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"The Long Shots of Sarajevo" 1914

Ereignis – Narrativ – Gedächtnis

0215
2016
978-3-7720-5578-2
978-3-7720-8578-9
A. Francke Verlag 
Vahidin Preljevic
Clemens Ruthner

Was ist ein historisches Ereignis? Wie wird es ein Narrativ in Literatur und anderen kulturellen Medien? Und wie werden die Narrative Teil des kulturellen Gedächtnisses bzw. (supra)nationaler Gedächtnispolitiken? Das sind die Forschungsfragen, denen die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbandes anhand einer der 'Urszenen' in der Geschichte des "kurzen" 20. Jahrhunderts nachgehen: des Attentats von Gavrilo Princip und seiner Gruppe auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger und dessen Ehefrau am 28. Juni 1914 - ein Ereignis, das den Anfang einer Verwicklung markiert, die zum Ersten Weltkrieg führte. Präsentiert werden die Ergebnisse einer von der EU mitgetragenen, interdisziplinären wie internationalen Tagung zum Thema im Juni 2014 vor Ort, bei der Historiographie, Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaften in einen Dialog traten.

<?page no="0"?> Ereignis - Narrativ - Gedächtnis K U LT U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 22 Vahidin Preljević / Clemens Ruthner (Hrsg.) „The Long Shots of Sarajevo“ 1914 <?page no="1"?> KULTUR-HERRSCHAFT-DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csäky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 22 • 2016 <?page no="3"?> „The Long Shots of Sarajevo" 1914 Ereignis - N arrativ - Gedächtnis Herausgegeben von Vahidin Preljević und Clemens Ruthner na \f ranck exatte mpto <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Titelseite der Zeitung La Domenico del Corriere, 5. Juli 1914, Illustration: Achille Beltrame (1871-1945). ■■■0000000 T RI NI TY COLLEGE D U B L I N EUROPA IN T E G R A T IO N ÄUSSERES BUNDESMINISTERIUM REPUBLIKÖSTERREICH bmCTCT i a on 14 GEDENKEN ! WELTKRIEG austria kultur"" This project is funded by the EU. This publication has been produced with the assistance of the European Union. The contents of this publication are the sole responsibility of the authors, editors and the publisher and can in no way be taken to reflect the views of the European Union. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothekverzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 ■Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 ■D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8578-9 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort der Herausgeber......................................................................... 9 ANNÄHERUNGEN C lemens R uthner (D ublin / B erkeley ) KriegsErklärungen. The Notions o f 'Event', 'Narrative' and 'Memory' as Critical Tools for this Volume and Beyond................ 15 V ah id in P reljević (S arajevo ) Das Attentat von Sarajevo: Helden, Apokalypse, Opferkult. Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses......................................................... 27 DAS ATTENTAT VON SARAJEVO ALS PARADIGMA I van Č olović (B eograd ) Das Attentat von Sarajevo und der Kosovomythos.............................. 59 W olfgang M üller -F unk (W ien ) Über die Bedeutsamkeit des Datums 1914. Kraus, Musil, Roth, Andrić und Iwaskiewicz mit Hans Blumenberg gelesen.............. 77 EREIGNIS, IDEOLOGIE, ÖKONOMIE Z ijad Š ehić (S arajevo ) Der Tag, der die Welt veränderte. Das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914........................................ 99 D žemal S okolović (B ergen ) Sarajevo 1914-Ursachen und Folgen. Attentat, Kriege, Nationalismen............................................................ 125 B oris N. K ršev (N ovi S a d ) Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (1878-1918)................................. 149 D ževad J uzbašić (S arajevo ) Wirtschaftsbeziehungen auf dem Balkan eine der Hauptursachen des Krieges zwischen Österreich-Ungarn und Serbien.......................... 173 <?page no="6"?> 6 Inhalt M arcela P ožarek (P rag / W ien ) Thron, Tratsch und Treibjagd oder wie man auf Tannen schießt. Franz Ferdinands Frau.......................................................................... 189 DAS ATTENTAT VON SARAJEVO IN DISKURSEN UND MEDIEN V edad S mailagic (S arajevo ) Das Attentatvom 28. Juni 1914-a m Tag danach. Eine Untersuchung der Berichterstattung in deutschsprachigen Zeitungen der österreichischen Reichshälfte.........................................205 A dela F ofiu (C luj ) Rene Girard's modern apocalypse. A Case Study on the fears of 1914 in the Romanian print media from Transylvania...................... 217 N orbert R ichard W olf (W ürzburg ) Aggressive Intelligenz. Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.................................................... 227 H ans -P eter G rosshans (M ünster ) Vom Fortschrittsoptimismus zur Kulturkritik. ZurVerarbeitung des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Protestantismus..............241 M ilka C ar (Z agreb ) Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo im Juni 1914.......................... 253 I rm a D uraković (S arajevo ) Schuss und Gegenschuss. Antun Valid und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo................... 269 M arina A ntić (P ittsburgh ) "Bosnian Spring": a Young Bosnia Movement 2.0? The HistoryofUneven Development on the European Margins from Princip to the Plenums........................ 285 NARRATIVE DES ATTENTATS VON SARAJEVO IN ZENTRALEUROPÄISCHEN KULTUREN B oris P revišić (B asel ) Ideologisierung historischer Rekonstruktion. Der Mehrwert literarischer Rekonstruktion des 28. Juni 1914......................................305 N orbert C hristian W olf (S alzburg ) Die Dichter und ihr Krieg. Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914...........................................317 <?page no="7"?> Inhalt 7 A lmir B ašović (S arajevo ) Literarische Bilder von Gavrilo Princip.................................................. 355 N aser Š ečerović (S arajevo ) Der Mensch in der Geschichte. Die Suche nach dem "neuen Menschen" in den Dramen Das Gelobte Landw n Borivoje Jevtić und Die Blutdämmerung von Ahmed Muradbegović.................. 389 S anjin K odrić (S arajevo ) "Überschwang und Martyrium". Das Attentat von Sarajevo und seine Reflexionen im literarischen Werkvon Ivo Andrić................ 405 M arijan B obinac (Z agreb ) "Revolutionäre Tat" oder "ordinärer Mord"? Zur Textualisierung des Attentats von Sarajevo und des Ersten Weltkriegs im essayistischen Werk Miroslav Krležas............................. 423 D ana P feiferovä (P lzen ) Vom Trauerhaus zum Mythos Cimrman. DerTod des Thronfolgers im böhmisch-tschechischen Kulturkontext............... 441 R o m an K o priv a (B rno ) "Der 28. Juni [...] sollte ein denkwürdiger Tag werden". Zu figuralen und lokalen Aspekten der Darstellung eines symbolträchtigen Datums in Ludwig Winders Roman Der Thronfolger sowie bei einigen anderen Autoren............................ 453 T hom as G rob (B asel ) Der huzulische Blick. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Wahrheit der Peripherie in Jözef Wittlins Salz der Erde (Söl ziemi)........................................................................ 471 E dit K iräly (B udapest ) Die langen Schüsse und ihr verkürzter Widerhall..................................491 D a n iela S trigl (W ien ) Die Geschichte umschreiben. Milo Dors Roman Der letzte Sonntag/ Die Schüsse von Sarajewo.......................................505 L uigi R eitani (U din e ) "Ein dunkler, knatternder Marsch von Elfsilbern" Gilberto Fortis Verserzählung A Sarajevo H28 giugno........................... 517 M arta W im m er (P o zna n ) Das Geschehene ungeschehen machen. Zu Hannes Steins Geschichtslogik am Beispiel des Romans Der Komet............................ 527 <?page no="8"?> 8 Inhalt T omislav Z elić (Z adar ) Der "weltberühmte Schnappschuß von Sarajevo" in W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn (1995)........................................537 S tun V ervaet (G ent ) Revolutionaries or Terrorists, Heroes or Victims? Young Bosnia and Gavrilo Princip in Biljana Srbljanović's Theater Play Mali mije ovaj grob......................................................... 551 ERINNERUNG UND KULTURELLES GEDÄCHTNIS G ünther K ronenbitter (A ugsburg ) Schock und Erwartung. Der Sommer 1914 in der Erinnerung.............. 569 S tanislav S retenović (B eograd ) The 28 June 1914 between Serbian memory and the construction of Yugoslav identity, 1918-1991.......................... 581 U ubinka P etrović -Z iemer (S arajevo ) Die ambigue Geschichtsfigur des Gavrilo Princip im Kontext konflikthafter Erinnerungskulturen in Bosnien und Herzegowina................................................................597 N icolas M oll (S arajevo ) Die Mutter aller Attentate? Sarajevo 1914, Marseille 1934, Dallas 1963, Twin Towers 2001....................................617 A mälia K erekes (B udapest ) | K atalin T eller (W ien ) Jahr-Markt der Schüsse. Das Gedenkjahr 1924 in Texten und Bildern aus Österreich und Ungarn.................................635 E lena S ukhina (M oskau ) Der Große Krieg als Eigenes und Fremdes in der russischen Folklore......................................................................651 S elma H arrington (D ublin ) A Girl Called Bosnia, the Prince and the Villain. How we remembered the Sarajevo Assassination................................663 C hristoph A ugustynowicz (W ien ) Die langen Schüsse von Sarajevo in Galizien/ Polen. Impressionen aus den aktuellen Narrativen......................................... 683 C hristine P unz (B anja L uka ) | F lorian H aderer (S arajevo ) Sarajevo 2014. Arena des Gedenkens................................................... 693 <?page no="9"?> V orw ort der Herausgeber Vom 25.-28. Juni 2014 fand unsere internationale Tagung THE LONG SHOTS OF SARAJEVO 1914 statt. Unser Plan war freilich nicht, eine weitere Konferenz zu organisieren, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren in allgemeiner Hinsicht thematisieren, Kriegsgründe und Anlässe, Ziele und Folgen regional und global analysieren sollte. Zahlreiche Symposien wurden in diesem Sinne während des ganzen 'Jubiläumsjahres' 2014 abgehalten und einige haben bereits ihre Ergebnisse publiziert.1 Im Gegensatz zu den meisten dieser Projekte fand unsere Tagung aber vor Ort statt, d.h. in Sarajevo als einem der europäischen Gedächtnisorte (um Pierre Noras viel bemühten Terminus der Iieux de memoire zu verwenden), der unter anderem auch den Schauplatz des Attentats von Gavrilo Princip und seiner Gruppe auf Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie von Hohenberg am St. Veitstag (28.6.) 1914 markiert. Aus diesem Grund entschieden wir uns, das Symposium, das als offizielle Gedenkveranstaltung auch von Österreich, Frankreich, der EU und diversen europäischen Institutionen m itsubventioniert wurde, eben jenen "Schüssen von Sarajevo"2 zu widmen: einer jener mythisch aufgeladenen politischen Gewalttaten der europäischen Moderne, ein Ereignis, das gleichsam das kurze, gewaltvolle 20. Jahrhundert einleitete, indem es den Vorwand für einen österreichisch-ungarischen 'War on Terror' gegen Serbien bot, aus dem heraus der 'W eltenbrand' des Ersten Weltkriegs entstehen sollte. Um ein mehrdimensionales, facettenreiches Bild des Attentats auf seinem Weg in und durch die Geschichte zu entwerfen, entschlossen wir uns aufgrund der mehrheitlich kulturwissenschaftlichen Ausrichtung unserer Teilnehmer/ innen, drei Ebenen zu berücksichtigen, die bei der historisch-kulturellen Dialektik von Faktizität und Repräsentation eine Rolle spielen: 1) das Ereignis selbst, d.h. eine Beschreibung und Rekonstruktion dessen, was eigentlich um den 28. Juni 1914 herum vorgefallen ist, sofern dies noch immer möglich und sinnvoll ist nach so vielen Publikationen zum Thema; 1 Vgl. etwa den Sonderband von Prilozi/ Contributions [Univ. Sarajevo] 43 (2014). 2 Die Mehrdeutigkeit der englischen Formulierung ließ sich in keine deutsche Übersetzung übertragen, deutet doch ‘ long shots' nicht nur die longue duree des Ereignisses bzw. seiner Auswirkungen an, sondern spielt auch mit Termini technici der Cinematograhe und des Ballsports. <?page no="10"?> 10 Vorwort der Herausgeber 2) die verschiedenen Narrative, die das Attentat bis heute in den Medien, der Literatur, in Film, Historiografie und politischen Schriften produziert hat, um ihm einen wie auch immer gearteten Sinn zu geben; 3) Erinnerungspolitiken, welche die Narrative in sich aufgenommen bzw. sie im Rahmen der kulturellen Gedächtnis-Konstruktionen bestimmter Gruppen, Regionen, Epochen, Staaten und schließlich Europa als Ganzem fokussieren. Bei diesem Versuch zu zeigen, wie aus einem kontingenten und chaotischen Vorfall ein Ereignis von historischer Tragweite wird, das sich in komplexe, ja widersprüchliche narrative und diskursive Sinnstiftungssysteme einfügt, konnten w ir auf die multi- und interdisziplinäre Orientierung der zahlreichen Beiträger/ innen unserer Konferenz und des hiermit vorliegenden Sammelbands zählen; sie decken nahezu die gesamte Palette geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Herangehensweisen ab. Darüber hinaus war unsere erklärte Absicht, Vortragende aus verschiedenen nationalen Kontexten zusammenbringen (d.h. aus mehr als zwanzig Ländern)-gemeinsam mit internationalen Studentengruppen, die ein EU-Stipendium dafür erhielten, um an einer friedlichen wie fruchtbaren Diskussion dieses sonst sehr kontroversen Themas teilzunehmen. Dies war unser Beitrag zu den offiziellen Gedenkfeiern von 1914-2014 in Sarajevo: Aber nicht als eine quasi mit dem Fallschirm abgeworfene Veranstaltung 'von außen' so wie jene internationalen Intellektuellen, die während der Belagerung von 1992- 1995 die Stadt sporadisch besuchten, um eine Erklärung abzugeben und sie schleunigst wieder zu verlassen sondern als Projekt eines Dialogs, der Bosnien-Herzegowina, die westlichen Balkanstaaten, Zentraleuropa wie den ganzen Kontinent er- und umfassen sollte. Im Rückblick sind wir immer noch überwältigt vom Medienecho, das unsere Veranstaltung in Europa, Nordamerika und Asien, in TV-Nachrichtensendungen, Zeitungsartikeln und Blogs fand. Schon während der Tagung war es interessant zu beobachten, welche Facetten der vorher erwähnten drei Ebenen als Arbeitsvorgabe von den Vortragenden thematisiert wurden und welche eher unbehandelt blieben; weiters, wie das Modell von Ereignis, Narrativ und Gedächtnis sich gleichsam in actu weiterentwickelte. In jedem Fall müssen wir das Projekt trotz aller Unkenrufe, es würde Unbehagen und Zwietracht säen, und trotz emsiger Versuche zweier nationaler Lager, es zu verhindern, als großen Erfolg betrachten. Jetzt ist es an unseren Leser/ innen, das Resultat dieser Anstrengungen, deren Ergebnissejetzt in doppelter3 Buchform vorliegen, zu ermessen. 3 Es existiert auch eine bosnische/ kroatische/ serbische Version des vorliegenden Konferenzbands; vgl. Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens: Sarajevski dugi pucnji 1914. Događaj narativ pamćenje. Zenica: Vrijeme 2015. <?page no="11"?> Vorwort der Herausgeber i i Für die finanzielle und logistische Ermöglichung dieses groß angelegten Vorhabens möchten wir deshalb auch den Geldgebern und anderen Unterstützern danken: dem World University Service Austria (WUS), zwei österreichischen Ministerien (BMEIA und BMWF, Wien), der Philosophischen Fakultät Sarajevo und der Universität Sarajevo und dem Trinity College Dublin, und ganz besonders der Europäischen Union sowie der Stiftung Sarajevo Heart o f Europe. Darüber hinaus sind wir allen Individuen zu großem Dank verpflichtet, die es zu einer Sache persönlichen Engagements gemacht haben, an der Planung und Durchführung unseres Symposiums mitzuarbeiten: all unseren emsigen Dolmetscher/ innen, Übersetzer/ innen und conference facilitators ebenso wie Kulturattachee Brigitte Sitzwohl- Pfriemer und Botschafter Martin Pammer von der österreichischen Botschaft Sarajevo sowie unserem bosnischen Verleger Muamer Spahić und seiner formidablen layouterin Fatima Zimić. Zum Schluss bleibt uns nur noch zu hoffen, dass dieser Sammelband das intellektuelle Vergnügen, das die Tagung uns allen bereitete, vermitteln möge. Vahidin Preljević | Clemens Ruthner Sarajevo - Würzburg - Wien - Berkeley - Dublin, 2014/ 15 <?page no="13"?> ANNÄHERUNGEN <?page no="15"?> C lemens R uthner (D ublin / B erkeley ) KriegsErklärungen The Notions o f'Evenf, 'Narrative' and 'M em ory' as Critical Tools for this Volume and Beyond This introductory text examines existing definitions of 'event', 'narrative' and (cultural) 'memory' in philosophy, literary/ cuItural theory and historiography, capitalizing on Martin Heidegger, Alain Badiou, Slavoj Žižek, Mieke Bai, Jurij Lotman, Arno Borst and many other (secondary) sources: a cursory discussion of the general topic and central focus of this edited volume, which is meant to operationalize the terms in a pragmatic way with respect to the case studies to come. "Das Ereignis er-eignet das Seinlose in das Sein." (M artin Heidegger1) As already laid out in our Preface, this volume is based on the assumption that there are three structural layers, as it were, that constitute the "(Long) Shots of Sarajevo", i.e. the Attentat that caused the death of the heir to the Habsburg throne, Archduke Franz Ferdinand, and his wife, Sophie von Hohenberg, on the streets of Sarajevo on 28 June, 1914. Accordingly, three research tasks were assigned to the authors of the following case studies: 1) to describe and reconstruct the event its e lfas far as this is possible and innovative; and/ or 2) to analyze some of the numerous narratives the A ttentat has produced so far in the media, literature, film, historiography and politics; and/ or 3) to investigate the way how these narratives have been used and instrumentalized in the cultural memory formation, or memory politics, respectively, of groups, regions, states and nations, and eventually, in Europe as a whole. Thus, in order to create some theoretical and methodological clarity for the book chapters to come, it might prove useful to define the central no- Martin Heidegger: Das Ereignis [1941/ 42]. (= Gesamtausgabe, Bd. 71, ed. Friedrich-Wilhelm V. Herrmann.) Frankfurt/ Main: V. Klostermann 2009, p. 197. <?page no="16"?> 16 Clemens Ruthner tions involved in this undertaking first, namely Event, Narrative, and Cultural Memory. These three terms, which are so central to cultural studies and theory as a whole, have to be thought of as inter-related. This means, for instance, that calling something an 'event', as it has probably occurred in an unpredictable, contingent, sometimes overwhelming and rather opaque manner for the onlookers and bystanders, only seems to be possible in hindsight: as soon as you have words and a narrative ready to make sense of it, which is then immediately subject to a collective debate of what representation and interpretation of the event is exactly going to be incorporated in cultural memory, particularly in agonistic cases. ("9/ 11" is a very striking example for this cultural process, but also the Shots of Sarajevo which share some traits with the American event of 2001 that triggered a not very successful 'War on Terror' as well.) Along these lines, I chose the German title for my theoretical sketch that plays with the double meaning of the word KriegsErkIarungen, which can be read as 'declarations', but also as 'explanations' of war. What narratives and cultural memory formations do to an event, can be both: surprisingly, they seem to exercise a performative function even a posteriori, i.e. they let the event 'happen' again, but in the first place, they make sense of it. You can ask yourself here sophistically to what extent the event exists as such w ithout the intervention of the narratives and memories that created it out of a mere occurrence. For the heuristic sake of the following, however, the three terms in question will be treated and presented apart from each other, with a clear focus on the event which is the most recent and least theorized notion in cultural theory among them. I. Event (Historicity) Ein Ereignis schafft eine Realität nicht durch sich selbst; [...]. Es zeigt uns an, dass eine Möglichkeit existiert, von der man nichts wusste. Das Ereignis ist auf gewisse Art nur ein Vorschlag. [...] Alles hängt dann von der Art und Weise ab, wie diese Möglichkeit [...] in der Welt ergriffen, bearbeitet, inkorporiert und entfaltet wird.2 Thisdefinition by Alain Badiou, stemming from a dialogue about his oeuvre with Fabien Tarby, sums up a few important aspects for a definition of an 'event'. What is crucial for the French philosopher is the unique and novel Badiou, Alain / Tarby, Fabien: Die Philosophie und das Ereignis. Mit einer kurzen Einführung in die Philosophie Badious. Vienna, Berlin: Turia + Kant 2012, p. 17. <?page no="17"?> The Notions of'Event'. 'Narrative' and *l*M em or/ ' as CriticaITooIs 17 potentiality its occurence introduces, which cannot be controlled even by the ruling powers; 3 to put it in a Heideggerian way, it is "a figure of enablement".4 Badiou clearly conceptualizes the event here with an eye on radical politics, social change and revolution, in an enthusiastic intellectual Adventism of sorts (and at this point already, it becomes evident why an A ttentat like the one in Sarejevo would become the epitomy of it5). Not only in Badiou, the definition of what makes an event in terms of philosophy, historiography and the humanities is very often implicitely or outspoken sought along the lines of Martin Heidegger, who in 1941/ 42 wrote Das Ereignis, probably the first influential philosophical sketch on the subject matter.6Slavoj Žižek, for instance, defines the event in a recent book publication as something shocking, out of joint that appears to happen all of a sudden and interrupts the usual flow of things; something that emerges seemingly out of nowhere, w ithout discernible causes, an apperance without solid being as its foundation. [...] at first approach, an event is thus the effect that seems to exceed its causes.7 From a French Poststructuralist perspective, the event, through its "m urky randomness" and Otherness ("seinen Schlamm der Zufälligkeit" und "Bodensatz des Andersseins"), brings uncertainty and contingency to prevailing structures.8 And, according to the German sociologist and philosopher Niklas Luhmann, the continuous disintegration through the occurrence causes permanent change to the constellation of the past, present and future.9 The event is thus basically the carrier, or even the Ibid., pp. 20-21. "Auf ein Ereignis vorbereitet sein, heißt, in einer subjektiven Disposition zu sein, in derman die neue Möglichkeit erkennt. [...] Aufein Ereignis vorbereitet zu sein heißt, in einem Geisteszustand zu sein, in dem die Ordnung der Welt, die herrschenden Mächte nicht die absolute Kontrolle über die Möglichkeiten haben." 1 "eine Figur der Ermöglichung" (Naumann, Barbara: Zur Entstehung von Begriffen aus dem Ungeordneten des Gesprächs. In: Rathmann, Thomas (ed.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Cologne, Weimar, Vienna: Böhlau 2003, pp. 103- 118, cit. p. 109.) Demandt, Alexander: Das Attentat als Ereignis. In: A.D. (ed.): Das Attentat in der Geschichte. Frankfurt/ M ain: Suhrkamp 1999 (st 2936), pp. 535-552, esp. p. 549. 6 Cf. Eleidegger 1941/ 2009. - It would be interesting to discuss in depth the circumstances that made Eleidegger raise the question of 'the event' in philosophical terms during the Second World War. 7 Žižek, Slavoj: What is an Event? Elarmondsworth: Penguin 2014, pp. 4-5. 8 From Dialogues between Georges Duby and Guy Lardreau (1980), qtd. after Biti, Vladimir: "Ereignis". In: V.B.: Literatur- und Kulturtheorie. Ein Lexikon gegenwärtiger Begriffe. Reinbek: rororo 2001, pp. 193-197, here p. 195. 8 "Die durchgängige Desintegration des Ereignisses bedingt eine ständige Veränderung in der zeitlichen Konstellation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft." (Biti 2001, p. 197, re- <?page no="18"?> 18 Clemens Ruthner invasion of tem porality itself into social and historical life as well as into literary texts, as we will see. At this point, also the question of human agency comes into play. Metaphorically speaking, every new hand of cards changes a play of Poker, but it is mostly out of the hands of the player. But then the event is also (according to Žižek, quoting Badiou again) "contingency which converts into necessity"10: "a radical turning point"11 which also causes a structural change "of the very frame through which we perceive the world and engage in it".12Thus, "the space of an event is that which opens up by the gap that separates effect from its causes".13 Further descriptors can be listed as follows, capitalizing on the books by Suter & Hettling (2001), Thomas Rathmann (2003), Kulcsar-Szabo & Lorincz (2014), and Rowner (2015); 14according to these publications, what constitutes an event in terms of a theory and philosophy of history is: the relation between the occurrence of an event and a period of latency prior to it in a philosophical but maybe also in a psychoanalytical sense; 15 the event is thus the driver of an underlying principle of becoming; 16 however, the event is also always characterized by a moment of surprise (as mentioned before already), which challenges existing horizons of expectation,17 and creates a "rupture; a momentary excess or lack of sense"; 18 fening to Niklas Luhmann; also see ibid., pp. 195f.) Also see Naumann 2003, p. 107: "Das Ereignis würde den Verlauf der Zeit (i.e., den 'Lauf der Dinge', CR) in ein Vorher und in ein Nachher zerlegen, und dabei eine Veränderung initiieren, deren Resultate im Ereignis selbst noch nicht ablesbar seien." 10 Žižek 2014, p. 160. 11 Ibid., p. 159. 12 Ibid., p. 12. 13 Ibid., p. 5. 11 Cf. Suter, Andreas / Hettling, Manfred (eds.): Strukturund Ereignis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001; Rathmann 2003; Kulcsär-Szabö, Zoltän / Lörincz, Csongor (eds.): Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz. Bielefeld: transcript 2014; Rowner, llai: The Event. Literature and Theory. Lincoln, London: University of Nebraska Press 2015 (kindle edition). Also see Ricoeur, Paul: Time and Narrative I. Transi. Kathlin McLaughlin and David Pellauer. Chicago: Univ. of Chicago Press 1984, pp. 9 6 -9 7 - The increasing number of publications indicates a certain boom of interest in the topic and its discussion in recent years. 15 Cf. Kulcsär-Szabö, Zoltän: Einleitung. In: Kulcsär-Szabö & Lörincz 2014, pp. 9-20, here p. 9. 16 Cf. Rowner 2014, pos. 116, 635. 17 Cf. ibid., pos. 1982, 1985. 18 Ibid., pos. 208, cf. pos. 67; italics mine. <?page no="19"?> The Notions of'Event', 'Narrative' and 'Memory' as CriticalTooIs 19 there is also the factor of the collective, or public/ ity, respectively, at work through which an occurrence gains the status of an recognized event19it is "a question of social production by mass communication", as Pierre Nora puts it; 20 and last, but not least, the interdependence of historical structure and event should be stated and investigated: the former brings about the latter, but is interrupted, changed or sometimes even destroyed by it as well whereupon the event produces new structure again.2122 In the history of Western historiography, the insistence on the event as a phenomenon of the Lebenswelt22 and, as a consequence, its "return" to the theory of the discipline are the reaction to two trends in the last decades of the 20th century: on the one hand, it was meant as a countermovement to the general focus of historiography on writing the history of social and cultural structures rather than "Ereignisgeschichte" after Fernand Braudel and the French Ecole des Annales; on the other hand, as opposition against the Postmodern concept of history as being purely a narrative construction.23 However, as historian Arno Borst in Koselleck's and Stempel's trendsetting German volume Geschichte - Ereignis und Erzählung of 1973 concludes, in a way many of his successors have found noteworthy: '"lite rarische Ereignisse' gibt es, geschichtliche nicht."24 Something that occurs needs someone to write it down; otherwise it will be lost and become insignificant. Borst thus reinforces the mutual dependence of Ereignis and narrative; as Ilai Rowner resumes forty years later: "The literary event cannot be reduced either to an extralinguistic reality or to its existence inside 19 Cf. Kulcsar-Szabo 2014, p. 14. Another author writes: "Ereignisse sind Vorfälle, denen eine bestimmte Signifikanz zugeschrieben wird." (Flaig, Egon: Ein semantisches Ereignis inszenieren, um ein politisches zu verhindern. In: Rathmann 2003, pp. 183-198, cit. p. 184). 20 Quoted after Rowner 2015, pos. 269. 21 This relation is something Reinhart Koselleck and Paul Ricoeur have dealt with, cf. Rathmann 2003, pp. 8, 48. Also see Suter & Hettling 2001. 22 Rathmann, Thomas: Ereignisse Konstrukte Geschichten. In: Rathmann 2003, pp. 1-19, cit. p. 3. 23 See Morin, Edgar: Le retour de l'evenement. In: Communications 18 (1972), pp. 6-20; Nora, Pierre: The Return of the Event (1972). In: http: / / de.scribd.com/ doc/ 142676797/ The-Return-of-the-Event-Pierre-Nora#scribd; Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (eds.): Geschichte - Ereignis und Erzählung. Munich: Fink 1973. 24 Borst, Arno: Das historische 'Ereignis'. In: Koselleck & Stempel 1973, pp. 536-540, cit. p. 540. Borst also deconstructs the opposition of structure and event by stating (in a re-assessement of Ranke's Über die Epochen der neuen Geschichte (1854): "sie galten ihm nicht als punktuelle Begebenheiten, sondern als Wirkungszusammenhänge" (ibid., p. 539); events can be thus also seen as brackets and conjunctions, not necessarily as interruption of historical structures. Cf. Cramer, Thomas: Vom Vorfall zum Ereignis. Wie Caritas Pirckheimer Geschichte zur Raison bringt. In: Rathmann 2003, pp. 223-242. <?page no="20"?> 20 Clemens Ruthner the linguistic realm."25As a consequence, Rowner's book itself "constructs the event as a dynamic in-between entity, a Iiminal movement",26 which makes sense in the light of what has been said so far. Thus, our focus, too, will have to shift towards cultural construction and representation. II. Narrative (TextuaIity) An oeuvre is an event, to be sure; there is no oeuvre without singular event, without textual event, if one can agree to enlarge this notion, beyond its verbal or discursive limits. But is the oeuvre the trace of an event, the name of the trace of the event that will have instituted it as an oeuvre? Or is it the institution of the event itself? 27 In his essay Typewriter Ribbon, Jacques Derrida answers this sophisticated hen-egg question with "both at once",28 pointing at the circularity of the relation between event and work, which, upon scrutiny, seem to mutually constitute each other; thus the oeuvre becomes the trace, but at the same time the "institution" of the event, and its "testament",29as it were. However, the event as a literary term also plays an important part in narrative theory. In her Narratologyl Mieke Bal, for instance, defines it as a basic element of story-telling and plot-building [fabula): A fabula is a series of logically and chronologically related events that are caused or experienced by actors. An event is the transition from one state in another state. Actors are agents that perform actions. They are not necessarily human. To act is defined here as to cause or to experience an event.30 As Bal observes further, every event, whether it is an element in the plot of a literary text or a constituent part of history, entails a 'triple C', namely the factors of "Change, Choice and Confrontation".31 Her definition follows 25 Rowner 2015, pos. 64. 26 Ibid. 27 Derrida, Jacques: Typewriter Ribbon: Limited Ink (2). In: J.D.: W ithout Alibi. Ed., Transi, and lntrod. by Peggy Kamuf. Stanford: Standford University Press 2002, pp. 71-160, cit. p. 132- 133. Also see Deleuze, Gilles, Logic of Sense. Transi, by Mark Lester and Charles Stivale, ed. by Constantine V. Bundes. New York: University of Columbia Press 1969; cf. Rowner 2015, pos. 220. 28 Derrida 2002, p. 133. 29 Lörincz, Csongor: Einleitung. In: Cs. L. (ed.): Ereignis Literatur. Insbtubonelle Disposibve der Performabvität von Texten. Bielefeld: transcript 2011, pp. 7-30, cit. p. 11. 30 Bai, Mieke: Narratology. Introducbon to the Theory of Narrabve. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press, p. 5. 31 Ibid., p. 13. <?page no="21"?> The Notions of'Event' 'Narrative' and lM em or/ ' as CriticaITooIs 21 a prominent one by Jurij Lotman who conceives of an event as the movement of a character across the boundaries of a semantic field set up in the fictitious world of the text, for instance from life to death.32 Accordingly, an event causes a situation to change or, in other words, is the dynamic transition from one situation to another. An event, particularly a historical one, thus creates a Iiminal stage of sorts; it is a threshold, the crossing of a borderline in space and time and the agents generally have no idea (yet) what is coming out of it.33This holds particularly true for spectacular, transgressive political acts, such as forms of protest, revolution, tyrannicide and acts of terrorism and particularly an Attentat like the one in question has its own aesthetics and is meant to be spectacular and to trigger something of historic consequences,34 although those involved don't know (yet) where it is going to lead them. It takes hindsight to decide what a historic event is, and you need a narrative to make sense of its inherent complexity be it in the media or in literature. So, although the A ttentat seems like the epitomy of an event and Gavrilo Princip like the role-model assassin,35 it even took him a retrospective point of view to make his deed meaningful in his self-defense during police interrogation and at the trial. Furthermore, it took a w riter like Ivo Andrić (1892-1975), the later Nobel prize laureate who in 1914 had sympathized with Princip and his group, and who, during an interview in the 1930s, spoke of the Sarajevo Assassination as "our Thing [...] which was terrible and glorious and great", changing the summer of 1914: "jener hitzige und ruhige Sommer mit seinem Geschmack des Feuers und seinem kalten Atem der Tragödie, den man überall spürte: er ist unser wahres Schicksal."36 Repeating Mieke Bal's and Roland Barthes's claims, a narrative is the chain that ties events together in order to create a chrono-logical order and, with it, causality and teleology, to turn contingency into something that makes sense. This happens through a process the US historian Flayden W hite calls "em plotm ent": the way contingent events are turned into a meaningful storyline with characters and a plot structure following cultur- 52 Lotman, Jurij M.: The Structure of the Artistic Text. Transi, by Gail Lenhoff & Ronald Vroon. Ann Arbor: University of Michigan Press 1977, p. 238; cf. Rowner 2015, pos. 567. 53 In the case of a trauma, the event can also be something that is rather concealed than exposed in a text, or gradually revealed, as something that is lacking in the narrative order first, but still setting it into motion. Cf. Rowner 2015, pos. 2321ff. 34 Cf. Demandt 1999. 35 Cf. Demandt 1999, esp. pp. 536-537. Also see Sösemann, Bernd: Die Bereitschaft zum Krieg. Sarajevo 1914. In: ibid., pp. 350-381. 36 Quoted after Preljević, Vahidin: "Unsere Sache von 1914". Zur jugoslawischen Idee und zum Attentat von Sarajevo. In: Konkret, nr. 7/ 2014, p. 46. <?page no="22"?> 22 Clemens Ruthner al templates, not only in literature, but also in historiography.37That's how narrative changes the irreducible asymmetry of the event into an ordered sequence and overwrites Otherness (which entered our world through the event) with similarity: 38 Auf der einen Seite zeigt sich das punktuelle Ereignis, das Einzelne und Unerhörte, das zufällig Begegnende, das 'Abenteuer' im Wortverstande, dasjenige, was [...] unwillkürlich 'zustößt' und 'passiert'; demgegenüber findet sich der Kontext, die Sinnhaftigkeit der Welt, jenes Entworfene einer'Ganzheit' aus Anfang, Mitte und Ende (nach der Formulierung des Aristoteles), das-wiederum nach der klassischen Episteme - System-Charakter besitzt, die Ordnung der Dinge stiftet.39 Narrative thus transcribes the unique incident into the familiar scripts of our knowledge, enabling us to process an event of any kind cognitively; at the same tim e we are tempted to reduce its complexity to what we already know. (Here, maybe a heuristic distinction should be made in terms of size and importance between the great (historic) Events and the small, mundane events (actions, occurrences) that e.g. change a situation in a story, such as 'leaving the house' changes my day; the latter are very often described as plot elements, narrative atoms, literary motifs etc.40) If we now look back to the "Shots of Sarajevo" in 1914, then this event can be easily turned into a narrative that reads like the epitomy of a movie plot, almost perfectly suited for a Hollywood script, with a potential storyline that is so multi-faceted it can carry numerous interpretations. First, you have a gang of angry young men who are in Sarajevo to kill a highranking person whom they consider to be a symbol of colonialism and oppression. In the center of the image, you have the young assassin Gavrilo Princip and his target, the Habsburg crown prince Franz Ferdinand. Furthermore, we have a second victim, Franz Ferdinand's wife, about whom we barely speak, since there seems to be gender politics as well in narrative representation until recently.41 However, there are other interesting side-characters involved, depending on the actual version of the narrative: 37 Cf. White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore: John Hopkins UP 1973. 38 Biti 2001, pp. 196-197, summarizing Jean-Frangois lyotard. 39 Neumann, Gerhard: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der literaturwissenschaft. In: G.N . / Weigel, Sigrid (eds.) Die lesbarkeit der Kultur. Iiteraturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. Munich: Fink 2000, pp. 20 52, cit. p. 42. 40 Cf. Rowner 2015, pos. 435ff; Ruthner, Clemens: Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jh. Tübingen: Francke 2004, chapter IV. 41 In most versions, the Attentat is related as a duel of sorts between two males, treating the killing of Sophie von Hohenberg as collateral damage, as it were. <?page no="23"?> The Notions of'Event', 'Narrative' and ‘MemoiV as CriticaITooIs 23 General Oskar Potiorek, for instance, the Austro-Hungarian governor of Bosnia-Herzegovina, the investigating Austrian magistrate, Leo Pfeffer, or the Czech driver who misses his way, almost a literary m otif for Jaroslav Hasek, Bogumil Hrabal and their likes. Point of view and focus, to use tw o more technical terms from narratology w ith respect to the ways how the (hi)story o f the Attentat is told, make a lot of difference when it comes to a potential interpretation. Here the toolsets stemming from literary analysis can prove extremely helpful to show that no narrative is innocent, but all of those stories are told for a reason, employing certain narrative and rhetorical strategies; which brings us to the ideologies behind narratives. In that respect, the crucial point for all Sarajevo Assassination narratives seems to be to identify who actually the perpetrator was and who the victim. Ethically speaking, what happened will always remain murder. However, in the narratives the Attentat has produced in history so far. Archduke Franz Ferdinand is either seen as a Habsburg martyr who might have made a change for the better within the empire, had he become Kaiser, or an oppressor and passionate animal-killer who was to be murdered in an act of Slavic self-sacrifice. Gavrilo Princip, the assassin, saw himself as a freedom fighter, whose great deed was supposed to lead all Yugoslav people(s) on the road to liberation or only the Serbs among them? 42 There are some who see him as a victim as well, if not a martyr, since he was not handed out a death sentence by the Austro-Hungarian tribunal due to his minor age during the assassination, but left to rot alive in Theresienstadt where he died from tuberculosis only months before the end of the First World War. From a bird's-eye perspective, one can say that the high amount of ambiguity and ambivalence stored in the event of the assassination itself has created a virtual narrative m atrix of sorts not only for two, but for dozens of narratives which emerge therefrom. This is particularly important when it comes to the ideologically biased incorporation of the Attentat narratives into the cultural memory formations of groups and societies that proclaim themselves nations. What is striking though is the unequal share of narrative focus and empathy, as it were: most available literary accounts of the Attentatfocus rather on the assassin Princip than on his victims. This in a way reduplicates the contemporary attitude even in Austria-Hungary towards Franz Ferdinand who was seen as "unsympathisch"; 43 on the other hand, the perpetrator's 42 According to Dedijer, Princip said at his trial: "I am a Yugoslav nationalist, aiming for the unification of all Yugoslavs, and I do not care what form of state, but it must be free from Austria." (Dedijer, Vladimir: The Road to Sarajevo. New York: Simon & Schuster 1966, p. 341) 42 Cf. e.g. the contribution of Vedad Smailagic in this volume. <?page no="24"?> 24 Clemens Ruthner mind, in its opaqueness and ambiguity, seems to be much more appealing for narrative than the Habsburg hunter and bureaucrat, particularly through the mentioned tragic circumstances of Princip's early death. Very often, the authors of narratives thematizing the Attentat or the assassin's perdition resort to the aesthetic device of the Sublime (das Erhabene) as a mode of representation (if you recall e.g. Andrić's words, for instance). This happens seemingly in a similar vein to William B. Yeats's contemporary verses about the Irish Easter Rising in 1916: "[...] and a terrible beauty / was born." This is also the case in Dževad Karahasan's Princip Gavrilo [The Principle Gabriel, 2007], a tale that tries to catch the last words of the assassin in prison.44The lines which Karahasan makes one of his protagonists utter here, however, might be paradigmatic for the enterprise of narrativizing an event like the Shots of Sarajevo, 1914, namely "daß die Kunst den Stoff durch die Form überwinde, notfalls sogar negiere; Kunst überführe den Stoff in eine Form, in der er über sich hinauswächst und ihm überhaupt erst Sinn zufällt."45 III. Cultural M emory (Politics) Ourghostswill walkthrough Vienna And roam through the Palace Frightening the Lords.46 Them etaphorofghostsandtheirhauntings which Gavrilo Princip'planned' in his last written statement, scratched with a spoon on the wall of his prison cell before his death, surprisingly corresponds w ith the answer the Austrian w riter Robert Musil gave in the 1920s to the question "what are you working on": Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht. Mein Gedächtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte geradezu sagen: das Gespenstische des Geschehens.47 The ghastly simulacrum the Event is turned into by its narratives is also due to collective / cultural memory formation which, if we follow Maurice 44 Cf. Das Prinzip Gabriel. In: Karahasan, Dževad: Berichte aus der dunklen Welt. Prosa. Transi, by Brigitte Döbert. Frankfurt/ Main, Leipzig: Insel 2007, pp. 127-159, esp. pp. 151-157. Also seethe contributions of Naser Šećerović and Almir Bašovićto this book. 45 Karahasan 2007, p. 133. 46 Gavrilo Princip in 1918; qtd. after Dedijer 1966, p. 365. " Musil, Robert: Was arbeiten Sie? In: R.M.: Prosa und Stücke. Reinbek: Rowohlt 2000, pp. 939-942, cit. p. 939. <?page no="25"?> The Notions of'Event', 'Narrative1and ‘MemoiV as CriticaITooIs 25 Halbwachs, Jan and Aleida Assmann, or other theoreticians,48 is a sort of meta-narrative that governs a bundle of stories that tell the past of a group, society, or nation in a way that is supposed to deliver a convincing interpretation of the present and future; they depend on power relations and the political agendas of the stakeholders involved when they incorporate the narratives of great historic Events in their roadmaps. This becomes particularly virulent in the case of aggressive nationalisms and totalitarianisms of any kind, but even holds true for more peaceful liberal democracies.49 Thus, as our book will be trying to show how, already after the event in 1914, but particularly after the fall of Yugoslavia in the 1990s, conflicting narratives of the Sarajevo Attentat created different perspectives on the assassination and provided ideological interpretations through their stories in a political climate increasingly loaded with tensions. As the US historian Robert Donia has demonstrated, there are at least five types of narratives employed and circulating about Gavrilo Princip, depending on the main characterization ascribed to him over the past century; they focus on him being a terrorist (the official Austrian narrative, 1914-1918), a Yugoslav national hero (the narrative of the first Yugoslavia, 1918- 1941), a degenerate criminal (the Nazi/ Ustasha narrative, 1941-1945), a revolutionary youth hero (the second Yugoslav/ Communist narrative 1945-1970), and a celebrity (particularly in regional pop cultures, 1970-present).50 Although Donia observes that the last interpretation is "likely henceforth to be the dominant and most durable of Princip's attributed personas, dooming rival interpretations to oblivion",51 maybe tw o more narratives should be counted in: namely Princip as a victim (of circumstances? ) and the imperial justice system (e.g. in Karahasan's cited tale) and as a rolemodel Serb (in nationalist narratives from the 1980s onwards to our day). In any case, these representations of Princip and the instrumentalization of his action for a particular memory politics have emerged out of a specific focalization within the concomitant narratives. 48 Cf. ErII, Astrid / Nünning, Ansgar / Young, Sarah B. (ed.): A Companion to Cultural Memory Studies. Berlin, New York: de Gruyter 2010. 49 I am keeping this section short due to the following second intro to this volume by co-editor Vahidin Preljevicwho is also going to deal with this question. 50 Donia's text was originally given as a keynote lecture at our conference in Sarajevo on 28 June 2014, but published elsewhere. Cf Donia, Robert J.: Iconography of an Assassin. Gavrilo Princip from Terrorist to Celebrity. In: Prilozi / Contributions 43 (2014), pp. 59-80. 51 Ibid. <?page no="26"?> 26 Clemens Ruthner Neither at the Sarajevo conference in June 2014 nor in this edited volume of its proceedings, however, it has been our intention to provide a new single key narrative 'how to' analyze or interpret the Shots of Sarajevo 'properly'. What we could and can do here is rather to establish a forum for the critical analysis of existing narratives of th e / Attentat and its political repercussions, instrumentalizations and biases in the politics of cultural memory in the Balkan region and in Europe: Victrix causa deis placuit, sed victa Catoni.52 This rather skeptical approach is supposed to be our contribution not only to the commemoration of 1914 in Sarajevo and worldwide, but also to a democratic discussion of history, to reconciliation and peace in the Balkans and in Europe as a whole. 52 LUCAN: Pharsalia, 1.128: "The Gods love the victorious case, but Cato that of the defeated.' <?page no="27"?> V a h id in P reljević (S arajevo ) Das A ttentat von Sarajevo: Helden, Apokalypse, O pferkult KuItu rwissenschaftl iche Einfü hrung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses How do the event, narrative and memory of the 'Attentat' of Sarajevo relate to each other? An analysis of texts from the circle of the Young Bosnian movement shows that a 'normal' causality between the three is not evident. Discussing the dominant, apocalyptic/ heroic narratives from contemporary sources (that connect Bogdan Žerajić failed assassination attempt of 1910 with Princip's shots) reveals a much more complex relationship between 'real' history, its narrative modelling and memoralization. In our case, namely, narrative and memory preexisted the assassination of Franz Ferdinand. In this context one might speak of an 'imaginary event' that arises from narrative and memory, being translated into the 'real' event. I. Ereignis, Narrativ, Gedächtnis: einführende Bemerkungen Ereignis Das Attentat von Sarajevo gehört zu jenen Ereignissen, in denen sich die Prägnanz geschichtlicher Strömungen einer Epoche verdichtet. Handlungstheoretisch gesehen, markiert es einen Wendepunkt in der bestehenden Konstellation, der die geschichtliche Entwicklung in eine bestimmte Richtung treibt, die sich als unumkehrbar erweisen wird. Christopher Clark bezeichnet die Julikrise, die aus dem Doppelmord in Sarajevo hervorging, "als ein modernes Ereignis [...], als das komplexeste Ereignis der heutigen Zeit, womöglich bislang aller Zeiten".1 Herfried Münkler merkt in einer neueren Studie an, dass die Historiographie lange die Bedeutung des Ereignisses ignoriert habe, was sich unter anderem an der Vernachlässigung des Attentats von Sarajevo in den Darstellungen des Ersten Weltkriegs zeigt, in denen es zu einem bloßen Anlass degradiert wird; der Weltkrieg wäre, so diese Denkschule, auch ohne dieses konkrete Ereignis ausgebrochen. Sowohl Clark als auch Münkler lehnen diese These als zu deterministisch und unhaltbar ab.2 1 Clark, Christopher: Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Krieg zog. München: DVA 2013, P-17. 2 Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918. Reinbek: Rowohlt 2013, p. 25. <?page no="28"?> 28 Vahidin Preljevic Die populäre Unterscheidung zwischen Anlass und Ursache, die ein Jahrhundert lang gerade am Beispiel des Attentats von Sarajevo exerziert wurde, erscheint heute merkwürdig anachronistisch. Der "Prädeterminismus" (Münkler), der lange die historiographischen Darstellungen dieses Ereignisses dominierte, wäre einerseits als ein Erbe des naturwissenschaftlichen Paradigmas, andererseits als pseudohegelianisches Geschichtsmodell zu verstehen, in dem alles, was geschieht, eine "vernünftige" Ursache haben muss, die manchmal verborgen aber grundsätzlich erkennbar ist. Theodor Lessing hat gerade angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in seiner Schrift Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen von 1919 dieses Verfahren des nachträglichen Hineinlesen der logischen Folgen in die Sinnlosigkeit und das Chaos des Geschehens als "logificatio post festum'e bezeichnet. Die Geschichte an sich ist nicht logisch, die kausalen Verbindungen und Strukturen, in denen sie uns lesbar erscheint, stammen vom Akt der Geschichtsschreibung und deren narrativer Modellierung.4 Robert Musil hat dieses Denkmodell ironisch und einprägsam in einer Szene des Mannes ohne Eigenschaften thematisiert, in der Ulrich mit Arnheim über die Vernünftigkeit oder Sinnlosigkeit der Geschichte streitet: "Ohne Zweifel"; erwiderte Arnheim "große Geschehnisse sind immer der Ausdruck einer allgemeinen Lage! " Diese sei heute gegeben; und schon die Tatsache, daß eine Zusammenkunft wie die heutige irgendwo möglich gewesen sei, beweise ihre tiefe Notwendigkeit. Da sei aber etwas schwer zu Unterscheidendes dabei, meinte Ulrich. Etwa angenommen, der Komponist des letzten Operettenwelterfolgs wäre ein Intrigant und würde sich zum Weltpräsidenten aufwerfen, was doch bei seiner ungeheueren Beliebtheit im Bereich des Möglichen läge: wäre dies ein Sprung in die Geschichte oder ein Ausdruck der geistigen Lage? "Dies ist ganz unmöglich! " sagte Dr. Arnheim ernst. "Ein solcher Komponist kann weder ein Intrigant noch ein Politiker sein; es ließe sich sein komisch-musikalisches Genie sonst nicht begreifen, und in der Weltgeschichte geschieht nichts unvernünftiges." "In der Welt aber doch so viel I" "In der Weltgeschichte niemals! "5 Noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde im Kreis Eiermeneutik und Kritik über das Verhältnis von Struktur und Ereignis debattiert.6 Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München: Beck 1919, p. 18. 1 White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main: Fischer 1991. