseebericht vermuten lässt, sondern wurde von Schuldgefühlen und Angst vor dem angeblichen Kannibalismus der Taipi überschattet. Schon nach vier Wochen-- nicht erst nach vier Monaten wie im Roman-- ergriff er die Flucht. Auf dem australischen Schiff Lucy Ann gelangte er nach Tahiti, wo ihn der britische Konsul wegen Meuterei kurze Zeit inhaftierte. Auf dem amerikanischen Walfänger Charles and Henry erreichte er schließlich Hawaii. In Honolulu verdingte er sich als Matrose auf dem amerikanischen Kriegsschiff United States und kehrte im Oktober 1844 nach Boston zurück. 10 Melvilles Aufstieg zum nationalen Schriftsteller Nach seiner Rückkehr aus der Südsee ließ sich Melville zunächst in Lansingburgh, NewYork, nieder, wohin seine Familie aus finanziellen Einsparungsgründen übersiedelt war. Ermutigt von Verwandten und Freunden versuchte er sich als Schriftsteller und hatte damit Erfolg. Mit seinem Erstlingsroman Typee erregte er großes Aufsehen und wurde „als Mann, der unter den Kannibalen lebte,“ in ganz Amerika berühmt. Anfängliche Zweifel an der Authentizität des Texts wurden durch das Wiederauftauchen seines Gefährten Greene und dessen Augenzeugenbericht ausgeräumt. Der Folgeroman Omoo; A Narrative of Adventure in the South Seas (1847; dt. Omu: Ein Bericht von Abenteuern in der Südsee) stieß ebenfalls auf <?page no="219"?> 218 New Bedford starkes Interesse, so dass Melville aufgrund des Verkaufserfolges erstmals auf eine bürgerliche Existenz hoffen konnte. Er heiratete Elisabeth Shaw, die Tochter von Lemuel Shaw, einem alten Freund und Gönner seines Vaters. Shaw war Chief Justice des Höchstgerichts von Massachusetts und bewohnte mit seiner Familie ein vornehmes Backsteinhaus in der Vernon Street am Beacon Hill in Boston. Die Jungvermählten ließen sich in New York nieder und nahmen Melvilles Mutter und vier unversorgte Schwestern in den neu gegründeten Haushalt auf. Mardi (1848), eine von philosophischen Reflexionen und romantischen Phantasien überfrachtete Fortsetzung von Omoo, erwies sich als finanzieller Misserfolg, so dass Melville zwei schnell geschriebene autobiographische Seeromane folgen ließ. 11 Redburn (1849; dt. Redburn; Erkenntnisse und Erlebnisse eines Schiffsjungen) schildert die Initiationsreise des jungen amerikanischen Seemanns Redburn und seine traumatische Begegnung mit dem Elend der Slums von Liverpool. White Jacket (1850, dt. Weißjacke) basiert auf Melvilles Rückreise aus der Südsee auf einem amerikanischen Kriegsschiff und erregte vor allem durch seine Schilderung der drakonischen Strafen und Auspeitschungen an Bord großes Aufsehen. Melville schätzte später die beiden aus Broterwerbsgründen geschriebenen Werke gering ein, obwohl sie aufschlussreiche persönliche Erfahrungen enthalten und in künstlerischer Sicht wichtige Vorstufen in seiner schriftstellerischen Entwicklung bilden. Herman Melville (1861) <?page no="220"?> New Bedford 219 Um dem großstädtischen Wirbel und der Sommerschwüle New Yorks zu entkommen und sich ganz der Schriftstellerei zu widmen, zog sich Melville 1850 in die Berkshires im Osten von Massachusetts zurück. Das bukolische Hügelland an den südlichen Ausläufern der Green Mountains entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Art Refugium für Künstler, Schriftsteller und Naturliebhaber, deren zum Teil ansehnliche Häuser bis heute viele Besucher anziehen. Mit der finanziellen Unterstützung seines Schwiegervaters erwarb Melville bei Pittsfield ein Farmhaus und bewohnte es insgesamt 12 Jahre. Er nannte es Arrowhead nach den indianischen Pfeilspitzen, die er in der Umgebung fand. Der neue Roman, den er in der ländlichen Abgeschiedenheit in Angriff nahm, sollte ein weiterer autobiographisch-realistischer Seereiseroman werden, diesmal auf der Grundlage der Walfangjahre. Eine wichtige Anregung dazu kam von Owen Chases Bericht The Wreck of the Whaleship Essex (1821), der die Vernichtung eines Schiffes durch den monströsen Pottwal Mocha Dick im Jahr 1819 beschreibt. Melville hatte schon 1841 bei der Begegnung mit einem anderen amerikanischen Walfängerschiff im Pazifik den Sohn des Autors kennengelernt und von ihm die haarsträubende Geschichte gehört. 12 Vom Fenster seines Arbeitszimmers im Dachgeschoss konnte Melville auf die walfischförmigen Konturen des Mount Gaylord blicken und er fühlte sich, wie er in einem Brief an seinen Herausgeber Evert Duyckinck schreibt, in seine Seemannszeit zurückversetzt: Jetzt, da der Boden mit Schnee bedeckt ist, kommt es mir auf dem Lande beinahe so vor wie auf der See. Wenn ich morgens aufstehe, sehe ich aus meinem Fenster wie aus dem Bullauge eines Schiffes im Atlantik. Mein Zimmer gleicht einer Kajüte; und wenn ich des Nachts einmal aufwache und das Kreischen des Windes vernehme, bilde ich mir ein, das Haus stehe unter zuviel Segel, und ich sollte besser aufs Dach steigen und den Schornstein abtakeln. 13 Melville stellte die Rohfassung des Romans bis Herbst 1850 in rastloser Arbeit fertig. Dann aber verstärkten sich seine Zweifel, ob er den Text zur Veröffentlichung freigeben sollte. Nach einigem Hin und Her rang er sich zu einer tiefgreifenden Umarbeitung in Rich- <?page no="221"?> 220 New Bedford tung eines wesentlich ambitiöseren Unterfangens durch. Um sich Klarheit über sein Vorhaben zu schaffen, verschlang er im darauffolgenden Winter Berge von Literatur über Wale und Walfang. Zu den Werken, die er las, gehörten vor allem William Scorebys Account of the Arctic Regions with a History and Description of the Northern Whale Fishery (1820), Frederick Bennets A Whaling Voyage Round the Globe (1840) und John Brownes Etchings of a Whaling Cruise (1846). Darüber hinaus studierte er naturwissenschaftliche Abhandlungen zur Walkunde, vor allem Thomas Beales Natural History of the Sperm Whale (1835). Die Lesefrüchte flossen in zahllosen Erörterungen, Exkursen und akribischen Detailschilderungen in das Manuskript ein und ließen dieses zu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen. 14 Wichtige Anregungen erhielt er auch von den großen Klassikern der Weltliteratur, in die er sich vertiefte-- neben der Bibel, Shakespeares Tragödien, vor allem King Lear, Miltons Paradise Lost, Laurence Sternes Tristram Shandy, Thomas Carlyles Sartor Resartus, Melvilles Arrowhead <?page no="222"?> New Bedford 221 Goethes Faust, Lord Byrons „Childe Harold“, Samuel Coleridges „The Rime of the Ancient Mariner“ und Mary Shelleys Frankenstein. Die wichtigste Erfahrung dieser Zeit war jedoch die Begegnung mit dem älteren Schriftstellerkollegen Nathaniel Hawthorne, der sich zwischen 1850 und 1851 in seinem kleinen Red House Cottage im benachbarten Ort Lenox niedergelassen hatte. Die beiden besuchten sich gegenseitig, unternahmen gemeinsame Ausflüge und wurden enge Freunde. Melville war von der kalvinistisch inspirierten „power of blackness“ 15 in Hawthornes grüblerischen, psychologisch und moralisch tiefschürfenden Werken fasziniert. Unter seinem Einfluss wuchs Moby-Dick zu einer großen mythischen und philosophischen Vision heran. Das vielschichtige Waluniversum, das Melvilles Roman auf 866 Seiten in 135 Kapiteln ausbreitet und sein kühner Vorgriff auf die literarische Moderne überforderten jedoch die zeitgenössischen Leser. Geprägt vom optimistischen Fortschrittsglauben ihrer Zeit fanden sie wenig Zugang zu Melvilles abgründigem Pessimismus, so dass das unverstandene Werk ein finanzieller Misserfolg wurde. „Sein Genius war zu groß,“ kommentiert eine Enkelin sarkastisch, „um damit eine Familie mit vier Kindern ernähren zu können.“ 16 Melville überkamen Zweifel an seiner schriftstellerischen Berufung, und er versuchte sich in den nachfolgenden Gesellschaftsromanen Pierre (1852) und The Confidence Man (1857) sowie in den Piazza Tales, die er für literarische Journale schrieb und 1856 als Sammelband herausgab, dem Zeitgeschmack anzupassen. Aber auch diese Werke blieben ohne durchschlagenden Erfolg. Nach einer Phase schwerer Depression unternahm Melville eine Reise nach Europa und ins Heilige Land und gab nach seiner Rückkehr die Romanschriftstellerei auf. Er übernahm die Position eines Zollinspektors im Hafen von New York und übte diese in den letzten 20 Jahren seines Lebens aus. Auch während dieser Zeit schrieb er an Texten, vor allem Lyrik, ohne jedoch die Gunst der Öffentlichkeit wiederzuerlangen. Erst 33 Jahre nach seinem Tod, mit der posthumen Veröffentlichung der Novelle Billy Budd im Jahr 1924, kam es zu einer Melville- Renaissance. Der desillusionierte Zeitgeist nach dem Ersten Welt- <?page no="223"?> 222 New Bedford krieg entdeckte in seinen Werken jene Qualitäten, für die seine Zeitgenossen wenig empfänglich waren. Mikrokosmos Moby-Dick Im berühmt gewordenen ersten Satz des Romans „Nennt mich Ishmael“ („Call me Ishmael“) stellt sich Melvilles Ich-Erzähler vor. Aber schon ab dem 25. Kapitel geht dieser immer mehr in der Mannschaft auf und seine subjektive Perspektive weicht einer überwiegend auktorialen Erzählweise. Im Gegensatz zu Melvilles realer Walfangreise ist die der Pequod von Anfang an ein imaginäres Unterfangen-- eine ruhelose Sinnsuche (quest) mit unbestimmtem Ausgang. Wale und Walfang und alles, was damit zusammenhängt, bilden den Hintergrund für die rachsüchtige Jagd Kapitän Ahabs auf Moby-Dick. In seinen monomanischen Phantasien wird der Albinowal, der ihm auf einer früheren Walfangreise ein Bein abgebissen hatte, zu einem bösartigen Leviathan. Die Pequod nimmt Kurs auf die Falklandinseln, und von dort nordostwärts an der Südspitze Afrikas vorbei und durch den indischen Ozean in den Südpazifik. Am Ende der monatelangen rastlosen Suche stößt Ahab vor der Westküste Südamerikas auf den verhassten Wal und verliert nach einem erbitterten, drei Tage dauernden Kampf sein Leben. Moby-Dick zieht seinen Widersacher in die Tiefe des Meeres, rammt nach seinem Wiederauftauchen mit ungeheurer Wucht die Pequod und vernichtet sie samt ihrer Mannschaft. Nur Ishmael entkommt in einem schwimmendem Sarg, den Queequeg für ihn gezimmert hatte, und die Rachel, ein Walfangschiff, dem die Pequod schon vorher begegnet war, nimmt ihn auf. Nach seiner Rückkehr nach New Bedford berichtet er der Nachwelt von dem traumatischen Geschehen. Auf der Oberflächenebene ist Moby-Dick ein spannender realistischer Abenteuer- und Seefahrerroman, vollgepackt mit authentischem Erleben. Auf einer tieferen Ebene weitet sich der „cetologische“ Hauptteil (Kapitel 32 bis 105) zu einem enzyklopädischen Kompendium aus, in das alles damalige Wissen über Wale und <?page no="224"?> New Bedford 223 Walfang und seine kulturgeschichtliche Bedeutung eingeflossen ist. Akribische Beschreibungen der verschiedenen Walarten, ihrer Anatomien und Skelette, ihrer Ernährung und Fortpflanzung wechseln ab mit Darstellungen des Walfangs und der Walverarbeitung samt allen Geräten und Praktiken, die dazu nötig waren. Hinzu treten dramatische Schilderungen von Waljagden und eine Reihe von Begegnungen mit anderen Walfangschiffen auf hoher See. Die Erschaffung eines realistischen und zugleich phantastischen Walkosmos ist Melvilles herausragende künstlerische Leistung. Die Mischung von faktisch Wissenschaftlichem und melodramatischer romance, die Einführung verschiedener Textgattungen, Perspektiven und Stilebenen, die Überfülle symbolischer und allegorischer Metaphorik sprengten alle damals üblichen literarischen Konventionen. Biographen, Literatur- und Kulturwissenschaftler, Philosophen und Theologen nahmen sich des vielschichtigen Werks an und interpretierten es in immer neuen Variationen. Die anfänglich stark biographisch orientierte Literaturbetrachtung erforschte zunächst Melvilles Leben und die Quellen und Einflüsse, die auf ihn einwirkten. 17 Kulturhistorisch orientierte Interpreten richteten ihr Augenmerk auf die kulturellen Zeitströmungen, mit denen er sich auseinandersetzte, vor allem auf seinen Konflikt mit dem Transzendentalismus. 18 Im Gegensatz zu Emerson, der Natur, Gott und Mensch zu einer pantheistischen Triade verschmolz und der Existenz des Bösen keinen Raum ließ (s. Kap. 6), entwirft Melville eine zutiefst pessimistische Weltvision. Der weiße Wal wird zur Verkörperung einer dämonischen, dem Menschen feindlich gegenüberstehenden Urmacht, gegen die sich Ahab vergeblich auflehnt. 19 Eine religiöse Variante dieser Interpretationsweise sieht in Moby-Dick ein Abbild des furchterregenden und strafenden kalvinistischen Gottes, unter dessen erbarmungslosem Determinismus Melville in seiner puritanisch überschatteten Jugend gelitten hatte. 20 Eine tiefenpsychologische Annäherung unternahm erstmals D. H. Lawrence in seinen einflussreichen Studies of American Literature (1925). Er deutet den weißen Wal als das kollektive Unbewusste der weißen Zivilisation, „gejagt vom manischen Fanatismus <?page no="225"?> 224 New Bedford unseres weißen mentalen Bewusstseins.“ 21 Freudianische Kritiker schlossen sich diesem Zugang an und deuteten Moby-Dick als Projektionsfigur verdrängter Ängste, Frustrationen und Aggressionen. Sogar Ahabs walbeinerner Stelzfuß musste nun als Kastrationssymbol herhalten. 22 In der Folge wurde Ahabs Aufbäumen gegen Moby-Dick zur archetypischen Grundsituation menschlicher Existenz überhaupt ausgeweitet: Das vom Über-Ich geprägte mentale Bewusstsein (Ahab) verdrängt die dunkle Schatten- und Triebnatur (Moby-Dick) ins Unbewusste (in die Tiefe des Meeres), bis das Verdrängte als destruktive Gewalt wiederkehrt, die Bewusstseinsebene (die Meeresoberfläche) durchstößt und den Menschen, d. h. die Pequod und ihre Mannschaft in den Abgrund reißt. 23 Feministisch orientierte Interpretationsweisen gehen neuerdings in eine ganz andere Richtung, indem sie bis dahin weniger beachtete Kapitel wie „Krill“, „Die große Armada“ und „Schulen und Schulmeister“ stärker in die Betrachtung einbeziehen und damit einen neuen Zugang eröffnen. Der destruktiven Gewalt und Jagdbesessenheit Ahabs stellen sie eine friedliche, in sich ruhend feminine Welt entgegen. Die in einem Walboot auf einen Einsatz wartenden Harpuniere vergessen für kurze Zeit ihr blutiges Geschäft und bestaunen in der klaren Tiefe des Meeres eine vom Menschen unversehrte Natur. Im Zentrum einer kreisenden Walherde beobachten sie ehrfürchtig das Liebesspiel der Wale und das heitere Familienleben der säugenden Walmütter und ihrer Jungen. Queequeg tätschelt die Köpfe der furchtlos auftauchenden Walkälber und Starbuck kratzt ihre Rücken mit seiner Lanze. Als wir indes über Bord hinabblickten, offenbarte sich uns unter dieser wundersamen Welt über Wasser, eine andere und noch absonderlichere: In den tiefen Gewölben der See schwebten, trieben die Körper der säugenden Walmütter und jener Kühe, deren enorme Leibesfülle verriet, dass sie bald Mutter werden würden. Das Wasser der See bis tief hinunter war kristallklar und durchsichtig; es schien als schauten die Jungen dieser Walkühe zu uns hinauf, gerade wie Menschenkinder beim Säugen still und starr etwas anderes betrachten als die Mutterbrust, als führten sie zwei Leben zu einer Zeit und als schwelge ihre Seele noch in überirdischen Erinnerungen, während ihr Leib irdische Nahrung aufnimmt. (MD 604) <?page no="226"?> New Bedford 225 Im maskulinen Kosmos des Romans ist dies die einzige Szene, in denen weibliche Wesen agieren und sich inmitten von „Verwirrung und Entsetzen einem friedlichen Tun“ (MD 206) hingeben. Im Gegensatz dazu umkreist das 95. Kapitel „Der Überzieher“ das riesige Geschlechtsorgan des männlichen Wals samt seiner soutanenartigen Vorhaut und vergleicht es mit uralten Götzenbildern. D. H. Lawrence preist den Abschnitt als „die früheste Darstellung des Phallizismus in der Weltliteratur.“ 24 In kryptischen Andeutungen schließt es an die masturbatorischen Phantasien im Kapitel „Ein Händedruck“ an, wo sich Ishmael beim stundenlangen Kneten der weißen Walrat-Fettmasse in erotischen Träumereien verliert. Die feministische Kulturwissenschaftlerin Camille Paglia interpretiert diese Abschnitte des Romans als „sexuellen Protest gegen Mutter Natur“ 25 in Form einer maskulinen Phantasmagorie: Da Ahabs egomanische patriarchale Gigantomanie feminine Regungen in sich selbst rigoros unterdrückt, bleibt für ihn sado-masochistische Gewalt der einzige Ausweg. Melville, der sich zeitlebens gegen interpretatorische Reduktionen verwehrte, wäre zweifellos auch diesen Auslegungen mit Skepsis begegnet. Der zu keinem Abschluss kommende Entwurfscharakter seines Werkes, seine Vieldeutigkeit und Unauslotbarkeit standen für ihn der Wahrheit näher als dogmatische Festlegungen. 26 In einer Schlüsselszene des Romans bringt er dies zum Ausdruck. Ahab nagelt eine spanische Golddublone an den Hauptmast als Belohnung für denjenigen, der Moby-Dick zuerst sichtet. Ein Mitglied der Mannschaft nach dem anderen betrachtet das kryptische Landschaftsbild auf der Münze und versucht es zu deuten. Für Ahab ist der Vulkanberg ein Abbild seiner Selbstbehauptung, Starbuck interpretiert Berg, Tal und Himmel als Symbol der göttlichen Dreieinigkeit, Queequeg sieht darin magische Naturkräfte und Flask interessiert einzig und allein der Geldwert. Nur der unbedarfte Schiffsjunge Pip bringt die Absurdität der Situation in einem einzigen Satz auf den Punkt: „Ich sehe, du siehst, er sieht, wir sehen, ihr seht, sie sehen“ (MD 672). Soziologisch orientierte Interpretationsweisen richten ihr Augenmerk auf die aus verschiedenen Rassen, Klassen, Geisteshaltungen <?page no="227"?> 226 New Bedford und Temperamenten zusammengewürfelte, hierarchisch gegliederte Schiffsmannschaft. Zusätzlich zu ihrer individuellen Ausgestaltung sehen sie in den 35 Männern an Bord den multikulturellen Kosmos Amerikas und darüber hinaus der Menschheit insgesamt. Die vier farbigen Harpuniere-- der Südseeinsulaner Queequeg, der Indianer Tashtego, der Schwarzafrikaner Daggoo und der Asiate Fedallah-- entstammen verschiedenen Erdteilen. Drei von ihnen unterstehen jeweils einem weißen Maat-- dem rational denkenden und warnenden Starbuck, dem humorvollen und pragmatischen Stubb und dem materialistischen Flask. Nur der dämonische Feueranbeter Fedallah ist als eine Art Mephistopheles Ahab direkt zugeordnet. Dieser herrscht wie der alttestamentarische König, dessen Namen er trägt, in kolonialistischer Despotie über alle andere. Am Rande der Crew steht das beobachtende, ich-erzählende Bewusstsein des unbehausten, immer suchenden und um Verstehen ringenden Outsiders Ishmael. Politische Interpretationen begreifen den Roman als Melvilles düstere Prophetie des Totalitarismus im 20. Jahrhundert. 27 In einer gespenstischen Zeremonie weiht Ahab „in nomine diaboli“ (MD 748) die Wurfspeere der Harpuniere und schmiedet seine Männer-- ähnlich den Fahnen- und Blutweihen des Nationalsozialismus-- zu einer verschworenen Blutsbrüderschaft und Kampfeinheit zusammen. Die Mannschaft unterwirft sich seinem monomanischen Willen und opfert ihre individuelle Vielfalt seinem totalitären Herrschaftsanspruch, der am Ende alle ins Verderben reißt. Ironischerweise bleibt Ahab nur der heidnische Indianer Tashtego bis in den Tod hinein treu. Im letzten Absatz des Romans, während die Pequod- - wie einst der Indianerstamm dieses Namens-- untergeht, klettert er von einem wütenden Raubvogel attackiert in die oberste Mastspitze und hämmert, während die Wellen über ihm zusammenschlagen, die Schiffsfahne an die Bramstange: „Dann brach alles ein, und das große Leichentuch des Meeres wogte weiter wie vor fünf Jahrtausenden“ (MD 864). Den absoluten Gegenpol zu Ahabs Hybris bildet der kleine schwarze Schiffsjunge Pip am untersten Ende der Menschheitsskala. Während einer Waljagd fällt er ins Meer, verliert darüber den Verstand <?page no="228"?> New Bedford 227 und schaut den am „Webstuhl“ (MD 645) des Universums wirkenden Gott. Ahab verehrt den verrückten Jungen als einen „Heiligen“ (MD 792) und-- unbewusst-- als Projektion seiner eigenen verlorengegangenen Menschlichkeit. In seiner polyphonen Stimmenvielfalt zieht der Roman alle Register textlicher Gestaltung: expositorische Exkurse, biblische Exegesen, Ahabs deklamatorische Tiraden, Ishmaels grüblerische Kontemplationen, Starbucks rationale und moralische Bedenken, thematisch verknüpfte Kapitelgruppen oder auch in Szenen und Monologe gegliederte dramatische Akte nach dem Vorbild Shakespeares. Alle menschlichen Konstellationen und Tätigkeiten an Bord und die Begegnungen mit anderen Walfangschiffen nehmen allegorische Bedeutungen an. Diese sind fließend, kommen nie an ein Ende und verdichten sich im Verlauf des Romans zu einem eng vernetzten, expandierenden Bedeutungskosmos. 28 Diese Erzählstruktur zeigt sich am deutlichsten an der komplexen und widersprüchlichen Hauptfigur Moby-Dick selbst. Seine weiße Farbe suggeriert eine unheimliche Bedrohung, ein undurchschaubares Numinosum oder auch das absolut Böse. „Ist es so,“ grübelt Ishmael, „dass das Weiß seinem Wesen nach nicht so sehr eine Farbe ist als vielmehr die sichtbare Abwesenheit von Farbe und zugleich die Summe aller Farben. [...] eine farblose Allfarbe der Gottlosigkeit, vor der wir zurückschrecken“ (MD 322). Ahab projiziert in den weißen Wal „alles, was uns am stärksten quält und Der weiße Wal <?page no="229"?> 228 New Bedford in den Wahnsinn treibt, alles, was im Bodensatz des Lebens rührt, alle Wahrheit, die Arglist einschließt [...], all das kaum merklich Dämonische am Leben und Denken; alles Böse“ (MD 304-305). An anderer Stelle erscheint der weiße Wal als eine undurchdringliche Mauer, eine „Pappenmaske“ (273), hinter der sich die Abgründigkeit des Nichts verbirgt. Der Mensch muss diese Mauer durchstoßen, um zur befreienden Wahrheit zu gelangen: „Wie kann der Häftling denn ins Freie, wenn er die Mauer nicht durchbricht? “ fragt Ishmael. „Für mich ist dieser weiße Wal die Mauer, dicht vor mich hingestellt. Dahinter, denk ich manchmal, ist nichts mehr. [...] Dies unfassbare Ding ist es vor allem, was ich hasse“ (MD 273). Der Roman ist kein schlüssiges, bis ins letzte Detail durchkonstruiertes Werk, sondern ein wuchernder kosmologischer Entwurf von überbordender Wort- und Bildphantasie. 29 Die neuen deutschen Übersetzungen von Matthias Jendis und Friedhelm Rathjen werden mit ihrer Sprachvirtuosität diesem Anspruch gerecht und machen Melvilles opus magnum für ein deutschsprachiges Lesepublikum erstmals adäquat nachvollziehbar. Moby-Dick und das New Bedford Whaling Museum Trotz des philosophischen Überbaus und der Fülle an Interpretationsmöglichkeiten bleibt die konkrete und detailgetreue Ausbreitung des vielschichtigen Walkosmos in Moby-Dick Melvilles einzigartiger Beitrag zur Weltliteratur. Eine kongeniale Ergänzung dazu bietet das New Bedford Whaling Museum. Mit seiner Masse einschlägiger Ausstellungsgegenstände ermöglicht es Melville-Fans, die Vielfalt der fiktionalen Darstellungen im Roman und ihre Ausdeutungen anschaulich nachzuvollziehen. Dioramen, Fotodokumentationen, Filme und Kunstwerke sowie tausende Exponate informieren über das Leben der Wale, ihre Verbreitung in den Weltmeeren, ihre verschiedenen Arten, ihre Ernährung, ihr Geschlechts- und Familienleben und ihre geheimnisvolle Herdenbildung. Darüber hinaus sind die Ausstellungssäle vollgefüllt mit Objekten und Darstellungen zum Walfang: die 30 m lange Rekon- <?page no="230"?> New Bedford 229 struktion des Walfangschiffes Lagoda in einer riesigen kathedralenartigen Halle, viele andere Schiffsmodelle, Galionsfiguren, nautische Geräte, Logbücher sowie die zahllose Geräte und Vorrichtungen für die Jagd und Erlegung der Wale, die Gewinnung des Walöls und seine industrielle Weiterverarbeitung. Eine Gemäldesammlung mit zumeist dramatischen Darstellungen von Waljagden-- oft im Zusammenhang mit Melville-- sowie künstlerische Walbeinschnitzereien und -gravuren (scrimshaw) ergänzen das Angebot. Schon in der hohen Eingangshalle aus Stahlbeton und Glas wird der Besucher vom monumentalen, diagonal in den Raum gehängten Skelett eines Pottwals in den Bann gezogen. Es ist das wichtigste Schauobjekt des Museums und bietet überreiches Anschauungsmaterial zu den einschlägigen Walbeschreibungen bei Melville: der klobige, rammbockartige Schädel, der riesige Unterkiefer mit seinen spitzen Zahnreihen, das schiffsrumpfartige Knochengerüst, die meterdicken Wirbelknochen, das kielartige Rückgrat Am Museumseingang <?page no="231"?> 230 New Bedford und die mächtige Schwanzflosse. Die Länge des ausgewachsenen Wals, die sich aus dem Gerippe errechnen lässt, ist 30 Meter und sein Gewicht 40 bis 60 Tonnen. Die „Gigantenschlingen seiner Eingeweide“, so mutmaßt der Ich-Erzähler, liegen in seinem Inneren „wie Kabel und Trossen im Unterdeck eines Linienschiffes“ (MD 701) und er ergänzt seine hypertrophe Beschreibung mit Selbstironie: „Wie steht es nun aber mit mir, der ich über diesen Leviathan schreibe? Unwillkürlich expandiert meine Chirographie, und ich schreibe nur noch in plakativen Großbuchstaben. Gebt mir eine Kondorfeder! Den Krater des Vesuvs als Tintenfass! [...] Wollt ihr ein großes Buch schreiben, müsst ihr ein großes Thema wählen. Nie wird jemand etwas Großes und Dauerhaftes über den Floh schreiben“ (MD 702). Jedem einzelnen Wal-Körperteil widmet der Roman ein Kapitel oder gleich mehrere. Die Beschreibung des Walkopfes allein mit all seinen allegorischen Ausdeutungen erstreckt sich über sechs Kapitel (Kap. 74-80) und evoziert den Eindruck eines unauslot- Skelett des Pottwals <?page no="232"?> New Bedford 231 baren, Ehrfurcht gebietenden, aber auch bedrohlichen Numinosums: Beim großen Pottwal ist die hohe und hehre, gottgleiche Würde, welche dieser Stirn innewohnt, ins Unermessliche gesteigert, so dass ihr sie von vorne nicht betrachten könnt, ohne die Gottheit und alle furchtbaren Mächte stärker zu spüren als beim Anblick irgendeines anderen Geschöpfes in der beseelten Natur. Ihr seht nämlich nicht einen Punkt genau-- nicht ein bestimmter Zug offenbart sich Euch-- nicht Nase, nicht Augen, Ohren oder Mund-- nicht das Gesicht (er hat kein richtiges Gesicht), nur dieses eine weite Firmament einer Stirn, von Rätseln verrunzelt, die stumm den Booten, Schiffen, Männern den Untergang androht. (MD 544) Im Inneren des Kopfes liegt nahe dem Gehirn eine tiefe tonnenartige Nebenhöhle, die den hochwertigen Walrat speichert. Diese fettartige Masse war wegen ihres Duftstoffes ein besonders ertragreiches Nebenprodukt. Es wurde sorgfältig ausgeschöpft und diente der Erzeugung von Aromakerzen, Salben und Kosmetika. Im 78. Kapitel fällt Tashtego bei der Bergung des kostbaren Stoffes in die Höhlung und wird von Queequeg im letzten Augenblick herausgezogen. Melville kommentiert den Zwischenfall mit einem satirischen Seitenhieb auf den Platonismus der Transzendentalisten: Wäre nun Tashtego in diesem Haupte zu Tode gekommen, wär’s wahrlich ein erlesener Tod gewesen: erstickt im weißesten und feinsten, wohlriechenden Walrat; eingesargt, aufgebahrt und bestattet in der Geheimkammer tief im Wale, in seinem Sanctum Sanctorum. [....] Wie viele, was meint ihr, sind wohl auf gleiche Weise in Platos Honighaupt gefallen und haben so den süßen Tod gefunden? (MD 541) Das Blasloch (spout), das dem Pottwal ermöglicht, bis zu 90 Minuten in eine Wassertiefe von 1000 Meter abzutauchen, ist als erstaunlichste Eigentümlichkeit des Meeressäugetieres in Roman und Museum allgegenwärtig. Ishmaels Beschreibung überrascht durch ihre fast lyrisch anmutende Intensität, die den Wasserdampf, der aus dem „Spaut“ in die Höhe spritzt, mit den aus dem Unbewussten aufsteigenden Fantasien, Gefühlen und Gedanken des Menschen vergleicht: <?page no="233"?> 232 New Bedford Wie hebt sich doch unser Bild von dem gewaltigen dunstverhüllten Ungeheuer ins edel Erhabene, wenn wir ihn erblicken, wie er feierlich seine Bahn durch eine ruhige tropische See zieht, und sich über seinem mächtigen, mildumflorten Haupte ein Baldachin aus Dampf wölbt, erzeugt von seinen Grübeleien, die er mit niemand teilen kann. [...] Und durch den dichten Dunst der dumpfen Zweifel meiner Seele schießt hin und wieder eine Gottesahnung-- ein Himmelstrahl entfacht dann meinen Nebel. (MD 585) Fasziniert ist Ishmael auch von der geschwungenen, bis zu sieben Meter breiten, zweiflügeligen Schwanzflosse, dem „einzigen Antriebsmittel“ (MD 588) des Pottwals. In einer eindrucksvollen Passage beobachtet er vom Masttopp aus, wie eine in den Sonnenuntergang hineinschwimmende Walherde die Schwanzflossen unisono als „großartige, leibhaftige Gottesanbetung“ (MD 590) über die Wasseroberfläche emporhebt. Im Augenblick der Gefahr jedoch ergreift der Wal mit Hilfe der Riesenflosse die Flucht oder zerschmettert in höchster Bedrängnis ein Fangboot samt seiner Besatzung. Ahab findet in seinem Endkampf mit Moby-Dick den Tod, als sich nach dem Harpunenwurf die Fangleine um seinen Hals schlingt und ihn in die Tiefe zieht: Er warf die Harpune, der getroffene Wal stürmte los, die Leine lief rasend und sengend schnell durch das Rundsel-- kam unklar. Ahab bückte sich, er klarierte sie, doch die Leinenbucht schlang sich um seinen Hals, und eh sich’s die Mannschaft versah, ward er aus dem Boot gerissen, lautlos, wie wenn stumm Türken ihr Opfer erdrosseln. Dann flog der schwere Augspleiß am Ende der Leine aus der leeren Balje, schlug einen Mann zu Boden, klatschte auf das Wasser und verschwand in der Tiefe. (MD 863) Im Kapitel „Die Leine“ erhebt der von Angstvisionen geplagte Ishmael die tödliche Gefahr der sich rasend schnell abspulenden Walleine, mit der der fliehende Wal seine Jäger in die Meerestiefe hinabreißt, zum Symbol menschlicher Existenz schlechthin: „Alle Menschen sind in Walleinen verstrickt. Alle werden sie mit dem Strick um den Hals geboren, doch erst, wenn sie in der jähen Todesschlinge stecken, sind sich die Sterblichen der stil- <?page no="234"?> New Bedford 233 len, tückischen allgegenwärtigen Gefahren des Lebens bewusst“ (MD 451). Melville in Mystic Seaport Mit seinem Hafenambiente aus Wasserflächen, Kais, Molen, Docks, Werkgebäuden und über 200 Schiffen und Booten macht das Freilichtmuseum von Mystic Seaport in Mystic, Rhode Island, die maritime Vergangenheit der Region nacherlebbar. Der romantisch klingende Name hat übrigens nichts mit Mystik zu tun, sondern geht auf den ursprünglich indianischen Namen des Flusses zurück, der dort ins Meer mündet. Wegen des relativ kleinräumigen Binnengewässers, an dem der Ort liegt, war sein Hafen unbedeutend und diente seit dem 17. Jahrhundert in erster Linie dem Schiffsbau. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Werften aufgelassen wurden, übernahm die Marine Historical Association das Gelände und errichtete 1929 eine große Freilicht-Museumsanlage. Entlang der Waterfront liegen an die 60 Gebäude, die die Tätigkeiten der Schiffsbaugemeinde in der Vergangenheit zu neuem Leben erwecken. Zu besichtigen sind u. a. ein Leuchtturm, mehrere intakt gebliebene Werfthallen, Geschäfte, Amtstuben, eine Schule, eine kleine Kirche, eine Taverne und etliche Werkstätten. In letzteren kann man Seilern, Schiffszimmerleuten, Segel- und Instrumentenmachern bei der Arbeit zusehen. 