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek: Rowohlt 1987, p. 173f. 6 Siehe: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolfdieter (Hg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung München: Fink 1973 (= Poetik und Hermeneutik V). <?page no="29"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses 29 Es ging dabei unter anderem um die Frage: Ist das historische Ereignis erst eine Folge dauerhafter Strukturen oder sind diese Strukturen ein Produkt großer Ereignisse? M it anderen Worten: Ist die bestehende Konstellation der Kräfte primär und das Ereignis sekundär? Ist das historische Ereignis wie das Attentat von Sarajevo ersetzbar? Oder aber haben historische Ereignisse ihre Singularität, Einzigartigkeit, und damit eine unersetzbare historische Bedeutsamkeit? Nach Reinhart Koselleck hebt sich ein Ereignis vom Strom des Geschehens ab, weil es eine Differenz zwischen Vorher und Nachher m arkiert.7 Das bedeutet jedoch nicht, dass ein Ereignis ex nihilo kommt; es wäre ohne die es voraussetzende Struktur nicht möglich gewesen, genauso wie es selbst neue Strukturen generieren kann.8 Eine Formel, die die Anteile von Struktur und Ereignis genau bestimmen würde, ist natürlich unmöglich zu definieren. Vielmehr muss die Gewichtung und das Verhältnis zwischen den beiden Faktoren selbst als geschichtlich gelten. In manchen historischen Situationen kommt es vor, dass die Strukturen schwach und die Ereignisse stark sind, in anderen ist es umgekehrt, bemerkt Christopher Clark in einer Rede, wobei aus seiner Sicht für die Konstellation vor dem Ersten Weltkrieg eher die erste Option ausschlaggebend ist.9 Es sollte in diesem Zusammenhang ein 'poetisches Moment' des konkreten Ereignisses in Sarajevo 1914 hervorgehoben werden: der 'Zufall'. Auch hier scheinen Münklers Überlegungen relevant: Wenn man die deterministische Option für 1914 ausschließt und wenn man des Weiteren ausschließt, dass eine der Großmächte tatsächlich einen großen Weltkrieg unbedingt wollte und was noch wichtiger ist die Fähigkeit hatte, diesen Willen umzusetzen, das Geschehen vollständig zu lenken, dann, so Münkler weiter, kehrt die Kontingenz in die Ereignisse zurück- und das 20. Jahrhundert hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, wenn es in Sarajewo nicht zu einer Verkettung unglücklicher Umstände gekommen wäre.... Die Vorstellung von der Wirkmacht des Zufalls hat etwas ebenso Verführerisches wie Entsetzliches. Es hätte dann weder die zehn Millionen Gefallenen gegeben noch die Millionen Toten, die infolge des Krieges an Hungerkatastrophen und Pandemien gestorben sind, ebenso wenig die Opfer des russischen Bürgerkriegs als indirekter Kriegsfolge oder die Opfer des Stalinismus, weiterhin nicht die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus und auch keinen Zweiten Weltkrieg.10 7 Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, p. 151. 8 Vgl., ibid., p. 159f. 9 Nach meiner Mitschrift der Rede, die Christopher Clark in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin am 12. September gehalten hat. 10 Münkler 2013, p. 26f. <?page no="30"?> 30 Vahidin Preljević Aus dieser Perspektive scheint es schwer erträglich, sich vorzustellen, dass die Katastrophen des 20. Jahrhunderts möglicherweise ausgeblieben wären, hätte uns der Zufall am 28. Juni 1914 nicht böse mitgespielt. Daher tendiert möglicherweise das Denken nach den zwei Weltkriegen, die Rolle der Kontingenz zu minimisieren, und die amorphe Masse des Geschehens in eine historiographische Erzählung m it einer strukturierten Folge von Ursachen und Folgen zu verwandeln, in der auch die 'Schuldökonomie' eine wichtige Motivationslinie bildet. Die Kategorie der historischen Ursache in Verknüpfung m it der Schuldfrage, zumindest in jener Intensität, wie sie zahlreiche Zeitgenossen formulierten, durfte abgesehen von dem sicher tief- und lange nachwirkenden theologischen Paradigma der Erbschuld vor allem das Ergebnis einer neueren ideen- und diskursgeschichtlichen Entwicklung sein. In einem wegweisenden Artikel über die Kausalität, den Elans Georg Gadamer für das Lexikon Religion in Geschichte und Gegenwart, verfasst hat, stellt der Autor in dem Abschnitt zur historischen Ursache fest, dass die Frage nach der historischen Ursache, Verantwortung und Schuld den diskursgeschichtlichen Kontext der objektivierten Freiheitsidee voraussetzt, wie sie z.B. das Zeitalter der Aufklärung hervorgebracht und während des bürgerlichen Zeitalters im organisierten Liberalismus vertreten wurde. Unter solchen Umständen erscheint das "Wollen" und "Planen der Handelnden", d.h. die politische Macht, als ein entscheidender Faktor der Geschichte. Besonders brisant wird diese Frage nach großen "Ereignissen": Es ist die Erfahrung der Geschichte, daß etwas mit uns geschieht und daß wir nicht wissen, wie uns geschieht. So erwächst angesichts großer geschichtlicher Katastrophen, z. B. dem Ausbruch mörderischer Kriege oder der Entstehung oder dem Untergang großer Weltreiche, die Frage des Menschen nach den Ursachen so gewaltiger, alle einzelnen bestimmender Ereignisse.11 Diese Frage, meint Gadamer weiter, ist im wesentlichen eine "Schuldfrage" auch wenn sich dieser juristische Terminus bei Anwendung auf die "großen Ereignisse der Geschichte" als problematisch erweist, da diese in der Regel eine Vielzahl von Akteuren und Entscheidungsträgern nach sich ziehen, bei der die Folgen von Handlungen nicht kalkulierbar bleiben können. Wohl unter solchen Umständen etabliert sich auch jener Hiatus zwischen der Oberfläche und der Tiefe des Ereignisses, bzw. zwischen Anlass und Ursache, zwischen archq und aitia. Diese Unterscheidung, so folgert Gadamer, schließt "immer schon ein teleologisches Moment ein, insofern 11 Gadamer, Hans-Georg: Kausalität in der Geschichte. In: Galling, Kurt u.a. (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). Handwörterbuch fürTheologie und Religionswissenschaft. Tübingen: J. C. B. Mohr(PauISiebeck) 31956-1965, Bd. 3. pp.1230-1232, hier p. 1230. <?page no="31"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetileines geschichtlichen Ereignisses 31 es offenkundig die Größe, der Folgenreichtum, mithin die geschichtliche Bedeutung des Ereignisses ist, die überhaupt erst die Frage nach seiner Verursachung m otiviert".12 M it anderen Worten: offenbar steht die Frage der Bedeutsamkeit eines Ereignisses am Anfang die (Re)Konstuktion einer Kausalkette und die Auffindung von Ursachen hinter dem Ereignis erfolgt dann im zweiten Schritt.13 Narrativ Das Attentat von Sarajevo selbst erweist sich als ein Ereignis, das schon auf der Ebene des Stoffes, in der bloßen chronologischen Folge die einzelnen Elemente des Geschehens sind relativ gut dokumentiert die Kontingenzen und Koinzidenzen so sehr verdichtet, dass sie eine starke Prägnanz, um diesen Schlüsselbegriff in der Mythentheorie Elans Blumenbergs wieder aufzugreifen, als "Fleraustreten aus dem diffusen Umfeld der Wahrscheinlichkeit" entwickelt.14 Eine solche Prägnanz steht nach Blumenberg im Gegensatz zur Indifferenz aber auch zur Evidenz; sie ist "erweiterungsfähig": das bedeutet, sie weist einen hohen Grad der Erzählbarkeit auf. Welche Geschichten, welche Narrationstypen versammelt in sich dieses Ereignis? Doch zunächst gilt grundsätzlich und im Anschluss an Elans Robert Jauss: Das Ereignis an sich bedeutet noch nichts.15 Das gilt trotz der schon angesprochenen Prägnanz auch für das Attentat von Sarajevo; erst die Transposition dieses Ereignisstoffes in die Geschichte erzeugt Bedeutsamkeit. Diese Transposition vollzieht sich bekanntlich nicht von selbst, sondern sie wird von einer Instanz des Erzählens und in einem bestimmten Medium oder Diskurs geleistet. Die ersten narrativen Verarbeitungen des Attentats von Sarajevo stammen naturgemäß von der Polizei, den Zeitungen, den juristischen Organen; später kommen die historiographischen und fiktiven Erzählungen hinzu. Entwicklungsstadien und komplexe Verformungen dieser Narrationen in der Literatur und in anderen Medien thematisieren einige Beiträge in diesem Sammelband.16 12 Ibid., p. 1231. 13 Ausführlicher dazu in meinem Vortrag, den ich am 24.09. im Österreichischen Forum in Prag gehalten und der unter dem Titel Unfall der Geschichte und Spaltung des Ereignisses. Sarajevo 1914 m it Robert Musil gelesen im Sammelband Frieden und Krieg im mitteleuropäischen Raum. Historisches Gedächtnis und literarische Reflexion der Österreich-Bibliotheken im Ausland, hg. MiIanTvrdik u.a., erscheinen soll. 11 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurrt am Main: Suhrkamp 1996, p. 78. 15 Jauss, Hans Robert: Analogie von historischem und literarischem Ereignis. In: Koselleck/ Stempel 1973, pp. 535f. 16 Siehe die Beiträge von Previšić, Bašović, Strigl, Kodrić und Šečerović in diesem Band. <?page no="32"?> 32 Vahidin Preljević Das Attentat von Sarajevo weist eine solche Ereignisprägnanz auf, da seine Basis, sein Stoff äußerst signifikant ist. Das hat wohl mit zahlreichen mythologischen Präfigurationen und Motiven zu tun, die schon im Rohzustand erkennbar sind und spannungsreiche semantische Oppositionen aufweisen: der arme Bauer gegen den zweitmächtigsten Mann eines Kaiserreichs, David gegen Goliath; eine mysteriöse revolutionäre Gruppe gegen ein konservatives System; idealistischer Fanatismus vitaler Balkanvölker gegen die faule Dekadenz Alteuropas; Freiheit gegen die Tyrannei, aber auch: die balkanische Barbarei gegen die europäische Zivilisation, zerstörerischer Terror gegen die Sicherheit der Ordnung... (Die Reihe ließe sich noch fortsetzen.) Neben der mythologischen Motivik mag als eine weitere Kategorie der Erzählbarkeit hier das Potenzial fungieren, den Stoff in mehreren unterschiedlichen Modi oder Genres zu erzählen: Geschichtstragödie, Katastrophe, Pleldendichtung, Apokalypse (Princip als Engel Gabriel/ Gavrilo), politischer Thriller, Romanze usw. Flinzu kommt das Interesse der politischen Macht an der narrativen Aufbereitung des Stoffes. Einige der erwähnten Erzählungsmodelle sind in politischen Diskursen dieser Zeit, aber auch in späteren Perioden, auch politisch wirksam gewesen. Die großen Veränderungen, die der Erste Weltkrieg verursacht hat, bedeuteten den Zusammenbruch alter und die Entstehung neuer Ordnungen (Staaten), die ihre eigenen Legitimationserzählungen brauchten. Nirgendwo ist das Attentat von Sarajevo so zentral gewesen wie in jugoslawischen (verstärkt allerdings erst nach 1948) und österreichischen Narrativen; doch auch in anderen Erzählgemeinschaften beansprucht es einen gewissen Stellenwert (mehr darüber in den Beiträgen unserer Autoren). Zur Narrativität dieses geschichtlichen Ereignisses gehört die Polarisierung zwischen Täter und Opfer: zwischen Gavrilo Princip und den Genossen auf der einen und Franz Ferdinand auf der anderen Seite. Diese Kontrastierungsfigur erfährt in politischen Legitimationsdiskursen eine besondere Zuspitzung. Die Schlüsselfiguren der Narrationen über das Attentat von Sarajevo erscheinen je nach Perspektive als Freiheitshelden oder Tyrannen, Mörder oder Gerechten, als Erlöser oder weise politische Visionäre. Dabei scheinen zwei Diskursstrategien entscheidend zu sein: die Heroisierung undDämonisierung. In beiden Fällen handelt es sich, wie wir später sehen werden, um Optionen des apokalyptischen Fleldennarrativs, das sich als besonders wirksam erweisen wird, und zwar nicht nur als Folgenarrativ, sondern als Erzählung, die dem betrachteten Ereignis vorausgeht und dieses vielleicht auch mitbestimmt, wie w ir das in konkreter Analyse der Texte aus dem Umkreis der Attentäter belegen wollen. W ir haben schon am Beispiel des Attentats von Sarajevo das Problem der Gewichtung von Struktur und Ereignis angesprochen. Der Stoff eignet <?page no="33"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetikeines geschichtlichen Ereignisses 3 3 sich jedoch auch dazu, eine andere Frage zu stellen: Ergibt sich das Narrativ immer aus dem Ereignis, oder folgt das Ereignis in mancher Elinsicht dem Narrativ? Das apokalyptische Eleldenmodell, das in den meisten jugoslawischen Darstellungen des Attentats dominiert, war, wie schon gesagt, ein vorherrschender Diskurs im jungbosnischen Kreis um Gavrilo Princip vor dem 28. Juni 1914; wir werden im zweiten Teil zu belegen versuchen, wie diese Narrationen (und Bilder) in überlieferten Quellen zum Selbstverständnis des Attentäters offenbar sehr wirksam werden. Ist es möglich, dass Gavrilo Princip, dessen Figur Gegenstand zahlreicher (Anti-) Fleldengeschichten ist, selbst eine Art Produkt oder Bestätigung des mächtigen heroischen Narrativs ist? Ist er Ietzlich jemand, der (bewusst) wie ein mythischer Field handelt und sich damit in eine bestehende Präfiguration einfügt? Gedächtnis Selten konzentrieren sich in einem Ereignis und dessen narrativen Modellierungen die wichtigsten mythomotorischen Kraftlinien des kulturellen Gedächtnisses wie im Ersten Weltkrieg, und auch in dem Teilereignis, das am Angang des großen Geschehens steht. Die Mythom otorik bestimmt auf lange Dauer die Erinnerungskultur einer Gemeinschaft als jene "orientierende Kraft", die eine "selbstformende, handlungsanleitende Bedeutung"17 besitzt. Nach Bernhard Giesen bilden in den Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg die Kategorien Triumph und Trauma die Achse jener M ythom otorik.18 Nichts hinterlässt eine so tiefe Spur im Gedächtnis wie Siege und Niederlagen; wobei die Niederlagen, wenn sie mit Schmerz und Leiden verbunden sind, eine noch tiefere Wirkung im individuellen wie kollektiven Bewusstsein wie auch im Unterbewusstsein hinterlassen.19 Kaum ein historisches Ereignis trennt die Erinnerungsgemeinschaften so strikt von einander und hinterlässt so widersprüchliche Eindrücke wie der Erste Weltkrieg. Seine Rolle im 'offiziellen Gedächtnis' ist demnach als völlig unterschiedlich einzuschätzen. Aus der Perspektive der Reiche, die vorwiegend multinationalen Charakter hatten und 1918 zusammenbrachen, war dies das Ende der Welt, Untergang des Abendlandes, ein postapokalyptischer Zustand; auf der anderen Seite war der erste Weltkrieg für einige alte, insbesondere aber für neue Nationen (zu denen auch Jugosla- 17 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü hen Hochkulturen. München. Beck 1992, p. 79f. 18 Giesen, Bernhard: Triumph and Trauma. London: Paradigm 2004. 19 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1997, p. 2581 <?page no="34"?> 34 Vahidin Preljević wien gehört), der Triumph jahrhundertelanger Freiheitsträume, die Niederlage der Tyrannei und Fremdherrschaft, ein neues Zeitalter, das nach einer finsteren Periode gekommen ist.20 Wie sich die Paradigmen im Gedächtnis verändern und die Ereignisse einander im imaginären Gedächtnisraum verdrängen oder verschieben, so überdeckte und überformte der Zweite Weltkrieg als eine noch größere Katastrophe die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Das gilt vor allem für den schon erwähnten Schuldimperativ, der in einflussreichen historiographischen Studien vom Zweiten auf den Ersten Weltkrieg übertragen wurde. Da die Generation der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs gegenwärtig ausstirbt, wird auch das Jahr 1914 definitiv aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis übergehen, so dass sich in der Geschichtsschreibung die Tendenz abzeichnet, den Ersten Weltkrieg vom hermeneutischen Schlüssel des Zweiten Weltkriegs zu befreien. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass eine Art Neubestimmung des Umgangs mit der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts im Gange ist, wobei sie nach den ersten Eindrücken nicht nur eine Revision der Rolle des Nationalismus, wie Clark sie vornim m t,21bedeutet, sondern auch von einer abermaligen Zuspitzung und Vulgarisierung des heroischen Narrativs in einigen Ländern mit der triumphalen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gekennzeichnet ist, die sich in Feierlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Ersten Weltkriegs im Jahr 2014,22aber auch danach zeigte.23 Der Triumph und das Trauma bezeichnen im Kontext des Ersten Weltkriegs die neue Ordnung der Zeit. Im kulturellen Gedächtnis der Nationalstaaten, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, wie etwa in Jugoslawien, markiert das Ende des Ersten Weltkriegs die Begründung und Anfang einer neuen Ordnung, eines leuchtenden Zeitalaters, während in den Staaten und, besser gesagt, Gebieten, die eine Niederlage erlitten 20 Zahlreiche Beiträge im Kapitel Erinnerung und kulturelles Gedächtnis in unserem Sammelband thematisieren die kulturellen Differenzen in Erinnerungsparadigmen im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg. 21 Vgl. Clark 2013, p. 16. 22 Siehe dazu die Beiträge von Selma Harrington und Stijn Vervaet in diesem Sammelband. 23 Im Augenblick der Entstehung diesei Zeilen, um Vidovdan 2015, bringt die bosnische Tageszeitung Oslobođenje in dei Ausgabe vom 29.06.2015 zwei interessante Berichte. Der erste trägt die Schlagzeile: "Gavrilo-Princip-Denkmal in Belgrad eingeweiht" mit dem Haupttitel "Symbol freiheitlicher Ideen und Tyrannenmords". Das Denkmal wurde in Anwesenheit von Tomislav Nikolić, dem Präsidenten Serbiens, und von Milorad Dodik, dem Präsidenten der bosnisch-heizegowinischen Teilrepublik Republika Srpska, sowie anderer hoher Gäste. Der zweite Aitikel berichtet über ein Ereignis in Sarajevo: Die Kranzniederlegung vor der Vidovdan-Kapelle, die in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts für die Attentäter in Sarajevo errichtet wurde. In den Reden wurde, ähnlich wie in Belgrad, unterstrichen, dass Gavrilo Princip kein Terrorist, sondern ein Freiheitskämpfer gewesen sei. <?page no="35"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses_____ 35 hatten24 in den Vordergrund publizistischer und künstlerischer Dikurse die Figuren des Endes und des Niedergangs rücken. Anfang und Ende sind nicht nur zentrale narratologische, sondern auch anthropologische Kategorien, deren Imagination die Identität des Subjekts, des individuellen wie des kollektiven, wesentlich mitbestimmt.25 Daher können die Figuren des Anfangs und des Endes als zwei Seiten des apokalyptischen Narrativs betrachtet werden.26 Während in den neuen Staaten das Zeitalter der Selbstbestimmung der Völker gefeiert wird, ist in dem deutschen und österreichischen Kontext die kulturelle Semantik, insbesondere in der literarischen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs, aber auch im philosophischen und historiographischen Diskurs, von einer "Poetik des Verfalls"27geprägt. Etwas später, seit den dreißiger Jahren, meldet sich in der österreichischen Literatur auch das Motiv der Nostalgie.28 M it dem apokalyptischen steht das heroische Narrativ in einem engen Zusammenhang.29 Das Licht der Neuen Zeit stellt sich unter den Bedingungen der Moderne nicht von selbst ein, geht auch nicht aus dem Wil- 24 Zur Kultur der Verdrängung in Deutschland nach 1918 vgl. u.a. Heinemann, Ulrich: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und die Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987. Im Sammelband Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert (Göttingen: Va ndenhoeck& Ruprecht 2000), der von Helmut Berding, Klaus HeIIerundWinfried Speitkamp herausgegeben wurde, beschäftigt sich die Studie PeterAIberts mit der Rolle des Ersten Weltkriegs in der englischen Erinnerungskultur: "Im öffentlichen Gedenken an die Gefallenen und Vermißten des Krieges (und des Sieges) unter Beteiligung der Spitzen von Staat und Gesellschaft erschien die Nation geeint, waren hinlänglich bekannte soziale Gegensätze und Unzufriedenheit, Arbeitslosigkeit und Streikunruhen zumindest temporär überdeckt." (p. 120). Auf der anderen Seite sucht die deutsche Erinnerungskultur lange, einen Modus für das Gedenken an die Gefallenen zu finden, bis sie dann das Konzept des "Denkmals für den Unbekannten Soldaten" findet: Das geht aus der Studie von Benjamin Ziemann im selben Sammelband hervor. Dieses Denkmalkonzept stellte wegen der Aufhebung des Individuellen im Kollektiven eine gedächtniskulturelle Grundlage für nationalistische und revisionistische Bewegungen in den 20er und 30er Jahren dar. 25 Friedrich, Udo/ Hammer, Andreas/ Witthöft, Christiane: Anfang und Ende, in: Diess. (Hg.); Anfangund Ende. Formen narrativei Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin: Akademie Verlag 2014, p. 11. 26 Als Einführung in das apokalyptische Narrativ siehe Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. München: Fink 2007. Müller-Funk bezeichnet die Apokalypse als "zentrales abendländisches Narrativ" (p. 287). 27 "Poetik des Verfalls" ist der Arbeitstitel meines neuen Forschungsprojektes, das das Verhältnis von Dekadenzästhetik und philosophischen bzw. (populär)wissenschaftlichen Diskursen (z.B. bei Spengler) analysiert, die ein Verfallsmotiv enthalten und politische Impikationen im Sinne des kollektiven Imaginären entfalten. 28 Vgl. z.B. die Analyse der Nostalgie bei Joseph Roth: Amthor, Wiebke / Brittnacher, Hans Richard (Hg.): Joseph Roth. Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin, Boston: de Gruyter 2012. 29 Zum heroischen Narrativ am Beispiel des deutschen Hermannkultes vgl. Müller-Funk 2007, pp. 225-249. <?page no="36"?> 36 Vahidin Preljević len Gottes hervor, sondern ist unter anderem ein Ergebnis des heroischen Handelns, eines Opfers, das der herausragende Einzelne bringt. Gerade der Erste Weltkrieg kann als jene Wegmarke betrachtet werden, auf der das Konzept des Heroismus eine entscheidende Verwandlung erfährt.30 Das Motiv des Heroischen ist gleichzeitig ein Schlüsselmoment des Attentatsdiskurses wenn wir unter diesem Begriff die affirmativen Texte über die Täter, die nach dem Attentat entstanden sind, wie auch die aktionistischen Schriften aus dem unmittelbaren Umkreis der Princip-Gruppe zusammenfassen dürfen. Dieser Diskurs umfasst nicht nur die nachträgliche Glorifizierung Gavrilo Princips als Held und Befreier im kommunikativen und später auch im kulturellen Gedächtnis, sondern auch die Schriften, in denen das Attentat als entscheidendes Element und M otiv des heroisch-apokalyptischen Paradigmas entfaltet wird. Entscheidend für die Genese des Attentatsdiskurses ist die Zeit nach 1910, nach dem gescheiterten Attentat und Selbstmord von Bogdan Žerajić; seine Entwicklung und konkrete Zuspitzung kann man in einer Reihe von einflussreichen Schriften und Briefen studieren, die nachweislich im unmittelbaren Umfeld der Verschwörer zirkulierten. Die Forschungsliteratur zu den apokalyptischen Narrativen und M otiven gerade im Zusammenhang m it dem Ersten Weltkrieg ist inzwischen stark angewachsen, es ragen aber nach wie vor die Studien Klaus Vondungs31 und Jürgen Brokoffs32 hevor, die einen wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion dieses ästhetischen und ideengeschichtlichen Phänomens geleistet haben. Das Konzept des Heroismus wurde auch ausführlich in der soziologischen, Iiteratur- und kulturwissenschaftlichen Literatur behandelt.33 Für das Ereignis des "Attentats von Sarajevo" als 30 Gampei nennt den Eisten Weltkrieg einen Transformator des Großen und Heldischen": "Der Erste Weltkrieg war ein Transformator des Großen und Heldischen. Er hat das Phänomen, dass herausragende Individueen als Orientierungsfiguren des Sozialen dienen, nicht ausgelöscht, aber doch entscheidend verändert." Die Hauptthese des Aitikels besteht darin, dass der Heroismus vorheriger Epochen immer noch an eine Persönlichkeit gebunden, während er, unter anderem bei Ernst Jünger, anonym wird. (Gamper, Michael: Der "große Mann" im Krieg. In Wagner, Karl u.a. (Hg.): Der Held im Schützengraben. Zürich: Chronos 2014, pp. 17-27. 31 Vondung, Klaus: Die Apokalypse in Deutschland. München: DTV 1988. 32 Brokoff, Jürgen: Die Apokalypse in der W eimarer Republik. München: Fink 2001. 33 Siehe die Studie von Naumann, Michael: Strukturwandel des Heroismus. Vom sakralen zum revolutionären Heldentum. Königstein: Athenäum 1984. Vom neueiwachten Interesse am Heroismus als kulturellem und ästhetischem Phänomen zeugen neue Publikationen und Projekte, wie z.B. Weigel, Sigrid (Hg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfeitod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. München: Fink 2007; Immer, Nicolas / van Marwyck, Mareen (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionen und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld: Transcript 2013; auch das elektronische Journal Helden/ Heroes/ Heros, das von Ulrich Bröckling, Barbara Koite u. Birgit Studt hg. wird, siehe: https: / / www.sfb948.unifreiburg.de/ e-journal/ ausgaben/ 012013/ helden.heroes.heros.2013-0, eingesehen am 29.06.2015. <?page no="37"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetikeines geschichtlichen Ereignisses 37 narrativem Ausgangspunkt des Ersten Weltkriegs indes fehlen solche Untersuchungen. Der vorliegende Sammelband versucht dieses Desiderat zu beheben. Im zweiten Teil wollen wir versuchen, uns mit den motiv- und diskursgeschichtlichen Analysen der Texte, die im unmittelbaren zeitlichen und rezeptioneilen Kontext des 28. Juni 1914 entstanden sind, einer Einsicht in die Komplexität der Verflechtung von Ereignis, Narrativ und Gedächtnis, die die kulturelle Tatsache des Attentats von Sarajevo auszeichnet, zu nähern. Da die diesem Text vorangehende Skizze von Clemens Ruthner eher allgemein gehalten ist, sollen die Beobachtungen nun weiter konkretisiert werden. II. Das große Ereignis und die heroisch-apokalyptischen Narrative in jungbosnischen Texten Apokalypse now: Slijepčević erinnert sich an Gaćinović Eines der ersten Dokumente, das das Attentat von Sarajevo bereits als ein historisches Narrativ entwerfen, wurde in Genf 1917 veröffentlicht. Es handelt sich um die Gedenkschrift Pomen Vladimiru Gaćinoviću, die anlässlich des vierzigsten Todestags dieses bosnisch-serbischen Publizisten, der in der Literatur oft als geistiger Vater der Attentäter bezeichnet wird,34 erschienen ist. Aber eigentlich handelt es sich dabei um eine Rede, die der Germanist Pero Slijepčević am vierzigsten Todestag gehalten hat, und die der bekannte kroatische Maler Jozo Kljakovic in eine Broschüre verwandelt hat.35 In der einführenden Anmerkung wird unterstrichen, dass die Schrift von den "Kroaten aus Südamerika" herausgegeben wurde, was das Konzept der serbisch-kroatischen Einheit betonen und dem Dokument einen jugoslawischen Charakter verleihen soll. Der Anlass der Entstehung dieses Textes, die orthodoxe Totenfeier, verschiebt die Rede ein wenig in die Sphäre des (para)religiösen Diskurses und eröffnet damit den Spielraum für die Sakralisierung von Person und Werk. Gaćinović wird als der "rassigste Mensch in unserer ganzen jungen Generation dargestellt" als "Inkarnation unserer rassischen Seele" und als Höhepunkt der "Evolution der serbischen Dichter- und Heiduckenseele".3651 51 Siehe unter anderem die Darstellung seiner Rolle bei Ljubibratić, Dragoslav: Vladimir Gaćinović. Belgrad: Nolit 1961. 55 Slijepčević, Pero: Pomen Vladimiru Gaćinoviću. Genf: Hrvati iz Južne Amerike 1917. 56 Ibid., p. 14. <?page no="38"?> 38 Vahidin Preljević Der Rassendiskurs des südslawischen Nationalismus, von dem später etwas mehr die Rede sein wird, unterstreicht die naturalistische Dimension der Kultur, wozu auch die Verwendung des Evolutionsbegriffs dienen soll. Dennoch ist diese Verwendung weit vom rationalistischen 'wissenschaftlichen Naturalismus' entfernt: Nation und Rasse erscheinen als natürliche, schicksalhafte Kraft aus mystischen und metaphysischen Regionen, so dass die moderne Rhetorik der Rasse bruchlos an die vormoderne mythische Redeweise gebunden werden kann. Gerade das tut auch Slijepčević, wenn er Gaćinović und dessen historische Rolle des "rassigsten Menschen" in der Kontinuität des Kosovomythos sieht, der, wie Slijepčević bezeichnenderweise anmerkt, seinen "historischen Charakter verloren und sich in eine Volksphilosophie und -religion verwandelt hat".37 Nach Roland Barthes verwandelt der Mythos "Antinatur" in "Pseudonatur" der Augenblick und Zufall werden in ihm zur "Ewigkeit", während die historische und künstliche Dimension kultureller Phänomene verdrängt werden.38 Der Gang durch die "Geschichte", die auf ein Ziel reduziert und ihrer Komplexität beraubt wird, wird zur Erfüllung des Vermächtnisses aus dem Mythos: "Die Guslaren fühlen unsere ganze Geschichte hindurch, und wir fühlen es auch, dass da ein Feuerstrom des messianischen Gedankens tobt, der ganze Generationen beansprucht, bricht, verschmilzt, und sie dann aufrichtet und wieder verbrennt."39 In diesem "messianischen" Muster kommt es zunächst auf das Bewusstsein eines gemeinsamen Ziels des Guslars und des Intellektuellen, der "authentischen" Volksstimme und des Vertreters der Modernität. Diese Einheit ist nicht nur abstrakt, sondern sehr konkret in der Person Gaćinović verkörpert, der hier als "Dichter- und Heiduckenseele" in einem genannt wird, wom it auf die Komplementarität seines publizistisch-literarischen und konspirativ-subversiven Wirkens als Mitglied der Narodna odbrana und der Schwarzen Hand, bzw. der Vereinigung "Vereinigung oder Tod", angespielt ist. In dieser Konstruktion werden die Widersprüche und Diskontinuitäten der Geschichte und der Moderne abgeschafft. Es handelt sich um eine typische Figur der Überwindung sozialer Spaltungen, um die Rückverwandlung der Gesellschaft in die Gemeinschaft", um hier auf die bekannten Begriffe von Ferdinand Tonnies40zurückzugreifen. Des Weiteren interessiert hier die sprechende Beschreibung der historischen Erfüllung als Opferung. Um das Vermächtnis zu erfüllen, müssen Generationen am Altar der kollektiven Identität 'aufgebraucht' werden - ■7 Ibid., p. 15. 58 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Berlin: Suhrkamp 2010, p. 294ff. 59 Slijepčević 1917, p. 14. 40 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Kulturformen. Leipzig: Fues 1887. <?page no="39"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses _____ 39 dieser ganze Prozess wird in der Metapher des "Feuerstromes" verdichtet, der unerbittlich alles verbrennt, um sein Ziel zu erreichen. Der Fleldentod trägt hier eindeutig die Züge des Opferritus, der gemeinschaftsstiftenden Charakter haben soll. Nach Rene Girard hatte das Opfer noch in alten religiösen Ritualen die Funktion, die Gemeinschaft zu erlösen bzw. im ritualisierten Gewaltakt die Identität zu heiligen und diese m it der göttlichen Sphäre zu vernetzen.41 Das Opfer ist also jene Instanz, die die Kommunikation m it dem Göttlichen verm ittelt.42 Doch hier geht es nicht mehr um kosmische Mächte, wie in primitiven Religionen: die Gottheit, der nun geopfert wird, ist die Nation. Jedenfalls wird der Opfer-Fleld als M ittel der historischen Sendung eingesetzt, wobei er diese Rolle mehr oder weniger willentlich annimmt. Die Selbstaufopferung wird zu einem sakralen Akt, der das nationale geschichtliche Vermächtnis heiligt jenseits von ethischen Normen. Aus dieser Perspektive der Opferung und des Martyriums sieht der Autor der Broschüre auch die südslawischen Attentäterfiguren, darunter vor allem Bogdan Žerajić und Gavrilo Princip: Schau, ich rief, wie Tausende Wellen, von der Sonne beschienen, zum Wasserfall stürmen, in Untergang und Abgrund stürzen, und ewig so! Und du antworte langsam: Unsere Jugend tu t es auch so. Indem sie in sich den Abglanz der Träume tragen, unsere Žerajić, Princip, Živanović, Jukic stürzen auch in den Abrgund, wie wahnsinnig, als hätten sie im Kopf nichts außer dem Reiz der Gefahr, als würden sie sich nicht kümmern, aus aus ihnen werden wird.43 Die Figur der Unerschrockenheit und kompromisslosen Selbstaufopferung setzt ein heroisches Subjekt voraus, dem die individuelle Dimension und jede Art von Widersprüchlichkeit entzogen werden; der Field wird identisch mit seiner Aufgabe, die er im Namen der imaginären Gemeinschaft erfüllt. Damit ist eine vollständige Einheit zwischen Innen und Außen erreicht, da das Erstere sich der objektiven, heiligen Mission völlig untergeordnet hat, einer Mission, die viel wichtiger sei als einzelne Existenzen und individuelle Regungen. Das Bild des Wasserfalls aus der zitierten Stelle lässt noch einen wichtigen Aspekt hervortreten, den wir schon in der Metapher des "Feuerstroms" gefunden haben. Er hat eine zentrale Rolle für das Verständnis des Attentatsdiskurses und Fleldennarativs: die apokalyptische Figur des Sturzes in den Abgrund, die die andere Wahrnehmungsrichtung des apokalyptischen Flandelns markiert: während der "Feuerstrom" das große Bild 41 Vgl. Girard, Rene: Das Heilige und die Gewalt. Zürich: Benziger 1987, p. 18. 42 Ibid., p. 17. 42 Slijepčević 1917, p. 12. <?page no="40"?> 40 Vahidin Preljevic der (nationalen) Geschichte das objektive Geschehen beschreibt, betont die Abgrundmetaphorik die "individuelle" Perspektive des Helden, der sich nun opfert oder geopfert wird. Den apokalyptischen Bildern der Zerstörung und Opferung werden andere, scheinbar konträre Visiotypen an die Seite gestellt, die sich am vom anderen Pol der apokalyptischen Redeweise stammen: die von der Sonne beschienen Flusswellen. Sie stürzen zusammen mit den nationalen Märtyrern selbst in den Abgrund, die sie eigentlich rhetorisch verdoppeln. Die Helden schwimmen so auf diesen Lichtwellen m it einem Abglanz der Träume in sich, was die Hoffnung symbolisieren soll, dass dieses Licht ein Funken der neuen, gerechteren Ordnung werden wird. Diese neue Ordnung nennt Slijepčević "Jugoslawien". Dieser telelogischen Bestimmung widerspricht die Denkfigur der zeitlosen Zirkulation ("und ewig so"): Trotzdem werden die endgültige Befreiung und Vereinigung als Möglichkeit angedeutet, diese schlechte Unendlichkeit durchzustoßen. Doch die Verbindung von organologischer Metaphorik der ewigen Wiederkehr des Gleichen und der teleologischen Grundkonzeption ist zwar widersprüchlich, aber konsequent. Die Rhetorik der Zirkulation stellt den nationalen Kampf in den Rahmen der naturalisierten Geschichte, und die "nationale Mission", wie sie Slijepčević beschreibt, sorgt für den allgemeinen "Sinn der Geschichte", der wie in der christlichen Heilsgeschichte kein genaues Datum zukommt, dafür eine mobilisierende Naherwartung, wie Vondung das darstellt.44 Das apokalytpische Denken setzt ja voraus, dass der Geschichte "Sinn" zukommt oder vielmehr zukommen soll, denn gerade aus der Erfahrung der "Defizienz", des Mangels an Sinn und aus einer Atmosphäre der Leere, erwächst die Sehnsucht nach einem Zeitalter der Sinnerfüllung, na einem "neuen Zustand vollkommener und ewiger Fülle" werden, der letztlich die Geschichte aufheben soll.45 Der Broschüre sieht man das Entstehungsjahr 1917 deutlich an. Es herrschte immer noch die Ungewissheit vor, ob die jahrhundertelangen nationalen Bestrebungen fruchten würden, es war noch nicht klar, ob das Licht, das die Attentäter mit in den Abgrund gerissen haben, zu einem Funken der Neuen Ordnung wird. Doch dieser Text dokumentiert den Beginn der Historisierung und gleichzeitiger Mythologisierung des Attentats von Sarajevo und seiner zentralen Figuren. Der messianisch-apokalyptische Modus mit dem heroischen Märtyrer im Mittelpunkt, den wir in der diskursiven Matrix bei Slijepčević antreffen, stellt jedoch erst eine Modifikation "jungbosnischer" und südslawischer nationalistischer Narrative, die*15 11 Vondung 1988, p. 86. 15 Ibid., p. 96. <?page no="41"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses 41 sowohl in der Öffentlichkeit als auch in konspirativen Kreisen vor 1914 in Bosnien-Herzegowina zirkulierten. Diese Diskurse, denen wir uns in einer Art Krebsgang, von der Erinnerung zum Ereignis, nähern wollen, konstruieren ein imaginäres Attentat in der mythischen Zeitlosigkeit, bevor das realgeschichtliche Attentat tatsächlich scheinbar als Erfüllung seines imaginären Widerparts eintritt. Konstruktion des Heldentums: Gaćinović erinnert sich an Bogdan Žerajić Um zum Ausgangspunkt des "heroisch-apokalyptischen Narrativs" des Attentats von Sarajevo vorzustoßen, muss man einen Schritt zurückgehen, in die Zeit vor dem Attentat, gewissermaßen in die "vorapokalyptische Periode"- und zwar zur Person, die der Gegenstand des ersten Erinnerungstextes ist, nämlich Vladimir Gaćinović, dem Schlüsselideologen und Aktivisten der nationalistischen Bewegung in Bosnien-Herzegowina. Slijepčević benutzt in seinem vorher erwähnten Text von 1917 Figuren, die in sog. "jungbosnischen" Kreisen auch vor der "großen Tat" dem Attentat verbreitet waren, was auf eine imaginäre Kontinuität im Rhetorischen verweist. Gerade Vladimir Gaćinović kann als jener Autor betrachtet werden, der dem teilweise abstrakten nationalistischen Diskurs der Vorkriegspublizistik und -essayistik eine entscheidende aktivistische Note gibt, indem er alle wesentlichen Bestimmungen des heroisch-apoalyptischen Narrativs beibehält und vertieft. Sein Text Der Tod eines Helden (Smrt jednog heroja) aus dem Jahr 1912, der Bogdan Žerajić gewidmet und als Broschüre gedruckt ist, welche auf illegalen Wegen in den diversen nationalistischen Jugendvereinen distribuiert wurde, stellt nach fast einhelliger Einschätzung der Zeitzeugen vielleicht auch den wichtigsten textuellen Beitrag zur Bildung des Bewusstseins von der Notwendigkeit unmittelbarer Aktionen in Bosnien-Herzegowina vor dem Attentat. Von der Wirkung des Textes sprechen zahlreiche Quellen und Zeugnisse. Der Zeitgenosse Ratko Parežanin gibt folgendes Urteil ab: "Seine [= von Vladimir Gaćinović, V.P.] Broschüre Der Tod eines Helden wurde zum Evangelium junger nationaler Fanatiker, die mitten in einer Protest- und Revolutionspsychose mit Waffen und anderen M ittel m it verschiedenen Exponenten der österreichisch-ungarischen Monarchie abrechnen."46 Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Borivoje Jevtić,47 und im Stenogramm des Prozesses gegen die Attentäter vom 46 Parežanin, Ratko: Gavrilo Princip u Beogradu.Mlada Bosna i Prvi svetski rat. Beograd: CATE- NA MUNDI 2013, p. 31f. 47 Jevtić, Borivoje: Sarajevski atentat. Sarajevo: Štamparija i izd. Petra N. Gakovića 1923, pp. 20-21. <?page no="42"?> 42 Vahidin Preljevic 28. Juni wird die nämliche Broschüre als Beweismaterial vorgelesen. Nach dem Verlesen eines Absatzes aus der Broschüre im Gerichtssaal ruft Princip aus: "Hoch lebe Žerajić! "48 Der Text entsand als eine Art Hommage auf den gescheiterten Attentäter Bogdan Žerajić, der am 15. Juni 1910 versuchte, den österreichisch-ungarischen Militärstatthalter Marijan Varešanin zu töten. Gaćinović verfasst den Text in Wien; gedruckt wird er im Piemont, dem Zentralorgan der Organisation Vereinigung oder Tod, dessen Chefredakteur Ljubomir Čupa Jovanović ist, der engste M itarbeiter von Dragutin Dimitrijević Apis. Gaćinović selbst wird Mitglied der Schwarzen Hand im Sommer 1911.49 Die propagandistische Orientierung des Textes überrascht kaum; der Autor unterstreicht gleich am Anfang seine Intention: Das Ziel dieses Aufsatzes besteht in erster Linie darin, eine Revolution im Geist und Denken junger Serben hervorzurufen, sie von dem katastrophalen Einfluss gewisser antinationaler Ideen zu befreien und sie dafür vorzubereiten, Ketten zu sprengen und Eisen zu biegen, eine gesunde Grundlage für ein leuchtendes nationales zu kommendes Leben zu schaffen.50 Das Figurenarsenal ist aus der revolutionären Rhetorik bekannt: Aufstand, Sprengen der Ketten, Einrichten der neuen Ordnung. Diesem Kern gesellen sich noch zwei Nuancen hinzu: der innere Kampfgegen "antinationale Ideen", die Metaphorik von Krankheit und Gesundheit, wobei jene künftige zu schaffende Ordnung als gesund und die gegenwärtige als krank, faul und dekadent inszeniert wird, was auf den morphologisch-naturalistischen Hintergrund der Denkrichtung Gaćinovićs verweist, die wir auch bei Slijepčević beobachtet haben. Diese "biologische" Basis wird um eine ethische Dimension erweitert, so dass die neue Ordnung als "leuchtend", dh. von Wahrheit und Gereichtigkeit erfüllt, bezeichnet wird. Doch schon jetzt zeigt sich, in welchem Schlüssel diese revolutionäre Rhetorik zu lesen ist: es ist weniger die Rede von einem Kampf um die Bürgerrechte, als vielmehr um die Begründung einer neuen ethnonationalen Ordnung: Das wird spätestens im nächsten Absatz deutlich, in dem der Autor die Hoffnung für die Erneuerung des "gegenwärtigen kranken und der Schaffung eines neuen Lebens" in der neuen Generation erblickt, die bereit ist, für die "Idee, Freiheit und das gekettete Volk" zu sterben. Zum ersten Märty- 18 Bogićević, Vojislav: Sarajevski atentat. Stenogram Glavne rasprave protiv Gavrila Principa i drugova. Sarajevo: Državni Arhiv NR BiH 1954, p. 314. 19 Vgl. Dedijer, Vladimir: Sarajevo 1914. Beograd: Prosveta 1966, p. 639; Ljubibratić. Drago: Gavrilo Princip. Beograd: Nolit 1959, p. 128. 50 Gaćinović, Vladimir: Bogdan Žerajić (Smrt jednog heroja). In: Palavestra, Predrag: Književnost Mlade Bosne II. Sarajevo: Svjetlost 1965, p. 229. <?page no="43"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses 43 rer dieser Bewegung ernennt er Bogdan Žerajić, "dessen B lu t'[...] auf den Straßen von Sarajevo am 15. Juni 1910 vergossen wurde."51 Hier schließt der Autor an seine zweite metatextuelle Bestimmung an: Sein Text hat nämlich selbstredend eine mnemokulturelle Funktion: "die Erinnerung an diesen Helden aufzufrischen, die undankbar aus unseren Herzen zu verschwinden droht" doch gleichzeitig hat dieses Gedächtnis einen Gebrauchscharakter, denn es stellt, wie der Autor anführt, eine "gewisse materielle Basis für weitere Arbeit" (ibid.).52 Der Ausbau des Gedächtnisbildes des Helden ist deswegen eine wichtige Funktion dieser Schrift, weil Žerajić nach Gaćinović nach nur zwei Jahren in Vergessenheit geraten war, was selbst von dem desolaten Zustand seiner Gemeinschaft zeugt und die anfangs angedeutete Notwendigkeit der Revolution unterstreicht. Gemeinschaften, die sich nicht an ihre Helden erinnern, befinden sich in einem Zustand der "Verwahrlosung" so die Schlussfolgerung, die man aus GacinovicsText ziehen kann. Die Heldenvergessenheit ist ein Zeichen der Dekadenz. Gleichzeitig wird gar nicht verhehlt, dass dieses Gedächtnis etwas mit dem Helden als Person zu tun hat; es hat wie gesagt die Funktion einer Basis für die "weitere Arbeit". Selbst der Autor sagt, dass der kommemorative Impetus, im Sinne eines persönlichen Gedenkens, eigentlich nur ein "Nebenziel dieser Zeilen" ist. Die Funktionalisierung des Gedächtnisses im Zusammenhang mit der Konstuktion von Heldentum ist kein unbekanntes Thema in der Forschung, doch selten sind Beispiele, wo dieser Prozess, von dem "Ereignis", der Heldentat, bzw. dem Opfertod, über seine literarische Verarbeitung, Aufnahme, Verwendung und endgültige Wirkung in einem zweiten Ereignis (der zweiten Heldentat) so genau in einzelnen Phasen und Segmenten studiert werden kann wie in der Rezeptionsgeschichte des konstruierten Heldenbildes "Bogdan Žerajić" in Gaćinovićs Text im Hinblick auf seine Funktion im Kontext südslawischer nationalistischer Agitation und seiner konkreten Wirkung im Kreis der Sarajevo-Verschwörer. So werden auch Princip und Čabrinović im Gerichtssaal die Schlüsselrolle des Žerajić-Kults unterstreichen: "Weißt du etwas über Žerajić? " Princip: "Das war mein erstes Vorbild. Nachts ging ich als sechzehnjähriger Junge an sein Grab und schwörte, dass ich es ihm nachmachen werde." Čabrinović: "Ich tat dasselbe, als ich nach Sarajevo kam. Ich ritzte seinen Namen auf dem Grabstein." Princip: "Das Grab war verwahrlost und w ir haben es in Ordnung gebracht."53 52 53 Ibid. Ibid. Bogićević: Sarajevski atentat 1954, p. 85. <?page no="44"?> 44 Vahidin Preljević Das was nach dieser Einleitung folgt, ist nicht die Faktenpräsentation, die für die positivistische Biographistik des 19. Jahrhunderts charakteristisch wäre, sondern eine verdichtete Deutung des Lebens Žerajićs und die Rahmensetzung für ein M ärtyrerporträt. Der Autor bringt die biographischen Realia (Geburtsdatum und -Ort, Studienjahre an der Zagreber Universität) erst am SchIussTextes unter, nachdem er in der Erörterung des Kontextes erreicht hat, dass die einzelnen Linien des Fleldenlebenslaufs im Einklang m it der grundlegenden eschaotologischen Konzeption in dem endgültigen Ziel und der großen Tat zusammenlaufen. Mögliche andere Elemente der biographischen Narration werden ausgeschlossen. Flier ist das M otiv der Prädestination entscheidend: "Žerajić war vorherbestimmt für eine hohe nationale Konzeption und vorbereitet für das nationale Opfer."54 Dieses Vorbereitetsein für das "nationale Opfer" ist nicht nur ein gewöhnliches Motiv, sondern es prägt auch den Rahmen für die Lektüre der Heldenbiographie.55 Die ganze Existenz des Helden ist auf das nationale Opfer ausgerichtet, ihm ist alles untergeordnet, so dass er als reine Funktion erscheinen muss, bar jeder Indvididualität. Es handelt sich natürlich um einen vormodernen, apsychologischen Typus des literarischen Helden, wie ihn Tzvetan Todorov56 genannt hat wenn wir Bogdan Žerajić als einen fiktiven Helden auffassen würden, was er ja als Erfindung des nationalistischen Diskurses auch ist. Da im Nationalhelden die Individualität völlig suspendiert ist, binden sich die Eigenschaften der Figur auschließlich an den kulturellen Code, wie ihn Roland Barthes in S/ Z bestim m t; 57 diese Eigenschaften sind nicht konkret persönlich, sondern allgemein-kollektiv: Die Figur des Helden wird zum Projektionsort des kultur-nationalen Imaginären. 54 Gaćinović, in: Palavestia Il 1965, p. 230. 55 In der Einleitungzum Sammelband Ästhetischer Heroismus verweisen die Hg. auf Münklers Einsicht, dass die Selbstopferung ein entscheidendes Unterscheidungsmerkmal ist, dass die heroischen von postheroischen Gesellschaften trennt. Sie selbst kommen zu dem Schluss: "Während die heroische Gesellschaft über die Ideologie der Verausgabung charakterisiert wird, da ihr der Untergang bevorsteht und sie deshalb den Heldentod als hohen ideellen W ert etabliert, ist in postheroischen Gesellschaften die Vorstellung des Opfertodes obsolet geworden/ ' (Immer, Nicolas / van Marwyck, Mareen: Helden gestalten. Zur Präsenz und Peiformanz des Heroischen, in: Dies. (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmend des Helden, pp. 11-28, hier p. 22.) 56 Todorov, Tzvetan: Erzählpersonen. In: Ders.: Poetik der Prosa. Frankfurt a.M.: Athenäum 1972. pp. 77-89. 57 Barthes, Roland: S/ Z. Übersetzt von Jürgen Hoch. Frankfurt am Main: Surhkamp 1998 (1987), p. 24. <?page no="45"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poedleines geschichtlichen Ereignisses 45 Ausdruck der völkischen Tiefe und der apokalyptische Einzelgänger Trotz dieser semantischen Blässe enthält das Konstrukt des nationalen Opfers einige greifbare Bestimmungen. Zuerst wäre da das Phantasma der völkischen Authentizität: Der apokalyptische Nationalheld ist mit dem Volk verwachsen. So wird im Text kolportiert, Žerajić stamme aus einem "kleinen Provinzort, der das atavistische Gefühl der Freiheit und Rebellion bewahrt hat"; er hatte "eine Seele voller Liebe und Mitgefühl für die Leiden seines Vaterlandes". Žerajić sei ein authentischer Ausdruck seines Volkes. Doch gleichzeitig und scheinbar paradox erscheint er trotz dieser Symbiose m it dem Volk als "Einzelgänger"-, zur Freiheit ruft er mit seinem "hohen einsamen Schrei" auf.58 Die große Verzweiflungstat, die aus der Einsamkeit und aus dem Schweigen eines großen Herzensgekommen ist, wegen des nationalen, persönlichen und sozialen Gefangenschaft, wurde schändlicherweise als ein persönliches Problem und Fehler interpretiert! 59 Die Figur des einsamen apokalyptischen Flelden kommt in den jungbosnischen Texten oft vor. In einem Essay von Borivoje Jevtić taucht das Motiv schon im Titel auf (Budućnost usamljenih / Die Zukunft der Einsamen); die Einsamen sind jene, die "den Sieg der Seele und Gerechtigkeit propagieren", und auf der anderen Seite stehen jene, die "vergiftet" sind, da sie nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Doch der "Sieg der Seele" steht außer Frage: "Die kommenden Einsamen werden triumphieren, denn sie haben verstanden."60Der nationalistische Field hat die Rolle, die eingeschlafene Nation durchzurütteln, ihre unwürdige Lage bewust zu machen. Wichtig dabei ist das Motiv der Erweckung, das wir sowohl bei Jevtić als auch bei Gaćinović antreffen. Jevtić stellt Wachsein als ein Kennzeichen der (apokalyptischen) Einsamen dar, die zu Opfern bereit sind: "schwer ist es den Wachen und Einsamen"6162. Die erstorbene und verkrustete Gemeinschaft, die hier Gaćinović als Kontext der Reifung Bogdan Žerajićs skizziert, nimmt besorgniserregende Züge an: "Unter diesem Regime stockt die Volksseele, erstorben ist das Volkslied, erloschen der Instinkt der Freude und Vitalität; es herrscht eine traurige Totesstille."52 Gaćinovićs Bild der bosnisch-serbischen bürgerlichen Gesellschaft entspricht den Sichtweisen in anderen jungsbosnischen Quellen, in denen 58 Gaćinović, in: Palavestra Il 1965, p. 230. 59 Ibid. 60 Jevtić, Borivoje: Budućnost usamljenih. In: Palavestra Il 1965, p. 23. 61 Ibid., p. 22. 62 Gaćinović, in: Palavestra Il 1965, p. 23. <?page no="46"?> 46 Vahidin Preljevic eine leblose Gemeinschaft geschildert wird, die einer tiefen Dekadenz, dem Individualismus und Egoismus verfallen ist. Dieser Topos taucht auch bei Borivoje Jevtić auf, der in seiner Schrift Die Zukunft der Einsamen behaupten wird, dass die "nationale Seele beispiellos leidet", da das Gemeinschaftsgefühl verloren gegangen und die "Philosophie des Eigennutzes und Selbstzufriedenheit" vorherrschend geworden ist, in der alles auf "eigene Befriedigungen" reduziert wurde.63 Dagegen gilt es zu erkennen, dass das einzige wahre Glück "nationales Glück" ist.64 Gleichzeitig wird der Held als Opfer die heute in der Auflösung begriffene Gemeinschaft wieder vereinigen. Auch das ist ein weiteres wichtiges apokalyptisches Moment: die heldenhafte Aufopferung tritt im Augenblick einer völligen Dekadenz oder Spaltung auf.65 Der Widerspruch zwischen der kollektiven Mission des Helden und seiner erhabenen und gleichzeitig entleerten Persönlichkeit spiegelt sich auch in der Rezeption des Ereignisses. Ist die Rede von einem individuellen Akt, der aus privaten Regungen begangen wurde - oder ist diese Tat ein Ausdruck des kollektiven Strebens und Volkswillens? Obwohl für Gaćinović die Antwort klar zu sein scheint, steckt in seinem Text selbst ein Widerspruch: die Einsamkeit, die Erhabenheit, die Kontrastierung von "weiter Seele" und der armseligen "serbischen Gegenwart", die von Engstirnigkeit und Kleinmut gekennzeichnet ist, markiert eine eindeutige Differenz zu den Zeitgenossen, die im übrigen auch für die Heldenvergessenheit verantwortlich sind. Aus seltenen authentischen Quellen über Bogdan Žerajić zeichnet sich ein ganz anderes Bild als das eines Kollektivhelden, der seine Persönlichkeit selbstlos eingebüßt haben soll, ab. In einem Brief, den er ironischerweise gerade an Vladimir Gaćinović am 12. Januar 1910, einige Monate vor dem Attentat auf Varešanin, geschickt hat, steht Folgendes zu lesen: Wundere dich nicht darüber, aber ich leide seelisch; schrecklich sind diese Empfindungen, und ich habe keine Kraft, sie einem anderen anzuvertrauen. ich bin Skeptiker geworden, ich glaube an nichts, ich glaube nur, dass es Malheur gibt und Leute, die Pechvögel sind. Ich gehöre zu denen.66 Die Konstruktion des Helden, der einzig danach strebt, sich am Altar der Nation opfern zu lassen, der jedweder innerer Konflikte oder Zweifel beraubt ist, steht im krassen Gegensatz zu der Stimme aus diesem Brief, die 63 Jevtić, Borivoje: Budućnost usamljenih. In: Palavestra Il 1965, p. 22. 64 Ibid., p. 23. 65 Vgl. dazu Girard, Rene: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort. Übers, von Elisabeth Mainberger-Ruh. Freiburg i. B.: Herder 2009, p. 50. 66 Bogićević, Vojislav (Hg): Mlada Bosna. Pisma i prilozi. Sarajevo: Svjetlost 1954, p. 43. <?page no="47"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses 47 tiefere Widersprüche in der Persönlichkeit des künftigen Attentäters andeutet. Gleichzeitig findet sich in dieser Quelle keine Spur von nationaler Rhetorik, auch kein Bewusstsein, dass die Tat in irgendeinem Zusammenhang m it Zielen des Kollektivs steht. Einzig an einer Stelle scheint das persönliche Leiden m it dem Kollektiven gleichgesetzt zu werden: Nur Eines tröstet mich, dass ich Kraft habe und haben werde, wie mir scheint, wenn ich bis zum Äußersten gehe. Ich spüre die Last der Lage, in der ich mich befinde. Elend ist unser Zustand. Der Geist ist in Ketten des allgemeinen Willens gelegt. Alles was groß und heilig ist, recht und wahrhaftig, ist stumm geworden.676869 Doch auch an dieser Stelle wird klar, dass das Verfahren der Gleich-Setzung in Žerajićs Brief das Individuelle nicht als eine Verkörperung des Allgemeinen erscheinen lässt, sondern umgekehrt: das allgemeine Elend steht für das eigene Leiden. Nicht also pars pro toto sondern totum pro parte. Dieses Verhältnis wird jedoch gerade von Gaćinović, dem Adressaten dieses Briefs, in seiner Heldenkonstruktion umgekehrt. In diesem metonymischen Sinne totum pro parte ist auch die Sehnsucht nach dem "Großen" und "Heiligen" zu verstehen, und selbst wenn wir annehmen, dass die Kommunikation zwischen den Konspiratoren aus Angst vor der Polizei zum Teil chriffriert gewesen ist, steht das Zeugnis der realgeschichtlichen Figur Žerajić, in dem vom "persönlichen Leiden", "Skepsis", "Glaubensverlust" die Rede ist" und allgemein den Eindruck einer unsicheren labilen Person hinterlässt, im diametralen Gegensatz zu Gaćinovićs ideologischer Konstruktion eines "Mannes mit Seele aus Eisen", eines "revolutionären Apostels", "der große Schlachten und schicksalvolles Blutvergießen für das nationale Leben gesucht hat".58 Die ideologische Reduktion der Person Žerajić, die, wie schon betont, kein anderer als der Empfänger seines einzigen bekannten Briefes, unternimmt, folgt der Strategie der Kollektivierung persönlicher Empfindungen und Regungen, die nun zum authentischen Ausdruck der Volkssele avanceren. Das Subjekt, das sich selbst als Nationalopfer darbringen wird, soll auch keinen anderen Inhalt haben als revolutionäre Träume von der Befreiung und Erhebung der Nation. DerTod des Helden bildet ein entscheidendes Strukturmoment in Gaćinovićs Konstruktion. Das Opfer für die Nation wird zum Telos des Heldentums, jener Punkt, in dem es zur Erfüllung der Existenz kommt, der die Heldenbiographie abschließt. Auch in den meisten Epen ist der Heroentod ein umumgängliches Motiv. Im Tod "vollendet er seinen Lebenskreis".59 Doch 67 Ibid. 68 Gaćinović, in: Palavestra Il 1965, p. 230. 69 Bowra, C.M.: Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten. Stuttgart: Metzler 1964, p. 142. <?page no="48"?