30 Den Rand des Hafengeländes säumt ein Ensemble von viktorianischen Häusern. Eines davon beherbergt eine permanente Ausstellung, die den maritimen Mikrokosmos Neuenglands darstellt und in living history-Vorführungen lebendig macht. In einem rekonstruierten alten Leseraum für Seeleute schlüpfen Schauspieler in historische Rollen und vermitteln aufschlussreiche Einblicke in die politische und gesellschaftliche Situation um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Den größten musealen Schatz von Mystic Seaport bilden jedoch die vielen an den Kais vertäuten historischen Schiffe. Eines von ihnen, der geschichtsgetreue Nachbau des spanischen Zweimas- <?page no="235"?> 234 New Bedford ters La Amistad aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das dem Museum als Leihgabe zur Verfügung steht, hat einen wenig bekannten indirekten Bezug zu Melville. An Bord des Schiffes, das 1839 53 Sklaven illegal an einen Ort in Kuba transportierte, spielte sich eine spektakuläre Sklavenrevolte ab. Den Sklaven gelang es, die Ketten abzuwerfen, den Kapitän und zwei Seeleute zu töten und das Schiff unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach mehrwöchiger Irrfahrt vor der Küste Neuenglands brachte es die US-Kriegsmarine auf und überwältigte die aufständischen Schwarzen. Sie wurden ins Gefängnis geworfen, wegen Meuterei in Hartford vor Gericht gestellt und verurteilt, am Ende jedoch vom Obersten Gerichtshof in Washington frei gesprochen. 31 Steven Spielberg hat die Geschichte, die in den damaligen USA ungeheuren Staub aufwirbelte, in seinem Film Amistad (1997) auf packende Weise gestaltet. Auch Melville schildert in seiner Erzählung „Benito Cereno“ (1855) einen blutigen Sklavenaufstand auf einem spanischen Schiff. Vor der Küste Südamerikas töten 300 rebellierende Sklaven unter ihrem Anführer Babo den Schiffseigner und einen Teil der Besatzung und nehmen den Kapitän Benito Cereno als Geisel. Beim Einlaufen in einen chilenischen Hafen kommt es zur Begegnung mit einem amerikanischen Walfänger, dessen naiver Kapitän Amaso Delano dem Schiff zu Hilfe kommt, aber Barbos perfekt inszenierte Täuschungsmanöver nicht durchschaut. Im Gegensatz zur Amistad endet die Geschichte tragisch. Als Delano nach langem Herumrätseln den wahren Sachverhalt erkennt, entlarvt er sich als verkappter Rassist, entert das spanische Schiff, kämpft mit seinen Matrosen die aufständischen Sklaven nieder und liefert sie dem Gericht in Lima aus. Dieses spricht die Aufständischen schuldig und Babo wird hingerichtet. Mit seiner perspektivisch verschlüsselten Erzählung wollte Melville der moralischen Gleichgültigkeit seiner zeitgenössischen amerikanischen Leser einen Spiegel vorhalten 32 und vor dem „schlummernden Vulkan“ 33 der südstaatlichen Sklaverei warnen. Leider erfahren die Besucher der Amistad in Mystic Seaport von diesen Zusammenhängen nichts, denn Melvilles Erzählung erwähnen die Guides mit keinem Wort. <?page no="236"?> New Bedford 235 Umso mehr steht Moby-Dick bei einer Besichtigung der unweit vor Anker liegenden Charles W. Morgan im Mittelpunkt des Interesses. Im Gegensatz zum Modell der Lagoda im Bedford Whaling Museum ist es das einzige im Original erhaltene amerikanische Walfangschiff aus dem frühen 19. Jahrhundert. Das museale Prunkstück ist wie Melvilles Pequod ganz aus Holz gebaut und trägt den Namen seines ersten Eigentümers, eines Quäkers aus Philadelphia. Es lief 1841 in New Bedford vom Stapel und befuhr 80 Jahre lang die Weltmeere. 1921 wurde es außer Dienst gestellt und 20 Jahre später dem Museum einverleibt. Das Schiff enthält das komplette Walfang-Instrumentarium, wie es Melville beschreibt und bildet eine ideale Ergänzung zum New Bedford Whaling Museum. Der Rumpf des massigen Schiffes ist 37 Meter lang, und die Ausguckkörbe an den drei Masten liegen 36 Meter über dem Hauptdeck. Obwohl die Masten bei voller Takelage an die 4000 Quadratmeter Segelfläche tragen konnten, war die Bauweise des Schiffes nicht auf Geschwindigkeit und Wendigkeit ausgerichtet, sondern auf die Gewinnung, Lagerung und Beförderung großer Mengen von Tran. Genau genommen war die Charles W. Morgan eine schwimmende Mystic Seaport <?page no="237"?> 236 New Bedford Fabrik mit allen dazu nötigen Einrichtungen und konnte bis zu 2700 Ölfässer mit einem Gesamtgewicht von 320 Tonnen aufnehmen. Gesteuert wurde sie nicht mehr mit einer Ruderpinne wie bei Melville, sondern mittels eines Steuerrades und eines Kompasshäuschens am Achterdeck. Im Deckaufbau befindet sich ein Werkraum und am Dach darüber zwei Ersatz-Fangboote. Eine steile Treppe führt hinunter zu den Quartieren der Maate und Harpuniere und zur Kapitänskajüte im Heck. In der dazwischen liegenden Offiziersmesse, die durch im Deck eingelassene Prismengläser beleuchtet wird, steht der große Seekartentisch, der für Kapitän und Offiziere auch als Esstisch diente. Am Bug des Schiffes liegt unter dem Vorderdeck (forecastle) die Mannschaftskajüte. Dort waren in einem engen Raum mit seinen eingebauten Schlafkojen 21 Seeleute samt ihren Seemannskisten untergebracht. Heute ist dort alles leer geräumt, frisch gestrichen und elektrisch beleuchtet. Aber in der Phantasie kann sich der Besucher ausmalen, welch klaustrophobische Atmo- Walschiff „Charles W. Morgan“ <?page no="238"?> New Bedford 237 sphäre während einer langen Walfangreise in diesem schlecht belüfteten, nur von einer rauchigen Öllampe beleuchteten Raum herrschte. Den Prozess der Walverarbeitung, den Melville vor allem in den Kapiteln „Flensen“ und „Die Tranöfen“ schildert, kann man sich anhand der Geräte, Beschreibungen und bildlichen Darstellungen an Bord der Charles S. Morgan vergegenwärtigen. Die Verarbeitung des Specks zu Tran glich einem Industriebetrieb, dessen Tätigkeiten nach einem genau festgelegten Programm abliefen. An den beiden äußeren Schiffflanken hängen in hölzernen Kranbalken die vier Fangboote, die bei Sichtung eines Wales innerhalb weniger Sekunden zu Wasser gelassen werden konnten. An der Steuerbordseite ist eine Winde- und Hebevorrichtung angebracht, an der der Riesenkörper des getöteten Wals mit Ketten befestigt wurde. Als erstes trennte man den Kopf des Wals ab und barg den Das Auskochen (trying out) Tranofen <?page no="239"?> 238 New Bedford kostbaren Walrat aus der Gehirnhöhle. Im Anschluss daran schälten die Flenser mit ihren Walspaten die tonnenschwere Speckschwarte spiralenförmig vom Walkörper ab und hievten sie mit Seilwinden und Eisenhaken auf Deck. Dort wurde sie von den Harpunieren mit säbelartigen Messern zerteilt, im Speckraum zwischengelagert und schließlich in kleine „Bibelseiten“ zerschnitten und im Tranofen zu Öl weiterverarbeitet. Die Tranöfen am Hauptdeck sind durch Metallrahmen verstärkte Ziegelquader mit zwei oder drei eingebauten Kupferkesseln. Die bis zu 7000 Liter Tran, die aus einem einzigen Wal gewonnen werden konnten, wurden dort verkocht, in Fässer abgefüllt und durch die Hauptluke in den Schiffsladeraum hinabgelassen. Der gesamte Auswertungsprozess (trying out) eines Wals dauerte drei Tage und Nächte und verbreitete einen penetranten Gestank. Der abgeschälte Walkadaver wurde am Ende vom Schiff abgekettet und den Haifischen und Seevögeln überlassen. Abschließend mussten das mit Blut, Fett und Tran beschmierte Deck, die Wanten, Spaten, Gabelstangen, Kessel und Schöpfpfannen von der gesamten Mannschaft gereinigt werden, bevor die Prozedur beim nächsten Fang von vorne anfing. Den Höhepunkt eines Aufenthaltes in Mystic Seaport bildet die Vorführung eines Fangbootes während der Waljagd, wie dies Melville in seinem Roman mehrfach gestaltet: Fünf Ruderer und ein Bootssteuermann nähern sich in acht Meter langen Ruderbooten auf hoher See jener Stelle, wo ein Wal zuletzt abtauchte. Bei seinem Wiederauftauchen versucht der im Bug stehende Harpunier, die mit Widerhaken versehene Harpune durch einen gezielten Wurf im Walkörper zu versenken. Da die Harpune über die Walleine in fester Verbindung mit der Haspel im Fangboot steht, ist dies ein äußerst riskanter Augenblick. Häufig nimmt das verwundete Tier panikartig Reißaus und zieht das Boot samt Mannschaft in einer rasanten „Schlittenfahrt“ mit ca. 40 Stundenkilometer hinter sich her. Wenn der Wal zu tief abtaucht, muss die Walleine gekappt und der Fang aufgegeben werden. Melville berichtet von „Walveteranen“, die mehrere Male entkommen konnten und deren Körper über und über mit Harpunen und Lanzen gespickt waren. <?page no="240"?> New Bedford 239 Erst wenn den harpunierten Wal die Kräfte verließen, konnte er mit mehreren Lanzenstößen in die Lunge getötet werden. Eine blutige Fontäne aus dem Blasloch war das untrügliche Zeichen seines bevorstehenden Todes. Die erlegte, an der Wasseroberfläche treibende Walleiche wurde mit einem roten Wimpel markiert, bevor sie vom Hauptschiff zum Flensen aufgenommen wurde. Eine Waljagd konnte, wie schon erwähnt, auch tragisch enden, wenn der Wal im Todeskampf mit seiner riesigen Schwanzflosse das Walboot attackierte, es zum Kentern brachte oder gar zerschmetterte. Ein wiederkehrendes Motiv in Moby-Dick ist der Masttop des Schiffes, der von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Dunkelheit mit ein oder zwei Ausguckposten besetzt war, um einen Wal oder eine Walherde zu sichten. Im 35. Kapitel „Der Masttopp“ weitet Melville diesen Vorgang in eine satirische Reflexion über die Transzendentalisten aus. Er vergleicht die in luftiger Höhe über dem Deck vor sich hindösenden Männer mit „tiefsinnigen Träumern“ (MD 261), unter denen die Meeresungeheuer unentdeckt dahinziehen. Mancher der Männer verliert sich so sehr in seine Tagträume, dass er „sein Ich vergisst und die mystische See zu seinen Füßen für das unsichtbare Abbild jener tiefen, blauen, unergründlichen Seele hält, die Menschheit und Natur durchdringt“ (MD 266). Eingelullt in „cartesianischen Wirbeln“ übermannt ihn der Schlaf und stürzt „mit halbersticktem Schrei durch die kristallklaren Lüfte in die sommerliche See, um nie mehr aufzutauchen. Bedenkt das wohl, ihr Pantheisten! “ (MD 267). Masttopp <?page no="241"?> 240 New Bedford Realistisch und zugleich mythisch überhöht ist Ishmaels Beschreibung der nächtlichen Arbeit an den Tranöfen, die dem infernalen Szenario einer Walpurgisnacht gleicht : Um Mitternacht waren die Öfen in vollem Betrieb. Wir hatten den Kadaver losgeworfen; die Segel waren gesetzt; der Wind frischte auf; das wilde Weltmeer lag in tiefer Finsternis. Doch diese Finsternis ward von den gierigen Flammen aufgeleckt, welche bisweilen aus den rußigen Abzugslöchern hervorzüngelten und jedes Tau im Rigg bis hoch hinauf erleuchteten. [...] Dort standen die tartareischen Gestalten der heidnischen Harpuniere, die auf einem Walfänger stets die Heizer abgeben. Mit gewaltigen Gabelstangen schaufelten sie die zischenden Speckmassen in die siedenden Kessel und schürten die Feuer darunter, bis die Flammen wie Schlangen aus den Ofentüren züngelten. Wie die wilden Harpuniere mit ihren gewaltigen Gabeln und Kellen herumhantierten; wie der Wind heulte und die See wogte und das Schiff ächzte und stampfte und doch stetig seine rote Hölle in die Schwärze der See und der Nacht warf [...] befrachtet mit Wilden, beladen mit Feuer, mit einem brennenden Leichnam an Bord auf dem Weg in die schwärzeste Finsternis-- da stürmte die Pequod dahin wie das stoffliche Abbild der Seele ihres besessenen Führers. (MB 655-656) Ishmael, der in einer dieser Nächte das Steuerruder bedient und dabei zu lange ins Feuer starrt, wird das Opfer von Trugbildern und Todesahnungen. Er vergisst einen Augenblick lang auf Kompass und Steuer, so dass das Schiff in den Wind schießt und in gefährliche Schieflage gerät. Die allegorische Lehre, die er aus seinem Versagen zieht, fasst er in folgende mahnende Worte: „O Mensch, schau nicht zu lang ins Angesicht des Feuers. Träume nie mit deiner Hand am Ruder! Kehr nie dem Kompass Deinen Rücken zu“ (MD 568). Auch die verschiedenen Geräte, die Melville in Moby-Dick beschreibt und mit allegorischen Bedeutungen versieht, sind auf der Charles W. Morgan zu sehen. Im Kapitel „Der Quadrant“ zerschmettert Ahab nach monatelanger Irrfahrt das astronomische Orientierungsinstrument als Symbol einer ihm nicht mehr dienlichen Wissenschaft: „Fluch über Dich, Quadrant! Nicht länger will ich mich von dir auf Erden führen lassen“ (MD 763). Im Kapi- <?page no="242"?> New Bedford 241 tel „Die Nadel“ polen die Blitze während eines Gewittersturms den Kompass um und bringen das richtungslos gewordene Schiff an den Rand einer Katastrophe. Ahab entfernt die wertlos gewordene Kompassnadel und ersetzt sie durch eine Segelnadel, die er mit Hammerschlägen auf einer Lanzenspitze magnetisiert hat. Im höhnischen Triumph über die gelungene Überlistung des „Magnetsterns“ demonstriert er vor der staunenden Mannschaft „seine unheilvolle Hoffart“ (MD 788). Im Kapitel „Die Kerzen“ verwandelt ein Elmsfeuer während eines nächtlichen elektrischen Sturms die Mastenden, Stangen und Ketten zu brennenden Riesenkerzen. Während die Mannschaft die unheimliche Erscheinung als erschreckendes Menetekel deutet, triumphiert Ahab mit einer brennenden Harpune in der Hand und fühlt sich vom „reinen Geist des reinen Feuers“ (MD 771) beflügelt. „Wal-purgisnacht“ <?page no="243"?> 242 New Bedford Melvilles nachhaltige Bedeutung Die Verschmelzung und vielschichtige Verflechtung von realistischer Beschreibung und metaphorischer Ausdeutung bildet, wie die Textbeispiele in den vorangegangenen Abschnitten zeigen, die Quintessenz von Melvilles Erzählkunst. Aus seinen Jahren zur See schöpfte er das Erfahrungswissen und die Faktenfülle der Situationen, Figuren und sprachlichen Bilder, die er für die Gestaltung seines kosmischen Dramas brauchte. Alle diese Erzählelemente sind bis ins letzte Detail im konkret Faktischen verankert. Da ihre Metaphorik dem real Beobachteten nicht übergestülpt wird, sondern unmittelbar aus diesem hervorgeht, evoziert sie eine große ästhetische Dichte und Vielfalt von Bedeutungsdimensionen. 34 In seinem Streben nach sinnlicher, geistiger und existentieller Durchdringung und Entgrenzung ließ Melville in Moby-Dick alle bis dahin gebräuchlichen literarischen Darstellungsformen hinter sich. Er schuf eine für seine Zeit völlig neue, offene, niemals zu einem Abschluss kommende Diktion und nahm damit zentrale Elemente der Moderne vorweg. Melville war ein genauer und scharf beobachtender realistischer Erzähler, dem es gelang, den Walfang in all seinen Erscheinungsformen nicht nur in die Kulturgeschichte Neuenglands, sondern auch in das nationale Gedächtnis einzuschreiben. Darüber hinaus war er ein existentieller Sinnsucher und Zivilisationskritiker, der radikaler als jeder andere amerikanische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts den krisenhaften Werte- und Orientierungsverlust seiner Zeit erkannte. Er projizierte eine dunkle, labyrinthische Sicht der Welt, die dem oberflächlichen Optimismus, Erfolgsstreben und Fortschrittsglauben seiner Zeit konträr entgegenstand. Auch die romantische Naturfrömmigkeit, Ichverlorenheit und optimistische Weltverklärung der Transzendentalisten konfrontierte er mit einem bitteren, manichäischen Pessimismus, der erst nach den großen Katastrophen und kulturellen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts im vollen Ausmaß verstanden wurde. Melville überschritt den kulturellen Erfahrungshorizont seiner Zeitgenossen so grundlegend, dass sie mit seinen Werken wenig <?page no="244"?> New Bedford 243 anfangen konnten. Für die meisten blieb er das, was ihn am Anfang berühmt gemacht hatte-- „der Mann, der unter den Kannibalen lebte.“ Als er 1891 starb, war er so gut wie vergessen. Erst seit seiner Wiederentdeckung im Melville Revival der 1920er Jahre begann man, ihn auf neue Weise zu lesen, zu interpretieren und gerade das an ihm zu schätzen, was den Menschen seiner Zeit unzugänglich und suspekt war. Seine den Modernismus vorwegnehmende Experimentierfreude, seine überbordende bildhafte Sprache und seine erkenntniskritische Skepsis trafen den Lebensnerv des modernen Menschen. Zwar bilden Neuengland, der Walfang und die Seefahrt die Grundlage seines Werks, aber es wäre absurd, dieses nur in einen vordergründigen regionalen Bezugsrahmen zu stellen. Dennoch ist ein Besuch der großen Museen in Neuengland, die Einblick in Melvilles Lebenswelt geben und von Orten, wo er Spuren hinterließ und auf die er Bezug nahm, eine außergewöhnliche geistige Erfahrung. <?page no="245"?> 244 Lowell 8. Lowell - Aufstieg und Scheitern einer industriellen Utopie Aufbruch in die Industrielle Revolution V on Lowell, Massachusetts, nahm die industrielle Revolution in den USA ihren Ausgang. Die ca. 110 000 Einwohner zählende Stadt liegt 30 km nordwestlich von Boston und verdankt ihre historische Bedeutung dem Merrimack River, der in den Bergen von New Hampshire entspringt und bei Newburyport in den Atlantik mündet. Der Fluss, so schreibt der in Lowell als Sohn frankokanadischer Einwanderer geborene Jack Kerouac in seinem Roman The Town and the City (1950), „wälzt sich breit und ruhig von den Hügeln zur Stadt herunter, macht sich nach dem Wasserfall schäumend über die Felsen her, braust über uraltes Gestein bis zu der Stelle, wo er in einem weiten friedlichen See zu einem großen Bogen ansetzt und dann um die Flanke der Stadt herum weiter fließt“. 1 Einst lagen hier die Lachsfanggründe der Pennacook-Indianer, bevor diese 1675 im King Philip’s War vertrieben wurden. Die weißen Siedler, die ins Land strömten, nahmen das Gebiet zwischen dem Merrimack und dem Concord River in Besitz, nannten es nach ihrem Pastor Chelmsford, rodeten die Wälder und belieferten die Schiffswerften an der Küste mit Bauholz. Um die Wasserfälle zu umschiffen, baute man 1796 den vier Kilometer langen, mit mehreren Schleusen ausgestatteten Pawtucket-Kanal. 1803 finanzierten Bostoner Entrepreneure den Ausbau des Middlesex-Kanals zum 43 km entfernten Hafen von Boston. Entlang der Wasserwege siedelten sich Sägewerke, Glasmanufakturen, Spinnereien und Webereien an und drängten die Landwirtschaft in den Hintergrund. 2 Aber der große Sprung in das Industriezeitalter vollzog sich erst mehrere Jahre später. 1810 unternahm der Bostoner Unternehmer Francis Cabot Lowell eine Reise nach England, um sich über die legendären Textilfabri- <?page no="246"?> Lowell 245 ken in Manchester und ihre von Wasserkraft betriebenen Spinn- und Webmaschinen zu informieren. Tief beeindruckt von den neuen technischen Errungenschaften und den hohen Profitraten, die erzielt wurden, beschloss er, Ähnliches in seiner Heimat Neuengland zu realisieren. Da die englischen Fabrikbosse ihre Baupläne, Konstruktionszeichnungen und Modelle streng unter Verschluss hielten, betrieb Lowell Werkspionage und prägte sich die Maschinenanlagen und deren Abläufe ein. Nach seiner Rückkehr gründete er in Kooperation mit einigen Bostoner Finanzkapitalisten die Boston Manufacturing Company und baute 1814 mit Hilfe Turbine und Schwungrad <?page no="247"?> 246 Lowell des genialen Technikers Paul Moody in Waltham am Charles River die erste voll mechanisierte, mit Wasserkraft betriebene Textilfabrik in den USA. Sie produzierte grobe Baumwollstoffe für den Binnenmarkt und war damit so erfolgreich, dass die Bostoner Unternehmer weitere Kapitalinvestitionen ins Auge fassten. In den Wasserfällen und Kanälen des Merrimack River und ihrem Energiepotential fanden sie den geeigneten Ort für ein groß dimensioniertes Industrieprojekt. Sie kauften das vormals landwirtschaftliche Gebiet von East Chelmsford zwischen dem Merrimack River und dem Middlesex Canal auf, regulierten die Wasserzufuhr durch einen aufgestauten See und beauftragten den renommierten Stadtplaner und Architekten Kirk Boott, eine Industrieanlage nach neuesten technischen Erkenntnissen zu errichten. Der Ausbau des Projekts ging zügig voran, und weitere Kanäle wurden ausgehoben, um die Wasserenergie an die projektierten Textilfabriken heranzuführen. 1823 ging der erste große Werkkomplex der Merrimack Manufacturing Company mit 19 Fabrikgebäuden in Betrieb, acht weitere Anlagen folgten bis 1838, darunter die bis heute erhaltenen Boott Mills. Lowell selbst konnte die Erfüllung seines Lebenstraumes nicht mehr erleben, denn er starb 1817 im Alter von nur 42 Jahren. Aber die Stadt, die im Umkreis der Fabriken aus dem Boden sprang, erhielt den Namen ihres Gründervaters. 3 Innerhalb weniger Jahre wuchs Lowell zu einer pulsierenden Fabrikstadt mit 35 000 Einwohnern heran. Bis zur Jahrhundertmitte entstanden zehn weitere Fabrikkomplexe entlang der Kanäle und beschäftigten an die 10 000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Die Bostoner Unternehmer hielten die Zügel fest in der Hand, verkauften Baugründe und Wasserrechte an Produktionsgesellschaften und statteten die neuen Fabriken mit Maschinenanlagen aus. Diese erzeugten sie in einem eigenen machine shop und passten sie kontinuierlich dem jeweils neuesten Stand der Technik an. Die ursprünglichen riesigen Wasserräder wichen einige Zeit später modernen Turbinenanlagen, die über ein System aus Übertragungswellen, Lederbändern und Schwungrädern tausende Spinn- und Webmaschinen antrieben. <?page no="248"?> Lowell 247 Um die gegenseitige Konkurrenzierung in Schranken zu halten, tauschte man das technische Knowhow untereinander aus, arrangierte Preis- und Lohnabsprachen, etablierte gemeinsame Aufsichtsräte und ließ bei Arbeitskonflikten schwarze Listen entlassener Aktivisten kursieren. Um 1880 erreichte das „amerikanische Manchester“, wie die Zeitgenossen Lowell nannten, mit 175 Fabrikanlagen und 80 000 Einwohnern seinen Höhepunkt. Es war zu diesem Zeitpunkt die größte Industriemetropole der USA und die zweitgrößte Stadt Neuenglands nach Boston. Da die Fabriken ihre bunten, fein gemusterten Baumwollstoffe in bester Qualität und zu Niedrigpreisen auf den Markt brachten, konnten sie mit der britischen Konkurrenz Schritt halten. Bald belieferten sie nicht mehr nur den in den Westen expandierenden amerikanischen Binnenmarkt, sondern den Weltmarkt von Europa über Südamerika bis nach Indien und Ostasien. 4 Nirgendwo in den USA lässt sich der Übergang von einer von unabhängigen Farmern betriebenen Agrarwirtschaft, wie sie Prä- Boott Cotton Mills um 1880 <?page no="249"?> 248 Lowell sident Thomas Jefferson als Zukunftsvision propagierte, zur Industrialisierung eindringlicher verfolgen als in Lowell. Noch um 1820 war Massachusetts-- mit Ausnahme Bostons-- eine überwiegend landwirtschaftliche Region. Die riesigen Waldgebiete, die das Land ursprünglich bedeckten, waren im 18. Jahrhundert gerodet worden, und drei Viertel der Bevölkerung lebten in verstreuten Familienfarmen von ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Sie waren weitgehend autark und stellten notwendige Gebrauchsgegenstände wie Stoffe, Kleider und Schuhe selbst her. 5 Darüber hinaus waren Kleinhandwerker wie Schmiede, Tischler, Fassbinder, Korbmacher, Sattler, Gerber und Töpfer in die ländlichen Produktionsgemeinschaften eingebunden. Einen umfassenden Einblick in die vorindustrielle Zeit zwischen 1790 und 1840 bietet das großartige Freilichtmuseum von Old Sturbridge Village südlich von Worcester, Massachusetts (s. Kap. 10). 6 Der wirtschaftliche und soziale Umbruch, der sich ab der Mitte der 1820er Jahre in Neuengland vollzog, nahm bald dramatische Ausmaße an. Die beginnende Westexpansion und die wachsende Konkurrenz durch große Agrarunternehmen in den neu erschlossenen Territorien von Ohio, Indiana und Illinois wurden der traditionellen Landwirtschaft Neuenglands zur tödlichen Bedrohung. Über den 1825 eröffneten Erie-Kanal, der in einer Länge von 584 Kilometern das Gebiet der Großen Seenplatte mit der Atlantikküste verband, konnten Getreide und andere landwirtschaftliche Produkte in wenigen Tagen und zu geringen Kosten nach Osten transportiert werden, während Handelswaren, landwirtschaftliche Geräte und Manufakturgüter aller Art in die Siedlungsgebiete im Westen geliefert wurden. Zehntausende Familien in Neuengland verloren durch diese neue Situation ihre Existenzgrundlage. Sie mussten ihre unwirtschaftlich gewordenen Farmen samt Viehweiden und Äckern auflassen, so dass sich die vormals gerodeten Wälder auf dem entstehenden Brachland wieder ausbreiten konnten. Noch heute stößt man in Neuengland vielerorts auf von Wald und Strauchwerk überwucherte Überreste alter Farmen. Zehntausende junge Männer und Frauen- - in Vermont bis zu 40 Prozent der Bevölkerung-- wanderten in den Westen oder in die <?page no="250"?> Lowell 249 großen Städte ab. Gleichzeitig führte die Landflucht zur Gründung neuer Orte, die mit ihren rasch wachsenden Einwohnerzahlen einen starken Bedarf an Gebrauchsgütern und Handelswaren herbeiführten. Frühindustrielle Manufakturen schossen überall aus dem Boden und nahmen die in der Landwirtschaft nicht mehr benötigten Arbeitskräfte auf. Dies betraf insbesondere Farmersfrauen, für die es bis dahin außerhalb ihrer hausgebundenen und patriarchalen Lebenswelt kaum berufliche Betätigungsfelder gab. Die Herstellung von Stoffen und Kleidung in häuslicher Eigenregie wurde nun zunehmend von den neuen Spinnerei- und Webereibetrieben übernommen. Schließlich zog auch die sich rasch ausbreitende Textilindustrie Nutzen aus der prekären Beschäftigungssituation am Land und griff auf das riesige frei gewordene Arbeitspotential zurück. 7 Darüber hinaus trugen überregionale politische und wirtschaftliche Veränderungen dazu bei, dass sich Neuengland in wenigen Jahren zu einer Industrieregion entwickelte. Die amerikanische Revolution hatte durch die Loslösung von Großbritannien den Zusammenbruch des kolonialen Merkantilismus und des Überseehandels herbeigeführt. Die Plantagenbesitzer in den Südstaaten, die mit der 1793 von Eli Whitney erfundenen Baumwoll-Erntemaschine (cotton gin) riesige Gewinne erzielt hatten, blieben auf ihrem Export an die britische Textilindustrie sitzen und mussten sich um neue Produktionsstätten und Absatzmärkte am amerikanischen Binnenmarkt umsehen. Zusammen mit dem Niedergang der Walfangindustrie schuf dies neue Wirtschaftskapazitäten und bahnte der industriellen Revolution den Weg. Über die Seehäfen an der Ostküste-- vor allem Boston, New Bedford und Salem-- wurde nun Baumwolle in riesigen Quantitäten aus den Südstaaten eingeführt und in den neuen Textilfabriken verarbeitet. Ähnliches spielte sich in der Entwicklung der Schuh- und Lederindustrie ab, die durch die massenhafte Anlieferung billiger Rinderhäute aus den neuen Rancher-Imperien im Westen die ländlichen Schusterwerkstätten verdrängte. 8 Der industrielle Boom, der sich anbahnte, hatte neben der ökonomischen Entwicklung auch wichtige Auswirkungen auf den sozialen Bereich. Als Francis C. Lowell in Manchester seine tech- <?page no="251"?> 250 Lowell nologische Zukunftsvision für Neuengland konzipierte, blieb ihm das monströse soziale Elend in den Fabriken und Slums nicht verborgen. Ausbeuterische Arbeitsbedingungen, Hungerlöhne und Kinderarbeit hatten dort zu einer Proletarisierung des Lebens geführt, die für ihn inakzeptabel waren. Die Horrorzustände, die er mit eigenen Augen wahrnahm, widersprachen nicht nur seiner religiösen Ethik, sondern auch den Idealen von Freiheit, Gleichheit und Glücksstreben, die die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verkündet hatte. Da er und die Bostoner Finanzaristokraten, die er um sich scharte, ihr industrielles Großprojekt und damit das Ansehen Neuenglands in der Welt durch Zustände dieser Art nicht in Misskredit bringen wollten, entwickelten sie erstaunlich moderne soziale Vorstellungen. Im bewussten Gegensatz zum Manchester-Kapitalismus strebten sie danach, die technologische Rationalisierung und Mechanisierung und die durch sie ermöglichte Profitmaximierung mit menschenwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen in geordneten Kommunitäten inmitten einer natürlichen Umwelt zu verbinden. Deshalb wurden erschwingliche Wohnangebote für Arbeiter und Arbeiterinnen sowie Erholungsräume in Form von Grünflächen, Parks und Spazierwegen in die Bauprojekte einbezogen. 9 Mill Girls Die schier unbegrenzte Verfügbarkeit einheimischer Arbeitskräfte kam der Realisierung dieser Neuerungen, dem sog. Lowell Experiment, auf ideale Weise entgegen. Tausende junge Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren nahmen die ihnen angebotenen Arbeitsplätze in den neuen Fabriken mit Begeisterung an. Schon um 1830 beschäftigte Lowells Baumwollindustrie an die 35 000 junge Arbeiterinnen-- 75 Prozent der gesamten Belegschaft-- und bis 1860 stieg diese Zahl auf über 60 000 an. Die legendären Mill Girls wurden zu Lowells Markenzeichen. Die operatives, wie man sie nannte, stammten größtenteils aus protestantischen Familien, waren arbeitsam und verfügten über eine solide Grundschulausbildung. Mit den <?page no="252"?> Lowell 251 Löhnen aus der Fabrikarbeit unterstützten sie ihre Eltern, finanzierten die Studien ihrer Brüder oder sparten eine Aussteuer an, um nach Beendigung ihrer Fabrikjahre heiraten zu können. Sie mussten sich für mindestens ein Jahr vertraglich verpflichten, die meisten jedoch blieben drei bis fünf Jahre. Die 12 bis 14 Dollar, die sie je nach Qualifikation im Monat verdienten, überstiegen alle bis dahin in Neuengland an Frauen ausbezahlten Löhne. Aber auch die Firmenbosse kamen auf ihre Rechnung. Da die Entlohnung der männlichen Arbeiter in der Regel doppelt so hoch war wie die der Frauen, konnten sie ihre Profite überdurchschnittlich hoch halten. Die Frauen arbeiteten je nach Jahreszeit täglich ab 6.30 Uhr morgens durchschnittlich 12 bis 14 Stunden an sechs Tagen in der Woche. Trotz dieser extrem hohen Arbeitsbelastung waren erstaunlich viele von ihnen an einer persönlichen Weiterbildung interessiert. Sie lasen Bücher und Zeitschriften, nahmen an abendlichen Fortbildungskursen oder Lesezirkeln teil, musizierten oder besuchten öffentliche Vorträge am lokalen Lyzeum. Wenn prominente Persönlichkeiten wie etwa Ralph Waldo Emerson oder John Mill Girl <?page no="253"?> 252 Lowell Quincy Adams nach Lowell kamen, um in der Guildhall Vorträge zu halten, durften die Frauen ihren Arbeitsplatz etwas früher verlassen, um die Vorträge zu besuchen. 10 Die angemessen bezahlte Lohnarbeit verschaffte den jungen Arbeiterinnen Freiräume, von denen sie bis dahin nur träumen konnten. Das verdiente Geld deponierten sie in Sparkassen oder gaben einen Teil davon für ihren persönlichen Konsum aus. Erstmals in den USA war eine ökonomische Situation entstanden, die Frauen eine eigenständige, von Männern unabhängige Existenz ermöglichte. In der Stadt standen ihnen neben Kirchen, Banken und Geschäften Abendschulen, Leihbibliotheken und andere kulturelle Einrichtungen zur Verfügung. Sogar ein eigenes, von den Fabrikleitungen subventioniertes Magazin- - Lowell Offering-- wurde herausgegeben, wo die Mill Girls selbst verfasste Geschichten, Essays und Gedichte veröffentlichen konnten. 11 Einige der Beiträgerinnen erwiesen sich dabei als so talentiert, dass sie später ihren Fabrikjahren in autobiographischen Büchern ein Denkmal setzen. Herausragende Beispiele sind Lucy Larcoms A New England Girlhood (1889) und Harriet Robinsons Roman Loom and Spindle (1898), aus dem das folgende Zitat stammt: Mill Girl-Zeitschrift Lowell Offering (1845) Zum ersten Mal bekam Frauenarbeit einen mit Geld belohnten Wert. Die Frauen wurden nicht nur zu Verdienerinnen und Erzeugerinnen, sondern auch zu Geldausgeberinnen, ein entscheidender Faktor in der politischen Ökonomie der Zeit und ein großer Schritt vorwärts in unserer materiellen Zivilisation. Indem die Frau begonnen hatte, selbst Geld zu verdienen und zu verwalten, lernte sie auch, selbständig zu denken und zu handeln. 12 <?page no="254"?> Lowell 253 Anfängliche Vorbehalte gegenüber der Fabrikarbeit traten bald zurück und die jungen Neuenglandfrauen fügten sich willig in die kollektive Lebensgemeinschaft ein. Dass das Leben der Mill Girls jedoch bei genauerem Hinsehen in einem äußerst eng gesteckten paternalistischen Rahmen ablief, wurde anfänglich kaum hinterfragt. Um den Wünschen der ländlichen Familien entgegenzukommen und einen möglichst reibungslosen Arbeitsverlauf zu gewährleisten, verpflichteten sich die Fabrikleitungen, ihre weiblichen Angestellten vor negativen Einflüssen aller Art abzuschirmen. Verheiratete Arbeiterinnen durften mit ihren Angehörigen in privaten Unterkünften wohnen, während ledige Frauen in fabrikeigenen Wohngebäuden (boarding houses) untergebracht wurden. In den Häusern wohnten 30 bis 40 Mill Girls in Zimmern mit jeweils drei Doppelbetten und nahmen die drei täglichen Mahlzeiten in einem gemeinsamen Speisesaal ein. In der Gründungszeit subventionierten die Arbeitgeber Unterkunft und Verpflegung und die Frauen mussten nicht mehr als fünf Dollar im Monat beisteuern. Die Boarding Houses unterstanden jeweils einer „Hausmutter“, in der Regel einer respektablen Witwe, die für das Wohl ihrer Schützlinge sorgte. Eine strenge Hausordnung mit strikten Besuchszeiten und einer Ausgangssperre ab 10 Uhr abends sowie die Verpflichtung zum sonntäglichen Kirchenbesuch regelten ihr Leben. Es herrschte ein Geist der Solidarität und der gegenseitigen Hilfeleistung und häufig bildeten sich Freundschaften und kleine Gemeinschaften. Bei Ausfällen durch Krankheit, Erschöpfung Boarding Houses Boarding House-Museum <?page no="255"?> 254 Lowell oder familiäre Verpflichtungen sprangen Ersatzkräfte ein, so dass niemand um den Verlust des Jobs bangen musste. 13 Die Lowell Corporations waren stolz auf die von ihnen geschaffene wohl geordnete Industriegemeinde, betrieben damit eifrig Image- und Produktwerbung und stellten die sozialen Einrichtungen als große Errungenschaft zur Schau. 14 Prominente Besucher aus dem In- und Ausland, etwa die englischen Schriftsteller Anthony Trollope und Charles Dickens, die die miserablen Arbeitsbedingungen in England aus eigener Anschauung kannten, waren zutiefst beeindruckt von dem, was sie in Lowell vorfanden. Sie empfanden das Lowell Experiment als menschenfreundlichen Gegenpol zur Proletarisierung und industriellen Verelendung in ihrer Heimat. „Lowell ist die Realisierung einer kommerziellen Utopie,“ so schreibt Trollope in seinem Reisebericht North America (1862). „Es ist ein wunderbarer Ort, der zeigt, wie viel die Philanthropie leisten kann.“ 15 Dickens lobt in seinen American Notes (1842) die sauberen, gesunden und adrett gekleideten Mill Girls und ihre Bildungs- und Kulturbeflissenheit sowie das Fehlen des üblichen Fabrikproletariats. Seinen englischen Lesern gibt er in diesem Zusammenhang folgenden Rat: Ich beschwöre all jene, die diese Zeilen lesen, einen Augenblick anzuhalten und den Unterschied zwischen Lowell und den Horrororten aus Verzweiflung und Elend in England wahr zu nehmen. Inmitten von Parteiengezänk und Streit sollten sie darüber nachdenken, welche Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Menschen von Leid und Gefahren zu befreien und wie viel an wertvoller Zeit schon ungenützt verstrichen ist. 16 Nur wenige Zeitgenossen äußerten in dieser Frühphase Vorbehalte gegenüber Lowell. So bemängelte etwa die englische Kultursoziologin Harriet Martineau in ihrem Bericht Society in America (1837) die patriarchale Bevormundung der Mill Girls und die fehlende Privatsphäre. Hinter der idealen Fassade der Boarding Houses erkennt sie die versteckte Fortsetzung der restriktiven und reglementierenden Kontrolle durch das Fabrikmanagement. Sie bemängelt, dass den Mädchen kaum Zeit für die Mahlzeiten bleibt, <?page no="256"?> Lowell 255 dass sie auf engstem Raum zusammenleben müssen und für die Körperpflege nur Wasserkrug und Schüssel zur Verfügung stehen. 17 Wie rigide die Mechanisierung der Produktionsabläufe und ihre Überwachung in den Fabriken ablief, zeigt ein Blick auf die in Lowell herrschende Arbeitssituation. Alle Arbeitsabschnitte folgten dem Diktat der Fabrikglocke, wobei die 12bis 14-stündige Arbeitszeit nur durch zwei halbstündige Pausen unterbrochen wurde. Die Werksäle lagen in mehrstöckigen Backsteinbauten, deren eintöniges Äußeres nur durch einen Stiegenaufgang und den Glockenturm unterbrochen wurde. Die 30 mal 50 Meter großen Arbeitsräume waren dicht bestückt mit parallel verlaufenden Reihen von 200 laut ratternden mechanischen Spinn- und Webmaschinen (power looms). Die hundert „Operativen“ pro Saal waren jeweils zwei Maschinen zugeteilt und mussten den ganzen Arbeitstag in den engen Gängen zwischen den Maschinenreihen zubringen. Ihre Aufgabe war es, die Maschinen zu kontrollieren und zu Fabriksaal <?page no="257"?> 256 Lowell warten, die Spindeln regelmäßig auszutauschen und jegliche Störung des automatischen Webbzw. Spinnvorganges zu verhindern. Am oberen Ende des Werksaals saß auf einem Podest der männliche Aufseher, der die Arbeitsvorgänge beaufsichtigte. Ihm standen zwei oder drei männliche Assistenten zur Seite, die den Kontakt zu den Arbeiterinnen herstellten und bei technischen Störungen oder Verzögerungen eingriffen. 18 Das Grundprinzip von Lowell war Profitmaximierung, d. h. die reibungslose und effektive Produktion zu möglichst niedrigen Kosten, mit einem Minimum an Arbeitskräften und einer maximalen Arbeitsgeschwindigkeit. Alle Abschnitte der integrierten Arbeitsabläufe, vom Reinigen und Kämmen der Baumwolle über das Spinnen und Weben bis zum Färben, Bleichen, Pressen und Appretieren der Stoffe, wurden ausschließlich von Frauen bewältigt, während die wenigen Männer Aufsichtsfunktionen inne hatten. In geringem Ausmaß wurden auch Kinder als Hilfskräfte z. B. für das Austauschen der Spulen eingesetzt. Die Arbeitsbedingungen in den Werksälen waren generell schlecht und ungesund. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, die für die Verarbeitung der Baumwolle nötig war, wurde Wasserdampf zugeleitet, so dass die Fenster permanent geschlossen bleiben mussten. Der Mangel an frischer Luft, der Rauch, den in den Wintermonaten die Walöllampen verbreiteten, und die herumfliegenden Baumwollfasern verursachten häufig Bronchitis und Lungenkrankheiten bis hin zu Tuberkulose. Viele der Mädchen litten an Gelenkschmerzen und Krampfaderbeschwerden durch das stundenlange Stehen an den Maschinen. Auch Verletzungen an den Händen oder im Gesicht durch die häufig aus der Maschine springenden Webschiffchen waren an der Tagesordnung. 19 Da das Management das erwähnte Lowell Offering-Magazin als Teil der Öffentlichkeitsarbeit betrachtete, druckte es in der Regel nur obrigkeitshörige und beschönigende Texte ab. Kritische Beiträge wie die folgende Klage eines anonymen Mill Girls waren eine der ganz seltenen Ausnahmen: <?page no="258"?> Lowell 257 Ich protestiere gegen die ständige Hast an diesem Ort. Wir haben keine Zeit zum Essen, Trinken und Schlafen. Nur 30 Minuten werden uns für die Mahlzeiten erlaubt, dann geht es zurück ins laute Getöse der Maschinen. Die Glocke holt uns vor Tagesanbruch aus dem Bett und sie beschließt den Tag in der Fabrik. Hinein und hinaus-- alles gehorcht dem Ding-Dong der Glocke, als ob wir selbst nur Maschinen wären. Morgen reiche ich meine Kündigung ein und verlasse die Fabrik. Ich will und werde keine weiße Sklavin mehr sein. 20 Das Ende der industriellen Utopie Ab Mitte der 1830er Jahre verschlechterte sich die ökonomische Situation der Fabriken. Überproduktion und wachsender Konkurrenzdruck verringerten den Absatz, die Preise sanken und damit auch die Profite. Das bis dahin relativ kooperative Verhältnis zwischen dem Fabrikmanagement und den Arbeiterinnen wurde immer gespannter. Als im Jahr 1834 die Bosse Lohnkürzungen von 25 Prozent ankündigten, ging ein Schrei der Entrüstung durch die Fabriken und es kam erstmals zu Protestaktionen. Während sich die Männer, die von den Maßnahmen kaum betroffen waren, aus dem Konflikt heraushielten, nahmen couragierte Frauen das Heft in die Hand und kämpften in Protestversammlungen für ihre Rechte. Als die Proteste fehlschlugen, wurde ein Ausstand beschlossen. Am Tag, an dem die Kürzungen in Kraft traten, erschienen 800 Frauen nicht an ihrem Arbeitsplatz. Um ihr Vorgehen zu rechtfertigen, beriefen sie sich auf die amerikanische Revolution, in der ihre patriotischen Väter für Unabhängigkeit, Freiheit und Menschenwürde gekämpft hatten. Als „Töchter freier Männer“ (daughters of freemen) 21 würden sie kein Opfer scheuen, um das Joch der Versklavung abzuschütteln. Aber die Manager ließen sich von der revolutionären Rhetorik nicht beeindrucken und entrüsteten sich über die „Undankbarkeit“ und das „unfeminine“ Verhalten der Arbeiterinnen. Als einige der Rädelsführerinnen fristlos entlassen wurden, quittierten viele Frauen frustriert ihren Dienst. Die überwiegende Mehrheit jedoch nahm wenige Tage später die Arbeit wieder auf. Zwei Jahre später kam es zu einem <?page no="259"?> 258 Lowell weiteren Streik, als die Fabrikverwaltungen die Unterhaltskosten für die Boarding Houses hinaufsetzten. Obwohl die Auftragslage der Fabriken zufriedenstellend war, wurde die herrschende Inflation automatisch auf die Mill Girls übergewälzt. Etwa ein Drittel der Belegschaft streikte und schloss sich Protestmärschen an. Die Fabriken mussten Kurzarbeit einführen oder eine Zeit lang überhaupt schließen. Um ihrem Protest Nachhaltigkeit zu verleihen, gründeten die Frauen die Lowell Factory Girls’ Association, zu der sich 2500 Arbeiterinnen aus den verschiedenen Fabriken zusammenschlossen. Es war das erste Mal in den USA, dass Frauen eine politische Protestgemeinschaft auf eigene Faust organisierten. 22 Die Streiks von 1834 und 1836 waren nur ein Vorspiel für die erbitterten Arbeitskämpfe, die in den 1840er Jahren folgten. In ihnen ging es nicht mehr nur um konkrete Einzelforderungen, sondern um mehr Gerechtigkeit für die Industriearbeiter in Massachusetts insgesamt. Die generelle Einführung des 10-Stunden-Arbeitstages für alle Werktätigen (Ten Hour Movement) stand im Mittelpunkt der Forderungen. Wieder standen Lowells Arbeiterinnen an vorderster Front, gründeten 1844 die Lowell Female Labor Reform Association (LFLRA) und wählten die dynamische Arbeiterführerin Sarah Bagley zu ihrer Präsidentin. Im Hintergrund dieser Aktionen stand die gravierende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Ein Preisverfall von Textilprodukten, die wachsende Konkurrenz durch Firmengründungen an anderen Orten und der Rückgang der Gewinne veranlassten die Werkleitungen, die Produktionsgeschwindigkeit bei gleich bleibenden Löhnen drastisch zu erhöhen. Hatten die Mill Girls anfänglich jeweils nur zwei Webmaschinen zu bedienen, so waren es nun doppelt so viele. Zudem wurde ein Prämiensystem eingeführt, das den Abteilungsleitern und Aufsehern Sonderzahlungen für höhere Produktionsraten zusicherte und damit einen bis dahin noch nie dagewesenen Leistungsdruck auslöste. Die Arbeiterinnen wurden gegeneinander ausgespielt, und ihre ursprüngliche Solidarität wich einem verzweifelten Konkurrenzkampf. Die unerträgliche Akkordarbeit, die überlangen Arbeitszeiten und die sich ver- <?page no="260"?> Lowell 259 schlechternde Situation am Arbeitsplatz trugen zur allgemeinen Unzufriedenheit bei und erhöhten die Anfälligkeit für Krankheiten und Erschöpfung. 23 Da von den streng kapitalistisch orientierten Fabrikleitungen keinerlei Zugeständnisse zu erwarten waren, begannen sich Arbeiter und Arbeiterinnen noch intensiver auf politischer Ebene zu organisieren. Überregionale Arbeiterorganisationen wandten sich an die Regierung in Boston und forderten die allgemeine, gesetzlich verankerte Einführung des 10-Stunden-Arbeitstages. Ein langer erbitterter Machtkampf zwischen den Industriekonzernen, der Arbeiterschaft und politischen Parteien folgte und die Regierung setzte eine Untersuchungskommission ein. Als diese ergebnislos blieb, beschloss sie, sich künftig aus dem Arbeitskampf herauszuhalten. Um die Wettbewerbsfähigkeit von Massachusetts nicht zu Belegschaftsversammlung, Boott Cotton Mill um 1890 <?page no="261"?> 260 Lowell gefährden, wurden alle Beteiligen angehalten, durch guten Willen und Kooperation praktikable Lösungen zu finden. 24 Es sollte jedoch noch bis 1874 dauern, bis die 10-Stunden-Regelung per Gesetz eingeführt wurde. Frauen spielten zu diesem Zeitpunkt in der Fabrikwelt kaum noch eine Rolle und die legendären daughters of freemen waren längst Geschichte. Die Maxime der Nichteinmischung des Staates in wirtschaftliche und soziale Belange sollte in der Folge für die Entwicklung in den USA bestimmend werden. Während sich in Europa sozialistische Parteien und Gewerkschaften formierten und schrittweise ihre Forderungen durchsetzten konnten, behielt der laissez faire-Kapitalismus in den USA das Heft in der Hand. Erstaunlich war dabei, dass ein großer Teil der Arbeiterschaft selbst dies guthieß und ein Eingreifen des Staates für unamerikanisch hielt. Auch in Lowell blieb die Mehrheit der Arbeiterinnen gegenüber den Fabrikleitungen loyal, während radikalere Arbeitervertreter und ihre Organisationen ihren Protest in Voice of Industry und anderen Arbeiterzeitungen öffentlich zum Ausdruck brachen. Die Fabrikleitungen reagierten militant, feuerten aufmüpfige Arbeitervertreter und ließen schwarze Listen mit ihren Namen in ganz Neuengland kursieren. Da den Bossen besonders die politische Agitation von Arbeiterinnen ein Dorn im Auge war und diese als „unweiblich“ abgestempelt wurden, mischten sich nun zunehmend feministische Stimmen in die politische Diskussion ein. Sie entlarvten die paternalistische Aufforderung zu weiblicher Unterordnung als Teil der ökonomischen Ausbeutung und erhoben sisterhood zum Kampfsymbol politischer Solidarität. Der enorme feministische Beitrag, den die Fabrikarbeiterinnen von Lowell leisteten, indem sie dem „cult of true womanhood“ 25 abschworen, wurde zu einem wichtigen Schritt in Richtung Frauenemanzipation. Trotz des großen Engagements gingen die Arbeiterproteste dieser Zeit insgesamt ins Leere. Die Arbeitsbedingungen und Löhne verschlechterten sich weiter und Verluste wurden automatisch auf die Arbeiterschaft übergewälzt. Innerhalb weniger Jahre-- von 1846 bis 1850- - wurde die Produktionsleistung pro Arbeiterin um 49 Prozent angehoben, während die Löhne mit vier Prozent <?page no="262"?> Lowell 261 Zuwachs stagnierten. 26 In Lowell verließen nun frustrierte Mill Girls zu Hauf die Fabriken. Nancy Zaroulis’ Sozialroman Call the Darkness Light (1993; dt. Und sie nannten das Dunkel Licht), der diese prekäre Situation thematisiert, ist eine Art literarischer Schwanengesang auf Lowells Mill Girls. Die junge Protagonistin, die es als mittellose Vollwaise aus einer abgelegenen Landgemeinde nach Lowell verschlägt, findet Arbeit in einer Textilfabrik. Aber ihre anfänglichen Hoffnungen weichen bitterer Enttäuschung, als sie zum Opfer der ausbeuterischen und krankmachenden Fabrikmaschinerie wird: Die Erschöpfung ließ sie nicht los. Rücken, Beine und Füße schmerzten und wurden zu steifen Einzelteilen, so hart wie die eiserne Maschine. Die Arme erstarben zu zuckenden, störrischen Automaten, die nicht mehr auf die Anweisungen ihres Gehirns reagierten. Abends schleppte sie sich ins Wohnzimmer zurück, und oft zu müde, um das Essen anzurühren, ging sie gleich die Treppe hinauf und ließ sich auf die dünne Matratze fallen und schlief, bis die Morgenglocke sie ins Bewusstsein zurückrief. [...] Der Lärm der Fabrikmaschinen tötete ihre Phantasie, ihr Denken ab, als hätte sie jemand mit einem Knüppel bewusstlos geschlagen. Als ein Mädchen unter vielen Hunderten, vielen Tausenden, machte sie weiter, weil sie musste, schleppte sich durch die Tage wie ein Zapfen in einem riesigen Rad. 27 Lowell als multiethnischer Mikrokosmos Ausschlaggebend für das Dilemma war vor allem die ab 1845 einsetzende Masseneinwanderung von Iren, die wie kein anderes Ereignis die weitere Entwicklung der Industriearbeit in Neuengland beeinflusste. Jahrelange Hungersnöte nach verheerenden Kartoffel-Missernten trieben hunderttausende irische Familien, die ihre Lebensgrundlage verloren hatten, in die Neue Welt, um dort zu überleben. In Neuengland bildete sich ein Riesenreservoir an mittellosen, zumeist ungelernten Arbeitssuchenden. Den Industriebossen kam diese Entwicklung sehr gelegen und zur rechten Zeit. Proteste, Lohnkämpfe und Streiks konnten sie nun ignorieren und die von den Mill Girls verlassenen Arbeitsplätze mit irischen Arbei- <?page no="263"?> 262 Lowell tern auffüllen. Sie nützten die Notsituation der Immigranten skrupellos aus und fertigten sie mit Niedrigstlöhnen und noch miserableren Arbeitsbedingungen ab. Hinzu kam, dass die kinderreichen irischen Familien in der Regel samt ihren noch nicht volljährigen Kindern in die Fabrikarbeit eintraten, um ein einigermaßen ausreichendes Familieneinkommen zu erzielen. Waren 1836 nur ca. vier Prozent der Arbeiterschaft von Lowell ausländischer Herkunft, so stieg diese Zahl bis 1850 auf 62 Prozent an mit steigender Tendenz bis in die 1880er Jahre. 28 Erschwerend kam hinzu, dass Lowell seine Vorreiterrolle als führende Industriestadt verlor. Die Einführung der Dampfmaschine nahm der Wasserkraft ihre vormalige Bedeutung, und neue Industriestädte wie New Bedford oder Fall River, die mit ihren Seehäfen für die Anlieferung von Kohle und Rohstoffen besser geeignet waren, stellten Lowell in den Schatten. 29 In wenigen Jahrzehnten verwandelte sich die vormalige Mill Girl-Stadt in einen multiethnischen Mikrokosmos. Die Iren bildeten in diesem Umwandlungsprozess den ersten großen Schub. Katholisch und ausbildungslos waren sie mit ihrer groben bäuerlichen Kleidung und ihrem fremdartigen Dialekt für die alteingesessenen Yankees ein verhasster Fremdkörper. Die Bewohner widersetzten sich ihrer Ansiedlung im inneren Stadtgebiet und wiesen ihnen The Acre, ein Stück Land am Westrand der Stadt zu. Dort errichteten sie eine Ansammlung ärmlicher Holzhäuser, die St. Patrick-Gemeindekirche und einige katholische Schulen. Die irischen Wohnviertel breiteten sich rapid aus, nahmen zehntausende neue Zuwanderer auf und rückten zum Leidwesen der alteingesessenen Bevölkerung immer näher an den Business District im Stadtzentrum heran. Dies und die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen, sinkendem Lohnniveau und noch schlechteren Arbeitsbedingungen heizten den Fremdenhass an und gewalttätige Angriffe auf irische Einrichtungen waren bald an der Tagesordnung. Die zahlenmäßige Dominanz der Iren war jedoch nicht aufzuhalten und veränderte grundlegend das Zusammenleben in der industriellen Arbeitswelt und in der Stadt. In den Fabriken führte der Kampf der Immigranten-Familien ums nackte Überleben zu ethnischer Zersplitterung und Proletarisierung. Die iri- <?page no="264"?> Lowell 263 schen Arbeiter, die dem Hunger und der Armut in ihrer Heimat entkommen waren, hatten kein Interesse daran, ihren Arbeitsplatz und damit ihre Lebensgrundlage durch Protestdemonstrationen und Streiks aufs Spiel zu setzen und mieden den klassenkämpferischen Widerstand. Die religiösen und kulturellen Differenzen zwischen den ethnischen Gruppierungen ließen nicht jenes Mindestmaß an Solidarität aufkommen, das für gemeinsame Aktionen notwendig gewesen wäre. 30 Den großen irischen Einwandererwellen folgten in den 1870er Jahren eine frankokanadische. Mit dem Niedergang der Landwirtschaft in Quebec flüchteten Massen von Arbeitslosen in die Industriegebiete des benachbarten Neuengland. Um die Jahrhundertwende lebten in Lowell über 14 000 frankokanadische Arbeiter samt Familien-- ca. 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie hausten im überfüllten Elendsviertel von Little Canada und auch sie wurden von den Einheimischen sowie den inzwischen integrierten Iren angefeindet. Sie gründeten wie die Iren vor ihnen katholische Kirchengemeinden, Heimatvereine und Schulen und pflegten ihr Volkstum. 31 Mit der Zuwanderung weiterer ethnischer Gruppierungen-- vor allem Portugiesen, Griechen, Polen und Italiener-- erreichte die Stadt im frühen 20. Jahrhundert ihre größte multikulturelle Vielfalt. Um die Jahrhundertwende stammten nur noch zehn Prozent der Einwohner von Yankee-Eltern ab, so dass die zahlenmäßige Überlegenheit der Zugewanderten in der Lokalpolitik eine zentrale Rolle zu spielen begann. 1882 wurde erstmals ein Ire zum Bürgermeister von Lowell gewählt. Dennoch entwickelte sich die Stadt in der Folge nicht zu einem melting pot, sondern blieb ein Konglomerat verfeindeter Gruppierungen, die sich vor allem der eigenen ethnischen Identität und ihrem überkommenen Brauchtum verpflichtet fühlten. Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden die heruntergekommenen neighborhoods von der Bildfläche und machten neuen öffentlichen Gemeindebauprojekten Platz. Heute erinnern Denkmäler, Gedenktafeln und alte Friedhöfe an vielen Stellen der Stadt an die konfliktreiche ethnische Vergangenheit. 32 <?page no="265"?> 264 Lowell Lowells Fabriken konnten sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs einigermaßen über Wasser halten, dann setzten in den Jahrzehnten danach massive Auflösungserscheinungen ein. Schon 1912 löste ein Generalstreik eine gewaltige Erschütterung aus, als die Arbeiterschaft eine Lohnsteigerung von 10 Prozent durchsetzen konnte. Immer mehr Fabriken schlossen daraufhin ihre Tore oder verlagerten sich in die Südstaaten, wo kürzere Anlieferwege für die Rohmaterialien, billigere Arbeitskräfte und niedrigere Steuern größere Profitraten versprachen. In der Depressionszeit der 1930er Jahre kam die Textilproduktion in Lowell vollends zum Erliegen. Die von den Fabrikschließungen verursachte Arbeitslosigkeit führte zu Verarmung und Hungersnöten und schließlich zur Abwanderung zehntausender Einwohner. Während des Zweiten Weltkrieges kam es durch den Massenbedarf an Uniformen und militärischer Ausrüstung noch einmal zu einem kurzen Aufleben einzelner Fabriken, bevor nach Kriegsende endgültig eine massive Entindustrialisierung einsetzte. In den 1950er Jahren wurden die letzten Fabriken geschlossen und das Schicksal Lowells schien besiegelt. Die leer stehenden Fabriken waren dem Verfall preisgegeben und die ausgediente Industriestadt drohte zur Geisterstadt zu werden. Fabrikanlagen wurden geschleift und Zufahrtsstraßen aufgelassen, so dass weite Teile Lowells einer vom Bombenkrieg heimgesuchten Stadt glichen. Das Urban Renewal-Programm der 1960er Jahre bildete die traurige Endphase dieses Prozesses. Alle noch vorhandenen Fabrikgebäude, Schornsteine, Boarding Houses, Bahnlinien, Brücken und Schleusenanlagen sollten abgerissen und die nicht mehr gebrauchten Kanäle zugeschüttet werden, um auf den frei gewordenen Flächen neue Wohngebiete zu errichten. Die Rettung vor diesem Desaster kam am Ende der 1960er Jahre von einer Gruppe engagierter Bürger. Angesichts der drohenden Gefahr fassten sie den Beschluss, das restliche Erbe der alten Fabrikstadt vor dem völligen Untergang zu bewahren und museal zu verwerten. 33 <?page no="266"?> Lowell 265 Der Lowell National Historical Park als sozialgeschichtliches Experiment Unter Leitung des Sozialpädagogen Patrick J. Mogan setzten sich Städteplaner, Architekten, Historiker, Politiker, Soziologen, Geschäftsleute und Banker an einen Tisch und schmiedeten Pläne zur Revitalisierung der Stadt in Form eines industriellen Themenparks. 1972 gelang es ihnen nach zähen Verhandlungen, die Stadtverwaltung zur Zustimmung zu diesem Projekt zu bewegen. 1978 L U C Y L A R C O M P A R K E A S T E R N C A N A L PA R K Boott Mills Trolley Stop Visitor Center Trolley Stop Suffolk Mill Trolley Stop PARKING GARAGE PARKING GARAGE PARKING GARAGE PARKING GARAGE VISITOR PARKING Tsongas Industrial History Center Lowell Historical Society Center for Lowell History Lowell High School Old Central Market Bon Marche Building Lowell Memorial Auditorium Middlesex Community College Hotel Entrance to visitor parking 304 Dutton Street City Hall Pollard Memorial Library Civic Center Holy Trinity Church Tsongas Center New England Quilt Museum National Streetcar Museum at Lowell American Textile History Museum Whistler House Museum of Art St. Anne’s Church Old City Hall R i v e r w a l k l k MOODY STREET FEEDER GATEHOUSE Moody Street Feeder (underground water tunnel) LOWER LOCKS SWAMP LOCKS TREMONT GATEHOUSE AND POWER HOUSE L P A W T U C K E T C A N A L H A M I L T O N C A N A L E A S T E R N C A N A L W E S T E R N C A N A L M E R R I M A C K C A N A L Market Street Jackson Street Church Street George Street Law Middlesex Street Warren St Central Street Central Street Gorham Street treet Shattuck St John St Bridge St Bridge Street Arcand Drive Prescott St Paige St Lee St Kirk St French St Middle St Merrimack St East Merrimack Street Hall Street Perkins Street Moody Street Merrimack Street Market Street Broadway St Hanover Street Suffolk Street Dummer Street Worthen St Dutton Street Suffolk Street Lewis Street Aiken Street et Veterans of F oreign Wars Highway Palmer St elevation 69 feet x M E R R I M A C K R I V E R C O N C O R D R I V E R C E N T R A L V I L L E SITE OF TREMONT MILLS S I T E O F M I L E O F M I L L S SITE OF MERRIMACK MILLS SITE OF PRESCOTT MILLS SITE OF MIDDLESEX MILLS SITE OF LOWELL MACHINE SHOP (formerly LOWELL MILLS) INDUSTRIAL CANYON (formerly SUFFOLK MILLS) LAWRENCE MILLS BOOTT MILLS APPLETON MILLS HAMILTON MILLS MARKET MILLS WANNALANCIT MILLS Boott Cotton Mills Museum Visitor Center Railroad Exhibit Agents House Park Headquarters Transformed Exhibit Mill Girls and Immigrants Exhibit Mogan Cultural Center Jack Kerouac Commemorative Boarding House Park 133 38 Wegeplan des Lowell National Historical Park <?page no="267"?> 266 Lowell beantragte der aus Lowell gebürtige US-Senator Paul Tsongas im amerikanischen Kongress die Gründung eines Nationalparks und konnte sich damit durchsetzen. Eine Lowell Historic Preservation Commission formierte sich, und in der Boomzeit der frühen 1980er Jahre schritten die Restaurierungs- und Revitalisierungsarbeiten zügig voran. Alles was nach Entindustrialisierung und Urban Renewal übrig geblieben war, wurde in die Planungen einbezogen. Begonnen wurde mit dem alten Stadtzentrum, obwohl dieses gegenüber den monumentalen Fabrikanlagen nur ein Nebenprodukt der Industrialisierung war. Einige erhaltenswerte Gebäude wurden restauriert, etwa die Old Guildhall aus dem Jahr 1830 und die 1825 erbaute neugotische St. Anne’s Church, wo die Mill Girls einst den sonntäglichen Gottesdiensten beiwohnten. Auch der Wunsch der Nachfahren, Reste der ehemaligen irischen, frankokanadischen und anderer neighborhoods zu bewahren wurde berücksichtigt. Alte hydraulische Anlage im Pawtucket Gate House <?page no="268"?> Lowell 267 In einem weiteren Schritt nahm man die Restaurierung von Flussabschnitten, Kanälen, Schleusenanlagen und Stahlbrücken, die in seiner Gesamtheit eine Art Inselarchipel bilden, in Angriff. An der sich über sechs Meilen erstreckenden äußeren Kanalschleife (outer loop), wurde vor allem die 1846 aus Backstein erbaute Schleusenanlage des mächtigen Pawtucket Gate House als größte Baustruktur des Kanalsystems instand gesetzt. Sie regulierte die Wasserzufuhr zum Northern Canal mittels hydraulisch betriebener, heute noch intakter Schleusen, während die Lower Locks am anderen Ende des Kanals das sechs Meter hohe Gefälle zum Concord Canal ausglichen. Wie die Wasserkraft von den Kanälen in die Maschinenanlagen der Fabriken geleitet wurde, zeigt das Suffolk Mill Turbine Exhibit, wo die ursprüngliche Anlage mit einem überdimensionierten Wasserrad und 400 kg schweren Antriebsriemen aus Leder erhalten geblieben ist. Leider wurde das ehemalige Machine Shop, das im 19. Jahrhundert die Wasserräder, Turbinen und mechanischen Apparaturen der Fabriken sowie die erste Dampflokomotive der USA produzierte, in den 1930er Jahren geschleift. Ein Rundgang im Bereich der inneren Schleife (inner loop) entlang der Kanäle und Fabrikanlagen im Zentralbereich des Nationalparks ist ein eindrucksvolles Erlebnis. Die langgezogenen, dicht verbauten Fabrikreihen aus Backstein mit ihren schwarzen Fensterhöhlen, hoch aufragenden Schloten und Glockentürmen sind von dramatischer Wucht. Besonders die Fabriken entlang dem Merrimack River und der schluchtartige Industrial Canyon zwischen den Appleton- und Hamilton-Komplexen vermitteln die Grandiosität einer vergangenen Fabrikanlagen <?page no="269"?> 268 Lowell industriellen Vision und ihr Scheitern. Am Ausgangspunkt des Rundgangs bietet das im Visitor Center untergebrachte Museum eine hervorragende Gesamtdarstellung der Technologie, der wirtschaftlichen Entwicklung und des multikulturellen und sozialen Spektrums der Textilfabriken. Ein weiteres sehenswertes Museum ist das Patrick J. Mogan Cultural Center, das vor allem eines der ehemaligen Boarding Houses beherbergt. Der 1836 errichtete Wohnblock, in dem die Mill Girls untergebracht waren, ist der letzte erhalten gebliebene Gebäudekomplex dieser Art. Die Wohn- und Schlafräume der Frauen, der Speisesaal, die Küche, die Verwaltungs- und Aufenthaltsräume sind mit Einrichtungen aus der Gründerzeit ausgestattet. Die Zimmer, in denen jeweils sechs Mädchen samt ihren Habseligkeiten wohnten, veranschaulichen deren extrem beengte Lebensverhältnisse. Eine lebendige Audiopräsentation von Gesprächen lassen den Besucher deren Alltag unmittelbar nacherleben. Das Obergeschoss des Gebäudes ist der sozialen und ethnischen Welt der Immigranten gewidmet. Die verschiedenen Gruppierungen, von den frühen irischen und franko-kanadischen Einwanderern über die Portugiesen bis zu den späteren Kambodschanern und Vietnamesen sind mit eigenen Schauräumen vertreten. Videofilme informieren über die Herkunftsländer und die Lebensumstände der Zugewanderten, wobei Sonderausstellungen es den ethnischen Vertretungen ermöglichen, ihre historische und kulturelle Vergangenheit aus eigener Sicht vorzustellen. 