> 48 Vahidin Preljević der Tod Bogdan Žerajićs verselbständigt sich in Gaćinovićs biographischer Erzählung vom Rest der Geschichte, so wie auch vom Referenten, dem realgeschichtlichen Ereignis des Attentats auf Varešanin, so dass der Zweck seiner Aktion unwichtig wird. Im Kontext der konkreten Handlung ist das Opfer eigentlich vergeblich gewesen, denn das Attentat misslingt; außerdem weist der Vorgang einigen schwarzen Humor auf: Žerajić bringt sich nämlich sofort nach seinen Schüssen selbst um, im Glauben, er hätte seine Mission erfüllt. Gaćinović wird über diesen Suizid, der im Zustand der Selbsttäuschung begangen wurde, sagen, dass es ein "schöner intellektueller Tod"70sei. Gerade im Hinblick auf die außerordentlich wichtige Rolle des Opfers in der jungbosnischen Konstruktion des Heldentums kann man von einem "Todeskult" sprechen, dessen Spuren wir nicht nur in Gaćinovićs Glorifizierung der Tat von Žerajić, sondern auch in zahlreichen anderen zeitgenössischen Texten finden, auch in jenen, die direkt aus dem Verschwörerkreis kommen. Nirgendwo kommt das prägnanter zum Ausdruck als in einem apokryphen Text, der von Žerajićs Opfer inspiriert wurde. Die Rede ist von Versen, die Gavrilo Princip auf sein Blechgefäß geritzt haben soll: In deutscher reimlosen Übersetzung: Tromo se vreme vuče I ničeg novog nema Danas sve kao ijuče Sutra se isto sprema Träge schreitet die Zeit Nichts Neues ist a u f der Welt Heute gleich wie gestern Morgen noch einmal dasselbe AI pravo je rekao pre Žerajić soko sivi Tko hoće da živi nek mre, Tko hoće da mre nek živi. Doch zurecht sagte er, Žerajić, der graue Falke, Wer leben will, soll sterben Wersterben will, soll leben.71 Das Gedicht fokussiert auf die Schlusspointe, die mit einer chiastischen Sentenz die gewöhnliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stellt: der Tod ist ein höherer Wert als das Leben, der Tod ist wirkliches Leben, während das Leben, das man augenblicklich lebt, falsch, eine llusion, eigentlich: der Tod ist. Diese Todesehnsucht muss jedoch im Kontext der Verse aus der ersten Strophe betrachtet werden: dort ist die Rede vom trägen Fortschreiten der Zeit, der ewigen Wiederkehr des Gleichen, einer Figur, die wir schon bei Slijepčević gefunden haben. Doch das Heldenopfer aus der folgenden Strophe kann auch als Unterbrechung der ewigen Kreisläufigkeit betrachtet werden: 70 Gaćinović, in: Palavestia Il 1965, p. 231. 71 Bogićević: Mlada Bosna 1954, p. 455. <?page no="49"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses 49 jemand muss sterben, um eine Diskontinuität zu erzeugen und die scheinbar eiserne zykische Struktur aus den Fugen zu bringen. Die Diskontinuität im Tod (Bataille) ermöglicht die Verschiebung der Ordnung, dh. eine neue Erfahrung, die die triste Monotonie überwinden kann. Die Beschwörung Žerajićs hat die Funktion, eine klare Kontinuität zwischen zwei Attentaten in Sarajevo herzustellen, während einige andere Elemente, wie das Syntagma "der graue Falke", das in südslawischen Volksliedern oft vorkommt, beide Attentäter in die lange Dauer mythologischer Narrationen einreiht. Heldenblut, Begründung der Gemeinschaft, totale Mobilmachung Im Todeskult und Opferdiskurs als Bestandteilen des heroisch-apokalytpischen Narrativs nimmt das Blutmotiv eine zentrale Funktion ein. Dieses weist verschiedene semantische Aspekte auf. Zunächt verweist die sanguine Metaphorik auf die Dauer und das Kontinuum der Nationalgemeinschaft: Das Blut erscheint als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses, das die Gegenwart quasi materiell und direkt m it der Tiefe der Vergangenheit verbindet. So sagt Gaćinović für Žerajić, dass er in seinem Blut alles trägt, "was erlebt und ertragen wurde", die Leidensgeschichte seiner Gemeinschaft. Das Blut, obwohl Metapher, erzeugt einen besonders intensiven "Effekt des Realen" (Barthes), und verweist darauf, dass sich die Vergangenheit einer Gemeinschaft, die Geschichte der Nation, in den Körper des Einzelnen, des Helden, einschreibt. In der Variante von Gaćinović: wenn die Leiden der Vorfahren ins Blut übergangen sind, übernehmen sie die Macht, und der Held wird zum bloßen Werkzeug einer fatalistischen Gewalt, die sich in seinem Körper verdichtet h a t-a u c h das entspricht dem apokalyptischen Code des Heldennarrativs. Gleichzeitig erscheint das Blut in vielen Mythologien und Ritualen als eine Metonymie der Lebenskraft, die für Vitalität und Erneuerung steht.72 In der narrativen Konstruktion bei Gaćinović finden wir auch das "kochende Blut" der neuen revolutionären Generationen, die als Gegengewicht zur dekadenten Trägheit der gegenwärtigen Gemeinschaft inszeniert wird. Das ist ein "warmes, aufgewalltes Blut, das nach Zerstörung schreit, nach Brüchen und Gesundungen, das donnert, wie Sturm m ittnim m t und die Ketten in Staub zerfetzt, es ist das heiße Heiduckenblut, das große Blut, das zu Schlachten auffordert, Sterben predigt".73 72 Siehe den Beitrag zum Blut im Lexikon Hans Dieter Betz u.a. (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch fürTheologie und Religionswissenschaft. Tübingen: Mohr Siebeck 1998-2007, Bd.l, pp. 1327-1328. ’ ’ Gaćinović, in: Palavestra Il 1965, p. 232. <?page no="50"?> 50 Vahidin Preljević Das Blut ist nicht nur Medium der langen Dauer und Träger nationalen Gedächtnisses, sondern auch das Gegenteil davon, eine dynamische Macht, bloße Kraft an sich, Vitalität und Energie, die irgendwo verbraucht und ausgelebt werden muss. In dieser Formulierung scheint der ideologische Gehalt zunächst etwas nebelhaft, doch das "aufgewallte Blut" ist offenbar gegen die bestehende Ordnung, die es zu zerstören gilt, gerichtet. Im Vordergrund steht also der destruktive Aspekt der Lebenskraft. Doch es gibt ein Verbindungsglied mit der scheinbaren konträren Dimension der nationalen Kontinuität. Der Ausdruck "Heiduckenblut", das auch beim jun gen Ivo Andrić in einem Gedicht aus dem Jahr 1914 zu finden ist,74verweist auf die Tradition des Rebellentums, auf den aufständischen und revolutionären Charakter und freiheitlichen Geist der Nation. So wird in den neuen Generationen das Blut der Ahnen "wiedererweckt" das nun danach schreit, Rache zu nehmen für jahrhundertelange Leiden. Die Gewalt, die nun aus der Tiefe der Zeit, vordringt, konzentriert sich im Blut des Helden-Märtyrers. Hier kommen wir nun zu einer weiteren, diesmal ästhetischen Dimension der apokalyptischen Blutmetaphorik: zum Blutvergießen. In Gaćinovićs Beschreibung des Attentats und des Selbstmords Žerajićs, stellt das Blutvergießen und Sterben kein nebensächliches oder konsekutives M otiv dar, sondern bildet den M ittelpunkt der Szene: Indem er einen traurigen und großen Blick auf die Landschaften seines geliebten Landes richtet, stürzt er sich in einer seelischen Agonie auf die Vertreter der Gewalt und Ketten, und fällt dabei, erfüllt von der großen Inspiration der Revolution, die seine Religion war. Das Blut strömte in Wellen, auf seinen Lippen schwebte das große Wort: Serbische Befreiung. Unter den Todekrämpfen bricht der schon gestürzte Körper zusammen, er strengt sich an und zuckt im seligen Schmerz und stößt letzte Schwanenworte aus: "Meine Rache überlasse ich dem Serbentum". Einige Momente später finden die österreichischen Gendarmen eine Leiche im Meer aus Blut: das war der Körper Bogdan Žerajićs, auf einer kleinen Brücke an einer Kreuzung in Sarajevo.75 Die "Wellen aus Blut, die im Augenblick der Selbstopferung zu fließen beginnen, das "Blutmeer", das die Straßen von Sarajevo überströmt und auf dem der Körper des Helden treibt: wozu diese exzessiven Bilder und wie sind sie m it anderen Aspekten der sanguinen Metaphorik verbunden? Die Wellenmotive verweisen auf die Kraft, eine gewaltige Eruption, und beinhalten das Moment einer Katastrophe, die die Welt ganz zu erfassen droht. Diese Katastrophe, könnte man deuten, steht in einer engen 74 Siehe den Beitrag von Sanjin Kodric in diesem Sammelband. 75 Gaćinović, in: Palavestra Il 1965, p. 239. <?page no="51"?> kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses _____ 51 Verbindung mit der Codierung dieses Ereignisses als einer Racheaktion. Gleichzeitig legt der Misserfolg des Attentats nahe, dass seine Effizienz auch nicht das Ziel war; das Ziel war vielmehr das Blutvergießen selbst, das im Einklang mit der Bestimmung des Bluts als dem Kondensat der Geschichte des Volksleidens die endültige Befreiung und Erlösung ankündigt. Eine Reihe von Elementen in dieser Darstellung verweist auf Parallelen mit dem Tod Jesu (Sakralisierung der Schmerzen, Visualisierung der Körperleiden, österreichische Gendarmen als römische Soldaten usw.), so dass sich die Schlussfolgerung aufdrängt, dass Žerajićs sterbender Körper als Körper des Erlösers inszeniert wird, der Rettung bringt aus einer dunklen Zeit. Das umso mehr als Žerajić als reine, unschludige Person dargestellt wird, deren Seele nur von Idealen erfüllt ist. Girard hebt den reinigenden Charakter des Blutvergießens in Opferritualen hervor: das Blut könne, so Girard, sichtbar machen, dass es ein und dieselbe Substanz ist, die gleichzeitig beschmutzt und reinigt, die Menschen zur Gewalt und Zerstörung treibt wie ihnen Leben gibt.76 Die Unschuld des Blutopfers ist ein altes Element, das in einem engen Zusammenhang mit dem Erlöserblut steht.77Als eine Grundlage kann man sicher die alttestamentarische Geschichte über die (im letzten Augenblick ausgesetzte) Opferung Isaaks, die in einer literaturtheoretischen Interpretation als grundlegendes "Narrativ der ethischen Herausforderung" gedeutet wird, einer Herausforderung, die die Gemeinschaft zur Selbstüberprüfung zwingen soll.78 Gleichzeitig hat das Blutvergießen nach Christine von Braun die Funktion der Gemeinschaftsstiftung,79 die Schaffung eines corpus mysticum, eines Nationalkörpers, der ein Garant für die "Realität des Transzendenten" darstellt.80 Diese Symbolik des Bluts w irkt auch in ersatzreligiösen Kontexten,81wie zum Beispiel in der nationalistischen Metaphorik. Das vergossene Erlöserblut Bogdan Žerajić hat auch die Funktion, die Gemeinschaft wachzurütteln, zu erneuern, und die Kontinuität m it der alten ruhmreichen Vergangenheit herzustellen. 76 Siehe Girard: Das Heilige, p. 59. 77 Siehe etwa Knortz, Karl: Der menschliche Körper in Sage, Brauch und Sprichwort. Würzburg: C. Kabitzsch 1909, pp. 186-215. 78 Niehaus, Michael: Die Opferung Isaaks, in: Öhlschläger, Claudia (Hg.): Narration und Ethik. München: Fink 2009, pp. 161-182. 79 von Braun, Christine: Versuch überden Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Zürich; München: Pendo 2001, p. 348. 80 Ibid., p. 350. 81 "Das Auftauchen von Blut transportiert immer die Botschaft 'Wirklichkeit'. So wie das Blut dem verklärten Leibzur Realität verhalt, wirkt es in den sekulären Gesellschaften der medial bedingten 'Unwirklichkeit' oder 'Simulation' der technischen Bilder entgegen." von Braun: Schwindel, p. 356. <?page no="52"?> 52 Vahidin Preljevic Im Text heißt es dann auch wörtlich: Das vergossene Blut und die Revolution, die von einigen Generationen des serbischen Volkes durchgeführt warden würde, schüfe eine neue Harmonie, neue Proportionen und ein neues Leben.52 An diesem "großen Werk" würde die ganze Gemeinschaft teilnehmen, "ein unsichtbares Genie, das überall zugegen ist, unter dem Regenmantel des Soldaten, dem Anzug des Bürgers, dem Talar des serbischen Popen, im Leben des serbischen Mädchens, in der Diplomatie, in der Kleinstadt, auf dem Land" (ibid). Eine solche "große Verschwörung" ist das Modell einer allumfassenden nationalen Revolution, die in alle Poren der Gemeinschaft eindringt, alle ihre Elemente antreibend. Vergleichbar ist das etwa mit der Imagination der totalen Mobilmachung, die von Ernst Jünger im gleichnamigen Essay aus dem Jahr 1931 als ein Epochenphänomen analysiert wird. Indem er tiefgreifende Wandlungen analysiert, die nicht nur im politischen sondern in der Tiefe der Geschichte der Erste Weltkrieg verursacht hat, kommt Jünger zu dem Schluss, dass für einen totalen Krieg nicht mehr möglich ist, dem Soldaten einfach die Waffen in die Hand zu drücken, sondern die Bewaffnung muss viel tiefer greiefen, die innere Welt des Subjekts erfassen: Es ist eine Rüstung bis ins innerste Mark, bis in den feinsten Lebensnerv erforderlich. Sie zu verwirklichen, ist die Aufgabe der totalen Mobilmachung, eines Aktes, durch den das weit verzweigte und vielfach geäderte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Strom der kriegerischen Energie zugeleitet wird.8283 Obwohl bei Gaćinović die technische Metaphorik fehlt, und obwohl Jüngers Diskurs eher analytisch und Gaćinovićs Intetion propagandistisch, sind die Parallelen doch verblüffend. Die Einspannung der gesamten Energie der Massen zu einem bestimmten, nationalen Ziel, jenseits von Klassenunterschieden oder anderen Differenzen, dieser Augenblick des gemeinsamen Strebens ist der Augenblick, in dem die amorphe Masse zum "Volk" wird, in eine Gemeinschaft, in der alle Spaltungen und Konflikte der modernen Gesellschaft abgeschafft sein würden, in der, die "Selbstsucht" des Individualismus den Platz für das "nationale Opfer" räumen würde. Interessant ist eine weitere Beobachtung in Jüngers Essay, die den Vergleich m it den Attentatsdiskursen vor 1914 noch plausibler erscheinen lässt. Denn Jünger wird gerade im Ereignis des Attentats von Sara- 82 Gaćinović, in: Palavestia Il 1965, p. 239 83 Jünger, Ernst: DieTotaIe Mobilmachung, in: Werke Bd.5, Essays I, Stuttgart: Klett 1978-1983. pp. 123-148, hier, p. 130. <?page no="53"?> Kulturwissenschaftiiche Einführung in die Poetik eines geschichtlichen Ereignisses 53 jevo den symbolischen Beginn einer neuen Epoche der totalen M obilmachung ansetzen: Dem äußeren Anlaß des Weltkrieges, wie zufällig er auch anmuten möge, wohnt eine symbolische Bedeutung inne, insofern in den Tätern von Serajewo und ihrem Opfer, dem Erben der habsburgischen Krone, das nationale Prinzip mit dem dynastischen zusammenstieß — das moderne »Selbstbestimmungsrecht der Völker« mit dem auf dem Wiener Kongreß durch eine Staatskunst alten Stils mühsam restaurierten Prinzip der Legitimität.84 Das Attentat - "Auferstehung der Nation" Kommen wir nun zu dem letzten Abschnitt unserer Betrachtungen, der sich diskursgeschichtlich auf die Texte nach dem Attentat fokussiert. Bemerkenswert ist die Kontinuität des Bilder- und Figurenarsenals: Oben beschriebene Motive des Blutvergießens, Opferdarbringung, Begürundung oder Wiedergeburt der Nation finden wir auch in den Texten der Gymnasiasten, die vom Attentat von Sarajevo inspiriert, und während der polizeilichen Durchsuchungen konfisziert wurden. Diese Dokumente sind insoweit bemerkenswert, als sie von einer Zirkulation und Dissemination der Motive des heroischen Narrativs zwischen Gadnovićs Verarbeitung des missglückten Attentats von Žerajić und Princips erfolgreicher Aktion. In einer Notiz des Gymnasiasten Mladen Stojanovićs, die am Tag des Attentats niedergeschrieben wurde, wird die Verbindung zwischen dem Blutvergießen und der Begründung der Nation komprimiert, während das apokalyptische Motiv einer Geburt aus dem Tod exzessive Dimensionen annimmt: Lieder, die Gott gesungen hat, beginnt nun die Nation zu singen, und die blutigen Wurzeln ihrer Jugen [...] spüren, dass die Stunde der Nation gekommen ist, sie spüren das Blut, das vergossen wurde um die Geburt der Nation zu manifestieren, die ohne dieses sterben würde. - Das Blut, das Blut erlöst die Nation [...] Im Blut ist das Leben der Rasse, im Blut ist der Gott der Nation. DerTod ging der Auferstehung Tod voraus! Das Attentat ist die Auferstehung der Nation.85 Der parareligiöse Zug der nationalistischen Metaphorik wird hier explizit. Die Nation nimmt göttliche Attribute an. Eine ähnliche Formulierung treffen wir in dem bereits zitierten Text Neue Generationen von Borivoje Jevtić. Er entwickelt dort eine geschichtsphilosophische These zum Verhältnis von Nation und Religion. Die Nation als rassische Gemeinschaft ist 84 Ibid., p. 137. 85 Bogićević: Mlada Bosna 1954, pp. 392-393. <?page no="54"?> 54 Vahidin Preljevic ihm zufolge eine primäre Gemeinschaft, aber sie "wurde durch die Religion ersetzt, oder sie war so eng verbunden m it ihr, dass sie in ihr aufgegangen ist".86 Erst in neuerer Zeit, als der Nationalismus eine Kategorie des Bewusstseins geworden ist, emanzipert sich das "nationale Rassegefühl" von der Religion und wird sie endgültig verdrängen. Diese rassisch begründete nationalistische Ideologie soll wie jede Ideologie nach Karl Mannheim87 das Bewusstsein des Individuums ganz durchdringen, sein ethisches System in ihrem Sinne umcodieren. Besonders wichtig ist das, wie Jevtić anführt, für den "Nationalismus der nicht befreiten Völker". Er muss, so Jevtić weiter, "das ganze Menschenleben durchdringen"88. Borivoje Jevtić wird 1924 eine der ersten Studien über das Attentat von Sarajevo veröffentlichen und darin wird er die Tat vom 28.06.1914 ausdrücklich als ein Generationenwerk der nationalistischen Jugend bezeichnen und nicht als eine spontane "Einzelgängeraktion". Die Tat wurde "von langer Eland vorbereitet, es ist das Werk einer ganzen Generation, die bereit war, für ihre Menschen- und Nationsrechte bis auf den Tod zu kämpfen, m it einem Feind, der Usurpator der Menschenwürde und nationaler Ehre war".89 Im Aufsatz von Todor llić, Schüler der Vlll Gymnasialklasse, der ebenfalls am Vidovdan 1914 entstanden ist, finden wir die Bestätigung dieser These. Noch einmal ist das Blutvergießen ein Ausdruck der nationalen Mission, und der Märtyrertod wirkliche Erfüllung des Lebens: Ein junger Mann darf nicht für sich selbst leben, auch nicht für andere. Er muss wissen, dass das Leben eine Mission und eine Geste ist [...] Es ist keine Geste, zwischen Weiberbeinen zu vergehen. [...] Aber es ist schon eine Geste, zu sterben mit einer Kugel im Kopf, die man für die nationale Freiheit bekommen hat, es ist eine Geste, das Blut des Despoten zu vergießen, und erhängt werden, es ist eine Geste, ein Attentat zu verüben mit einem Revolver, mit einer Bombe, und dann kalt und bewusst erlauben, gefangen genommen zu werden, denn du hast deine Mission erfüllt.90 Im selben Text wird auf eine interessante Art und Weise die Verbindung zwischen Žerajićs und Princips Attentat hergestellt: Man spürt, dass Žerajićs Botschaft kein bloßes Wort bleiben konnte, sondern sie drang in das Mark unseres jungen, noch nicht entwickelnden, gerade er- 86 Jevtić: Nove generacije, Palavestra Il 1965, p. 12. s' Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Frankfurt: Klostermann 1985. ss Jevtić: Nove generacije, Palavestra Il 1965, p. 13. 89 Jevtić: Sarajevski atentat 1924, p. 3. 90 Bogićević: Mlada Bosna 1954, p. 388. <?page no="55"?> Kulturwissenschaftliche Einführung in die Poetikeines geschichtlichen Ereignisses 55 weckten Lebens. Žerajić scheiterte formal als erster, aber er war faktisch erfolgreich, denn heute, nach vier Jahren Schweigen ertönten am Kai von Sarajevo zwei Bomben und einige Revolverschüsse, die die Hauptwurzel des infamen österreichischen Herrscherhauses ausgerissen haben.91 Indem hier der faktische Erfolg dem formalen Misserfolg des Attentats von Žerajić gegenüber gestellt wird, wird auf die Spannung zwischen dem realhistorischen und symbolischen Ereignis in Žerajićs Tat aufmerksam gemacht. Der erwähnte Gymnasiast bemerkt dabei, dass der empirische Effekt weniger wichtig ist, dass er nur formal ist, während sich das "Faktische", das Wirkliche auf der Ebene der Symbole, der Narrationen und ihrer Wirkung in der Kommunikationsgemeinschaft befindet. Das amateurhafte Attentat von 1910, wahrscheinlich begangen im Zustand psychischer Instabilität, wurde in Gaćinovićs Broschüre zwei Jahre später zu einer kompakten heroischen Narration mit charakterischen Motiven und Bildern, in denen die empirischen Tatsachen fast völlig verdrängt wurden; das reale, gescheiterte Attentat wurde zum Anlass für das imaginäre Attentat in den jungbosnischen Texten und der Phantasie einer ganzen Generation, um dann am Vidovdan von 1914 wieder in die Realität einzudringen. * * * Das apokalyptisch-heroische Muster in der "jungbosnischen" Variation, wie uns all diese Beispiele und Analysen zeigen, verbindet Narration, Ereignis und Erinnerung/ Gedächtnis in eine hochkomplexe Struktur, in der weder die gewöhnliche chronologische Reihenfolge noch die vorausgesetzte kausale Ordnung, wonach aus dem Ereignis die Narration folgt, aus der Narration sich das Gedächtnis bildet, aufrechterhalten werden kann. Unsere Untersuchungen zeigen vielmehr, dass die Trias in diesem Fall, der zwar nicht verallgemeinert, aber auch nicht als Sonderfall behandelt werden darf, auch alternativ zu denken sind. Die mythologischen Narrationen im nationalistischen Diskurs der Verschwörerkreise vor dem Attentat von Sarajevo sind ein Beispiel dafür, wie ein reales Ereignis aus der vom apokalyptischen Heldennarrativ beherrschten Imagination hervorgehen kann, einem Narrativ, in dem wiederum das Attentat von Žerajić eigentlich das beste Beispiel eines Nicht-Ereignisses als Authentifizierungsgrundlage diente. Die Beschwörung der Figur Žerajić hatte die Funktion, ein ideologisches Muster m it dem Heldenopfer und Todeskult zu aktivieren. 41 ibid. <?page no="56"?> 56 Vahidin Preljevic Die Erinnerung an Žerajić und sein Nicht-Ereignis, die m it der realen Person und dem eigentlichen realgeschichtlichen Vorfall nicht mehr viel zu tun hatte, führte zur Konzepdon eines apokalyptischen Narrativs und eines imaginären Ereignisses, das dann am 28. Juni 1914 in die Wirklichkeit überführt wurde. <?page no="57"?> DAS ATTENTAT VON SARAJEVO ALS PARADIGMA <?page no="59"?> I v a n Č o l o v i ć ( B e o g r a d ) Das A ttentat von Sarajevo und der Kosovomythos This contribution investigates the role of the Vidovdan (St. Vitus Day) myth and the commemoration of the battle of Kosovo Polje (1389) as ideological motivation for the Shots of Sarajevo in 1914. Some sources insinuate that the assassins saw themselves in the tradition ofth a t medieval heroism cult. The analysis of literary and historical documents, however, reveals that the link between the Kosovo legend and the Sarajevo Assassination can be regarded as a ideological construction of later historiographical interpretations (e.g. by Vladimir Dedijer). Unter den in den letzten Jahren vorgebrachten Stellungnahmen zum Attentat von Sarajevo hört man auch solche, in denen die These vertreten wird, dass die Attentäter die Inspiration für ihre Tat im Kosovo-Mythos gefunden hätten. An dieser These halten sowohl die Autoren fest, für die der Kosovomythos die geistige Grundlage der serbischen Nation ist, als auch diejenigen, die in ihm das Mittel politischer Manipulationen sehen. Im ersten Fall wird behauptet, Gavrilo Princip und andere Verschwörer hätten bei der Planung ihrer Tat am 28. Juni 1914 das Beispiel Miloš Obilićs, jenes mutigen Mörders von Sultan Murad am Amselfeld am 28. Juni 1389, vor Augen gehabt, und diese Behauptung dient dazu, das Attentat von Sarajevo als eine weitere Bestätigung des freiheitsliebenden Geistes des serbischen Volkes zu deuten, der in Obilić und anderen Helden der Amselfeldschlacht symbolisiert wird. Im anderen Fall soll die These, die Attentäter seien vom Kosovo-Mythos inspiriert worden, belegen, dass die Mörder und Ermordeten Opfer nationalistischer Instrumentalisierung der Erinnerung an die Amselfeldschlacht waren. Obwohl sie unterschiedliche Schlussfolgerungen aus der Eingangsthese ziehen, finden ihre Verfechter sie in einer gemeinsamen Quelle, nämlich in dem Buch Sarajevo 1914 des Historikers Vladimir Dedijer. Das ist verständlich, denn in dieser umfangreichen 1966 veröffentlichten Studie über das Attentat von Sarajevo wurde zum ersten Mal der Standpunkt vertreten und begründet, das Ereignis des Attentats sei nur zu fassen, wenn der Einfluss des Amselfeld-Mythos auf die Attentäter berücksichtigt werde. Aus diesem Grund hat Dedijer ein ganzes Kapitel mit dem Titel "Kosovo-Tyrannenmord" einer der wichtigsten Episode dieses Mythos, der Ermordung Sultan Murads gewidmet. Seine Schlussfolgerung, dass die geistige Wur- <?page no="60"?> 60 Ivan Čolović zel des Attentats auf Franz Ferdinand im Amselfeld-Mythos zu finden sei, wurde meines Wissens bis heute weder kommentiert noch überprüft geschweige denn kritisiert - und die offizielle Geschichtsschreibung hält diese Behauptung für eine erwiesene Tatsache. So dachte der Flistoriker Dimitrije Đorđević zweifelsohne an diese Studie Dedijers, als er schrieb, dass die "Erforschung des Attentats von Sarajervo 1914 gezeigt hat, wie tief verwurzelt dieTradition des Kosovo-Epos und des Miloš-Obilić-Mythos im Flandeln des Jungen Bosniens und in Princips Attentat war".1 M it Kropotkin und Stepniak gegen Ferdinand Man sollte sagen, dass Dedijer in dieser Studie neben der These vom entscheidenden Einfluss des Amfelfeld-Mythos auf Gavrilo Princip, Nedeljko Čabrinović und ihre Mitstreiter, die in die Ermordung des österreichischen Thronfolgers verwickelt waren, auch andere mögliche Motive des Attentats von Sarajevo erörtert, darunter diverse politische und philosophische Ideen, die die Täter dazu hätten bewegen können, ihre Tat zu begehen, einschließlich der Idee des Mordes als legitimem Mittel politischen Kampfes. Er zeigt dabei, dass die künftigen Attentäter und ihre Geistesverwandten aus diversen literarisch-politischen Gruppen, die nach dem Vorbild von Mazzinis Jungem Italien die Sammelbezeichnung Mlada Bosna erhalten werden, in ihren politischen Ideen und geistigen Dispositionen kaum zu unterscheiden waren von anderen ähnlichen revolutionären Jugendgruppen im damaligen Europa, deren Ziel der Umsturz war, der durch individuellen Terror, d.h. die Ermordung der Machthaber und Könige verwirklicht werden sollte. So führt Dedijer an, dass sich Princip und Čabrinović nach dem Attentat mehrere Male auf Mazzini als Vorbild eines Freiheits- und Einigungskämpfers berufen haben. Und Mazzini hat daran erinnert uns Dedijer seine Anhänger immer wieder belehrt, dass der erste Schritt in diesem Kampf der Tyrannenmord ist.2 Er erläutert ausführlich auch den großen Einfluss, den russische Anarchisten, vor allem Kropotkin, auf die Attentäter hatten. Er verweist auch darauf, dass Princip seinem Gefängnisarzt in Theresienstadt anvertraute, er habe in der Nacht vor dem Attentat einen Artikel von Kropotkin gelesen, sowie auf die Aussage einer Verwandten von Čabrinović, dass dieser in dieser Nacht ebenso einen ähnlichen Lesestoff hatte: das Buch Das unterirdische Russland des russischen Anarchisten Sergei 1 Đorđević, Dimitrije: Ogledi iz novije balkanske istorije. Belgrad: SKZ 1989, p. 102. 2 Dedijer, Vladimir: Sarajevo 1914. Belgrad: Prosveta 1966, p. 297-298. <?page no="61"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 61 Michailowitsch Stepniak-Krawtschinski, der seine Idee des Terrors als bestem Mittel des revolutionären Kampfes am 16. Januar 1876 in die Tat umsetzte, als er General Nikolai Mesenzow ermorderte. Čabrinović hatte dieses Buch bei sich, als er zum Ort des Attentats ging.3Auf die Frage des Untersuchungsrichters, was ihn dazu bewogen habe, das Attentat zu begehen, antwortete er: Ich bin ein Anhänger der radikal-anarchistischen Idee, die darauf abzielt, das heutige System durch Terrorismus zu vernichten, damit daraufhin ein freies System eingeführt werden könnte. Daher hasse ich alle Vertreter der verfassungsmäßigen Ordnung, und zwar nicht diese oder jene Person als solche, sondern als Proponenten einer unterdrückenden Macht. Ich habe mich in diesem Geiste durch Lektüre aller sozialistischen und anarchistischen Schriften gebildet; ich kann sagen, dass ich nahezu sämtliche in serbokroatischer Sprache zugängliche LiteraturdieserArtgeIesen habe.4 Doch trotz dieser Dokumente, die verlässlich davon zeugen, dass die Attentäter von Sarajevo die Ideen europäischer Revolutionäre ihrer Zeit verinnerlicht und ihren Diskurs beherrscht hatten, und dass für sie kein Problem war, sich selbst als Terroristen zu bezeichnen, schätzt Dedijer diesen Aspekt als sekundär ein. Denn seiner Meinung nach kam den Attentätern die Idee vom Recht auf Tyrannenmord, die sie dazu gebracht hat, Franz Ferdinand zu ermorden, nicht aus dem Ausland. Sie haben sie quasi schon als Erben einer natürlichen Philosophie aus ihrer Fleimat mitgenommen, wo angeblich die Flaltung überlebt hatte, die Dedijer "ursprüngliche serbokroatische folkloristische Theorie des Tyrannenmordes" nennt.5 "Ihre Ideen vom permanenten Aufstand und dem Recht auf Tyrannenmord", so seine Erklärung, "entstanden vor allem unter dem Einfluss der einheimischen folkloristischen Philosophie, die im Fleldenepos und der Poesie von Petar Petrović Njegoš vorgebildet waren."6 "Folkloristische Theorie des Tyrannenmordes" Die Jungbosnier hätten also nicht darauf gewartet, bei Mazzini oder dem russischen Dichter Mark Natanson die Ideen von der Notwendigkeit des Individualterrors oder persönlichen Opfers zu finden, denn sie hätten sie schon in sich gehabt: "Mazzini und Natanson haben" so Dedijer - "nur ! Ibid., p. 525f. 4 Ibid., p. 546. 5 Ibid., p. 51. 6 Ibid., p. 393. <?page no="62"?> 62 Ivan Čolovic auf eine abstrakte Weise bestätigt, was die Jungbosnier schon m it der folkloristischen Philosophie ihrer Dörfer verinnerlicht hatten."7Daher können sie, so auch der Titel eines Kapitels in Dedijers Buch, als "urtümliche Rebellen" bezeichnet werden. Äußere ideologische Einflüsse auf Princip und andere Verschwörer sowie deren Gleichgesinnte waren demnach sekundär und oberflächlich, wogegen der Einfluss der bosnischen Eleimat und des angeblich in der Foklore bewahrten Kultes des Tyrannenmords als primär und tie f einzustufen seien. "Die Jungbosnier waren nicht frei von äußeren Einflüssen", sagt Dedijer, doch ihre Ideen können nicht mit den Bestrebungen des Jungen Italiens Mazzinis, der deutschen Burschenschaften, der russischen Volkstümlichen gleichgesetztwerden, auch wenn gewisse Gemeinsamkeiten nicht abzustreiten sind. Sie waren aber eigentlich eine Frucht bosnischer Umstände, der Tradition des Amselfeld-Mythos in Zeiten scharfer imperialistischer Auseinandersetzungen, die die Welt zu Anfang des 20. Jahrhunderts erschütterten.8 Zur Unterstützung der These von der Präsenz des Amselfeldmythos in Bosnien-Elerzegowina bzw. in der Traditionskultur des bosnisch-herzegowinischen Dorfes bringt Dedijer nur ein einziges Dokument: den Aufsatz des britischen Forschers und Reisenden Arthur Evans, der sich jedoch nicht auf eine Zeit bezieht, in der die Generation der Attentäter heranwuchs, sondern auf die 1870er Jahre. Während seiner 1875 unternommenen Reise durch Bosnien bemerkte Evans, dass hier wie auch in anderen Teilen des Balkans über die Amselfeldschlacht "ein großes nationales Trauerlied" erklinge, welches "begleitet wird von traurigen Tönen der Gusla", und dass die "Lieder über die schicksalvollen Kosovo-Tage täglich gesungen werden".9 Dieser Artikel von Evans ist für Dedijer Beweis genug, dass zur Zeit des Attentats von Sarajevo in der bosnisch-herzegowinischen Folklore epische Lieder über die Amselfeldschlacht und die Ermordung des Sultans Murad durch Miloš, die er als Tyrannenmord deutet, noch sehr lebendig waren. Das ist für ihn ein historisches Faktum, auf dessen Basis er den weitreichenden Schluss vom jugoslawischen Bauern als latentem Attentäter gegen volksfremde Machtträger ziehen wird. "Es ist eine historische Tatsache " so Dedijer - "dass nirgendwo in Europa im 20. Jahrhundert die Idee des Tyrannenmords in breiten Volksschichten so lebendig war wie im jugoslawischen Bauerntum, vor allem in Bosnien, der Herzegowina, Montenegro und der Lika."10 7 Ibid., p. 352. 8 Ibid., p. 785. 9 Ibid., p. 431. 10 Ibid., p. 398. <?page no="63"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 63 Doch Dedijer bringt keine Beispiele aus bosnisch-herzegowinischen Volksliedern, m it denen er zeigen könnte, wie diese Idee im folkloristischen Text funktioniert, so dass der Leser rätseln muss, ob es solche Beispiele überhaupt gibt; er zitiert und analysiert vielmehr Volkslieder über die Amselfeldschlacht aus der Sammlung von Vuk Stefanović Karadžić und dann auch die betreffenden Verse von Njegoš. Eine solche indirekte Darstellung der bosnischen Folklore mit Hilfe der Analyse der Lieder aus Karadžićs Sammlung fußt auf der Voraussetzung, dass die Folklore ein statisches und homogenes Reservoir ursprünglicher Ideen und Überzeugungen eines Volkes ist, die im Grunde unverändert bleibt, unabhängig davon, wann und wo einzelne Folkloretexte entstanden sind. Da demnach die Folklore der Südslawen angeblich eine eigene Idee des Tyrannenmords hat, kann man auch über die Präsenz dieser Idee in der bosnisch-herzegowinischen Foklore auf Basis der Beispiele urteilen, die in Karadžićs Sammlung oder Njegoš' Versen zu finden sind, wobei auch die letzteren obwohl ein Kunstprodukt als authentischer Ausdruck der sogenannten fokloristischen Philosophie gelten können. Neben diesen Verweisen auf die methodologischen Schwächen dieses Ansatzes, die der veralteten Auffassung der Foklore in Dedijers Werk entstammen, kann man auch den Einwand formulieren, dass seine These vom Amselfeld-Mythos als der Quelle der folkloristischen Theorie des Tyrannenmordes von der strittigen Voraussetzung ausgeht, dass in Volksliedern auch in denen aus der Karadžić-Sammlung die Ermordung des Sultans Murad durch Miloš tatsächlich als Tyrannenmord dargestellt wurde. Dedijer behauptet, dass in den Liedern des Kosovo-Zyklus die Idee zum Ausdruck gebracht wird, dass die Ermordung des Fremdherrschers eines der edelsten Ziele des Lebens sei.11 Doch in diesen Liedern findet sich dafür kein Beleg. Von Murad ist nicht die Rede als einem Fremdherrscher, noch weniger als einem Tyrannen, sondern er erscheint bloß als Feind, der eine große Armee an der Grenze des Staates von Lazar versammelt und m it einem Krieg droht. Dementssprechend gibt es hier auch keinen Tyrannenmörder. Wenn er sich aufs Amselfeld begibt, um den Sultan zu ermorden, wird Miloš nicht von dem Wunsch geleitet, das Land vor einem fremden Okkupator zu retten, sondern er möchte m it seiner Heldentat die Loyalität gegenüber seinem Fürsten zeigen der sie in Zweifel gezogen hat - und somit seine ritterliche Ehre retten. In vielen Aufzeichnungen folkloristischer Texte über die Amselfeldschlacht wie in der Priča o boju kosovskom ("Geschichte über die Kosovoschlacht"), Tronoški rodoslov ("Tronoša-Geneaologie") oder das Lied von Filip Višnjić Početak bune na dahije ("Anfang des Aufstandes gegen die Dahija") ist 11 Ibid., p. 41 7-418. <?page no="64"?> 64 Ivan Čolović Murad voller Respekt gegenüber seinem mutigen Mörder und behauptet sogar, dass er ihn gerne in seine Dienste genommen hätte. Čabrinović, Žerajić und Obilić Ein anderes Problem m it Dedijers These besteht darin, dass sich in Zeugnissen der Attentäter, in dem, was sie über ihre Motive und politische Überzeugungen gesagt oder was sie gelesen haben, nirgendwo eine Bestätigung findet, dass die im Kosovo-Mythos wurzelnde "folkloristische Theorie des Tyrannenmords" irgend eine Rolle gespielt hat. Nirgendwo lässt sich belegen, dass sie ihren Attentatsplan aus Volksliedern über die Kosovoschlacht geschöpft hätten. Es gibt zwar eine Äußerung Nedeljko Čabrinovićs aus dem Prozess, aus der hervorgeht, dass ihm die Lektüre dieser Lieder empfohlen worden war. Als er nämlich Anfang 1912 nach Belgrad kam, um finanzielle Unterstützung von der Narodna odbrana (Volksabwehr) zu erlangen, bemerkte Major Vasić, der Sekretär dieser paramilitärischen und patriotischen Organisation, dass er in der Tasche eine Erzählsammlung Maupassants stecken hatte, und riet ihm, eine solche Lektüre zu unterlassen, und gab ihm stattdessen eine Sammlung von Heldenliedern, die die Narodna odbrana zusammen mit anderen Broschüren gedruckt hatte. Es gibt keinen Zweifel, dass diese Volkslieder Teil des Propagandamaterials waren, das von dieser Organisation vertrieben wurde, aber Čabrinović und andere Jungbosnier wurden intellektuell und politisch von anderer Lektüre geprägt, in der die Volkslieder keinen besonders wichtigen Platz einnahmen. Andererseits hinterließ die Nachricht, dass Franz Ferdinand ausgerechnet am St.-Veits-Tag nach Sarajevo kommen sollte, einen starken Eindruck auf Čabrinović und Princip. In einem Brief, den er einen Tag vor dem Attentat an einen Freund schrieb, beschwor etwa Čabrinović den Empfänger: "Morgen ist Vidovdan. Erinnerst du dich an das Gelöbnis Miloš'? Erinnere dich auch meiner und vergiss mich nicht! " Er erwähnte auch im Untersuchungsverfahren den Sankt-Veits-Tag: Als ich in Sarajevo in der Zeitung las, dass der Thronfolger ausgerechnet am Vidovdan, der für uns Serben der größte Nationalfeiertag ist, nach Sarajevo kommen soll, haben Princip und ich darüber ein besonderes Gespräch gehabt. Dieser Umstand hat mich besonders motiviert, das Attentat zu verüben. Die mündliche Überlieferung besagt, dass vor dem Vidovdan dem Helden Miloš Obilić gesagt wurde, dass er ein Verräter sei, worauf er antwortete: 'Am Vidovdan wird sich erweisen, wer gläubig und wer ungläubig ist', und Obilić ist der erste Attentäter, denn erging am Vidovdan ins Feindeslager und tötete Kaiser <?page no="65"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 65 Murad. Auch mich beschimpften die hiesigen Sozialisten, wie auch meinen Vater, als Spion, nachdem mir nach dem Typografenstreik die Rückkehr nach Sarajevo erlaubt worden war.12 Diese Äußerung von Čabrinović zeigt, dass für ihn Murad weder den Typus Tyrann darstellte, den Franz Ferdinand in seinen Augen zweifelsohne verköperte, sondern einen Kriegsfeind aus der Legende, so dass Obilić, obwohl er ihn als "ersten Attentäter" bezeichnet, kein Tyrannenmörder sein konnte. Es stimmt zwar, dass er sich m it ihm identifiziert, aber nicht, weil Obilić das Modell des Freiheitskämpfers gegen die das eigene Volk unterdrückende Tyrannei ist, wie Čabrinović selbst einer ist, sondern weil er sich selbst als verleumdeten Helden erlebt, der wie Obilić durch eine verwegene Tat die Denunziation zurückweist, er sei ein Verräter. Im übrigen hatten Čabrinović, Princip und andere Verschwörer die Entscheidung, den Erzherzog zu töten, viel früher getroffen, noch bevor sie erfuhren, dass diese Gelegenheit sich am Vidovdan anbieten würde. Die Nachricht, dass der Erzherzog nach Sarajevo gerade an diesem Feiertag kommen würde, hörten sie zum ersten Mal in Tuzla, als sie, m it Bomben und Revolvern ausgerüstet, schon auf dem Weg nach Sarajevo waren. Es gibt keinen Beleg, dass sie vorher diesen Feiertag, die Amselfeldschlacht und deren Helden auch nur erwähnt hatten. M it den Waffen trugen sie in ihren Taschen auch explosives Textmaterial, aber das waren sicherlich keine Volkslieder aus dem Kosovo-Zyklus. Auch Dedijers Deutung des missglückten Attentats des Studenten Bogdan Žerajić auf General Varešanin am 15. Juni 1910 in Sarajevo wirkt nicht überzeugend. Auch diesen Anschlag, der mit dem Selbstmord des Attentäters endete, verband Dedijer mit dem Amselfeldmythos, indem er behauptete, dass die "Jungbosnier mit dem Kosovo-Mythos vor allem das Opfer Bogdan Žerajićs, eines der Begründers ihrer Bewegung, verband", denn es handelte sich um einen "Selbstmord in der Tradition jenes Mythos".13 Sie wollten, so Dedijer an anderer Stelle, "den Weg Žerajićs beschreiten, der sich mit der letzten Kugel erschossen hat. Diese Konzeption der Aufopferung ist sicherlich die Grundlage des ganzen Kosovoepos."14 Es bleibt unklar, wie Dedijer zu dieser Meinung gelangte. Sollte man überhaupt betonen, dass sich unter den Helden der Kosovolieder kein einziger Selbstmörder findet, und es gibt auch keinen Hinweis, dass Žerajić selbst, während er das Attentat vorbereitete, an die Kosovohelden dachte. Im Gegenteil. Es ist eine Aufzeichnung überliefert, die eher belegt, dass er 12 Ibid., p. 535. 12 Ibid., p.398f. 14 Ibid., p. 548. <?page no="66"?> 6 6 van Ćolović über die Folklore sehr schlecht dachte, weil sie nach seiner Meinung das "Fleldentum der Flerde" und den "Stammesstolz" feiert, und dass sein Ideal kein folkloristischer Stammesheros war, sondern eine andere Kategorie: der Nationalheld. Überliefert sind seine Worte, dass für das Erscheinen eines solchen Nationalhelden eine "größere Kultur, ein stärkeres nationales Gefühl, als es der Stammesstolz ist", notwendig sei, so dass "die Stämme ihre Fleroen haben, die Nation aber auf ihre Flelden die es noch nicht gibt wartet " 15 In Anbetracht dessen war Žerajić nicht der Mann, der seine Inspiration in der folkloristischen Philosophie suchen würde, sondern er wollte, wie er seinem Onkel schrieb, in die Schweiz und nach Russland reisen, um dort "die Grundsätze der neuen kommenden Freiheit zu studieren". Man kann nicht sagen, dass er sich besonders für Volkslieder interessierte; dafür blieb er im Gedächtnis als belesener junger Mann, der Carduccis und Nadsons Gedichte auswendig kannte, und in dessen Notizheft nach dem Selbstmord Schiller-Zitate gefunden wurden.16 Alle diese Daten und Zeugnisse sind in Dedijers Studie angeführt auch um zu zeigen, dass Žerajić, das Vorbild der künftigen Attentäter auf Ferdinand, intellektuell und politisch von umstürzlerischen Ideen der Zeit geprägt wurde. Aber der Autor der Monographie dachte offenbar trotzdem nicht, dass diese Belege seine These erschüttern könnten, wonach Žerajić und auch andere Jungbosnier entscheidend von sozialpsychologischen Faktoren des Umfelds, aus dem sie stammten, beeinflusst wurden, dass sie egal, was sie lasen oder diskutierten eigentlich ein Ausdruck der Mentalität sind, von der angeblich die serbokroatische Folklore zeugt, und der dieser entstammenden Idee des Tyrannenmords. Die Quelle dieses folkloristischen Kultes der Rebellion und des Tyrannenmords findet Dedijer also im Kosovo-Mythos, bzw. in einigen epischen Liedern über die Amselfeldschlacht, aber er stützt die These auch m it der Legende von den unerschrockenen bosnischen Heiducken. Die Attentäter und andere Jungbosnier werden in seinem Buch als moderne Sprößlinge der Heiduckentradition dargestellt, die der Autor als "agrarischen Terror" subsumiert. Um dies zu unterstreichen, wählt Dedijer für das M otto seines Kapitels "Authentische Rebellen aus Bosnien" den Satz von Vladimir Gaćinović, in welchem er vom serbischen Revolutionär verlangt, er möge "ein Mann von europäischen Manieren und Heiduck zugleich" sein.17Auch die Sarajevoer Attentäter schlüpfen in die Rolle der Heiducken auch am Ende des Kapitels, wo beschrieben wird, wie das Attentat ausgeführt wurde: 15 Ibid., p. 406. 16 Ibid., p. 417. 17 Ibid., p. 291. <?page no="67"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 67 Das war ein richtiger Hinterhalt der bosnischen Heiducken, dieser Agrarterroristen. Das Attentat auf Franz Ferdinand wurde nach dem Vorbild der Ahnen von Gavrilo Princip, die den Namen Čeke [= die Lauernden] bekommen haben, weil sie auf den Feind im Hinterhalt lauerten, um ihn dann direkt auf den Kopf zu schlagen.15 Damit wird die Schlussfolgerung nahegelegt, dass Princip unabhängig von Ideen des individuellen politischen Terrors, die er von außen empfing - Impulse der gerechtigkeitsliebenden Gewalt, die er von seinen Heiducken-Ahnen aus der Familie Čeka geerbt hatte, quasi in den Genen trug. Aber der Leser, der sich daran erinnert, was Dedijer am Anfang seiner Studie über Princips Vorfahren gesagt hat, wird stutzig werden. Denn Dedijer hat, als er zum ersten Mal die Čeke erwähnt, das über sie gesagt, was er in einem Artikel von Božidar Tomić gefunden hat, dass nämlich Princips Vorfahren nicht nur keine Heiducken waren, sondern eine Art Heiducken-Verfolger, d.h. Helfer der türkischen Besatzung an der Grenze bei Grahovo, die dafür zuständig waren, die Grenze gegen die Heiducken und Uskoken aus Österreich und Venedig zu schützen. "Sie hatten die Fähigkeit" schreibt Dedijer - "die wahrscheinlichste Durchgangstelle der Räuberbanden von der anderen Seite der Grenze zu erahnen. Sie saßen im Hinterhalt und lauerten. Daher haben Princips Vorfahren den Spitznamen 'Čeka' bekommen."*19 Aber auch ohne diesen Fehler und Widerspruch bleibt die Verbindung der Jungbosnier m it den Heiducken überzogen und wenig überzeugend. Viel überzeugender scheint die Meinung des Historikers Milorad Ekmečić, dass das Auftauchen der Jugendbewegung in Bosnien, aus der die Attentäter stammen, das Ende einer Tradition markiert, die Heiducken feiert. "Zum ersten Mal in der jugoslawischen Kultur" so schreibt Ekmečić - "wurde eine Rebellenfigur im urbanen Umfeld geschaffen, welche den Kult der alten sich in Höhlen versteckenden Dorf-Heiducken stürzen wird."20 Jungbosnier im Vidovdantempel Kann man einen Beleg für die These Dedijers, dass die tiefste Quelle des Attentats im Amselfeldmythos liegt, möglicherweise in Schriften und Dokumenten der herausragendsten Vertreter des Jungen Bosnien finden, bei enjenigen, die als ihre Ideologen gelten: bei Dimitrije Mitrinović, Vladimir Gaćinović, Borivoje Jevtić, Miloš Vidaković? Dedijer verliert darüber kein 15 Ibid., p. 540. 19 Ibid., p. 60. 20 Ekmečić, Milorad: StvaranjeJugosIavije 1790-1918. Belgrad: Prosveta, p. 532. <?page no="68"?> 6 8 Iv a n Č o lo v ić Wort, er hat Argumente für seine These von mythischen Wurzeln des Attentats nicht in den Schriften der Jungbosnier gesucht. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn hier konnte er tatsächlich die Idee finden, dass die neue Generation der bosnischen Jugend in sich die Kampf- und Widerstandsimpulse der heldenhaften Ahnen entdeckt und wiederbelebt. Die Jungbosnier bezeichneten das als "rassischen Atavismus" oder als "rassisches Gefühl", denn zu der Zeit, als sie sich bildeten und intellektuell geform t wurden, schenkten die Geisteswissenschaften große Aufmerksamkeit den sogenannten rassischen oder überhaupt natürlichen Faktoren, die in dieser Hinsicht den Schlüssel für das Verständnis einzelner Völker, ihrer Geschichte und Kultur lieferten. So findet man im Artikel, den Vladimir Gaćinović 1912 Bogdan Žerajić widmete, die Behauptung, dass dieser vorherbestimmt für das "nationale Opfer" war, weil er in Nevesinje geboren worden war, einer Umgebung "die das atavistische Gefühl der Freiheit und Rebellion bewahrt hat".21 Später werden m it Hilfe von Bogdan Žerajić wenn man einem anderen Jungbosnier, Borivoje Jevtić, Glauben schenken darf auch seine M itstreiter diesen Atavismus in sich entdecken. Unter dem starken Eindruck des Selbstmordes von Žerajić, "wurde in uns" so Jevtić 1913 - "unser rassischer Atavismus geweckt und in unseren Adern floss wieder nervös das Blut unserer Großväter".22 Ebenso fanden einige Jungbosnier diesen angeblichen Atavismus auch in der Folklore, genauer gesagt in epischen Heldenliedern. Noch vor Gaćinović und Jevtić schrieb auch Dimitrije Mitrinović in einem Artikel über den Maler Ivan Meštrović aus dem Jahr 1911 über die Rasse und das rassische Gefühl, das angeblich in Ideen und Werken der neuen Generation zum Vorschein komme. In den Werken des erwähnten Künstlers fand er ein "starkes rassisches Gefühl und tiefe nationale Religiosität" und erklärte dies damit, dass Meštrović in einer "Uskoken-Gegend" geboren wurde, wo er "in einem primitiven Umfeld einer moralisch gesunden, geistig unzivilisierten, körperlich unverdorbenen Rasse" aufwuchs.23 Dieser Essay wurde in der Zeitschrift Bosanska vila veröffentlicht, nach Meštrovićs Teilnahme an Ausstellungen in Zagreb und Rom, die ebenfalls 1911 stattfanden und seine von Volksepen inspirierte Skulpturen vorgestellten, worüber M itrinović in eigenen Rezensionen die Leser der Zeitschrift Srpski književni glasnik inform iert hatte. Wenn er davon spricht, dass die "Rasse selbst durch Meštrović sprechen wollte", hat er die Helden aus den Volksliedern im Sinne, m it denen der junge Meštrović in Karadžićs Liedersammlung kon- 21 Palavestra, Predrag: Književnost Mlade Bosne II. Hrestomatija, 3. izdanje. Banja Luka: Matica srpska 2012, p. 3. 22 Ibid., p. 16. 23 Ibid., p. 179. <?page no="69"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 69 frontiert wurde, und welche, so Mitrinović, "im Bewusstsein und im Unbewussten des Künstlers lauerten [...] mit dem Wunsch, durch seine Seele neugeboren zu werden".24 Unter diesen Gestalten, die der Künstler wiederbeleben sollte, sind am zahlreichsten jene, die mit der Amselfeldschlacht in Verbindung stehen, m it so Mitrinović - "traurigen Erinnerungen an den Zerfall des serbischen Reiches". Das sind Kosovo-Helden, ihre Mütter und Witwen, die der Rezensent jedoch meist ohne Beachtung übergeht. Unter den Figuren, denen Mitrinović keine besondere Aufmerksamkeit schenkt, ist auch Miloš Obilić, obwohl dieser Held in einer monumentalen Statue dargestellt wurde, für die vom Künstler ein besonderer Platz im Vidovdan-Tempel, dem von Meštrović selbst geplanten Pantheon der jugoslawischen Nationalreligion, vorgesehen wurde.25 Mitrinović begnügte sich damit, an dieser Skulptur "den gewaltigen Schwung des Riesen, der nicht ungläubig war",26 zu bemerken. Zlopogleda der Böseblickende Volle Aufmerksamkeit und begeisterten Kommentar verdient nur Meštrovićs Porträt von Srda Zlopogleda [der Böseblickende], eines Kosovohelden, dem in Karadžićs Liedersammlung nur vier Verse gewidmet sind: Koji ono dobar junak bješe što dva i dva na koplje nabija preko sebe u Sitnicu tura? Onojeste Srda Zlopogleđa. Welcher Held war es noch Der zwei zugleich mit der Lanze aufspießt Sie alle in die Sitnica wirft? Sein Name ist Srda Zlopogleđa Es gibt keinen Zweifel, dass der grauenerregende Name dieses Helden Meštrović genügte, um dessen Kopf zu meißeln, um aus dem Nomen das Omen zu gewinnen -a b e r er hat ihn trotzdem nicht allen anderen vorangestellt, wie Mitrinović dies tun wird. Dieser erblickt nämlich in jenem Porträt des Helden mit dem gefährlichen Blick den besten und vollkommensten Ausdruck dessen, was er Meštrovićs "rassisches Gefühl" nennt. Da für ihn ein solches Gefühl der Rasse, der angeblich das serbische und kroatische Volk angehören, vor allem ein Gefühl der Macht und Kraft ist, und der Künstler bloß ein Medium dieser Rasse ist, wird er als "Dichter des vergangenen Geschicks, als Prophet künftiger Auferstehung vorgestellt, als Dichter 24 Ibid., p. 18. 25 Borić, Tijana: Umetnički opus Ivana Meštrovića u dvorskom kompleksu na Dedinju. In: Spomeničko nasleđe IX (2008), p. 179-191. 26 Palavestra 2012 II, p. 187. <?page no="70"?> 70 van Čolović der Kraft" der "die vergangene Kraft des Kampfes feiert" "zum gegenwärtigen Kampf erm utigt" und den "Sieg der künftigen Kraft prophezeit ".21 Nur Meštrovićs Zlopogleđa erregte in Mitrinovic das Gefühl einer vollen und starken Identifikation mit dem serbischen Volk als Teil des serbisch-kroatischen Ganzen: "Ich muss gestehen" schreibt er, "dass ich mich nie tiefer, schöner und mächtiger als Serbe gefühlt habe als vor dem göttlichen Zlopogleđa von Meštrović. Niemals klopfte mein Herz serbischer und niemals fühlte ich erschütternder das Heiligtum der Rache, die die Schamlosen mit der ganzen zerstörerischen Wucht erschlagen wird, wenn aus unserem Blut solche Zlopogledas wie bei Meštrović wieder erwachen..."2728. Und einer derjenigen, in dessen Blut Zlopogleđa erwacht, war Bogdan Žerajić. An sein Attentat und seinen Selbstmord erinnerte sich Mitrinović, als er in Bewunderung vor der Skulptur verharrte: "Unser und Žerajićs verachtender Rachezorn", schreibt er, "ist der riesige verachtende Rachezorn von Srđa Zlopogleđa."29 Wie groß dieser Held in Mitrinovićs Augen wurde, sieht man daran, dass er auch in Meštrovićs Werk Marko Kraljević auf dem Schecken, über welches er in der Rezension der Internationalen Ausstellung in Rom 1911 schrieb, einen weiteren Zlopogleđa erblickt hat, mit denselben Zügen des zornigen Helden m it dem schrecklichen Blick, "m it dem vor Zorn entstellten Gesicht, dem gerechten Gesicht eines Erzürnten, der mit seinem Blick Feinde besiegt".30 Mitrinović hat eigentlich eine eigene Hierarchie der Kosovo-Helden erstellt. Ganz oben an der Spitze steht Zlopogleđa, während Obilić der Tyrannenmörder von Kosovo, wie Dedijer ihn nennt irgendwo unten rangiert und kaum der Rede wert ist. Den Zlopogleda-Kult übertrug M itrinović auch auf andere Jungbosnier. Sicherlich unter Mitrinovićs Einfluss hob Miloš Vidaković die urtümliche, hünenhafte Kraft und die Gewalt des Rachezorns als das Erlebnis hervor, das von dem Modell des ganzen Vidovdan-Tempels Meštrovićs ausgelöst wird, über welches Vidaković in der Rezension der XI. Biennale in Venedig schreibt, die 1914 stattfand und wo dieses Modell auch vorgestellt wurde. Der Rezensent veranschaulicht es als ein Symbol des Vokes, das mit seiner wilden Kraft und Größe einen "riesigen Rausch" schafft und den Frieden der schon müden italienischen Kunst stört, und als den "erzürnten Golliath", der neben die "flehenden Glockentürme der frommen und überlebten Kirchen" Venedigs tritt.31 27 Ibid., p. 189. 28 Ibid., p. 188f. 29 Ibid., p. 188. 50 Ibid., p. 156. ” Ibid., p. 144. <?page no="71"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 71 Eigentlich fanden Dimitrije Mitrinovic - und nach ihm auch Miloš Vidaković die Quellen dessen, was sie "rassischen Atavismus" und "rassisches Gefühl" nannten, nicht unmittelbar in der Folklore, d.h. in den Liedern, sondern in Meštrovićs künstlerischer Transposition folkloristischer Motive. Erst als sie in die Sprache der modernen Kunst übersetzt wurden, konnten die Figuren der Volkslieder mit ästhetischen und politischen Ideen der Jungbosnier korrespondieren, mit ihrem Modernismus in Literatur und Kunst, mit ihrer modernen Auffassung nationaler Kraft und Aktion, die in ihren Augen notwendig war, um "unsere Rasse" bzw. das gespaltene südslawische Volk zu befreien und zu vereinigen. Das ist um so verständlicher, wenn man weiß, dass in den Augen Mitrinovićs und anderer Jungbosnier die Folklore ein Symbol der konservativen, lokalpatriotischen, provinziellen Kultur war, und dass sie in dem sogenannten Volksgeist, in dieser "Zärtlichkeit für das Serbische und Volkhafte nur die "Angst vor M odernität" sahen, die sie belächelten. Unsere Schriftsteller und Kritiker, schreibt Mitrinović an anderer Stelle, lieben es, anstatt moderner erotischer Lyrik "jenes hübsche Volksliedchen über die Pferde zu singen Igrali se vrani konji und würden sich riesig freuen, wenn die gesammelten Werke von Janko Veselinović unter dem Titel Jes, jakako, o brale, o najo erscheinen würden".3233Das Folkloristische konnte nur als wertirrelevantes lokales Material gelten, das nur ein von der europäischen Kultur geprägter Künstler zu den Höhen der richtigen Kunst erheben kann. Neben Meštrović zählte Mitrinović zu solchen Künstlern auch Njegoš und Ivo Vojinović, der nach seinem Urteil im Drama Majka Jugovića ["Die M utter der Jugović"] "Zeilen geschrieben hat, die nach der reinsten serbischen Seele duften und die zärtlichste und raffinierteste Kultur abgeben".” Wozu braucht Dedijer den Kosovo-Mythos? Zum Schluss sollten wir noch zwei Fragen beantworten: Erstens, warum bestand Dedijer auf der These, dass ohne die serbische Folklore und den Kosovo-Mythos das Attentat von Sarajevo nicht verstanden werden könne, wenn er schon zu Gunsten dieser Behauptung wie wir gesehen haben keine verlässlichen Dokumente oder Zeugnisse ins Feld führen konnte? Und zweitens, warum versäumte er angesichts einer solchen spärlichen Quellenlage die Argumente dort zu suchen, wo er wenigstens etwas davon finden konnte, nämlich in den Texten Mitrinovićs über Meštrović? Nur hier 32 Ibid., p. 39. 