34 Das bedeutendste Objekt des Nationalparks ist das 1992 eröffnete Boott Cotton Mills Museum in der alten zwischen 1836 bis 1838 erbauten Werkanlage am Merrimack River. Die fünf Stockwerke hohen Gebäude aus Backstein mit ihren hoch aufragenden Türmen und Schornsteinen sind nicht nur das eindrucksvollste Beispiel von Lowells historischer Fabrikarchitektur, sondern auch das besterhaltene frühe Industrieensemble der USA. In den 1840er Jahren arbeiteten in der Fabrik über 2000 Mill Girls an insgesamt 4000 Spinn- und Webmaschinen und produzierten jährlich an die 10 Millionen Laufmeter Baumwollstoffe. Das Prunkstück des Museums ist ein sorgfältig restaurierter, voll ausgestatteter Werk- <?page no="270"?> Lowell 269 saal mit 100 laut ratternden mechanischen Webmaschinen. Mit etwas Phantasie können sich die Besucher die Plackerei der Mill Girls, den Lärm und die schlechte Luft vorstellen sowie an Modellmaschinen ihre Handgriffe nachvollziehen. Weitere Ausstellungssäle informieren mit reichhaltigen Exponaten, audiovisuellen Darstellungen und Wechselausstellungen zu ausgewählten Themen über die Geschichte, die führenden Gründerpersönlichkeiten und die industrielle Arbeitswelt Lowells. Ein exzellenter, mit Büchern und Anschauungsmaterial gut ausgestatteter Museumsshop lädt zu weiterer Vertiefung ein. Lowells Beitrag zur Kulturgeschichte der USA Der Lowell National Historical Park ist ein für die USA einzigartiges Mustermodell der Wiederbelebung einer alten Industriestadt und zieht alljährlich zehntausende sozialgeschichtlich interessierte Besucher an. Er bietet nicht nur einen lebendigen Einblick in die Geschichte der Stadt, sondern dokumentiert darüber hinaus die ganze Bandbreite industrieller, soziopolitischer und multikultureller Entwicklungen vom Beginn der Industriellen Revolution bis in die Gegenwart. 35 Im Gegensatz zu anderen amerikanischen Nationalparks ist das Areal nicht nach außen abgegrenzt, sondern Teil einer noch immer intakten Stadt. Die Grenzziehungen zwischen musealer und realer Lebenswelt sind fließend und für den Besucher kaum wahrnehmbar. Um ein derartig komplexes Projekt zu realisieren, mussten die Gründer zuvor ein differenziertes Gesamtkonzept entwickeln. Auf Grund widersprüchlicher politischer, ideologischer und ethnischer Ausgangspositionen war dies weit schwieriger, als ursprünglich angenommen. Eine grundlegende weltanschauliche Diskussion im Spannungsfeld zwischen Kapitalismus, Arbeiterbewegung, Multikulturalismus und Feminismus war notwendig, um konservative, progressive und ethnische Werthaltungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Meinungen über die künftigen Zielsetzungen des Parks gingen so weit auseinander, dass es Jahre brauchte, <?page no="271"?> 270 Lowell sie einigermaßen zu koordinieren. Einig war man sich lediglich in der Überzeugung, dass das einzigartige industrielle Ensemble nicht einer radikalen Stadterneuerung zum Opfer fallen durfte und dass das, was davon übrig geblieben war, erhalten, restauriert, revitalisiert, didaktisch aufgearbeitet und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden musste. Fünf zentrale Themenkreise standen im Mittelpunkt der Diskussionen: die Grundvoraussetzung der Wasserkraft und ihrer Verwertung, die technologischen Entwicklungen, der wirtschaftliche Einsatz von Kapital, die sich verändernden Arbeitsbedingungen und das Entstehen einer multikulturellen Stadt. Über die technologischen Aspekte war man sich bald einig und der erwähnten Wiederherstellung der vorhandenen Kanäle, Schleusen- und Turbinenanlagen sowie auch von Teilen der mechanischen Web- und Spinnanlagen stand nichts im Wege. Wesentlich schwieriger zu bewältigen waren die ideologischen, politischen und sozialen Konfliktbereiche und man musste mit größter Bedachtsamkeit vorgehen. Die Kulturgeschichtler und Heimatkundler waren überzeugt, dass Lowells ursprüngliches Bemühen um ein menschenwürdiges, auf moralischen Grundsätzen basierendes Industrieprojekt im Mittelpunkt stehen müsste. Die paternalistisch behüteten Mill Girls, ihre Bildungsbemühungen und religiösen Bindungen sollten als leuchtendes amerikanisches Vorbild gegenüber der proletarischen Verelendung in Europa hervorgehoben werden. Die liberalen und progressiven Historiker und Soziologen verwehrten sich gegen die schönfärberische Glorifizierung eines im Grunde ausbeuterischen Systems und wollten die negativen Aspekte und Folgen der industriellen Maschinerie mit einbeziehen. Das Scheitern der ursprünglichen Bemühungen, der kapitalistischen Logik von Effizienzsteigerung, Profitmaximierung, Lohn-Dumping und der skrupellosen Ausbeutung von Arbeitskraft auf Dauer ein wirksames, auf Gemeinwohl ausgerichtetes Konzept entgegenzustellen, sollte im Mittelpunkt stehen. Gemäßigtere, eher kommerziell ausgerichtete Gruppen wollten Konfliktstoffe und ideologische Polarisierungen möglichst vermeiden, um den amerikanischen Normalbesucher und Steuerzahler nicht vor den Kopf zu stoßen. 36 <?page no="272"?> Lowell 271 Die schwerwiegendsten Einwände gegen das ursprüngliche Konzept eines Nationalparks kamen jedoch von Lowells größtem Bevölkerungsanteil, den Nachfahren der ethnischen Minderheiten. Sie hielten die kurze Phase der Mill Girls für relativ bedeutungslos und lehnten darüber hinaus jede Form politischer und ideologischer Vereinnahmung ab. Sie konnten weder der idealisierenden Darstellung des Yankee-Kapitalismus noch der radikalen marxistischen Kritik viel abgewinnen. Die Hauptaufgabe des künftigen Nationalparks sahen sie in der Darstellung der multikulturellen Erfahrungen und Lebensweisen der verschiedenen ethnischen Arbeitergruppen-- die Herkunft der eingewanderten Vorfahren, ihre Ankunft in der Neuen Welt, ihre Arbeitsbedingungen und alltägliche Lebensrealität sowie nicht zuletzt ihr kulturelles Erbe. Patrick J. Mogan setzte seine ganze Kraft ein, die verschiedenen Ansätze und Vorschläge unter einen Hut zu bringen. In einem Museumszentrum wollte er die Konflikte, Spannungen und Widersprüche zur Diskussion stellen und gleichzeitig das Verbindende und Positive hervorheben. Die Rückbesinnung auf das gemeinsame industrielle Erbe, die enge Verknüpfung von Arbeits- und Immigrationsgeschichte sowie die Aussöhnung zwischen den ethnischen Gruppen bildeten schließlich die Grundlage für den Konsens, der am Ende aus dem langen Denk- und Planungsprozess hervorging. Was heute den Lowell National Historical Park von anderen Technologie- und Industriemuseen in den USA wohltuend unterscheidet, ist, dass er die üblichen ideologischen Mythisierungen sowie die populäre Heroisierung technischer Hochleistungen und wirtschaftlicher Mega-Erfolge bewusst hintanstellt und stattdessen eine kommunikative und interaktive Präsentation von Vielfältigem und Divergentem, Positivem und Negativem realisiert. „Oral History“, d. h. audiovisuell wiedergegebene Reden, Diskussionen, politische Kontroversen oder Interviews mit Zeitzeugen bildet einen der Schwerpunkte des Museums. Eine kontroversielle Debatte zwischen Thomas Jefferson und Alexander Hamilton über die Zukunft der USA als Agrar- oder Industriestaat oder der Protest der Frauen gegen Ausbeutung dürfen dabei ebenso wenig fehlen wie erregte Auseinandersetzungen zwischen Indus- <?page no="273"?> 272 Lowell triebossen und streikenden Arbeitervertretern oder das aggressive Aufeinanderprallen von eingesessenen Yankee-Bürgern und Immigranten. Ein reiches Angebot an Analysen, Interpretationen und Vergleichen mit der Gegenwart-- auch in Form von Workshops und Seminaren-- ermöglichen einen kritischen und vielschichtigen Umgang mit der industriellen Vergangenheit. Mogans museumspädagogische Zielsetzung, die Besucher zu eigenständigen Schlussfolgerungen zu befähigen, haben den Park und seine Museen zu einer vorbildhaften nationalen Lernschule werden lassen. Es gibt kein anderes industriegeschichtliches Museum in den USA, das wirtschafts- und sozialpolitische Informationen und Probleme so umfassend und fundiert an die Öffentlichkeit heranträgt wie der Lowell National Historical Park. Er vermittelt einen tiefen Einblick in die historische Vormachtstellung, die das industrielle Neuengland im 19. Jahrhundert einnahm und in der Folge die USA insgesamt nachhaltig beeinflusste. <?page no="274"?> Hartford 273 9. Hartford - Mark Twain als Connecticut Yankee Wie Mark Twain nach Neuengland kam Z u den herausragenden Erinnerungsorten Neuenglands gehören auch die Heimstätten berühmter Dichter und Schriftsteller. Einige davon-- die Häuser von Emerson, Alcott, Thoreau, Hawthorne und Melville-- wurden in den vorangegangenen Kapiteln erörtert. Das vorletzte Kapitel dieses Buches richtet den Fokus auf das Mark Twain-Haus in Hartford, Connecticut. Es ist das gediegenste und populärste Schriftsteller-Domizil Neuenglands und veranschaulicht darüber hinaus die wichtige, widersprüchliche und am Ende überaus kritische Rolle, die Twain in der Kultur- und Literaturgeschichte der Region spielte. Dabei war der ruppige Westerner aus Missouri ursprünglich alles andere als ein Neuengländer. Nach seiner Kindheit und Jugend an der damaligen Frontier am Mississippi und seinen schriftstellerischen Experimentierjahren in Nevada und Kalifornien entschied er sich 1866 für Neuengland als Wahlheimat. 1868 kam er zum ersten Mal nach Hartford, um mit dem Verleger Elija Bliss die Herausgabe seines ersten Romans The Innocents Abroad zu arrangieren. Er war Gast von Isabella Beecher Hooker, der Schwester der berühmten Autorin Harriet Beecher Stowe, im noblen Wohnpark Nook Farm am Ostrand der Stadt. Twain war vom bildungsbürgerlichen Flair dieses Ambientes so begeistert, dass er beschloss, sich dort niederzulassen, sobald die erforderlichen finanziellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben waren. Drei Jahre später erreichte er dieses Ziel. Als vielversprechender junger Autor und frisch gebackener Ehemann einer Millionärstochter mietete er sich in Nook Farm ein. Hartford konnte damals im Gegensatz zu den großen Kulturmetropolen von Boston, New York oder Philadelphia weder auf eine <?page no="275"?> 274 Hartford spektakuläre Geschichte noch auf herausragende Kulturleistungen zurückblicken. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren Pelzhändler aus der benachbarten holländischen Kolonie New Netherland in das waldreiche Connecticut Valley eingedrungen, bevor sie von zuwandernden puritanischen Dissentern aus Massachusetts verdrängt wurden. Der Theologe Thomas Hooker gründete 1636 die Kolonie Connecticut, die 1662 mit jener von New Haven zusammengelegt wurde. In seinem Regierungssitz Hartford schuf Hooker die erste schriftliche Kolonialverfassung (Fundamental Orders), die in ihrer Betonung demokratischer Grundrechte später zum Vorbild anderer amerikanischer Verfassungen wurde. Im Juli 1776 erklärte Connecticut als erste Kolonie seine Unabhängigkeit von Großbritannien und trat 1788 als fünfter Bundesstaat in die Vereinigten Staaten ein. Hartfords Wahrzeichen, das stattliche, vom Bostoner Architekten Charles Bulfinch erbaute Old State House mit seiner goldenen Kuppel geht auf diese Zeit zurück. 1 „The Land of Steady Habits“-- das Land fester Gewohnheiten-- wird Connecticut im Volksmund genannt. 2 Seine Bevölkerung ist seit jeher wohlhabend, pragmatisch und weltläufig. Sein wichtigstes kulturelles Aushängeschild ist die renommierte Yale University, die 1701 gegründet und 1716 in New Haven etabliert wurde. Als zweitälteste Ivy League- Universität Neuenglands macht sie mit ihren 13 eigenständigen Colleges, hervorragenden Bibliotheken und Museen seit jeher Harvard Konkurrenz. Die 1832 gegründete Yale University Art Gallery ist das älteste universitäre Kunstmuseum der USA und heute in einem modernen Bau des großen Architekten Louis I. Kahn untergebracht. Der ehrwürdige, dennoch als liberal geltende Campus mit seinen efeuumrankten georgianischen und neugotischen Gebäuden zieht Elitestudierende aus aller Welt an. Vor allem aus der berühmten Yale Law School sind etliche US-Präsidenten, Höchstrichter und andere illustre Führungspersönlichkeiten hervorgegangen. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wurde Connecticut von dem damals in den USA grassierenden Spekulations- und Industrialisierungsfieber erfasst. Textil-, Leder- Maschinen- und Waffenindustrien siedelten sich an und machten zusammen mit <?page no="276"?> Hartford 275 Banken, großen Versicherungsgesellschaften und Verlagshäusern Hartford eine Zeit lang zur reichsten Stadt der USA. Neben Eli Whitney, dem Erfinder der Baumwollerntemaschine (cotton gin), gehörte der Waffenproduzent Samuel Colt zu den herausragenden Unternehmern. Seit sich an der Westseite des Connecticut River im Lauf der Zeit wohlhabende New Yorker Geschäftsleute als Einpendler in schmucken Häusern ansiedelten, um nach dem harten Business in der Großstadt das idyllische Landleben zu genießen, wird Connecticut oft das „Schlafzimmer New Yorks“ genannt. Nirgendwo zeigt sich der Charme Neuenglands-- eine Mischung aus gehobener Mittelklasse und rustikaler Beschaulichkeit-- eindrucksvoller als in den kleinen, ursprünglich auf die Kolonialzeit zurückgehenden Orten wie Litchfield oder Wethersfield mit ihren weißen Kirchen, grünen Commons und gediegenen Landvillen. Weitere Gründe, warum sich Twain für die damals nur 35 000 Einwohner zählende Stadt als Wohnsitz entschied, lassen sich aus seinem persönlichen Werdegang herleiten. Samuel Langhorne Clemens, wie sein bürgerlicher Name lautet, wurde 1835 in Florida, Missouri, geboren. Die aus Tennessee zugewanderte Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen und übersiedelte 1839 in die am Mississippi gelegene aufsteigende Provinzstadt Hannibal, wo der Vater eine Stelle als Friedensrichter bekommen hatte. Nach seinem frühen Tod mussten die beiden ältesten Söhne für den Lebensunterhalt der fünfköpfigen Familie sorgen, so dass für eine gründliche Schulausbildung weder Zeit noch genug Geld vorhanden war. Twain erlernte den Beruf eines Schriftsetzers, arbeitete mehrere Jahre in Druckereien in St. Louis, bildete sich autodidaktisch durch Bücherlesen weiter und schrieb Beiträge für lokale Zeitungen. Am Ende dieser Lebensphase ließ sich Twain auf einem Mississippi-Dampfschiff zum Lotsen und Steuermann ausbilden und befuhr zwei Jahre lang auf einem Raddampfer den großen Strom. Der Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs und die drohende Einberufung in den Militärdienst beendeten diesen Lebensabschnitt. 3 1861 folgte Twain seinem älteren Bruder Orion nach Nevada, wo dieser von Präsident Lincoln mit einem politischen Amt betraut <?page no="277"?> 276 Hartford worden war. Nach einem gescheiterten Versuch als Prospektor in der Silberboom-Stadt Virginia City arbeitete Twain als Zeitungsreporter für eine lokale Zeitung und von 1864-1866 als Journalist in San Francisco. In diese Zeit fallen seine ersten schriftstellerischen Versuche. Er schrieb humorige Westerzählungen für Wochenzeitungen, die beim Lesepublikum gut ankamen, und legte sich den Künstlernamen Mark Twain zu-- ein Mississippi-Lotsenausdruck für zwei Faden (= 3,75 m) navigabler Wassertiefe. Aus dem Umstand, dass Twain seinen ursprünglichen Namen im privaten Bereich zeitlebens weiter verwendete, konstruierten Biographen und Literaturkritiker später eine schillernde Doppelexistenz, in der Clemens seine normalbürgerliche Identität hinter einer nach außen präsentierten künstlerischen Persona verbarg. 4 Seinen ersten großen schriftstellerischen Erfolg erzielte Twain 1865 mit der in einem kalifornischen Goldgräber-Camp spielenden Story „The Notorious Jumping Frog of Calaveras County“ (dt. Twains legendärer „Jumping Frog“ Twain als Vortragender <?page no="278"?> Hartford 277 „Der berühmte Springfrosch von Calaveras“). Ein Westoriginal namens Jim Smiley zieht darin ein Greenhorn von der Ostküste über den Tisch, indem er bei der Wette über einen Froschwettlauf den gegnerischen Frosch mit Schrotkörnern auffüllt. Die im Western Slang erzählte Selbstcharakterisierung des kauzigen Ich-Erzählers ist als Musterbeispiel von Twains sarkastischem Humor in die Literaturgeschichte eingegangen. Die angesehene New York Saturday Press und andere Zeitungen übernahmen die Geschichte und etablierten Twains nationalen Ruf als brillanten humoristischen Erzähler. Nach dem Vorbild des erfolgreichen Humoristen Artemus Ward, den Twain in Virginia City kennengelernt hatte, verlegte er sich ebenfalls auf Podiumsveranstaltungen (platform performances) und heimste als witziger Alleinunterhalter fulminante Publikumserfolge ein. Mit seinem trockenen deadpan-Humor, d. h. einer südstaatlich schleppenden, mit todernster Miene und häufigen Sprechpausen vorgetragenen Erzählweise, konnte er seine Zuhörer zu Lachsalven hinreißen. 5 Als Twain 1866 dem Westen den Rücken kehrte, übernahm er zunächst in New York die Stellung eines Korrespondenten für die kalifornische Zeitung Alta California. Sein erster größerer Auftrag war die serienmäßige Berichterstattung über eine Reise respektabler Kirchenleute auf dem ausgemusterten US-Kriegsschiff Quaker City nach Europa und Palästina. Nach seiner Rückkehr fasste Twain die in Briefform abgefassten Artikel zu einem Episodenroman zusammen und veröffentliche diesen 1869 unter dem Titel The Innocents Abroad (dt. Die Arglosen im Ausland). Die Schilderung der biederen Yankees auf ihrer Reise in die Alte Welt und die parodistischen Episoden, die sich daraus ergeben, wurden zu einem ungeheuren Verkaufserfolg. Twains doppelbödige Satire richtete sich nicht nur gegen die monarchische, aristokratische und klerikale Rückständigkeit Europas, sondern gleichzeitig auch gegen die Naivität und den Fortschrittsdünkel seiner amerikanischen Zeitgenossen und ihre Respektlosigkeit gegenüber der europäischen Kultur. In einer Zeit, als Reisen nach Europa und ins Heilige Land in den USA in Mode waren, konnte Twains schalkhaftes Spiel mit transatlantischen Stereotypen zu einem Bestseller werden. Twain <?page no="279"?> 278 Hartford hatte den Durchbruch zum national und international anerkannten, finanziell unabhängigen Schriftsteller geschafft und genoss den neuen Status in vollen Zügen. 6 Auf der Europareise lernte Twain den Sohn einer liberalen und kultivierten Minenbesitzer- und Millionärsfamilie aus Elmira, New York kennen, der ihn nach der Rückkehr seiner Schwester Olivia Langdon vorstellte. Twain verliebte sich Hals über Kopf in die anmutige und gebildete junge Frau und machte ihr mehrere Heiratsanträge. Die Eltern hatten zunächst Bedenken gegen die Verbindung ihrer Tochter mit dem ungeschliffenen Originalgenie aus dem Westen, und auch Olivia brauchte lange Zeit für ihr Jawort. Eineinhalb Jahre lang warb Twain um ihre Hand. In hunderten von Briefen bekannte er sich als reuiger Sünder, der bereit war, in Zukunft einen gutbürgerlichen und christlichen Lebenswandel zu führen und kam damit schließlich ans Ziel. 7 1870 heirateten die beiden und lebten zunächst 15 Monate lang in Buffalo, wo der Schwiegervater ihnen ein standesgemäßes Haus und Twain eine Herausgeberposition bei einer lokalen Zeitung verschafft hatte. Olivia gebar einen Sohn, den sie nach ihrem inzwischen verstorbenen Vater Langdon nannte. Im Jahr darauf übersiedelte das junge Paar nach Hartford und mietete sich für zwei Jahre in Nook Farm ein. Mit dem Eintritt in das gentile, prestige- und luxusbewusste Gesellschaftsleben von East Hartford war Twain dem Lebensziel, das er sich gesetzt hatte, zum Greifen nahe. Biographen und Literaturkritiker haben über Twains kometenhaften Aufstieg viel geschrieben und dabei nicht mit Kritik gespart. Vor allem Van Wyck Brooks beschreibt in The Ordeal of Mark Twain als erfolgreicher Autor (1883) <?page no="280"?> Hartford 279 Twain (1920) Twains Heirat und Übersiedlung nach Hartford als die größte Fehlentscheidung seines Lebens. 8 Mit dem Eintritt in einen neuen, ihm nicht gemäßen Lebensstil, so argumentiert Brooks, opferte er seine künstlerische Vitalität und verspielte damit die Chance, Amerikas größter Schriftsteller zu werden. Das hemmungslose Streben nach materiellem Erfolg, gesellschaftlicher Anerkennung und Luxus hätte seine Integrität als Schriftsteller beschädigt und die pessimistische Verbitterung seiner späten Jahre vorprogrammiert. Wie die folgenden Ausführungen zu zeigen versuchen, geht diese plakative Verurteilung an der komplexeren Realität vorbei. Nook Farm Um 1870 war das Nobelviertel Nook Farm am Ostrand von Hartford ein zu einem kleinen Fluss leicht abfallendes Parkgelände mit altem Baumbestand und einer Zufahrtsstraße für Kutschen. Die darin verstreuten Wohnhäuser waren viktorianische Luxusvillen auf großen Grundstücken, die zaun- und heckenlos ineinander übergingen. Hier wohnte die betuchte Bildungselite der Stadt. Ihren ursprünglichen Kern bildeten die Gründerfamilien der Hookers und die Pastorendynastie der Beechers bzw. deren Nachfahren. Sie waren durch verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden und spielten im politischen und gesellschaftlichen Leben Connecticuts eine wichtige Rolle. Später ergänzten diese Nachbarschaft zugezogene Verleger, respektable Geschäftsleute, Zeitungsherausgeber, Versicherungsunternehmer, Rechtsanwälte, Ärzte, Politiker, Professoren und Schriftsteller. Auch die berühmten Schauspieler William Gillette und später Katharine Hepburn wuchsen hier auf. Die anfänglich von den Hookers und Beechers geprägte puritanische Lebensweise war zu dem Zeitpunkt, als Twain diese gesellschaftliche Szene betrat, schon vorbei. An ihre Stelle war eine persönlich geprägte, liberale und weltoffene Grundhaltung getreten, der vor allem der Hartforder Theologe Horace Bushnell den Weg bereitet hatte. 9 <?page no="281"?> 280 Hartford Bushnell hatte 1833 seinen berühmten puritanischen Vorgänger Lyman Beecher als Hauptpastor an der Congregational Church in Hartford abgelöst. In seinen Predigten und brillant geschriebenen Büchern, vor allem in seinem Hauptwerk Christian Nurture (1847), wandte er sich gegen die kalvinistische Doktrin und proklamierte eine tolerante, auf praktischer Nächstenliebe basierende Religiosität. Unter seinem Einfluss rebellierten die Töchter und Söhne Beechers gegen die orthodoxe Enge ihres Vaters. Einer der Söhne, Thomas Beecher, war ein sozial engagierter und politisch progressiver kongregationalistischer Pastor in Elmira und schon zu Olivias Jugendzeit ein persönlicher Freund der Langdon Familie. In unmittelbarer Nachbarschaft der Twains wohnte Harriet Beecher Stowe, die mit ihrem Aufsehen erregenden Anti-Sklaverei-Roman Uncle Tom’s Cabin (1852) eine treibende Kraft in der Abolitionsbewegung Neuenglands war. Ihre ältere Schwester Catherine Beecher war eine feministische Reformpädagogin, die in Hartford die erste höhere Privatschule für Mädchen gründete. Die jüngere Schwester Isabella Beecher Hooker engagierte sich leidenschaftlich als Suffragette und Frauenrechtlerin und wirbelte als langjährige Präsidentin der Woman Suffrage Association von Connecticut viel Staub auf. 10 In Nook Farm gab es weder neureiche Industriekapitäne noch engagierte Anhänger der demokratischen Partei. Aber trotz der vorherrschenden großbürgerlichen Atmosphäre war die intellektuelle Einstellung der Gemeinde liberal. Abweichende Meinungen und Verhaltensweisen, auch politische, wurden zugelassen, solange sie nicht gegen den gemeinsamen ethischen Grundkonsens verstießen. Die Bewohner waren eingebettet in ein gesellschaftliches und kulturelles Netzwerk und pflegten enge nachbarliche Beziehungen. Ihre Häuser waren in keiner Weise exklusiv und standen stets für spontane Kontakte mit benachbarten Familienmitgliedern oder Besuchern von außen offen. Informelle Gastfreundlichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber anderen gehörten zum Lebensstil. Gemeinsame Gesprächsrunden, etwa der regelmäßig abgehaltene Monday Evening Club, Dinnerparties und Feste standen auf der Tagesordnung. Viele Abende wurden mit <?page no="282"?> Hartford 281 musikalischen Vorführungen, Lesungen, Scharade-Spielen oder mit der Inszenierung privater Theaterstücke zugebracht. Twain fühlte sich wohl in diesem Umfeld Gleichgesinnter, wo er sich einbringen und geistig frei bewegen konnte. Dennoch überforderten ihn auf Dauer die hektischen gesellschaftlichen Aktivitäten. Die Angst, seine kreativen Energien zu verschwenden, zu wenig Zeit zum Schreiben zu haben und damit die hohen materiellen Ansprüche seiner Familie nicht erfüllen zu können, plagte ihn. In den Sommermonaten zog er sich regelmäßig nach Quarry Farm bei Elmira, dem Feriendomizil der Langdons, zurück, um Zeit und Ruhe für sein Schreiben zu finden. Darüber hinaus brachten ihm seine ausgedehnten Vortragsreisen geistige Anregungen und den notwendigen Tapetenwechsel gegenüber familiären und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Wie aus Twains Briefen und seiner posthum veröffentlichten Autobiographie hervorgeht, führte er mit Olivia eine harmonische und liebevolle Ehe, aus der vier Kinder hervorgingen und die bis zum Ende intakt blieb. Livy, wie er sie nannte, war keineswegs nur ein viktorianisches Anhängsel des berühmten Schriftstellers, sondern Mittelpunkt der Familie und des gesellschaftlichen Umfelds. 11 Mit ihrem dunkelbraunen, hochgebundenen Haar, ihrem gewinnenden Lächeln und ihren feinen Gesichtszügen war sie eine überaus attraktive und liebenswerte Frau, die mit ihrer starken persönlichen Ausstrahlung, Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit die Herzen aller gewann. 12 Auch in ihren religiösen und moralischen Ansichten war Olivia offen und tolerant und stellte sich nicht gegen Twains wachsenden Olivia Langdon (1872) <?page no="283"?> 282 Hartford Agnostizismus und Skeptizismus. Dem mangelnden gesellschaftlichen Schliff und den schlechten Manieren ihres „Youth“, wie sie ihn nannte, begegnete sie mit humorvoller Beharrlichkeit. Trotz ihrer etwas zerbrechlichen Konstitution führte sie kompetent den Haushalt mit seinen sieben Dienstboten, erledigte die Familienkorrespondenz und Buchhaltung, erzog und unterrichtete die Kinder in Eigenregie oder stellte Tutoren und Lehrer an. Eitelkeit und Voreingenommenheit waren ihr fremd, und in Zeiten finanzieller Sorgen, Krankheit und Tod bewährte sie sich als loyale Lebensgefährtin. Als die finanziellen Belastungen überhand nahmen und Twain wochenlange zermürbende Vortragstouren unternehmen musste, um das nötige Geld heranzuschaffen, litt sie unter dem zerrissenen Eheleben: „Ich möchte nicht, dass Du jedes Jahr so lange von mir wegbleibst,“ schreibt sie in einem Brief. „Wenn Dich die Lebensumstände dazu zwingen, dann ändern wir diese und wohnen in einem kleinen Haus mit nur einem Diener und nahe einer Wagenstation, so dass wir keine Kutsche und Pferde mehr brauchen.“ 13 Die gängige Verunglimpfung Olivias als konformistische Dame der höheren Gesellschaft, die ihren genialen Mann domestizierte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als unhaltbar. Sie nahm regen Anteil an Twains schriftstellerischen Tätigkeiten und begleitete ihn auf langen Auslandsreisen. Sie vereinigte alle Tugenden einer „gentilen“ Frau dieser Zeit-- eine Mischung aus familiärer Intimität, Bildung, Taktgefühl, Humor und Weltaufgeschlossenheit. Nach ihrem Tod widmet ihr Twain in seiner Autobiographie folgende berührende Worte: Sie war schlank und schön und mädchenhaft-- und sie war beides, Mädchen und Frau. Sie blieb beides, Mädchen und Frau, bis zum letzten Tag ihres Lebens. Unter einem ernsten, sanften Äußeren loderten unauslöschliche Feuer der Anteilnahme, Tatkraft, Hingabe, Begeisterung und eine absolut grenzenlose Zärtlichkeit. Körperlich war sie immer zerbrechlich, und sie zehrte von ihrem Geist, dessen Zuversicht und Mut unverwüstlich waren. Vollkommene Wahrhaftigkeit, vollkommene Aufrichtigkeit, vollkommene Freimütigkeit waren ihre angeborenen Charaktereigenschaften. [...] Es war eine seltsame Kombination, die durch Heirat in einem Individuum gewissermaßen verschmolz-- ihr Wesen und meins, ihr Cha- <?page no="284"?> Hartford 283 rakter und meiner. Sie verströmte ihre verschwenderische Zuneigung in Küssen, Zärtlichkeiten und in einem Vokabular von Koseworten, dessen Reichtum mich immer wieder in Erstaunen versetzte. Was Koseworte und Zärtlichkeiten anbelangt, war ich zurückhaltend zur Welt gekommen, und die ihren brachen über mich herein wie die Sommerwogen über die Felsen von Gibraltar. 14 Twain, der informelle, Zigarren rauchende und Scotch trinkende Westerner, passte sich seiner gesellschaftlichen Umgebung an, so gut er konnte. Er war keineswegs, wie oft behauptet wurde, ein künstlerischer Egomane, der sich missmutig in seinem Dachstudio von Frau, Kindern und Freunden abschottete. Er investierte viel Familienfoto auf der Porch (1885) <?page no="285"?> 284 Hartford Zeit in das familiäre und gesellschaftliche Zusammenleben, spielte mit seinen Kindern und erzählte ihnen lustige Geschichten. Neben den Nachbarn und Bekannten waren befreundete Schriftsteller wie Bret Harte, George W. Cable, Sarah Orne Jewett, Thomas Bailey Aldrich und am häufigsten William Dean Howells im Twain-Haus zu Gast. Lesungen, Vorträge oder Diskussionen über Literatur und aktuelle Themen waren die Regel. Eine besondere Beziehung pflegten die Twains mit der benachbarten Warner- Familie. In Kooperation mit Charles Dudley Warner, einem angesehenen Zeitungsherausgeber, Journalisten und Reiseschriftsteller, schrieb Twain einen satirischen Gesellschaftsroman, den sie 1873 unter dem Titel The Gilded Age (dt. Das vergoldete Zeitalter) veröffentlichten. Das melodramatische und handlungsreiche Werk, das die politische Korruption, Spekulationswut und Profitgier der Zeit nach dem Bürgerkrieg brandmarkt, stieß auf großes öffentliches Interesse. Bis heute dient der Titel als Synonym für diese Epoche. Die von Twain geschaffene, später auch dramatisierte Gestalt des Colonel Sellers, eines unverwüstlich optimistischen aber am Ende stets hereingelegten Projektemachers und Spekulanten, wurde zur populären amerikanischen Stereotype. Twains und Warners Gesellschaftskritik war weniger politisch und ideologisch als moralisch und individuell motiviert und hatte mit den zeitgenössischen sozialutopischen Experimenten in Concord und anderswo nichts gemein. Nicht das politische System als solches, sondern das charakterliche Versagen Einzelner war Zielscheibe ihrer Satire. 15 Erst gegen Ende der 1880er Jahre, als Arbeiterstreiks, gewaltsame politische Auseinandersetzungen und Gewerkschaftsgründungen die USA in Unruhe versetzten, begann sich Twain den Problemen sozialer Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu öffnen. Twains engster Freund in Nook Farm war erstaunlicherweise der kongregationalistische Pastor Joseph Twichell. Er lernte diesen schon 1868 während seines ersten Besuchs in Hartford über seinen Verleger Bliss kennen und schloss mit ihm eine lebenslange Freundschaft. Twichell traute die Twains, taufte ihre Kinder und leitete die Familienbegräbnisse. In den frühen Hartforder Jahren besuchte Twain gelegentlich seine Gottesdienste in der Asylum <?page no="286"?> Hartford 285 Hill Congregational Church, zahlte Kirchenbeiträge und beteiligte sich an Wohltätigkeitsveranstaltungen. Darüber hinaus unternahm er mit dem sportlichen, humorvollen und großzügigen Freund ausgedehnte Wanderungen in die Umgebung und führte dabei Gespräche über Religion, Literatur und Probleme aller Art. In A-Tramp Abroad (1880) setzte Twain dem Freund, der ihn 1878 auf einer sechswöchigen Wanderreise durch Süddeutschland und die Schweiz begleitete, in der Gestalt des Mr. Harris ein literarisches Denkmal. Auch in späteren Jahren, als sich Twains Agnostizismus und Skeptizismus zu nihilistischem Determinismus steigerten, tat dies der Freundschaft zwischen den beiden keinen Abbruch. 16 In den 16 Jahren- - 1874 bis 1890 -, in denen Twain mit seiner Familie in Nook Farm lebte, gingen von der intellektuellen Gemeinschaft wichtige Impulse für das Geistesleben Neuenglands aus. Nach dem Weggang oder Ableben vieler Bewohner löste sie sich allmählich auf und fand bis zur Jahrhundertwende ihr Ende. Heute ist von der einstigen parkartigen Umgebung und dem Ensemble viktorianischer Häuser nur noch wenig übrig. Die Farmington Road an der Westseite der Siedlung wurde in den 1920er Jahren zu einer verkehrsreichen Geschäftsstraße ausgebaut, und in den 1950er Jahre fiel der größte Teil der Forest Street, wo Twain wohnte, der urbanen Expansion zum Opfer. Das Warner-Haus musste 1963 der neuen Hartford Public High School weichen und die Hooker-Villa wurde in ein Apartmenthaus umgebaut. Nur die Häuser der beiden berühmtesten Bewohner-- Mark Twain und Harriet Beecher Stowe-- sind als Museen erhalten geblieben. Ein prächtiges Haus voller Leben 1872 veröffentlichte Twain Roughing It (dt. Im Gold- und Silberland), den Bericht einer Reise durch den amerikanischen Westen zwischen 1861 und 1866. In loser episodischer Form und in einer humorvoll satirischen Alltagssprache wechseln Landschafts- und Ortsbeschreibungen, Schilderungen der bunten Westgesellschaft und ihrer zum Teil bizarren Charaktere einander ab. Das populä- <?page no="287"?> 286 Hartford re Buch verkaufte sich gut und zählt bis heute zu den frühen authentischen Quellen der Westgeschichte. Der finanzielle Erfolg als Schriftsteller und das väterliche Erbe Olivias ermöglichten es den Twains, in Nook Farm ein Grundstück zu kaufen und den angesehenen New Yorker Architekten Edward T. Potter mit dem Bau eines repräsentativen Familienwohnhauses nach ihren Vorstellungen zu beauftragen. Was dabei herauskam, war eine dreistöckige viktorianische Luxusvilla aus rotbraunem, mit Ziermustern versetztem Backstein im neo-gotischen Stil. Steile Spitzdächer, hohe Kamine und Gaupen, ein achteckiger Turm mit aufgesetzter überdachter Veranda, fünf Holzbalkone und eine das Erdgeschoss umfassende Porch mit relingartigem Holzgeländer geben dem Ganzen ein bizarres Aussehen. Ein Zeitgenosse beschrieb das Äußere des Hauses treffend als eine „Kreuzung zwischen Dampfschiff, mittelalterlicher Burg und Kuckucksuhr“. 17 Als die Twains 1874 in das Haus einzogen, waren wegen der horrenden Bau- und Einrichtungskosten noch nicht alle 19 Räume Twain House in Hartford <?page no="288"?> Hartford 287 fertiggestellt. Erst 1881, als der Roman The Adventures of Tom Sawyer zu einem großen Verkaufserfolg wurde, ließ Twain das Haus vom berühmten Innenarchitekten Louis C. Tiffany und führenden Kunsthandwerkern mondän ausgestalten und mit einem Küchen- und Dienstbotenanbau erweitern. Gleichzeitig wurde die technische Ausstattung auf den neuesten Stand gebracht: Zentralheizung, Gasbeleuchtung, eine Gegensprechanlage über eingebaute Rohrleitungen, das erste private Telefon in Hartford, eine Alarmanlage, fünf Badezimmer und Wassertoiletten mit modernsten Installationen. Man betritt das Haus durch eine riesige im Neo-Tudorstil gestaltete Eingangshalle mit weißem Marmorboden, durchbrochenen, silbrig unterlegten Holzpaneelen und einer geschwungenen Freitreppe aus dunklem Eichenholz. Ein Gästezimmer, die Großküche, der Salon, das Speisezimmer und die Bibliothek befinden sich im Erdgeschoss. Das in Weinrot und Gold tapezierte Speisezimmer prunkt mit massiven Möbeln aus dunklem Nussholz und einem Eingangshalle <?page no="289"?> 288 Hartford Twains Arbeitszimmer Bibliothek <?page no="290"?> Hartford 289 mit indischen Messingtafeln gerahmten offenen Kamin. Hell und elegant ist der in Lachsfarbe und Silberdekor ausgestaltete Salon im Erdgeschoss mit seinen kostbaren Ölgemälden, Orientteppichen, Polstermöbeln, einem hohen goldgerahmten Spiegel und Olivias schwarz lackiertem Flügel. Besonders eindrucksvoll ausgestattet ist die geräumige Bibliothek, die von einem riesigen, aus dem schottischen Warwick Castle stammenden offenen Kamin beherrscht wird. Die Kamineinfassung und der mächtige Aufsatz sind mit Schnitz- und Einlegearbeiten reich verziert, und auf dem Sims ziehen exquisite Nippes, Vasen und mythische Figuren die Aufmerksamkeit auf sich. An seiner Westseite geht der Raum in einen halbkreisförmigen Glasanbau über, der den Blick in den Garten freigibt. In diesem naturigen Raum, in dessen Mitte ein mit Pflanzen überwuchertes Wasserbecken steht, hielt sich Twain besonders gern mit seinen Kindern auf. Im ersten Obergeschoss waren die Zimmer der drei Töchter, ein Studio, das Elternschlafzimmer und ein Gästezimmer für besuchende Familienangehörige untergebracht. Da diese Räume keine repräsentative Funktion zu erfüllen hatten, sind sie wohnlicher und weniger aufwändig ausgestattet. Das Studio, das als Unterrichts- und Spielraum verwendet wurde, und die beiden Kinderzimmer unterscheiden sich kaum von mittelständischen Wohnungen dieser Zeit. Nur das Elternschlafzimmer ziert ein barockes, aus Venedig importiertes massives Doppelbett mit kunstvoll geschnitzten Engelsfiguren auf gedrechselten Bettpfosten. Der Legende nach legte sich Twain oft verkehrt herum ins Bett, um sie zu betrachten. Der oberste Stock des Hauses war Twains exklusiver Bereich. Twain ließ sich ein geräumiges Billardzimmer einbauen, das ihm auch als Arbeitszimmer diente. Dorthin konnte er sich aus der Betriebsamkeit des Hauses zurückziehen und an seinem Schreibtisch bis spät in die Nacht hinein ungestört arbeiten. Nur enge Freunde und sein afro-amerikanischer Butler George Griffin, dessen Wohnraum auf der gegenüberliegenden Seite lag, durften ihm dort Gesellschaft leisten. Als die Twains ihr neues Heim einrichteten, wurde ihr Leben unvermittelt durch einen über sie hereinbrechenden tragischen <?page no="291"?> 290 Hartford Schicksalsschlag überschattet. Kurz nach der Geburt der Tochter Susy 1872 starb der kränkelnde Langdon im Alter von 19 Monaten an Diphtherie. Olivia litt über ein Jahr lang an schweren Depressionen, und auch Twains seelisches Gleichgewicht war angeschlagen. In eine ernsthafte Lebenskrise geriet er, als ihn die enormen Geldsummen, die der Hausbau und der teure Lebensstil verschlangen, erstmals an den Rand des finanziellen Ruins brachten. Obwohl er für seine Bücher und Vorträge hohe Tantiemen und Honorare lukrierte, konnte er mit seinem Lebensaufwand kaum noch Schritt halten. Um sich das Copyright für seine Bücher zu sichern und mit Vortragstouren Geld zu machen, verzog er 1873 mit seiner Familie nach England. Die Engländer liebten Twains kauzigen West-Humor und nahmen ihn begeistert auf. Da die Lebenskosten in Europa wesentlich niedriger waren als in Neuengland, konnte Twain einen Teil seiner Zahlungen tilgen. Als die Familie 1874 nach Hartford zurückkehrte und in das neue Haus einzog, folgten mehrere Jahre glücklichen Zusammenlebens und erfolgreicher schriftstellerischer Tätigkeit. Neue Freunde wurden gewonnen und zwei weitere Töchter, Clara (1874) und Jean (1880) kamen zur Welt. Die späten 1870er und 1880er Jahre waren Twains kreativste Zeit, in der er seine besten und erfolgreichsten Werke hervorbrachte. Das Haus spielte in diesem Lebensabschnitt für ihn eine zentrale Rolle. „Für uns war das Haus keine leblose Materie,“ schreibt Twain 1896 nostalgisch, „es hatte ein Herz, eine Seele und Augen, die uns sahen. Es gab uns Ermutigung, Trost und Mitgefühl. Das Haus war ein Teil von uns selbst, wir waren seine Vertrauten und lebten in seiner Gnade und von seinen Segnungen.“ 18 Wenn man heute das mit luxuriösen Möbeln und üppigem Dekor ausgestattete Gebäude besichtigt, ahnt man wenig von dem lebendigen Familienleben, das sich dort abspielte. Wie dieses aussah, geht vor allem aus Twains geheimer Autobiographie hervor, an der er bis 1905 arbeitete, die aber erst hundert Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden durfte. Zwar hielt sich Twain nicht streng an seine eigene Verfügung und ließ 1906 Auszüge in der Zeitschrift North American Review erscheinen, und auch Twains frühe Biographen griffen auf die Aufzeichnungen zurück, aber die unge- <?page no="292"?> Hartford 291 kürzte vollständige Ausgabe erschien tatsächlich erst im Jahr 2010. Twain diktierte seine Erinnerungen seiner Sekretärin in Form spontaner Gespräche und tagebuchartiger Augenblickseindrücke. Nur auf diese unchronologische, fragmentarische und vom zeitgenössischen Leser losgelöste Weise konnte er seine Gedanken und privaten Gefühle so „frei und schamlos wie in einem Liebesbrief “ (AB 36) ausdrücken. Neben Schilderungen belangloser Ereignisse, zeitgenössischer Beobachtungen und Begegnungen mit Menschen aller Art gibt die Autobiographie bislang unbeachtete, überraschend intime Einblicke in sein Privatleben. Twains besondere Liebe galt seiner intelligenten ältesten Tochter Susy. Er gestattete der scharf beobachtenden und witzigen 13-Jährigen, eine Biographie über ihn zu schreiben. Als sie 1896 im Alter von 24 Jahren starb, übernahm Twain alles, was sie über ihn geschrieben hatte, in die Autobiographie, ohne ein einziges Wort zu verändern oder die vielen Rechtschreibfehler auszubessern. Die folgenden Textausschnitte zeigen, wie liebevoll, aber auch kritisch Susy ihren Vater in all seinen Schwächen sah: Papas Erscheinung ist oft beschrieben worden, aber sehr unzutreffend. Er hat schönes graues Haar, kein bisschen zu dick und kein bisschen zu dünn, sondern genau richtig; eine römische Nase, die die Schönheit seiner Gesichtszüge noch unterstreicht; freundliche blaue Augen und einen kleinen Schnurrbart. Er hat einen wunderschön geformten Kopf und ein schönes Profil. Er hat eine sehr gute Figur-- kurzum er ist ein außerordentlich gutaussehender Mann. Alle seine Gesichtszüge sind vollkommen, außer dass er keine außerordentlichen Zähne hat. Sein Teint ist sehr hell und er trägt keinen Vollbart. Er ist ein sehr guter Mensch und ein sehr komischer. Er ist sehr aufbrausend, aber in dieser Familie sind wir das alle. Er ist der liebenswürdigste Mann, den ich je gesehen habe oder zu sehen hoffe-- und oh, so zerstreut. Er erzählt ganz entzückende Geschichten. Clara und ich haben immer jeder auf einer Armlehne seines Sessels gesessen und ihm zugehört, wenn er uns Geschichten über die Bilder an den Wänden erzählte (AB 247-248). Papas Lieblingsspiel ist Billard, und wenn er müde ist und sich ausruhen will, bleibt er die ganze Nacht auf und spielt Billard, es scheint seinem Kopf gut zu tun. Er hat den Verstand eines Autors und versteht oft die einfachsten Dinge nicht (AB 249). <?page no="293"?> 292 Hartford Papa geht nicht gern zur Kirche, warum habe ich bis vor kurzem nie verstanden; aber neulich erzählte er uns, er kann es nicht ertragen, jemanden anderen als sich selbst reden zu hören, sich selbst aber kann er stundenlang reden hören, ohne zu ermüden, natürlich sagte er das im Scherz, aber ich habe keinen Zweifel, dass es wahr ist. (AB 257) Auch Twains Ehe nimmt in der Autobiographie einen wichtigen Platz ein. Olivia stand ihm über 30 Jahre als treue Mitarbeiterin zur Seite, las seine Manuskripte, gab kritische Kommentare ab und machte stilistische Verbesserungsvorschläge, die er in der Regel berücksichtigte. Aber die Behauptung, Olivia hätte durch ihren Konformismus die künstlerische Qualität seiner Werke beeinträchtigt, hält genaueren Recherchen nicht stand. 19 Im folgenden Abschnitt kommentiert er humorvoll ihre „Zensurtätigkeit“: Die Kinder pflegten ihrer Mutter beim Lektorieren meiner Manuskripte zu helfen. Auf der Farm setzte sie sich, den Bleistift in der Hand, auf die Veranda und las ihnen laut vor, und wachsam und argwöhnisch, wie sie waren, behielten sie die Kinder die ganze Zeit über im Auge, denn sie glaubten, dass sie die besonders befriedigenden Passagen streichen würde. Ihr Verdacht war wohlbegründet. Die Passagen, die die Kinder besonders befriedigend fanden, enthielten stets ein Moment der Intensität, das unbedingt abgeändert oder zensuriert werden musste. Zu meiner eigenen Unterhaltung und um den Protest der Kinder auszukosten, missbrauchte ich oft das unschuldige Vertrauen der Lektorin. Mit Absicht fügte ich häufig wohlüberlegte Bemerkungen trefflich grausamer Art ein, um bei den Kindern kurzes Entzücken hervorzurufen und dann mitzuerleben, wie der hartherzige Stift sein tödliches Unheil fällt. Oft schloss ich mich den flehentlichen Bitten der Kinder um Gnade an, zog den Streit in die Länge und tat so, als meinte ich es ernst. Sie fielen darauf herein und ihre Mutter ebenso. [...] Hin und wieder errangen wir einen Sieg, und es herrschte großer Jubel. Später strich ich die Passage dann insgeheim. (AB 261-262) <?page no="294"?> Hartford 293 Auf dem Weg in die Weltliteratur Das erste richtungweisende Werk in diesen Jahren war der Lausbubenroman The Adventures of Tom Sawyer (1876; dt. Tom Sawyers Abenteuer), den Twain in einem fiktiven, seiner Heimatstadt Hannibal, Misssouri, nachempfundenen St. Petersburg spielen lässt. Mit dem Zurückgreifen auf die Welt seiner Kindheit in einer authentischen Jugend- und Alltagssprache schuf Twain eine völlig neue Diktion. Als Gegenpol zu den damals üblichen didaktischen und moralisierenden Kinder- und Jugendromanen schrieb er den ersten große Klassiker der Jugendliteratur. Im Mittelpunkt stehen die episodenhaft aneinandergereihten „Abenteuer“ und Streiche des Lausbuben Tom Sawyer-- Schulschwänzen, eine spannende Schatzsuche, nächtliche Rituale am Friedhof oder die Gründung einer Räuberbande. Tom ist im Grunde ein Phantast, der sich seine Anregungen aus den romantischen Romanen von Sir Walter Scott holt. Er ist weder ein gesellschaftlicher Outsider wie sein Freund Huck Finn noch stellt er die moralisch brüchige südstaatliche Umgebung in Frage. Nicht Gesellschaftskritik, sondern die nostalgische Verklärung seiner Jugend war Twains stärkste Motivation für diesen Roman. 20 Trotz des Riesenerfolges und Twains Aufstieg zu internationalem Ruhm verkomplizierte sich sein Leben in dieser Zeit. Innere Widersprüche und die finanziellen Anforderungen, denen er nicht gerecht werden konnte, verstärkten sein Streben nach materiellem Erfolg auf Kosten seiner schriftstellerischen Substanz. Mit unausgegorenen Geschäften und finanziellen Spekulationen suchte er zu raschem Geld zu kommen und überforderte damit seine Energiereserven. Als fatal erwiesen sich seine horrenden Investitionen in die Entwicklung einer automatischen Typensetzmaschine. In der Hoffnung, seine Bücher selbst drucken und vertreiben zu können, gründete Twain einen eigenen Verlag und vertraute dessen Leitung seinem geschäftlich unerfahrenen Neffen Charles Webster an. Beide Projekte entpuppten sich längerfristig als Fehlschläge und stürzten ihn in eine finanzielle Katastrophe. 21 <?page no="295"?> 294 Hartford Als erfolgloser Geschäftsmann nahm Twain Zuflucht zu exzessiver Vielschreiberei und Kräfte raubender Vortragstätigkeit. 1878 reiste er ein zweites Mal für 16 Monate nach Europa und versuchte im Anschluss daran, mit dem Reisebericht A Tramp Abroad (1880, dt. Bummel durch Europa) an den Erfolg von The Innocents Abroad anzuschließen. Die in leichtem Plauderton erzählte und an gängige Reiseführer angelehnte Wanderreise durch Süddeutschland und über die Schweiz nach Norditalien kam jedoch nicht an die satirische Doppelbödigkeit des Vorgängerromans heran und brachte nicht den erwünschten Erfolg. Nur Twains witzige Auseinandersetzung mit den Tücken der deutschen Sprache im Anhang des Buches-- „The Awful German Language“-- ist ein bis heute beliebtes Gustostück geblieben. Wie sehr sich Twain in diesen Jahren dem zeitgenössischen Geschmack anzupassen versuchte, zeigte sich auch in seiner Hinwendung zu historisierenden Allegorien. Die Märchenromanze The Prince and the Pauper (1881; dt. Prinz und Bettelknabe), eine in gestelzter elisabethanischer Bühnensprache abgefasste Verwechslungsgeschichte, spielt im England des 16. Jahrhunderts. Der Betteljunge Tom und der Tudorprinz Edward sind sich wie Zwillinge ähnlich und beschließen, drei Wochen lang ihre Kleider und Rollen zu tauschen. Tom wird Mitglied des Königshauses und der Prinz muss die Beschwernisse der Armut über sich ergehen lassen. Am Ende besteigt Edward als ein geläuterter König den Thron, während Tom erleichtert zu seiner ärmlichen Mutter zurückkehrt. Das Buch erzielte im Hartforder Freundes- und Familienkreis mehr Lob als irgendein anderes Werk, das Twain bis dahin geschrieben hatte. Seine Töchter führten sogar eine Bühnenversion vor über 70 Hausgästen auf. Die literarische Kritik hingegen beurteilt das Werk zumeist als Konzession an die gentile Gesellschaft der Zeit. Dennoch stand im Hintergrund eine Problematik, die Twain auf der Seele brannte. In seiner großbürgerlichen Umgebung fühlte er sich insgeheim als Emporkömmling, und die Frage, inwieweit der Mensch frei oder durch Herkunft und Milieu vorherbestimmt ist, beschäftigte ihn für den Rest seines Lebens. 22 In seinem letzten Roman Pudd’nhead Wilson (1894, dt. Querkopf Wilson) griff Twain <?page no="296"?> Hartford 295 die Zwillingsthematik im Kontext der südstaatlichen Sklavengesellschaft noch einmal auf. Es war Twains Freund Twichell, der ihn in dieser Zeit davor warnte, mit unterhaltsamen Reiseschilderungen oder pseudohistorischen Stoffen möglicherweise einen falschen Weg einzuschlagen, und ihm riet, auf die authentischen Erfahrungen seiner Jugend zurückzugreifen. 23 Auch der aus Louisiana stammende Schriftsteller George Washington Cable, mit dem sich Twain angefreundet hatte, gab ihm mit seinen im kreolischen Dialekt und Lokalkolorit geschriebenen Erzählungen und seinem entschiedenen Antirassismus nachhaltige Anregungen. 1882 entschloss sich Twain zu einer Reise in seine alte Heimat am Mississippi. Er genoss die Rückkehr zu den Orten seiner Kindheit und Jugend, musste jedoch gleichzeitig erkennen, dass diese Welt endgültig der Vergangenheit angehörte. Der Bürgerkrieg, die rapide Westexpansion und der Bau transkontinentaler Eisenbahnen hatten die alte Nord-Süd-Wasserader des Mississippi ins Abseits gestellt. „Die Dampfschiffromantik ist vorbei,“ schreibt er ernüchtert an Olivia. „In Hannibal ist der Schiffsteuermann kein Gott mehr. Die Jungen sprechen keinen river slang mehr und ihr Stolz gehört offensichtlich der Eisenbahn.“ 24 Unter diesen Eindrücken verdichtete sich Twains Wunsch, die untergegangene Welt so authentisch wie möglich nachzugestalten. Mit dem autobiographischen Bericht Life on the Mississippi (1883; Leben auf dem Mississippi) über seine Zeit als Dampfschiff-Lotse leistete er die Vorarbeit zu jenem Werk, das ihm Weltgeltung verschaffen sollte-- The Adventures of Huckleberry Finn (1885). Der Protagonist dieses Romans ist nicht mehr der bürgerliche Lausbub Tom Sawyer, sondern Huck Finn, ein naiver, abergläubischer und dennoch mit gesundem Hausverstand ausgestatteter Junge aus der untersten sozialen Schicht. Er flieht vor der Gewalttätigkeit seines irischen Vaters und den Zivilisierungsversuchen der Witwe Douglas auf ein Floß am Mississippi und nimmt den entlaufenen Sklaven Jim auf. Aber die anfängliche Abenteuerhandlung entwickelt sich zur gesellschaftskritischen Abrechnung mit der Verkommenheit einer von Rassismus, Klassenhass, Materialis- <?page no="297"?> 296 Hartford mus und religiöser Heuchelei korrumpierten Zivilisation entlang des Stroms. Der pikareske Abenteuerroman vertieft sich zum Initiationsroman, jenem Genre, das seitdem zum Kernbestand amerikanischer Literatur geworden ist. Am Höhepunkt des Romans überwindet Huck sein gesellschaftlich „deformiertes Gewissen“, gehorcht spontan der „Unschuld seines Herzens“ 25 und liefert den zum Freund gewordenen Schwarzen nicht an die Sklavenfänger aus. Zum ersten Mal in der Weltliteratur betritt der vernacular hero, d. h ein naiver, Dialekt sprechender Antiheld die Szene und schafft mit seinem subversiven Humor ein neues realistisches Genre. Die gentilen Hartforder Freunde und viele andere Zeitgenossen konnten mit dem Werk nicht viel anfangen und sahen in ihm einen Rückfall Twains in seine frühere Lebensphase als Westerner. In Concord ging Amos Bronson Alcott sogar so weit, das Buch als schlechtes Vorbild für die Jugend aus der städtischen Bibliothek zu verbannen. 26 Mit seinem Meisterwerk hatte Twain vorerst seine schriftstellerischen Ressourcen erschöpft und er veröffentlichte vier Jahre lang keinen Roman mehr. Mehr als je zuvor nahmen jetzt geschäftliche Aktivitäten und Projekte seine Zeit, Energie und Nerven in Anspruch. Aber je mehr sich seine Unternehmungen als Flops entpuppten, umso verbissener klammerte er sich an seinen Traum von materiellem Erfolg. Unter anderem brachte er die Personal Memoirs (1885) von Präsident Ulysses Grant heraus und erzielte mit einer Auflage von 350 000 Exemplaren einen Kassenschlager, während sich gleichzeitig seine Selbstzweifel und sein Pessimismus verstärkten. Der Roman A Connecticut Yankee at King Arthur’s Court (1889, dt. Ein Yankee an König Artus’ Hof), an dem Twain fünf Jahre arbeitete, spiegelt indirekt die Lebenskrise wider, in der er sich in dieser Zeit befand. Das widersprüchliche Werk wird von der Literaturkritik gewöhnlich als Twains Schwanengesang auf sein Leben in Neuengland interpretiert, weshalb es im folgenden ausführlicher erörtert wird. Auf grotesk satirische Weise fiktionalisiert es einen historischen Schauplatz als Experimentierfeld zeitgenössischer Ideen und Erfahrungen. Dies geschieht in Form einer rückwärtsgewandten <?page no="298"?> Hartford 297 Anti-Utopie, in der Hank Morgan, ein Connecticut Yankee und Vorarbeiter in Hartfords Colt-Fabrik, auf eine Zeitreise vom späten 19. Jahrhundert ins europäische Mittelalter geschickt wird. Ein Schlag auf den Kopf in einem Handgemenge katapultiert ihn an den Hof von König Artus im Jahr 528. Der typische Selfmademan seiner Zeit, der an technischen Fortschritt glaubt und Probleme mit pragmatischem Hausverstand löst, erwacht in einer ihm völlig fremden Lebenswelt und besinnt sich auf seine ureigenen amerikanischen Qualitäten: „Ich bin Amerikaner. Geboren und erzogen wurde ich in Hartford im Staate Connecticut [...]. Ich bin ein waschechter Yankee, praktisch veranlagt und ziemlich unsentimental. [....]. Ich lernte alles machen: Gewehre, Revolver, Kanonen, Kessel, Maschinen, alle Arten arbeitssparende Apparate. Ich konnte alles herstellen, was irgendwie verlangt wurde.“ 27 Auf den ersten Blick erscheint der Roman als slapstickartige Travestie auf Thomas Malorys Le Morte D’Arthur, eine Kompilation von Erzählungen, die 1485 in London gedruckt wurde und die Artusepik einem breiten Lesepublikum zugänglich machte. George Washington Cable hatte Twain auf die fantastischen Abenteuergeschichten und ihre altertümliche Sprache aufmerksam gemacht. Der unmittelbare Anstoß jedoch, das Material schriftstellerisch auszuwerten, kam vom englischen Kulturkritiker Matthew Arnold, der nach seiner Rückkehr von einer USA-Reise in zwei Artikeln das kulturelle Banausentum Amerikas und Twain als funnyman verunglimpfte. Verärgert beschloss Twain, der britischen Arroganz eine Lektion zu erteilen und die Überlegenheit des demokratischen und fortschrittlichen Neuengland gegenüber der feudalistischen Rückständigkeit Englands satirisch zu demonstrieren. 28 Nach seinem Erwachen an König Artus’ Hof muss Hank Morgan zunächst eine Reihe gefährlicher Anschläge auf sein Leben abwehren. Mit Schlauheit und überlegenen technischen Kenntnissen gelingt es ihm, dem Verlies und dem Scheiterhaufen zu entrinnen. Als er eine Sonnenfinsternis präzise vorausberechnet und eine versiegte heilige Quelle mittels einer Ladung Dynamit wiederherstellt, erringt er die Bewunderung der Ritterschaft und des Volkes. Als großer Magier, der seinen gefährlichen Gegenspieler Merlin <?page no="299"?> 298 Hartford als Scharlatan entlarvt, steigt Hank zum mächtigsten Höfling und Ratgeber von König Artus auf und übernimmt als „Boss“ die de facto-Herrschaft über England. Er sonnt sich an seinen Erfolgen, heiratet das englische Edelfräulein Alisande (Sandy) und lernt auf einer Reise die Rückständigkeit des Landes kennen-- Rechtlosigkeit und feudale Herrscherwillkür, die Ausbeutung der Untertanen durch Leibeigenschaft und Frondienste und den von der Kirche verbreiteten Aberglauben. In seinem missionarischen Eifer ist Hank fest entschlossen, die Segnungen Neuenglands-- Demokratie, freies Unternehmertum und technologischen Fortschritt- - ins frühe Mittelalter zu transferieren. Er führt die Elektrizität, das Telefon, die Eisenbahn und den Dollar ein, errichtet Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Fabriken und Banken, entwickelt profitable Produktionsmethoden und macht aus den Rittern der Tafelrunde Handelsvertreter und Börsenspekulanten. Er selbst steigt zum erfolgreichen Monopolkapitalisten auf und erzielt aus seinen kommerziellen und industriellen Unternehmungen Riesengewinne. Als der König in einer von der Kirche angezettelten Revolte ums Leben kommt, ruft Hank die Republik aus und führt das allgemeine Wahlrecht ein. Doch nach drei Jahren intensiver Reform- und Aufbauarbeit muss der erfolgreiche Yankee ernüchtert erkennen, dass alle seine Bemühungen den Gang der Geschichte nicht umdrehen konnten. Der Widerstand Merlins, der Ritterschaft, des Adels und vor allem der Kirche erwacht aufs Neue und schürt Aberglauben, Hass und Angst in der Bevölkerung. Sogar die befreiten Sklaven fallen auf Merlins Propaganda herein und kündigen Hank die Gefolgschaft auf. Die Situation spitzt sich gefährlich zu, als die intrigante Ex- Königin Ginevra die Ritterschaft unter ihrem Günstling Lancelot zu einem Kriegszug gegen den Yankee aufhetzt. Es kommt zu einer apokalyptischen Entscheidungsschlacht-- Battle of the Sand Belt--, in der Hank und die von ihm aufgestellte Spezialtruppe von 53 jungen Männern um ihr Überleben kämpfen. In einem Last Stand 29 bringt Hank sein gesamtes technisches und militärisches Arsenal zum Einsatz. Mit elektrischen Todeszäunen, Dynamitfallen und Maschinengeschützen gelingt es ihm, die anstürmenden Ritter in <?page no="300"?> Hartford 299 einer Vernichtungsorgie auszulöschen. „Zehn Minuten, nachdem wir das Feuer eröffnet hatten,“ triumphiert Hank, „war der bewaffnete Widerstand vollständig gebrochen und der Feldzug beendet; wir vierundfünfzig waren die Herren Englands. Fünfundzwanzigtausend Mann lagen als Leichen rings um uns“ (CY 418). Hank empfindet keinerlei Trauer oder Entsetzen über „die homogene Masse von Protoplasma, mit einer Legierung von Eisenteilen und Knöpfen“ (CY 408). Das Scheitern seiner Mission und die präventive Zerstörung seiner technologischen Errungenschaften und „Zivilisationsfabriken“ sind ihm am Ende gleichgültig. Er hat sich im Kreis bewegt und der historische Fortschritt, den er durch Aufklärung, Demokratisierung, Industrialisierung und Kommerzialisierung herbeiführen wollte, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Der Traum von der Perfektionierbarkeit des Menschen ist zum Albtraum geworden. Der Connecticut Yankee hegt hinfort nur noch Verachtung für die Ignoranz und Borniertheit der Besiegten. Da sie sich seinen Plänen widersetzt haben, sind sie zum menschlichen Abfall geworden und müssen wie die Indianer in Amerikas Westen als Hindernis für den zivilisatorischen Fortschritt aus dem Weg geräumt werden. 30 Wenn man die Romanhandlung von ihrem Ende her betrachtet, kommt der erstaunliche Wandlungsprozess, der sich in ihrem Verlauf vollzieht, nicht von ungefähr. Hank ist von Anfang an ein ambivalenter Charakter, dessen innere Zerrissenheit zwischen Idealist und Showman, Revolutionär und Reaktionär, Demokrat und Tyrann immer deutlicher zu Tage tritt. Schon in der Aufbau- und Reformphase zeigt Hank auffallend negative Züge wie Arroganz, List und ein selbstherrliches Streben nach Geld und Macht. Aus dem anfänglich idealistischen Yankee wird schrittweise ein egomanischer, autokratischer und menschenverachtender Despot mit Omnipotenzphantasien. Erstmals zeigt sich dies bei der Wiederherstellung der Heiligen Quelle, als der technisch überlegene Yankee sich von den staunenden Pilgern als Wundertäter feiern lässt, statt sie über die wahren Umstände aufzuklären. Der Showeffekt ist ihm wichtiger als Aufklärung, und Aberglaube und Unwissenheit bahnen ihm letztlich den Weg zur Macht: <?page no="301"?> 300 Hartford „Als ich mich zur Kapelle begab, entblößte das Volk sein Haupt und trat ehrerbietig zurück, um mir einen breiten Weg frei zu lassen, als sei ich ein höheres Wesen,-- und das war ich ja auch“ (CY 208). Nicht weniger entlarvend ist die Szene, in der Hank in der Manier eines Westernhelden zwei angreifende Ritter mit einer Dynamitbombe in die Luft jagt und dies mit zynischer Selbstgefälligkeit kommentiert: “Es war saubere Arbeit, sehr sauber und hübsch anzusehen. Es war, als explodiere auf dem Mississippi ein Dampfer, und während der nächsten fünfzehn Minuten standen wir unter einem anhaltenden Sprühregen mikroskopisch kleiner Fragmente von Rittern, Eisenwaren und Pferdefleisch“ (CY 259). Der technologische Fortschritt, den der aufklärerische Zivilisationsbringer in die Alte Welt zu verpflanzen versuchte, verkommt zu einem Instrument von Vernichtung und Tod. Die hegemoniale Herrschaft der Aristokratie und der Kirche ist im Grunde nur gegen die Macht technokratischer Plutokratie ausgetauscht worden. Die „Lehrstunde der Demokratie“, die William Dean Howells im Roman sehen wollte, 31 entlarvt sich am Ende als verhängnisvolle Illusion. Ein Postskriptum bricht die Handlung unvermittelt ab. Merlin versetzt den Yankee in einen tiefen Schlaf, aus dem er dreizehn Jahrhunderte später in der Gegenwart von Hartford wie aus einem Albtraum erwacht. Die innere Widersprüchlichkeit des Romans, die gegensätzlichen Rollen seines Protagonisten sowie die oft in Klamauk ausufernde Handlung haben in der literarischen Kritik zu starken Zweifeln an seiner künstlerischen Qualität geführt. Die Frage stellte sich, wie Twain das unausgewogene Werk zum Druck freigeben konnte. Durchlief er während des mehrjährigen Schreibprozesses einen Gesinnungswandel, der seinen ursprünglichen Geschichtsoptimismus in Pessimismus und Determinismus umschlagen ließ? 32 Erhebt der Roman überhaupt Anspruch auf einen Realitätsbezug oder ist er nicht viel mehr eine absurde, vom Ich-Erzähler frei erfundene Phantasmagorie? 