33 Ibid., p. 45. <?page no="72"?> 72 Ivan Čolović konnte er wenn nicht die Bestätigung der These von der vermeintlichen "folkloristischen Theorie des Tyrannenmords" und deren Einfluss auf die Attentäter so doch wenigstens ein Zeugnis dafür finden, wie begeistert ein Jungbosnier von dem Pantheon der Kosovohelden bzw. von Meštrovićs Vidovdan-Tempel war. Aber er widmet diesen Texten nur einen einzigen Satz: "M itrinović bemerkte", so Dedijer, "auch die Schönheit des kroatischen Bildhauers Ivan Meštrović, der Motive aus der serbokroatischen Volkspoesie, insbesondere aus dem Kosovo-Zyklus in damals modernen Formen ausdrückte".34 Den Antworten auf diese Fragen werden w ir uns annähern, indem wir Dedijers Studie über das Attentat von Sarajevo im Kontext der Zeit betrachten, in der sie entstanden ist. Und in dieser Zeit - M itte der 1960er Jahre wurde im sozialistischen Jugoslawien jener Gavrilo-Princip-Kult erneuert, welcher im Königreich Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaut worden war. Aber in der Erinnerungspolitik im Königreich Jugoslawien hatten Princip und die Jungbosnier keine größere Bedeutung erlangt. Die sterblichen Überreste der Attentäter und ihrer Eielfer, wie auch die von Bogdan Žerajić wurden zwar schon 1920 nach Sarajevo überführt und am alten christlich-orthodoxen Friedhof in Koševo beigesetzt und einige Jahre später in die zu diesem Zweck nach dem Entwurf von Aleksandar Derok errichtete Kapelle gelegt. Auf der Tafel über der Grabplatte, über elf Namen (Gavrilo Princip, Danilo llić, Mihailo Miško Jovanović, Jakov Milović, Bogdan Žerajić, Nedeljko Čabrinović, Veljko Čubrilović, Neđo Kerović, Trifko Grabež, Mitar Ćerović und Marko Perić) steht die Überschrift "Die Helden des Vidovdan", und gleich daneben ein Kreuz wie auch ein Vers von Njegoš: Blago onom ko dovijeka živi, imao se rasta i roditi [sinngemäß: "Wohl dem, der ewig lebt, er wurde nicht umsonst geboren"]. In diese Kapelle wurden später auch die sterblichen Überreste von Vladimir Gaćinović überführt. Für die Vidovdanfeiern jedoch, die in der Zwischenkriegszeit zu m ilitärischen, folkloristischen und Sportparaden avancierten, wurden weder diese Grabstelle noch die spätere Kapelle, in denen die Gebeine der Attentäter von Sarajevo lagen obwohl sie Vidovdan-Helden genannt wurden wichtige Iieux de memoire. Das gilt ebenso für die Lateinerbrücke, obwohl sie in Principbrücke umbenannt wurde, wie auch für den Ort, von dem Princip geschossen hatte, obwohl dort eine Tafel angebracht wurde, auf der Folgendes stand: "An diesem historischen Ort verkündete Gavrilo Princip die Freiheit am Vidovdan, dem 15. (28) Juni 1914." In Zeitungen, die über die Vidovdanfeiern in der Zwischenkriegszeit berichteten, wird 51 Dedijer 1966, p. 390. <?page no="73"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 73 der Friedhof von Koševo manchmal als einer der Orte erwähnt, wo dieser Feiertag in Sarajevo begangen wurde. Auch Dimitrije Mitrinović der sich inzwischen zu einem der Ideologen des sog. integralen Jugoslawenturns unter der Karađorđević-Krone gewandelt hat erwähnt in seinem am 28. Juni 1930 in Politika abgedruckten Artikel Der Vidovdan Jugoslawiens weder Princip noch das Junge Bosnien. Sie fehlen oder werden nur beiläufig in Texten und Büchern genannt, die zum 550. Jahrestag der Amselfeldschlacht erscheinen; das gilt auch für Essays und Studien über Persönlichkeiten, Symbole oder wichtige Daten in der jugoslawischen Monarchie, die in den 1930-er Jahren erscheinen. So merkt zum Beispiel Vladimir Dvorniković in seinem Werk Charakterologie der Jugoslawen an, dass die Begeisterung für die jugoslawische Idee die noch die Generation von Bogdan Žerajić, Luka Jukić, Gavrilo Princip, Vladimir Gaćinović und Oskar Tartalja beherrschte im "verwirklichten Jugoslawien" nachgelassen hat.35 Und das war im Übrigen auch das Einzige, was er über die Jungbosnier zu sagen hatte. Im Pantheon des jugoslawischen Kommunismus Im Unterschied zu dem behandelten Zeitraum verlieh die Erinnerungspolitik des kommunistischen Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg dem Attentat von Sarajevo eine viel größere Bedeutung. Gavrilo Princip und Genossen wurden als Sprößlinge und Rächer der versklavten und unterdrückten Volksmassen in Bosnien-Flerzegowina zu Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt, als eine Art Vorläufer kommunistischer Revolution in Jugoslawien. In den 1950er Jahren wurden Straßen in vielen Städten nach Mlada Bosna, Gavrilo Princip und anderen Jungbosniern benannt. Am Ort des Attentats wurde eine neue Tafel angebracht, und vor ihr symbolische Fußabdrücke, ein Werk des Bildhauers Vojo Dimitrijević. In Sarajevo wurde 1953 auch das Museum der Mlada Bosna gegründet. Zur selben Zeit beginnt die Veröffentlichtung historischer und literarischer Dokumente zum Attentat und zum Leben der Attentäter, sowie zur jungbosnischen Bewegung. Das bosnisch-herzegowinische Staatsarchiv veröffentlichte das Stenogramm der Flauptverhandlung des Prozesses zum Attentat von Sarajevo. Schon 1945 erschien die Abhandlung Mlada Bosna von Veselin Masleša. Predrag Palavestra veröffentlichte 1965 eine Studie zur Literatur der jungbosnischen Bewegung sowie eine Sammlung ausgewählter Texte ihrer Flauptvertreter. 55 Dvorniković, Vladimir: Karakterologija Jugoslovena. Belgrad: Geca Kona 1939, p. 898. <?page no="74"?> 74 Ivan Čolovic Zu Anfang seiner Studie gibt Palavestra auch seine Einschätzung des Attentats von Sarajevo, wonach es sich um eine Tat handle, in der sich das "jahrhundertelange Begehren nach Freiheit"36 inkarniere, und er verwendet dabei beinahe die identische Formulierung, die auch auf der neuen Gedenktafel zu finden ist: "An diesem Ort äußerte am 28. Juni 1914 Gavrilo Princip m it seinem Schuss einen Volksprotest gegen die Tyrannei und das jahrhundertelange Streben unserer Völker nach Freiheit." Etwas später wird Palavestra auch eine erweiterte Version dieses Topos formulieren, indem er das Attentat als "heroischen Ausdruck und den unm ittelbarsten Vollzug des rebellischen freiheitlichen Geistes und der Stimmung der ganzen Vorkriegsjugend" darstellt.37 Indem er die Betonung auf diese allgemein progressiven aber ideologisch unpräzisen Werte setzt, wie "freiheitlicher Geist" und "Streben des Volkes nach Freiheit", folgt Palavestra den Schlussfolgerungen der marxistischen Analyse der Jungbosnier von Veselin Masleša, wonach bei ihnen noch kein Bewusstsein der Revolution und des Klassenkampfes vorhanden sei, aber dafür die Bereitschaft und der Wunsch gegen die österreichisch-ungarische Flerrschaft zu agieren.38 Denselben Weg beschreitet auch Dedijer. Auch er deutet in seinem Buch Sarajevo 1914 das Attentat typologisch als spontane revolutionäre Errungenschaft, der der jugoslawische Kommunismus entspringen wird. Auch er deutet die Affinität zwischen Jungbosniern und Kommunisten nicht als Verwandtschaft sozialistischer, anarchistischer und anderer progressiver Ideen, die die Jungbosnier angenommen haben sollen, auf der einen, und der Ideologie des jugoslawischen Kommunismus auf der anderen Seite, sondern als Verwandtschaft zwischen spontanen und autochtonen Rebellen gegen die Tyrannei zu Anfang des 20. Jahrhunderts und der nun an der Macht sitzenden kommunistischen Partei in Jugoslawien, wom it suggeriert wird, dass der jugoslawische Kommunismus nicht von außen gekommen ist, sondern in dem authentischen und autarken Freiheitsbegehren begründet sei. Aber erst der Kommunismus werde auf eine richtige Art und Weise das spontane Aufbegehren der Unterdrückten atikulieren und dabei verständliche, wenn auch für die organisierte Arbeiterklasse unangemessene Methoden, wie Attentate auf hochgestellte Persönlichkeiten verwerfen. Nach dem Erscheinen politischer und gewerkschaftlicher Massenorganisationen wird der individuelle Terror also überflüssig und eigentlich schädlich: "Unter diesen Umständen", sagt Dedijer, "schaden Akte des individuellen Terrors der Arbeitermassenbewegung. Die verwegensten Revolutionäre haben sich m it ihren Taten politischer 36 Palavestra 2012 I, p. 5. 37 Ibid., p. 9. 38 Ibid., p. 239f. <?page no="75"?> DasAttentat von Sarajevo und der Kosovomythos 75 Morde von der revolutionären Bewegung entfremdet; sie haben sich von den Hauptaufgaben des Proletariats entfernt, die Ziele des Kampfes entstellt und damit in die Hände der Machthaber gearbeitet."39 Dies ist meiner Meinung nach der Grund, warum Dedijer, indem er die Vorstellung von den Schüssen von Sarajevo als Heldentat der Vorläufer ju goslawischer Kommunisten bekräftigt und weiter entwickelt, sich bemüht, primäre Motive der Attentäter an den einheimischen Boden zu binden, an die einheimische Tradition des Kampfes und Widerstands, um sie so vom Einfluss "äußerer Ideologien" zu befreien. Bei diesem Unterfangen hat er keine verlässlicheren Dokumente gefunden, die von einem vermeindlichen entscheidenden Einfluss einheimischer Traditionen zeugen, von der "Sozialpsychologie" der Umgebung, aus der die Attentäter stammen, als eben Heldenvolkslieder und den Kosovo-Mythos. So wurde er der erste, der in das Narrativ des Attentats von Sarajevo die Kosovohelden als Vorfahren der Attentäter eingebunden hat, was nur die Tatsache untermauert, dass man auch seine Geschichte über dieses Ereignis als (historiographischen) Mythos lesen muss. Dedijers Verbindung von Princip und Obilić spielte zudem in die Hände, dass der jugoslawische Kommunismus, als er sein imaginäres Pantheon und seinen Tempel erbaute, darin auch Platz für die Amselfeldhelden gefunden hat. Auch sie wurden schon, wie auch die Jungbosnier sozusagen in die Partei aufgenommen. An der Wand im Konferenzsaal in der damaligen Regierung Serbiens hing schon seit den 1950er Jahren das Gemälde Kosovski boj [Amselfeldschlacht] Petar Lubardas, und am Gazimestan wurde 1953 ein großes Denkmal für die Amselfeldhelden errichtet; auch dieses stammt von Aleksandar Derok. Der Literaturkritiker Zoran Mišić veröffentlichte 1961 den Essay Was ist eine Einstellung im Kosovo-Geist? , der zu dieser Zeit als Modell korrekter Evokation der Amselfeldschlacht galt. "Das Amselfeld ist", schreibt Mišić, "ein kriegerischer Mythos eines kriegerischen Stammes, um in seinen äußerst entstellten Formen in einen Kriegsruf kriegerischer Stammeshäuptlinge auszuarten. Es wurde ein staatstbildender Mythos einer staatsstiftenden Nation, um dann hegemonistisches Eroberungsprogramm einer Klasse zu werden. Wer macht diese Klasse aus? Das sind", so Mišić weiter, "diejenigen, die den Kosovo-Mythos vereinnahmt haben, um in den pompösen, imperialen und imperialistischen Vidovdantempel einzuziehen."40 Dieser Essay von Mišić bringt uns zur Antwort auf unsere zweite Frage: Warum Dedijer im weiten Bogen die Verbindung der Jungbosnier mit 59 Dedijer 1966, p. 283. 40 Mišić, Zoran: "Staje to kosovsko opiedeljenje", in: Reći vreme Il (1961), p. 197. <?page no="76"?> 76 Ivan Čolovic Meštrović umging. Er hätte es freilich nicht getan, wäre Mišić mit seiner Meinung allein gewesen. Lange vor ihm hatte ein anderer Autor den notorischen Vidovdantempel von Meštrović und dessen Kosovo-Skulpturen als Ausdruck einer "lächerlichen balkanischen staatstragenden Megalomanie"41 bezeichnet. Ein Schriftsteller, der im kommunistischen Jugoslawien eine weit größere Autorität als Mišić in Fragen der Kulturpolitik war, insbesondere im Bereich der Erinnerungspolitik: Miroslav Krleža. Also konnten die Jungbosnier sich den Kosovohelden dazugesellen, aber nur als Helden, die dank der Tatsache, dass sie in der Erinnerung des Volkes weiterlebten, klassenmäßig akzeptabel wurden, und nicht weil die Bourgeoisie sie in ihrem prätentiösen imperialen Tempel gefeiert hatte. Zum Abschluss werde ich nun anstatt eine endgültige Schlussfolgerung zu ziehen unterstreichen, dass für heutige Diskussionen über das Attentat von Sarajevo wirklich wichtig ist, seine Verbindung m it dem Kosovo-Mythos zu berücksichtigen. Nicht deswegen, weil die Attentäter sich selbst als neue Kosovohelden gesehen haben, sondern weil sich unterschiedliche Erinnerungspolitiken, die in den letzten hundert Jahren hintereinander folgten, bemüht haben, Gavrilo Princip und seine Mitstreiter ins alte epische Kosovo zu schicken. Aufmerksamkeit verdienen aber auch Anzeichen, dass die traditionelle Kosovisierung des Attentats von Sarajevo vielleicht ein wenig nachlässt. Heutige Versionen des Narrativs einer sogenannten serbischen Heldenvertikale, die Obilić und Princip verbindet, und beide wiederum m it einigen zeitgenössischen vermeintlichen Helden, von denen einige in Den Haag und einige in hiesigen Gefängnissen sitzen, fin den wenig Nachklang beim jungen gebildeten Publikum, das empfänglich ist für andere, viel verlässlichere Geschichten und Bilder, in denen Princip und seine Freunde in einem anderen "Format" des Mythos aus der emanzipatorischen Jugendkultur dargestellt werden: als etwas gefährlichere Vorläufer rebellischer Rocker oder Punker. Übersetzt von Vahidin Pretjevic 11 Krleža, Miroslav: "0 Ivanu Meštroviću", in: Književnik, god. 1, broj 3, lipanj 1928, Zagreb, p. 73-85. cit. p. 79. <?page no="77"?> W o l f g a n g M ü l l e r - F u n k ( W i e n ) Über die Bedeutsamkeit des Datums 1914 Kraus, Musil, Roth, Andric und Iwaskiewicz mit Hans Blumenberg gelesen Bedeutsamkeit (meaningfulness) is a term the German philosopher Flans Blumenberg has adapted from Martin Fleidegger. As Blumenberg lays out in his book Die Arbeit am Mythos (The Working of Myth), it is a narrative element which creates a post-mythical structure. It is connected with the phenomenon of the calendar date. My essay will analyse how different European authors make use of the date of the beginning of the First World War and how they discuss causality and contingency. Thus, critical (re-)readings of Kraus, Musil, Roth, And rid and Iwaskiewicz will be presented, focusing on how authors refer to meaningfulness and neutralize it at the same time. I . Ein längerer methodischer Vorspann: Überlegungen zur Bedeutsamkeit In seinem prominenten Buch Die Arbeit am Mythos, das sich heute als ein gewichtiger Beitrag zu einer Theorie des Narrativen lesen lässt, hat Blumenberg der zuerst von Heidegger und Rothacker entfalteten Kategorie der Bedeutsamkeit ein ganzes Kapitel gewidm et1 und bringt diese in engen Zusammenhang m it der Wirksamkeit mythischer Elemente oder, wie er später sagen wird, von "Mythologemen". Die symbolische Kapazität des Mythos besteht darin, dass er "bei verminderten Ansprüchen an Zuverlässigkeit, Gewißheit, Glauben, Realismus, Intersubjektivität" "intelligente Erwartungen" befriedigt. Er verleiht den Dingen eine Form von Bedeutung, die stets einen heimlichen subjektiven Vektor in sich trägt. Bedeutsamkeit ist die jeweils relative und kontextuelle Bedeutung für jemanden und für eine Gruppe. Die Bedeutsamkeit dessen, was Blumenberg unscharf als Mythos bezeichnet, wird durch eine Reihe von formalen Prozeduren bewerkstelligt: "Gleichzeitigkeit, latente Identität, Kreisschlüssigkeit, Wiederkehr des Gleichen, Reziprozität von Widerstand und Daseinssteigerung, Isolierung des Realitätsgrades bis zur Ausschließlichkeit gegen jede konkurrierende Realität."2 1 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979, pp. 69-126. 2 Ibid., p. 77-80. <?page no="78"?> 78 Wolfgang Müller-Funk Blumenbergs Begriff des Mythos ist einigermaßen unscharf. So wird nicht klar, in welcher Weise sich der Mythos als Sonderform des Narrativen von nicht-mythischen Modi des Narrativen unterscheidet und ob es nicht unter ihnen auch solche gibt, die einige der Operationen des Mythos in der Generierung von Bedeutsamkeit und der Vertreibung von Furcht vor dem, was Blumenberg den "Absolutismus der W irklichkeit" nennt, gemeinsam haben, einen Zustand, der ganz offenkundig m it völliger Sinnentblößtheit und einem drastischen Mangel an Distanz einhergeht. Denn die Arbeit allen Erzählens scheint auf die paradoxe Operation hinauszulaufen, durch Distanznahme zugleich eine symbolische Heimat zu schaffen, die vor dem "Absolutismus der W irklichkeit" schützt. Auch wenn es Blumenberg nicht eigens ausspricht, ist der Tod, das reale und symbolische Nichts, jenes vielleicht einzige existenzielle Phänomen, das Zentrum und Grenze kat'exochen darstellt. (Vorweg gesprochen, ist ein Attentat wie jenes von 1914 selbstverständlich ein derartiger absoluter Nullpunkt, der wie prädestiniert scheint, zu einem Kristallisationspunkt von Bedeutsamkeit zu werden.) In seinen Überlegungen zur Bedeutsamkeit hat sich bei Blumenberg ein ganz erstaunlicher Widerspruch eingeschlichen. Denn an mehreren Stellen betont er ganz zu Recht und ganz ähnlich wie Michail Bachtin die Ort- und vor allem die Zeitlosigkeit mythischen Erzählens3, in den Beispielen indes, an denen er die "Bedeutsamkeit" erläutert, spielt das Datum als Kristallisationspunkt eine maßgebliche Rolle, etwa wenn Goethe sein Geburtsdatum m it den entsprechenden Sternkonstellationen in einen sanft ironischen Zusammenhang bringt. Blumenberg selbst, ein versierter Erzähler anekdotischer und antiquarischer Geschichten, ein Sammler von scheinbar nebensächlichen Episoden, der wie alle anderen stolz seine Fundstücke vor dem Lesepublikum ausbreitet, operiert fast immer mit je nen heimlichen Korrespondenzen, die ja auch in der mythischen Generierung von Bedeutsamkeit prominent zum Tragen kommen, nämlich in Gestalt von Gleichzeitigkeit oder mittels zeitlich markierten Kreisschlüssen. Kurzum, es kommen nach- und nicht-mythische Erzählformationen, in denen Bedeutsamkeit durch das Spiel mit den Daten erzeugt wird, Formen einer chronologisch operierenden Geschichte in Betracht, die, anders als der klassische Mythos, mit der Magie der Zahl spielt. Die Chronik ist eine Form des Erzählens, die sich auf die Evidenz der Zahlen verlässt: 1789, 1848, 1918, oder eben 1914 und 1989 als Eckpunkte des sogenannten kurzen zwanzigsten Jahrhunderts.4Die Ereignis-*1 ! Ibid, p. 165-191. 1 Hobsbawm, Eric : Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Übers, v. Yvonne Badal. München: dtv 1998. <?page no="79"?> Kraus, Musil, Roth, Anclric unci IwasUewicz mit Hans Blumenberg gelesen 79 se von und nach Sarajevo, die narrativ form ativ und damit a posteriori zu Eckpunkten der erzählten Geschichte avancierten, sind dabei - und das macht ihre Besonderheit aus im Hinblick auf den Grad ihrer Bedeutsamkeit durchaus uneindeutig. Welchem Ereignis gebührt in der Reihe von bedeutsamen Ereignissen die eigentliche Priorität? Ist es das Attentat, ist es der Kriegsausbruch, ist es die O ktoberrevolution von 1917 oder sind es das Kriegsende und seine gewaltigen Folgen von 1918? Eine simple kausale Logik, die zeitliche Aufeinanderfolge und das Prinzip der Kausalität nahtlos miteinander verschränkt, könnte suggerieren, dass ein Ereignis zwingend aus dem anderen hervorgegangen sei. Aber spätestens hier beginnt der Streit der Historiker, vor allem zwischen je nen, die, oft unbewusst, die Unheimlichkeiten der Kontingenz zu bannen versuchen, und anderen, die solchen Kausallogiken misstrauen. Aber nicht jedwedes historische oder gar literarische Erzählen ist auf die Generierung durch Bedeutsamkeit durch das narrative Spiel m it dem Datum von dadurch bedeutsam werdenden Ereignissen aufgebaut. In Sozial- und Kulturgeschichten oder genauer in allen Strukturgeschichten, wie sie etwa die annales-Schule in Frankreich entwickelt hat, spielen solche nachträglich 'großen' Ereignisse keine Rollen. Die Brüche und Revolutionen in der Struktur von Familie, Gesellschaft, Technik, Kunst und Kultur sind nicht mit einem bestimmten Datum verbunden, und wenn ein solches ins Blickfeld rückt, dann ist es nicht identisch mit jenen auf der Bühne der politischen Ereignisse. Für die Geschichte der europäischen Avantgarde etwa ist der Zeitpunkt der Publikation des ersten Futuristischen Manifests bedeutsamer als jenes der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo. In jedem Fall befinden wir uns, wenn wir in diesem Jahr über das Attentat von Sarajevo und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sprechen, im Karussell eines Diskurses, der ohne die Generierung von Bedeutsamkeit durch das Spiel der Zahl nicht auskommt. Das Ereignis ist geadelt durch die konstruierte Rundheit von hundert Jahren und durch die Markierung der kriegerisch-militärischen Geschehnisse als Nummer 1, die ohne die Nachfolge zumindest einer 2 und der Möglichkeit einer 3 absurd wäre. Es ist übrigens schon heute gut denkbar, dass die Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einmal im Sinne eines einzigen, Dreißigjährigen Krieges ganz analog zu jenem im 17. Jahrhundert gelesen werden können. In jedem Fall ist unser modernes kulturelles Gedächtnis nach der sehr einfach gestrickten Logik der zeitlichen Chronik organisiert. Die blanke Zahl scheint den Befehl zu erteilen: Rührt Euch! Erinnert Euch! <?page no="80"?> 80 Wolfgang Müller-Funk 2. Ein Sommer zuvor ein Sommer danach: Robert Musil Am Anfang war, so lässt sich narratologisch behaupten, die Kontingenz. Dem Ereignis ist zunächst nicht anzumerken, dass es eines ist, das Ereignis, das 'Er-Äugnis', wirklich sehenswert und damit nacherzählbar ist. Die Zeitung, die zum Beispiel mein Großvater am 28. Juni 1914 aufschlug und die natürlich den Wetterbericht enthielt, berichtete unter anderem auch über das Attentat in der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt, aber mindestens so wichtig könnte für die männlichen Leser auch die folgende Meldung gewesen sein: Im mit 125 000 Mark dotierten Deutschen Derby auf der Galopprennbahn in Hamburg-Horn siegt Gestüt Oppenheims Ariel mit eineinhalb Längen Vorsprung vor Terminus in der Rekordzeit von 2: 33,6 min.5 Es ist also überaus wahrscheinlich, dass, wie es Florian lilies' instruktive Dokumentation 1913. Der Sommer des lahrhunderts nahelegt, die Zeitgenossen anno 1913 von den kommenden Ereignissen so ahnungslos waren wie jene 1988 im Hinblick auf das Jahr 1989.6 Auch Karl Kraus' zwischen 1915 und 1921 verfasste Tragödie, ein bekanntlich opulentes, zehn Abende füllendes Werk Die letzten Tage der Menschheit, operiert m it dem Kontingenzgedanken, damit, dass den Menschen am Tage des 28. Juni 1914 keineswegs die erst durch die nachfolgenden Ereignisse, vor allem aber durch das Werk nachträglicher Narration geschaffene - Bedeutsamkeit, die "Tragweite" des Ereignisses überhaupt nicht bewusst waren, wie die 1. Szene des Vorspiels sinnfällig macht: Wien Ringstraße. Sirk-Ecke. Ein Sommerfeiertagsabend. Leben und Treiben. Es bilden sich Gruppen. Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee - ! Ermordung des Thronfolgers! Da Täta verhaftet! Ein Korsobesucher (zu seiner Frau): Gottlob kein Jud. Seine Frau: Komm nach Haus. (Sie zieht ihn weg.) Zweiter Zeitungsausrufer: Extrauasgabee - Neue Freie Presse! Die Bluttat von Sarajevo! Der Täta ein Serbe! Ein Offizier: Grüß dich Powolny! Also, was sagst? Gehst in die Gartenbau? Zweiter Offizier (mit Spazierstock). Woher denn? G'schlossen! Ein Dritter: Ausg'schlossen. Der Zweite: Wenn ich dir sag! 5 http: / / www.chroniknet.de/ daly_de.0.html? year=1914&month=6&day=28, heruntergeladen am 18.1. 2014. 6 Ilies, Florian: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfu rt/ M ain: S. Fischer 2013. <?page no="81"?> Kraus, Musil, Roth, Anclric und IwasUewicz mit Hans Blumenberggelesen 81 Der Erste: Also was sagst? Der Zweite: Na gehen mr halt zum Hopfner.7 Kraus führt seiner Leserschaft postfestum die Kontingenz und die Kongruenz des Heterogenen vor Augen. Das Ereignis wird von den Menschen zunächst überhaupt nicht als solches wahrgenommen, sondern verschwindet sogleich im Alltagstrott des üblichen Geschehens. Ob jetzt Gartenbau wegen der Ereignisse geschlossen hat, bleibt hier offen, aber die Normalität ist zunächst nur um die Differenz zwischen Gartenbau und Hopner verschoben, jener Lokalität, auf die die Offiziere ausweichen wollen. Aber schon der Titel jenes grotesk-tragischen Spektakels, das Kraus zur Aufführung bringt, enthält eine Fabelkonstruktion, die bereitsauf den "Absolutismus" der Ereignisse reagiert und ihn distanziert. Es gehört zur "Arbeit" des Narrativen, dass die Erzählung, die sie hervorbringt, selbst schon eine Interpretation darstellt. Die letzten Tage der Menschheit operieren ganz eindeutig mit einer säkularisierten Version eines der "erfolgreichsten" und umstrittensten, in seiner Wirksamkeit freilich kaum umstößlichen Narrative unserer Kultur, der Apokalypse. In der religiösen Version des Johannes wird der Schrecken der letzten Tage der Menschheit, die Wiederkehr des Satans, schließlich durch das Heilsgeschehen neutralisiert und aufgehoben.8 Bei Kraus wird indes am Ende des theatralischen Geschehens von einer an Goethes Faust erinnernden Stimme von oben der reifliche Entschluss verkündet, "den Planeten mit sämtlichen Fronten auszujäten"! 9 Vom Mars aus wird der Erde mit einem Meteorregen der Garaus gemacht.10 M it dem Spannungsverhältnis von Kontingenz und Bedeutsamkeit operiert der heute als epochal verstandene Roman von Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften, der mit einem ausführlichen meteorologischen und astronomischen Bericht einsetzt: ' Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. In: ders.: Schriften Band 10. Hrsg, von Christian Wagenknecht. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1986, p. 45. 8 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Wien, New York: Springer ; 2008, pp. 287-308 9 Kraus 1986, p. 766 u.ff. Vgl. auch die Parodie der Erlösung, ibid., p. 769. 10 Ibid., p. 769: "Die Ewigkeit ist bereits angebrochen. Lang wartetet ihr und warteten wir, w ir harrten geduldig, ihr hofftet mit Gier. Und damit doch auf eurer noch hoffenden Erde nun endlich der endliche Endsieg mal werde und damit sich dagegen kein Widerspruch regt haben w irsie erfolgreich mit Bomben belegt! " <?page no="82"?> 82 Wolfgang Müller-Funk Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum, es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. DerAuf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. DerWasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. M it einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.11 Anfänge sind Wegweiser in die Welt des Romans. Bereits der Titel des Kapitels "Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht" bringt den Gegensatz von Kontingenz und Bedeutung in Anschlag, dementiert er doch die angenommene Erwartung, dass der Roman mit einem bemerkenswerten Ereignis beginnt. Bekanntlich dienen astronologische und meteorologische Angaben, mythisch-esoterische Erbschaften, zur Verdichtung von Bedeutsamkeit. Der schöne Augusttag anno 1913 erweist sich ungeachtet der ins Technisch-Naturwissenschaftliche verschobenen Aufladung freilich als bemerkenswerter Weise völlig normaler und belangloser Sommertag. Ein irreführender Fall von symbolischer Abrüstung, denn das Lesepublikum weiß bereits um die sich anbahnende historische Katastrophe, für die es freilich kein Zeichen am Elimmel gibt, kein Wetterzeichen und keine Sternkonstellation. Der Augusttag 1913 wird auch deshalb aufgerufen, weil ein anderes Datum nicht zur Sprache kommt: das des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, eben jenes Datum, auf das Musils gigantischer Roman unumkehrbar zusteuert. Sofern dieser von theoretischen Überlegungen, Maximen und Reflexionen überwucherte Roman überhaupt als ein Stück illusionistischer Literatur gelesen werden kann und nicht als eine Art von Spielmodell verstanden werden muss, liegt ihm eine raffinierte Fokalisierung zugrunde. Während die Figuren, die Aktanten auf der Elandlungsebene der Geschichte, noch völlig ahnungslos sind und sich auf ein großes Friedensfest, das im Jahre 1918 stattfinden soll, vorbereiten, weiß der Leser und auch die Erzählinstanz im Roman bereits, dass die exemplarischen, typologisch konzipierten Romanfiguren auf vergangene Zukünfte hinstreben, die nie in der Realität einer Gegenwart eintreten werden. In ihrem ideologischen Eifer haben am Ende alle Beteiligten indes, von ihnen 11 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frise. Reinbek: Rowohlt 1979, p. 9. <?page no="83"?> Kraus, Musil, Roth, Andric unci IwasUewicz mit Hans Blumenberg gelesen 83 gänzlich unbemerkt, zur Katastrophe beigetragen, was ein Notat aus dem Nachlass auch expressis verbis ausführt: "Die Mauern der Stadt", heißt es da, "strahlen Ideologien aus". In diese energetische Aufladungen der symbolischen Systeme ist letztendlich auch die private Utopie des Protagonisten, Ulrichs, m it eingeschlossen: "Krieg ist das gleiche wie aZ, aber (lebensfähig) gemischt aus dem Bösen."12 M it diesem Kommentar aus den Arbeitsskizzen wird jenseits der Schuldzuweisungen für die Ursache des Ersten Weltkriegs auf der Ebene der sogenannten Realpolitik ein ganz anderer, letztendlich kultureller Befund ausgemacht, der das Attentat von Sarajewo und den sich daran (nicht notwendig) anschließenden Krieg als eine unbewusste Reaktion auf die Krise der Moderne deutet, die strukturell Bedeutsamkeit untergräbt und die Sehnsucht nach verbindlichen gemeinsamen Ideen hervorbringt. Was der Nationalsozialismus zwei Jahrzehnte später als "totalen Krieg" feiern sollte, ist dessen symptomatischer Ausdruck. Denn das Totale bezieht sich nicht nur auf die Totalität des Raumes und die Mobilmachung kollektiver Energien, sondern zielt auch auf die Sehnsucht nach der Renaissance einer Ganzheit, in der die Menschen eingebunden sind diese Sehnsucht reagiert auf eine Welt eines leeren Individualismus, in der sich jeder im Kampf m it dem anderen befindet und das Ganze nur mehr durch die Abneigung aller gegen alle zusammengehalten wird. Der Roman interpretiert Nationalismus und übrigens auch Sozialismus in eben diesem zwiespältigen Sinn, als einen Gruppenegoismus, der zugleich Gemeinschaft verspricht. Da sind die Gesinnungstäter am Werk, die uns im Roman begegnen, sie haben sprechende Namen, Feuermaul, Elans Sepp und Schmeißer: die Namen der jungen, symbolisch bewaffneten Ideologen, deren aggressive und destruktive, zu jedem Anschlag bereite Elaltung ganz unverhohlen und unverkennbar ist. Ihnen steht der Romanprotagonist höchst ambivalent gegenüber, weil er (ähnlich wie die Schwester, mit der er eine Art von Doppel-Elelix bildet) zum einen die Verachtung der alten paternalistischen Ordnung teilt, zum anderen aber nicht an ihre Erlösungsversprechungen zu glauben vermag. Sarkastisch heißt es in einem Fragment aus dem Nachlass: "Die Welt geht vielleicht zugrunde oder in eine lange Hölle."13 Auch hier klingt, wie bei Karl Kraus, eine apokalyptische Interpretation jener Ereignisse an, die mit dem Attentat in Sarajevo ihren Anfang nahmen. Was sich also, um auf den Anfang des fragmentarischen Romans zurückzukommen, gleichsam meteorologisch entlädt, sind aufgestaute kollektive Energien. Die Gewalt der Worte geht den Schüssen von Sarajevo, dem Kanonendonner der Schlachtfelder und dem Giftgas voraus. Ibid., p. 1932. Ibid. <?page no="84"?> 84 Wolfgang Müller-Funk Die Sitzungen der Parallelaktion versinnbildlichen den repräsentativen und zugleich gleichnishaften Ort der radikalen Kultur- und Sinnkrise. Der Mehrheit der Beteiligten, die auf eine Totallösung drängen, geht jener Möglichkeitssinn ab, den der Romanprotagonist verficht und der, von heute aus gesprochen, doch auch die Möglichkeit in sich einschließt, in der Kontingenz dieser Welt leben zu lernen. Wenn Ulrich in einer entscheidenden Sitzung die Schaffung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und der Seele fordert, dann lässt sich das unstrittig als paradoxe, ja unmögliche Intervention verstehen, als eine Zumutung, auf die die Anwesenden auch mehr oder minder verständnislos reagieren, aber zugleich lässt diese Sentenz sich selbstreferentiell als Anspruch, den der Roman geltend machen möchte, lesen: "Weil die Menschheit sich nicht auf Ahnen und Wissen verlegt, sondern die meisten Aufgaben in der Form des Glaubens löst, entstehen Streitigkeiten und Krieg."14 Die schonungslose Selbstanalyse, die ungeachtet Musils Polemik gegen Freud strukturelle Ähnlichkeiten mit der Psychoanalyse aufweist, wäre vielleicht die einzige Möglichkeit gewesen, die Katastrophe zu vermeiden ob aber eine solche kollektiv möglich ist, steht freilich auf einem anderen Blatt. UIrichsVerhaIten ist indes höchst inkonsequent, denn ungeachtet seiner skeptischen Befunde ist sein eigenes Projekt des anderen Zustands einer exemplarischen Menschheit ä deux selbst total, stellt es doch eine kulturelle Therapie gegen jenen Zustand dar, den das bereits zitierte Fragment so darstellt: "Außerhalb der Bindungen deformiert jeder Impuls augenblicklich den Menschen."15 Von daher bedeutet das Ende des Romans endgültig das Scheitern des utopischen Lebensexperiments m it der Schwester, das letztendlich auch zur Gattung all jener Totallösungen gehört, die im Roman dekonstruiert werden. Ulrich zieht - und an diesem Ende wollte der Autor unbedingt festhalten in den Krieg und seine einstmalige Geliebte Gerda, die Tochter eines jüdischen Bankiers, vertauscht den Salon ihrer Eltern mit einem Kriegslazarett. 3. Solferino und Sarajewo: Joseph Roth Kreisförmigkeit, Identität und Ausschließlichkeit sind einige der Zuschreibungen, die Hans Blumenbergjenen Formen des Erzählens zuschreibt, die Bedeutsamkeit generieren und denen der deutsche Philosoph eine mythische Struktur zuweist. In diesem Sinn ist Roths bis heute prominentester 14 15 Ibid, p. 1931. Ebd. <?page no="85"?> Kraus, Musil, Roth, Andnc und Iwaskiewicz mit Hans Blumenberg gelesen 85 Roman Radetzkymarsch über die landläufige Verwendung des Begriffs "M ythos" wie sie auch Claudio Magris berühmten Buch16zugrunde liegt von mythologischen Momenten durchtränkt. Unübersehbar ist beispielsweise die Kreisform des Romans. Wie am Anfang, so steht auch am Ende der Krieg. Obschon im Roman Zeitangaben vermieden werden, so ist doch klar, dass die Schlacht von Solferino im Jahre 1859 mit dem Ausbruch des Krieges von 1914 verschränkt wird. M it dem Marsch und ihrem Namensgeber kommt noch ein anderes historisches Datum ins Spiel, das Jahr 1848 und die Tatsache, die der Marsch feiert und die der slowenische Bezirkshauptmann und der tschechische Kapellmeister im Roman jeden Sonntag inszenieren: den Bestand der kaiserlichen Ordnung. Deren Überleben anno 1859 basiert auf einem erfundenen Gründungsakt zu Anfang des Romans, nämlich der Rettung des Lebens von Kaiser Franz Joseph durch den slowenischen Leutnant Trotta. Dass dies eine historische Erfindung ist, die nichtsdestotrotz im Spiel des Romans ihre Wirksamkeit entfaltet, weiß die Leserschaft, sofern sie historisch informiert ist. Zur heimlichen Ironie des Werkes gehört fernerhin, dass dem erfundenen Gründungsakt im Radetzkymarsch eine historische Episode zugrunde liegt, das gescheiterte Attentat auf den jungen Kaiser Jahre zuvor, das bekanntlich zum Bau der Wiener Votivkirche geführt hat. Diese historische Episode wird im Roman durch die zeitliche, räumliche und symbolische Verschiebung des lebensrettenden Tat mit Bedeutsamkeit angereichert. Wenn wir für einen Moment die Welt des Romans verlassen, aber den Rothschen Gestus der Bedeutsamkeit beibehalten, dann ließe sich sagen, dass die franko-josephinische Epoche mit einem niedergeschlagenen Attentat beginnt und mit einem gelungen Anschlag auf den Thronfolger endet; ein weiterer Höhepunkt wäre was den Autor übrigens nicht interessiert die Ermordung von Kaiserin Elisabeth. All diese Ereignisse gehören in die Geschichte des modernen Terrors, mit dem wir heute aufs Neue konfrontiert sind und den man etwas zynisch als einen erfolgreichen Kulturtransfer in die arabische Welt bezeichnen könnte. Die Grenze des literarischen Erklärungsmodell Roths liegt - und das betrifft den Identitätsaspekt seiner mythisierenden Geschichte ganz offenkundig in der Linearität seines Niedergangsnarrativs. Identitätsbildung misslingt im Roman nämlich, weil die Enkel und Söhne den Vätern und Großvätern nicht mehr genügen können. So wie der Vater, der Bezirkshauptmann, nicht die soldatische Größe des Großvaters, des "Helden von Solferino" erreicht, so der Enkel, der unglückselige Leutnant im Stile Saars 16 Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg: 0. Müller 1966. <?page no="86"?> 8 6 Wolfgang Müller-Funk und Schnitzlers, nicht die Statur des gemächlichen Bürokraten-Vaters. In diesem Sinn ist die Szene von 1914, in der der Enkel des "kleiden von Solferino", gleichsam vom Freudschen Todestrieb erfasst, an der Latrine erschossen wird, das plastische Gegenbild zu jener Geistesgegenwart, mit der der Großvater dem jungen Kaiser das Leben rettet. Von der von Blumenberg ins Feld geführten Daseinssteigerung durch Widerstand kann an dieser Stelle keine Rede mehr sein. Die Wiederkehr des Gleichen entpuppt sich auf Grund des enormen Abstandes zwischen Großvater und Enkel als eine Karikatur. Während der eine das Leben des anderen und darüber hinaus die Monarchie erhält, ist der andere nicht willens oder imstande, sein eigenes Leben zu schützen. Die tödlichen Schüsse auf den jungen Leutnant besiegeln somit das Schicksal der alten Ordnung der Monarchie, der in Roths Werk immer wieder literarische Trauerrituale zuteil werden, etwa in der Erzählung Die Büste des Kaisers oder in Roths fingierter Erinnerung über die Beerdigung des Kaisers, in der nicht nur die Menschen, sondern auch der Himmel weint. Der Regen ist es also, der diesem Datum eine ganz spezifische Bedeutsamkeit verleiht.1718 Zu Roths franco-josephinischem Gründungsmythos gehört auch die durchgehende Wunschvorstellung, dass die Ungarn die Zerstörer des Reichs und die Slawen überwiegend dessen loyalen Träger gewesen seien. Wenn sich also im Roman an dem schwülen und gewitterträchtigen Tag so wenigstens ist das Wetter am 28. Juni bei Roth - 1Sdas Ereignis von der Ermordung des Thronfolgers in der Garnison am östlichen Rand der Monarchie wie ein Lauffeuer verbreitet, so sind es arrogante ungarische Offiziere, die sich in ihrer Sprache freudig über den Tod Franz Ferdinands verbreiten, um sodann einen von ihnen auf Deutsch sagen zu lassen: "Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, daß wir froh sein können, wenn das Schwein hin ist."19 Gegen derlei Schmähungen tritt nun ein Slowene auf, der den beredten Namen Jelacich (! ) trägt. Wie so oft bei Roth wird die unverkennbare sentimentale Stimmung von komischen Momenten ge- und durchbrochen: Jelacich, ein Slowene, geriet in Zorn. Er haßte die Ungarn ebenso, wie er die Serben verachtete. Er liebte die Monarchie. Er war ein Patriot. Aber er stand da, die Vaterlandsliebe in ausgebreiteten, ratlosen Händen, wie eine Fahne, 17 Cf. Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth. Besichtigungen eines Werkes. Wien: Sonderzahl 2012 . 18 Joseph Roth: Radetzkymarsch. In: ders.: Romane. 2 Bde. Köln: Kiepenheuer&Witsch 1975/ 1984, vol. 1, p. 624: "[...] in diesem Vorraum, den er mit seinen Kerzen nur spärlich beleuchten konnte und der nach jedem der heftigen, bläulichweißen Blitze in eine noch befere braune Dunkelheit versank. Schwere Wellen geladener Luft lagen im Raum, das Gewitter zögerte." 19 Ibid., p. 629. <?page no="87"?> l-'.raus. Musil, Roth, Andric und IwasMewicz mit Hans Blumenberg gelesen 87 die man irgendwie anbringen muß. Und für die man keinen DachbYst findet. Unmittelbar unter der ungarischen Herrschaft lebte ein Teil seiner Stammesgenossen, Slowenen und ihre Vettern, die Kroaten. Ganz Ungarn trennte den Rittmeister Jelacich von Österreich und von Wien und vom Kaiser Franz Joseph. In Sarajevo, beinahe in seiner Heimat, vielleicht gar von der Hand eines Slowenen, wie der Rittmeister Jelacich selbst einer war, war der Thronfolger getötet worden. Wenn der Rittmeister nun anfing, den Ermordeten gegen die Schmähungen der Ungarn zu verteidigen (er allein in dieser Gesellschaft verstand Ungarisch), so konnte man ihm erwidern, seine Volksgenossen seien ja die Mörder. Erfühlte sich in der Tat ein bisschen schuldig. Erwusste nicht warum. Seit etwa hundertfünfzig Jahren diente seine Familie redlich und ergeben der Dynastie der Habsburger. Aber schon seine beiden halbwüchsigen Söhne sprachen von der Selbständigkeit aller Südslawen und verbargen vor ihm Broschüren, die aus dem feindlichen Belgrad stammen mochten.20 Dass im Roman den Ungarn die Hauptschuld für die Implosion des Habsburgischen Imperiums zufällt, hat seinen historischen Kern wohl in dem Umstand, dass die Privilegierung der Ungarn Hand in Hand m it der Exklusion der west- und südslawischen Völkern von der Beteiligung an der politischen Macht gegangen ist: ein Konstruktionsfehler, den zuweilen auch das Herrscherhaus man hat auch dem ansonsten nicht übermäßig beliebten Erzherzog Franz Ferdinand, der m it einer tschechischen Gräfin verheiratet war, nicht grundlos "Slawophilie" nachgesagt zu beseitigen trachtete, w om it sie fast zwangsläufig Widerstand bei den ungarischen Eliten hervorriefen. Roths 'slawische' Version der Habsburger Monarchie, die ja schon m it der Rettung des Kaisers durch einen slowenischen Offizier beginnt, schließt die Serben (wenn auch unausgesprochen) aus seinem positiven Zuschreibungssystem zwangsläufig aus. Dem jugoslawischen Panslawismus stellt der Roman eine Version eines dynastischen Austro-Slawismus entgegen, der freilich im Roman durch den Generationswechsel in Frage gestellt wird. Immerhin macht die Ansicht des slowenischen Rittmeisters klar, dass die Monarchie, vom ungarischen Nationalismus abgesehen, von einer nationalen Utopie bedroht ist, die nicht allein serbisch, sondern eben jugoslawisch ist und bei Slowenen und Kroaten durchaus Anklang findet. Ich fürchte, m it diesem Zitat befinden w ir uns noch immer auf symbolisch vermintem Gebiet, denn die Ereignisse von 1914 lagern, um Karl Marx zu zitieren, wie ein historischer Albtraum auf den Lebenden dieser Region.21 Die verschiedenen, zum Teil konträren Erzählungen, die bis heute 20 Ibid., p. 628. 21 Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon (1852). In: Marx-Engels Studienausgabe. Hg. von Iring Fetscher. Bd IV: Geschichte und Politik 2. Frankfurt/ Main: Fischer 1966, p. 34. <?page no="88"?> 8 8 Wolfgang Müller-Funk in Geschichte, Literatur und Alltag über die Ereignisse 1914 im post-jugoslawischem Raum im Umlauf sind, haben noch immer im Hinblick auf die Handlungsweisen der politischen Akteure eine Iegitimatorische Bedeutung. Sie bestimmen noch immer deren politisches Handeln und dessen Rechtfertigung. 4. Die Brücke zerbricht: Wischegrad um den 28. Juni 1914 War das Wetter am 28.Juni 1914, das dem historischen Wetterkalender zufolge unspektakuläre 1,2 Grad unter der üblichen Sommertemperatur lag, bei Joseph Roth schwül und unheilverkündend, so ist das Wetter in dem wohl berühmtesten, auch programmatisch jugoslawischen Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini Ćuprija) von überwältigender Helligkeit: Der Sommer 1914 wird in der Erinnerung jener, die ihn hier verlebten, als der strahlendste Sommer seit Menschengedenken bleiben, denn in ihrem Bewusstsein glänzt und leuchtet er auf einem gewaltigen und düsteren Horizont des Todes und Unglücks, der sich bis in das Unabsehbare erstreckt. Ein solches Ausnahmejahr mit einem besonders glücklichen und günstigen gegenseitigen Zusammenwirken von Sonnenwärme und Erdfeuchte war angebrochen, da diese breite Wischegrader Niederung vor Überfluß an Kraft und allgemeinem Bedürfnis, Frucht zu tragen, erbebte. Die Erde schwoll auf, und alles, was in ihr lebte, das keimte, trieb Knospen, setzte Blätter an und trug hundertfach Frucht. Förmlich sah man diesen Atem der Fruchtbarkeit, wie er als warmer, bläulicher Dunst über jeder Furche und jeder Scholle zitterte. Kühe und Ziegen spreizten die Hinterbeine und gingen schwer von strotzend prallen Eutern.22 Die sommerliche Heiterkeit (und m it ihr die komisch überbordende Fruchtbarkeit) hat, wenn man die Zwischentöne im Text wahrnimmt, eine doppelte Bedeutung. Denn dieses Datum verweist auch jene gesamtjugoslawische Nationsbildung, die Zentrum des dritten Teils der Romans ist. Die Helligkeit hat aber auch eine ganz andere Seite: Der Sommer 1914 erscheint als so strahlend und produktiv, weil er sich in der kollektiven Erinnerung vom Dunkel des Krieges und seiner Gewalt abhebt. Ivo Andric ist ein Romancier, der in seiner Chronik über die bosnische Stadt Wischegrad wie und doch ganz anders als Joseph Roth Bedeutsamkeit ins Spiel bringt, ist, der seit 1992 mehr als je zuvor die politischen 22 Andrić, Ivo: Die Brücke über die Drina. Eine Wischegrader Chronik. Übers, von Ernst E. Jonas. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003, p. 343. Original: Na Drini Ćuprija. Belgrad: Prosveta 1963, p. 292. <?page no="89"?> Kraus, Musil, Roth, Anclric und IwasUewicz mit Hans Blumenberg gelesen 89 Gemüter in seiner Heimat, Bosnien-Herzegowina, entzweit. Lässt sich Joseph Roth als der Mythologe des Habsburgischen Mythos begreifen, so Andrić umgekehrt als der Vertreter eines gesamtjugoslawischen Mythos, in den die kleine religiöse Vielvölkerprovinz Bosnien-Herzegowina m it eingeschlossen ist. Das Kernstück der mythischen Bedeutsamkeit bildet ein technisch-architektonisches Meisterwerk aus Osmanischer Zeit, eben jene Brücke, die über die Drina führt, die den Ort in das damalige Verkehrsnetz einbindet und die vor allem die mehrheitlich muslimisch bewohnte Stadt m it dem christlich bewohnten Umland verbindet. Wischegrad ist synekdochisch konzipiert; die heterogene kleine Stadt an der Drina steht stellvertretend für das ganze Land Bosnien-Herzegowina. Alles, was sich dort ereignet, ist in der einen oder anderen Art und Weise in der gesamten Region geschehen. Oder m it anderen Worten: Wischegrad erweist sich von Anfang als Ort einer historischen Chronik, die von Mythologien und Mythologemen überwuchert ist, die uns ein chronikalischer Erzähler, der Chronologie und Mythos kräftig mixt, in identitätsstiftender Absicht 'm it-teilt'. Eine Verbreiterung der Brücke, die Kapija, bildet einen Treff- und Zwischenraum der verschiedenen Teile der Bevölkerung. Die Brücke mitsamt der Kapija stellt den Dreh- und Angelpunkt der Chronologie dar, jenen Ort, an denen sich die Geschichte in Variationen wiederholt und schließt. Der Bau der Brücke steht am Anfang und ihre Zerstörung in den ersten Kriegstagen nach dem Attentat von Sarajevo am Ende des Romans. Man tut dem Autor von Na Drini ćuprija kein Unrecht, wenn man den Roman einem spezifisch serbisch geprägten Jugoslawismus zuordnet. Denn die Brücke ist ein Ort, der verbindet, aber auch trennt. Sie ist für das serbische Lesepublikum und die Erzählinstanz auch ein schmerzhafter Erinnerungsort, der die Unterdrückung der christlich-slawischen Bevölkerung durch das Osmanische Reich mnemotechnisch fixiert. Es ist ein ehemaliger, in der Hierarchie der Macht weit nach oben gekommener Christ, Mehmet Pascha, der diese Brücke in seiner Heimat errichten lässt, was zeitweilig auf den heftigen Widerstand der örtlichen christlichen Bevölkerung stößt. So spaltet das historische Projekt über Jahrhunderte Christen und wie die muslimische Bevölkerung im Roman heißt - "Türken". Denn die sozial benachteiligten orthodoxen Bauern sind es, die in Zwangsarbeit die Brücke bauen müssen und zugleich von der Macht ausgeschlossen bleiben. So wird das herrschaftliche Projekt immer wieder zum Zankapfel und auch zum Objekt subversiver Aktionen. Die Herrschaft der Osmanen wird über weite Strecken als monströs und gewalttätig geschildert, ihre Opfer sind vornehmlich die christlich-orthodoxe Bevölkerung, während die muslimische Population als Teil der Un- <?page no="90"?> 90 Wolfgang Müller-Funk terdrückungsmaschinerie erscheint, die an ihr ökonomisch und politisch partizipiert. Kernstück ist, ganz im Sinn der nationalen und nationalistischen Narrative des 19. Jahrhunderts, das Bild vollkommener Enteignung und Machtlosigkeit der christlich-orthodoxen bosnischen Bevölkerung. Die sogenannte Knabenlese, Sinnbild einer gewalttätigen patriarchalen symbolischen Ordnung, bildet die sinnfällige Erzählung hinter dem Brückenbau. Denn ihr Erbauer war eben Opfer dieser "Knabenlese", die darin besteht, christliche Knaben aus der Peripherie des Reiches an den Elof nach Istanbul zu bringen und zu beschneiden: Die reale und symbolische Beschneidung wird auf tückische Weise zur Chance auf den sozialen Aufstieg, der freilich m it einem vollständigen Identitätsverlust erkauft ist. Die brutale Einschreibung der fremden Macht in die eigene Bevölkerung ist das effektiv höchst wirksame Grundelement im Roman, das sich hinter dem Wunderwerk der Brücke auftut. In gewisser Weise endet die soziale Topographie der Ungleichheit mit dem Elerrschaftswechsel, der sich 1878 in der zuvor osmanischen Provinz ereignet. M it der Elerrschaft der Elabsburger ändern sich im Roman die Konstellationen vollständig. Elöchst ironisch verschwindet die Privilegierung innerhalb der unterworfenen Bevölkerung. War bis dato im Roman durch den Binarismuszwischen "Christen" und "Türken" maßgeblich, so eröffnet sich nunmehr die Möglichkeit, dass sich alle Volksgruppen unter der Führung der Serben im Kampfgegen den neuen Eindringling, die Österreicher, die "Schwaben", vereinigen: Alle zusammen gegen eine neue, nicht minder verhasste imperiale Fremdherrschaft, die freilich, wie an einigen Stellen deutlich wird, auch einen gewissen Fortschritt, Wohlstand und mittels der Fremden - Urbanität nach Wischegrad bringt. Jene binnen-bosnische Solidarität wird im Roman schon sehr schnell deutlich, wenn die Repräsentanten der vier Religionen, Orthodoxe, Muslime, Katholiken und Juden, beim neuen überaus arroganten österreichischen Statthalter vorstellig werden, um dort ihre gemeinsamen Interessen zu deponieren. Die Ereignisse vom 28. Juni führen in Wischegrad zur Verfolgung von Serben, aber auch zur Flucht von jungen Männern, die sich jener serbischen Armee anschließen wollen, die die Stadt beschießen. Es ist kein Zufall, dass der Roman m it der Zerstörung der Brücke und dem gewaltsamen Tod eines muslimischen Kaufmanns endet: Dort unten singen sie wohl. Dort unten ist auch die zerstörte Brücke, furchtbar und grausam in der M itte zerschnitten. Er braucht sich nicht umzuwenden - und er hätte sich auch um nichts in der Welt umgedreht um das ganze Bild zu sehen; der Pfeiler. Wie ein gewaltsamer Baumstumpf und in tausend Trümmern über die Umgebung verstreut, die Bögen links und rechts des Pfeilers jäh unterbrochen. Zwischen ihnen gähnt eine Leere von fünf- <?page no="91"?> Kraus. Musil. Roth, Andric und Iwaskiewicz mit Hans Blumenberg gelesen 91 zehn Metern. Und die abgebrochenen Seiten der getrennten Bögen streben schmerzlich zueinander.23 Die Brücke hat schon zuvor ihre Funktion verloren, nachdem sich mit dem neuen Imperium auch das Zentrum und damit die Verkehrsverbindungen verändert hatten. So bleibt die Zerstörung der Brücke symbolisch höchst ambivalent, erfährt das einstige Prachtstück Osmanischer Flerrschaft eine Umdeutung als ein Verbindungsstück zwischen den Ethnien der Stadt in einer Epoche, in der die nationalen Träume einer radikalisierten Generation, die in Sarajevo und Belgrad studiert, Wirklichkeit werden. So sagt der Geliebte der Lehrerin Zorka am St. Veits-Tag, unmittelbar nach den Ereignissen von Sarajevo, die geplante Auswanderung des Paars nach Amerika ab, um in den Reihen der serbischen Armee kämpfen: "Der Krieg ist da, und unser Platz ist jetzt in Serbien."24 Es ist nicht unwichtig, zu erwähnen, dass der Roman während des Zweiten Weltkrieges geschrieben ist, also nach dem Scheitern des ersten südslawischen Staates und der Okkupation des Balkans durch die Truppen Hitlers und seiner Verbündeten. Wenn die Leserschaft mit dem Erzähler oder auch mit dem muslimischen Händler über die geborstene Brücke trauert, dann auch deshalb, weil implizit eine erfolgreichere Wiederholung der ersten jugoslawischen Nationsbildung auf die Tagesordung kommt, die nach der Niederwerfung des Nationalsozialismus geschichtliche Wirklichkeit werden soll. Aber wie Erinnerungen bleiben auch Erzählungen, die ja immer auch Interpretationen von Geschehnissen sind, nicht stehen. Dass viele Menschen auch innerhalb des heutigen post-jugoslawischen Raumes die Ereignisse vom 28. Juni 1914 anders erzählen als zum Zeitpunkt der Niederschrift und der Publikation des Romans, hat m it den nachfolgenden Ereignissen grundlegend zu tun. Man kann diesen Roman nicht lesen ohne jene Kriege, die vermutlich unwiederbringlich den jugoslawischen Traum zerstört haben. Die Ereignisse des Sommers 1914 können heute nur schwerlich als schmerz- und gewaltsamer Beginn einer erfolgreich verlaufenen Nationalgeschichte gelesen werden, und man wird auch schwerlich jene Analogien verschweigen können, die sich zwischen der politischen Gewalt von damals und jener von heute auftut. (Im übrigen ist das Phänomen des politischen Terrors schon lange vor dem 11. September wieder ein bedeutsames Ereignis - Robert Musil und einem zugegebenermaßen problematischen Autor, Ernst Jünger, aufgefallen.25) 23 Andric 1993, p. 406; Andric 1963, p. 344. 24 Andric 1993, p. 364; Andric 1963, p. 309. 25 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Niemand zu Flause. Wien: Czernin 2005. <?page no="92"?> 92 Wolfgang Muller-Funl. Nebenbei bemerkt, sind ich meine jetzt nicht die erfolgreichen Fernseh-Seifenopern auch Revisionen im Gange, die die osmanische Herrschaft nicht schönreden, aber doch modifizieren und differenzieren. Im Sinne eines transnationalen Kulturdialogs sind solche Anstrengungen so schmerzlich wie unvermeidlich. 