33 Nach den kriegerischen Desastern und gescheiterten Demokratisierungsbemühungen der USA in Vietnam, im Irak und anderswo erfährt der Roman jedoch heute eine Aktualisierung. Nahm Twain eine Konstante im amerikani- <?page no="302"?> Hartford 301 schen Politikverhalten wahr, die bis heute nachwirkt? Wie immer man zu diesen Fragen steht, die Desillusionierung, die sich in A-Connecticut Yankee abzeichnet, ist unübersehbar. Eine tiefgreifende In-Frage-Stellung von laissez faire-Kapitalismus, ungebremstem technologischem Fortschritt und imperialistischem Herrschaftsanspruch im Namen der Demokratie beherrschen am Ende die Szene. Die im Roman eingefügte Illustration, die den zeitgenössischen Eisenbahnmagnaten Jay Gould als einen Peitschen schwingenden Sklaventreiber abbildet, kann als Beleg für Twains kritische Haltung gesehen werden. Als A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court 1889 veröffentlicht wurde, war Twain mit dem Resultat unzufrieden. Wie aus einem Brief an Howells hervorgeht, war ihm bewusst, dass er mehr Fragen aufgeworfen hatte, als er beantworten konnte: „Nun ist das Buch fertig, lass es gehen, aber wenn ich es noch einmal neu schreiben könnte, dann müsste ich nicht so viele Dinge weglassen. Sie brennen in mir, sie vervielfältigen und vermehren sich, aber nun Industriemagnat Jay Gould Die Schutzherren der Industrie (1883) als Sklaventreiber <?page no="303"?> 302 Hartford können sie nie ausgesprochen werden, und außerdem würde man dazu eine Bibliothek benötigen-- und eine Feder, die in der Hölle erhitzt wurde.“ 34 Twains literarischer Abgesang auf die optimistische Lebensphilosophie, die er sich in Neuengland zurechtgelegt hatte, setzt sich in seinen journalistischen Artikeln und Essays fort. In ihnen kommt sein Unbehagen über die politischen, gesellschaftlichen und moralischen Missstände der Zeit noch unverblümter zum Ausdruck. Seine Kritik wandte sich gegen jede Form von Rassismus, Unterdrückung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Der aristokratische Feudalismus und Kolonialismus Europas waren ihm ebenso ein Gräuel wie die ausbeuterische Industrie- und Finanzplutokratie seiner amerikanischen Zeitgenossen. 35 Ereignisse wie der blutig niedergeschlagene Haymarket Square-Aufstand in Chicago im Jahr 1886 erschütterten seinen individualistischen Idealismus und weckten seine Sympathie für die entstehende Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung. 36 Dennoch war Twain kein Ideologe und übernahm nie die sozialistischen Ideen, die sein Schriftstellerfreund Howells im Roman The Hazard of New Fortunes (1890, dt. Gefährlicher neuer Reichtum) oder Richard Bellamy in der Sozialutopie Looking Backward: 2000-1887 (1888; dt. Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf das Jahr 1887) gestalteten. Abschied von Hartford und Desillusionierung 1891 verließ Twain mit seiner Familie Hartford und zog noch einmal nach Europa. Zu einer formellen Verabschiedung von Nook Farm kam es nicht, denn niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass die Abwesenheit, abgesehen von einigen geschäftlichen Rückreisen, insgesamt neun Jahre dauern würde. Twain erhoffte sich von den niedrigeren Lebenskosten in Europa und seiner immensen Popularität beim internationalen Publikum eine dauerhafte Lösung seiner finanziellen Probleme. Die Familie lebte abwechselnd in London, Paris, Florenz, Berlin, Wien und anderen Orten. Als sich Twain während der Wirtschaftskrise des Jahres 1893 für <?page no="304"?> Hartford 303 kurze Zeit in den USA aufhielt, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass alle seine Investitionen und Spekulationen endgültig gescheitert waren. Über 200 000 Dollar, die er in die Paige-Typensetzmaschine investiert hatte, waren verloren und Webster & Company hoffnungslos verschuldet. Twain war 58 Jahre alt, weltberühmt und so gut wie bankrott. Nur mit Hilfe seines Freundes Henry Rogers, des Vizepräsidenten der Standard Oil Corporation, der einen Vergleich mit Twains Verlegern aushandeln konnte, wurde der totale finanzielle Absturz abgewendet. 1895 unternahm Twain trotz angeschlagener Gesundheit und größter Anstrengungen, begleitet von Olivia und Clara eine einjährige Vortragsreise rund um die Welt. Sie führte ihn über den amerikanischen Westen, Kanada, Hawaii, Australien, Neuseeland und Indien bis nach Südafrika. Mit den Einnahmen aus seinen Auftritten konnte er schließlich seine Gläubiger auszahlen und finanziell wieder Fuß fassen. Aber bei seiner Rückkehr nach England traf ihn ein Schicksalsschlag, von dem er sich nie mehr erholen sollte. Statt wie vereinbart mit dem Rest der Familie in London zusammenzutreffen, kam die Hiobsbotschaft von einer schweren Erkrankung seiner ältesten Tochter Susy. Olivia und Clara brachen Hals über Kopf nach New York auf, während Twain ausharrte. Am 18. August 1896 erreichte ihn die Nachricht, dass seine Lieblingstochter im elterlichen Haus in Hartford an Meningitis verstorben war. Es war eine Tragödie, mit der Twain und Olivia nie mehr zu Rande kamen. Hartford, der Ort, wo sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hatten, war endgültig zur „City of Heartbreak“ 37 geworden. Niedergeschlagen kehrte die Familie so rasch wie möglich nach London zurück, wo Twain sein Weltreisebuch Following the Equator (1897) fertigstellte. Im September 1897 übersiedelten die Twains nach Wien und blieben dort 20 Monate. Claras Wunsch, in der Musikstadt eine Ausbildung zur Pianistin und Konzertsängerin zu absolvieren, und die Hoffnung, kompetente Ärzte für Jeans epileptische Anfälle zu konsultieren, standen hinter diesem Entschluss. Die Familie stieg zunächst im Hotel Metropol am Morzinplatz ab, das ironischerweise vier Jahrzehnte später zum Hauptquartier der Gestapo wurde und kurz vor Kriegsende einer amerikanischen Fliegerbombe <?page no="305"?> 304 Hartford zum Opfer fiel. Als weltberühmter Schriftsteller wurde Twain in den großbürgerlichen Salons, Adelshäusern und Presseklubs herumgereicht und fungierte als eine Art selbsternannter Botschafter Amerikas. Er besuchte die Hofoper und das Burgtheater, verkehrte mit führenden Journalisten und der kulturellen Elite Wiens. Sogar Kaiser Franz Joseph empfing Twain zu einer Privataudienz in der Hofburg. Twain nahm regen Anteil am politischen Leben, wurde Zeuge eines tumultartigen Nationalitätenstreits im Reichsrat und veröffentlichte seine kritischen Beobachtungen und Beurteilungen in der amerikanischen Presse. Bis heute viel beachtet sind seine dunklen Vorahnungen in Zusammenhang mit den hasserfüllten und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Deutschnationalen, Liberalen und Sozialisten und dem überhandnehmenden Antisemitismus unter Bürgermeister Karl Lueger. 38 Die wenigen literarischen Werke, die Twain in dieser Zeit schrieb, sind von Alterspessimismus und Bitterkeit überschattet. Die negative Grundhaltung, die sich in A Connecticut Yankee angekündigt hatte, verdichtete sich nun zu nihilistischem Fatalismus. Trotz des äußeren Glamours, den Twain zur Schau trug, war aus dem vormaligen Humoristen insgeheim ein Misanthrop geworden. 39 Die in Wien entstandene Erzählung „The Man that Corrupted Hadleyburg“ (1889; Der Mann, der Hadleyburg korrumpierte) thematisiert die völlige Korrumpierbarkeit respektabler Bürger durch Geldgier. In der Novelle The Mysterious Stranger (1916; dt. Der geheimnisvolle Fremde) verführt Satan die Bewohner eines mittelalterlichen österreichischen Dorfes zum nihilistischen Abfall von Gott. „Es gibt keinen Gott, keinen Himmel und keine Hölle,“ verkündet er. „Es ist alles ein Traum, ein grotesker, närrischer Traum. Nichts existiert außer du selbst. Und auch du bist nur ein Gedanke, ein flüchtiger, nutzloser, heimatloser Gedanke, der einsam leere Ewigkeiten durchstreift.“ 40 Im Oktober 1900 kehrten die Twains in die USA zurück und ließen sich zunächst in New York City nieder. Twain wurde als nationale Ikone gefeiert und konnte sich der vielen Bankette, Empfänge und öffentlichen Auftritte, mit denen er überhäuft wurde, kaum erwehren. Wo immer er sich in der Öffentlichkeit zeigte, wurde er von <?page no="306"?> Hartford 305 Menschen und Reportern bedrängt. Ihr Interesse richtete sich dabei weniger auf sein literarisches Werk als auf seine exzentrische Persönlichkeit. Mit seiner weißen Haarmähne, dem Schnauzbart und buschigen Augenbrauen, seinen weißen Anzügen und den radikalen politischen und gesellschaftskritischen Äußerungen, die er von sich gab, erregte er überall Aufsehen. Twains Kritik richtete sich vor allem gegen Amerikas imperialistische Politik im Spanisch-Amerikanischen Krieg auf Kuba, Puerto Rico und in den Philippinen. 41 Gleichzeitig wirbelte seine Verbitterung über die „Damned Human Race“ viel Staub auf. 42 In mehreren Schriften, etwa dem posthum veröffentlichten Essay Twain im Alter (1908) <?page no="307"?> 306 Hartford What is Man? , treibt Twain seinen bitteren Determinismus auf die Spitze und beschreibt den Menschen als eine von Erbgut und Umwelteinflüssen beherrschte Maschine, die zu keinem eigenen Gedanken fähig ist.“ 43 Selbst Olivia, die bis dahin immer loyal zu ihm gehalten hatte, fühlte sich von seiner zynischen Negativität abgestoßen. „Du gehst zu weit in allem, was du sagst,“ schrieb sie ihm in einem Brief. „Du musst Deine geistige Einstellung ändern. Besinne dich auf die liebenswerten und sanften Seiten, die ich an dir so liebe. Warum zeigst du diese nicht der Welt? Warum starrst du immer auf das Böse, so dass du deine Mitmenschen am Boden zerstörst und ihnen als ein Monomane erscheinst? “ 44 Verschärft wurde das Unbehagen Twains durch zunehmende gesundheitliche Probleme. Twain laborierte an Rheumatismus und chronischer Bronchitis, Jean musste sich wegen ihrer Epilepsie permanent in ärztliche Behandlung begeben und Clara erlitt wiederholt psychische Zusammenbrüche. Vor allem aber setzte die ständige Nervenanspannung Olivia zu. Obwohl eine angemietete Villa in Riverdale am Hudson River Zuflucht vor dem gesellschaftlichen Stress bot, verschlechterte sich ihr Zustand zusehends. Im Sommer 1902 erlitt sie während eines Erholungsaufenthaltes in Maine eine lebensbedrohende Herzattacke und war Monate lang ans Bett gefesselt. Auf Anraten der Ärzte übersiedelte die Familie noch einmal ins wärmere Italien. Die pompöse aber ungemütliche Villa Reale di Quarto, die sie in Florenz mieteten, war jedoch Olivias Gesundheit alles andere als zuträglich. Am 12. August 1902 erlag sie ihrem Leiden. Vereinsamt und lebensmüde kehrte Twain-- mit dem Sarg seiner Frau an Bord des Schiffes-- in die USA zurück, wo Olivia im Familiengrab in Elmira neben ihren Kindern die letzte Ruhestätte fand. Twain bezog eine Wohnung an der Fifth Avenue in New York, bevor er sich 1908 in das ruhig gelegene Landhaus Stormfield in Redding, Connecticut, zurückzog. Isabel Lyon, seine langjährige Sekretärin, übernahm die persönliche Betreuung und die Führung des Haushalts, während ihr Partner und späterer Ehemann Ralph Ashcroft die Geschäfte besorgte. Ein weiterer ständiger Mitbewohner war Alfred Bigelow Paine, Twains Biograph, den er bei seinen <?page no="308"?> Hartford 307 Recherchen unterstützte. In nostalgischer Erinnerung an die glückliche Zeit mit seinen jungen Töchtern in Hartford, lud Twain in dieser trüben Zeit regelmäßig eine Gruppe 10bis 16-jähriger aufgeweckter Mädchen aus befreundeten Familien in sein Haus ein, um sich mit ihnen auf großväterliche Weise zu unterhalten. Die angelfish , wie er sie nannte,-- „liebe, naive und unverdorbene Geschöpfe, für die das Leben noch voller Freude ist“-- verschafften ihm etwas Ablenkung. 45 Zu einem traumatischen Zerwürfnis kam es, als sich Clara und Jean dem besitzergereifenden und sie ausgrenzenden Einfluss Lyons und Ashcrofts auf ihren Vater widersetzten und sie der Veruntreuung und Erbschleicherei bezichtigten. Obwohl der letzte Wahrheitsbeweis für diese Anschuldigungen nie erbracht wurde, fügte sich Twain dem Druck seiner Töchter. Die Ashcrofts wurden fristlos entlassen und mussten noch Jahre lang um ihre moralische Rehabilitierung kämpfen. Jean zog nach mehrjähriger Trennung in Stormfield ein und übernahm die Betreuung des Vaters. Aber am Weihnachtsabend 1909 starb sie 29-jährig völlig unvermittelt, als sie während eines epileptischen Anfalls in der Badewanne ertrank. Twain war nach diesem neuerlichen tragischen Todesfall völlig gebrochen und starb wenige Monate später im April 1910 an Herzversagen. Sein alter Freund Twichell hielt ihm in Elmira die Grabrede. Die einzig übriggebliebene Tochter Clara heiratete Twains erwachsene Töchter Susy, Clara und Jean <?page no="309"?> 308 Hartford einen prominenten russischen Dirigenten, gebar eine Tochter und lebte abwechselnd in Europa und in den USA. Sie wurde 88 Jahre alt, verwaltete Twains Nachlass und veröffentlichte 1931 das viel beachtete Erinnerungsbuch My Father, Mark Twain. Nach Olivias Tod hatte Twain das Haus in Hartford 1903 an den Präsidenten einer Versicherungsgesellschaft zum Spottpreis von 28 000 Dollar verkauft. „Mrs. Clemens hat es nie mehr betreten,“ schreibt Twain am Ende seiner autobiographischen Aufzeichnungen. „Ich betrat es noch einmal, als es unbewohnt, still und verlassen war. Aber für mich war es ein heiliger und magischer Ort. Es schien mir, dass die Geister der Toten noch alle da waren, mich willkommen hießen und zu mir sprechen wollten, wenn sie es könnten.“ 46 Später diente das Haus mehrere Jahrzehnte lang als Schule und Bibliothek, bevor es 1962 zum National Historic Landmark erhoben und vor dem drohenden Abriss bewahrt wurde. 1974 erwarb die Mark Twain Foundation das Gebäude, ließ es für mehrere Millionen Dollar restaurieren und auf den Stand von 1881 zurückführen. Das Museum verfügt heute über 50 000 Artefakte und wird alljährlich von über 60 000 Menschen besucht. Sachkundige Führer erzählen Anekdoten über die bewegte Vergangenheit des Hauses, das exzentrische Genie des Hausherrn, seine liebenswerte und gastfreundliche Frau und die talentierten Kinder. Kaum ein anderes Haus erlaubt einen intimeren Einblick in das Leben einer großbürgerlichen amerikanischen Familie dieser Zeit als das Twain House. Darüber hinaus ist es mit seiner luxuriösen Ausstattung, seinem verschwenderischen Dekor und technischem Perfektionismus für Kulturhistoriker das Musterbeispiel einer neuenglischen Erfolgsgeschichte und ihres Scheiterns. Mark Twain erscheint als ein typischer Vertreter des Gilded Age, jener Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als der amerikanische Traum mit seinem maßlosen Streben nach materiellem Erfolg, aber auch mit seinen tiefen Abstürzen, ein Ende fand. <?page no="310"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 309 10. Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands W ie zu Beginn dieses Buches erwähnt, waren die Amerikaner in ihrer Geschichte angesichts der Grenzenlosigkeit und Zivilisationsleere des Kontinents, den sie in Besitz nahmen, gezwungen, ihre nationale Identität immer wieder neu zu „erfinden“. Sie taten dies in mehreren Schüben-- von der puritanischen Koloniegründung, dem Kampf um die politische und kulturelle Unabhängigkeit über Westeroberung, Industrialisierung und Urbanisierung bis zum Aufstieg zur heutigen Weltmacht. Die Verhaltensweise war stets eine Mischung aus pragmatischen Lösungen und Mythenbildungen, die das spezifisch „Amerikanische“ kennzeichnet. In Neuengland fand dieser Prozess zum ersten Mal und beispielgebend für spätere Generationen und die Nation als Ganzes statt. Ihre puritanischen Vorfahren etablierten die erste Musterkolonie in der Neuen Welt, bauten Siedlungen und Verkehrswege, errichteten Schulen, Universitäten und meeting houses nicht nur zu religiösen Zwecken, sondern auch als Orte demokratischer Mitbestimmung. Die amerikanische Revolution nahm trotz der engen Verbundenheit der Bevölkerung mit der englischen Ursprungskultur von Neuengland ihren Ausgang und machte Boston zum Symbol für Freiheit und Liberalität. Nicht zuletzt erlebte die amerikanische Literatur in diesem Umfeld ihre erste große Blütezeit und bewirkte die Loslösung von der europäischen Kulturdominanz. Es verwundert nicht, dass die Neuengländer auf das Geleistete stolz sind. Nicht das Modernste, Schnellste und Größte, sondern das Älteste, Originellste und Gediegenste rangiert in ihrem Selbstverständnis als oberster Wertmaßstab. Als ab ca. 1830 die fortschreitende Westexpansion einen riesigen Binnenmarkt eröffnete und den Überseehandel und die überkommene Landwirtschaft ins Abseits stellte, kam die bis dahin relativ beschauliche Welt Neuenglands ins Wanken. Die Industrielle <?page no="311"?> 310 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands Revolution etablierte sich mit monströsen Industrieanlagen und Massenimmigration und krempelte die Region vollständig um. Ein schrankenloser Kapitalismus breitete sich aus, und das Prinzip der Profitmaximierung, Monopolbildung und der Ausbeutung eingewanderter billiger Arbeitskräfte führte zu Multikulturalität und gleichzeitig zur Herausbildung einer plutokratischen Oberschicht. Auch diese hinterließ in Neuengland, wie die folgenden Ausführungen zeigen, mit ihrem Mäzenatentum, ihrer Sammelleidenschaft und Vorliebe für glamouröse Prunkbauten ein kulturelles Erbe, wenn auch auf eine oft fragwürdige und hypertrophe Weise. Das Ende des Booms kam in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit dem Scheitern der Finanzimperien, mit Arbeitskämpfen, Entindustrialisierung und der Abwanderung großer Bevölkerungsschichten in andere Teile der USA. Eine tiefgreifende Rezession setzte ein, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges andauerte. Der hier skizzierte, sich über drei Jahrhunderte hinziehende Wandlungsprozess hinterließ einen riesigen Fundus an Geschichte und Kultur, den die Neuengländer mit erstaunlichem Engagement aufgearbeitet haben. Sie erschufen sich eine Gedächtniskultur, die in ihrer Dichte und Ausdifferenziertheit alle anderen Regionen der USA übertrifft. Neben den acht im Buch erörterten zentralen Erinnerungsorten gibt es hunderte andere, die ebenfalls ihre Vergangenheit und kulturellen Leistungen hochhalten und Gedenkstätten, lokale Museen und traditionelle Institutionen aller Art pflegen. Allein für den südlichen Teil Neuenglands listet der Smithsonian Guide to Historic America über 500 museale Einrichtungen auf. Einige der wichtigsten, in den vorangegangenen Ausführungen unbeachteten Orte sollen abschließend das angestrebte Gesamtbild der neuenglischen Gedächtniskultur abrunden. Universitäten und Kunstmuseen An erster Stelle sind die ehrwürdigen Ivy League-Universitäten zu erwähnen, die von Anbeginn mit der Kultur- und Geistesgeschich- <?page no="312"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 311 te Neuenglands eng verbunden waren und zum regionalen und nationalen Selbsterfindungsprozess wesentlich beigetragen haben. Neben der 1701 gegründeten Yale University in Connecticut mit ihren eindrucksvollen historischen Gebäuden und exzellenten Forschungseinrichtungen und Museen (s. Kap. 9) ist die Harvard University die älteste und renommierteste Universität der USA. Sie wurde 1636, nur sechs Jahre nach der Etablierung der Massachusetts-Kolonie als theologisches College in dem nach englischem Vorbild benannten Bostoner Vorort Cambridge gegründet. Seinen Namen erhielt das College von John Harvard, einem früh verstorbenen Theologen, der diesem seine Privatbibliothek und den Großteil seines Vermögens vermachte. Sein von Daniel Chester French 1884 geschaffenes Denkmal, für das ein stattlicher Student Modell stand, ziert heute den Platz vor der University Hall, und im Harvard Yard, dem historischen Nukleus des Campus, erinnern die ältesten Backsteinbauten an die frühe Kolonialzeit. Das Universitätsgelände ist eingebettet in ein lebendiges städtisches Ambiente, dessen Studentenlokale, Bars und Buchgeschäfte im Umkreis des Harvard Square ein akademisches Flair verbreiten. Die eindrucksvollste Sehenswürdigkeit ist das elegante Haus des berühmten Dichters und Harvard-Literaturprofessors Henry W. Longfellow, das dieser mit seiner kinderreichen Familie von 1837 bis 1882 bewohnte. John Harvard-Denkmal Harvard Courtyard <?page no="313"?> 312 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands Im Verlauf der Zeit wuchs Harvard mit vielen hinzutretenden Fakultäten zu einer außergewöhnlichen Gelehrtenrepublik heran, mit der die meisten führenden Geistesgrößen Neuenglands-- Denker, Dichter, Historiker, Theologen, Rechtsgelehrte, Naturforscher und Mediziner-- eng verbunden waren. Mehrere amerikanische Präsidenten und über 30 Nobelpreisträger gingen aus ihr hervor. Seit 1965 ist Harvard eine private Eliteuniversität mit ca. 50 000 Studierenden-- davon 70 Prozent sorgfältig ausgewählte Stipendiaten. Die ca. 400 universitären Gebäude- - Studentenwohnhäuser, Instituts-, Labor-, Lehr- und Verwaltungsgebäude, mehrere Kirchen und Theater-- liegen in einer parkartigen Anlage mit großen Grünflächen und altem Baumbestand. Die verschiedenen Architekturstile spiegeln die jeweilige Erbauungszeit wider, vom roten Backstein der Kolonialzeit über Klassizismus und Neugotik bis zu den modernen Kreationen eines Walter Gropius oder Le Corbusier. Das repräsentativste Bauwerk ist die Memorial Hall, ein hoch aufragender viktorianischer Koloss in neugotischem Stil, der 1874 als Erinnerungsstätte für die im amerikanischen Bürgerkrieg gefallenen nordstaatlichen Studenten errichtet wurde. 1 Harvards nachhaltigster Beitrag zur Gedächtniskultur Neuenglands sind seine Bibliotheken und Museen. Der klassizistische Bildungstempel der Widener Memorial Library und neun weitere Bibliotheken verfügen über einen Bestand von über 10 Millionen Bänden. Aus den sieben Museen mit ihren umfangreichen kunst- und naturgeschichtlichen Sammlungen ragen das 1891 gegründete Fogg Art Museum mit kostbaren Kunstwerken aus aller Welt sowie das Peabody Museum of Archaeology and Ethnoloy und seiner berühmten Hall of the North American Indian besonders hervor. Letztere bietet anschauliche Darstellungen der Indianerkulturen in Nord- und Lateinamerika und beherbergt außerdem die naturwissenschaftliche und ethnographische Ausbeute früher amerikanischer Forschungsexpeditionen. Aus den zahllosen wissenschaftlichen Beiträgen von Harvards Gelehrten zum kulturgeschichtlichen Vermächtnis Neuenglands soll ein für dieses Buch besonders relevantes Beispiel hervorgehoben werden: die <?page no="314"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 313 Wiederentdeckung von Emily Dickinson, Amerikas größter Lyrikerin. 1955 veranstaltete Harvard die erste kritische Werkausgabe der damals noch kaum bekannten Dichterin und löste damit eine ungeheure Rezeptions- und Interpretationsflut aus. 2 Dickinson wurde 1830 in Amherst, Massachusetts, geboren, wo ihr Großvater, Nachfahre einer alteingesessenen englischen Siedlerfamilie, im Jahr 1821 Amherst College als Bollwerk gegen den sich ausbreitenden liberalen Unitarismus gegründet hatte. Dickinson blieb dieser strengen kalvinistischen Umgebung lebenslang treu, während sie sich insgeheim in ihrer Lyrik eine geniale geistige Gegenwelt schuf. Zu ihren Lebzeiten veröffentlichte die kontaktscheue und introvertierte Dichterin nur zehn Gedichte. Mehr als 1700 fand man nach ihrem Tod im Jahr 1886 in den Schubladen ihres Schreibtisches; 800 davon waren in „Faszikeln“ mit Bindfäden zu Bündeln zusammengefügt. In ihrer Dichtkunst verschmelzen puritanische Tradition, Transzendentalismus und Moderne zu einer unerhört verinnerlichten Ganzheit. Ein symbiotisches Verhältnis zur Natur, persönliche Identitätskrisen sowie die Auflehnung gegen Konformitätszwänge und patriarchale Konvention sind ihre wiederkehrenden Themen. Die symbolisch verschlüsselte, intellektuell distanzierte und reduzierte Sprache ihrer Kurzverse reflektiert die Welt durch das scharfe Prisma einer verletzlichen femininen Sensibilität und nimmt wichtige Gestaltungselemente der Moderne vorweg. 3 Ich bin Niemand! Wer bist Du? I’m Nobody! Who are you? Bist auch-- Niemand-- du? Are you-- Nobody-- too? Dann sind wir zwei ein Paar! Then there’s a pair of us! Sag nichts-- Zeitung-- Gefahr! Don’t tell! thye’d advertise-- you know! Wie langweilig-- Jemand-- zu sein! How dreary-- to be-- Somebody! Wie öffentlich-- ein Froschdasein - How public-- like a Frog - Das junilang-- seinen Namen schreit - To tell one’s name-- the livelong June Vor einem Sumpf der Eitelkeit! To an admiring Bog! 4 <?page no="315"?> 314 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands Das Emily Dickinson Museum in Amherst ist eines der berührendsten Dichterhäuser Neuenglands. Das obere Stockwerk der elterlichen homestead, wo Dickinson wohnte, gibt einen intimen Einblick in ihre Lebenswelt. Das kahle Schlafzimmer mit dem spartanisch schmalen Bett und die weißen Kleider, die sie zu tragen pflegte, sowie der winzige Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer, wo sie zumeist nachts bei Kerzenlicht ihre Texte schrieb, erinnern in ihrer Schlichtheit an Thoreau. Vom Fenster schweift der Blick in den großen Garten und zu den Blumenbeeten, wo sie sich am liebsten aufhielt. 5 Die Kunstsammlungen von Harvard und Yale sind überwiegend europäischen und antiken Kunsttraditionen verpflichtet. Dies gilt auch für das 1870 gegründete Museum of Fine Arts in Boston, das sich mit seinen Schätzen aus allen Epochen und Bereichen der Weltkultur mit europäischen Institutionen messen kann. Für den Emily Dickinson (1846) Dickinsons Schreibtisch <?page no="316"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 315 Kontext Neuenglands relevant sind die Bilder und Kunstgegenstände aus der Kolonial- und Revolutionszeit, etwa Paul Reveres Silberkunst, historische Raumausstattungen sowie die vielen Werke der frühen amerikanischen Porträt- und Landschaftsmalerei. Typisch amerikanisch, wenn auch auf paradoxe Weise, ist das Isabella Stewart Gardner Museum. Die eigenwillige Mäzenatin und Kunstsammlerin ließ 1902 in Boston ein Privatmuseum für ihre Sammlungen in Form eines venezianischen Palazzo erbauen. Das dreistöckige Gebäude umgibt einen prächtigen Arkadenhof und stellt hunderte von Gemälden, Skulpturen, Möbeln und Gobelins, vorwiegend aus der europäischen Renaissance zur Schau. Besondere Prunkstücke sind Tizians „Raub der Europa“ (1560) und ein spanischer Kreuzgang mit originalen Keramiken aus dem 17. Jahrhundert. Gardner teilte ihre extravagante Sammelleidenschaft mit vielen anderen ebenfalls zu großem Reichtum gekommenen Mitgliedern der gesellschaftlichen Oberschicht. Deren Kunstsammlungen in privaten Museen und musealen Häusern-- herausragend das exquisite Francine and Francis Clark Art Institute in der kleinen Universitätsstadt Williamstown-- bilden eine weitere wichtige Komponente der Gedächtniskultur Neuenglands. Große Freilichtmuseen populärer Kultur Ab dem frühen 20. Jahrhundert trat zu dem bis dahin vorherrschenden eurozentrischen Interesse die amerikanische Volkskunst (folk art) als Sammelobjekt hinzu. Volkstümliche, kunstgewerblich hergestellte Artefakte, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders beliebt waren, wurden nun zum Standardinventar großbürgerlicher und zunehmend auch mittelständischer Haushalte. Als die fortschreitende Industrialisierung mit ihrer Massenproduktion von Gebrauchs- und Dekorgegenständen die folk art zum Versiegen brachte, wurde das systematische Sammeln und Ausstellen folkloristischer Objekte vollends zur Mode. Die Antikgeschäfte, Galerien und Folklore-Museen, die überall aus dem Boden sprangen, sind bis heute ein Markenzeichen Neuenglands. Hölzer- <?page no="317"?> 316 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands ne Lockvögel (decoys), Wetterfahnen, lustige Windräder (whirilwigs), farbenfrohe handgenähte Quilt-Steppdecken oder auch formschöne Shaker-Gegenstände gehören zu den bevorzugten Sammelobjekten. 6 Das größte Volkskunstmuseum Neuenglands ist das Shelburne Museum südlich von Burlington, Vermont. Die 14 Hektar große Freilichtanlage in einer Parklandschaft am Ufer des Lake Champlain wurde 1947 von der Millionärstochter und Kunstsammlerin Electra Havemeyer Webb eröffnet. Die New Yorkerin, die schon als Teenager vom Sammeleifer ihrer Eltern angesteckt wurde, trug 40 Jahre lang folkloristische Kuriositäten zusammen. Nach der Verehelichung mit dem Eisenbahnmagnaten J. Watson Webb ließ sie sich in Burlington nieder und stellte ihre Americana zunächst in Galerien zur Schau. Das Museum, das daraus hervorging, wurde zum Eldorado der folk art-Enthusiasten. Nirgendwo in den USA lässt sich diese spezifisch amerikanische Kunstgattung anschaulicher und vielfältiger studieren als hier. Über 150 000 Objekte sind nach Materialien und Themen geordnet in 39 Häusern untergebracht. Die reich ausgestatteten Sammlungen enthalten neben einer Galerie naiver Malerei kunstgewerbliche Gegenstände aus Holz, Glas, Keramik, Walbein, Porzellan, Kupfer und Zinn, Lockvögel, Quilts, Hutschachteln, Spielzeug, Puppen, Schnupftabakdosen, Uhren, Tabakladen-Indianer, Wetterfahnen, Karussellfiguren, Tavernen- und Geschäftsschilder, Kutschen, Schlitten und sogar gewöhnliche Gebrauchsgegenstände wie Brillen, Tabakpfeifen und Rasiermesser. Die massenhafte Anhäufung von Objekten, Lockvogel Wetterfahnen <?page no="318"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 317 die eher einem viktorianischen Kunstdepot als einem zeitgenössischen Museum gleicht, mag nicht mehr neuesten museumspädagogischen Standards entsprechen, aber die Anlage selbst ist zu einem kulturhistorischen Artefakt geworden, die durch Modernisierung und Selektion zweifellos an Charme einbüßen würde. Dies gilt auch für die vielen anderen populären Attraktionen, die Shelburne seinen Besuchern bietet: unter anderen eine historische Eisenbahnstation, die Rekonstruktion einer Shaker-Scheune, ein Leuchtturm, ein indianisches Wigwam oder das ausgediente Lake Champlain-Dampfschiff Ticonderoga. 7 Auf der privaten Sammelleidenschaft einer Unternehmerfamilie basiert auch Old Sturbridge Village bei Worcester, Massachusetts. Neben Plymouth Plantation und den zwei gediegenen musealen Frontierstädtchen Stockbridge und Historic Deerfield im Westen von Massachusetts ist es eines der meist besuchten Freilichtmuseen Neuenglands. Im Gegensatz zu Shelburne stellt es die Sammelobjekte in den kulturgeschichtlichen Kontext eines rekonstruierten Neuengland-Dorfes aus der Zeit zwischen 1790 und 1840. Seine Farmen, Wohnhäuser, Werkstätten und das große Aufgebot an historisch kostümierten „Interpreten“ verkörpern living history in Reinkultur. Das Konzept geht auf die Industriellenfamilie Wells aus Southbridge zurück, die durch der Produktion optischer Instrumente zu Reichtum kam. Seit den 1920er Jahren häuften Fami- Hutschachteln Quilt (um 1850) <?page no="319"?> 318 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands lienmitglieder in ihren Privathäusern Uhren, Möbel und Americana aller Art an, bis sie 1936 beschlossen, die Objekte in einem gemeinsam geführten Museum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 8 Mit Hilfe von Sponsoren, kompetenten Kuratoren und Landschaftsarchitekten wurde dieser Plan auf einem 80 Hektar großen, hügeligen Wald- und Wiesengelände einer ehemaligen Farm aus dem 18. Jahrhundert verwirklicht. Um einen zentralen Common herum entstand ein komplettes Dorfzentrum: Wohnhäuser, drei Meeting Houses, ein Dorfladen, eine Taverne, eine Bank, eine Schule, eine Rechtsanwaltskanzlei, eine Druckerei, ein Rathaus sowie eine Reihe ländlicher Werkstätten, wo gelernte Schmiede, Töpfer, oder Zinngießer ihre Fertigkeiten demonstrieren. Am Rand des Dorfes wurde eine alte Farm samt Sägewerk, Getreidemühle, Gärten, Äckern und Viehweiden revitalisiert, und in den Wohnbereichen kann man „Farmersfrauen“ beim Spinnen und Weben zusehen. Um ein möglichst authentisches Ambiente anzubieten, wurden alte Gebäude in verschiedenen Gegenden Ochsengespann <?page no="320"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 319 Neuenglands erworben, abgetragen und in Sturbridge neu errichtet. Seit der Eröffnung im Jahr 1949 expandierte das Freilichtmuseum zum heutigen Stand von insgesamt 56 Einheiten und hat dabei seine ursprüngliche bukolische Atmosphäre erstaunlich gut bewahrt. Zum Programm gehören auch die üblichen Familienfeste wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, Thanksgiving und Fourth of July. Nirgendwo kann man sich in die vorindustrielle Alltagskultur Neuenglands eingehender vertiefen als hier. 9 Die Prunkbauten der Superreichen All dies steht im krassen Gegensatz zu einem anderen Erscheinungsbild der Region- - den Luxusbauten der plutokratischen Oberschicht, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Industrialisierung, Monopolbildungen und Finanzspekulation gebildet hatte. Zusammen mit Großbankiers und politischen Zinnlampenmacher <?page no="321"?> 320 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands Lobbyisten kontrollierten sie über 90 Prozent des gesamten Volksvermögens und führten damit die Vision einer klassenlosen, vom hierarchischen Europa befreiten Gesellschaft, wie sie die Declaration of Independence verkündet hatte, ad absurdum. Die robber barons, d. h. die Öl-, Bergbau- und Eisenbahnmagnaten der Astors, Carnegies, Morgans, Vanderbilts und Rockefellers waren die uneingeschränkten neuen Herrscher und brachten dies in einem feudalen Lebensstil zum Ausdruck. Ihr Hauptinteresse galt den prunkvollen Sommerresidenzen, die sie mit herablassendem Understatement cottages (Häuschen) nannten und in landschaftlich reizvollen Gegenden wie den Berkshire Hills, Martha’s Vinyard oder an der Küste bei Newport, Rhode Island, erbauen ließen. Ihr Traum war, abseits der kruden kapitalistischen Geschäftswelt, wo sie ihren Reichtum anhäuften, das luxuriöse Leben des europäischen Hochadels zu imitieren und sich mit kostbaren Kunstgegenständen aller Art zu umgeben. Allein in den Berkshires gab es an die 70 Sommerresidenzen von Superreichen, die heute größtenteils noch als Hotels oder Kultureinrichtungen weiter existieren. Ein Beispiel der gehobenen Art ist The Mount, der feudale Ansitz, den sich die Romanschriftstellerin Edith Wharton 1902 bei Lenox in den Berkshire Hills erbauen ließ. Der Unterschied zwischen der Edith Wharton (1905) „The Mount“ <?page no="322"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 321 mondänen und kosmopolitischen Gesellschaftsdame und der vergeistigten und introvertierten Lyrikern Emily Dickinson verdeutlicht noch einmal den großen kulturellen Spannungsbogen Neuenglands im ausgehenden 19. Jahrhundert. Unter dem Einfluss von Henry James, mit dem Wharton eine geistige Freundschaft verband, schrieb sie gesellschaftskritisch-ironische Romane und Erzählungen und hatte damit riesigen Erfolg. Ihre bekanntesten Romane, House of Mirth (1905; dt. Das Haus der Freude) und The Age of Innocence (1920; dt. Zeit der Unschuld), schildern die scheiternden Emanzipationsversuche von Frauen der höheren Gesellschaft und ihre Auflehnung gegen Snobismus, Dünkelhaftigkeit und patriarchale Konventionen. Wharton entstammte einer eingesessenen New Yorker Patrizierfamilie. Reichtum und Luxus, gesellschaftliche Repräsentation und perfekte Etiquette waren die prägenden Einflüsse ihrer Jugend. 1885 heiratete sie den vermögenden, aber emotional instabilen Bostoner Bankier Edward Wharton und lebte mit ihm abwechselnd in New York und in ihrem summer cottage in Newport. Um ihrer unerfüllten Ehe zu entkommen und ungestört schreiben zu können, ließ sie ihr Anwesen nach dem Vorbild eines von Christopher Wren entworfenen englischen Landhauses in einer 46 Hektar großen Parklandschaft erbauen. Seine besonderen Merkmale sind das mit Gaupen, Giebeln und Kaminen gespickte Dach, eine lange Steinterrasse samt Markise an der Vorderseite, das Fehlen der üblichen pompösen Freitreppe und die vornehme Eleganz im Inneren. Wharton schrieb ein viel beachtetes Buch über Italian Villas and Their Gardens (1904) und beauftragte eine Landschaftsarchitektin, die ausgedehnte Gartenanlage nach italienischen Vorbildern zu gestalten. Das harmonische Nebeneinander von Rasenterrassen, Blumenbeeten, Steingärten, Baumgruppen und Teichen ist das Prunkstück des Anwesens. Leider konnte Wharton ihr gediegenes Refugium nicht lange genießen. Nach ihrer Scheidung im Jahr 1913 setzte sie sich endgültig nach Europa ab, wo sie bis zu ihrem Tod 1937 als Sozialaktivistin und Schriftstellerin im Spannungsfeld zwischen Alter und Neuer Welt wirkte. Das Anwesen wurde verkauft und nach mehrfachen <?page no="323"?> 322 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands Besitzerwechseln in stark heruntergekommenem Zustand 1971 zum National Historical Landmark erhoben und seitdem sorgfältig restauriert. 10 Seine architektonische Ausgewogenheit und Naturnähe stehen in bewusstem Gegensatz zu den meisten anderen Luxusbauten dieser Kategorie, die mehr von epigonalem Pomp, Prunksucht und Kitsch zeugen als von echtem Kunstverständnis. Aber gerade deswegen bilden auch sie eine aufschlussreiche Komponente in der Gedächtniskultur Neuenglands. Der Soziologe und Ökonom Thorstein Veblen hat in seinem einflussreichen Buch The Theory of the Leisure Class (1899; Die Theorie der feinen Leute) den äußeren Glanz und die innere Hohlheit der superreichen Aufsteiger und ihren „Geltungskonsum“ (conspicuous consumption) gesellschaftskritisch analysiert. Kein anderer Ort in Neuengland verkörpert das Luxusleben der von ihm beschriebenen Oberklasse und die übersteigerte Endphase des amerikanischen Traumes so krass und ungeschminkt wie Newport. Hier errichteten Industrie- und Finanzmogule zwischen 1890 und Cliff Walk in Newport <?page no="324"?> Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands 323 1914 ihre pompösen Herrenhäuser als Sommerresidenzen am fünf Kilometer langen Cliff Walk entlang der Küste. Die schlossartigen Gebäude hatten bis zu 70 Zimmer, verfügten über ein Riesenaufgebot an Dienstpersonal, und in ihren Prunksälen unterhielt sich die High Society auf Bällen und Abendgesellschaften. Die spektakulärsten cottages-- The Breakers, Marble House und Rosecliff Mansion-- ziehen heute als populäre Museen die Touristenmassen an. Die nach europäischen Vorbildern erbauten Paläste evozieren mit ihren efeubewachsenen Mauern, schmiedeeisernen Toren, parkartigen Gärten, geschwungenen Freitreppen, glänzenden Parkett- und Mosaikböden und einem Überschwang an Marmor, Stuck, Golddekor und Spiegelglas die untergegangene hypertrophe Scheinwelt eines schrankenlos gewordenen Kapitalismus. F. Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby (1925; dt. Der große Gatsby) gibt einen verstörenden Einblick in diese Welt. In Rosecliff, dem im Beaux-Arts-Stil erbauten Palais eines Silberma- Goldener Ballsaal, Marble House (1892) <?page no="325"?> 324 Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands gnaten, wurde 1974 Fitzgeralds Meisterwerk mit Robert Redford in der Hauptrolle verfilmt. Roman und Film erzählen die tragische Geschichte eines Emporkömmlings, der sein Leben dem amerikanischen Traum von Erfolg, Ruhm und materiellem Reichtum widmet, aber am Ende an seinen gigantomanischen und romantischen Wunschvorstellungen scheitert. Obwohl Fitzgerald die Handlung nicht in Newport, sondern in der High Society des benachbarten Long Island, New York, spielen lässt, bot das an der Küste liegende, dem Schloss von Versailles nachempfundene Rosecliff mit seinem prunkvollen Ballsaal die ideale Filmkulisse. Auf der letzten Seite des Romans grübelt der Ich-Erzähler Nick Carraway am nächtlichen Meeresufer über das Schicksal seines kurz zuvor ermordeten Freundes Gatsby. Er durchschaut dessen hemmungsloses Streben nach Erfolg, Reichtum und Glamour, seine Korrumpierbarkeit und Verblendung und bewundert dennoch die ungeheure Lebensenergie, mit der er seine Ziele verfolgte. Die folgende Passage könnte als abschließender nostalgischer Rückblick auf das illusionäre und am Ende oft scheiternde Streben gelesen werden, mit dem Neuengland über einen langen Zeitraum hinweg den amerikanischen Traum zu verwirklichen suchte: Die meisten großen Häuser an der Küste waren inzwischen geschlossen und man sah fast keine Lichter, mit Ausnahme einer schattenhaft glühenden Fähre, die über den Sund glitt. Und als der Mond höher stieg, begannen die wesenlosen Häuser wegzuschmelzen, bis ich plötzlich die ursprüngliche Insel vor mir sah, die hier einst für die Augen der holländischen Seeleute geblüht und ihnen die frischen, grünen Brüste der Neuen Welt entgegengestreckt hatte. Ihre verschwundenen Wälder, deren Bäume für Gatsbys Haus Platz gemacht hatten, mussten einst flüsternd dem letzten und größten Traum kupplerische Nahrung gegeben haben; für einen flüchtigen, verzauberten Augenblick muss der Mensch den Atem angehalten haben in der Gegenwart dieses Kontinents. 11 <?page no="326"?> Anmerkungen 325 11. Anmerkungen 1. Einführung 1 John Smith, A Description of New England [1616]. Zea E-Books in American Studies, Bd. 3, hg. von Paul Royster. Lincoln: Univ. of Nebraska, 2006, 25. 2. Plymouth-- wo alles begann 1 James Deetz und Patricia S. Deetz, The Times of Their Lives. Life, Love, and Death in Plymouth Colony. New York: Anchor Books, 2000, xv. 2 James Daugherty, The Landing of the Pilgrims. New York: Random House, 1950. 3 John Smith, A Description of New England [1616]. Zea E-Books in American Studies, Bd. 3, hg. von Paul Royster. Lincoln: Univ. of Nebraska, 2006, 5-25. 4 Gert Raeithel, Geschichte der nordamerikanischen Kultur, Bd. 1: Vom Puritanismus bis zum Bürgerkrieg 1600-1860. Weinheim: Quadriga, 1987, 8-17. 5 Ib., 8. 6 Finie Ziner, The Pilgrims of Plymouth Colony. New York: Harper and Row, 1965; James P. Leynse, Preceeding the Mayflower. New York: Fountainhead Books, 1972. 7 Ziner, The Pilgrims, 54-61. 8 Nathaniel Philbrick, Mayflower. A Story of Courage, Community, and War. New York: Penguin, 2006, 35-59. 9 Zitiert nach Herbert Schambeck, et al., Hg., Dokumente zur Geschichte der Vereinigen Staaten von Amerika. Berlin: Duncker & Humblot, 2007, 20; Philip Brooks, The Mayflower Compact. Minneapolis: Compass Point Books, 2005. 10 William Bradford, Of Plymouth Plantation. The Pilgrims in America, hg. von Harvey Wish. New York: Capricorn Books, 1962, 59 (Übers. vom Autor). 11 Ib., 60. 12 Bradford, Of Plymouth Plantation, 70-71; James W. Baker, Mayflower II, Plymouth Plantation. Plymouth, MA: Plimoth Plantation, 1993. 13 Bradford, 69-74; Philbrick, Mayflower, 133-135. 14 Ib., 85-86; Philbrick, 104-120. 15 Deetz, The Times of Their Lives, 22-24. 16 Harvey Wish, „Introduction,“ in Bradford, Of Plymouth Plantation, 1-22; Philbrick, Mayflower, 348 und 354. 17 Bradford, 60-61. 18 Ursula Brumm, Geschichte und Wildnis in der amerikanischen Literatur. Berlin: Erich Schmidt, 1980, 31-44. 19 Bradford, Of Plymouth Plantation, 60; Perry Miller, The New England Mind. From Colony to Province. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1953, 14-21; Sacvan Bercovitch, Hg., The American Puritan Imagination. Essays in Revalua- <?page no="327"?> 326 Anmerkungen tion, London: Cambridge Univ. Press, 1974, 77-104; Ulrike Brunette, Puritanismus und Pioniergeist. Die Faszination der Wildnis im frühen Neu-England. Berlin: Walter de Gruyter, 2000, 85-107. 20 Dwight B. Heath, Hg., Mount’s Relation. A Journal of the Pilgrims of Plymouth. Carlisle, MA: Applewood, 1963. 21 Bradford, Of Plymouth Plantation, 80-83; Philbrick, Mayflower, 104-139. 22 Bradford, 86-88. 23 Ib., 103-118, 120-123. 24 Ib., 141. 25 Ib., 140-145; Philbrick, 164. 26 Francis Bremer, John Winthrop. America’s Forgotten Founding Father. New York: Oxford Univ. Press, 2005; Virginia DeJohn Anderson, New England’s Generation. The Great Migration and the Formation and Culture in the Seventeenth Century. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1992, 28. 27 Floyd, The History of New England, 27-41. 28 Sumner C. Powell, Puritan Village: The Formation of a New England Town. Hanover and London: Wesleyan Univ. Press, 1970. 29 Bradford, Of Plymouth Plantation, 164-165. 30 Philbrick, Mayflower, 174-175. 31 William Cronon, Changes in the Land. Indians, Colonists, and the Ecology of New England. New York: Hill and Wang, 2003. Philbrick, Mayflower, 178-179. 32 Bradford, Of Plymouth Plantation, 183-184, (Übers. vom Autor). 33 Daniel R. Mandell, King Philip’s War. Colonial Expansion, Native Resistance, and the End of Indian Sovereignty. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press, 2010; Jill Lepore, The Name of War. King Philip’s War and the Origins of American Identity. New York: Knopf, 1998; Richard Slotkin, Regeneration Through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600-1890. Middletown, CT: Wesleyan Univ. Press, 1973. 34 Brunette, Puritanismus und Pioniergeist, 234-244. 35 Deetz, The Times of Their Lives, 279. 36 Sidney V. James, Hg., Three Visitors to Early Plymouth. Letter about the Pilgrim Settlement in New England During its First Seven Years. Carlisle: Applewood Press, 1963, 65-80. 37 Linda Coombs, Hg., Plimoth Plantation. Lawrenceburg, IN: The Creative Company, 2008. 38 Eddy Snow, Performing the Pilgrim. A Study in Ethnohistorical Role Playing. Jackson, MS: Mississippi Univ. Press, 1993, 3-48. 39 Deetz, The Times of Their Lives, 286-289. 40 Sacvan Bercovitch, The Puritan Origin of the American Self. New Haven: Yale Univ. Press, 1975, 136-186. <?page no="328"?> Anmerkungen 327 3. Salem-- Stadt der Hexen 1 Frances Hill, „Salem as Witch City,“ in Dane A. Morrison und Nancy L. Schultz, Hg., Salem. Place, Myth, and Memory. Boston: Northeastern Univ. Press, 2004, 283-195. 2 Emerson W. Baker, „Salem as Frontier Outpost,“ in Morrison, Salem, 3-20. 3 Frances Hill, A Delusion of Satan. The Full Story of the Salem Witch Trials. NewYork: Da Capo Press, 2002, 1-14. 4 Baker, „Salem as Frontier Outpost,“ in Morrison, Salem, 29. 5 Paul Boyer und Stephen Nissenbaum, Salem Possessed. The Social Origins of Witchcraft. Cambridge: Harvard Univ. Press, 1974, 37-79. 6 Jacob Sprenger und Heinrich Institoris, Der Hexenhammer [1487], hg. von W. R. Schmidt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1985. 7 Zitat aus Paul Boyer und Stephen Nissenbaum, Hg., Salem-Village Witchcraft. A Documentary Record of Local Conflict in Colonial New England. Boston: Northeastern Univ. Press, 1993, 134. 8 Bernard Rosenthal, Salem Story: Reading the Witch Trials of 1692. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2010, 32-34. 9 Boyer, Salem-Village Witchcraft, 3-17. 10 Marilynne K. Roach, The Salem Witch Trials. A Day-by-Day Chronicle of a Community under Siege. Lanham: Taylor Trade Publishing, 2002, 202. 11 Boyer, Salem-Village Witchcraft, 18-35. 12 Hill, The Delusion of Satan, 215. 13 Boyer, Salem-Village Witchcraft, 36-52. 14 Ib., 109; Hill, The Delusion of Satan, 182-183. 15 Bryan F. LeBeau, The Story of the Salem Witch Trials. Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall, 2010, 131-146. 16 Boyer, Salem Possessed, 8. 17 Rosenthal, Salem Story, 129-150; Boyer, Salem-Village Witchcraft, 67-90. 18 Boyer, Salem-Village Witchcraft, 107. 19 LeBeau, The Story of the Salem Witch Trials, 150-151. 20 Hill, A Delusion of Satan, 204-210. 21 Tamra Orr, People at the Center of the Salem Witch Trials. San Diego: Blackbirch Press, 2004, 42-43; Boyer, Salem-Witchcraft, 96-106. 22 LeBeau, The Story of the Salem Witch Trials, 204-209. 23 Richard Francis, Judge Sewall’s „Apology“. The Salem Witch Trials and the Forming of an American Conscience. New York: Harper, 2006. 24 Sacvan Bercovitch, The American Jeremiad. Madison: Univ. of Wisconsin Press, 1978, 3-30; Richard Wiseman, Witchcraft, Magic, and Religion in 17th-Century Massachusetts. Amherst: Univ. of Massachusetts Press, 1984. 25 Ernest Caulfield, „Pediatric Aspects of the Salem Witchcraft Tragedy,“ in Marc Mappen, Hg., Witches and Historians: Interpretations of Salem. Huntington, N.Y: Robert E. Krieger, 1980, 63. 26 Boyer, Salem-Witchcraft, 179-181. <?page no="329"?> 328 Anmerkungen 27 Carol F. Karlsen, The Devil in the Shape of a Woman. New York: Norton, 1987, 117-119. 28 Elizabeth Reis, Damned Women. Sinners and Witches in Puritan New England. Ithaca, NY: Cornell Univ. Press, 1997, 93-120. 29 Arthur Miller, Timebends. A Life. New York: Harper & Row, 1987, 335-352. 30 Dane A. Morrison, „Salem as a Citizen of the World,“ in Morrison, Salem, 107-112. 31 John V. Goff, „Salem as Architectural Mecca,“ in Morrison, Salem, 185-216. 32 Aviva Comsky, „Salem as Global City, 1850-2004,“ in Morrison, Salem, 219-248. 33 Nancy L. Schultz, „Salem as Hawthorne’s Creation,“ in Morrison, Salem, 163-184. 34 Nathaniel Hawthorne, „Das Zollamt,“ in Der scharlachrote Buchstabe, ins Deutsche übersetzt von Paula Staatman. Stuttgart: Reclam, 1973, 13. 35 Hawthorne, Sophia & Nathaniel, Das Paradies der Dinge. Ein gemeinsames Tagebuch. Mit einem Vorwort von Peter Handke, hg. von Alexander Pechmann. Salzburg: Jung und Jung, 2014; Nina Baym, The Shape of Hawthorne’s Career. Ithaca: Cornell Univ. Press, 1976, 15-85. 36 Nathaniel Hawthorne, Unheimliche Erzählungen, übersetzt von Hannelore Neves und Siegfried Schmidt. Düsseldorf: Patmos Verlag, 2007, 214. 37 Ib., 216. 38 Frederick Crews, The Sins of the Fathers. Hawthorne’s Psychological Themes. London: Oxford Univ. Press, 1966, 98-106. Thomas. E. Connolly, „Hawthorne’s ‚Young Goodman Brown‘: An Attack on Puritanic Calvinism,“ American Literature, 28 (1956), 370-375; Richard H. Fogle, Hawthorne’s Fiction: The Light and the Dark. Norman: Univ. Oklahoma Press, 1952, 15-20. 39 Hawthorne, „Das Zollhaus,“ in Der scharlachrote Buchstabe, 47-48. 40 Bernd Engler, Fiktion und Wirklichkeit. Zur narrativen Vermittlung erkenntnisskeptischer Positionen bei Hawthorne und Melville. Berlin: Duncker & Humblot, 1991, 67-82. 41 Hawthorne, „Das Zollhaus,“ in Der scharlachrote Buchstabe, 16. 42 Polly Angelakis, The Scarlet Author. Fort Washington, PA: Eastern National, 2004, 3. 43 Hawthorne, Der scharlachrote Buchstabe, 225. 44 Ib., 234-235. 45 Ib., 299. 46 Harry Levin, The Power of Blackness: Hawthorne, Poe, Melville. New York: Vintage Books, 1958. 47 Nathaniel Hawthorne, The House of the Seven Gables. New York: Signet, 14. Dt. Übersetzung: Das Haus mit den sieben Giebeln. München: Manesse, 2014. 48 Patricia A. Carlson, Hawthorne’s Functional Settings. A Study of Artistic Method. Amsterdam: Radolphi, 1977, 178-181. 49 Lorinda B. Goodwin, „Salem’s House of the Seven Gables as Historic Site,“ in Morrison, Salem, 299-314. <?page no="330"?> Anmerkungen 329 50 Emily A. Murphy, Nathaniel Hawthorne’s Salem. A Walking Tour of Literary Salem in the Early Nineteenth Century. Fort Washington, PA: Eastern National, 2007, 15-38. 4. Boston-- Wiege der Freiheit 1 Darrett B. Rutman, Winthrop’s Boston: Portrait of a Puritan Town, 1630-1649. Chapel Hill: Univ. of North Carolina Press, 1965; Thomas H. O’Connor, The Hub. Boston Past and Present. Boston: Northeastern Univ. Press, 2001, 9-10. 2 Bernard Bailyn, Hg. Pamphlets of the American Revolution 1750-1776. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press, 1965; ders., Ideological Origins of the American Revolution. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press, 1967. 3 Edmund S. und Helen M. Morgan, The Stamp Act Crisis. Prologue to Revolution. Chapel Hill: Univ. of North Carolina Press, 1962, 167-169. 4 Horst Dippel, Die Amerikanische Revolution 1763-1787. Frankfurt: Edition Suhrkamp, 1985, 48-49. 5 Gay B. Nash, The Unknown American Revolution. London: Pimlico, 2007, 92-93. 6 Ib., 48. 7 Marcus Rediker, „A Motley Crew of Rebels, Sailors, Slaves, and the Coming of the American Revolution,“ in Roland Hoffman, Hg., The Transforming Hand of the Revolution. Reconsidering the American Revolution as a Social Movement. Charlottesville: Univ. Press of Virginia, 1995, 155-198. 8 Hiller B. Zobel, The Boston Massacre. New York: Norton, 1972. 9 Benjamin L. Carp, Defiance of the Patriots. The Boston Tea Party and the Making of America. Newhaven: Yale Univ. Press, 2011. 10 Dippel, Die Amerikanische Revolution, 56-57. 11 Gert Raeithel, Geschichte der nordamerikanischen Kultur, Bd. 1. Berlin: Quadriga, 1987, 207. 12 Jim Holliston, Lexington and Concord. First Battleground of the American Revolution. New York: Eastern National Press, 2006, 6. 13 Boston and the American Revolution. Official National Park Handbook. Washington: National Park Service. Division of Publications, 1989. 14 Nash, The Unknown American Revolution, 219. 15 Paul Lockhart, The Whites of Their Eyes. Bunker Hill, the First American Army and the Emergence of George Washington. New York: Harper Perennial, 2011. 16 Christoper Hitchens, Thomas Paine. Die Rechte des Menschen. München: dtv, 2007, 30-39. 17 Thomas Paine, The Essential Thomas Paine. New York: New American Library, 1969, 37 (Übers. vom Autor). 18 Pauline Maier, American Scripture. Making the Declaration of Independence. New York: Alfred Knopf, 1997; Gary Wills, Inventing America. Jefferson’s Declaration of Independence. New York: Vintage, 1979. <?page no="331"?> 330 Anmerkungen 19 Zitiert nach Willi Paul Adams und Angela Adams, Die amerikanische Revolution in Augenzeugenberichten. München: dtv, 1982, 262. 20 Ib., 263. 21 Gordon S. Wood, The American Revolution. New York: Modern Library, 2002, 76-78. 22 Dippel, Die Amerikanische Revolution, 74-81. 23 Boston and the American Revolution. Official National Park Handbook. 27; Susan Wilson, Boston Sites & Insights. An Essential Guide to Historic Landmarks In and Around Boston. Boston: Beacon Press, 2003, 34-39. 24 Oliver Wendell Holmes, The Autocrat at the Breakfast Table [1858]. New York: Airmont Publishing, 1968, 110. 25 Colin Bonwick, The American Revolution. New York: Palgrave Macmillan, 2005, 106-107. 26 Ib., 228-249. 27 Nash, The Unknown American Revolution, 12-25; Howard Zinn, A People’s History of the United States. New York: Harper, 2003, 84-85. 28 Dippel, Die Amerikanische Revolution, 73. 29 Charlotte Lerg, Die Amerikanische Revolution. Tübingen: Francke, 2010, 96-102. 30 Allan Kulikoff, „Was the American Revolution a Bourgeois Revolution? ,“ in Ronald Hoffman, Hg. The Transforming Hand of the Revolution. Reconsidering the American Revolution as a Social Movement. Charlottesville: Univ. Press of Virginia, 1995, 58-89. 31 Susan Wilson, The Literary Trail of Greater Boston. Beverly, MS: Commonwealth Editions, 2005, 57-104. 32 James, O. Horton, Black Bostonians. Family Life and Community Struggle in the Antebellum North. New York: 1999, 5-104. 33 Ib., 88-123. 34 Ib., 106-116. 35 Ib., 117-123. 36 Wilson, Boston Sites & Insights, 224-228. 37 Ib., 207-223. 5. Hancock Shaker Village-- religiöser Exzeptionalismus 1 Clark Garrett, Origins of the Shakers. From the Old World to the New World. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press, 1998, 103-104. 2 Ib., 15-34. 3 Stephen J. Stein, The Shaker Experience in America. New Haven: Yale Univ. Press, 1994, 72-73; Garrett, Origins of the Shakers, 140-159. 4 William S. Haskett, Shakerism Unmasked, or the History of the Shakers. Pittsfield, MA: E. H. Walkley, 1828, 5. 5 Garrett, Origins of the Shakers, 170-171. <?page no="332"?> Anmerkungen 331 6 Priscilla J. Brewer, Shaker Communities, Shaker Lives. Hanover: Univ. Press of New England, 1986, 5-7. 7 Garrett, Origins of the Shakers, 177-194. 8 Valentine Rathbun, An Account of the Matter, Form, and Manner of a New and Strange Religion, Taught and Propagated by a Number of Europeans, living in a Place Called Nisqueuna, in the State of New York. Providence, RI: Bennett Wheeler, 1781; Lawrence Foster, Religion and Sexuality: Three American Communal Experiments of the Nineteenth Century. New York: Oxford Univ. Press, 1981, 51-54. 9 Edward D. Andrews, The People Called Shakers. New York: Dover Publications, 1963, 54-56. 10 Garrett, Origins of the Shakers, 194. 11 Gerald und Patricia Gutek, Visiting Utopian Communities. A Guide to the Shakers, Moravians, and Others. Columbia, SC: Univ. of South Carolina Press, 1998, 49-56. 12 Ami B. Miller, Hancock Shaker Village-- The City of Peace. An Effort to Restore a Vision 1960-1985. Hancock, MA: Hancock Shaker Village, 1985. 13 Raymond, Bial. The Shaker Village. Lexington: Univ. Press of Kentucky, 2008. 14 Andrews, The People Called Shakers, 45-46. 15 Ib., 177-201. 16 Brewer, Shaker Communities, Shaker Lives, 30-42. 17 Glendyne R. Wergland, Sisters in the Faith. Shaker Women and Equality of the Sexes. Amherst: Univ. of Massachusetts Press, 2011, 161-174. 18 Wergland, Sisters in the Faith, 97. 19 Nathaniel Hawthorne, American Notebooks, hg. von Randall Stewart. New Haven: Yale Univ. Press, 1932, 229-231 (Übers. vom Autor). 20 Brewer, Shaker Communities, 74-75. 21 Andrews, The People Called Shakers, 243-289. 22 Brewer, Shaker Communities, 115-135. 23 Andrews, The People Called Shakers, 166-169. 24 Sally M. Promey, Spiritual Spectacles. Vision and Image in Mid-Nineteenth-Century Shakerism. Bloomington: Indiana Univ. Press. 1993, 66-68. 25 Ib., 79-81. 26 Edward D. Andrews, Gifts to be Simple. Songs, Dances, and Rituals of the Shakers. Gloucester, MA: Peter Smith, 1985; Carol Medlicott, „Innovation in Music and Song,“ in Stephen Miller, Hg., Inspired Innovations. A Celebration of Shaker Ingenuity. Hanover: Univ. of New England, 2010 199-206; Joel Cohen, „The Golden Harvest of Shaker Chants and Spirituals.“ CD der Boston Camerata. Hamburg: Pure Classics, 2000. 27 Brewer, Shaker Communities, 136-165. 28 Andrews, The People Called Shakers, 120-132. 29 Harriet Martineau, Society in America. New Brunswick: Transaction Books, 1981, 175. 30 Brewer, Shaker Communities, 121-122. <?page no="333"?> 332 Anmerkungen 31 Andrews, The People Called Shakers, 179. 32 Wergland, Sisters in the Faith, 42-55. 33 Andrews, The People Called Shakers, 142-151. 34 John H. Ott, Hancock Shaker Village. A Guidebook and History. Hancock: Shaker Community, Inc., 1976, 122. 35 Zitiert nach Wergland, Sisters in the Faith, 99. (Dt. Übers. vom Autor). 36 Christian Becksvoort, The Shaker Legacy. Perspectives on an Enduring Furniture Style. Newtown: The Tauton Press, 2000, 3-16. 37 Amy B. Miller, Hancock Shaker Village, 43. 38 Miller, Hg., Inspired Innovations, 29-42 und 63-76. 39 Ib., 43-62. 40 Millenial Laws (1845), Section IV, in Andrews, The People Called Shakers, 282-283 (Übers. vom Autor). 41 Becksvoort, The Shaker Legacy, 2. 42 Flo Morse, The Story of the Shakers. Woodstock, VM: Countryman Press, 1986, 224-240. 43 Charles Dickens, American Notes. London: Penguin Books, 2000, 238-239 (Übers. vom Autor). 44 Louis Sullivan, „The Tall Office Building Artistically Considered,“ Lippincot’s Magazine (März 1896), 111. 45 Becksvoort, Shaker Legacy, 19-29 46 Constance Rourke, The Roots of American Culture. New York: Harcourt, Brace, 1942. 47 Seymour M. Lipset, American Exceptionalism. New York: Norton, 1996, 60-63. 6. Concord-- ein amerikanisches Weimar 1 Paul Brooks, The People of Concord. Golden, CO: Fulcrum Press, 2006, 1-4. 2 Robert D. Richardson, Emerson. The Mind on Fire. Berkeley: Univ. of California Press, 1995, 154-155. 3 Joseph C. Schöpp, „‚Memory May their Deed Redeem‘: Emerson, Concord, and History,“ in Udo J. Hebel, Hg. Sites of Memory in American Literatures and Cultures. Heidelberg: Winter, 2001, 43-50. 4 Russell G. Goodman. American Philosophy and the Romantic Tradition. New York: Cambridge Univ. Press, 1991, 34-57. 5 R. Jackson Wilson, „Emerson as Lecturer: Man Thinking, Man Saying,“ in Joel Porte, Hg. The Cambridge Companion to Ralph Waldo Emerson. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1999, 76-96. 6 F. O. Matthiessen, American Renaissance. Art and Expression in the Age of Emerson and Whitman. London: Oxford Univ. Press, 1941. 7 Samuel A. Schreiner, The Concord Quartet. Alcott, Emerson. Hawthorne, Thoreau, and the Friendship that Freed the American Mind. Hoboken, NJ: John Wiley, 2006. <?page no="334"?> Anmerkungen 333 8 Günter Leypoldt, „The Transcendental Turn in Nineteenth Century New England,“ in Bernd Engler und Oliver Scheiding, Hg. A Companion to American Cultural History. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009, 287-289. 9 William Ellery Channing, „Likeness to God“ (1828), in Bernd Engler und Oliver Scheiding, Hg. Key Concepts in American Cultural History. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2007, 432. 10 Dieter Schulz, Amerikanischer Transzendentalismus. Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997. 11 Oliver Wendell Holmes, Ralph Waldo Emerson. Boston: Houghton, 1906, 88. 12 Ralph Waldo Emerson, Selected Writings. New York: American Library, 1965, 240 (Übers. vom Autor). 13 Ib., 239. 14 Richardson, Emerson. The Mind on Fire, 288-292. 15 Herwig Friedl, „Emerson and Nietzsche: 1862-1874,“ in Peter Freese, Hg. Religion and Philosophy in the United States. Bd. 1. Essen: Blaue Eule, 1987, 267-287. 16 Manfred Pütz, „Emerson and Kant Once Again: Is Emerson’s Thought a Philosophy before, after, beside or beyond Kant? ,“ in Freese, Religion and Philosophy, 621-640; R. W. Krusche, Emersons Naturauffassung und ihre philosophischen Ursprünge: Eine Interpretation des Emersonschen Denkens aus dem Blickwinkel des deutschen Idealismus. Tübingen: Narr, 1987. 17 Emerson, Natur, hg. und übers. von Harald Kiczka. Zürich: Diogenes, 1988, 16-17. 18 Ib., 9. 19 Ib., 32-33 und 37. 20 Robert Hughes, „Die Wildnis und der Westen“, Bilder von Amerika. Die amerikanische Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: Karl Blessing, 1997, 137-166. 21 Arno Heller. Amerikanischer Nordwesten und Kalifornien. Historische Spurensuche jenseits der Mythen. Innsbruck: Innsbruck University Press, 2010, 262-266. 22 R. W. Emerson, Essays, hg. und übers. von Harald Kicka. Zürich: Diogenes, 1983, 44. 23 Ib., 55 24 David Robinson, Emerson and the Conduct of Life: Pragmatism and Ethical Purpose in the Later Works. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2009, 136; Robert Milder, „The Radical Emerson? ,“ in Porte, The Cambridge Companion to Ralph Waldo Emerson, 49-75. 25 Richardson, Emerson, 498; Lem Gougeon, Virtue’s Hero: Emerson, Anti-Slavery, and Reform. Athens: Univ. of Georgia Press, 1990. 26 Catherine Tufariello, „‚The Remembering Wine‘: Emerson’s Influence on Whitman and Dickinson,“ in Joel Porte, The Cambridge Companion to Ralph <?page no="335"?> 334 Anmerkungen Waldo Emerson, 162-191; Gudrun Grabher, Emily Dickinson: Das transzendentale Ich. Heidelberg: Winter, 1981, 29-34. 27 Orestes Brownson, „The Laboring Classes“ (1840), in Engler, Key Concepts, 463. 28 Sterling F. Delano, Brook Farm. The Dark Side of Utopia. Cambridge: Harvard Univ. Press, 2004, 117-118. 29 Zitat aus Richardson, Emerson: The Mind on Fire, 341. 30 Zitat aus John Patrick Diggins, The Rise and Fall of the American Left. New York: Norton: 1992, 74. 31 Delano, Brook Farm, 142 32 Ib., 326-327. 33 R. Todd Felton, A Journey into the Transcendentalists’ New England. Berkeley, CA: Roaring Forties Press, 2006, 120-121. 34 Marie M. Urbanski, Hg., Margaret Fuller: Visionary of the New Age. Orono, Maine: Northern Lights. 1994, 112-120. 35 Margaret Fuller, Woman in the Nineteeth Century. New York: Norton, 1971, 119 und 21 (Übers. vom Autor). 36 John Matteson, The Lives of Margaret Fuller. A Biography. New York: Norton, 2012; Fritz Fleischmann, Margaret Fuller’s Cultural Critique: Her Age and Her Legacy. New York: Lang, 2000, 1-24. 37 David R. Foster, Thoreau’s Country. Journey through a Transformed Landscape. Cambridge: Harvard Univ. Press, 1999. 38 Walter Harding, The Days of Henry David Thoreau: A Biography. New York: Dover, 1982; Robert D. Richardson, Henry Thoreau. A Life of the Mind. Berkeley: Univ. of California Press, 1986, 47-76 und 43. 39 Zitat aus Brenda Wineapple, Hawthorne. A Life. New York: Random House, 2004, 164. 40 Zitat aus Richardson, Emerson, 548. 41 Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich: Diogenes, 1971, 98. Weitere Zitate aus dieser Ausgabe unter „W“ im Text. 42 Paul Brooks, The People of Concord, 47-66. 43 Henry David Thoreau, Vom Ungehorsam gegen den Staat. Vom Gehen durch die Natur, übers. von Meike Breitkreuz. Köln: Anaconda, 2010, 9. Die weiteren Textzitate sind ebenfalls dieser Ausgabe entnommen. 44 Sharan Cameron, Writing Nature. Henry Thoreau’s Journal. Chicago: Univ. of Chicago Press, 1989, 3-13. 45 Richardson, Henry Thoreau, 357-362. 46 Henry David Thoreau, Journal, Bd. 2, hg. von C. Broderick und Robert Sattelmeyer. Princeton: Princeton Univ. Press, 1981-1992, 382-383 (Übers. vom Autor ohne Thoreaus reduzierte Punktuation). 47 Richardson, Henry Thoreau, 378-379. 48 Thoreau, Journal, Bd, 3, 186. 49 Ib., Bd. 2, 351. <?page no="336"?> Anmerkungen 335 50 Henry David Thoreau, „Ktaadn,“ in The Main Woods, hg. von Joseph J. Moldenhauer. Princeton: Princeton Univ. Press, 1972, 70-71 (Übers. vom Autor). 51 Henry David Thoreau, Vom Ungehorsam gegen den Staat. Vom Gehen durch die Natur, 106. 52 Roderick Nash, Wilderness and the American Mind. New Haven: Yale Univ. Press, 1973, 44-66 und 102; Lawrence Buell, The Environmental Imagination, Thoreau, Nature Writing and the Formation of American Culture. Cambridge: Harvard Univ. Press, 1995. 53 Zitat aus Lawrence Buell, Emerson. Cambridge: Harvard Univ. Press, 2003, 298. 54 Jon Krakauer, Into the Wild. New York: Doubleday, 1996, 168. (Übers. vom Autor). 55 Sacvan Bercovitch, „Emerson, Individualism, and the Ambiguities of Dissent,“ South Atlantic Quarterly, 89 (1990), 623-622; Stanley Cavell, „Emerson and the Politics of Individualism,“ New Literary History, 25 (1994), 137-157. 56 Perry Miller, Nature’s Nation. Cambridge: Harvard Univ. Press, 1967. 7. New Bedford und Mystic Seaport-- Herman Melvilles Walkosmos 1 Judith A. Boss und Joseph D. Thomas, New Bedford. A Pictorial History. Norfolk, VA: Donning Company Publishers, 1983. 2 Hershel Parker, Herman Melville. A Biography. Vol 1, 1819-1851. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1996, 180-204; Alexander Pechmann, Herman Melville. Leben und Werk; Wien: Böhlau Verlag, 2003, 39-54. 3 Herman Melville, Moby-Dick, übers. von Matthias Jendis. München: btb, 2003, 77. Alle weiteren Seitenangaben im Text sind dieser Ausgabe unter „MD“ entnommen. 4 Robert S. Levine und Samuel Otter. Frederick Douglass and Herman Melville. Chapel Hill: Univ. of North Carolina Press, 2008; Robert K. Wallace, Douglass and Melville. Anchored Together in Neighbourly Style. New Bedford, MA: Spinner Publications, 2005. 5 Laurie Robertson-Lorant, Herman Melville. A Biography. Amherst: Univ. of Massachusetts Press, 1996, 321-323. 6 David und Patricia Coffin, Nantucket. New York: Viking Press, 1971. 7 Charles R. Anderson, Melville in the South Seas. New York: Dover Publications, 1966. 8 Wilson Heflin, Herman Melville’s Whaling Years. Nashville: Vanderbilt Univ. Press, 2004, 132-133. 9 Herbert T. Walter, Marquesan Encounters: Melville and the Meaning of Civilization. Cambridge: Harvard Univ. Press, 1980. 10 Heflin, Herman Melville’s Whaling Years, 144-194. 11 Robertson-Lorant, Melville, 195-237. 12 Thomas Nickerson und Owen Chase, The Loss of the Ship „Essex“, Sunk by a Whale [1821]. Harmonsworth: Penguin Books, 2000; Nathaniel Philbrick, In <?page no="337"?> 336 Anmerkungen the Heart of the Sea. The Tragedy of the Whaleship „Essex.“ Harmondsworth: Penguin Books, 2000. 13 Zitat aus Herman Melville, Ein Leben. Briefe und Tagebücher, hg. von Werner Schmitz und Daniel Göske. München: Hanser, 2004, 240-241. 14 Merton M. Sealts, Melville’s Reading. Columbia. Univ. of South Carolina Press, 1988; Howard P. Vincent, The Trying-Out of Moby-Dick. Boston: Houghton Mifflin, 1949. 15 Herman Melville, „Hawthorne and his Mosses,“ in Hershel Parker, Hg., Moby- Dick. Herman Melville. New York: Norton Critical Edition, 1992, 522; Harry Levin, The Power of Blackness: Hawthorne, Melville, and Poe. New York: Faber, 1958; Howard P. Vincent, Hg, Melville and Hawthorne in the Berkshires. Kent, Ohio: Kent State Univ. Press, 1968, 4-21. 16 „Reviews of Moby-Dick,“ in Parker, Hg., Moby-Dick, 595-614; ders., „Damned by Dollars: Moby-Dick and the Price of Genius,“ ib., 713-724. 17 Raymond M. Weaver, Herman Melville, Mariner and Mystic. New York: George H. Doran, 1921. 18 F. O. Matthiessen, American Renaissance, Art and Expression in the Age of Emerson and Whitman. London: Oxford Univ. Press, 1941, 405-406. 19 Lewis Mumford, Herman Melville: A Study of His Life and Vision. New York: Harcour, Brace, 1929. 20 Lawrence Thompson, Melville’s Quarrel With God. Princeton: Princeton Univ. Press, 1952; H. Bruce Franklin, The Wake of Gods: Melville’s Mythology. Stanford: Stanford Univ. Press, 1963. 21 D. H. Lawrence. Studies in Classic American Literature [1923]. New York: Viking Press, 1961, 160. 22 Merlin Bowen, The Long Encounter: Self and Experience in the Writings of Herman Melville. Chicago: Chicago Univ. Press" 1960; Henry A. Murray, „In Nomine Diaboli,“ New England Quarterly, 24 (1951), 435-452. 23 Eugen Drewermann, Moby Dick oder vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein. Melvilles Roman tiefenpsychologisch gedeutet. Zürich: Walter, 2004. 24 Lawrence, Studies in Classic American Literature, 156. 25 Camille Paglia, „Moby Dick as Sexual Protest,“ in Hershel, Hg., Herman Melville, Moby-Dick. Norton Critical Edition. New York: Norton, 2002, 701. 26 Edgar A. Dryden, Melville’s Thematics of Form: The Great Art of Telling the Truth. Baltimore: Johns Hopkins Univ., 1968; Milton R. Stern, The Fine Hammered Steel of Herman Melville. Urbana: Univ. of Illinois Press, 1969. 27 C. L. James, Mariners, Renegades and Castaways. The Story of Herman Melville and the World We Live In. Hanover und London: Univ. Press of New England, 1985. 28 Paul Brodtkorb, Ishmael’s White World: A Phenomenological Reading of Moby- Dick. New Haven: Yale Univ. Press, 1965. 29 Vega Curl, Pasteboard Masks. Fact as Spiritual Symbol in the Novels of Hawthorne and Melville. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press, 1931. <?page no="338"?> Anmerkungen 337 30 Lisa Brownell und Steve Dunwell, Mystic Seaport. Mystic, CN: Mystic Seaport Museum Stores. 1985. 31 Iyunolu F. Osagie, The Amistad Revolt. Athens: Univ. of Georgia Press, 2000. 32 Eric Sundquist, „‚Benito Cereno‘ and New World Slavery,“ in Sacvan Bercovitch, Hg., Reconstructing American Literary History. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press, 1986, 93-122; Arno Heller, „Ideologiekritik als Textstrategie in Melvilles ‚Benito Cereno‘,“ Sprachkunst, 27 (1996), 87-108. 33 Carolyn Karcher, Shadow Over the Promised Land: Slavery, Race and Violence in Melville’s America. Baton Rouge: Louisiana State Univ. Press, 1980. 34 Martin Green, Re-Appraisals. Some Commonsense Readings in American Literature. New York: Norton, 1967. 8. Lowell-- Aufstieg und Scheitern einer industriellen Utopie 1 Jack Kerouac, The Town and the City, übers. von Hans Hermann. Reinbeck: Rowohlt, 1984, 9. 2 John Prendergast, Images of America: Lowell. Charleston, SC: Arcadia Publishing, 1996, 7-8. 3 Arthur L. Eno, Cotton Was King: A History of Lowell, Massachusetts. New Hampshire Publishing Company, 1976. 4 Steve Dunwell, The Run of the Mill. Pictorial Narrative of the Expansion, Dominion, Decline, and Enduring Impact of New England Textile Industry. Boston: David R. Godine, 1978. 5 Paul W. Gates, The Farmer’s Age. Agriculture 1815-1860. New York: Harper & Row, 1960; Rolla M. Tyron, Household Manufactures in the United States, 1640-1860. Ann Arbor, MI: Univ. of Michigan Library, 2009. 6 Kent McCallum, Old Sturbridge Village. New York: Harry N. Abrams, 1996. 7 Percy W. Bidwell, Rural Economy in New England at the Beginning of the Nineteenth Century. Cambridge, MA: Cambridge Scholars Publishing, 2009; Robert Dalzell, Enterprising Elite. The Boston Associates and the World They Made. Cambridge: Harvard Univ. Press, 1987. 8 Caroline Ware, The Early New England Cotton Manufacture. A Study in Industrial Beginnings. New York: Russell and Russell, 1966. 9 Robert B. Zevin, „The Growth of the Cotton Textile Production After 1815,“ in Stanley Engerman und Robert Fogel, Hg. The Reinterpretation of American Economic History. New York: Harper and Row, 1974, 122-147. 10 Benita Eisler, Hg., The Lowell Offering, Writings by New England Mill Women (1840-1845). New York: Norton, 1977, 18-19. 11 Ib., 29-35. 12 Harriet H. Robinson, Loom and Spindle: Or Life Among the Early Mill Girls. New York: Thomas Y. Crowell, 1898, 41-42. 13 Eisler, The Lowell Offering, 22-24. 14 Thomas Dublin, Women at Work. The Transformation of Work and Community in Lowell, Massachusetts, 1826-1860. New York: Columbia Univ. Press, <?page no="339"?> 338 Anmerkungen 1981, 75-85; Thomas Dublin, Transforming Women’s Work: New England Lives in the Industrial Revolution. Ithaca, NY: Cornell Univ. Press, 1995. 15 Anthony Trollope, North America. Bd. 1. New York: Augustus M. Kelley, 306-309. 16 Charles Dickens, American Notes [1842]. London: Penguin Books, 2000, 80. 17 Harriet Martineau, Society in America [1837]. New Brunswick: Transaction Books, 1861, 238-240. 18 Flanagan, The Lowell Mill Girls, 18-22; Joanne B. Weisman, Hg. The Lowell Mill Girls. Life in the Factory. Lowell: Discovery Enterprises, 1991. 19 Mary H. Blewett, Surviving Hard Times: The Working People of Lowell. Lowell: Lowell Museum, 1982. 20 Zitat aus Jeff Levinson, Hg., Mill Girls of Lowell. Boston: History Compass, 2007, 26. 21 Ib., 100-101. 22 Mary H. Blewett, Constant Turmoil. The Politics of Industrial Life in Nineteenth Century New England. Amherst: Univ. of Massachusetts Press, 2000. 23 Dublin, Women at Work, 114-115. 24 Dublin, Women at Work, 92-93. 25 Barbara Walter, „The Cult of True Womanhood,“ American Quarterly, 18 (1966), 151-174. 26 Dublin, 121-137. 27 Nancy Zaroulis, Und sie nannten das Dunkel Licht, übers. von Hermann Stiehl. Reinbek: Rowohlt, 1981, 142-146. Engl. Titel: Zaroulis, Call the Darkness Light. New York: Doubleday, 1979. 28 Dublin, Women at Work, 174. 29 Laurence E. Gross, The Course of Industrial Decline: The Boott Cotton Mills of Lowell, Massachusetts, 1835-1955. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press, 1993. 30 Dublin, Women at Work, 144-164. 31 Gerard J. Brault, The French Canadian Heritage in New England. Hanover, NH: Univ. Press of New England, 1986. 32 Martha Norkunas, Monuments of Memory. History and Representation in Lowell, Massachusetts. Washington, DC: Smithsonian Institution Press, 2002. 33 Thomas Dublin, Lowell, The Story of an Industrial City. Lowell. Guide to Lowell National Historical Park. Washington, DC: Publications of the National Park Service, 1992, 30-64. 34 Cathy Stanton, The Lowell Experiment. Public History in a Postindustrial City. Amherst: Univ. of Massachusetts Press, 2006, 135-184. 35 Ib., 185-228. 36 Norkuna, Monuments and Memory, 40-41. <?page no="340"?> Anmerkungen 339 9. Hartford-- Mark Twain als Connecticut Yankee 1 Candace Floyd, The History of New England. New York: Portland House, 1990, 30-32. 2 Jesse Russell und Ronald Cohn, Hartford Connecticut. Edinburgh: Lennex, 2012, 43. 3 Folgende Twain-Biographien wurden hauptsächlich konsultiert: Everett Emerson, Mark Twain. A Literary Life. Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press, 2000; Justin Kaplan, The Singular Mark Twain. A Biography. New York: Doubleday, 2003; Ron Powers, Mark Twain. A Life. New York: Simon & Schuster, 2005; Justin Kaplan, Mr. Clemens and Mark Twain. New York: Simon & Schuster, 1970. 4 Andrew Hoffman, Inventing Mark Twain. The Lives of Samuel Clemens. London: Phoenix Giant Paperbacks, 1988. 5 Edward Wagenknecht, Mark Twain: The Man and His Work. Norman: Univ. of Oklahoma Press, 1967, 71; Pascal Covici, Mark Twain’s Humor. The Image of a World. Dallas: Southern Methodist University, 1962, 65-109. 6 Harold Bloom, Mark Twain. Philadelphia: Chelsea House, 2003, 40. 7 Susan Harris, The Courtship of Olivia Langdon and Mark Twain. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1996, 70-105. 8 Van Wyck Brooks, The Ordeal of Mark Twain. New York: Dutton, 1920, 130- 162. 9 Kaplan, The Singular Mark Twain, 220-222. 10 Kenneth R. Andrews, Mark Twain’s Hartford Circle. Seattle: Univ. of Washington Press, 1950, 25-77; Joseph S. Van Why, Nook Farm. Hartford: The Stowe-Day Foundation, 1962. 11 Andrews, 84-89. 12 Wagenknecht, Mark Twain, 158. 13 Zitiert aus Harris, The Courtship of Olivia Langdon and Mark Twain, 166. 14 Mark Twain, Meine geheime Autobiographie, Berlin: Aufbau, 2012, 212-213. Weitere Textzitate aus dieser Ausgabe folgen im Text unter „AB“. Am. Ausgabe: Twain, Autobiography of Mark Twain: The Complete and Authoritative Edition, 2 Bde., hg. von Harriet E. Smith et al. Berkeley: Univ. of California Press, 2010. 15 Bryant M. French, Mark Twain and the Gilded Age. The Book that Named an Era. Dallas: Southern Methodist Univ. Press, 1965. 16 Andrews, Mark Twain’s Hartford Circle, 78-109. 17 J. D. Clatchey und Erica Lennard, Amerikanische Dichter und ihre Häuser. München: Knesebeck, 2004, 28. 18 Henry Darbee, Hg., The Mark Twain House. Hartford: Mark Twain Memorial, 2001, 18. 19 Brooks, The Ordeal of Mark Twain, 157. 20 Henry Nash Smith, Mark Twain’s Development as a Writer. Cambridge: Harvard Univ. Press, 1962, 71-91; Albert E. Stone, The Innocent Eye: Childhood in Twain’s Imagination. New Haven: Yale Univ. Press, 1962. <?page no="341"?> 340 Anmerkungen 21 Kaplan, The Singular Mark Twain, 433-441. 22 Hoffman, Inventing Mark Twain, 190-192. 23 Andrews, Mark Twain’s Hartford Circle, 208. 24 Zitat aus Bloom, Mark Twain, 47. 25 Smith, Mark Twain’s Development as a Writer, 113-137. 26 De Lancey Ferguson, Mark Twain: Man and Legend. Indianapolis: Charter Books, 1963, 229. 27 Mark Twain, Ein Yankee an König Artus’ Hof. Berlin: Aufbau, 2012, 12. Weitere Zitate folgen im Text unter „CY“. 28 Peter Messent, The Cambridge Introduction to Mark Twain. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2007, 88-91. 29 Richard Slotkin, „Mark Twain’s Frontier. Hank Morgan’s Last Stand,“ in Eric J. Sundquist, Hg., Mark Twain. A Collection of Critical Essays. Englewood Cliffs: Prentice Hall, 1994, 113-128. 30 Henry Nash Smith, Mark Twain’s Fable of Progress. Political and Economic Ideas in ‚A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court‘. New Brunswick: Rutgers Univ. Press, 1964; Winfried Fluck, Hg., Forms and Functions of History in American Literature. Berlin: Erich Schmidt, 1984, 134-214. 31 Louis Budd, Hg., Mark Twain. The Contemporary Reviews. Cambridge, MA.: Cambridge Univ. Press, 1999, 292-295. 32 Harold Baetzhold, „The Course of Composition of A Connecticut Yankee,“ American Literature, 33 (1961): 195-214. 33 Peter Messent, „Toward the Absurd. Mark Twain’s A Connecticut Yankee,“ in Robert Giddings, Hg., Mark Twain’s Sumptuous Variety. 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Ferris, English Historical Fiction Authors Blog, Library of Congress Prints and Photography Division.-| Die Bilder auf S. 39: „Plimoth Plantation um 1627“ und S. 56: „Wampanoag Wigwam“ sowie die Eigenaufnahmen des Autors am Plimoth Living History Exhibit Site auf den S. 49, 50, 51, 52 und 54 mit freundlicher Genehmigung von Foto Archives, Plimoth Plantation, Plymouth, MA, © 2015.-| S. 44: „Meeting House“, Sturbridge Village.-| S. 84: „Nathaniel Hawthorne“ (1840), Ölgemälde von Charles Osgood, Peabody Essex Museum.- | S. 98: Paul Revere, „The Bloody Massacre on March 5th, 1770“, Boston Athenaeum.-| S. 99: „The Destruction of Tea at Boston Harbor“ (1846), Lithographie von Nathaniel Currier, National Archives.-| S. 102: „Battle Road, April 19, 1775“ von John Rush mit freundlicher Genehmigung des Minute Man National Historical Park und des Fotografen Michael Tropea, Chicago.-| S. 110: „Boston Freedom Trail“ mit freundlicher Genehmigung des National Park Service, Harpers Ferry Center.- | S. 127: „Slave Kidnap Poster“ (1851), Boston (public domain).-| S. 139: „Site Map von Hancock Shaker Village“.-| S. 143: „Group of Shakers in Hancock“ (1875, Stereoview).-| S. 146: Hannah Cohoon, „Tree of Life“ (1854) und S. 151: „North Family Dining Room at Mount Lebanon“ (1873) von Joseph A. Becker, mit freundlicher Genehmigung der Collection of Hancock Shaker Village, © 2015.- | S. 148: „Pleasant Hill Shaker Village“ mit freundlicher Genehmigung von Raymond Bial, The Shaker Village, Univ. Press of Kentucky, 2008, S. 1.-| Die Eigenaufnahmen des Autors auf den S. 151, 152, 156, 157, 158, 160, 162 und 163 mit freundlicher Genehmigung von Hancock Shaker Village.-| S. 154: „Shaker Dance in the Meeting House“, Frank Leslie’s Illustrated Newspaper, Dec. 1873. © North Wind Picture Archives.- | S. 169: „Ralph Waldo Emerson“ (1846) von Eastman Johnson. Longfellow House, Cambridge, MA.-| S. 175: „Emerson’s Transparent Eyeball“, Cartoon von Christopher P. Cranch, © Harvard University College Library.-| S. 177: Asher B. Durand, „Kindred Spirits“ (1849), Crystal Bridges Museum of Art, Bentonville, AR.-| S. 185: „Margaret Fuller“ (ca. 1840), John Matteson, The Lives of Margaret Fuller, New York: Norton, 2013.-| S. 192: „Henry David Thoreau“ (1856), Daguerreotypie von Benjamin M. Maxham. Concord Free Public Library.- | S. 208: „Merchants’ Wharf New Bedford“ (um 1860) mit freundlicher Genehmigung des National Park Service, Harpers Ferry Center.-| S. 215: Die Eigenaufnahmen des Autors „Gallionsfigur“ und „Scrimshaw“ mit freundlicher Genehmigung des Nantucket Whaling Museum.-| S. 216: „Nouku Hiva“, Lithographie von Jule D. d’Urville, in: Louis Breton, Voyage au Pole Sud. Paris: Gide, 1846.-| S. 218: „Herman Melville“ (um 1861), Foto von Rodney Dewey, Arrowhead Museum, Pittsfield, MA.-| S. 227: Mural „White Whale“ <?page no="348"?> 347 und S. 230 die Eigenaufnahme des Autors „Skelett eines Pottwals“ mit freundlicher Genehmigung von New Bedford Whaling Museum.-| S. 235: „Mystic Seaport“ (Luftaufnahme),-| S. 236: „Whaleship Charles W. Morgan: The 38th Voyage, Mai 2014“, Foto von Dennis A. Murphy, und S. 239: „Hands Go Aloft on the Charles W. Morgan“, Juni 2014, Foto von Handy Price, mit freundlicher Genehmigung von Mystic Seaport, Mystic, CN, © 2015.-| S. 237: „Trying Out“, William Davis, Nimrod of the Sea; or, the American Whaleman, New York: Harper’s, 1874, 79.-| S. 241: „Whale Fishery“ (1835) von Ambrose L. Garneray, Spinner Collection, Reprint in Tamia A. Burt, et al., Hg., Moby-Dick. A Picture Voyage, New Bedford: Spinner Publications, 2002, 80.-| S. 245: „Turbine“ und „Schwungrad“ und S. 247: „Boott Cotton Mills“ (ca. 1880) mit freundlicher Genehmigung der Lowell Historical Society.-| S. 251: „Four women weavers“ (1870) mit freundlicher Genehmigung des American Textile History Museum, Lowell, MA.-| S. 252: „Lowell Offering“ (1845) und S. 253 links: „Dutton Street Boarding Houses“ mit freundlicher Genehmigung von Lowell National Historical Park.-| S. 259: „Employees in the Boott Mills Court Yard“ (ca. 1880) und S. 265: „Site Map des Lowell National Historical Park“ mit freundlicher Genehmigung von National Park Service, Harpers Ferry Center.- | S. 266: „Flywheel in Pawtucket Gate House“ und S. 267: „Massachusetts Mills am Zusammenfluss von Merrimack and Concord Rivers“ mit freundlicher Genehmigung von Higgins & Ross Photo-Design, Lowell.-| S. 276 links: „Twains’s Jumping Frog“, San Francisco Chronicle (1865)-| S. 276 rechts: „Mark Twain als Vortragender“, Puckographics, New Series, Nr. 1, 1883 (public domain).-| S. 278: „Mark Twain“ (1883), S. 281 „Olivia Langdon“ (1872), S. 283: „The Clemens family“ (1885) sowie S. 287: „Entrance Hall“ und S. 288: „Library“ und „Billiard Room“ mit freundlicher Genehmigung von Mark Twain House & Museum, Hartford, CN.-| S. 301 links: Jay Gould in Mark Twains, A Connecticut Yankee at the Court of King Arthur. London: Chatto & Windus, 1889, 333.-| S. 301 rechts: „The Protectors of Industries“, Cartoon von Mayer Merkel (1883), Library of Congress, Prints and Photographs Division.- | S. 305: „Quintessential Mark Twain“ (1908), Mark Twain Papers, Bancroft Library, © Univ. of California at Berkeley.-| S. 307: Twains Töchter, in: Karen Lystra, Dangerous Intimacies. The Untold Story of Mark Twain’s Final Years. Berkeley: Univ. of California Press, 2004, 216.-| S. 314 links: „Emily Dickinson“ (1874), Daguerrotypie von William C. North und S. 314 rechts: „ Emily Dickinsons Schreibtisch“, mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Erica Lennard und Venome Press, New York.- | S. 320: Edith Wharton (1905) (public domain).- | S. 322: „Cliff Walk with The Breakers“, Foto von John Topf, und S. 323: „Gold Ballroom, Marble House“, Foto von Richard Cheek mit freundlicher Genehmigung der Preservation Society of New Port County. Alle nicht angeführten Fotos und Illustrationen stammen vom Autor und aus seinem Bildarchiv. <?page no="349"?> 348 Index AAbolitionismus 14, 122-132 Adams, Samuel 105, 112, 116 Alcott, Amos Bronson 171, 182-183, 188, 296 Alcott, Louisa 188, 194 Amerikanische Revolution 92-101, 249 Amistad 234 Arnold, Matthew 297 BBeacon Hill 123, 125 Beecher, Catherine 280 Beecher, Thomas 280 Bierstadt, Albert 178 Black Heritage Trail 130-132 Boston 35, 92-93 Boston Freedom Trail 13, 109-115 Bradford, William 21, 24, 28, 31, 34-41 Brewster, William 23, 36 Brisbane, Albert 182 Brook Farm 16, 181-183, 193 Brown, John 132, 179, 194 Brownson, Orestes 180 Bulfinch, Charles 111, 274 Bunker Hill 104, 108, 120 Bushnell, Horace 279 CCable, George W. 284, 295, 297 Cabot, Laurie 60 Calef, Robert 69 Cape Cod 25, 28, 48, 214 Carlyle, Thomas 170, 181 Carver, John 25, 31 Channing, Ellery 172, 193 Church, Benjamin 47 Church, Frederic 176 Clemens, Susy 290-292, 303 Cohoon, Hannah 146 Coleridge, Samuel T. 170, 175 Cole, Thomas 176 Colt, Samuel 275 Concord 16, 111, 168-170, 183, 186-190, 284 Concord Museum 188 DDana, Richard Henry 210 Darwin, Charles 198 Declaration of Independence 106-108 Derby, Elias H. 75 Dickens, Charles 165, 254 Dickinson, Emily 179, 313-314 Douglass, Frederick 116, 126, 179, 213 Durand, Asher 176 EEliot, John 47 Emerson, Ralph Waldo 169-179, 181, 185, 191, 204 Endecott, John 41, 61 Evans, Frederick W. 164 FFitzgerald, F. Scott 323 Fourier, Charles 182 Franklin, Benjamin 105, 108, 111, 117 Fugitive Slave Act 126, 128, 179 Fuller, Margaret 171, 183-186 GGansevoort, Maria 210 Garrison, William Lloyd 116, 124 Gilded Age 284, 308 <?page no="350"?> 349 Gillette, William 279 Grant, Ulysses 296 Great Migration 41, 93 Greeley, Horace 185 Greene, Tobias 215 HHamilton, Alexander 271 Hancock, John 111-112 Hancock Shaker Village 15, 134, 140-148, 156 Harte, Bret 284 Hartford, CN 18, 273 Harvard University 41, 173, 311 Hawthorne, Nathaniel 78-84, 142, 171, 182, 187, 221 Hayden, Lewis 127 Hedge, Frederic 173 Henry, Patrick 105 Hooker, Isabella Beecher 273 Hooker, Thomas 274 Howells, William Dean 284, 300-301 Hudson River School of Painting 176, 198 IIndustrielle Revolution 17 Isabella Stewart Gardner Museum 315 JJamestown 22 Jefferson, Thomas 105-106, 248, 271 Johnson, Edward 42 KKant, Immanuel 174 Kerouac, Jack 244 King, Martin Luther 195 King Philip’s War 11, 46 Krakauer, Jon 205 LLangdon, Olivia 278, 281-283, 292, 306 Lawrence, D. H. 223-225 Lee, Ann 135 Lexington 102-103, 111 Lincoln, Abraham 10, 58, 132, 179, 275 Locke, John 106 Longfellow, Fanny 155 Longfellow, Henry W. 311 Lowell, Francis Cabot 244, 249 Lowell National Historical Park 18, 265-269, 272 Lyford, John 38 MMark Twain House, Hartford 273, 284-290, 307-308 Martha’s Vineyard 48 Martineau, Harriet 148, 254 Massachusetts Bay Colony 41, 44, 92 Massasoit 31, 34 Mather, Cotton 35, 42, 63, 117 Mather, Increase 68 Mayflower 10, 20, 24, 26, 29, 31 Meacham, Joseph 136 Melville, Alan 210 Melville, Herman 17, 159, 210, 215-221 Metacomet 46 Miller, Arthur 12, 73 Mill Girls 18, 250-257, 261, 269, 271 Minute Man National Park 189 Mogan, Patrick J. 265, 271 Morton, Thomas 40-41 Mount Wollaston (Merrimount) 40 Muir, John 178, 205 Mystic Seaport 233-234 <?page no="351"?> 350 NNantucket 213-215 Narrangassett 37, 47 New Amsterdam 22 New Bedford 208-213 New Bedford Whaling Museum 17, 228-229, 231 New Haven 46, 274 New Lebanon 141 Newport, RI 19, 320 Nook Farm 273, 278-280, 285 Nukuhiva 215 OOld Manse 170-171, 187 Old Sturbridge Village 248, 317 Ossoli, Giovanni 185 Otis, James 112 Owen, Robert 164 PPaine, Thomas 105 Parker, Theodore 126 Peabody, Elizabeth 171, 173, 183 Peabody Essex Museum, Boston 76 Peabody, Sophia 171, 187 Pierce, Franklin 81, 88 Pilgrim Fathers 10, 20 Pittsfield 219 Plymouth Colony 10, 20, 34, 48 Proctor, John 68-69 Providence Plantation 62 Provincetown 28 Puritaner 41-43 QQuebec 12, 22, 47, 94 RRevere, Paul 111 Rhode Island 37 Ripley, George 16, 171, 181-182 Rogers, Henry 303 Rotch, William 208 Rowlandson, Mary 47 Ruskin, John 197 SSalem Maritime National Historic Site 89-90 Salem Witch Trial 63-75 Samoset 30 Sewall, Samuel 70 Shaker 134, 136-137, 140 Shaw, Elizabeth 218 Shaw, Lemuel 218 Shaw, Robert G. 129 Shelburne Museum 316-317 Sleepy Hollow Cemetery, Concord 187 Smith, John 9, 22, 29 Spielberg, Steven 234 Squanto 30 Standish, Miles 28, 34, 38, 40 Stowe, Harriet Beecher 132, 273, 280-290 Sullivan, Louis 167 TTea Party 13, 207 Thanksgiving 33, 58 Thoreau 199 Thoreau, Henry David 15, 171, 190-196, 198, 200 Transzendentalismus 172, 174, 179, 223-234 Trollope, Anthony 254 Twain, Mark 18, 273, 275-278, 292-296, 300, 302-306 Twichell, Joseph 284, 295, 307 UUnabhängigkeitskrieg 101-109, 111 Underground Railroad 125 Unitarismus 172 <?page no="352"?> 351 VVeblen, Thornstein 322 Virginia Company 23, 39 WWalden Pond State Reservation 190 Wampanoag 10, 29, 31, 37, 48, 53, 56 Warner, Charles Dudley 284 Warren, Joseph 112, 120 Washington, George 104 Weston, Thomas 24, 36 Wharton, Edith 320 Whitman, Walt 179 Whitney, Eli 249 Whittaker, James 138 Williams, Roger 62 Winthrop, John 41, 92 Wordsworth, William 170 Wright, Frank Lloyd 167 Wright, Lucy 141, 154 YYale University 274 <?page no="353"?> Jürgen Heideking, Christof Mauch Geschichte der USA Mit CD-Rom Quellen zur Geschichte der USA, herausgegeben von Michael Wala UTB 1938 6., überarbeitete und erweiterte Auflage 2008 XVI, 536 Seiten + CD-ROM €[D] 26,90 ISBN 978-3-8252-1938-3 Der Band bietet einen einführenden Überblick über die Geschichte der USA von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart. Der Klassiker zur Geschichte der Vereinigten Staaten enthält zusätzlich umfangreiches Quellenmaterial auf CD-ROM. Originaltexte, Faksimile, Tondokumente und Videosequenzen bieten Studierenden und Forschern einen quellengestützten Zugang zur amerikanischen Geschichte. Themenübergreifende Links weisen den Weg für weiterführende Recherchen. Die mit zahlreichen Abbildungen, Tabellen und Graphiken versehene historische Darstellung wird durch die ausführliche kommentierte Bibliographie und die neu ergänzte Quellenedition zu einem umfassenden Wissensportal zur Geschichte der USA. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="354"?> Arno Heller zählt zu den bedeutendsten Amerikanisten im deutschsprachigen Raum. Er lehrte in Innsbruck, Graz und an amerikanischen Universitäten. Er hat mehrere Bücher und zahllose kultur-, literatur- und lmwissenschaftliche Artikel verö entlicht. Sein derzeitiges Interesse gilt der heute in den USA intensiv betriebenen, in Europa aber kaum bekannten Erforschung amerikanischer Regionalkulturen und deren Vermittlung an ein deutschsprachiges Lesepublikum. Das Foto zeigt ihn am Faneuil Hall Market in Boston neben einer Skulptur von Arnold „Red“ Auerbach, dem legendären Basketball-Coach der Boston Celtics, der vor Ende eines erfolgreichen Spiels stets eine Zigarre rauchte. <?page no="355"?> www.francke.de Neuengland ist eine Region im äußersten Nordosten der USA , etwa halb so groß wie Deutschland, mit 15 Millionen Einwohnern in sechs Bundesstaaten, die weniger als ein Fünfzigstel des amerikanischen Territoriums ausmachen. Und doch schlägt hier das historische und kulturelle Herz der Nation . Nirgendwo wird das europäische Vorurteil eines geschichtslosen Amerika eindrucksvoller widerlegt als hier. Jeder Ort p egt selbstbewusst mit Museen, Gedenkstätten und Denkmälern seine Geschichte und kulturellen Hervorbringungen. Dabei geht es nicht nur um die Weitergabe von Wissen und Traditionen, sondern immer auch um die Suche nach nationaler Identität . Arno Heller erzählt die Geschichte der amerikanischen Selbst(er) ndung auf überaus originelle Weise - bewusst nicht in Form einer historischen Übersicht, sondern anhand anschaulicher, spannender und auch kritisch hinterfragender Erkundungen von acht zentralen Gedächtnisorten der USA. In Wort und Bild wirft er einen neuen Blick auf die Keimzelle des amerikanischen Traums , auf Natur und Kultur, Literatur und Kunst, Geschichtliches und Kurioses, Tradition und Moderne . ISBN 978-3-7720-8576-5