5. Odessa, einige Tage nach dem 28. Juni 1914: Jaroslaw Iwaskiewicz' Roman Slawa i Chwala M it einem überaus warmen Sommertagen Anfang Juli 1914 beginnt Jaroslaw Iwaskiewicz' Roman Slawa i Chwala (1954-1956, deutsch Ruhm und Ehre, 1960), ein typisches Werk der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit dem unbescheidenen Anspruch eines nationalen Epos geschrieben, dessen Vorbild, Tolstojs Krieg und Frieden, unübersehbar ist. Das Werk setzt mit den kritischen Tagen nach dem 28. Juni ein und endet mit dem Kriegsausbruch 1939. Eine Figur der Wiederholung; der Roman ist in die folgende Kreisform gepasst, beginnend mit "Es war in den ersten Julitagen des Jahres 1914"26 und zum Abschluss mit dem ebenso kurzen Satz: "Die ersten Bomben des Tages explodierten dumpf irgendwo in der Ferne."27 Dazwischen ist eine pralle Flandlung von verschiedenen Familien gestellt, Adligen, Bürgerlichen, Arbeitern und Künstlern. Es sind wie für die männliche Flauptfigur des Romans, den jungen Adligen Janusz, Lehrjahre des Lebens in Zeiten katastrophal bedeutsamer Ereignisse. Iwaskiewicz bedient sich der Technik des Datums, um Bedeutsamkeit zu schaffen. Die einzelnen Daten seiner polnischen Chronik sind im Roman strukturbildend, etwa das Jahr 1914, der Ausbruch der Oktoberrevolution 1917, 1918 das Jahr der Staatsgründung, 1926 der Beginn des autoritären Regimes Pilsudski, 1933 und 1939. Es ist dies die überaus komplexe Geschichte eines kulturell heterogenen Raumes, in der verschiedene Völker und Akteure eine Rolle spielen, Russen, Deutsche, Österreicher, Ukrainer und eben - Polen. Politisch sind es die Vertreter diverser Nationalismen, die Repräsentanten der untergehenden Imperien sowie im Roman durchaus prominent die Bolschewiken. M it Roth und Andrić hat der Roman gemein, dass er an einem peripheren Ort einsetzt, im Schwarzmeer-Hafen Odessa, dessen ethnische Zuordnung auf Grund der kulturellen Heterogenität durchaus unsicher ist. 26 Iwaskiewicz, Jaroslaw: Ruhm und Ehre. Übers, von Klaus Staemmler: München. Langen 1960, p. 8. Polnische Ausgabe: Slawa i Chwala. Warszawa: Panstwowy Inst. Wydawn 1985. 27 Ibid., p. 817. <?page no="93"?> Kraus, Musii, Roth, Andrić und iwaskiewicz mit Hans Blumenberggeiesen 93 Anders als im Radetzkymarsch ist zunächst die Distanz zum Krisengebiet, das den Weltbrand auslöst, unverkennbar, so etwa wenn sich der spätere Bolschewik Wolodja und der spätere Anhänger der polnischen Nationalbewegung Janusz Myszinski nach einem Vortrag über die Schlacht bei Tannenberg über die Ereignisse unterhalten: Wolodja lächelte ein wenig spöttisch. "Also haben Sie nichts gemerkt? " "Nichts, gar nichts." "Glauben Sie, daß es Krieg gibt? " "Was? Krieg? " fragte Janusz erstaunt. "Wieso Krieg? Menschen sollen auf Menschen schießen und sich deshalb totschlagen? Das kann doch in Europa nicht mehr Vorkommen. Die Menschen haben sich den Krieg abgewöhnt! " "Sie glauben also, der Frieden sei ewig? "28 Damit wird ein Narrativ in Gang gesetzt, das davon erzählt, wie unerwartet die kriegerische Zuspitzung der Ereignisse für die meisten Menschen kommt. Anders als Wolodja trifft seinen Freund der Kriegsausbruch vollkommen unvorbereitet. Der Krieg ist in dem scheinbar pazifizierten Europa das schier Unvorstellbare schlechthin und stellt sich so schon von Anfang an als ein großes Rätsel dar. Die Bedeutsamkeit der Tage vor dem Kriegsausbruch in Slawa i Chwala besteht indes nicht allein in der Plötzlichkeit und dem Schock eines unerwarteten Ereignisses, sondern vor allem auch darin, dass sie ein weiteres markantes Ereignis auf den Plan ruft, die Oktoberrevolution von 1917 und den Separatfrieden von Brest-Litowsk: ein Ereignis, das zwei Fenster öffnet, eines zu einer radikalen sozialen Revolution, und das andere hin beinahe hundertfünfzig Jahre nach der polnischen Teilung zur polnischen Nationsbildung. Das Besondere des magischen Jahres 1914 liegt in seiner auslösenden Kraft, die das Geschehen von Sarajevo und selbst die sich daran anschließenden Kriegshandlungen in den Schatten stellt. Die Bedeutsamkeit historischer Ereignisse mag nicht zuletzt darin gegründet sein, dass diese den einzelnen Menschen übersteigen, jenen einzelnen, der von ihnen erfasst, gestoßen, niedergedrückt und deplatziert wird. Dies alles widerfährt den scheinbar auf sicherem Boden gegründeten Adels- und Bürgersfamilien in Odessa und in der Ukraine denn erst zu einem späteren Zeitpunkt, wird sich der Raum der Flandlung nach Westen, nach Warschau und seine Umgebung verlagern, dorthin, wo die Protagonisten und Protagonistinnen Fremde im eigenen Land sind. Manche von ihnen verschlägt es weiter nach New York oder Paris. 28 Ibid., p. 37. <?page no="94"?> 94 Wolfgang Müller-Funk Janusz, die wichtigste Figur in Werk, ist ein Nachfahre der Helden des Bildungsromans. In romantische Liebe zur Schwester eines Bolschewiken das mag Joseph Roth-Leser an Die Flucht ohne Ende erinnern verstrickt, schließt sich dieser späte, polnische Pierre Besuchow zunächst den Kommunisten an, um sich schließlich für die polnische Nationalarmee rekrutieren zu lassen. In einer weiteren Volte wird der soziale und fortschrittliche Gutsherr im Unterschied zu vielen seiner Standesgenossen - und das ist das passende Narrativ für das kommunistische Nachkriegspolen polnisches Nationalbewusstsein und soziales Engagement miteinander verbinden; diese exemplarische Entwicklung des Protagonisten zielt auf die in den 1950er Jahren aktuelle Ideologie der Versöhnung von nationalem Bewusstsein und sowjetischem Sozialismus. Heute ist sie selbstredend historische Makulatur. Als hochkarätige literarische Quelle historisch gewordener Zeitströmungen liest sich dieser vor allem in seiner Figurenpsychologie überzeugende Roman, der wie aus dem 19. Jahrhundert ins 20. gekommen ist, allemal m it Gewinn er funktioniert wie eine mental map jenes Zwischenraumes, der heute symbolisch im wesentlichen von den Nationalstaaten Polen und Ukraine bestimmt ist. Interessant an Jaroslaw Iwaskiewicz' Roman ist indes noch ein ganz anderes Moment, legt er doch nahe, die Jahre zwischen 1914 und 1939 bzw. 1945 als eine einzige Epoche zu begreifen, als eine Abfolge von Kriegen, Bürgerkriegen, ideologischen Kämpfen, Deplacierungen und Emigrationen, von denen diejenigen, die das Attentat von Sarajevo planten, ebenso wenig Ahnung hatten wie die europäische Politik, die die Kettenreaktion auslöste, die zum Krieg führte. Es könnte also sein, dass, wie schon eingangs bemerkt, jener Krieg, der mit dem Attentat von Sarajewo begann, im Sinne einer einzigen Erzählung gefasst wird, die diesen als einen 30-jährigen Krieg des 20. Jahrhunderts begreift. In diesem Sinne rückten der Prager Fenstersturz und das dilettantische Attentat vom 28. Juni in ein Verhältnis der Ähnlichkeit ein. Um aber noch einmal zur Frage der Bedeutsamkeit und des Datums zurückzukommen: Es ist sinnfällig, dass die überwiegende Mehrzahl moderner Romane nicht sonderlich an der Magie der Daten großer Ereignisse interessiert ist. Die hier behandelten Romane kreuzen zwar die zeitlich fixierten 'historischen' Ereignisse, aber ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in ihnen. Denn recht eigentlich interessiert die moderne Literatur, die den traditionellen historischen Roman weit hinter sich gelassen hat, nicht die Oberbühne des politischen Geschehens, sondern doch viel eher die Tiefenstruktur, die ganz andere Veränderungen und Wandlungen zutage fördert als den Alltag der Politik, der durch das Spiel von Zahl und Korrespondenzen, durch das Verschleifen von Zeit und Kausalität Bedeutsamkeit erlangt. <?page no="95"?> Kraus, Musil, Roth, Andrić und Iwaskiewicz mit Hans Blumenberg gelesen 95 Eckdaten wie der 28. Juni können dabei gleichsam als Rahmen für Erzählungen fungieren, die sich mit Notwendigkeit ändern. Flauberts Field etwa verschläft Revolution in Paris anno 1848 im Bett einer Kokotte. Auch wenn wie im Fall literarischer Texte die narrative Struktur scheinbar ein für allemal fixiert ist, dann ändern sich doch deren Interpretationen, die immer auch Formen verändernden Nacherzählens in sich tragen. Kraus' unmäßiges Theaterstück weiß noch nichts vom Kriegsausbruch anno 1939, Robert Musils Roman ist nicht zuletzt daran gescheitert, dass die Zeitläufe - 1933 und 1939 erbarmungslos über die narrative Komposition hinweggegangen sind und der Zeithorizont bei Ivo Andric und Jaroslaw Iwaskiewicz verläuft sich in der absurden Epoche des realen Sozialismus. Aber jedes der späteren europäischen Daten, 1933, 1939, 1945, 1956, 1968 oder 1989, hat den Ereignissen, die mit dem höchst laienhaften Attentat in Sarajevo begannen, neue Bezugsmöglichkeiten erinnernden Erzählens verschafft, die zum Zeitpunkt des crimen unabsehbar waren. 1930 gab es noch keinen weiteren Krieg, der retrospektiv den vergangenen als den ersten erschienen ließ und wer unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg über die epochalen Ereignisse schrieb, der wusste noch nichts von jener Wende von 1989, als deren Vorboten man heute unzweifelhaft 1956 und 1968 betrachten kann. <?page no="97"?> EREIGNIS, IDEOLOGIE, ÖKONOMIE <?page no="99"?> Z i j a d Š e h i ć ( S a r a j e v o ) Der Tag, der die W e lt veränderte Das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 This contribution discusses the historical basis for the Shots of Sarajevo with a special focus on the political processes in South-Eastern Europe until 1914. Particularly the role of international diplomacy will be analyzed, whereby the aspect of public and closet national endeavors and plans deserves special attention. The impact and aftermath of the Sarajevo Attentat will be treated as well, as will be its perception within the Yugoslav State until his final dissolution in 1992. Am Morgen des 28. Juni 1914 wurde Sarajevo zum Epizentrum des Weltgeschehens. Die Stadt bereitete sich auf den Empfang des Oberbefehlshabers der österreichisch-ungarischen Armee, des Thronfolgers und Erzherzogs Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie vor. Zuvor hatten auf dem Gebiet zwischen dem Berg Igman und Sarajevo große Armeemanöver stattgefunden, bei denen auch der Erzherzog anwesend war. An diesem Morgen waren die Straßen geschmückt und voll von Bürgern. Unweit der Brücke Ćumurija wurde das Attentat verübt. Nedjeljko Čabrinović warf eine Bombe auf den Wagen, in dem der Erzherzog m it seiner Gattin fuhr. Das Attentat störte nicht den weiteren Programmablauf und der prominente Gast setzte seinen Weg zum Stadtrathaus fort. Nachdem der offizielle Protokollempfang dort abgeschlossen war, machte sich der Erzherzog m it seiner Gefolgschaft auf demselben Weg auf die Heimrreise. Bei der Lateinerbrücke wurde das zweite Attentat verübt. Gavrilo Princip schoss und tötete den Erzherzog und seine Ehefrau Sophie.1 Am 28. Juni 1914 fanden die Vorbereitungen für die Sankt-Veits-Tag- Feier statt. Auf diesen Tag fiel der 525. Jahrestag der Schlacht am Amselfeld, der als die "Befreiung" des serbischen Volks gefeiert wurde. Vier volle Monate arbeitete ein besonderer Ausschuss daran, diese Feier so feierlich wie möglich zu gestalten, als eine grandiose serbische Volksvorführung. Die Propagandaaktionen für diese Feier begannen zeitgleich in Kroatien, Dalmatien und Bosnien-Herzegowina, und den Teilnehmern wurde eine kostenlose Fahrt m it den serbischen Staatseisenbahnen sowie günstige Unterkunft und Verpflegung in Aussicht gestellt. Die Gäste wurden mit 1 Redžić, Enver: Omladinski pokret i Sarajevski atentat. In: Prilozi za istoriju Bosne i Hercegovine II. Sarajevo: ANUBiH 1987 (= Sonderausgaben, Band LXXIX, Odjeljenje društvenih nauka, Buch 18), p. 326f. <?page no="100"?> 100 Zijad Šehić Sonderzügen zur Feier gebracht. Verschiedene feierliche Ansprachen waren von historischen Reminiszenzen durchsetzt, die auf den Ort der Feier bezogen waren, und sie variierten mehr oder weniger das Thema der Vereinigung aller Serben und der "Befreiung der unterjochten Brüder" jenseits der Donau und der Save sowie in Bosnien und Dalmatien. Als sich am Abend die Nachricht vom Sarajevoer Attentat verbreitete, machte sich unter den fanatisierten Massen in Belgrad, Niš, Priština und Skopje Begeisterung breit.2 Der russische Publizist Nikolai Jakowlewitsch Danilewski hatte im Jahre 1870 in einer in der Zeitschrift Zarja veröffentlichten Artikelserie unter dem Titel Russland und der Balkan den "Untergang des dekadenten Europa" angekündigt, "dessen Führung das moralisch mächtigere Russland übernehmen wird." Danilewski hielt den Balkan für ein Gebiet, der den Großmächten als historische Aufgabe zugedacht war, und behauptete, dass hier die Südslawen von den Osmanen vor der Germanisierung und dem Katholizismus bewahrt wurden, während die k.u.k. Monarchie den Westen wiederum vor dem Osmanischen Reich und dem Islam bewahrte. Da diese historischen Aufgaben erfüllt waren, behauptete er, hätten diese zwei Großmächte den Sinn ihrer weiteren Existenz verloren, und deren Platz sollte vom mächtigeren und moralischeren Russland übernommen werden. Danilewski hatte schon damals die geographische Karte abgesteckt, die sich 1919 erfüllen sollte: Darauf waren der tschechoslowakische Staat, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, Bulgarien, Rumänien und der ungarische Staat verzeichnet. Danilevskis Manuskript stellte in Russland das Konzept für die praktische Politik dar und wurde für die "politische Bibel m it den zehn Geboten der kaiserlichen Außenpolitik"3gehalten. In der Zeit, als Danilewski seine Schrift verfasste, machte man sich in Serbien an die Verwirklichung der früher formulierten außenpolitischen Ziele, die auf einen Anschluss der historisch und ethnisch für serbisch gehaltenen Gebieten ausgerichtet waren. In diese Richtung gingen auch die Bemühungen, "die Idee von Bosnien-Flerzegowina als einem serbischen Land unter der orthodoxen Bevölkerung zu verbreiten."4 Beim Berliner Kongress konnte nur Österreich-Ungarn Serbien helfen. Für die versprochene Flilfe Unterzeichneten der serbische Minister Ristić und k.u.k. Außenminister Andrassy am 26. Juni 1878 ein Abkommen, mit dem Serbien sich verpflichtete, eine Eisenbahnstrecke Belgrad - Niš mit 2 Austrougarska crvena knjiga diplomatske isprave kojima se objašnjava kako je došlo do rata. 1914. godine. Zagreb: Kraljevska zemaljska tiskara 1915, p. 8. 3 Šehić, Zijad: Atentat, mobilizacija, rat. Sarajevo: Prilozi, Institut za istoriju 2005 (Bd. 34), p. 23. 4 Diese Ziele datieren seit der Gründung des neuen serbischen Staates 1830, und an ihre Verwirklichung machte man sich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts. <?page no="101"?> DerTagi der die Welt veränderte 101 Anschlüssen nach Pirot und Vranje zu bauen und m it Österreich-Ungarn einen Handelsvertrag abzuschließen oder eine Zollunion zu gründen.5 Durch die am 28. Juni 1881 in Wien abgeschlossene Geheimkonvention verpflichtete sich Fürst Milan, ohne Einwilligung Österreich-Ungarns keinerlei Agitation aus Serbien gegen Österreich-Ungarn zuzulassen, wobei er auch das besetzte Bosnien-Herzegowina und den Sandschak meinte. Die Monarchie nahm dieselben Verpflichtungen auf sich und versprach, die serbischen Interessen im Süden zu unterstützen und Fürst Milan als König anzuerkennen.6 Dieser Geheimvertrag, der auf zehn Jahre abgeschlossen und am 9. Februar 1889 bis zum 13. Januar 1895 verlängert wurde, wurde durch die Verpflichtung Österreich-Ungarns ergänzt, sich bei Bedarf auch m it Waffengewalt den Anfeindungen Montenegros gegen Serbien und dessen Dynastie zu widersetzen und auch das Osmanische Reich zu einer ähnlichen Haltung zu bewegen.7 Zu Veränderungen kam es im Jahre 1889, als die erste radikale Regierung gebildet wurde, die gegen Bosnien-Herzegowina gerichtet war. Seitdem betonte man ganz besonders die Souveränität des Sultans, wodurch man die Gunst der Muslime gewinnen wollte, um somit den Weg für die Vereinigung Serbiens und Bosnien-Herzegowinas, in dem "ein serbisches Volk m it drei Glaubensgesetzen" lebe, zu ebnen. Diese Haltung stand im Gegensatz zur kroatischen Nationalpropaganda, die gleichfalls die These vom kroatischen Charakter Bosnien-Herzegowinas und vom kroatischen Nationalgefühl der Muslime vertrat, was den Weg für die Vereinigung der kroatischen Länder ebnen sollte ein Konzept, das auch Bosnien-Herzegowina einschloss. Da dies innerhalb der Monarchie verwirklicht werden sollte, hielt die österreichisch-ungarische Verwaltung diese Tendenzen "für weniger gefährlich als die großserbischen."8 Im Gegensatz zur offiziellen austrophilen Politik Serbiens versuchten die serbischen Radikalen, das Interesse der europäischen Öffentlichkeit für Bosnien-Herzegowina zu wecken. In Paris wurde 1899 das Buch La Popović, Vasilj: Istočno pitanje - Istorijski pregled borbe oko opstanka osmanske carevine u Levantu i na Balkanu. Sarajevo: Zavod za izdavanje udžbenika '1965, p. 178; Gooß, Roderich: Das österreichisch-serbische Problem bis zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, 28. Juli 1914. DieVorgeschichte des Weltkrieges. Bd.X. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Polibk und Geschichte 1930, p. 57. 6 Pribram, Francis: Die polibschen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879-1914. Wien: Braumüller 1924, Bd. 1, pp. 18 -23. Nachdem Rumänien sich im Mai 1881 zum Königreich erklärt hatte, wurde auch Fürst Milan im März 1882 zum König ausgerufen. 7 Popović 1965, p. 183. * Juzbašić, Dževad: Polibka i privreda u Bosni i Hercegovini pod austrougarskom upravom. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosb Bosne i Hercegovine 2002 (=Sonderausgaben, Band CXVI, Odjeljenje društvenih nauka, Buch 35), p. 198. <?page no="102"?> 102 Zijad Šehić Bosnie et I'Herzegovine von Miroslav Spalajković veröffentlicht, seine drei Jahre zuvor verteidigte Dissertation. Dort wurde behauptet, dass sich "in Bosnien und der Herzegowina der wertvollste Teil der serbischen Rasse befindet und dass für Serbien und Montenegro die Frage der Aneignung dieser Länder von existenzieller Bedeutung ist."9Spalajković betonte, dass Österreich-Ungarn sein Mandat entzogen werden müsse, und zwar wegen der Unfähigkeit seiner Regierung, in Bosnien-Herzegowina eine stabile Ordnung einzurichten und die Agrarfrage zu lösen, sowie wegen der Tatsache, dass die Bevölkerung eine Rückkehr unter die osmanische Herrschaft ihrer Lage unter der österrreichisch-ungarischen Verwaltung vorziehe.10 Spalajkovićs Idee, der Monarchie ihr Besatzungsmandat entziehen zu müssen, war auch in den propagandistischen Antiregierungspublikationen der muslimischen Bewegung vertreten, die von der Druckerei von Svetozar Miletić in Novi Sad herausgegeben wurden. So wurde in der Broschüre Bezakonja okupacione uprave u Bosni i Hercegovini (Gesetzlosigkeiten der Besatzungsregierung in Bosnien-Herzegowina), die von Ehli Islam herausgegeben und geschrieben wurde (Novi Sad 1901), unter anderem betont, "dass die Unzufriedenheit des Volkes solange andauern wird, bis Bosnien-Herzegowina wieder unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches steht, oder bis diese Gebiete eventuell eine Selbstverwaltung erlangen". Es wurde ebenfalls betont, dass "das islamische Volk sich dessen bewusst ist, dass der Herrscher Bosnien-Herzegowinas derjenige ist, der zugleich auch das Haupt des islamischen Glaubens ist, und das ist seine Majestät, der türkische Sultan."11 Die Herrschaft von Aleksandar Obrenović in Serbien stellte noch mehr eine Kette von Erfolglosigkeiten dar als die Herrschaft seines Vaters. Den Höhepunkt der Unzufriedenheit löste sein Privatleben aus, allem voran seine Ehe, welche die öffentliche Meinung und die bis dahin loyalen Offiziere herausforderte. In Folge ermordete eine aus Militärs bestehende Verschwörergruppe mit Dragutin Dimitrijević Apis an der Spitze in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai 1903 König Aleksandar und Königin Draga. Dieser Mord stürzte die Dynastie der Obrenović vom Thron, und zusammen mit ihr auch die austrophile Politik, die Serbien wirtschaftlich und politisch an Österreich-Ungarn band.12 Die Ermordung des serbischen Königspaares bedeutete auch eine starke Kehrtwende in den Beziehungen zwischen Wien und Belgrad. 9 Südland, L von: Južnoslavensko pitanje. Prikaz cjelokupnog pitanja. Varaždin: Izdanje Matice hrvatske 1943, p. 295. 10 Ibid. 11 Juzbašić 2002, p. 198. 12 Gladt, Karl: Kaisertraum und Königskrone. Aufstieg und Untergang einer serbischen Dynastie. Graz, Wien, Köln: Styria 1972, pp. 4 0 2-42 6. <?page no="103"?> DerTag, der die Welt veränderte 103 Der neue Kurs der Regierung in Belgrad und die Emanzipation von der österreichisch-ungarischen Vorherrschaft führten zu einer Verschärfung der Beziehungen zur Habsburger Monarchie. Durch die politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlüsse, die sich von 1904 bis 1906 auf dem Balkan ereigneten, vom kroatisch-serbisch-ungarischen Kampf für die Unabhängigkeit bis hin zur serbisch-bulgarischen Zusammenarbeit die von einer inneren Krise Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs begleitet waren zeichnete sich allmählich der Rahmen der künftigen Ereignisse auf dem Balkan ab. Im Jahre 1904 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Monarchie und Serbien. Nachdem Serbien seine propagandistischen Bemühungen in den südslawischen Gebieten der Monarchie verstärkt hatte, unternahm diese militärische und politische Maßnahmen, um diese Bemühungen zu bekämpfen, denn sie stellten immer mehr die Integrität und Autorität der Monarchie in Frage.13 Bei einer Sitzung des gemeinsamen Ministeriums vom 30. April 1908 kritisierte Minister Aehrenthal Serbiens Außenpolitik, die "im kroatischen Slawonien und Bosnien-Herzegowina großserbische Ideen verbreitet hatte." Bei derselben Sitzung betonte der ungarische Regierungspräsident, dass "die subversive Bewegung in den südslawischen Ländern nicht zum Schweigen gebracht werden wird, bis die Annexion erfolgt ist."14 Solche Meinungen wurden auch von der Presse unterstützt. Die Regierung in Wien war der Meinung, dass die aus Belgrad geführte Agitation und Propaganda die Hauptursache der verstärkten Unruhen unter der südslawischen Bevölkerung darstelle. Tagtäglich erschienen in Wien warnende Meldungen über das "revolutionäre Ziel der serbischen Geheimorganisationen, die subversiven Agentenaktivitäten und die Hetze der Belgrader Presse."15 Im Rahmen der Vorbereitungen auf die Annexion von Bosnien-Herzegowina spielte die Presse eine außerordentlich wichtige Rolle. Als ein erprobtes Mittel 13 Đorđević, Dimitrije: Srbija i Balkan na početku XX veka. In: Jugoslovenski narodi pred prvi svetski rat. Beograd: SANU 1967, p. 228. 14 Suppan, Arnold: Zur Frage eines österreichisch-ungarischen Imperialismus in Südosteuropa. Regierungspolitik und öffentliche Meinung um die Annexion Bosniens und der Herzegowina. In: Wandruszka, Adam et al. (Hg.): Die Donaumonarchie und die südslawische Frage von 1848 bis 1918. Texte des ersten österreichisch-jugoslawischen Historikertreffens Gösing 1976. Vienna: ÖAW 1978, pp. 103-131, cit. p. 118; Baernreither, Joseph Maria: Fragmente eines politischen Tagebuches. Die südslawische Frage und Österreich-Ungarn vor dem Weltkrieg. Berlin: Verlag für Kulturpolibk 1928, p. 77. 15 Südland 1943, p. 504. Die österreichisch-ungarischen Diplomaten, Militärberichterstatter und Konfidenten brachten belastendes Material gegen Serbien ans Tageslicht. Immer häufiger wurden auch in der Presse Überschriften zur Situabon in Bosnien-Herzegowina. So schrieb die Neue Freue Presse in einem Artikel unter dem Titel Bosnische Zustände am 21. März 1908: "Aus Sarajevo kommen seltsame Meldungen. Fast könte man glauben, sie seien nicht aus dem Jahre 1908, sondern aus Venedig und aus dem Jahre 1859." (zit. ibid.) . <?page no="104"?> 104 Zijad Šehić für die Unterstützung von politischen Zielen sollte sie den diplomatischen Aktivitäten vorangehen.16 Minister Aehrenthal wollte in Bosnien-Herzegowina ebenfalls eine publizistische Kampagne mit dem Ziel der "Schaffung freundschaftlicher Gefühle der Monarchie gegenüber sowie einer scharfen Reaktion gegen Serbien" beginnen. M it diesem Ziel setzte sich die Wiener Regierung m it dem Chef der Redaktion des bosnischen Blattes Bosnische Post Hermengild Wagner in Verbindung und ließ ihm Informationen, Anweisungen und entsprechende finanzielle Mittel zukommen.17 Am 25. Juli 1908 brach die Jungtürkische Revolution aus. Die Möglichkeit der Einführung einer Verfassung bedeutete gleichzeitig auch die Gefahr, dass das Osmanische Reich seine Rechte auf Bosnien-Herzegowina geltend machen könnte. Deswegen beschleunigte Aehrenthal die Vorbereitungen für die Annexion. Am 4. August 1908 vereinbarte Baron Rauch m it Dr. Weckerle die Einzelheiten im Zusammenhang mit der Verhaftung von serbischen 'Hochverrätern'. Am 6. August legte Aehrenthal mit Minister Buriän die Vorbereitungen für die Annexion fest, und bereits am 7. August fand die Verhaftung des ersten der 53 Mitglieder der Serbischen Unabhängigen Partei statt.18Zwecks Durchführung der geplanten politischen Entscheidungen betonte Minister Aehrenthal am 19. August 1908 bei der Eröffnung der Sitzung des Ministerrats, dass wegen der Veränderungen im Osmanischen Reich zwei Fragen oberste Priorität erlangt haben, die nach einer dringenden Lösung verlangten: die Annexion Bosnien-Herzegowinas und der Rückzug der österreichisch-ungarischen Garnisonen aus dem Sandschak. Aehrenthal hob weiters hervor, dass "die wichtigste Voraussetzung für die Arbeit an der Annexion die Erlangung einer Vereinbarung über die staatsrechtlichen Fragen zwischen den Regierungen Österreichs und Ungarns darstellte."19 Da er die Folgen der Annexion von Bosnien-Herzegowina abschwächen wollte, versuchte Aehrenthal, Bulgarien zu einer Unabhängigkeitserklärung zu bewegen. Auf Einladung Kaiser FranzJosephs hielt sich das bulgarische Fürstenpaar am 23. und 24. September in Budapest auf. Bei dieser Gelegenheit wurde eine Vereinbarung getroffen: Österreich-Ungarn würde Bosnien-Herzegowina annektieren und Bulgarien seine Unabhängigkeit erklären.20 Minister Iswolski hatte seine diplomatische Mission noch 16 Gemeinhardt, Alfred Heinz: Deutsche und österreichische Pressepolitik während der Bosnischen Krise 1908/ 1909. Husum: Matthiesen 1980 (= Historische Studien 137), p. 402f. 17 Ibid., p. 90. 18 Gross, Mirjana: Povijest pravaške ideologije. Zagreb: Institut za hrvatsku povijest 1973, p. 359. 19 ÖUAP, I, Nr. 40. 20 Vinogradov, Kirill B.: Bosnuskn krizis 1908-1909 gg. Prolog pervot mirovol votny. Leningrad: Izd-vo Leningradskogo universiteta 1964, p. 78. <?page no="105"?> DerTag, der die Welt veränderte 105 nicht zu Ende geführt, als die Annexion und die Unabhängigkeitserklärung erfolgten. Der österreichisch-ungarische Souverän Unterzeichnete am 5. Oktober die Dokumente für die Annexion Bosnien-Herzegowinas. In der Presse wurde sie am 6. Oktober verkündet, und in der amtlichen Wiener Zeitung am 7. Oktober.21 Durch einen eigenhändigen Briefdes Kaisersvom 5. Oktober wurde Buriän die Vollmacht für die Ausarbeitung einer bosnisch-herzegowinischen Verfassung erteilt.22 Durch die Verkündigung der Annexion von Bosnien-Herzegowina und die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens brachen auf dem Balkan zwei Feuer aus, die sich zu einem Großbrand auszudehnen drohten. Die Großmächte hatten eine schwere Aufgabe vor sich: die gefährliche Situation auf die bestmögliche Art und Weise zu lösen, ohne dabei ihren Einfluss zu verlieren oder zu schwächen. Obwohl die Annexion von Bosnien-Herzegowina in den politischen Zentren Europas große Aufmerksamkeit auslöste, kamen aus Serbien besonders heftige Reaktionen. Die Nachricht von der Annexion Bosnien-Herzegowinas wurde in Belgrad am 2. Oktober 1908 verkündet. In einer Sondernummer inform ierte das Blatt Politika im Artikel Das bulgarische Königreich die Annexion Bosniens die Belgrader Öffentlichkeit vom bevorstehenden Schritt der österreichisch-ungarischen Regierung. Am selben Tag fand in Belgrad das erste Protestmeeting statt, das eine ganze Serie von in den nächsten Tagen abgehaltenen Treffen und Demonstrationen auslösen sollte.23 Die füh renden Politiker aller Parteien und die Presse verlangten von Minister Milovanović ein energisches Eintreten für die serbische Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina.24 Bereits während der Annexionskrise erschienen zahlreiche Werke von Politikern, Wissenschaftlern und angesehenen Menschen aus dem öffentlichen Leben, vor allem von unmittelbar Beteiligten aus Österreich-Ungarn und Serbien, die ihre Meinungen im Zusammenhang mit den aktuellen politischen Ereignissen kundtaten. Diese Werke sollten zugleich die offiziellen Standpunkte der Regierungen unterstützen und der europäischen Öffentlichkeit eine Sicht der bestehenden Probleme liefern, die vor allem 21 Popovic 1965, p. 198. 22 Kapidžić, Hamdija: Pripremanje ustavnog perioda u Bosni i Hercegovini (1908-1910). In: Godišnjak Istohjskog društva BiH X (1959), p. 126. 22 Miličević, Jovan: Javnost Beograda prema aneksiji Bosne i Hercegovine. In: Jugoslovenski narodi pred prvi svjetski rat. Beograd: SANU 1967, p. 553f.; vgl. Lepsius, Johannes / Mendel- Bertholdy, Albrecht Mendelssohn / Thim m e, Friedrich (Hg.): Die Grosse Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung der diplomatischen Dokumenten des Auswärtigen Amts. 40 Bde. Berlin: 1922-27, Bd. 26/ 1 (1925), Nr. 9090 und ÖUAP I, Nr. 147. 24 Đorđević, Dimitrije: Carinski rat Austro-Ugarske i Srbije 1906-1911. Beograd: Istorijski institu t 1962, p. 530. <?page no="106"?> 106 Zijad Šehić an den eigenen politischen Bedürfnissen ausgerichtet war.25 Als etwa der Vortrag von Professor Ferdo Šišić über die Annexion von Bosnien-Herzegowina, den er in Ljubljana gehalten hatte, veröffentlicht wurde, antwortete Professor Stanoje Stanojević: Nachdem ich das Buch, in dem Sie aufgrund von historischen Rechten Bosnien-Herzegowina für die Kroaten fordern, gelesen hatte, fiel mir eine bedeutende und lehrreiche Episode aus der Vergangenheit ein. Als einst die Gallier gegen Rom zogen, konnten die in den Rechtswissenschaften gut bewanderten Römer nicht verstehen, wie denn die Gallier Rom stürmen können, wenn sie dafür keine einzige Rechtsgrundlage haben. Der Abgesandte des römischen Volkes und Senats fragte daher mit dem Pathos des gallischen Heerführers: Was für ein Recht habt ihr denn auf Rom? - Unser Recht befindet sich auf den Spitzen unserer Schwerter erwiderte der gallische Heerführer. Dieselbe Antwort werden die Serben den Kroaten an dem Tag erteilen, wenn es zum großen Kampf um Bosnien-Herzegowina kommt. Unser Recht ist die Kraft unseres Volkes. Das Recht der Kraft unseres Volkes und das Recht unserer Bajonette wird wichtiger und stärker sein als Ihr Recht, das mit der Waage gewogen werden kann. Der Kampf des serbischen Volkes in Bosnien-Herzegowina wird ein großer Volkskampf sein. Fallen Sie und Ihre Herren nicht einem Wahne zum Opfer. Wenn unser Volk und unsere Armee in diesen großen heiligen Krieg zieht, ziehen wir in dieses Gemetzel nicht, um Länder zu erobern oder Rechte zu verteidigen. Nein, in diesen Kampf ziehen wir, um unser Leben zu verteidigen. Denn ohne Bosnien-Herzegowina gibt es kein Leben fürSerbien und Montenegro. Denn Bosnien-Herzegowina ist das sollten Sie und Ihre Herren sich gut merken dem serbischen Volke dasselbe wie Serbien oder Montenegro.26 Auch auf dem diplomatischen Parkett zeigte Serbien große Aktivitäten. Bereits am 7. Oktober 1908 schickte die Regierung an alle Großmächte, die den Berliner Vertrag unterzeichnet hatten, eine Protestnote, in der sie energisch gegen die Annexion von Bosnien-Herzegowina protestierte, und verlangte "die Wiederherstellung der vorherigen Verhältnisse oder eine entsprechende Entschädigung für Serbien und Montenegro, die Serbien ein unabhängiges Staatsleben und das Überleben des serbischen Volkes 25 Es handelt sich vor allem um die Polemik zwischen Wien und Belgrad über die historische Zugehörigkeit von Bosnien-Heizegowina. Siehe unter anderem: Cvijić, Jovan: Aneksija Bosne i Hercegovine i srpski problem. Beograd: Državna štamparija Kraljevine Srbije 1908; Doutchich, Jovan: L'Annessione della Bosnia e dell' Eizegovina e Ia questione Serba. Roma: Tipografia Iabicana 1909; Georgewitsch, Wladan.: Die serbische Frage. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1909; Markowitsch, Božidar: Die serbische Auffassung der bosnischen Frage. Berlin: Ebering 1908; Fournier, August: W ie wir zu Bosnien kamen. Wien: Reisser 1909; Nemecek, Ottokar: Der wirtschaftliche Aufschwung Bosniens und der Herzegowina. Wien: Reisser.1909; Sax, Carl: Die Wahrheit über die serbische Frage und das Serbentum in Bosnien. Wien, leipzig: Klinkhardt 1909; Šišić, Ferdinand: Nach der Annexion. Agram: Kroabsche Rechtspartei 1909; Vgl. Radojčić, N.: Die wichbgsten Darstellungen der Geschichte Bosniens. In: Südost-Forschungen XIX (1960), pp. 146-163. 26 Südland 1943, p. 360-361. <?page no="107"?> Der Tag, der die Welt veränderte 107 zumindest in dem Ausmaße, wie ihm das durch den Berliner Vertrag zugesichert wurde, gewährleisten würde."27 Die serbischen Politiker reisen in die europäischen politischen Zentren, um dort nach Unterstützung für ihre Forderungen zu suchen und Informationen über die Stimmungslage der Großmächte einzuholen. Minister Milovanović reist nach Berlin, London, Paris und Rom; Nikola Pašić und der Thronfolger Dorde reisen nach Sankt Petersburg und Stojan Novaković nach Istanbul. Im Oktober 1908 wurden in ganz Serbien Meetings, Straßendemonstrationen und Protestversammlungen abgehalten. Der österreichisch-ungarische Abgesandte Graf Forgäch meldete am 27. Oktober nach Wien, "das ganze Land ähnelt einem Irrenhaus und alle sind bereit zu sterben."28 Die Belgrader Öffentlichkeit war in kämpferischer Laune, allen voran ihre Jugend. Dies konnte man vor allem an der Aktion der Anmeldung und Vorbereitung der Freiwilligen für den gegen Österreich-Ungarn prognostizierten Krieg sehen.29Als die Bewegung für die Freiwilligenanmeldung immer stärker in Erscheinung trat, machte man sich an die Gründung einer Organisation, die die Aktionen im Kampf gegen die Annexion führen würde. So wurde bereits am 9. Oktober 1908 in Belgrad Die Volksabwehr gegründet, und bei der ersten Sitzung des Hauptausschusses wurde auch das Arbeitsprogramm verabschiedet.30 27 Gr. Pol., 26, 1, Nr. 9.091. 28 ÖUAP, I, Nr. 418. 29 Über die Haltung der serbischen Gesellschaftsschichten zur Annexion berichtete der belgische Abgesandte aus Belgrad: "Der serbische Bauer, ein im Allgemeinen konservatives Element, ist von der Idee beherrscht, dass der Freiheitskampf kein Ende finden wird, solange seine Blutsbrüder einem fremden Herrscher unterjocht sind. Der Krieg erscheint ihm unausweichlich. In den intellektuellen Kreisen wurde derG riffzu den Waffen als einziges Mittel für die Befreiung vom österreichisch-ungarischen Umfeld und für die Erschaffung des großserbischen Vaterlandes gesehen. Die Händler bleiben ausgeschlossen, größtenteils sind sie friedlich und wegen schlecht laufender Geschäfte entmutigt, sie verlangen Sondermaßnahmen als das einzige Mittel, das Land aus der Sackgases zu führen." (Zit. n.: Schwertfeger, Bernhard (Hg.) Die belgischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges. Bd. I. Berlin: Deutsche Verlagsgesellschaft f. Politik u. Geschichte 1925, Bericht aus Belgrad v. 27.11.1908, Nr. 28). 30 M iličević 1967, p. 561-562. Vgl. Davidović, M. Ljuba: Narodna odbrana. In: Die Kriegsschuldfrage. Berliner Monatshefte V (1927), p. 192-225. Im I. Kapitel Entstehung und Arbeit des ersten Volksschutzes heißt es, diese Gesellschaft sei aufgrund der in Serbien wegen der Annexion von Bosnien-Herzegowina ausgelösten Volksbewegung gegründet worden, und zwar mit den folgenden Zielen: 1. Erweckung und Stärkung des Volksgefühls; 2. Eintragung und Versammlung von Freiwilligen; 3. Formierung von Freiwilligeneinheiten und ihre Vorbereitung auf den bewaffneten Kkampf; 4. Einsammeln von Spenden, Geldern und anderen Bedürfnissen für die Verwirklichung dieser Idee; 5. Organisation, Ausrüstung und Einübung, insbesondere der für besondere und selbständige Kriegsführung bestimmten Ustasa-Einheit (Komitadschen); 6. Aktionsentwicklung in allen anderen Zweigen der Verteidigung des serbischen Volkes. Im II. Kapitel Derneue heutige Volksschutz sind die zukünftigen Aufgaben ausgelegt: Vorbereitung des Volkes für Kämpfe in allen Richtungen, Stärkung des Volksbe- <?page no="108"?> 108 Zijad Šehic Die Volksabwehr hatte seine Wurzeln in einem Ausschuss, der auch früher seine Aufgaben in Mazedonien, im Sandschak und auf dem Kosovo erfüllt hatte. Um eine bessere Erscheinung zu haben, wurde er als Privatgesellschaft gegründet, aber unter der Schirmherrschaft von offiziellen Kreisen, von denen er völlig anhängig war. Die Gründer der Volksabwehr waren unter anderem auch der General Božo Janković, der frühere Minister Ljuba Jovanović, Ljuba Davidović und Velislav Vulović, der Direktor der staatlichen Druckerei Živojin Đačić sowie die damaligen Hauptleute und späteren Majore Voja Tankosić und Milan Pribičević.31 Der Hauptzweck wusstseins, Leibesübungen, gutes Wirtschaften und Gesundheit, Hebung der Kultur etc. Am Beginn des III. Kapitels betonte man, die erste Aufgabe der Gesellschaft sei es, das Volksbewusstsein zu stärken, die zweite Leibesübungen zu pflegen, und die dritte zu versuchen, den wahren Wert dieser sportlichen Arbeit zu verstehen. Im IV Kapitel betonte man den Wert einer guten Schießausbildung, speziell für serbische Verhältnisse, denn "einem neuen Schlag, wie die Annexion einer war, muss ein neues Serbien entgegentreten, in dem jeder Serbe vom Kinde bis zum Greis ein guter Schütze sein wird." "Was w ir in Vorträgen wollen" lautet die Überschrift des VII. Kapitels, und seine wesentliche Aussage steckt im Satz: "Die Volksabwehr veranstaltete Vorträge, die mehr oder weniger agitatorische Vorträge waren. Es entwickelte sich das Programm unserer neuen Arbeit. In jedem Vortrag sprach man von der Annexion, von der Arbeit des alten Volksschutzes und von den Aufgaben des neuen. Die Vorträge dürfen niemals aufhören, agitatorische Vorträge zu sein, aber sie werden sich mehr in den jeweiligen Fachbereichen entwickeln und mit allen Fragen unseres gesellschaftlichen und völkischen Lebens befassen." In den Kapiteln Vlll Die Arbeit der Frau im Volksschutz, IX Geringe und kleine Arbeit und X Wiedergeburt der Gesellschaft geht man auf die Aufgaben des Volksschutzes ein auf die Vorbereitung, Erweiterung und Stärkung der gesellschaftlichen Arbeit und auf das Bedürfnis der Regeneration des Einzelnen, des Volkes und des Staates. Im XI. Kapitel unter dem Titel Die neuen Obilics und Sindelics hieß es in der Einleitung: "Es ist falsch, wenn man behauptet, Kosovo sei gewesen und vergangen." Daran anknüpfend und auf die Heldentaten von Obilic und Sinđelić hinweisend, betont man die Notwendigkeit von Opfern im Dienste des Volkes. Über die Verbindung mit Brüdern und Freunden spricht das XII. Kapitel, in dem betont wird, dass zu den Hauptaufgaben des Volksschutzes die Erhaltung der Beziehungen "m it näheren und ferneren Brüdern jenseits der Grenze und mit anderen Freunden in der W elt" gehöre. Im XIII. Kapitel unter dem Titel Zwei Hauptaufgaben hieß es, die Monarchie sei der erste und größte Feind. Dem Volke sollte gesagt werden: "Die Befreiung unserer unterjochten serbischen Gebiete und ihre Vereinigung mit Serbien ist eine Notwendigkeit für unsere Herrschaften, unsere Händler, unsere Bauern wegen den Grundbedürfnissen der Kultur und des Handels, wegen Brot und Raum. Wenn es dies erkannt hat, wird das Volk sich mit größerer Aufopferung an die Volksarbeit machen. Unserem Volke muss gesagt werden, dass die Freiheit Bosniens ihm eine Notwendigkeit und eine Aufgabe ist, dass es durch die Bewahrung von vollkommen heiligen Volkserinnerungen dieses neue, gesunde und in allen seinen Folgen starke Verständnis von Nationalismus und der Arbeit für Befreiung und Vereinigung ins Volk trägt." Das XIV. Abschlusskapitel beginnt mit einem Aufruf an die Regierung und das Volk in Serbien, sich mit all seinen Mitteln für den Kampfvorzubereiten (Ausschitt aus dem Gesellschaftsorgan des Volksschutzes, dervom Zentralausschuss der gleichnamigen Gesellschaft herausgegeben wird). (Narodna odbrana, Ausgabe des Zentralausschusses des Volksschutzes, Belgrad: Neue Druckerei Davidović 1911. Zit. n. Austrougarska crvena 1915, pp. 39-42). 31 Ibid., p. 25. <?page no="109"?> Der Tag, der die Welt veränderte 109 dieser Gesellschaft war die Organisation und die Ausrüstung von Komitadschen für den Kampf gegen die Monarchie. Diese zukünftigen freiwilligen Tschetniks wurden in einer Sonderschule in Schießen, Bombenwerfen, M inenlegen, Zerstören von Eisenbahnen, Tunneln und Brücken unterrichtet. Sie hatten die Aufgabe, ihre Kenntnisse praktisch in Bosnien-Herzegowina anzuwenden, wo sie sich im Falle des Krieges einschleusen sollten, und das aufständische Volk sollte sich ihnen anschließen, so dass die Monarchie in Bosnien-Herzegowina wie in einem feindlichen Staat Krieg führen müsste. Der Programm des Volksabwehr enthielt auch kulturelle Bestrebungen, die geistige und körperliche Entwicklung des serbischen Volkes, seine Stärkung aber das war nur ein Vorwand, um das Volk für den Kampf bis zur Vernichtung der Monarchie zu organisieren und zu erziehen. Die Agitation war nicht auf das Königreich Serbien beschränkt, sondern wurde auch in den jugoslawischen Gebieten der Monarchie, vor allem in Bosnien-Herzegowina, das sich von der Monarchie trennen und mit Königreich Serbien vereinigen sollte, durchgeführt.32 Nach der Verlautbarung der Annexion erstellte die serbische Regierung einen Vorschlag von Kompensationen, die Serbien und Montenegro im Falle einer Anerkennung der Annexion gegeben werden sollten. Nach diesem Vorschlag sollte Österreich-Ungarn dem Volk Bosnien-Herzegowinas dieselben öffentlichen und politischen Rechte garantieren, die auch die anderen Bürger Österreich-Ungarns hatten, eine innere Autonomie mit einem allgemeinen Landtag, eine freie Entwicklung der Wirtschaft und der Kultur, sowie eine besondere Organisation der Kirche und des Schulwesens. Österreich-Ungarn sollte seine Garnisonen aus dem Sandschak Novi Pazar zurückziehen und auf die dortigen Stationierungsrechte, die ihm durch den 25. Artikel des Berliner Vertrages gewährleistet werden, verzichten, sowie erklären, dass es sich keiner sich auf den Sandschak beziehenden Vereinbarung zwischen dem Osmanischen Reich, Serbien und Montenegro widersetze. Serbien und Montenegro sollten laut diesem Vorschlag den Sandschak in zwei gleiche Hälften aufteilen und von Österreich-Ungarn die Korrektur der Grenzen in ihrem Interesse verlangen.335253 52 Ibid., p. 26f. 53 Als Spalajkovics Plan gegenstandslos wurde, tauchte eine neue Grundlage mit neuen Zielen und einer neuen Taktik auf. Es wurde dann eine Broschüre unter dem Titel Die Annexion von Bosnien-Herzegowina und das serbische Problem des Professors der Universität Belgrad Jovan Cvijić publiziert, die Ende 1908 in der staatlichen Druckerei in Belgrad gedruckt wurde. Darin wurde behauptet, dass Serbien auf Bosnien-Herzegowina nicht verzichten könne, denn Bosnien-Herzegowina sei Serbiens Nationalmittelpunkt und auf jeden Fall das Minimum seiner Ansprüche. Wenn dies nicht sofort erreicht werden könne, dann müsse Serbien als Garantie für die Möglichkeit des eigenen Lebenserhalts bei der Konferenz Kompensationen verlangen, und zwar das fruchtbarste Gebiet Ostbosn iens sowie den Zugang zur Adria. <?page no="110"?> H O Zijad Šehić Bei der Regierungssitzung in Belgrad am 25. Dezember 1908 sprach nur Minister Milovanović. In seiner zweistündigen Rede meinte er, die Annexion von Bosnien-Herzegowina werde von zwei Standpunkten aus verurteilt. Sie traf auf der einen Seite die Souveränität des Sultans, auf der anderen Europa beziehungsweise die Unterzeichner des Berliner Vertrags. Von irgendwelchen Ansprüchen und Rechten an Serbien kann nicht die Rede sein. Im internationalen positiven Recht spielt die Nationalität leider überhaupt keine Rolle. Deswegen ist es die Pflicht der serbischen Regierung, die Annexion von Bosnien-Herzegowina als eine unmittelbare Gefahr für das politische Leben und die Existenz Serbiens darzustellen. Es ist notwendig, die Annexion als eine serbische Frage vor das europäische Forum zu tragen. Wenn die programmatische Frage anerkannt ist, kann die serbische Frage nach Bedarf erweitert oder verändert werden.34 In Belgrad tagte am 2. und 3. Januar 1909 die Nationalversammlung und erörterte außenpolitische Fragen. Inmitten der Bemühungen, die Spannungen abzubauen, löste die serbische Reaktion in den europäischen politischen Zentren außerordentliche Aufmerksamkeit aus. Bereits in seiner einleitenden Rede sagte Minister Milovanović, begleitet von einem stürmischen Applaus, dass "der Balkan und seine Völker keinen größeren Feind haben als Österreich-Ungarn.35 Sein durch die Annexion durchgeführter Angriff bedeute nachgerade einen Schlag ins Gesicht der serbischen Nation, denn er sei gegen lebenswichtige Interessen Serbiens und gegen unantastbare Nationalrechte gerichtet.36 Somit sei dies der erste Schritt der österreichisch-ungarischen Monarchie auf dem Balkan, Serbien und Montenegro zu versklaven. Deswegen sei in näherer und fernerer Zukunft für Cvijic behauptete, dass es Bestrebungen gebe, den gesamte südslawischen Komplex, angefangen von Ljubljana und Triest, bis hin zum tiefen Mazedonien, in einer Volkseinheit zu vereinigen und dessen Kultur auf einer nationalen Grundlage zu entwickeln. Er behauptete, dass die verschiedenen Konfessionen vom Prinzip der Nationalität zurückgedrängt werden würden. Am Ende schlussfolgerte Cvijić, dass das serbische Problem mit Gewalt gelöst werden müsse (Südland 1943, p. 308). Die Grundlage von Cvijics Projekt war die Herstellung einer Verbindung zwischen der Adriaküste und Serbien und Montenegro durch das Abtreten eines Gürtels auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas mit einer Fläche von insgesamt 10.519,8 km2. Eine so projektierte Staatsgrenze zwischen Serbien und Montenegro auf der einen und Bosnien-Herzegowina auf der andern Seite verlief fast direkt in südlicher Richtung von Brčko bis zum Gebiet südöstlich von Dubrovnik. Die im Durchschnitt 30 Kilometer breite Zone hatte 317.717 Bewohner und erstreckte sich auf die Orte Brčko, Bijeljina, Zvornik, Srebrenica, Rogatica, Višegrad, Čajniče, Gacko, Bileća, Trebinje und Nevesinje. Im Projekt war auch die Regulierung des Küstenstreifens Spica vorgesehen (Cvijić 1908, p. 49f.). " Lončarević, Dušan: Jugoslawiens Entstehung. Zürich: Amalthea 1929, p. 253. 35 Georgewitsch 1909, p. 85. Siehe auch Bosna i Hercegovina u Narodnoj skupštini Kraljevine Srbije 1908-1909. Belgrad 1909. (Sitzung vom 20. i 21. Dezember 1908 sowie 2. und 3. Januar 1909). 36 Georgewitsch 1909, p. 82. <?page no="111"?> Der Tag, der die Welt veränderte m das gesamte Serbentum ein großer Kampf unausweichlich, "ein Kampf auf Leben und Tod."37 Minister Milovanović griff auch den Berliner Vertrag an, "der für Serbien bösartig war und der tränenlos beweint wird, weil er gegen die serbischen Interessen gerichtet war."38Auch die anderen Redner griffen Österreich-Ungarn an, "dessen Appetit von Jahr zu Jahr größer geworden war", und den Berliner Vertrag, "durch den sich Österreich-Ungarn in Bosnien-Herzegowina eingeschlichen hatte."39 Minister Novakovic sagte, dass "von allen Seiten Fallstricke und Hinterhalte lauern, die der Berliner Vertrag so machiavellistisch errichtet hatte, und die seitdem ganze dreißig Jahre das serbische Volk martern."40Scharfe Worte gegen die Monarchie richtete auch der Anführer der Altradikalen, Stojan Protić. "Beim derzeitigen Stand der Dinge", betonte Protić, "müssen wir unsere Existenz wollen, und wenn wir uns als ein unabhängiges Land erhalten wollen, dann müssen wir erschüttert sein, wenn wir sehen, dass Österreich-Ungarn einen Versuch unternimmt, uns noch stärker zu drücken und noch fester zu umzingeln, weswegen es auch versucht, Bosnien-Herzegowina definitiv zu annektieren."41 Alles, was Österreich-Ungarn als Abkommen über die Annexion anbietet, sei reines Gespött. So sei der Verzicht auf Sandschak eine Täuschung, die politisch nur Kinder täuschen könne. "Zwischen uns und Österreich-Ungarn, zwischen den Balkanstaaten und der Monarchie können Frieden und gute nachbarschaftliche Beziehungen herrschen, betonte Protić, "nur wenn Österreich-Ungarn aufhört, eine Großmacht zu sein."42 Der liberale Abgeordnete Bojinović sagte, dass "die Serben nicht vergessen können, dass in Bosnien-Herzegowina die Gebeine ihrer Väter liegen, die 1876 dorthin gegangen waren, um für die Befreiung dieser Länder zu kämpfen. Das ganze serbische Volk wird wie ein Mann auf den Wällen seiner Rechte stehen und wird es nicht erlauben, dass der österreichische Arm sich über die Save und über die Donau streckt." Am Ende betonte Bojinović: "W ir werden alle in den Kampf für Serbentum und Slawentum ziehen."43 Das serbische Parlament bedankte sich bei Russland, Italien, Großbritannien und Frankreich dafür, dass sie mit der serbischen Frage sympathisierten. Das Parlament hoffte, dass diese Länder alle Schritte unternehmen würden, damit während der Revision des Berliner Vertrags die vollständige politische und ökonomische Unabhängigkeit für Serbien und Montenegro 37 Ibid., p. 83. 38 Ibid., p. 97. 39 Ibid., p. 91. 40 Ibid., p. 90. 41 Ibid., p.101. 42 Ibid., p. 97. 43 Ibid., p.103. <?page no="112"?> 112 Zijad Šehić erreicht werden könne. Insbesondere zählte man hierbei auf die Hilfe des brüderlichen Russland; man erwartete von ihm moralische und materielle Unterstützung.44 Der Verlauf der Debatte in der Skupština wie auch die offizielle Stellungnahme zur Autonomie Bosnien-Herzegowinas erregte am Ballhausplatz große Unzufriedenheit. Als unmittelbarer Anlass für eine entschiedenere Aktion gegen Serbien sollte der Inhalt der Rede von Minister Milovanović dienen, der als provozierend eingeschätzt wurde, vor allem in dem Teil, in dem von Kolonialbestrebungen Österreich-Ungarns auf dem Balkan die Rede war. Die österreichisch-ungarische Presse drohte Serbien sehr scharf und alarmierte damit auch die Diplomatie.45 Nachdem Deutschland Russland eine diplomatische Note geschickt hatte, mit der Forderung Serbien für die Annexion Bosnien-Herzegowinas zu gewinnen, meldete Minister Iswolski am 23. März nach Paris und London, dass Russland entschieden habe, den Vorschlag Deutschlands anzunehmen. In der Vereinbarung mit dem Zaren beschloss er am 24. März, endgültig nachzugeben, und kündigte an, der Abschaffung des Artikels 25 des Berliner Abkommens zuzustimmen, wenn sich Wien diesbezüglich an die Großmächte wende. Gleichzeitig forderte er von Deutschland, Wien möge in den Verhandlungen mit Serbien etwas zuvorkommender sein.46 Mit dem russischen Einlenken beruhigte sich die Annexionskrise allmählich. Nach den Worten von Bülows brach Deutschland hier eine Lanze für seinen österreichisch-ungarischen Verbündeten, mittelbar auch für die Erhaltung des europäischen Friedens, und vor allem für das deutsche Ansehen und die deutsche Lage in der Welt.47 Der serbische Gesandte in Wien Simić reichte am 31. März 1909 eine Note ein, mit deren Inhalt sich zuvor Minister Grey und Aehrenthal einverstanden erklärt hatten.48 Indem er sich auf die frühere Note der serbischen Regierung für die österreichisch-ungarische Regierung berief, und zum Zwecke der Beseitigung der Missverständnisse, erklärte der serbische Gesandte dem k.u.k. Außenministerium: Serbien erkennt hiermit an, dass mit der Annexion Bosnien-Flerzegowinas seine Rechte nicht verletzt werden und es sich der Entscheidung der Großmächte bezüglich des Artikels XXV des Berliner Abkommens fügen wird. Den Rat der Großmächte befolgend verpflichtet sich Serbien seinen Widerstand gegen die Annexion aufzugeben; darüber hinaus wird es die Stoßrichtung seiner bisheri- 44 Ibid., p. 106. 45 Lončarević 1929, p. 269. 46 Ibid. " Deutsche Politik, Berlin 1916, p. 60. 48 Zu den Vediandlungen Großbritanniens in Wien und Belgrad über die Note der serbischen Regierung vgl. Gottschalk, Egon: Die diplomatische Geschichte der serbischen Note vom 31. Mälz 1909. In: Berliner Monatshefte IX (1932), pp. 77 6-803. <?page no="113"?> DerTag, der die Welt veränderte 113 gen Politik gegenüber Österreich-Ungarn ändern und mit ihm fortan in guten nachbarschaftlichen Beziehungen leben. Im Sinne dieser Äußerungen und im Vertrauen auf friedfertige Absichten Österreich-Ungarns wird Serbien seine Armee in den Zustand vor dem Frühling 1908 zurückversetzen; das bezieht sich auf die Organisation, Truppenaufstellung und die Anzahl der Soldaten, Auflösung der Freiwilligeneinheiten und anderer irregulärer Verbände auf seinem Gebiet.49 Nach der Annexionskrise konzentrierten sich die politischen Diskussionen in Russland auf die militärische und wirtschaftliche Unterstützung und die Frage künftiger Bündnisse. Man war der Ansicht, dass der große Kampf zwischen dem Slawen- und Germanentum unvermeidlich sei und in der nahen Zukunft bevorstehe. Noch Anfang 1909 äußerte Minister Izwolski gegenüber dem deutschen Botschafter Pourthales, dass die Ostfrage nur durch einen Krieg gelöst werden könne, welcher in fünf oder zehn Jahren ausbrechen werde und unvermeidlich sei.50Angesichts der diplomatischen Niederlage verstärkte Russland seine militärischen Aktivitäten. "Der Zar, Stolypin, die Diplomaten und Offiziere verlangten, dass die Armee erneuert und zu einem Instrument der großen Politik wird, was Russland ermöglichen würde wieder seinen Platz in der Welt einzunehmen"51, schrieb General Suchomlinow in seinen Memoiren. Man war sich in Petersburg durchaus bewusst, dass ohne eine vorbereitete Armee keine aktive Politik zu machen war. Suchomlinow war davon überzeugt, dass im Falle der Auseinandersetzungen Deutschland auf der Seite Österreich-Ungarns stehen würde. Daher sollte Deutschland in seinen Augen der Hauptmaßstab für die militärische Vorbereitung sein und es sollte das Ziel verfolgt werden, eine Armee zu schaffen, die sich m it der deutschen messen könnte.52 Die Annexionskrise schweißte Russland und Serbien noch mehr zusammen und bildete die Grundlage für das Balkanbündnis.53 49 ÖUAP, II, Ni. 1425 (Der Inhalt der Note ist in französischer Sprache). 1.0 A ufdie Frage, was sein Ende sein würde, antwortete Izwolski: "Die Gedenktafel im Schlosse Buchlau, die Graf Berchtold in dem berühmten Konferenzzimer hatte anbringen lassen, sollte Z U I Grabplatte der österreich-ungarischen Monarchie werden." (Taube, Michael: Der Großen Katastrophe entgegen. Berlin; Leipzig: Neuner 1929, p. 210). 1.1 Suchomlinow, Wladimir: Erinnerungen. Berlin: Hobbing 1924, p. 228. 52 Ibid., p. 233. "! Nach der Krise schrieb das Blatt Birsevija Vedemosti, dass dieguten nachbarlichen Beziehungen zwischen Wien und Petersburg Vergangenheit seien; dagegen seien die Solidarität und Freundschaft mit den Slawen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. (Hölzle, Erwin: Die Selbstentmachtung Europas. Frankfurt/ M., Zürich: Musterschmidt 1975, p. 51). Derdeutsche Militärbeuftragte in Petersburg, Hauptmann von Hinze, berichtete nach Berlin, dass Russland unbesiegbar auf dem Balkan wäre, wenn es sich rechtzeitig vorbereiten und vorstoßen würde, was in drei bis fünf Jahren geschehen könnte (Baumgard, Winfried: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890-1914. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer^1986, p. 106). <?page no="114"?> 114 Zijad Šehić Die Annexionskrise brachte also wesentliche Veränderungen im internationalen politischen Leben. Die diplomatische Kraftprobe der Machtblöcke endete mit einem Erfolg der Politik von Bülows. Das Bündnis stand fest, die Nibelungentreue des deutschen Verbündeten war unter Beweis gestellt. Der augenblickliche Erfolg des Zweibundes strich die Gegensätze in Europa noch mehr hervor. Der Balkan wurde zum gefährlichsten Gebiet, das die größten Möglichkeiten für diplomatische Kämpfe bot. Bald konstatierte man in Wien, dass trotz der in der Note vom 31. März 1909 gegebenen Versprechen Serbien seine bisherige Politik der Abtrennung einiger Gebiete der Monarchie fortsetzte. Es wurden geheime Organisationen und deren Filialen gegründet, die daran arbeiteten, Unruhen in der Monarchie auszulösen. Ihre Mitglieder waren Generäle, Diplomaten, Staatsbeamte und Prominente. Die serbische Presse befand sich fast ausnahmslos im Dienste dieser Propaganda und rief ihre Leser zum Hass auf die verachtenswerte Monarchie auf, und auch dazu, Attentate gegen ihre Sicherheit und Integrität zu verüben. Eine große Anzahl der Agenten wurde beordert, mit allen Mitteln die Agitation gegen die Monarchie zu unterstützen und die Jugend zu indoktrinieren. Die Berichte, die die Narodna odbrana in die Monarchie schickte, erreichten ihre Adressaten auf geheimen Wegen und benutzen geheime Chiffrenschriften. Die Propaganda arbeitete zunächst daran, die Serben sozial, kulturell und ökonomisch von den Kroaten und Slowenen zu trennen, predigte die Vereinigung aller Serben, und trachtete danach zu beweisen, dass insbesondere Bosnien-Herzegowina ein rein serbisches Land ist, in dem keine anderen Ethnien leben. Als man einsah, dass diese Grundlagen zu schwach waren, entwarf man den Plan einer serbisch-kroatischen und slowenischen Volkseinheit. Diese Bewegung erfasste vor allem die Jugend in Gymnasien, in denen geheime Vereine unter den Namen Volksvereinigung (Narodno ujedinjenje) oder Serbische Schülerjugend (Srpska đačka omladina) gegründet wurden, die sich nicht nur für die kulturelle, sondern auch die politische Vereinigung einsetzte m it dem Ziel, Kroatien, Slowenien, Dalmatien, Istrien, Bosnien-Herzegowina von der Monarchie abzutrennen und dem Königreich Serbien anzugegliedern.54 Der Ausgang der Annexionskrise 1908/ 1909 veränderte auch die Kampfmethode der serbischen Organisationen, so dass sie nun zur Taktik des Individualterrors übergingen. M it diesem Ziel wurde auch die Organisation Vereinigung oder Tod ("Ujedinjenje ili smrt") gegründet, deren Programm aus zwei Dokumenten bestand, der Konstitution und der Geschäftsordnung. Im Artikel 1 der Konstitution steht geschrieben, dass die 54 Austrougarska crvena knjiga 1915, p. 32f. <?page no="115"?> Der Tag, der die Welt veränderte 115 Organisation zum Ziel der Verwirklichung der Volksideale der Vereinigung des Serbentums gegründet wird, deren Mitglied jeder Serbe sein kann, unabhängig von Geschlecht, Glauben, Geburtsort, sowie jeder, der dieser Idee "aufrichtig" dienen will. Im Artikel 2 wird angeführt, dass die Organisation den revolutionären dem kulturellen Kampf vorzieht, so dass ihre Institutionen ein absolutes Geheimnis für Außenstehende bleiben müssen. Im Artikel 3 steht, dass die Organisation den Namen "Ujedinjenje ili sm rt" tragen soll, und im Artikel 4 werden ihre Aufgaben definiert: Der Charakter der Organisation besteht darin, Einfluss zu nehmen auf alle offiziellen Akteure in Serbien, auf alle Gesellschaftsschichten und das gesamte gesellschaftliche Leben; eine revolutionäre Organisation auf allen Territorien, auf denen Serben leben, aufzubauen; gegen alle Feinde dieser Idee außerhalb der Staatsgrenzen zu kämpfen, freundschaftliche Beziehungen zu den Staaten, Völkern, Organisationen und Personen zu pflegen, die gegenüber Serbien und dem serbischen Stamm freundschaftlich gesinnt sind; jenen Völkern und Organisationen zu helfen, die für ihre eigene nationale Befreiung und Einigung kämpfen.55 Im Artikel 5 steht, dass das wichtigste Organ die "Oberste Zentralleitung" (Vrhovna centralna uprava) m it Sitz in Belgrad ist, die über Durchführung der Beschlüsse wacht, und im Artikel 7 wird definiert, dass diese Führungsetage sich wie folgt zusammensetzt: aus acht Mitgliedern aus dem Königreich Serbien und je einem Bevollmächtigten der Organisation aus allen serbischen Ländern: aus 1) Bosnien-Herzegowina, 2) Montenegro, 3) Altserbien und Mazedonien, 4) Kroatien, Slawonien, Srem, 5) Vojvodina und 6) der Adriaküste.56 Im Artikel 30 wird ausgeführt, dass jedes Mitglied mit seinem Eintritt seine Persönlichkeit verliert: er darf keinen Ruhm, keinen persönlichen Nutzen, weder materiellen noch moralischen, erwarten. Wenn demnach jemand von den Mitgliedern versucht, die Organisation für persönliche oder Klassen- und Parteiinteressen, auszunutzen, wird er bestraft werden. Wenn daraus ein Schaden für die Organisation erwachse, wird er mit dem Tod bestraft. Im Artikel 31 heißt es: "wer einmal der Organisation beitritt, kann sie nicht mehr verlassen oder seine Mitgliedschaft kündigen", und im Artikel 33 steht, dass sich bei der "Verhängung des Todesurteils die Oberste Zentralleitung daran orientieren wird, dass dieses zuverlässig vollstreckt wird, ohne Rücksicht auf das dabei zu verwendende M ittel".57 Nach Artikel 35 legte man beim Beitritt zur Organisation folgendes Gelöbnis ab: Ich, der in die Organisation Vereinigung oder Tod eintrete, schwöre bei der Sonne, die mich wärmt, bei der Erde, die mich nährt, vor Gott, beim Blut mei- 55 Ustav i Poslovnik organizacije Ujedinjenje ili smrt. In: Nova Evropa, V.6, 21.10. 1922, p. 182. 56 Ibid., p. 183. 57 Ibid., p. 184. <?page no="116"?> 116 Zijad Šehić ner Väter, bei meiner Ehre und bei meinem Leben, dass ich von diesem Augenblick an bis zu meinem Tode die Satzung dieser Organisation treu befolgen und stets bereit sein werde, ihr alle Opfer zu bringen. Ich schwöre vor Gott, bei meiner Ehre und bei meinem Leben, dass ich allen Weisungen und Befehlen widerspruchslos folgen werde. Ich schwöre vor Gott, bei meiner Ehre und bei meinem Leben, dass ich alle Geheimnisse dieser Organisation mit ins Grab nehmen werde. Mögen Gott und meine Kameraden in dieser Organisation über mich zu Gericht sitzen, wenn ich wissentlich diesen Eid breche oder umgehe.55 Die Satzung definiert auch die Pflichten ihrer Mitglieder: Der 1. Artikel sah vor, dass jedes Mitglied der Organisation fünf neue Mitglieder anzuwerben hatte. Im 3. Artikel wird die Prozedur beschrieben, nach der neue M itglieder angelobt werden: Sobald ein Mitglied fünf bzw. drei neue Mitglieder anwirbt, legt er seinen Schwur zusammen mit ihnen ab. Der Schwur wird wie folgt abgelegt: das Gründungsmitglied bestimmt in Vereinbarung mit seinem Bürgen der dem Gelöbnis als Gesandter der Obersten Zeltralleitung beiwohnt, sofern nicht anders angeordnet wird die Zeit und den Ort. Das Zimmer, in dem der Schwur abgelegt wird, befindet sich im Dunklen. In der Mitte steht ein Tisch, über den eine schwarze Decke ausgebreitet ist. Auf dem Tisch stehen ein Kreuz, ein Messer und ein Revolver. Das Zimmer wird beleuchtet von einer kleinen Wachskerze. Das Gründungsmitglied hält eine Rede, in der er große Aufgaben der Organisation darstellt, ihre Hauptprinzipien aus der Konstitution und Satzung wie auch Gefahren, denen sich die Mitglieder aussetzen. Zum Schluss fragt er sie, ob sie bereit sind, den Schwur abzulegen. Wenn sie zustimmen, erscheint aus dem Nebenraum plötzlich ein anderer streng verhüllter Mann, Mitglied höherer Gruppen, das besonders dazu bestimmt wurde. Dann legt das Gründungsmitglied und mit ihm neue Mitglieder das Gelöbnis ab. Danach grüßen sich die neuen Mitglieder gegenseitig und der verhüllte Mann gratuliert ihnen, indem er ihnen die Hand schüttelt, ohne ein Wort zu sagen. Er zieht sich sodann in seinen Raum zurück, und das Schwurzimmer wird beleuchtet. Im beleuchteten Zimmer unterschreiben die neuen Mitgliederje einen TextdesSchwurs und überreichen ihn dem Gründungsmitglied, das jedem von ihnen seine Nummer und ein vereinbartes Zeichen gibt. (Das vereinbarte Zeichen wird zuweilen verändert und im Befehl der Obersten Zentralleitung mitgeteilt.) Dann wird jeder angespornt und ermutigt, neue Gruppen zu bilden und diese auf eine ähnliche Art und Weise anzugeloben, zu Sitzungen und Treffen zu kommen, an denen neue Befehle erteilt werden. Dann werden die Bestimmungen aus der Konstitution und Geschäftsordnung verlesen, die er zu diesem Zweck von der Obersten Zentralleitung bekommt...5859 58 Ibid., p. 185. 59 Ibid., p. 186 <?page no="117"?> Der Tag, der die Welt veränderte 117 Der Ausgang der Annexionskrise bestärkte auch die Absicht der Balkanstaaten, m it dem Osmanischen Reich abzurechnen. Nach langen diplomatischen Verhandlungen wurden im Frühling 1912 die endgültigen Geheimvereinbarungen getroffen, denen auch Russland und Frankreich zustimmten. Später demonstrierte auch Italien seine Bereitschaft, die Balkanstaaten zu unterstützen. Zuerst wurde am 13. März ein Abkommen zwischen Serbien und Bulgarien erzielt, wonach die Offenisve gegen die osmanische Armee im Süden gestartet werden sollte, während man im Norden gegenüber Österreich-Ungarn in der Defensive bleiben sollte. Es wurde eine territoriale Teilung Mazedoniens und eine umstrittene Zwischenzone vereinbart, bei der der russische Zar Nikolaus II. die Verm ittlerrolle spielen sollte. Serbien, Bulgarien, Griechenland und das Osmanische Reich riefen am 30. September 1912 eine allgemeine Mobilmachung aus. Montenegro erklärte am 08. Oktober dem Osmanischen Reich den Krieg und begann seinen Angriff auf Shkodra. Die Nähe des Kriegsschauplatzes und die Stärke der eingesetzten Truppen erregten Besorgnis in maßgeblichen Kreisen der Monarchie.606162 Das Kriegsgeschehen hatte bedeutende Folgen auf die politische Entwicklung in Bosnien-Flerzegowina und vertiefte die Kluft zwischen der serbischen und muslimischen Politik, in der die Agrarverhältnisse eine zentrale Rolle spielten. Das Kriegsgeschehen wurde von der Angst der Muslime begleitet, es könnte zu einer Lösung der Agrarfrage wie in Serbien und Montenegro kommen; da sie ein solches Schicksal im Fall einer der Niederlage und eines Rückzugs der Monarchie aus Bosnien-Flerzegowina befürchteten, wurde die Bindung der Muslime an die Monarchie noch stärker, da sie in ihr die einzige Schutzmacht sahen.51 Die politischen und militärischen Siege Serbiens in den Balkankriegen verstärkten die nationale Begeisterung und sorgten gleichzeitig für die Unterstützung der orthodoxen Bevölkerung in der Flabsburgermonarchie. Die Maßnahmen, die Österriech-Ungarn traf, zwangen den montenegrinischen König Nikola aus Angst vor einer österreichisch-ungarischen Intervention nachzugeben, so dass es in Montenegro teilweise zu einer Demobilisierung kam. Durch Anordnung der Landesregierung für Bosnien-Flerzegowina vom 15. Mai wurden dann die außerordentlichen Maßnahmen für beendet erklärt.52 Nach der Einschätzung politischer Organe der Monarchie führten die Balkankriege in Kroatien zu einer Festigung des serbisch-kroatischen Na- 60 Deutschmann, Wilhelm: Die militärischen Massnahmen in Oesterreich - Ungarn während der Balkankriege 1912/ 1913. Wien: Diss . (masch.) 1965, p. 20. 61 Weinwurm, Franz: FZM Oskar Potiorek. leben und Wirken als Chefder landesregierungfür Bosnien und der Herzegowina in Sarajevo 1911-1914. Wien: Diss. (masch.) 1964, p. 357. 62 Deutschmann 1965, p. 213f. <?page no="118"?> 118 Zijad Šehić tionalismus, der sich besonders bei der Jugend zum Irredentismus steigerte. Obwohl man auch von einer gewissen Unterstützung des jugoslawischen Programms sprechen konnte, hatte die offizielle serbische Politik hauptsächlich das Ziel, den serbischen Staat zu vergrößern und zu erweitern.53 Durch die Balkankriege wurde ein Teil der serbischen Aspirationen verwirklicht; Serbien bekam den erwünschten Teil des Osmanischen Reichs, aber seine Absichten gegen die Monarchie konnte es nicht Umsetzen. Daher wurden die Kroaten, Slowenen und Serben in der Monarchie als "nicht-befreite Brüder" bezeichnet; die Erfolge in den Balkankriegen wurden als Verwirklichung eines Teils des Plans angesehen, man glaubte dabei, dass Bosnien-Herzegowina als serbisches Land zur Gänze Serbien zufallen werde.54 Anfang 1914 erlebte die Militärindustrie in Belgrad einen Aufschwung, was ein Zeichen für die baldige Fortsetzung der Balkankriege war. Die Unterstützung kam vom österreichischen Bankierkapital; die Wiener Bodencreditanstalt beteiligte sich mit 20% an serbischen Rüstungsanleihen. Im Frühling 1914 sprangen die österreichischen und deutschen Waffen hersteiler für die französischen ein, da diese eine vereinbarte Lieferungen nach Serbien wegen Überlastung nicht mehr realisieren konnten: 200.000 Stück modernster Militärgewehre wurden im Frühling nach Belgrad geliefert.63*65 Im April 1914 traf General Potiorek als Landeschef von Bosnien Herzegowina einen Serben, der den Militärkreisen in Belgrad nahestand. Dieser äußerte, dass Serbien ein Jugoslawien gründen wolle, das die ganze Balkanhalbinsel umfassen würde - Bosnien, Herzegowina, Dalmatien, Istrien, Kroatien, Slawonien, einen Teil Ungarns, Krains, Kärntens und der Steiermark. Die Teilung würde so vollzogen werden, dass drei rein serbische Gebiete, ein kroatisches und ein slowenisches geschaffen würden. Die Regionen würden nach Konfessionen von einander abgegrenzt, so dass die Bevölkerung entsprechend umgesiedelt werden würde: 400.000 Katholiken aus Bosnien-Herzegowina würden nach Kroatien umgesiedelt, während die Serben aus der Lika und Slawonien (ca 20%) nach Bosnien-Herzegowina zögen. Dieses Angebot wurde noch durch die Warnung unterstrichen, dass es besser sei, eine Vereinbarung zu erzielen, bevor die Serben mit Kanonen bis nach Zagreb Vorstößen, und dazu würde es sicher kommen, denn alle Vorbereitungen wären schon getroffen worden. Der Balkanbund hatte das Ziel, diese Aufgabe auszuführen. Russland würde dadurch gehol- 63 Jelavich, Charles: Južnoslavenski nacionalizmi. Zagreb: Globus 1992, p. 47. 61 Optužnica, p. 96. 65 Wagner, Wilhelm J.: Der Große Bildatlas zur Geschichte Österreichs. Wien: Kremayr & Scheriau 1995, p. 182f. <?page no="119"?> DerTagi der die Welt veränderte 119 fen werden, dass die Serben ihre Mobilmachung ausrufen und damit Österreich-Ungarn zwingen würden, 500.000 Soldaten an die Südgrenze zu schicken, was den Verbündeten ermöglichen würde, erfolgreich zu kämpfen. Das sollte 1914 tatsächlich geschehen und Serbien damit sein Versprechen gegenüber Russland erfüllen.66 In diesem Plan sah Potiorek die Realisierung der Idee von "Großserbien", was sich aufseine im Dezember 1914 vorgetragenen Pläne einer Teilung Bosnien-Herzegowinas zwischen Ungarn und Österreich auswirkte.67 Nach den Manövern bei Tarčin am 26. und 27. Juni 1914, an denen sich die Truppen des XV. Sarajevo-Corps wie des XVI. Dubrovnik-Corps beteiligte, traf Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni, zum orthodoxen St.-Veits-Tag, in Sarajevo ein. Neben den Würdenträgern erwarteten ihn auch die Attentäter; die Sicherheitsmaßnahmen waren nicht ausreichend. Die Bombe, die Nedeljko Čabrinović warf, verfehlte ihr Ziel, doch der erste Schuss Gavrilo Princips traf Erzherzog Franz Ferdinand tödlich und der zweite, der eigentlich für den Fandeschef General Potiorek gedacht war, tötete Ferdinands Gatttin Sophie, die Herzogin von Hohenberg.68 Die Aussage von Đuro Šarac, die sein enger Freund Dušan Slavić verfasst und 1928 im Depot der Matica Srpska in Novi Sad hinterlegt hatte, war später im Archiv zugänglich und ermöglichte Vladimir Dedijer, die Frage der Organisation des Attentats von Sarajevo detaillierter zu analysieren. Hier wird erwähnt, wie beim Treffen vom 31. März 1914 in dem Kaffeehaus Moruna in Belgrad Šarac, Slavic und Ciganović vereinbarten, ein Attentat auf Franz Ferdinand zu verüben.69 Am nächsten Tag wurde die Geheimorganisation Tod oder Leben ("Smrt ili život") gegründet, deren Regeln Šarac im Einklang mit den Regeln der Gesellschaft Vereinigung oder Tod entwarf; ihre Hauptbestimmungen Iauteteten wie folgt: Die Oberste Leitung setzt sich aus sieben Mitgliedern zusammen, die, sobald sie ihre ihren Verpflichtungen zustimmen, ein geheimes Gelöbnis ablegen, dass die das Geheimnis der Organisation Tod oder Leben nicht verraten werden, nicht dem Bruder, nicht dem Freund, nicht dem Vater oder der Mutter, der Schwester oder der Geliebten, keinem Lebewesen. Nach dem Gelöbnis 66 Šehić, Zijad: Atentat, mobilizacija, rat. In: Prilozi 34 (2005), pp. 23-38 cit. 24. Über den Plan einer Teilung Bosnien-Herzegowinas im Dezember 1914 siehe ausführlicher: Šehić, Zijad.: LajosThaIIoczy über die Ereignisse in Bosnien-Herzegowina nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914" In: In: Juzbašić, Dževad / Reiss, Imre (Hg.): Lajos Thallöczy, der Historiker und Politiker. Die Entdeckung der Vergangenheit von Bosnien-Herzegowina und die moderne Geschichtswissenschaft. Budapest, Sarajevo: Verlag der Akad. der Wiss. 2010. 67 Staatsarchiv Wien, Abt. Kriegsarchiv (KA-W), Nachl. Potiorek, B. 1503, Karton 5, Doc. 31, Poborek an Bilinski, 22.04.1914. 68 Tomac, Petar: Prvi svetski rat. Beograd: Vojnoizdavački zavod 1968, p. 11. 69 Dedijer 1966, p. 476. <?page no="120"?> 120 Zijad Šehić ist jeder "Geist" verpflichtet, eigenhändig die Erklärung zu schreiben, dass er sich selbst umbringen wird, aus welchen Gründen auch immer. Diesen Brief wird der Altmeister der Organisation an einem geheimen Ort aufbewahren. Die ausführenden Mitglieder, die Kosovo-Rächer genannt werden, schwören neben dem Gelöbnis, das auch die Geister ablegen, noch zusätzlich: Alle Befehle des Geisterrats werde ich gewissenhaft ausführen, auch wenn es mich mein Leben kostet. In die Organisation Tod oder Leben können nur Serben aus Bosnien-Herzegowina aufgenommen werden, von denen der Altmeister die Überzeugung gewonnen hat, dass sie ehrlich sind und zur Trunksucht nicht neigen.70 Obwohl in der Darstellung einige Ungenauigkeiten enthalten sind, ist es unbestreitbar, dass das Attentat auf Franz Ferdinand von der Organisation Tod oder Leben organisiert wurde, deren Regeln im Einklang mit den Regeln der Organisation Vereinigung oder Tod stand. In seiner Kritik dieser die Einschätzung Dedijers, führt Cvetko Popovic in seinem Buch über das Attentat von Sarajevo einige Fakten an, die sich überhaupt nicht auf die betreffende Thematik beziehen, so dass sich sein Relativierungsversuch als misslungen erweisen dürfte.71 Sechzehn Jahre nach dem Attentat von Sarajevo enthält der Expertenbericht von Roderich Gooß Das österreichisch-serbische Problem bis 1914 folgende hier zusammengefasste Behauptungen: Man ging von dem Geständnis der Verschwörer aus, die in zwei Gruppen geteilt waren: Princip, Čubrinović und Grabež, die in Belgrad eine Einigung über das Attentat erzielt hatten, sowie llić, Vaso Čubrilović, Popović und Mehmedbašić, die sich nachträglich, unter der Führung von llić der Verschwörung anschlossen. Sie widersprachen der Ansicht, dass die Idee von Attentat von außerhalb gekommen war, und behaupteten, sie wollten m it dem Thronfolger einen gefährlichen Gegner der Serben beseitigen.72 Im Herbst 1913 beschloss Oberst Dimitrijević die Ermordung des Thronfolgers. Den Mord sollte die Organisation Vereinigung oder Tod verüben. Im November 1913 kam Čabrinović nach Belgrad, wo er nach dem Gespräch m it Dn Orlić die Entscheidung traf, Franz Ferdinand zu töten. Dimitrijević gab Ende November oder Anfang Dezember 1913 Major Tankosić die Anweisung, diesen Plan umzusetzen. Daraufhin schrieb Tankosić an Gaćinović nach Lausanne, er solle m it seinen Leuten über das Attentat reden. Zu diesem Zweck berief 70 Ibid., p. 481. 71 Popović, Dj. Cvetko: Oko Sarajevskog atentata. Sarajevo: Svjetlost 1969, p. 116f. 72 Gooß, Roderich: Das österreichisch-serbische Problem bis zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns, 28. Juli 1914. In: Das W erk des Untersuchungsauschusses der Verfassunggebenden Dt. Nationalversammlung, und des Dt. Reichstages 1919-19130. Reihe 1: Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin 1930, p. 198f. <?page no="121"?> DerTag, der die Welt veränderte 121 Gaćinović im Dezember 1913 verlässliche Leute wie Mustafa Golubić, Muhamed Mehmedbašić, Pavle Bastajić und Jovan Živanović nach Toulouse ein. Die Gespräche wurden Mitte Januar 1914 geführt; Bastajić und Živanović waren nicht dabei. Es wurde beschlossen, dass das Attentat auf den Thronfolger verübt werden soll. Ende Januar oder Anfang Februar wurden Ilić und Princip über Mehmedbašić und einen Briefvon Gaćinović mit dem Attentatsplan bekanntgemacht. Der ursprüngliche Plan, der vorsah, dass die Attentäter nach Lausanne fahren und sich dort mit dem Plan vertraut machen, wurde geändert und man beschloss, dass sie weitere Instruktionen in Belgrad bei Tankosić bekommen sollten. Ende Februar oder Anfang März 1914 reiste Princip nach Belgrad, wo ihm Tankosić erklärte, dass seine und llićs Reise nach Lausanne nicht notwendig sei und dass sie sogleich ihre Vorbereitungen für das Attentat aufnehmen sollen. Im März 1914 trat Princip in Verbindung m it Čabrinović und Grabež und erwirkte ihre Beteiligung am Attentat. Ilić warb die übrigen Attentäter in Bosnien an. Der Plan des Attentats nahm eine feste Form an, als die Nachricht veröffentlicht wurde, dass in Bosnien-Herzegowina Militärmanöver stattfinden würden, llićs Kreis in Sarajevo schickte einen Zeitungsausschnitt nach Belgrad, der die Nachricht über die Manöver enthielt als Anregung zur Ausführung des Attentats. Im Mai wurden zwischen Tankosić, Ciganović, Princip, Čabrinović und Grabež Einzelheiten geklärt. Dann ging man zur Beschaffung der Waffen über. Dass sich die Verschwörung so abgespielt haben musste, resümierte Dr. Wiesnernach den Erklärungen und Äußerungen von Jevtić, Stanojević, Wendel, und Seton-Watsona, m it der Anmerkung, dass in der Chronologie noch einige nebensächliche Tatsachen auftauchen könnten, dass jedoch die wesentliche Fakten über jeden Zweifel erhaben seien.73 Die Ermittlung, die in Sarajevo gegen die Beteiligten am Attentat geführt wurde, offenbarte die Tiefe der Kluft im Bildungs- und Schulsystem in Bosnien-Herzegowina und die Ausmaße der Jugendbewegung, die die österreichisch-ungarische Herrschaft in Frage stellte. Die österreichisch-ungarischen Behörden führten Ermittlungen durch, verhafteten verdächtige Mittelschüler und strengten Gerichtsverfahren gegen sie an. Nach Auffassung der österreichisch-ungarischen Zentralbehörden kam es in den Mittelschulen in Bosnien-Herzegowina zu einer Krise, zum Nachlassen der Disziplin und zu Auseinandersetzungen zwischen Schülern.74 Da sich die Zwischenfälle in der Schuljugend mehrten, erwiesen sich außerordentliche Maßnahmen als unabdingbar. Es wurde festgestellt, dass die 73 Ibid., p. 199. 74 Kapidžić, Hamdija: Austrougarske centralne vlasti i omladinski pokret u Bosni i Hercegovini neposredno poslije sarajevskog atentata. In: Glasnik arhiva i Društva arhivskih radnika BiH, IV-V (1965), p. 398. <?page no="122"?> 122 Zijad Šehić Zwischenfälle, von feindlichen Elementen angestiftet, sich hauptsächlich gegen die loyalen Elemente in Schulorganen richteten.75 Das Militärkommando in Mostar kam zu der Einschätzung, dass die serbenfreundliche Propaganda, die früher durch drakonische Maßnahmen beseitigt wurde, nach der Mobilmachung wieder in vollem Gange sei. Als Beleg für diese Behauptung diente das Senden von Lichtsignalen an die serbische und montenegrinische Armee, wie auch die Stimmung der serbisch-orthodoxen Bevölkerung, die ihre Freude auch nach geringsten Misserfolgen der österreichisch-ungarischen Soldaten offen an den Tag legte. Infolge dessen forderte das Militärkommando Präventivmaßnahmen in in einem größeren Umfang.7677 Fünfzehn Tage vor seiner Absetzung, am 15. Dezember, rechtfertigte General Potiorek in einem Bericht für das Gemeinsame Finanzministerium die scharfen Maßnahmen, die in Bosnien-Herzegowina nach dem Attentat von Sarajevo getroffen wurden. Er stellte fest, dass es nach den Erkenntnissen der letzten Monate durchaus gelungen sei, die Mehrheit der serbisch-orthodoxen Bevölkerung für die serbische Staatsidee zu gewinnen; er merkte an, dass die beobachteten Phänomene im Verwaltungsgebiet nicht nur bei einigen exaltierten Politikern anzutreffen seien, sondern dass der umstürzlerische Geist in bisher ungeahnten Ausmaßen alle Schichten der Bevölkerung erfasst habe. Der größere Teil der Geistlichen, der Lehrer in den Konfessionsschulen und der Intelligenz in freien Berufen wie auch der Stadtwirte wären von diesem Geist infiziert und dieser verbreite sich vielfach auch unter Landesbeamten und -angestellten aller Kategorien, trotz ihres Amtseides. Die konservative und loyale Bevölkerung wäre von dieser irredentistischen Bewegung verführt worden und lief im Grenzgebiet m it Waffen zur serbischen Armee über. Nach Potioreks Meinung zeigte der Prozess gegen die Attentäter, dass Serbien die nationale Leidenschaft bei den bosnisch-herzegowinischen Serben und ihre größenwahnsinnigen Aspirationen angestachtelt habe. Er beschuldigte den Slawischen Süden (Slavenski jug), aus dem die Narodna odbrana hevorgegangen ist, alle Kulturinstitutionen zum Werkzeug ihres politischen Zieles gemacht zu haben. Als Hauptgrund für das Erstarken des serbischen Nationalismus nannte Potiorek die Nachgiebigkeit gegenüber den früheren Forderungen der Serben, insbesondere nach dem Ende der Bürgerbewegung für die kirchlich-schulische Selbstverwaltung. Die Genehmigung der Satzung über 75 ABH, ZMF, Präs. BH 1914,1078. Entwurfeines Gesetzes womit die Bestimmungen des zweiten Hauptstückes des dritten Teiles des Strafgesetzes ergänzt werden. Zemaljska vlada za Bosnu i Hercegovinu Zajedničkom ministarstvu finansija, Sarajevo, 26. 07 1914. 77 ABH, ZMF, Präs. BH, 1914, 1.996. Milit. Komando Mostar, 1 9 .1 1 .1 9 1 4 . Zemaljska vlada Zajedničkom ministarstvu finansija, Sarajevo, 29 .11. 1914. <?page no="123"?> Der Tag, der die Welt veränderte 123 die kirchlich-schulische Autonomie schätzte er als einen fatalen Fehler der Verwaltung ein, denn dies hätte zur Errichtung einer Nationalkirche und schule geführt, wie auch das Bewusstsein bei den Serben geschaffen, dass sie keine Bosnier orthodoxen Glaubens und Angehörigen der Monarchie mehr seien, sondern ein eigenes, privilegiertes Element, das sich im Recht wähnte, einen Anspruch auf separatistische Aspirationen erheben zu dürfen, wom it eine geeignete Plattform für subversive Tätigkeiten geschaffen worden wäre.77 Die Interpretation der Geschichte des Ersten Weltkriegs im Rahmen des jugoslawischen Staates wurde bis zu äußersten Grenzen instrumentalisiert, m it schrecklichen Folgen in den Krisenzeiten. Es stellt sich die Frage, wo die Wurzel dieser Interpretationen liegt. Eine Teilantwort gibt uns die folgende Tatsache: Neben sozialen Momenten hatte im Zusammenspiel der Faktoren, die die Zustände in der Monarchie 1918 komplizierten, auch die Propaganda der Entente einen wichtigen Stellenwert. Nach dem Projekt einer internationalen Propagandakommission wurden am Kongress der Völker der österreichisch-ungarischen Monarchie, der vom 8. bis zum 10. April 1918 in Rom stattfand, Beschlüsse über die Verbreitung von Propaganda unter den österreichisch-ungarischen Truppen getroffen, wie auch über die Entsendung von Pazifisten und Defätisten, die im Stande wären, die Öffentlichkeit zu beeinflussen; es sollten auch verschiedene Komitees in Paris und London wie auch die nationalistische Agitation in der Flabsburgermonarchie unterstützt werden.7778 Die jugoslawische Sektion der Kommission sollte die ethnische und sprachliche Einheit der Jugoslawen, die Korfu-Deklaration und die Schaffung eines südslawischen Staates propagieren; es sollte über Flochverratsprozesse, jugoslawische Opfer der deutschen Ambitionen, Verbrechen der österreichisch-ungarischen Behörden geschrieben werden etc.79 Gerade diese Themen wurden später auch von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen, während andere nur fragmentarisch berührt wurden. Ein Produkt dieser Absichten war auch das Werk von Vladimir Ćorovićs unter dem Titel Crna knjiga (Das Schwarzbuch), das bis in die neueste Zeit bedenkliche Folgen zeitigen sollte. Es wurde 1989 wieder veröffentlicht, als es darauf ankam, die Nation zu homogenisieren, um bestimmte politische Ziele zu erreichen; und auch ohne diese Dimension war das Buch die Flauptquelle für zahlreiche andere Werke, die sich mit dieser Problematik 77 ABH, ZMF, Präs. BH 1994,1914, Izvještaj šefa Zemaljske vlade Zajedničkom ministarstvu finansija, Sarajevo, 1 5 .1 2 .1 9 1 4 . 78 Hrabak, Bogumil: Jugoslovenizarobljenici u Italiji i njihovo dobrovoljačko pitanje 1915-1918. godine, Novi Sad: Filozofskifakultet 1980, p. 166. 79 Ibid., p. 167. <?page no="124"?> 124 Zijad Šehić auseinandersetzten.80 Darüber hinaus diente es als Hauptquelle für zahlreiche Presseberichte, die einen Schlüsselfaktor in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung bildeten. Der überwiegende Teil der bosnisch-herzegowinischen, jugoslawischen und auch der andersprachigen Literatur über das Attentat von Sarajevo geht davon aus, dass die Täter und Hintermänner Mitglieder der Organisation Junges Bosnien waren. Der Begriff "Junges Bosnien" kam erst nach Ende des Ersten Weltkriegs in Gebrauch, vor allem aus ideologischen Gründen, um zu zeigen, wie positiv das Attentat die Schaffung des jugoslawischen Staates beeinflusst habe. Aber es gab auch andere Ansichten. Veselin Masleša war der Meinung, dass es sich eigentlich um ein "serbisches Junges Bosnien" handle, was an einigen Stellen in seinem Werk mehr oder weniger offen zur Sprache kommt.81 Die Einführung einer Auszeichnung in der Republika Srpska, die Tapferkeits-Gold- und Silbermedaille "Gavrilo Princip" kann als Beleg dafür dienen, wie richtig Masleša den Charakter dieser Bewegung eingeschätzt hat. Außerdem zeugen fünf Gedenktafeln für die Attentäter, von denen ein Teil in Museen erhalten ist, von der Wahrnehmungsgeschichte des Attentats von Sarajevo. Das "Sühne"-Denkmal für Ferdinand und Sophie, das man offiziell am 28. Juni 1917 eingeweiht hatte, wurde nach Ende des Ersten Weltkriegs entfernt.82 Übersetzt von Vahidin Preljević und Naser Šečerović 80 Ćorović, Vladimir: Crna knjiga. Patnje Srba Bosne i Hercegovine za vreme svetskog rata 1914-1918. Beograd: Đurđević 1920; Beatović, Đ o rđ e / Mićunović, Dragoljub: Veleizdajnički procesi Srbima u Austro-Ugarskoj. Beograd: Književne novine 1989; Banjanin, Jovan: Južni Sloveni u Austrougarskoj i rat. Beograd: Književne novine 1989. 81 Popović, 1969, p. 226. 8; Ibid., pp. 239ff. <?page no="125"?> D ž e m a l S o k o l o v i ć ( B e r g e n ) Sarajevo 1 9 1 4 - Ursachen und Folgen Attentat, Kriege, Nationalismen The approaches to Sarajevo Assassination are controversial. Historiography apparently is not the only one responsible and not quite sufficient to ensure an impartial explanation. This article reaches out for an answer in socio-political theory. The purpose of defining accurate causes for this particular event is to identify far-reaching consequences stretching up to our age. This more fundamental approach, unlike historiography, is looking for causes and consequences in a wider European context. While historiography points to Serbia and Austro-Hungary as being responsible for the Great War, the starting hypothesis here is that Sarajevo 1914, as well as the FirstWorId Warand further developments, are the consequences of fundamental conflict having taken place in the political theater of Europe: the clash between two irreconcilable political concepts-the nation state and multi-ethnic (and/ or civil) state. The Balkan wars, the "Eastern Question", the Young Turkish revolution, the occupation and annexation of Bosnia, the Berlin Congress 1878 are only immediate causes of the Sarajevo event. Therefore, only the cleavage dividing Europe, i.e. the conflict between the emerging nation states and the old multiethnic empires can provide a clear response to the question of all consequences of the Shots of Sarajevo: WWI, the creation of Yugoslavia as a triple-nation state, the dismemberment of Yugoslavia and other multi-ethnic states, up to the formation of Bosnia as a triple nation-state as well. Thus the Shots of Sarajevo shots have not only long history in the past but are echoing up to present 0. Einleitung Was eine Sache bestimmt, egal welche, also auch ein Ereignis, sind die Ursachen auf der einen sowie ihre Folgen auf der anderen Seite. Das Sarajevoer Attentat im Jahr 1914 kann nur dann verstanden werden, wenn man auch die letzten und tiefsten Ursachen dieses Ereignisses entdecken und wenn wir seine weitreichenden Folgen feststellen. Die Schüsse von Gavrilo Princip und die Ermordung Franz Ferdinands, des Thronfolgers der österreichisch-ungarischen Monarchie, und dessen Frau Sophie, lösen jedoch bereits seit hundert Jahren verschiedene, kontroverse und widersprüchliche Deutungen aus. Wenn die im ersten Satz aufgestellte Prämisse richtig ist, dann liegt der einzige Grund für die verschiedenen Interpretationen dieses Ereignisses, sowohl in der Wissenschaft als auch <?page no="126"?> 126 Džema I Sokolović in der Politik, in den verschiedenen Wahrnehmungen der Ursachen und Gründe dieses Ereignisses. Die Geschichtsschreibung ist besessen von der Frage, ob das Attentat von Sarajevo die Ursache des Ersten Weltkriegs oder ob er nur ein w illkommener Anlass für seinen Beginn war. Fügt man dem die ideologischen Neigungen der Geschichtswissenschaft hinzu, dann ist das Einzige, was die sie in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Standpunkt bieten kann, dass die Ursache des Großen Kriegs Serbien und dessen territoriale Aspirationen in Bosnien-Flerzegowina bzw. Österreich-Ungarn und seine militaristische Arroganz hinsichtlich serbischer Eroberungsambitionen war. Die Geschichtsschreibung bietet also zwei unwiderlegbare Tatsachen: Erstens stand Serbien hinter dem Attentat in Sarajevo, und zweitens erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Die sozialpolitische Theoriejedoch geht von einem viel weiteren Kontext aus: davon, was sich hinter diesem Ereignis befand und, vielleicht in einem höheren Maße, davon, wie sehr dieses Ereignis für die zeitgenössische Entwicklung der politisch-sozialen Wirklichkeit relevant und indikativ ist. M it anderen Worten, die sozialpolitische Theorie sucht nach weit in der Vergangenheit liegenden Ursachen, und die Folgen sind für sie noch heute lebendig. Wenn wir uns dem Attentat induktiv nähern, sehen wir, da es offensichtlich ist, dass ein Mensch getötet wurde, weil ihn ein anderer Mensch hasste. Aber bereits auf dieser Ebene ist es schwer zu akzeptieren, dass der Flass eines Menschen den Tod von 17 Millionen Menschen verursacht hat. Der Flass, wegen dem Millionen von Menschen, auch weitab von Sarajevo, Bosnien und dem Balkan, getötet wurden, muss, auch wenn wir auf der sozial-psychologischen Ebene bleiben, älter als Princips Flass und kollektiv gewesen sein.1Wenn der Mord in Sarajevo die Bedeutung einer Ursache von solch radikalen späteren Entwicklungen hätte, könnten wir daraus schließen, dass das Attentat in Sarajevo ein Ereignis sui generis war, also eine Erscheinung ohne Ursachen, oder zumindest eine Erscheinung ohne Ursachen in einem weiteren Kontext. Das ist natürlich nicht der Fall. Daher ist die Deduktion die einzige Methode, mit der man zu einer Antwort auf die Frage der wahren Natur des Anschlags von Sarajevo gelangen kann. Bis Sarajevo kann man also nur kommen, wenn man von einer allgemeinen Ursache ausgeht. Flinter den unmittelbaren Ursachen der Schüsse von Sarajevo, die auf jeden Fall sowohl in Serbien als auch in Österreich-Ungarn gefunden werden können, stehen die wahren, tieferen und radikale- 1 Und als würde er jemals aufhören: "If irritations with the US were powerful, they paled into insignificance behind the wave of Germanophobia the war in Bosnia unleashed among some MPs." (Simms, Brendan: Unfinest Hour, Britain and the Destruction of Bosnia. London: Allen Lane/ Penguin 2001, p. 281) <?page no="127"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 127 ren Ursachen. Die Ursachen des Attentats müssen weitab von Sarajevo, ja sogar von Wien gesucht werden. Nur unter der Bedingung ihrer Entdeckung wird es möglich sein, auch die wahren, d.h. viel weiteren, viel tieferen Ursachen, sowie die Folgen, die ohne Aussicht, bald aufzuhören, heute noch andauern, zu entdecken. Die Entdeckung der allgemeinen Ursache wird uns dabei helfen, dass auch der Erste Weltkrieg nicht die endgültige Folge war und dass das Echo dieser Schüsse in Sarajevo, in Bosnien, auf dem Balkan, aber auch europaweit noch immer gehört werden kann. Man muss nur Ohren haben, die in der Lage sind, politischen Ultraschall zu hören. Unser Standpunkt zu den Ursachen und Folgen des Attentats von Sarajevo ist von unserer theoretischen, wenn auch sehr radikalen Hypothese bestimmt. Das Attentat von Sarajevo ist die Folge des unversöhnlichen Konflikts zwischen zwei theoretisch-politischen Konzepten: dem nationalen und dem multiethnischen Staat bzw. der multiethnischen Gesellschaft. Dieser Konflikt erschüttert bereits seit zwei Jahrhunderten die politische Szene Europas. Die Hypothese, mag sie noch so vage, abstrakt und theoretisierend klingen, kann ihre Bestätigung sowohl in den Ursachen als auch in den Folgen dieses tragischen Ereignisses finden. Diese führen uns zwingend zur endgültigen Antwort: Nationalismus stand hinter den Schüssen eines jungen Mannes, dessen Hand vom Fanatismus eines im Entstehen begriffenen Nationalstaates geführt wurde, und hinter der Ermordung eines Mannes, der den Thron eines aristokratischen europäischen Staates und seiner multiethnischen Gesellschaft hätte besteigen sollen. In diesem Sinne sollte man auch die Worte von Clemens Ruthner auffassen, wenn er behauptet, dass Gavrilo Princip sowohl Täter als auch Opfer der Umstände ("victim of circumstances") war. Das W ort "Umstände" gefällt mir besonders, weil es nichts - und alles bedeutet.2 In diesem Wort, gerade weil es alle Ursachen umspannt, befindet sich der Schlüssel des Sarajevoer Attentat genannten Rätsels. Um seine volle Bedeutung zu haben, muss das W ort "Umstände" genauer bestimmt werden. I. Der politische Schauplatz Europas: nationaler vs. multiethnischer Staat Die Französische Revolution 1789 weckte die Hoffnung auf die Möglichkeit einer bürgerlichen Gesellschaft und eines bürgerlichen Staates in Europa. Die verführerischen Worte Iiberte, fraternite, egalite begeister- 2 Siehe: C. Ruthner: 'Princip u isto vrijeme i počinilac zločina i žrtva okolnosti.' In: Vijesti, 27.06.2014, http: / / www.vijesti.ba/ vijesti/ bih/ 224334-Ruthner-Princip-isto-vrijeme-pocinilac-zlocina-zrtva-okolnosti.html. <?page no="128"?> 128 Džemal Sokolović ten auch G. W. F. Hegel, denn er war überzeugt, dass seine Ideen zur bürgerlichen Gesellschaft, deren Fundament das Individuum darstellt, sich endlich zu verwirklichen begonnen haben. Die Begeisterung währte gedoch nicht lange und wurde von einer tiefen Enttäuschung abgelöst: 3 Anstelle des Friedens, der Brüderlichkeit und der Gleichheit kam etwas Anderes. Das, was das bürgerliche Frankreich Europa angeboten hatte, verwandelte sich bald in eine Zeit des Terrors, der Napoleonischen Kriege und des Nationalismus. A u fd e r politischen Ebene sollte der aristokratisch-theokratische Staat vom Nationalstaat abgelöst werden. Die politische Form, die diesen Wechsel hätte sichern sollen, war die Demokratie. Dies konnte nur auf zweierlei Arten bewerkstelligt werden: 1. Entweder durch die Auslöschung der ethnischen Vielfältigkeit durch die repressive Einrichtung einer nationalen Einheitlichkeit; 2. Oder durch den Zerfall der aristokratisch-theokratischen Staaten entlang ihrer ethnischen Nähte, und zwar durch aggressive, sezessionistische, alias Befreiungsbewegungen, die jedoch auch mit einer repressiven Antwort des zentralistischen Staates rechnen mussten. Auf beide Arten käme die Errichtung des Nationalstaates in einen ernsthaften Konflikt m it dem Grundprinzip der Demokratie, die auf dem Bürger, d. h. Individuum gegründet ist und nicht auf irgendeiner Kollektivität, also auch nicht der nationalen. Zuerst Frankreich, das Vereinigte Königreich und später dann Deutschland stehen paradigmatisch für die erste, und die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich für die zweite Art der Errichtung eines Nationalstaates. Im Grunde standen sowohl die alte Türkei als auch Österreich-Ungarn der Realisierung dieses politischen Prinzips eines modernen Europa im Wege und wurden als anachronistisch und dekadent aufgefasst. Die restlichen Staaten, einschließlich der Balkanstaaten, folgten diesem Trend nur und entwickelten eigene spezifische Richtungen bei der Errichtung von Nationalidentitäten, d. h. bei der Ausmerzung von ethnischer Vielfältigkeit und beim Bau von Nationalstaaten. Hiermit soll natürlich nicht gesagt werden, dass der Nationalismus ein französisches Phänomen ist.4 Noch weniger, dass der konzeptuelle politische Konflikt zwischen einem nationalen und einem multiethnischen Hegel, Georg W. F: Werke in 20 Bänden mit Registerband. Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2004s (stw 607). s Aberes soll gesagt werden, dass der französische Nabonalismus das Paradigma des europäischen ist, genauso wie Ernest Renan (und sein Arbkel Qu'est-ce qu'une nation? vonl882) das Paradigma der europäischen Theorie der Nabon. Sogar in der Bretagne, will der Arme uns ein reden, die Zugehörigkeit zu einer Nabon sagen w ir einmal der französischen fuße auf dem freien Willen ihrer Einwohn er fußt. Vgl. BaIakrish na n, Gopal (Hg.): Mapping the Nabon. Introducbon by Benedict Anderson. London, New York: Verso & New Left Review 1996. <?page no="129"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 129 Staat auf einen Konflikt zwischen Staaten beschränkt ist. Der Konflikt trug sich auch, und trägt sich noch immer, innerhalb von Staaten zu, sowohl denjenigen m it ausgesprochen multiethnischen Gesellschaften als auch denjenigen mit einer dominant monoethnischen Gesellschaft, der für ein Zusammenleben m it anderen innerhalb eines gemeinsamen m ultiethnischen Staates, und einen zweiten, der für eine politische Abgrenzung von den anderen oder deren Assimilation ist. Schlussendlich verläuft die Grenze, die diese zwei politischen Konzepte trennt, häufig durch jeden einzelnen von uns, und spaltet uns in einen Bosnier und einen bosnischen Nationalisten, einen Serben und einen serbischen Nationalisten, einen Österreicher und einen österreichischen Nationalisten. Der Nationalismus ist zwar ein soziales, aber auch ein anthropologisches Phänomen, und nur die Umstände (! ) bestimmen, wann er eskalieren und an die Oberfläche gelangen wird. Der Nationalstaat ist demnach zwar ein Spiegelbild des Gesellschaftszustands, aber er ist auch ein anthropologisches Resultat, also ein Spiegelbild des Bewusstseins, der Moral und des Geistes eines jeden einzelnen Mitglieds der Gesellschaft. II. Die Ursachen des Attentats von Sarajevo Warum ist es wichtig, die Ursachen des Attentats von Sarajevo festzustellen? Vor allem deswegen, weil wir nur dadurch die wahre Natur dieses Ereignisses enthüllen können. Aber die exakte Feststellung der Ursache ist auch wegen der exakten Feststellung der Folgen notwendig. Aufgrund dessen wird es möglich sein zu sehen, dass diese Folgen auch heute noch fortdauern. Deswegen brauchen wir neben der Geschichtsschreibung auch die sozial-politische Theorie. Die Offenlegung der Vergangenheit hat die Enthüllung der Wahrheit dieses Moments zum Zweck, dessen, was mit uns hier und jetzt passiert. Daher ist es nicht prätentiös zu sagen, dass die Theorie im Grunde auf die zukünftige Entwicklung hinweisen möchte. 1. Die unmittelbaren Ursachen des Attentats von Sarajevo: Die Balkankriege Die unmittelbare Ursache des Attentats von Sarajevo waren die Balkankriege. Dies impliziert angesichts der anfangs aufgestellten Flypothese, dass auch die Balkankriege eine Folge des Konflikts zweier politischer Konzepte waren: des nationalen und des multiethnischen Staates. Der Erste Balkankrieg begann m it dem Angriff Bulgariens, Montenegros, <?page no="130"?> 130 Džema I Sokolović Griechenlands, Rumäniens und Serbiens auf die Türkei. (Alle diese Staaten waren Nationalstaaten, jedoch nicht aristokratisch, auch wenn an ihrer Spitze Könige standen.) Der Konflikt sollte hypokritisch als ein zivilisatorischer Konflikt dargestellt werden, ja, es sollte ein Krieg für die Befreiung der christlichen und slawischen Brüder sein. Der Krieg der kleinen, kürzlich entstandenen balkanischen orthodoxen Staaten gegen die muslimische Türkei sollte damit a priori die Huntingtonsche 'These' von der zivilisatorischen Unverträglichkeit bestätigen. Das erste und unm ittelbare Hindernis für das Prinzip des Nationalstaates ist auf jeden Fall die kulturelle Vielfalt; es mussten erst einmal die zivilisatorisch Distinktiven beiseite geschafft werden. Dies erklärt die wohlwollende Haltung der europäischen Staaten zu den territorialen Ansprüchen der Balkanstaaten, aber auch die tolerante Haltung zu den Verbrechen, die diese Staaten vor allem auf dem Gebiet Albaniens und im Kampf um Adrianopel verübt hatten. Davon zeugt The Report o f the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct o f the Balkan Wars, der von einer unabhängigen internationalen Kommission zusammengestellt als ein Dokument des Carnagie Endowment for International Peace in Washington 1914 veröffentlicht w urde.5 Aus diesem Grund wurde die "Orientfrage", d.h. die Frage des Fortbestands der Türkei in Europa erfunden.6 Es sollte im Grunde bewiesen werden, dass die einzige Europa trennende Linie die zivilisatorische ist, also die Linie zwischen der europäischen Türkei und dem Rest des Kontinents. Dadurch wollte Europa verschleiern, dass es auch durch zahlreiche andere Nähte, Klüfte und Risse gespalten ist; der Westfälische Frieden hatte nur die tiefste Kluft verdeckt. Neben der "östlichen" existierte bereits damals auch die Frage der Kluft zwischen Europa und dem europäischen, dazu auch christlichen Russland, zwischen "Europa" und Osteuropa, zwischen Westeuropa und Mitteleuropa, zwischen dem "richtigen", modernen, westlichen Europa und dem Europa der "drei Kaiser", und es existierte auch der eben erst zugeheilte Riss zwischen dem napoleonischen Frankreich und Europa. All dies sollte durch die "tiefste" Europa spaltende Kluft die erfundene "Orientfrage" verdrängt werden. Die Grundlage all dieser Teilungen war die Spaltung Europas in zwei Konzepte: in das moderne 5 Siehe: (http: / / archive.org/ details/ reportofinternatOOinteuoft). 6 Die "Orientfrage", d.h. die Frage des muslimischen Osmanischen Reiches in Europa, ist nur die konsequente Anwendung der Errungenschaften des Westfälischen Friedens, der die konfessionelle Toleranz zwischen den Staaten, jedoch nicht innerhalb der Staaten ermöglicht hatte. Das Osmanische Reich sollte sich mit Europas "Errungenschaft" abfinden, wonach der Staat sich mit den konfessionellen in diesem Fall: islamischen- Grenzen - oder vice versa decken sollte. <?page no="131"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 131 Europa der Nationalstaaten und die anachronistischen, aristokratischen Staaten von Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Die Balkankriege waren zwar die unmittelbare Ursache des Attentats von Sarajevo, der Schüsse eines Nationalisten auf einen Aristokraten, aber auch eine Folge genau dieser fundamentalen Spaltung Europas. Konnten die Balkankriege also mit einer gewissen Dosis Legitimität rechnen? Vor meiner Antwort werde ich zwei Hypothesen aufstellen, die Sie entweder bestätigen oder verwerfen werden. 1. Die Balkankriege waren Kriege für die Befreiung der Balkanvölker, vor allem also der südslawischen, von der osmanischen Herrschaft. Aber die Balkankriege waren auch -Verbrechen, also eine Folge der Freiheit in ihrer negativen Gestalt. 2. Die Balkankriege waren gegen die osmanische Herrschaft und den osmanischen Staat gerichtet, die als eine Okkupationsherrschaft wahrgenommen und dargestellt wurden. Aber die Balkankriege endeten doch in neuen Okkupationen, endeten also in einer Freiheit, welche die Gewinnerstaaten der Türkei vorenthielten. Diese beiden Hypothesen werfen die Frage nach der Legitimität der Balkankriege auf. Die Legitimität der Balkankriege hängt jedoch nicht nur von davon ab, ob diese Hypothesen bestätigt werden, sondern auch vom endgültigen Ausgang dieser Kriege: Ob nämlich der Balkan ohne die Türken zu etwas Besserem geworden ist? Diese Frage enthält im Grunde die Quintessenz einer anderen Frage, welche bereits seit 200 Jahren die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf sich zieht und ein Dilemma der europäischen Staatsmänner ist. Nach den Worten von L.S. Stavrianos: "Sie gaben die Degeneration des Osmanischen Reiches zu, aber auf die Frage, was stattdessen kommen sollte, konnten sie keine Antwort geben. Dies ist der Kern dessen, was später als "Orientfrage" bekannt werden sollte."7 Die Antwort auf die oben gestellte Frage hängt also davon ab, was das Osmanische Reich abgelöst hat. Vor dieser Ungewissheit warnte Jahrzehnte zuvor der russische Botschafter in Istanbul Nikolai Ignatjew, ein guter Kenner der Situation auf dem Balkan und im Osmanischen Reich zur Zeit der Gründung des ersten Balkanbundes (1860). Er warnte prophetisch davor, dass "nichts Stabiles auf der Balkanhalbinsel aufgebaut werden wird, bevor viele Jahre vergangen sein werden."8Viele Jahre sind vergangen und seine Worte klingen immer noch prophetisch. 7 Stavrianos, Leften Stavros: The Balkans since 1453. London: Hurst & Co. 2000, p. 286f. 8 Ibid., p. 535 (Wie alle anderen Zitate vom Übersetzer des Beitrags ins Deutsche übertragen.). <?page no="132"?> 132 Džemal Sokolović 2. Die Ursachen der Balkankriege: die sogenannte "Orientfrage" Bevor wir etwas mehr über die sogenannte "Orientfrage" als Ursache der Balkankriege, also auch des Attentats von Sarajevo und der späteren Entwicklung sagen, möchte ich einige Ereignisse anführen, von denen ich denke, dass sie unmittelbar zu den Balkankriegen geführt haben. Das ist die Jungtürkische Revolution, die Okkupation und Annexion von Bosnien-Herzegowina sowie natürlich der Berliner Kongress. 2.1. Die Jungtürkische Revolution - Nationalstaat Türkei Es wird etwas ungewöhnlich anmuten, die Analyse der Ursachen der Balkankriege m it der Türkei, also mit dem Opfer dieser Kriege zu beginnen. Es wollten nämlich nicht nur die vom Osmanischen Reich befreiten balkanischen Nationalstaaten etwas m it der Türkei machen. Das Bewusstsein von der Notwendigkeit von Veränderungen kam auch in der Türkei selbst auf. Sie wurde noch während der osmanischen Periode im 19. Jahrhundert und m it dem Tanzimat geboren. Es war das Nationalbewusstsein einer anderen, modernen Türkei, die den europäischen Staaten ähneln wollte. Der Unterschied lag nur darin, dass der türkische Nationalismus nicht m it einer Opferung der territorialen Integrität rechnete, während die Nationalismen in den Balkanstaaten vor allem auf die 'Befreiung' zielten, m it anderen W orten, auf die territoriale Expansion der eigenen Territorien. Man sollte vor allem im Kopf behalten, dass die Bildung der türkischen Nation, genauso wie die Bildung der Nationen in den Balkanstaaten, in Europa begann. Die Diaspora spielte bei der Bildung der Balkannationalismen, einschließlich des türkischen, die Initial-, ja vielleicht die Schlüsselrolle. Eine vergleichende Studie über den Nationalismus und das nation building in Griechenland und der Türkei von Umut Özkirimli und Spyros A. Sofos weist unmissverständlich auf dasselbe Vorbild und dieselbe Ursache der Balkannationalismen auf beiden Seiten der damaligen Grenze des Osmanischen Reiches hin.9 Obwohl im Zustand eines wirtschaftlichen Kollaps, schickten sowohl reiche Türken als auch reiche Griechen, Serben und andere ihre Kinder in den Westen, vor allem nach Paris, aber auch nach Wien und in andere europäische Metropolen. Dort erlernten sie viele Fächer, aber auch etwas Gemein- 9 Özkirimli, U m ut/ Sofos, Spyros A.: Tormented by History, Nationalism in Greece and Turkey. London: Hurst & Co. 2008. <?page no="133"?> Attentat. Kriege, Nationalismen 133 sam es-den Nationalismus. Zusammen mit der politischen Emigration, die bereits dort war, entstand so eine politische Kraft, die dem Balkan manchmal unerwartete und ungewollte - Veränderungen bringen sollte. Während Europa auf der "Orientfrage" bestand, versuchte die türkische Diaspora in Europa das Osmanische Reich in Europa zu behalten und es so europäisch wie möglich zu machen. Je mehr der europäische Nationalismus versuchte, die Türkei aus Europa zu verdrängen, desto mehr versuchte dertürkische Nationalismus zu beweisen, dass er europäisch ist. In Paris agierten zwei Gruppen von Jungtürken, Flüchtlingen, die entweder m it der anachronistischen, aristokratischen Ordnung oder mit dem Sultans unzufrieden waren. Es ist sehr bezeichnend, worin der Unterschied lag. Die von Ahmed Riza geführte Gruppe "setzte sich für die türkische Prädominanz und eine zentralisierte Regierung ein", während die von Prinz Sabaheddin, also einem Aristokraten und Verwandten des Sultan geführte Gruppe "ein dezentralisiertes Reich favorisierte, in dem ein Untertanenvolk volle Autonomie hätte"10. Was sie also unterschied, trennte und gegeneinanderstellte, war der Grad der Toleranz gegenüber nichttürkischen Völkern: DerAristokrat, mag er noch so unzufrieden mit dem alten Regime sein, ist mit der Zentralisierung des Staates und der Unterdrückung des multiethnischen Charakters der Gesellschaft nicht einverstanden. Die Spaltung innerhalb der jungtürkischen Bewegung wird vor allem bei der Definition ihres politischen Ziels zum Ausdruck kommen: "Sie beteuerten oft ihren Wusch, dass alle Bürger des Reichs in dem Sinne Osmanen werden sollen, wie alle Bürger Frankreichs Franzosen waren."11 Und tatsächlich, im Juli 1908 umarmten Muslime und Christen einander auf den Straßen. Aber es zeigte sich sehr bald, was es denn heißt, wenn Türken auf französische Weise zu Türken werden. "Der Anführer der Jungtürken, Enver Pascha, rief: 'Es gibt keine Bulgaren, Griechen, Rumänen, Juden, Muslime. W ir alle sind Brüder unter dem gleichen blauen Flimmel. W ir sind alle gleich, w ir sind stolz darauf, Osmanen zu sein.' Diese euphorische Atmosphäre hielt nicht lange an."12 Es zeigte sich sehr bald, dass der türkische Nationalismus das genaue Gegenteil von dem erreicht hat, was er wollte. Anstelle der Begründung der nationalen Einheit, also der Auslöschung der ethnischen Vielfältigkeit, wurde sogar die territoriale Integrität des Landes in Frage gestellt. Die osmanische Politik nach 1908 trug so zur gegenseitigen Annäherung der Balkanstaaten und der Gründung des Balkanbundes bei. Die 10 Stavrianos 2000, p. 525. 11 Ibid., p. 527 12 Ibid., p. 526. <?page no="134"?> 134 Džema I Sokolović "Türkifizierung" der Jungtürken "als Anhänger eines westlichen Nationalismus" versuchte nämlich, "die Zentralisierung und Hegemonie der Türken in ihrem polyglotten Reich zu fördern." Das Resultat war aber nicht "Einheit, sondern vielmehr Unzufriedenheit und Revolte."13 So zeigte es sich, dass der türkische Nationalismus, der einen Nationalstaat, der per definitionem ethnische Vielfältigkeit ausschließt, anstelle eines Bürgerstaates, der per definitionem mit einer multiethnischen Gesellschaft rechnet, aufzubauen versuchte, die Nationalismen der anderen Balkanstaaten bestärkte. Die jungtürkische Revolution beflügelte die Gründung des Balkanbundes, und anstatt ihn gegen den Einfluss Österreich-Ungarns auf dem Balkan zu steuern, was Russlands Absicht war, unterstützte sie den Krieg der Balkanstaaten gegen die Türkei. Die türkische nationale Identität der Gesellschaft aufbauend, bereitete der Nationalstaat Türkei dadurch gewissermaßen das raison d'etre der "Orientfrage" vor, und legitim ierte beinahe den Krieg der Balkanstaaten. In ihren Bestrebungen, ein moderner europäischer Staat zu werden, trug die Türkei solchermaßen zu den europäischen Bemühungen bei, sich ihrer zu entledigen. Kurz zusammengefasst, trug der Nationalismus der jungtürkischen Bewegung, und nicht nur der Expansionismus der nationalen Balkanstaaten, zu den Balkankriegen und somit auch zum Attentat von Sarajevo und dem Großen Krieg, der in Kürze folgen sollte, bei. Der Erste W eltkrieg und die Teilnahme der Türkei in diesem Krieg war eine neue Anregung für den Nationalismus und die Fortsetzung der Gründung eines Nationalstaates. Die Formung des türkischen Nationalstaates während und nach dem Großen Krieg bestätigt in seiner kemalistischen Version unsere These: das Ende derjenigen Fundamente, auf denen das Osmanische Reich existierte - M ultiethnizität, Aristokratie und die theokratische, islamische Ordnung. In einem aristokratischen und theokratischen Staat wie dem osmanischen konnten nichttürkische Völker und Nichtmuslime Jahrhundertelang leben; der Nationalstaat musste rein türkisch sein. Das Resultat dessen waren Deportationen und vernichtende Massaker an Hunderttausenden osmanischen Armeniern 1915, die Flucht von Christen Anatolien in Richtung des Ägäischen Meers und Russlands nach dem Rückzug der griechischen Armee vor den türkischen Streitkräften im Jahre 1920, sowie schließlich "der Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland", laut einem besonderen Kapitel des Vertrags von Lausanne 1923.14*11 13 Ibid., p. 532. 11 Özkirimli / Sofos 2008, p. 132f. <?page no="135"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 135 2.2. Okkupation und Annexion Bosnien-Herzegowinas Die jungtürkische Revolution und das Aufblühen des türkischen Nationalismus hatten ihre Ursachen nicht nur im Wirken der Diaspora und der türkischen Intelligenz, welche die türkische Nationalidentität formte. Der Nationalismus fand auch im endgültigen Verzicht Europas auf eine Anerkennung der territorialen Integrität des Osmanischen Reiches seine Stütze. Die endgültige Desintegration des Osmanischen Reiches eröffnete nicht der Balkanbund, sondern die europäischen Mächte durch die Okkupation Bosnien-Herzegowinas. Dieses Ereignis war der endgültige Beweis, dass Europa seine Prinzipien und sogar die eigenen offiziellen Abkommen preisgibt. Durch den Pariser Frieden 1856 nach dem Krimkrieg, wurde das Osmanische Reich als ein europäischer Staat anerkannt und man garantierte für seine Integrität und Unabhängigkeit.15Nur etwa zwanzig Jahre danach erlaubte man Österreich-Ungarn, aufgrund eines Beschlusses des Berliner Kongresses, d.h. der europäischen Mächte, einen Teil des Territoriums des Osmanischen Reiches zu okkupieren, wodurch Europa seine eigene Garantie der territorialen Integrität der Osmanen preisgab. Vom Standpunkt unserer Untersuchung bezeichnete die Okkupation den Anfang vom Ende eines aristokratischen Staates, der zumindest davor auch ein m ultiethnischer Staat war, und vermutlich auch den Anfang vom Ende einer multiethnischen Gesellschaft. Vom selben Standpunkt gesprochen, sollte betont werden, dass hinter dem Beschluss der Okkupation das Europa der Nationalstaaten stand, von denen einige noch immer, obwohl nur formal, auch aristokratisch waren. Was Bosnien angeht, kann man in Anbetracht aller Umstände, in denen es sich befand, sagen, dass die Okkupation, und später die Annexion das Beste war, was ihm hätte passieren können. Dennoch muss angesichts der Tatsache, dass die Okkupation auch eine Provokation des serbischen Nationalismus (desjenigen in Serbien, aber auch desjenigen in Bosnien) darstellte, zugegeben werden, dass die Okkupation für das multiethnische Gebiet einen Urteilsspruch bedeutete, den später Gavrilo Princip vollstrecken sollte.16Auf der anderen Seite sollte man nicht aus den Augen verlie- 15 Vgl. Stavrianos 2000, p. 393: "The Treaty of Paris admitted the empire into the European concert of nations and explicitly guaranteed its integrity and independence." 16 Gavrilo hat zwar auf Franz Ferdinand geschossen, aber er hat auch auf Bosnien geschossen, auf das multiethnisch tolerante Österreich-Ungarn, aber auch auf die proklamierten Prinzipien hinsichtlich der ethnischen Toleranz Europas. Dass zu den Mitgliedern des "Jungen Bosnien" auch Kroaten und Muslime zählten, ist irrelevant. Dieser "multiethnische" Charakter der Organisabon war nur ein Indikator des im Entstehen begriffenen bosnischen Nationalismus. <?page no="136"?> 136 Džemal Sokolović ren, dass hinter Princips Schüssen auch die Spannungen und der Konflikt zwischen den unversöhnlichen Rivalen Russland und Österreich-Ungarn in Bezug auf den Balkan und vor allem Bosnien standen. Hinter all dem stand aber im Grunde der verborgenste und tiefste Konflikt zwischen West- und Mitteleuropa, also der Konflikt zwischen zwei unversöhnlichen politischen Konzepten: demjenigen des Nationalstaates und demjenigen des multiethnischen Staates. Die Schüsse von Gavrilo Princip waren also die Schüsse Europas auf sich selbst, und damit war der Beschluss über die Okkupation Bosniens selbstmörderisch für den Kontinent. Der Herrschaftswechsel in Bosnien sieht nur auf den ersten Blick wie ein lokales Phänomen aus. Der Einzug Österreich-Ungarns anstelle des Osmanischen Reiches, also eines binationalen Staates anstelle eines aristokratischen, stellte einen viel radikaleren Schritt und eine bedeutende Veränderung für den gesamten politischen Schauplatz in Europa dar. Um klar zu sein und auch von denen verstanden zu werden, die unsere Meinung nicht teilen, oder noch besser, damit auch diejenigen uns zustimmen, die diesen Aspekt nicht beachtet haben, ist es nun nötig, einen Vergleich zwischen der osmanischen und der österreichisch-ungarischen Regierung in Bosnien-Herzegowina anzustellen. Es sollte zwar beachtet werden, dass Bosnien über vier Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft war, und unter Österreich-Ungarn nur 40 Jahre. Dennoch ist der Unterschied auffallend offenkundig und sollte nicht außer Acht gelassen werden. Beide Länder hatten außerordentlich multiethnische Gesellschaften. Während jedoch Österreich-Ungarn ein heimlicher Nationalstaat war, und zwar schon unter der aristokratischen Bezeichnung Habsburger Monarchie, war das Osmanische Reich ein wirklich multiethnischer Staat, solange es aristokratisch und theokratisch war. Die Aristokratie war die einzige europäische Gesellschaftsschicht, die multiethnisch war; das war sowohl bei den Habsburgern als auch bei den Osmanen so. Und wie die Habsburgische Monarchie, begann auch der Staat der Osmanen im 19. Jahrhundert, noch während er aristokratisch war, seinen multiethnischen Charakter einzubüßen und einen nationalen anzunehmen. Aber das, was aus dem Osmanischen Reich einen multiethnischen Staat machte, war im Unterschied zu Österreich-Ungarn nicht die Tatsache, dass die Osmanen besonders multiethnisch und immer weniger türkisch waren, sondern dass ihre Untertanen auf allen Ebenen an der politischen Macht teilnehmen konnten, unbeachtet ihrer ethnischen Identität. Das Beispiel der Bosnier ist exemplarisch. Im 16. Jahrhundert herrschten sie fast das ganze Jahrhundert über das Reich. Immerhin neun der türkischen Großwesire waren Bosnier, und drei davon aus der Familie Sokolović. Die vermutlich herausragendste politische Figur in Istanbul zu <?page no="137"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 137 dieser Zeit war kein Türke, sondern ein Bosnier.17 Die Zahl der aus Bosnien stammenden Wesire war sogar noch größer. Der Großwesir war der höchste Träger der ausführenden Gewalt im Staat.18 Man darf auch nicht vergessen, dass die bosnische Sprache zu dieser Zeit eine der fünf diplomatischen Sprachen an der Pforte, dem Weißen Haus der damaligen Zeit, war. Und schließlich war auch der Mann, der die türkische Armee bis Wien, dem weitesten Punkt der osmanischen Eroberungen in Europa, geführt hatte, kein Türke, sondern Bosnier. Ähnliches könnte man auch über die Albaner, Serben usw. sagen. Das Osmanische Reich war zwar, wie ich bereits gesagt habe, nicht nur ein aristokratischer und multiethnischer, sondern auch ein theokratischer Staat. Das heißt, dass alle politischen Positionen im Staat ausschließlich für Muslime reserviert waren. Praktisch hieß das, dass die Konversion zum "richtigen Glauben"19 den Weg zu allen staatlichen Funktionen öffnete, während die ethnische Identität dabei kein Hindernis darstellte. So war es an der Spitze der politischen Hierarchie, und so war es auch an ihrem unteren Ende. Nur Muslime waren zum Militärdienst verpflichtet, und die anderen waren von dieser Pflicht befreit. Nichts Ähnliches kann man von Österreich-Ungarn sagen, bis auf eine Ausnahme: Die bosnischen Muslime konnten - oder vielmehr: mussten ihren Militärdienst in der österreichisch-ungarischen Armee leisten. Auch alle anderen Untertanen aus Bosnien taten das, und alle mit dem Fez auf dem Kopf, ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit. Dies bestätigt am eindrucksvollsten, dass Österreich-Ungarn ein Nationalstaat war. Die Annexion Bosniens war nur eine notwendige formal-rechtliche Folge der jungtürkischen Revolution. Da durch den Beschluss des Berliner Kongresses über die österreichisch-ungarische Okkupation vorgesehen war, dass der Sultan die formale Souveränität über Bosnien behalten sollte, machte die jungtürkische Wende 1908 in Istanbul auch dies rechtlich nichtig. 2.3. Der Berliner Kongress 1878 Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas war zwar einer der Beschlüsse des Berliner Kongresses, aber nicht der wichtigste. Die Österreicher, vor allem aber die Ungarn waren lange Zeit gegen eine Okkupation Bosniens. Sowohl 17 Samardžić, Radovan: Mehmed Sokolović. Beograd: Srpska književna zadruga 1975. 18 Der Sultan war zwar der Träger der Souveränität, aber die ausführende, und das heißt die wirkliche Gewalt lag in den Händen der Hohen Pforte. 19 Esposito, John L.: Islam, the Straight Path. New York, Oxford: Oxford University Press 1998. <?page no="138"?> 138 Džemal Sokolović die einen als auch die anderen zögerten aus einer zweifachen Befürchtung heraus: Im Falle einer Annexion Bosniens würde das slawische Element innerhalb der Monarchie anwachsen und noch stärker den binationalen Charakter des Staates bedrohen. Bosnien Serbien zu überlassen hieße andererseits, die Möglichkeit der Entstehung eines großen slawischen Staates, oder noch schlimmer die Entstehung Großserbiens zu eröffnen. Man kann aber getrost sagen, dass die Entscheidung über die Okkupation Bosniens eine Nebenentscheidung war, auch wenn diese später eine Schlüsselrolle für die Zukunft Europas spielen sollte. Der Berliner Kongress wurde auch nicht wegen Bosnien einberufen, ebenso wenig wegen Bulgarien, das von Russland geschaffen wurde, sondern vielmehr wegen Russland und seinem endlich erreichten Ziel, durch die Gründung Großbulgariens bis zum Mittelmeer zu kommen. Die europäischen Mächte, vor allem Großbritannien, stoppten auch dieses Mal wie schon im Krimkrieg Russland und demontierten schleunigst Großbulgarien beim Berliner Kongress. Dadurch zeigte es sich, dass die Kluft zwischen Europa und Russland wirklich existierte, genauso wie die Kluft zwischen Europa und dem Osmanischen Reich. Aber der Berliner Kongress zeigte auch, dass die größte Kluft diejenige innerhalb Europas selbst war: die Kluft zwischen West- und Mitteleuropa. So wie Österreich-Ungarn sich vor einem großen slawischen Staat auf dem Balkan fürchtete, wie Russland sich sowohl vor Österreich-Ungarn als auch vor dem Panserbismus, der den Platz des Panslawismus einnehmen könnte, fürchtete, und so wie sich im Grunde niemand vor dem Osmanischen Reich fürchtete, obwohl alle gerade das Osmanische Reich als Ausrede für ihre nationalistischen Expansionen nutzten, genau so existierte noch eine Furcht, die größte, europäische. Europa, das 'richtige', fürchtete sich weder vor Österreich-Ungarn, noch vor Preußen oder Russland, solange dieses sich vom Bosporus fernhielt. Europa fürchtete sich vor der Vereinigung der europäischen Mächte aus der zweiten Liga: Preußen, Russland und Österreich-Ungarn. Großbritannien fürchtete sich vor dem Dreikaiserbund, der genau die Hauptzielscheibe des Berliner Kongresses war. Großbulgarien und der Zugang Russlands zum M ittelm eer nach dem russisch-türkischen Krieg 1877-1878 waren nur der Anlass, zu zeigen, wer in Europa der Chef ist. Vom Standpunkt Großbritanniens aus wurde ein noch größerer Erfolg verbucht, als es die Distanzierung Russlands vom M ittelm eer war: der Zerfall der Liga der drei großen europäischen Reiche. M it den Worten Disraelis, des damaligen britischen Premierministers: "Ich denke, dass niemals irgendein großes diplomatisches Resultat vollständiger realisiert wurde."20 So wurde das grundsätzliche politische 20 Stavrianos 2000, p. 412. <?page no="139"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 139 Prinzip Europas, das auf dem Nationalstaat begründet war, erfolgreich auf dem Balkan erprobt. Der Berliner Kongress wurde also einberufen, um eine Integration Europas mit einem aristokratischen Charakter zu verhindern, die als solche die multiethnische Gestalt der europäischen Gesellschaft hätte bewahren können. Die Alternative zu einem solchen Europa war eine Union der Nationalstaaten Europas. Die heutige politische Situation bestätigt nur, dass sie eine Folge von noch im Jahre 1878 gelegten Fundamenten sowie von Ursachen ist, die bereits vor den schicksalsträchtigen Entscheidungen in Berlin existierten. 3. Die Ursachen der sogenannten "Orientfrage" Die "Orientfrage", d.h. die Frage der Stellung der nichttürkischen Völker und der nichtmuslimischen Minderheiten im Osmanischen Reich wurde von einem keinesfalls prinzipiellen Standpunkt aus gestellt. Der europäische Nationalismus, d.h. der Standpunkt, von dem aus diese Frage gestellt wurde, konnte als Folge nichts anderes als wiederum Nationalismus haben und zwar Kriege in der vollen Bedeutung des Wortes - und neue Okkupationen der "befreiten" Balkanvölker seitens der Balkanstaaten. Das ist der Grund, aus dem ich die sogenannte "Orientfrage" für die Ursache der Balkankriege, des Attentats von Sarajevo usw. halte. Keinem einzigen der Balkanvölker, die Bluts- oder Glaubensbrüder waren, wurde die Freiheit in ihrem eigenen Staat zum Geschenk gemacht. Das einzige Volk, das nach den Balkankriegen seinen Staat bekam, waren die Albaner, also ein nichtslawisches und größtenteils muslimisches Volk hauptsächlich nicht durch den eigenen Kampf, sondern dank Österreich-Ungarn und Italien, in deren strategischem oder nationalem Interesse es war, Serbiens Zugang zum Meer zu verhindern. Dabei ist es bezeichnend, dass einer der ersten, der den Befreiungsprozess der Balkanvölker in den 1860er Jahren unterstützte, Napoleon III., "der Verfechter des Nationalitätsprinzips" war, also der Souverän eines Staates, der seine nationale Integrität durch die Verdrängung der ethnischen Vielfältigkeit gewann. Es ist ebenfalls bezeichnend, dass dies auch dann geschah, als Österreich-Ungarn, ein aristokratischer Staat und eine multiethnische Gesellschaft, "ein großer Opponent der Revolution und der Veränderung auf dem Balkan war".21 Europa stellte also die Frage und begann, sie zu lösen auf die europäische Art und Weise. 21 Stavrianos 2000, p. 395. <?page no="140"?> 140 Džemal Sokolović Die Lösung der "Orientfrage" bestand jedoch weder in der Befreiung der Balkanvölker, der Griechen, der Serben, der Bulgaren usw. was noch vor dem Berliner Kongress geschah, noch in der territorialen Zerstückelung der Türkei, was schließlich mit den Balkankriegen passierte. Die endgültige Lösung der "Orientfrage" musste ein brutaler türkischer Nationalstaat sein, genauso wie die nationalen Balkanstaaten Montenegro, Serbien, Griechenland usw. brutal waren. Die Türkei sollte türkisch sein, ohne Armenier, Griechen, Christen. Die Politik der nationalen Homogenisierung erreichte ihren europäischen Höhepunkt in der Abmachung zwischen Griechenland und der Türkei über den Bevölkerungsaustausch in Lausanne 1923. Zwischen 1922 und 1924 mussten ca. 1.200.000 orthodoxe Christen die Türkei verlassen, während ca. 350.000 Muslime, von denen einige Griechisch sprachen, das Königreich Griechenland verlassen mussten. Riza Nur, der die Türkei in einer Spezialkomission vertrat, die sich in Lausanne mit der Frage der Minderheiten auseinandersetzte, schrieb dazu in seinen Memoiren: 22 To save Turkey from elements who have engaged in armed rebellions and become a tool of foreign powers, elements who have been a source of weakness for centuries, thus to make the country uniformly Turkish was the most important thing to do [...]. This was a hard and unprecedented task. It was difficult to propose it, let alone to get them [the international community, DŽ. S.] agree to it. Thank God, they were the ones who proposed it! 23 Dies klingt bekannt und irgendwie zeitgenössisch, vor allem in Bosnien. In Lausanne zeigte die Türkei, dass sie endlich die europäische Lektion, wie man einen Nationalstaat macht, gelernt hatte. Die 'internationale Gemeinschaft' (Europa) bestätigte jedoch bloß, von wem es immer noch zu lernen galt. Der Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, und nicht die Balkankriege und die territoriale Zerstückelung der europäischen Türkei, war die endgültige "Lösung" der sogenannten "Orientfrage". DerTausch von Christen für Muslime oder umgekehrt bestätigte den westfälischen Charakter des europäischen Nationalismus und des europäischen Nationalstaates. Schließlich fiel der türkische Nationalismus, in seiner Nachahmung des Europäismus und seinen Modernitätsbestrebungen genauso naiv wie einige andere balkanische Nationalstaaten, noch einem Extremismus zum Opfer. Nach dem Befreiungskrieg und der Ausrufung der Republik 1923 wurde der Säkularismus eines der Ziele, die der neue Staat erreichen sollte. "Die neue Türkei, die sie [die Nationalisten, Dž. S.] zu errichten versuchten. 22 Özkirimli / Sofos 2008, p. 133. 23 "Aktar, Ayhan: Vai Iik Veigisi ve 'Türklestirme' Politikalari. Istanbul: lletisim, 2000. Zit. n. Der engl. Übers, bei Özkirimli / Sofos, p. 133. <?page no="141"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 141 hatte säkular, verwestlicht und, am allerwichtigsten, monolithisch zu sein befreit von allen ethnischen sowie Klassen oder Sekteninteressen."24 Der Säkularismus des türkischen Nationalismus war vor allem gegen den Osmanismus und dessen nichtnationalen und überethnischen Charakter gerichtet. Der Islamismus wurde als ein Hindernis oder als ein Rivale des Türkismus erlebt. So verstand der türkische Nationalismus die Hypokrisie des europäischen Nationalstaates und deren Trennung vom Glauben und der Kirche zu wörtlich, oder er verstand sie gar nicht. Diese Naivität kann man bereits bei einem Vergleich m it dem nächsten Nachbarn sehen. Während die griechischen Eliten "die Orthodoxie in die griechische Nationalkultur inkorporierten, war die Ausschließung des Islams aus den offiziellen Definitionen des Türkismus oder zumindest die Unterdrückung einiger islamischer Manifestationen eine Option, die der Kemalismus in allen seinen Varianten favorisierte."25 In Anbetracht all dessen lässt sich auch die "heilige" Ähnlichkeit zwischen dem Prozess der Errichtung der griechischen und der serbischen Nation damals und heute erklären.26 Bevor sie auf europäische Weise ein Nationalstaat geworden war, war die Türkei etwas ganz anderes. Und trotz des Zustands der "Degeneration" des Osmanischen Reichs während der letzten zwei Jahrhunderte seiner Existenz ist es dennoch schade, dass Europa die zivilisatorischen Errungenschaften dieses aristokratisch-theokratischen Gebildes nicht verstanden hat, vor allem auf dem Gebiet der Toleranz, der Menschenrechte und der Multikulturalität. Einige in Europa waren dennoch beeindruckt.27 III. Die Folgen des Attentats von Sarajevo 3.1. Der Erste Weltkrieg Die unmittelbare Folge des Attentats von Sarajevo war die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Die Beteiligung der restlichen europäischen Staaten machte diesen Krieg zum europäischen und Großen Krieg. Wenn der Beginn des Ersten Weltkriegs eine Folge des Mordes in Sarajevo 24 Özkirimli / Sofos 2008, p. 56. 25 Ibid., p. 75. 26 Vgl. Michas, Takis: Unholy Alliance. Greece and Milosevic's Serbia. Austin: Texas A&M University Press 2002, p. 143: "The Greek-Serb alliance was not "holy." It was an "unholy alliance" emanating from the secular ideology of nationalism...The Orthodox Church in Greece is not a "religious" but a political institution, having been totally "nationalized" during the last century. Its role has consisted less in the salvation of souls than in th e creation of the ideological preconditions that would ensure the cultural homogeneity of the Greek nation." 27 Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York, Oxford: Oxford University Press, 1997, p. 69. <?page no="142"?> 142 Džema I Sokolović war, dann ist die logische Schlussfolgerung, dass das Attentat von Sarajevo bzw. Serbien, das hinter diesem Attentat stand, die Ursache des Krieges war. Die Logik kann jedoch auch täuschen. Als logisch erweisen sich nämlich auch die Zweifel eines großen Teils der Historiker in Serbien daran, dass Serbien hinter dem Mord stand, da Serbien gerade aus zwei Kriegen gekommen und sowohl militärisch als auch wirtschaftlich erschöpft war. Und dennoch, wenn wir analytisch, und vielleicht auch dialektisch an die Sachen herangehen, kann sich erweisen, dass Serbien trotz des Zustands, in dem es sich befand, einem neuen Krieg, neuem Expansionismus, einem neuen Abenteuer zugeneigt gewesen sein konnte. Und sollte Serbien schlussendlich für einen Krieg gegen Österreich-Ungarn nicht bereit gewesen sein, und sollte es gar keine Unterstützung von Russland gehabt haben, so kann man Serbien ankreiden, dass es das Junge Bosnien in dessen Vorbereitungen des Attentats nicht gezügelt und das Attentat unterbunden hat, um diesen im Zusammenhang mit Srebrenica verwendeten, modernen Ausdruck des internationalen Rechts zu benutzen. Es gibt zwei Argumente, die darauf hindeuten, dass Serbien, obwohl sowohl militärisch als auch wirtschaftlich erschöpft, gewillt gewesen sein könnte, Österreich-Ungarn zu provozieren. Erstens hatte Serbien sein Territorium nach den erst beendeten Balkankriegen um 82% vergrößert, mehr als alle anderen Balkanstaaten, die an den Kriegen teilgenommen hatten. Serbien konnte endlich sagen, dass es nicht mehr klein war. Das Land war nach den Siegen über die Türkei und über Bulgarien in einem Zustand der Begeisterung und daher psychisch bereit für noch größere Kriegsabenteuer. Zweitens hatte Serbien, auch wenn es das Siegerland war, auch in diesen Kriegen sein strategisches Ziel nicht erreicht: den Zugang zum Mittelmeer, sei es zur Adria im Ersten, sei es zum Ägäischen Meer im Zweiten Balkankrieg. Parallel zur Begeisterung herrschte in Serbien somit auch Enttäuschung. Das sind zwei Faktoren, weshalb sich sagen ließe, dass es einfach war, Serbien zumindest zu überreden, seine nationalistischen, militaristischen und expansionistischen Pläne fortzusetzen. Fügt man dem hinzu, dass Russland nach der Niederlage Bulgariens Serbien wieder als seinen Favoriten auf dem Balkan betrachtete, dann drängt sich eine solche Schlussfolgerung von selbst auf.28 28 Die Meinung von Sergej A. Romanenko, dem russischen Historiker, dass nicht Serbien von Russland zum Krieg verleitet wurde, sondern Russland von Serbien, ist ebenfalls einseitig. Hatte Russland Gründe, Serbien nach zwei zermürbenden Balkankriegen zum Krieg gegen eine europäische Großmacht zu verleiten? Ja: Russland hatte das strategische Ziel, sich einen Zugang zum M ittelm eerzu verschaffen, Konstantinopel zu erobern und die Meerenge zu besetzen. Beide Male verhinderte Großbritannien das Erreichen dieses Ziels: im Krimkrieg 1853-56, zusammen mit Frankreich, und im russisch-türkischen Krieg 1877. Russland hatte einen Grund, böse auf das Vereinigte Königreich zu sein. Es hatte auch einen Grund, <?page no="143"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 143 Die Natur des Ersten Weltkriegs und somit auch des Attentats von Sarajevo bestimmen jedoch nicht nur die Ursachen, sondern auch seine Folgen. M it anderen Worten, die Natur der Ursachen wird weitestgehend von deren Folgen verraten. Vom Standpunkt unserer Untersuchungen aus werden wir uns nur darauf beschränken, was mit Sarajevo und Bosnien passierte. Die Folgen oder die Resultate des Ersten Weltkriegs bestätigen am eindrucksvollsten unsere Flypothese zu den Ursachen der Schüsse von Sarajevo. Auf der einen Seite endete der Krieg m it der Auflösung Österreich-Ungarns, eines Staates, der zwar nicht multiethnisch war, aber einer multiethnischen Gesellschaft, deren Kohäsion vom aristokratischen sowie vom rechtlichen Charakter des Staates gesichert wurde. Auf der anderen Seite endete der Krieg m it der Gründung von zwei Staaten, die bis dahin auf der politischen Karte des Kontinents nicht existierten. Beide Staaten waren slawisch. Die Gründung der zwei slawischen Staaten sollte bestätigen, dass die Doppelmonarchie, obwohl sie ein aristokratischer Staat war, die Gleichberechtigung des dritten konstitutiven Elements der österreichisch-ungarischen Gesellschaft der Slawen nicht gewährleistet hatte. Damit wurde das Wilson-Fenin'sche Prinzip eines Selbstbestimmungsrechts der Völker befriedigt. Es ist schwer zu sagen, inwiefern die Gründung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens tatsächlich ein Ausdruck des Willens und des Interesses der Völker war, und inwiefern die Realisierung des politischen Konzepts des Nationalstaates. Die Kurzlebigkeit dieser Staaten bestätigt am besten, wie sehr dieses Dilemma begründet ist. Wenn das M otiv die Befriedigung der Bestrebungen der Slawen nach politischer Gleichberechtigung war, warum wurde dann nicht ein großer slawischer Staat gegründet? Stattdessen entstanden die binationale Tschechoslowakei und das trinationale Jugoslawien. Im Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, der auch nach der Umbenennung in Jugoslawien dies geblieben war, lebten auch andere Völker, einschließlich slawischer, die nicht denselben politischen Status hatten. Bosnien verlor zum ersten Mal in seiner politischen Geschichte, also innerhalb des brüderlichen slaauf Österreich-Ungarn wütend zu sein. Bevor es den Krieg mit der Türkei 1877 begann, vereinbarte Russland mit Österreich, dass es diesem Bosnien überlassen würde, falls Österreich neutral bliebe. Nach der Teilung Großbulgariens und nachdem Russland alles verlor, was es durch den Krieg erobert hatte, waren vom russischen strategischen Standpunkt aus Serbien und seine territorialen Ansprüche in Bosnien wieder aktuell geworden. Die Beschlüsse des Berliner Kongresses und die Okkupation Bosniens sind der dritte Grund, aus dem Russland wieder Interesse hätte haben können, Serbien zu einem Krieg zu verleiten oder zumindest Österreich-Ungarn zu provozieren. Russland hatte also Gründe, mit dem naiven serbischen Nabonalismus und serbischen Staat, der den Machenschaften der Großmächte und ihren Nabonalismen nicht gewachsen war, zu manipulieren. Vgl. h ttp : / / w w w . oslo bodjenje.ba/ vijesb/ intervju/ sergej-a-roman enko-ruski-h isto ricar-srbij a-je-rusiju-gu rnula-u-rat-ne-obrnuto. <?page no="144"?> 144 Džema! Sokolović wischen Staates, jene politische Subjektivität, die es im Rahmen des Osmanischen Reiches und innerhalb Österreich-Ungarns noch hatte. Wenn also die die Folgen die Natur eines Ereignisses definieren, dann bestätigt der Zerfall einer multiethnischen Gesellschaft und die Gründung von zwei Nationalstaaten, dass der Erste Weltkrieg ein Konflikt zweier politischer Konzepte war: des Nationalstaates und des multiethnischen Staates wobei das erste den Sieg davontrug. Deswegen ist es ebenfalls logisch zu schlussfolgern, dass hinter dem Attentat von Sarajevo etwas ebenfalls Irrationales stand, etwas viel Weiteres und Breiteres: der Nationalismus. Die Folgen sind nicht nur im Einklang mit den Ursachen, sondern auch viel radikaler. Die Schüsse in Sarajevo waren Schüsse auf eine multiethnische Gesellschaft und auf jegliche Möglichkeit eines multiethnischen Staates. Princip schoss nicht nur auf einen Staat, der nicht multiethnisch war, und weil dieser nicht multiethnisch war, sondern auch auf eine Gesellschaft, die ethnisch äußerst vielfältig war, weswegen seine Schüsse nicht nur seine Schüsse waren. Die Schüsse von Sarajevo 1914 waren auch Schüsse auf Bosnien-Flerzegowina und seine m ultiethnische Gesellschaft. Kann man ihr Echo noch immer in Bosnien hören, auch heute, wo Bosnien ein unabhängiger und international anerkannter Staat ist? Und vor allem: Sind die Ursachen noch immer dieselben, und an demselben Ort in Europa? 2. Jugoslawien Die Schüsse von G. Princip fielen nicht vergeblich. Jugoslawien war eine Folge des Ersten Weltkriegs, also auch des Attentats von Sarajevo und seiner Folgen, wie wir sie bereits ausgeführt haben. Wie allgemein bekannt ist, vermutlich auch denjenigen, die es nicht zugeben wollen, wurde de facto Großserbien, de jure der Staat (das Königreich) der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet. Der Staat wurde offiziell am 1. Dezember 1918 ausgerufen, nach der Vereinigung des Staates der Slowenen, Kroaten und Serben und der Königreiche Serbien und Montenegro. Das heißt, dass der neue Staat auch formal, in seinem Titel, ein politisches Gebilde der Kroaten und Slowenen sowie der Serben von beiden Seiten der Grenze, jener aus Serbien und jenen aus Österreich-Ungarn, war. Der Name des Staates sollte multiethnisch klingen. Aber Namen können häufig hypokritisch und täuschend sein. Im neugeschaffenen Staat war für alle anderen Völker, einschließlich einiger slawischer (Bosniaken, Montenegriner, Mazedonier, Goranen) ein anderes Schicksal bestimmt. Drastisch ist der Fall der muslimischen Bosniaken. Für <?page no="145"?> A tten tat Kriege, Nationalismen 145 sie war schon auf Korfu 1917, beim Treffen der Mitglieder des Jugoslawischen Komitees aus london m it Vertretern der serbischen Regierung, (verbal) ein vom Säbel bestimmtes Schicksal vorgesehen, sollten sie nicht zum Glauben ihrer Urgroßväter zurückkehren. Darüber unterrichtet uns der große Verfechter der Idee des Jugoslawentums und Gegner Österreich-Ungarns Ivan Meštrović in seinen politischen Memoiren, die er verfasste, nachdem er sowohl von der Idee als auch von der Realisierung dieser Idee in ihren beiden Varianten enttäuscht wurde.29 Der Staat der Südslawen war bereits vom ersten Tag an nicht multiethnisch, auch wenn die Gesellschaft ethnisch außerordentlich vielfältig war und auch große Gruppen nichtslawischer Völker beherbergte. Obwohl ein trinationaler Staat, war er also national. Der trinationale Staat (und vielleicht auch mononationale, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man die Dinge betrachtet) änderte selbst nach der Änderung des Namens in einen allgemein-südslawischen im Jahre 1929 seinen Charakter nicht. M it dem Namen Jugoslawien sollten alle Südslawen diesen Staat als ihren eigenen empfinden. Selbst wenn in Jugoslawien nur Südslawen gelebt hätten, war die wirkliche Situation jedoch anders. Der König selbst, ein Serbe, sagte in Zagreb in einem vertraulichen Gespräch m it seinem Freund, dem großen südslawischen Bildhauer Ivan Meštrović, dass er sich um die Existenz Jugoslawiens Sorgen mache und dass, wenn niemand sonst, seine eigenen Nationalisten Jugoslawien den Kopf kosten würden. Wie denn auch nicht, nach der Ermordung von kroatischen Abgeordneten im Belgrader Parlament 1928. Das Nachkriegseuropa lehnte sich also in Versailles nicht gegen die Gründung Jugoslawiens als eines trinationalen Staates auf, weil es selbst ein Kontinent nationaler Staaten war. Das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wofür sich in seinen berühmten 14 Punkten der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, genauso wie W ladimir Iljitsch Lenin,30einsetzte, sollte das politische Chaos, in dem sich Europa befand, lösen. Dieses Selbstbestimmungsrecht der Völker resultiert im Grunde in einem Nationalstaat. Diese theoretische Annäherung eines Demokraten und eines Kommunisten ist interessant. Es hat den Anschein, als hätte beiden etwas theoretisch Substantielleres gefehlt. Obwohl Wilson aus einem Land kam, dessen Staat bürgerlich war, und obwohl das Land nominell Union heißt, erschafft dieses Prinzip einen Staat, aber nicht im Einklang mit der europäischen Rechtsphilosophie, also nach den Maßstäben der Vernunft und der Gerechtigkeit (Flegel), d.h. einen Bürgerstaat, sondern 29 Meštrović, Ivan: Uspomene na političke ljude i događaje. Zagreb: Matica hiv/ atska 1969. 30 Lenin, Vladimir lljic: The Right of Nations to Self-Determination. In: Collected Works. Moskow: Progress Publ. 1972, vol. 20, pp. 393-454. <?page no="146"?> 146 Džemal Sokolović im Einklang m it der europäischen politischen W irklichkeit einen trinationalen Staat, besser bekannt unter dem Name Jugoslawien. Das Problem des Ersten Jugoslawien war nicht nur sein nationaler, d.h. tri- oder mononationaler Charakter, egal. Dieser Staat erfüllte auch die Erwartungen der Serben nicht. Schwer vorstellbar, dass auch Gavrilo Princip, obwohl 19-jährig, nicht auf eine solche Folge seiner Schüsse verzichtet hätte. Das Jugoslawien genannte politische Gebilde verwarf sogar ein Mann, der noch vor Princip dafür gekämpft hatte, und zwar in seinen reifen Jahren. Pop Simo Begović, den Österreich-Ungarn 1916 zum Tode verurteilte, führte nach dem Krieg und nach der Befreiung "eine Bauerndelegation aus Pale in die Residenz des Bans in Sarajevo, um sich über diese Veränderungen [nach 1929, Dž. S.] zu beschweren. Er verlangte vom Ban, dass dieser ihm 4000 Dinar auszahle. 'Wozu brauchst du 4000 Dinar? ', fragte ihn der Ban. 'Ich möchte mir eine Fahrkarte nach Wien kaufen', antwortete Begović, 'und das Grab Franz Ferdinands besuchen, um ihm zu sagen: 'Weißt du, Franz, wenn ich bloß gewusst hätte, in was für einem Chaos Bosnien nach deinem Tod versinken würde, hätte ich niemals an deiner Absetzung gearbeitet'."31Gavrilo hatte leider keine Gelegenheit, seine Schüsse zu bereuen. Vielleicht hätte er sie gar nicht bereut, denn seine Schüsse waren, wie ich bereits sagte, auch gegen Bosnien und seinen multiethnischen Charakter gerichtet. Die Folge des Ersten Weltkriegs, und das heißt des Attentats von Sarajevo, war ein Jugoslawien, in dem Bosnien zum ersten Mal in seiner tausendjährigen politischen Geschichte jegliche politische Subjektivität verlor, und in dem die Bosniaken dermaßen in politische "Entitäten" aufgeteilt wurden, dass sie in keiner einzigen eine Mehrheit hatten.32 Noch einmal, sehr bald darauf, m it der Formierung des Unabhängigen Staates Kroatien, wurde Bosnien ebenfalls politisch ignoriert. Beide Male, was doch bezeichnend ist, innerhalb von politischen Gebilden, die von 'Brüdervölkern', von Serben und Kroaten, gegründet wurden. Die Folge eines solchen Jugoslawiens war auch das Zweite Jugoslawien, jenes, das noch während des Zweiten Weltkriegs und des antifaschistischen Kampfs für die Befreiung des Landes, von Kommunisten und auch von Nichtkommunisten gestaltetet wurde. Auch die Kommunisten dachten, dass die ungelöste, d.h. nationale Frage ein großes Problem des Ersten Jugoslawiens war. Das Land wurde eine Föderation von fünf Republiken, also fünf föderalen, durch den Namen des jeweils die Mehrheit bildenden Volkes definierten Einheiten, plus Bosnien. Sogar das ursprüngliche Wappen ,l Dedijer u.a.. History of Yugoslavia, Zitiert nach Malcolm, Noel: Bosnia, a Short History. London: Papermac, 1994, p.169. Malcolm, Noel: Bosnia, a Short History, p. 169 <?page no="147"?> Attentat, Kriege, Nationalismen 147 Jugoslawiens hatte, das ethnische Prinzip symbolisierend, nur fünf Flammen, "allen zu erzählen, dass unser Land fünf Völker zählt". Das Spezifikum Bosniens bestand darin, dass es nur dort kein Mehrheitsvolk gab, und somit auch keine ethnischen Minderheitengruppen. Unsere kritische Reserve bezieht sich natürlich nicht nur auf Bosnien: in allen der ethnisch definierten Republiken lebten zahlreiche Andere, und die Frage ihrer Stellung ist nicht unbegründet. Kommunisten konnten sich auch im Falle Bosniensdem ethnischen Prinzip nicht widersetzen. Der BegriffVoIk klang in ihrer Terminologie, genauso wie im Vokabular von Wilson, unschuldig und attraktiv. Sie rechneten nicht damit, dass das Volk in eine Nation ausarten könnte.33 Bosnien definierte man also als "weder serbisch, noch kroatisch, noch muslimisch, sondern sowohl serbisch, als auch kroatisch, als auch muslimisch."34 Auch die Kommunisten hatten offenbar den Grundcharakter eines bürgerlichen Prinzips der Organisation des Staates nicht verstanden, je nes Prinzips, wofür Flegel sich eingesetzt hatte. Und obwohl Lenin auch Flegel für eine der "Quellen und Bestandteile des Marxismus" hielt, fehlte den jugoslawischen Kommunisten, genauso wie Europa, offenbar eine Rechtsphilosophie. Die Gleichberechtigung von Völkern nämlich, wie von allen anderen Kollektiven auch, schließt nicht eine Gleichberechtigung von Individuen ein. Selbst wenn die Kroaten im Ersten Jugoslawien gleichberechtigt mit den Serben gewesen wären, heißt das nicht, dass sowohl die einen als auch die anderen gegenseitig gleichberechtig gewesen sind. Das Allgemeine kann nur als das Kon/ cret-Allgemeine erreicht werden (Flegel). Ich, als Bosniake, Serbe oder Kroate, fühle mich nicht dadurch gleichberechtigt, dass mich im Parlament, im Präsidium oder in der Regierung ein Bosniake, Serbe oder Kroate repräsentiert, der weder vernünftiger noch charakterfester ist als ich. Im Einklang mit unserem methodologischen Prinzip, dass die Folgen, genauso wie die Ursachen, die Natur einer Sache bestimmen, kann dasselbe auch von Jugoslawien behauptet werden. W ir haben gezeigt, dass auch Jugoslawien, einschließlich des kommunistischen, eine Folge der Schüsse Princips war. Dies erklärt, warum ihm auch die Kommunisten in Sarajevo für seine Verdienste für das Volk Ehre erwiesen haben.35 Es lässt sich die ” Siehe Sokolović, Džemal: Nation vs. People. Newcastle: Cambridge Scholars Press 2006 bzw. Sokolović, Džemal: Nacija protiv naroda. Beograd: Biblioteka XX vek 2006. 54 Sokolović, Džemal: Twelve hours of democracy. In: Balkan Forum, Vol I, No. 5 (Dez. 1994; ) bzw. Ders.: Dvanajst ur demokracije. In: Teorija in praksa, Let 30, No. 1-2 (Jan./ Feb. 1993), pp. 120-129; Ders.: ZwölfStunden Demokratie. In: Ost-West, No 1/ 94. 55 Über diesen kommunistischen Mythos von Princip schreibt Ivan Čolović in seinem großartigen Artikel: Sarajevski atentat i kosovski mit, http: / / pescanik.net/ 2014/ 06/ sarajevski-atentat-i-kosovski-mit/ Siehe auch den Beitrag von Čolović in diesem Sammelband. <?page no="148"?> 148 Džemal Sokolović Schlussfolgerung nicht vermeiden, dass die Folge eines solchen Jugoslawiens, also auch die Folge der Schüsse von Princip, die sie verursacht und die sie als solche gemacht haben, auch ihr Zerfall war, einschließlich des Zerfalls des Rests von Jugoslawien (jenes aus den "zwei Augen im Kopf" zusammengesetzten), das ebenfalls auf diesem Prinzip aufgebaut war. Der Zustand der nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Staaten, wobei auch Slowenien keine Ausnahme darstellt, eröffnet heute, zwanzig Jahre später, eine viel ernstere Frage: die Fähigkeit der südslawischen Völker, einen Staat zu errichten. Auf den unpolitischen Charakter ihrer Mentalität hatte bereits Flegel aufmerksam gemacht, und auch Friedrich Engels hatte daran erinnert. Und tatsächlich, was ist, wenn die Südslawen wirklich irgendeinen Flabsburger oder Osmanen brauchen, um zu funktionieren? Es ließe sich wieder bei Flegel eine Antwort finden, und zwar in seiner Idee des Fürsten. Leider ist die unmittelbare Folge des Zerfalls Jugoslawiens unter anderem auch die Gründung des unabhängigen, souveränen und international (sic! ) anerkannten Daytoner Bosnien. Auf demselben Prinzip gegründet, könnte Bosnien das Endresultat der Entwicklung des Nationalstaat genannten politischen Konzepts werden. Oder, um optimistisch zu sein: Falls dieses Konzept im Falle Bosniens an seinem Tiefpunkt angelangt ist, könnte Bosnien die letzte Versuchung dieses Konzepts und die Chance auf den Bürgerstaat als die dominante politische Form Europas sein. Übersetzt von Naser Šečerović <?page no="149"?> B oris N. K ršev (N ovi S a d ) Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien bis zum Ende des Ersten W eltkriegs (1878-1918) This paper deals with a particular segment of the financial policy in Serbia during the period of gaining independence at the Congress of Berlin until the end of the First World War public debts, i.e. the timing and conditions under which these loans were taken and spent. Most of them were received for specific use, but spent for unallocated purposes. While taking these loans, the conditions of indebtedness were not important and the only relevant thing was to get money by all means. It made Serbia one of the most indebted countries in Europe on the eve of WWI. Through the prism of money and its chronic lack, Serbia did not want the war against Austro-Hungarian Empire. In principle, Serbia accepted all the conditions of ultimatum but the wish of the Monarchy to solve all its internal problems in a minor war, had been made much earlier. During the war, Serbia continued the similar policy of indebtedness, believing that all debts would be settled through the war reparations. Nevertheless, it did not happen and Serbia forwarded all its debts as a d o w ry both pre-war and w a rinto the new state, the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. Eines der komplexesten Probleme, mit dem Serbien unmittelbar nach der Anerkennung der Unabhängigkeit beim Berliner Kongress konfrontiert wurde, waren die Finanzen allen voran die Finanzierung des eigenen Staates, aber auch die Regulierung der während der Befreiungskriege gegen die Türken entstandenen Schulden sowie der laut Vertrag vom 13. Juli 1878 übernommenen Verpflichtungen. Serbien bestritt bis zu den Kriegen 1876-1878 sein bescheidenes Budget m it den Einnahmen aus nur zwei Arten von Steuern der Personensteuer und der Grundsteuer - , so dass der unvermittelte Zuwachs an staatlichen Verpflichtungen eine dringende Reform des gesamten Finanzsystems, in erster Linie der Fiskalpolitik nach sich ziehen musste. Außerdem erbte Serbien auch die Verpflichtungen, die die Flohe Pforte gegenüber Österreich-Ungarn und der Societe Generale pour ГExploitation des Chemins de Fer Orientaux eingegangen war und zwar innerhalb der Gebietsgrenzen, über die man Souveränität erlangt hatte - , nämlich neue Eisenbahnverbindungen zu schaffen und bereits angefangene zu vollenden. Die Versuche der damaligen liberalen Regierung, das Steuersystem zu reformieren und neue Steuern einzuführen die sogenannte "patentari- <?page no="150"?> 150 Boris N. Kršev na" (eine Art Solidaritätssteuer), die nur wohlhabendere Bürger (Handwerker, Kaufleute und Gastwirte), Staatsbeamte und Militärpersonen (auf Einkommen und Rente) sowie die Kirche (auf Einkommen von Kirchen- und Klostergütern) zahlen würden, scheiterten und wurden bald fallengelassen. Die neue (fortschrittliche) Regierung ohne etwas an ihrem Plan der indirekten Steuern verändern zu wollen führte das System der direkten Steuern ein, m it dem man begann, Straßen-, Fahrten- und Marktgebühren einzukassieren, sowie Salz-, Tabak-, Streichholz- und Petroleumsteuern (die unter das staatliche Monopol gestellt wurden) und Steuern auf alkoholische Getränke zu erheben. Aber es zeigte sich, dass dies nicht genügte, um die immer größeren und zahlreicheren staatlichen und öffentlichen Ausgaben zu finanzieren, und so wurden Haushaltsdefizite in Serbien zu regelmäßigen Erscheinungen seit dem Beginn seiner Konstituierung als unabhängiger Staat.1 Daher treffen die Fortschrittlichen, und nach ihnen auch alle anderen Regierungen, den Entschluss, die angehäuften finanziellen Probleme durch Verschuldungen bei ausländischen Gläubigern zu lösen. So beginnt in Serbien bereits 1881 eine Periode großer Staatsschulden, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dauern sollte. Die Grundcharakteristik der gesamten Verschuldung machten Zweckdarlehen aus, die nicht zweckgebunden ausgegeben wurden, was jedoch die kreditgebenden Banken selbst ermöglichten - und dies durch die verschiedensten reziproken Maßnahmen und durch spekulative Begünstigungen bedingten. Das Jahr 1881 bezeichnete nicht nur eine Veränderung im Kurs der Führung der serbischen Finanzpolitik, sondern auch den Beginn seiner absoluten wirtschaftlichen (und m it ihr auch politischen) Gebundenheit an Österreich-Ungarn. Am 28. Juni wurde nämlich aufgrund von Dynastieinteressen und m it dem Ziel der Umwandlung Serbiens in ein Königreich die sogenannte "Geheimkonvention" unterschrieben, die ein gewisses Protektorat Österreich-Ungarns über Serbien begründete.2 1 Vgl. Privredna istorija Srbije do Prvog svetskog rata, Belgrad: Univerzitet u Beogradu, 1955, pp. 233-239. Hvostov, V. M. Mine, I. I: Istorija diplomatije II, Beograd: Arhiv za pravne i društvene nauke 1949, pp. 53 59; Istorija srpskog naroda VI I , Beograd: Srspka književna zadruga 1983, pp. 77-78; Vrkatić, lazar: Pojam i biće srpske nacije, Novi Sad: Prometej 2004, pp. 435 440. Zuvor wurde am 18. Juni 1881 der Vetrag zur Erneuerung des Dreikaiserbündnisses zwischen Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn unterschrieben. Durch das geheime, sogenannte "Balkan-Protokoll" behielt Österreich-Ungarn das Recht, Bosnien-Herzegowina zu annektieren, sobald es dies für nötig erachte. Aufgrund dieses Vertrages hei der Zentralbalkan in die Einflusssphäre der Habsburgischen Monarchie. Da ersieh dessen bewusst war, schlug König Milan vier Jahre später, Anfang Juni 1885, Rudolf Khevenhüller, dem Wiener Gesandten in Belgrad vor, die "Geheimkonvention" um neue Punkten zu erweitern, um sich für sich und seinen Sohn Aleksandar zusätzliche Garantien seitens der Doppelmonarchie zu <?page no="151"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien (1878-1918) 151 Dank den gegebenen Umstände erlangte Serbien jedoch im März 1881 sein erstes ausländisches Darlehen in Höhe von 100 Millionen Dinar, mit einer Tilgungsfrist von 50 Jahren und einem Jahreszins von 5%, für den Bau der Eisenbahnverbindung Belgrad-Vranje, und zwar m it einem französischen Bankenkonsortium, durch Vermittlung der Societe Generale Union aus Paris. Für die Rückzahlung des Darlehens bürgte Serbien m it seinen Eisenbahn- und Zolleinnahmen, und wenn diese M ittel nicht ausreichen würden, sollte die jährliche Annuität aus den im Rahmen der Personensteuer erhobenen Mitteln ergänzt werden. Unmittelbar danach wurde mit demselben Gläubiger auch ein zweiter Kredit der sogenannte "Lotteriekredit" in Höhe von 33 Millionen Golddinar unterschrieben, mit einem Zinssatz von 3% und einer Tilgungsfrist bis 1938. Der Kredit war für die Rückzahlung von Schulden an Russland in Höhe von 30 Millionen Dinar bestimmt, die Russland für die Finanzierung der Kriege Serbiens gegen die Türkei in der Periode 1876-1878 einforderte. Aber bereits Anfang des nächsten Jahres ging die Societe Generale Union Bankrott und ihr Präsident Eugene Bontoux wurde wegen "Amtsmissbrauch und Missbrauch des ihm gewährten Vertrauens" verhaftet. Die Österreichische Länderbank als neuer Gläubiger die Verpflichtungen der Societe Generale Union, was die Überzeugung der serbischen Offiziellen, die "Geheimkonvention" genau zur rechten Zeit unterschrieben zu haben, noch mehr stärkte. Dank der Intervention dieser Wiener Bank in Serbien vermied man einen Skandal wegen Bestechungen des Fürsten und der Regierung seitens der Societe Generale Union und Eugene Bontoux und ihrer Beziehungen zueinander.3Aber man öffnete dadurch eine "Büchse der Pandora" da sich nämlich die Länderbank diesen Interventionismus in Zukunft gut bezahlen lassen sollte, indem sie die königliche Obrenović-Familie und nach ihnen auch die Karađorđevićs in ihre Geschäfte verwickelte. Im selben Jahr nahm Serbien zwei neue Kredite auf. Einen für die Rüstung bei der Anglo-Österreichischen Bank in Höhe von 5,6 Millionen Dinaren (mit einer Tilgungsfrist von 15 Jahren und einem Zinssatz von 6%) und einen zweiten sogenannten "Agrarkredit" bei der Länderbank in Höhe von 6 Millionen Dinar, mit einem etwas niedrigeren Zinssatz von 5%, aber einer erheblich längeren Tilgungsfrist von 25 Jahren, für die Auszahlung der sichern. Den Vorschlag des serbischen Souveräns ablehnend, bewertete ihn der österreichische Außenminister Gustav Kalnoki als den Versuch eines "Zockers und Verschwenders", mit welchen Mitteln auch immer an Geld zu kommen, und meinte, dass dieses Vorgehen eines Herrschers unwürdig sei. Nedeljković, Milorad: Istorija srpskih državnih dugova. Belgrad Štamparija "Štampe" Steve M . Ivkovića 1909, pp. 28 80. <?page no="152"?> 152 Boris N. Kršev čitluk und spohiluk, d.h. der türkischen Feudalgüter bei den muslimischen Besitzern in den neubefreiten Gebieten.4 Einen wichtigen Moment bei der Konsolidierung der finanziellen Situation im Lande stellte die Gründung der Privilegierten Nationalbank des Königreichs Serbien (Privilegovana Narodna banka kraljevine Srbije) im Jahre 1884 dar. Die Bank wurde als eine Aktiengesellschaft m it einem auf 40.000 Aktien m it einem Nominalwert zu jeweils 500 Dinar verteilten Anfangskapital von 20 Millionen Dinaren gegründet. Das Vorrecht beim Kauf der Aktien erhielten die einheimischen privaten Kapitalbesitzer, was diese dann auch wahrnahmen, zur großen Verwunderung der Öffentlichkeit.5 Unmittelbar danach kam auch der erste Papiergeldschein von 100 Dinar in Umlauf (mit der Verpflichtung der Bank, dem Inhaber dafür 100 Dinar in Gold auszuzahlen), was ein allgemeines Misstrauen in das Währungssystem auslöste. Da die Menschen nämlich an das "Klimpern" in der Tasche gewohnt waren, tauschten sie die Papiergeldscheine sofort für Goldmünzen um. Eine häufige Erscheinung war, dass Kreditnehmer in der Volksbank ihren Kredit in Papierscheinen an einem Schalter in Empfang nehmen, um die Scheine am nächsten Schalter sofort in "echtes klimperndes" Geld umzutauschen. Unter diesen Umständen durfte die Volksbank den Papiergeldumlauf nicht mehr erhöhen, was in einer Abnahme der allgemeinen wirtschaftlichen Aktivität und einer Kreditpolitikführung auf niedrigster Ebene resultierte. Nach nur 16 Monaten gab man den "Goldstandard" auf, und im November 1885 wurde der erste 10-Dinar-Geldschein in Silber ausgestellt. So wurde der Geldmarkt im Königreich Serbien allmählich normalisiert, da geprägte Silbermünzen nicht so populär wie der "M ilandor" waren. Die Naäonalbank begann bald, das Geld nicht nur in größeren 4 Jovanović, Slobodan: Vlada Milana Obrenovića II, Belgrad: Geca Kon 1990, p. 157ff. Als eine spezifische Sicherung für die erhaltenen Darlehen blieb die progressive Regierung des Königreichs Serbien passiv, als Anfang 1882 der Aufstand in der Herzegowina ausbrach. Ihre Loyalität zur Geheimkonvention unter Beweis stellend, tat die Regierung alles, um keinerlei Aktivitäten zu unterstützen, die gegen die Interessen Österreich-Ungarns hätten gerichtet sein könnten. 5 Krsev, Boris: Bankarstvo u Dunavskoj banovini. Novi Sad: Prometej 1998, pp. 19-30. Nach der internationalen Anerkennungtrat Serbien mit dem Ziel, sein Währungssystem zu regulieren, der "Lateinischen Münzunion" bei. Es wurde die Abmachung getroffen, dass ein Dinar 0,165% Gold und 0,835% Silbei enthalten und ein Gewicht von 5 Gramm haben sollte. Auf diese Art und Weise erhielt man zum ersten Mal einen fixen Kurs, mit dem der Dinar mit dem französischen Franken gleichgesetzt wurde. Bald darauf wurde am 10. Dezember 1878 auch das Gesetz Überdas serbische Volksgeld verabschiedet, aufgrund dessen man 10 Millionen Golddinare in Münzen zu jeweils 10 und 20 Dinar prägte, den sogenannten "M ilandor", da auf dem Avers Fürst Milan abgebildet war. Die Goldmünzen waren tatsächlich eine "feste" Währung und sogar viel gefragter (aufgrund der Feinheit der Ausarbeitung und dem reinen Gold) als derfranzösische "Napoleon d'or". <?page no="153"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien (1878-1918) 153 Banknoten zu emittieren (die an Silber gebunden waren), sondern auch in größeren Mengen, als dies ihre (goldene) Basis erlaubte.6 Der unrühmliche Start der Nationalbank zwang die Regierung dazu, Ende 1884 ein neues internationales Darlehen für die Regulierung der Staatsfinanzen abzuschließen. Das war die sogenannte "Goldene" oder "Serbische Rente", wobei es sich um einen ausgeprägten Wucherkredit handelte. Da der Regierung nämlich 25 Millionen Dinar im Haushalt fehlten, um den aufgrund von früheren Verschuldungen fälligen Verpflichtungen nachzukommen, nahm man bei der Länderbank ein Darlehen mit einem Nennwert von 40 Millionen Dinar auf (um effektiv 25 Millionen zu erhalten), und der Staat zahlte dafür einen Zinssatz von 5% mit einer Tilgungsfrist von sogar 70 Jahren. Als Garantie bot der Staat die Einnahmen aus den administrativen und gerichtlichen Gebühren, einen Teil der Einnahmen aus den Ladengebühren (Wirtshausgebühren) und, falls das erforderlich sein sollte, aus Personensteuern eingenommene Mittel. Aber nur ein Viertel dieses Kredits wurde auch tatsächlich für die Sanierung der Staatsfinanzen bzw. für die Abzahlung der fälligen Verpflichtungen verwendet, während etwa drei Viertel der effektiv erhaltenen Mittel für die laufenden Kosten ausgegeben wurden. Das nächste Jahr brachte ein (neues) Abenteuer von König Milan: den unnötigen Krieg m it Bulgarien, für den Serbien weder in militärischer noch in finanzieller Hinsicht bereit war wobei es sich wieder bei der Länderbank und dem Comptoir Nationale d'Escompte aus Paris um neue 25 M illionen Dinar verschulden musste. Auch dieser Kredit war (wie der vorherige) ein Wucherkredit, da für effektive 25 Millionen ein Darlehen auf nominelle 40 Millionen Dinar abgeschlossen wurde, m it einem Zinssatz von 5% und einer Tilgungsfrist von 49 Jahren. Als Garantie dafür bot der Staat die Einnahmen vom Tabakhandelsmonopol (daher auch die Bezeichnung "Tabakrente"), m it der Verpflichtung der Banken bzw. Gläubiger, bei einer eventuellen "Überbezahlung" den Differenzbetrag auf das Haushaltskonto einzuzahlen. Der Kredit wurde am wenigsten für die Bedürfnisse des M ilitärs verwendet, da das Kriegsfiasko, das nur 15 Tage dauerte, dank einer internationalen Intervention vermieden wurde. Bald stellte sich in der Öffentlichkeit die Frage, wie und unter welchen Bedingungen die "Tabakrente" abgeschlossen wurde, da die Banken bzw. Gläubiger in ihren Bilanzen eine negative Differenz zwischen den aus dem Tabakverkauf eingenommenen Mitteln und den jährlichen Verpflichtungen Serbiens ihnen gegenüber zu zeigen begannen. Laut statistischen Angaben, über die der Staat verfügte, dotierte der Staat die Kreditgeber regelmäßig m it einer Million 6 Jovanović 1990, p. 83ff. <?page no="154"?> 154 Boris N. Kršev Dinar, anstatt dass diese einen jährlichen Differenzbetrag von ca. 3,5 M illionen Dinar in die Staatskasse einzahlten.7 Bald folgte eine neue Verschuldung Serbiens für die "Heilung" des Finanzwesens; 1886 wurde bei der Berliner Handelsgesellschaft ein Kredit in Höhe von 12 Millionen Dinar mit einem Zinssatz von 5% und einer Amortisationsdauer von 37,5 Jahren aufgenommen (als Garantie gab man staatliche verzinsliche Wertpapiere des Verwaltungsfonds, des Schul- und des Gesundheitsfonds), und zwei Jahre später bekam man von der Länderbank für denselben Verwendungszweck weitere 30 Millionen, mit einem Zinssatz von 5% und einer Tilgungsfrist von 50 Jahren. Als Garantie für diesen Kredit gab der Staat die Einnahmen aus den Handwerkergeschäften und Tätigkeiten, so dass der gesamte Kredit den Namen "Handwerksrente" erhielt. Auch diese Kredite wurden nicht dem bewilligten Zweck gemäß verwendet, sondern für die "täglichen ad hoc Bedürfnisse" der Koalition der liberal-radikalen Regierung ausgegeben.8 Während der Vorbereitung für seine Abdankung wollte König Milan seinem minderjährigen Sohn Aleksandar eine möglichst günstige politische und wirtschaftliche Situation hinterlassen. Dies gelang ihm auch einigermaßen mit der Verabschiedung der am 21. Dezember 1888 angenommenen prodemokratischen Verfassung, die auch ein "kleines" Darlehen (auf die sogenannten "Tabakscheine") mit einem Nominalbetrag von 10 Millionen Golddinar beim Wiener Bankverein, m it einem Zinssatz von 5% und einer Tilgungsfrist von 65 Jahren, ratifizierte (mit dem man das von der Länderbank gehaltene Monopol auf den Tabakhandel abgolt).9 Serbien schloss dann von 1881 bis 1895 dreizehn große (langfristige) Kredite mit einer Gesamtsumme von ca. 323 Millionen Dinar ab, sowie eine größere Anzahl von kleineren, sogenannten "fliegenden" (kurzfristigen) Krediten, deren Wert 32 Millionen Dinar überstieg (so dass die Außenverschuldung bei über 355 Millionen Dinar lag). Da aufgrund einer zu großen Verschuldung fast nichts mehr als Garantie für den Erhalt neuer Kredite aufgeboten werden konnte, vollzogen die ausländischen Gläubiger durch das sogenannte "Karlsbader Protokoll" eine Konversion der Staatsschulden und bewahrten Serbien dadurch vor dem totalen Bankrott. Durch diese Vereinbarung wurden alle staatlichen Einnahmen (allen voran die Einnahmen von den Eisenbahnen, vom Tabak-, Salz- und Petroleummonopol, so- 7 Gnjatović, Dragana: Stari državni dugovi. Prilog ekonomiji i političkoj istoriji Srbije i Jugoslavije 1862-1941. Beograd: Ekonomski institut 1991, pp. 102-110. * Mitrović, Andrej: "Berliner HAndelsgeseIIschaft i Srbija". In: Zbornik Filozofskog fakulteta u Beogradu 15. Beograd: Filozofski fakultet u Beogradu, pp. 165-168. 9 Arhiv Jugoslavije (Al), Fond ministarstva finansija (70) 265-478, Nasledeni dugovi Kraljevine Srbije. <?page no="155"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien (1878-1918) 155 wie die Zolleinnahmen) unter die Verwaltung von ausländischen Gläubigern gestellt, während die gesamte Staatsverschuldung des Landes in den Betrag von 355.292.000 französische Franken in Gold konvertiert wurde, m it einer Tilgungsfrist bis zum Jahr 1974 und einem Zinssatz von 4%.10 Die übermäßige Verschuldung Serbiens verursachte auch die Unfähigkeit seiner unzureichend entwickelten Wirtschaft, Kapital zu akkumulieren und den für ein mehr oder weniger normales Funktionieren des Staates notwendigen M ehrwert zu schaffen. Obwohl nämlich das Handelskapital dominant war, war Serbien nicht in der Lage, sich in Industriekapital zu transformieren, um dadurch einen Aufschwung in der gesamten w irtschaftlichen Entwicklung zu ermöglichen. Daher war Serbien noch an der Schwelle des XX Jahrhunderts ein ausgeprägtes Agrarland, in dem von der Gesamtbevölkerung an die 2,5 Millionen Menschen gerade 15% in Städten und Städtchen lebten, und der Rest auf dem Land. So lebte auch fast ganz Serbien, oder fast 85% seiner Bevölkerung, von der Landwirtschaft, während vom Rest der Bevölkerung 6,5% Handwerker, 4,6% Händler und 4,7% Staatsbeamte waren.11 In der Zwischenzeit, nach der Abdankung von König Milan, setzte man Anfang 1889 statt des minderjährigen Aleksandar eine dreiteilige Statthalterschaft ein. Die Situation wurde Mitte 1892 komplizierter, als die politischen Akteure nach dem Tod des dritten Statthalters, des Generals Kosta Protić, sich nicht über die Ernennung des neuen Mitglieds einigen konnten. Dies nahm der minderjährige Thronfolger Aleksandar zum Anlass, am 1. April 1893 den ersten von einer ganzen Reihe von Staatsstreichen, die seine Herrschaft geprägt haben, auszuführen. Sich selber (vorzeitig) für volljährig erklärend, fasste König Aleksandar den Entschluss, die Statthalterschaft aufzuheben sowie die Regierung und die Nationalversammlung aufzulösen. Diese Tat rechtfertigte er als eine Rettung des Staates, seiner Souveränität und territorialen Integrität. Das Ansehen der Dynastie fiel auf den tiefsten Stand nach Aleksandars Entscheidung, im Juli 1900 die Hofdame und Freundin seiner M utter Draga Mašin zu heiraten, die nebenbei gesagt W itwe und zehn Jahre älter als er selbst war. Alle waren gegen diese "morganatische" Ehe sowohl die El- 10 Kršev, Boris: Finansijska politika Jugoslavije 1918-1941, Novi Sad: Prometej 2007, p. 164ff. Serbien schaffte es zwar, sich 1899 von der Konzession auf die Einnahmen der Eisenbahn zu befreien, indem es stattdessen die Einnahmen aus dem Streichholz- und Zigarettenpapiermonopol (die als neue Artikel eingeführt wurden) verpfändete. So sicherte sich Serbien mit der Zeit durch die Erweiterung der Liste der Waren, die unter das staatliche Monopol fielen (wie Zucker, Alkohol und Feuerstein), Garantien bei ausländischen Gläubigern für die Bewilligung neuer Kredite. 11 Vučo 1955, p. 171ff. <?page no="156"?> 156 Boris N. Kršev tern als auch die Regierung, die zurücktrat, österreichische und deutsche Offizielle sowie einige Teile der Offizierskorps, die eine Verschwörung zu schmieden begannen, um Aleksandar m it Gewalt vom Thron zu stoßen. Im Bereich des Außenhandels erreichte der Austausch mit Österreich-Ungarn seinen Höhepunkt - 90% des gesamten serbischen Exports (hauptsächlich landwirtschaftliche Rohstoffe) gingen auf den österreichisch-ungarischen Markt, während 60% des Imports (vor allem fertige Industrieprodukte) von dort kamen. Der Gesamtwert des Außenhandelsverkehrs betrug für das Jahr 1901 über 120 Millionen Dinar.12Dessen ungeachtet verlief die Einbindung von Serbien in internationale Prozesse und den internationalen Waren- und Kapitalaustausch außerordentlich langsam. Angesichts der fast absoluten Abhängigkeit vom dominanten Markt Österreich-Ungarns blieb der Kapitalismus in Serbien am Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Niveau eines "landwirtschaftlichen Anhängsels" der Doppelmonarchie. In der festen "Umarmung" Österreich-Ungarns stellte man in den politischen Kreisen Serbiens immer häufiger die Frage, ob denn der Staat überhaupt Souveränität besitze und um welche es sich denn handle, wenn keine einzige Entscheidung unabhängig getroffen werden könne.13 Auf dem finanziellen Plan war dies eine Periode der "inneren" Staatsverschuldung bei den privilegierten Geldinstituten vor allem bei der Nationalbank (Narodna banka), aber auch bei anderen Banken, die diesen Status hatten (Handelsbank, Exportbank, Belgrader Kreditamt u.a. [Trgovačka banka, Izvozna banka, Beogradski kreditni zavod]). Die Folge von außerplanmäßigen, unter politischem Druck bewilligten Krediten war eine Inflation, die durch das Drucken von ungedecktem Geld verursacht wurde.14 Serbien unternahm auch mehrere erfolglose Versuche, sich ein ausländisches Darlehen zu sichern, aber aufgrund des "Karlsbader Patronats" über die staatlichen Geldquellen und der ständigen Obstruktionen und Erpressungen der Großmächte konnte Serbien im Bereich der Regulierung der eigenen Finanzen nichts selbstständig unternehmen. So wurde m it der Zeit die Bewilligung eines größeren internationalen Kredits, mit dem die Staatsfinanzen "auf eigenen Beine" zu stehen kommen würden, 12 Istorija Srpskog naroda VI-1, p. 14f. 13 Kršev, Boris: Osnivanje Francusko srpske banke 1910. godine. In: Novosadski bankar 25 26 (1994), pp. 27-32. Die wirtschaftliche Abhängigkeit war bereits pejorativ geworden, so dass man immer häufiger hören konnte, dass "Österreich-Ungarn seine Armee nicht bewegen muss, um Serbien zum Gehorsam zu zwingen, sondern nur sein Grenzveterinärsamt zu mobilisieren hat". In der Periodevon 1881 bis 1901 wurden nämlich für Serbien wegen angeblicher Viehseuchen gleich sechs Mal die Grenzen geschlossen, und dabei handelte es sich um verschiedene Formen von politischem Druck. м Kršev, Boris: Osnovne karakteristike bankarstva u Srbiji do Prvog svetskog rata: Novi Sad: 2013 (Civitas 5), pp. 190-204. <?page no="157"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien [1878-1918) 157 zu einer erstrangigen diplomatischen Frage. Die gegenseitige Verflechtung der Interessen der Großmächte zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem auf dem Balkan hatte negative Folgen für die selbstständige Entwicklung Serbiens. Deutsche und österreichische Banken forderten von Serbien als Konzession für eine Finanzhilfe den letzten Trumpf, den Serbien hatte die Einnahmen aus den Eisenbahnen, während hingegen Russland wegen der austrophilen Politik der Obrenovićs-je d e n Versuch der Vereinbarung eines Darlehens m it französischen Banken sabotierte.15 Die Chance, einen größeren und günstigen Kredit zu erhalten, ergab sich für Serbien Anfang 1902, und zwar m it einem belgischen Bankenkonsortium. Die Summe, die Serbien am Ende hätte bekommen sollen, betrug 36,75 Millionen Dinar, zu einem außerordentlich günstigen Kurs und mit einem Zinssatz von 5%. Die einzige Bedingung, die der Gläubiger stellte, war, dass im Gegenzug in Belgrad (am Topčider) ein Spielkasino eröffnet würde. Dem Staat wurde sogar für die Übertragung dieses "Spielrechts" auch ein Teil des Reingewinns vom Glücksspiel in Flöhe von 25% auf Jahresebene angeboten. Da jedoch bald die Affäre um die "falsche Schwangerschaft" der Königin Draga publik wurde und die oppositionelle Presse gegen die Eröffnung des Spielkasinos war, gab man den ganzen "Spielkred it" auf, um einem weiteren Skandal aus dem Wege zu gehen.16 Die Entscheidung der Regierung, diesen Kreditvertrag mit der Gruppierung belgischer Banken aufzulösen, führte zum Rücktritt des Finanzministers Mihailo Popović. Der neue Minister Milovan Milovanović wandte sich an Pariser Banken um Hilfe, die Serbien (unter Vermittlung der russischen Diplomatie)17 ein Darlehen in nominaler Höhe von 60 Millionen Franken m it einer Tilgungsfrist von 50 Jahren und einem jährlichen Zinssatz von 5% gewährten. Aber obwohl das Darlehen während der Periode des letzten Obrenović abgeschlossen wurde, wurde es erst nach dem Regierungsantritt von Petar Karađorđević realisiert. Dank diesem Kredit schaffte es Serbien zum ersten Mal nach 25 Jahren, aus der Periode der ständigen Verschuldung und des ständigen Haushaltsdefizits herauszukommen, was in der Öffentlichkeit als ein erster Schritt der neuen Dynastie in Richtung einer Regulierung vor allem der finanziellen Situation im Staat ausgelegt wurde.18 15 Jovanović 1990, p. 61f. 16 Ibid., p. 248f. 17 Ibid., p. 173ff. Da fast alle relevanten Faktoren, die einen Einfluss auf das öffentliche Leben in Serbien hatten, gegen eine Ehe des Königs mit Draga Mašin sprachen, wandte sich Aleksandar an den Russischen Gesandten in Belgrad, Pavel Mansurov, der ihm die Einwilligung von Nikolaus Il Romanow, Draga Mašin zu segnen", verschaffte. So bezeichnete die (abgenötigte) Patenschaft des russischen Zaren eine Änderung im Kurs der Führung der Außenpolitik Belgrads. 18 Vojvodić, Mihailo: Srbija u međunarodnim odnosima krajem XIX i početkom XX veka. Belgrad: Srpska akademija nauka i umetnosti 1988, p. 359ff. <?page no="158"?> 158 Boris N. Kršev Die Machtübernahme der Karađorđevićs nach dem "Mai-Umsturz" bedeutete sowohl innenals auch außenpolitisch eine Änderung des Kurses in der Politikführung. Die prioritäre Aufgabe des neuen Regimes war die "Heilung der kranken Finanzen" durch eine Förderung von nationalen Sparmaßnahmen, eine durchdachte Kreditpolitik, die Umgestaltung der staatlichen Finanzbuchhaltung sowie eine Abgeordnetenaufsicht über Haushaltsposten und allgemeine Entwicklungsrichtungen der gesamten wirtschaftlichen Aktivität. Immer mehr spürte man die Anwesenheit von französischem und englischem Kapital bei der Finanzierung der Erweiterung des Eisenbahnnetzes, im Bergbau, im Handel sowie bei der Gründung von neuen gemischten Bankinstituten.19 Im Bereich der Sicherheit war die Aufrüstung der Armee prioritär, wofür noch ein günstiges ausländisches Darlehen gesichert werden musste. Die Auswahl der Kreditgeber wurde zur wichtigen politischen Frage, weil sie gleichzeitig auch den zukünftigen strategischen Partner bestimmte, auf den Serbien international rechnen konnte. Ein solcher Kredit konnte angesichts einer immer stärkeren Verschärfung der Beziehungen der Großmächte auf dem Balkan nicht mit einem eventuellen politischen Gegner abgeschlossen werden. Auch die finanziellen Bedingungen des Darlehens spielten eine große Rolle bei der Wahl des Partners, da jede weitere ungünstige Verschuldung katastrophale Konsequenzen für die wirtschaftliche und damit auch für die politische und die Sicherheitslage haben würde. Daher waren das Darlehen und die Anschaffungen zwei miteinander verknüpfte Geschäfte, da jeder Gläubiger die Bedingung aufstellte, alle Anschaffungen bei Herstellern aus seinem Land zu machen. M it anderen Worten, die Banken waren bereit, die eigene Militärindustrie zu kreditieren, und nicht, ein Darlehen zu geben, m it dem die Konkurrenz mittelbar finanziert werden würde. So knüpften alle sowohl österreichische als auch deutsche, französische und englische Bankiers die Bewilligung des Darlehens an die Anschaffung von Militärausrüstung und -bewaffnung bei ihren eigenen Herstellern, und nicht bei Konkurrenzunternehmen die Österreicher bei "Skoda", die Deutschen bei "Krupp" und "Erhardt", die Franzosen bei "Schneider-Creusot" und die Engländer bei "Armstrong". Vorläufer der neuen Verschärfung der Beziehungen zwischen Belgrad und Wien war das serbisch-bulgarische Zollbündnis (abgeschlossen im Juni 1905), das die Hauptstadt Österreichs mit Argwohn zur Kenntnis nahm, weil dadurch der Einfluss Russlands auf dem Balkan zunahm. Da das Zollbündnis sich bald zu einem Militärbündnis entwickelte (mit dem Ziel einer "endgültigen" Lösung der Ostfrage) und Bulgarien in der Zwi- ,: i Aleksić-Pejković, Ljiljana: Odnosi Srbije sa Francuskom i Engleskom 1903-1914. Belgrad Istorijski institut 1965, pp. 253-263. <?page no="159"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien (1878-1918) 159 schenzeit Kanonen und schwere Artillerie über "Schneider-Creusot" erworben hatte, war es völlig natürlich zu erwarten, dass auch die serbische Regierung sich entschließen würde, bei demselben Hersteller Rüstungsgüter für die eigene Armee zu beziehen. Aber Wien betrachtete die Frage der Bewaffnung Serbiens als eine "Angelegenheit, in der ihnen kein anderer Staat Konkurrenz machen" dürfe. Der Außenminister Agenor Gotuchowski verlangte von Serbien, das Bündnis mit Bulgarien aufzulösen und das "Prioritätsrecht" Österreich-Ungarns in jeglicher Hinsicht einzuräumen. Infolgedessen bietet der Vertreter des Wiener Bankvereins Wilhelm von Adler in den Verhandlungen m it dem serbischen Finanzminister Lazar Paču ein fast zinsloses Darlehen in Höhe von 30 Millionen Dinar an, aber unter der Bedingung, dass Serbien seine schwere Bewaffnung beim österreichischen Hersteller "Skoda" aus Pilsen erw irbt.20 Da jedoch die Wahl von Serbiens Regierung trotzdem auf den französischen Hersteller "Schneider-Creusot" fiel, rechtfertigte das offizielle Belgrad die Anschaffung der schweren Bewaffnung als eine rein technische Frage (angesichts der schlechteren Qualität der Skoda-Kanonen im Vergleich zu den französischen), die mit den restlichen Handels- und anderen Abkommen, die mit der Doppelmonarchie geschlossen wurden, nicht in Beziehung gesetzt werden sollten. Eine solche Haltung Belgrads stellte für Wien einen ausreichenden Grund dar, um AnfangJuIi 1906 die nordwestlichen Grenzen Serbiens wieder zu blockieren. So war die "Kanonenfrage" Anlass für den Beginn des Zollkriegs bzw. für das Embargo serbischer Produkte, das bis zum Jahre 1911 dauern sollte.21 20 Dedijer, Vladimir: Sarajevo 1914, Beograd: Prosveta 1966, p. 620. Anlässlich der Audienz bei König Petar im Dezember 1904 deutete Adler an, dass "die Haltung der serbischen Regierung in der Frage des Darlehens und der Anschaffung der Kanonen eine Art Barometer für dessen Beziehungzu Österreich-Ungarn sein und dass die Monarchie ihre Haltung in allen Fragen im Zusammenhang mit Serbien im Einklang damit einnehmen wird". Es handelte sich dabei um Druckausübung auf die serbische Regierung, ihre Bewaffnung über Skoda, das sich bereits längere Zeit in einer Krise befand, zu realisieren. Allein dessen Verschuldung bei der Creditanstalt in einer Höhe von 4 Millionen Kronen waren ein ausreichendes Signal für alle anderen Banken, äußerste Voisicht bei der Kreditierung des böhmischen Unternehmens walten zu lassen. Auf der anderen Seite war die Produkbon für die Bedürfnisse der österreichisch-ungarischen Armee "zu gering, um die Fabrik am Leben zu erhalten". Wenn man weiß, dass die Staatsspitze selbst, mit Eizheizog Franz Ferdinand an der Spitze, große Akbenpakete von Skoda besaß, dann ist völlig klar, warum man auf Serbien Druck ausüben musste, seine Kanonenanschaffung über den österreichischen Hersteller zu realisieren wobei man selbst vor den schwersten Zwangsmaßnahmen nicht zurückschrak. Vgl. Dumba, Constanbn: Dreibund Und Entente-Polibk in DerAIten Und Neuen Welt. Wien: Amalthea 1931, p. 218f. 21 Đorđević, Dimitrije: Carinski rat Austro Ugaiske i Srbije 1906 1911. Beograd: Istorijski insbtut 1962, p. 1 0 1 1 0 5 . Die Schließung der österreichisch-ungarischen Grenze sollte Serbien "in die Knie zwingen" ihm einen solchen wirtschaftlichen Schlag versetzen, von dem es sich jahrelang nicht erholen würde. Aberes geschah das G egenteil-Serbien gelang es, eine Alternabvlösungzu bilden und den Exportseiner Produkteaufneue Märkte zu organisieren. <?page no="160"?> 160 Boris N. Kršev In der Zwischenzeit erhielt die serbische Regierung von einem Pariser Bankenkonsortium (Banque de Paris et des Pays-Bas, Societe Generale und Comptoir d'Escompte) ein Rüstungskreditangebot in Höhe von 95 M illionen Goldfranken, mit einer Tilgungsfrist bis 1956 und einem Zinssatz von 4,5% auf Jahresebene, der im November 1906 realisiert wurde (mit der Anmerkung, dass Serbien für dieses Darlehen keinerlei Garantien geben musste). Den augenscheinlich günstigen Kredit erhielt man auch aufgrund der Hast und der Befürchtungen der französischen Bankiers, dass es wegen dem russisch-japanischen Krieg zu einer Krise auf dem weltweiten Geldmarkt kommen würde, die alle internationalen Finanzflüsse und Kreditarrangements paralysieren könnte.22 Da der Zugang zum Meer und der Bau der Adria-Eisenbahn unter den neuen Bedingungen (angesichts der Blockade der Grenzen) die prioritäre Aufgabe der serbischen Regierung war, konnte man erwarten, dass Wien sich aller Mittel bedienen würde, um diesen Plan zu vereiteln. Dem neuen Außenminister Baron Alois Aehrenthal gelang es denn auch, die Verbindung Belgrads mit der Adria und mit dem Hafen Bar in Montenegro über den Sandschak, sowie die Verbindung über Priština und Prizren mit San Giovanni di Medua (Shengjin) in Albanien und mit dem Ägäischen Meer über Thessaloniki vorübergehend zu verhindern. Die Wiener Diplomatie schaffte es, in den internationalen Kreisen den Zugang Serbiens zum Meer m it der Erlangung der Konzession für den Bau der Eisenbahn für das eigene Kapital über die Orientbahn und die Hirsch-Kompanie zu bedingen.23 Auf der anderen Seite stellte die Finanzierung des Eisenbahnbaus unter serbischer Regie eine fast "unmögliche Mission" für den Staatshaushalt dar. Serbien wurde mit dem Beginn des "Zollkriegs" mit einem bis dahin ungesehenen, durch die Exportblockade sowie die Rekonstruierung des Handels und der gesamten Wirtschaft verursachten Geldmangel konfrontiert. Deswegen wandte sich die serbische Regierung bereits im Sommer 1907 wieder an die französischen Geldgeber mit der Bitte um einen neuen Kredit. Da jedoch erst wenige Monate seit dem Abschluss des letzten Darlehens ver- Deswegen musste es sich einen Zugang zum M eer verschaffen, was eine neue (politische) Frage aufwerfen sollte - "die Frage der Adriaeisenbahnen". 22 Ćorović, Vladimir: Odnosi između Srbije i Austro-Ugarske u XXveku. Beograd: Biblioteka grada Beograda 1992, p. 94. 23 Ibid., pp. 551-558. Als Vermittler zwischen Österreich-Ungarn und Serbien trat eine Gruppierung von französischen Bankiers mit dem Vorschlag auf, dass, wenn man schon auf der Konzession bestehe, 2/ 3 der Aktien der Orientbahn Iosgekauftwerden sollten, und zwar so, dass Österreich-Ungarn nur 1/ 3 der Aktien besitzen sollte, während das zweite Drittel Serbien gehören würde, und das dritte Drittel würden Russland und Frankreich untereinander aufteilen. Dieser von Russland und Frankreich unterstützte Vorschlag sollte das serbische Problem des Zutritts zum M eer "internationalisieren". <?page no="161"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien [1878-1918) 161 gangen waren, wurde dieser Antrag abgelehnt. Auch im darauffolgenden Jahr schickte Serbien eine neue Bitte um eine Kreditgenehmigung, aber aufgrund der Annexionskrise wurde der Antrag wieder abgelehnt. Erst als sich Anfang April 1909 die Situation im Zusammenhang mit Bosnien-Herzegowina gewissermaßen "beruhigt" hatte, bewilligte das französische Bankenkonsortium mit der Banque de Paris et des Pays-Bas, der Societe Generale und dem Comptoir d'Escompte an der Spitze ein Darlehen für der Bau der Adriabahn in Höhe von 150 Millionen französischen Franken in Gold, m it einer Tilgungsfrist von 50 Jahren und einem Zinssatz von 4,5%. Der Staat bürgte dafür, dass er die jährliche Annuität in Höhe von 7,5 Millionen Dinar aus dem Überschuss aller Monopoleinnahmen begleichen würde. Der Kredit sollte ein spezifische "Belohnung für Serbien für seine Haltung in der Annexionskrise" darstellen, da dem Staat, nach Meinung der französischen Diplomaten, "bis dahin niemand nicht einmal danke gesagt hatte."24 Die Nettosumme des Darlehens betrug jedoch am Ende 123,75 Millionen Dinar, von denen 56 Millionen für den Eisenbahnbau verwendet wurden, während 44 Millionen für die Bewaffnung, 13 Millionen für die Förderung und Erteilung von Handelskapital an einzelne Unternehmer sowie 10 Millionen für die Auszahlung fälliger Schatzwechsel ausgegeben wurden. In einem Teil der Öffentlichkeit stieß diese Verschuldung Serbiens auf scharfe Kritik, während die Regierung selbst sich damit rechtfertigte, dass man bei der Situation auf dem Geldmarkt keinen besseren Kredit hatte bekommen können und dass für die Bewaffnung der Armee alles, was zur Verfügung steht, gegeben werden müsse egal was es koste. Auch die Belgrader Politika äußerte sich positiv zur neuen Staatsverschuldung und kommentierte sie mit den folgenden Worten: "Wer weiß, ob uns die M illionen, die w ir jetzt für die Armee ausgeben, in kurzer Zeit nicht mit großem Gewinn zurückgezahlt werden."25 Da der Markt an chronischem Geldmangel litt, war die Regierung gezwungen, sich auch bei der Naäonalbank zu verschulden, die aufgrund dessen die Geldmasse erhöhen musste, was zu einer Inflation führte. In nur vier Jahren erhöhte sich der Geldumlauf um mehr als das Doppelte von 37 Millionen (im Jahr 1906) auf 75 Millionen Dinar (am Ende des Jahres 1910). Eine Kuriosität war, dass der Dinar trotz der hohen Inflationsrate seine Parität und Gleichwertigkeit mit dem französischen Franken aufrechterhalten konnte vor allem dank der positiven Außenhandelsbilanz (im Jahr 1910 belief sich der Gesamtexport auf 98,3 Millionen 24 Aleksić-Pejković 1965, pp. 223-230. Nach Meinung der französischen Diplomatie "sollte die Kreditbewilligung die Unzufriedenheit der öffentlichen Meinung in Serbien mildern", sowie ihre Enttäuschung wegen der ausgebliebenen Unterstützung der Entente. 25 In: Politika, 26.11.1909. <?page no="162"?> 162 Boris N. Kršev Dinar, und der Import auf 84,6 Millionen) und dem hohen Goldstandard (der sogenannten "Goldbasis"), der für das Jahr 1910 rund 33,6 Millionen Dinar in Gold (oder fast 45% vom Gesamtgeldumlauf) betrug. Allgemein betrachtet kommen die serbischen Finanzen Anfang 1910 in eine Periode der Stabilität, vor allem dank dem energischen Finanzminister Lazar Paču, des Weiteren aufgrund der Sparsamkeit und rationellen Verwendung der Haushaltsmittel, der Aufsicht der Nationalversammlung über die Haushaltspositionen und der rechtzeitigen Kapitaldienstdeckung ausländischen Gläubigern gegenüber was insgesamt das Ansehen und das Kreditrating Serbiens steigerte.26 Aufdem Außenpolitischen Parkett entwickelte sich das serbisch-bulgarische Bündnis zu einem Balkanbündnis, dem sich Montenegro und Griechenland anschlossen. Da sich der "Tag der großen Abrechnung" der endgültigen Lösung der Ostfrage näherte, hoben alle Mitgliedsstaaten ihre Kampfbereitschaft auf das höchste Niveau und stellten fast eine M illionenarmee auf. Serbien mobilisierte 1912 für den Ersten Balkankrieg insgesamt 335.000 Soldaten und für spätere Bedürfnisse im Kampf noch 67.000 Soldaten. Durch die Beschlüsse der Londoner Botschafterkonferenz im Dezember 1912 und des Friedensabkommens von Bukarest vom 10. August 1913 erhielt Serbien keinen Zutritt zum Meer, wurde aber flächenmäßig um 39.000 km2 vergrößert das Gebiet von Kosovo (Altserbien), die Region Vardar in Mazedonien (Südserbien) und ein Teil des Sandschak (Region Raška) wo eine größtenteils nichtserbische Bevölkerung von etwa 1,3 Millionen Menschen lebte.27 Während der "finalen Abrechnung" erklärten die Großmächte ihre politische Neutralität, die sich auch auf eine gewisse "finanzielle Neutralität" bzw. ein Finanzierungsverbot der sich bekriegenden Parteien erstreckte. Mangel an Kapital und an finanzieller Unterstützung für die Kriegsführung spürte man allenthalben. Die serbische Regierung schaffte es während der Balkankriege, durch Verschuldung bei "eigenen" Finanzinstitutionen bei der Fondverwaltung (18 Millionen), bei der Französisch-Serbischen Bank (30 Millionen) und durch eine "endlose" Erteilung von Schatzwechseln durch die Nationalbank zusätzliche Mittel zu sichern. Aber das reichte nicht aus, um alle wachsenden Bedürfnisse des Staates abzudecken. 26 Istorija srpskog naroda V l-l, p,177f. 27 Ekmečić, Milorad: Stvaranje Jugoslavije 1790-1918. Bd. 2. Beograd: Prosveta 1989, pp. 628- 659. Die Balkankriege hatten unermessliche Folgen für die weitere Entwicklung der Völker, die in diesem Gebiet lebten. Die spätere Politik stellte die historische Frage, ob es sich dabei um Befreiungs- oder Eroberungskriege gehandelt habe. Aufjeden Fall haben diese Kriege den Freiheitsgeist der ostslawischen Völker in der Flabsburger Monarchie, vor allem bei Jugendlichen, die "berauscht den Gedanken von der jugoslawischen Vereinigung erzählten", in unermessliche Flöhen gehoben. <?page no="163"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien [1878-1918) 163 Man sollte so bald wie möglich alle Kriegshandlungen beenden, um von den ausländischen Gläubigern einen größeren Kredit, m it dem man die Staatsfinanzen regeln könnte, bewilligt zu bekommen. So brachten also ihre finanziellen (Un-)Gelegenheiten Serbien und Bulgarien dazu, den Friedensvertrag zu schließen, der den Zweiten Balkankrieg beendete. Die Bedingung der Pariser Bankiers, Serbien solle zuerst Frieden schließen und erst danach einen Kredit beantragen, versuchten englische und russische Geldgeber auszunutzen, um ihr Kapital auf dem serbischen Markt zu platzieren. Jedoch wurde beim Besuch von Nikola Pašić in Paris M itte August 1913, nach Unterzeichnung des Friedens von Bukarest, ein prinzipielles Einverständnis m it den französischen Partnern erlangt. Das größte Darlehen, das Königreich Serbien je zugewiesen bekam, wurde am 26. August 1913 in Belgrad zwischen der serbischen Regierung und der Französisch-Serbischen Bank, die das Konsortium von Societe f i nanciers d'Orient, Banquefrangaise pour Ie commerce et l'industrie, Banque Imperiale Ottomane, Banque de Paris et des Pays-Bas und Comptoir National d'Escompte de Paris vertrat, abgeschlossen. Der Kredit betrug nominell 250 Millionen Goldfranken, wobei er in zwei gleiche Tranchen zu jeweils 125 Millionen geteilt war, mit einer Tilgungsfrist von 50 Jahren und einem Zinssatz von 5%. Die jährliche Annuität betrug 13,55 Millionen, und als Garantie gab Serbien sein Alkoholmonopol, und falls dies nicht ausreichen sollte, konnten die Gläubiger mit direkten Mitteln aus dem Haushalt rechnen. Der Kredit war deklarativ zweckgebunden: der erste Teil für die Liquidierung der Kriegskosten, und der zweite für die Bedürfnisse der Funktionalität staatlicher Organe, Investitionen in die Wirtschaft und für die Integration der neuen Gebiete. Der gesamte Kredit sollte bis zum 1. April 1914 realisiert werden.28 Nach Abzug aller Kosten erhielt Serbien aber nur 207.720.000 Franken, und dafür sollte es bis 1964 ganze 677,5 Millionen Franken zurückzahlen. Der Finanzminister Pacu rechtfertigte die ungünstigen Kreditbedingungen mit der internationalen Krise und der Blockpolarisierung der europäischen Mächte, was eine Teuerung nach sich zog, aber auch mit dem dringenden Bedürfnis Serbiens, seinen Verpflichtungen aufgrund früherer Verschuldungen sowie einem Teil der türkischen Staatsverschuldung als ihr Sukzessor nachzukommen. Das, was am Ende der serbischen Regierung noch zur Verfügung stand, war dermaßen belanglos, dass man umgehend das Terrain für ein neues Darlehen vorbereiten musste.29 Serbien war damit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einer der meistverschuldeten 28 Aleksić-Pejković 1965, p. 348f. 29 Ibid., pp. 352-367. <?page no="164"?> 164 Boris N. Kršev Staaten in Europa seine Außenverschuldung belief sich auf 910.292.000 Millionen französische Franken in Gold und 43 Millionen Golddinar.30 Von der Situation in Serbien vom Ende 1913 und vom Anfang 1914 legen vielleicht die Berichte der russischen und österreichischen Gesandtschaft am besten Zeugenschaft ab. So heißt es in einem Schreiben Nikolaus Hartwigs, dass "Serbien nach Frieden lechzt und bereit ist, in freundschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn zu treten", während im Referat des Militärattaches Otto Gelinek steht, "Serbien ist für eine gewisse Zeit in einen Schwächezustand geraten, sowohl in finanzieller als auch in militärischer Hinsicht [...] Bewaffnung und Ausrüstung müssen sie von neuem anschaffen, denn alles ist alt und abgenutzt [...] Das Land braucht in den nächsten paar Jahren unbedingt Frieden." Auch im Bericht des Gesandten Wladimir Giesl vom 24. Februar 1014 heißt es, dass "die militärischen und finanziellen Umstände im Königreich dermaßen beschaffen sind, dass sie die Führung einer abenteuerlichen Politik verhindern", während im nächsten Bericht (vom 10. April) bestätigt wird, dass in Serbien bei der gesamten Bevölkerung und beim Militär eine ehrliche Liebe zum Frieden dominiert [...] Serbien will Frieden haben, denn jetzt kann es keinen Krieg führen [...] Es ist durch den Gewinn neuer Gebiete sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher und politischer Flinsicht geschwächt, was noch Jahre dauern wird, denn es wendet sowohl seine militärische als auch finanzielle Kraft auf, die neuen Gebiete zu bewahren...31 Fast gleichzeitig, M itte Mai, erreichten die serbische Regierung Informationen "über eine Gruppe Jugendlicher aus Bosnien-Herzegowina, die ohne Reisedokumente und unter dem Schutz von Grenzoffizieren die Grenze an der Drina überqueren, und dass einige von ihnen Vorbereitungen anstellen, den Thronfolger Franz Ferdinand umzubringen" Pašić wies auf die Probleme hin, die solche geheimen Grenzüberquerungen bei der österreichischen Regierung auslösen könnten, und verurteilte auch einzelne Offiziere, die dahinter standen: "Solche Beziehungen unserer Offiziere aus der Gruppe 'Die schwarze Hand', die mit den exaltierten Jugendlichen aus Bosnien-Herzegowina die von großserbischer Propaganda begeistert sind das Monopol auf den Patriotismus für sich beanspruchen, können sehr gefährlich sein", lauteten seine bei der Regierungssitzung Ende Mai 1914 notierten Worte. Die Regierung ahnte, die Jungbosnier könnten "irgend eine unangenehme Demonstration oder ein Abenteuer bei den bevorstehenden großen Sarajevoer Manövern, welche die österreichisch-ungarische Armee m it einer frapanten Anzahl von 250.000 Mann m it dem Thron- 30 A l,70-265-478, Nasleđeni dugovi Kraljevine Srbije. 31 Ćorović 1992, p. 648. <?page no="165"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien [1S7S-191S) 165 folger Franz Ferdinand an der Spitze demonstrativ entlang der westlichen Grenze organisiert, anstellen".32 Pašić und die Regierung waren sich der Situation, in der sich Serbien befand, bewusst, und dass "keine seiner Institutionen sich auf ein so gefährliches Unternehmen einlassen dürfte, da Serbien gerade aus zwei schweren Kriegen gekommen war, in denen es sowohl in menschlicher als auch in materieller Flinsicht schwere Verluste erleiden musste". Daher sei dem Land, so dachten sie, "eine mehrjährige Pause für die Erneuerung und finanzielle Konsolidierung sowie für die Gewinnung der Souveränität aufseinen neuerhaltenen Gebieten unentbehrlich."33 Aber das Attentat geschah dennoch und Österreich-Ungarn schmiedete trotz des Berichts von Professor Friedrich Wiesner, dass es keinerlei Beweise für die (direkte) Einmischung der serbischen Regierung in das Attentat gebe den Plan, die Lösung seiner großen inneren Probleme und seine Selbstbestätigung als europäische Großmacht durch einen kleinen Krieg mit Serbien zu bewerkstelligen. Obwohl der russische Gesandte in Berlin einen solchen Ausgang als "Zündung" charakterisierte, die ganz Europa entfachen könne, versicherte ihm der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt Gottlieb von Jagow, dass es sich dabei "nicht um einen Krieg, sondern um die Exekution in einer lokalen Affäre handeln würde."34 Nachdem Wien bereits Anfang Juli eine (unwiderrufliche) Entscheidung für den Krieg getroffen hatte, zeigte es sich, dass die Armee der Monarchie nicht bereit war (obwohl soeben die Manöver beendet waren), so dass der Chef des Generalstabs Conrad Flötzendorf etwa zwanzig Tage für die Vorbereitung der Mobilisierung verlangte. Es sollte Zeit gewonnen und ein solches Ultimatum geschrieben werden, das "überzeugende Anschuldigungen und inakzeptable Forderungen enthalten müsste - und dennoch gemäßigt in seiner Form".35Im Ultimatum von Alexander Musulin demonstrierte man eine Pax Austriciae sondergleichen in zehn Punkten wurde die serbische Regierung (mittelbar) beschuldigt, die Arbeit einzelner Organisationen geduldet zu haben ("Volksabwehr" und "Vereinigung oder 32 Dedijei 1966, p. 664ff. 33 Istorija srpskog naroda VI-2, Belgrad 2000, p. 20-22. Obwohl die serbischen Offiziellen sich für die Einheit des Staates und dessen Erneuerung und Konsolidierung einsetzten, war der Staat innenpolitisch dennoch gespalten zwischen dem König und der Regierung auf der einen, und der Geheimorganisation Die schwarze Hand auf der anderen Seite. Überzeugt davon, das größte Verdienst für den Machtantritt Karađorđevićs zu haben, agieren deren Mitglieder eigenmächtig, weil über ihnen keine Institution im Staat steht. 34 Ćorović 1992, p. 780. 35 ! storija sprskog naroda, VI-2, p. 31f. <?page no="166"?> 166 Boris N. Kršev Tod"), die subversive Tendenzen der Monarchie gegenüber zeigten - und dass an dieser Arbeit auch einige Staatsbeamte (Milan Ciganović) und Offiziere (Voja Tankosić) teilgenommen hatten sowie den ungebändigten Ton bestimmter Presseorgane (Pijemont) nicht verhindert zu haben. Von den Bedingungen, die im Ultimatum angeführt wurden, war der fünfte Punkt der problematischste, denn dort verlangte die österreichisch-ungarische Regierung für ihre gerichtlichen und polizeilichen Organe, auf dem Territorium Serbiens ungehindert Untersuchungen durchführen zu können. Die serbische Regierung willigte ein, die restlichen neun Punkte zu erfüllen, den fünften jedoch nicht, m it der Antwort, sie würde "eine Zusammenarbeit im Einklang m it dem internationalen Recht und Strafverfahren akzeptieren, sowie dass diese Frage dem internationalen Gericht in Haag vorgetragen werde."36 Der österreichische Außenminister Graf Leopold Berchtold war der Meinung, die serbische Antwort sei "nicht ehrlich" und habe die "Absicht, nur ein trügerisches Bild bei den europäischen Mächten zu schaffen, dass die serbische Regierung die an sie gestellten Forderungen in großem Maße zu erfüllen bereit sei".37Angesichts einer solchen Haltung folgte m it moralischer Unterstützung Berlins die Kriegserklärung an Serbien, und da Russland versprochen hatte, den "kleinen Bruder" auf keinen Fall im Stich zu lassen, wurde bald ein "Domino-Effekt" ausgelöst, der Europa in den Großen Krieg führen sollte. In Serbien löste die Kriegserklärung keine größere Panik aus, obwohl die Regierung wusste, dass man nicht einmal für die Mobilisierung, geschweige denn für den Krieg die Mittel hatte. Daher informierte unmittelbar nach dem Empfang des Telegramms mit der Kriegserklärung (am selben Tag) Pašić den serbischen Botschafter in Paris Milenko Vesnić, dass er sich mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an die französische Regierung wenden solle. Obwohl der Regierungschef Rene Viviani sich im Zusammenhang mit der serbischen Anfrage positiv äußerte, war der Finazminister Noulens dagegen, "weil diese Ausgaben im Haushalt für das 36 Vrkatic 2004, pp. 588-591. Obwohl Wien sofort die Frage der Verantwortung Belgrads aufwarf, ist es eine Tatsache, dass eine Verantwortung der österreichisch-ungarischen Regierung niemals zur Debatte stand. Warum wurden die Informationen und Warnungen der serbischen Regierung nicht ernst genommen, warum waren die Schutzmaßnahmen für den Thronfolger vollkommen ideenlos, da die Ermittlungen ergaben, dass die Vorbereitung und der Verlauf des Attentats auf einer außerordentlich niedrigen Ebene der Professionalität waren j a sogaraufeineramateurhaften Ebene, sind nur einige der Fragen, die unbeantwortet geblieben sind. Es ist sogar strittig und zweifelhaft, ob die ganze Aktion überhaupt von der "Schwarzen Hand" organisiert wurde? (Kazimirović, Vasa: Crna ruka. Novi Sad: Selbstverlag [fotomech.] 2013.) 37 Ćorović 1992, p. 782. <?page no="167"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien (1878-1918) 167 laufende Jahr nicht vorgesehen waren" worauf sich auch der Ministerrat m it dieser Einschätzung einverstanden erklärte und es ablehnte, Serbien zu helfen. Auch Präsident Clemenceau, der Druck auf den französischen Senat ausübte, Serbien zu helfen, konnte nichts bewirken. Aber der 'lokale' Krieg, den die Monarchie wollte, dauerte nur drei Tage. In Berlin wartete man nur auf die Nachricht von der allgemeinen Mobilisierung Russlands, um dies als casus belli aufzufassen und Russland am 1. August Krieg zu erklären mit dem das System casus foederis ausgelöst wurde.38 So erklärte zwei Tage später Deutschland Frankreich den Krieg, worauf in einem Eilverfahren der erste Kriegskredit für Serbien in Flöhe von 100 Millionen französischen Franken in Gold bewilligt wurde.39 Die Art und Weise, wie dieser erste Kriegskredit Serbiens bei den Verbündeten realisiert wurde, legt auch unmissverständlich Zeugnis davon ab, wie und unter welchen Bedingungen Serbien finanzielle Hilfe für die Kriegsführung bekam. In den Wirren des Krieges verfolgten sowohl Frankreich als auch England vor allem eigene Interessen, und erst dann die Interessen der Verbündeten, so dass das Geld und die militärische Ausrüstung, welche die serbische Regierung bestellte, stets Gegenstand einer Überprüfung waren.40 Die Finanzierung der Militäroperationen im Jahr 1914 bestritt Serbien auch aus einem Teil des Flaushalts für das laufende Jahr, dessen Einnahmen nur zum Teil realisiert wurden (von den geplanten 214,3 Millionen wurden nur 124,3 Millionen Dinar eingenommen). Unter Kriegsbedingungen konnte man nicht erwarten, dass der Haushaltsplan erfüllt würde, und von weiteren Plänen zu einer Haushaltsnivellierung konnte keine Rede sein.41 Aus den Briefen von Faza Paču an Nikola Pašić und Stojan Protić im August und September 1915 kann man erfahren, dass Serbien von den Verbündeten die Bewilligung eines größeren Kredits verlangte, und nicht den sukzessiven Erhalt der Mittel von Fall zu Fall. So wurde Ende Juli 38 Kisindžer, Henri: Diplomatija, Beograd 2011, p. 174-188. Bereits seit dem Ende des XIX Jahrhunderts w ar in der Diplomatie und in Militärkreisen aufgrund des Fortschritts der Militärtechnologie die traditionelle Art und Weise, wie der casus belli definiert wurde, überholt. Viel wichtiger war, w er als erster eine Mobilisierung durchgeführt, und nicht, w er den ersten Schuss abgegeben hatte. Die Mobilisierung konnte nicht m ehr als eine Friedenshandlung aufgefasst werden im Gegenteil, sie stellte den unmittelbarsten Akt einer Kriegserklärung dar. 39 Al, Fond Milana Stojadinovića (37), p. 33-243. Poreklo prvog srpskog zajma u Francuskoj. (Das Dokument stellt die schriftliche Aufzeichnung des Ende November 1924 in Paris geführten Gesprächs zwischen Miladin Stojanovicund dem französischen FinancierGaston Buni dar). 40 Becii, Ivan M.: Ratni dugovi Kraljevine Srbije u svetlu politike. In: Istorija 20. veka. Belgrad 2010, vol. 28, Nr. 3, p. 45-56. 41 Gnjatovi ć Stari državni dugovi, p. 111. <?page no="168"?> 168 Boris N. Kršev 1915 bei den Verbündeten ein Antrag auf eine Kreditbewilligung in Höhe von 150 Millionen französischen Franken gestellt. Aber der englische Finanzminister sagte, dass sie ihren Anteil (50 Millionen) und die Hälfte des zugehörigen russischen Anteils (25 Millionen) "als Akontozahlung für die Militärausrüstung im Gesamtbetrag von 130 Millionen Franken, die der serbische Militärminister bei der englischen Regierung bestellt hat, behalten werden". Paču war überrascht, denn weder er noch der Rest seines Kabinetts wussten etwas von diesen Bestellungen. Die Überraschung war noch größer, als Pašić auf die Frage, was denn für dieses Geld bestellt wurde, eine negative Antwort vom Minister General Petar Bojinović persönlich bekam. Paču verlangte von Pašić, dass der Militärminister wegen dieses eigenmächtigen Vorgehens zur Verantwortung gezogen werden und seinen Rücktritt erklären müsse, aber die Situation am Kriegsschauplatz machte die Sanktionierung dieses und ähnlicher Fälle sekundär.42 M it dem Rückzug der serbischen Armee, der Regierung und des Königs aus dem Land wurden auch die Nationalbank des Königreichs Serbien, die Fondverwaltung und andere größere Belgrader Banken evakuiert.43 Zwischenzeitlich in Marseille stationiert, setzte die Nadonalbank auch im Krieg die Emission von Dinaren, die dank französischen und englischen Krediten (und den Garantien der Verbündeten) weiterhin eine relativ stabile Währung blieben, fort. Alle während des Krieges emittierten Dinarscheine hatten eine Deckung in Gold oder in einer anderen ausländischen Währung (dem französischen Franken, dem englischen Pfund und dem amerikanischen Dollar).44 Auf der anderen Seite bewahrte der Besatzer selbst die Konvertibilität des Dinars, der im Land geblieben war, denn er devalvierte ihn zwangsweise um 50%, indem er ihn für Kronen auf einer Grundlage von 2: 1 wechselte und völlig aus dem Verkehr verdrängte -d .h . die eigene Währung als Zahlungsmittel einführte. So blieb der serbische 42 Marković, Nikola: Dr Laza Paču životopisne crtice, Belgrad 1923, p. 41-47. In den Briefen bringt Paču ein solches Verhalten des Militärministers in Beziehung zur "Schwarzen Hand" dessen Exponent er war -, die sich seiner Überzeugung nach von der Kontrolle der staatlichen Regierungsorgane vollkommen losgelöst hatte, wodurch sogar der Ausgang des Krieges in Frage kam. 42 Glomazić, Momir: Istorija državne hipotekarne banke 1862-1932, Belgrad 1933, p. 15-17. Während der Evakuierung der Nationalbank und anderer Bankinstitutionen aus dem Land verschwanden viele Dokumente, die für die Beziehung von Schuldnern und Gläubigern von Bedeutung waren, sowie Intabulationsbücher nach Gerichten aus dem Landesinneren. Nach dem Krieg dauerte die Rekonstruierung und Identifizierung von Schuldnern und Gläubigern, die niemals zu Ende gebracht wurde, mehr als zwei Jahre. 44 Arhiv Narodne banke Srbije (ANBS), Izveštaj Upravnog odbora Narodne banke Kraljevine SHS za 1920. Die evidentierte Menge an Dinaren im Umlauf am 31. Dezember 1913 betrug 262.583.129,19. Vor der Vereinigung, am 1. Dezember 1918 ging man davon aus, dass das im Umlauf befindliche Geld nicht die Summe von 600 Millionen Dinar übersteige. <?page no="169"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien [1878-1918) 169 Dinar für eine gewisse Zeit 'konserviert' während die andere Währung, die sogenannte 'serbische Krone', in Serbien während des Krieges um etwa 60% im Vergleich zu ihrem Anfangswert entwertet wurde.45 Im Juni 1916 wurde in London ein Abkommen unterzeichnet, mit dem sich Großbritannien und Frankreich verpflichteten, Serbien monatlich gemeinsam mit insgesamt 9 Millionen französischen Franken zu unterstützen, und zwar bis zum Ende des Kriegs. Als 1917 auch die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, begann Serbien auch von ihnen eine regelmäßige monatliche hülfe in Flöhe von 12 Millionen Dollar zu beziehen. Das Ziel war die Finanzierung und materielle Unterstützung der serbischen Armee, um die "Salonikifront" aufrecht zu erhalten. So wurden drei Staaten zu Flauptgläubigern des Königreichs Serbien für die Kriegsfinanzierung: die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich.46 In seiner nicht gerade beneidenswerten Lage akzeptierte Serbien alle gestellten Bedingungen der Kreditierung und kalkulierte damit, dass es nach dem Krieg seine Verschuldung durch Reparationszahlungen würde kompensieren können. Serbien machte sich im Grunde nicht allzu viele Gedanken um den finanziellen Ausgang des Krieges, wie dies die anderen Länder taten, denn es dachte, dass es nach dem Krieg in Anbetracht der erlittenen Opfer zu einer Schuldenbereinigung kommen würde. Die Kredite wurden entweder in Waren oder in einheimischen Währungen der Gläubigerländer gegeben und auf die Konten der Nationalbank des Königreichs Serbien eingezahlt, die diese bei den dortigen Bankkorrespondenten besaß. Die Darlehen wurden für die Amortisation der fälligen Verpflichtungen (bis auf die fälligen Zahlungen an den Wiener Bankverein, die Berliner Handelsgesellschaft und die Länderbank, die eingestellt worden waren), für die Soldaten- und Offiziersgehälter, für die materielle Versorgung der Armee, für die Finanzierung des Staatsapparats sowie für Flilfsleistungen an Flüchtlinge und die Einwohner im Land verwendet.47 45 AJ, 37-32-238. Auf einen Befehl von Graf Salis, dem Gouverneur der Österreichisch-ungarischen Bank in Belgrad, die statt der Nationalbank von Königreich Serbien formiert wurde, wurde der Dinar in der Periode von 1. bis zum 14. Juli 1916 einer Stempelung unterzogen, um danach wieder in Umlaufzu kommen. Der Umlaufvon nichtgestempelten Dinarscheinen warverboten. 46 Stojadinović, Milan: Naš državni dug. In: Novi život, Band III, Heft 9, Belgrad 1921, p. 277-282. " ANBS, Izveštaj Upravnog odbora Narodne banke Kraljevine SHS za 1920. Die Nationalbank von Königreich Serbien hatte offene Konten bei neun Banken, die ihren Sitz oder eine Filiale in Paris hatten. Auf diesen Konten befanden sich am 3. November 1919 insgesamt 37.471.842.88 Franken, und zwar bei der Banque de France (186.341,37), Banque Frangaise pour Ie commerce et Findustrie (2.464.586,05), Comptoir National d'Escompte (8.016.225,20), Credit Lyonnais (bei der Filiale in Paris 15.499.274,80 und bei der Filiale in Marseille 237.880,90), Societe Generale (5.559.794,56), Banque Internationale de Corn- <?page no="170"?> 170 Boris N. Kršev Die Verbündeten finanzierten auch Montenegro, aber indirekt über Serbien, das auf der Grundlage dessen einen fixen Betrag von 55.000 Dinar täglich auf das Konto der montenegrinischen Regierung einzahlen sollte. A ufder anderen Seite finanzierte Serbien den Jugoslawischen und Montenegrinischen Ausschuss sowie die Arbeit der restlichen politischen Emigration, m it dem Ziel der Schaffung des zukünftigen jugoslawischen Staates.48 Die Kriegsschulden bei den Vereinigten Staaten wurden m it dem in Washington Unterzeichneten Abkommen vom 3. Mai 1926 reguliert, als die Schuld auf 62.850.000 Dollar (3,5 Milliarden Dinar) festgesetzt wurde, m it einem verrechneten jährlichen Zinssatz von 5%. Die Schulden mussten innerhalb von 62 Jahren beglichen werden, d. h. bis zum Jahr 1987, und zwar durch jährliche Einzahlungen von 200.00 Dollar bis zum Jahr 1931, danach sollte die Rate jedes Jahr um 25.000 Dollar steigen.49 Die Kriegsschulden bei Großbritannien wurden durch die am 8. und 9. August 1927 Unterzeichneten Verträge geregelt. Die Kriegsrestschuld wurde auf 25.591.428 Pfund Sterling festgesetzt-ebenfalls m it einer Tilgungsfrist von 62 Jahren (mit den dazugehörigen Zinsen in Höhe von 6% betrug die Verschuldung 32,8 Millionen Pfund Sterling [9,05 Milliarden Dinar], während die jährlichen Annuitäten progressiv von 150.000 auf 600.000 Pfund Sterling stiegen).50 Die größten Forderungen hinsichtlich der Kriegsschulden Serbiens erhob Frankreich, das sich in einer Note vom 31. Mai 1928 an die Regierung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen wandte, mit der Behauptung, dass Frankreichs Einforderungen sich auf 1.747,3 Millionen Goldfranken oder 19,3 Milliarden Dinar belieffen. Da es sich beim französischen Kriegsdarlehen in den meisten Fällen nicht um Geld, sondern um Waren (Bewaffnung und Ausrüstung) gehandelt hatte, wandten sich die zwei Parteien im Januar 1930 an das internationale Gericht in Haag, das die Höhe der Verschuldung auf 1.024 Millionen französische Franken mit einer Tilgungsfrist von 37 Jahren festsetzte. Außerdem "band" das Gericht merce de Petrograde (126.956,80), Banque de Paris et des Pays-Bas (5.378.186,20), Lander Bank (1.358.50) und Banque Imperiale Ottomane (1.256,50), sowie bei der The Russian Commercial Industrial! Bank (10.000.000) mit dem Sitz in London. 48 Kršev, Boris: Uloga političke emigracije u stvaranju prve jugoslovenske države. In: TheShared History the Faith of Refugees and Emigrants from the Territory of Former Yuogoslavia, Sremska Kamenica 2008, p. 193-208. 44 llić, Miomir: Saveznički i naš dug Sjedinjenim Državama. In: Novi život, Band IV, Heft 2, Belgrad 1921, p. 57-59. 50 AJ, 37-33-242. Izveštaj o konsolidaciji ratnih dugova kod savezničkih vlada. Die englischen und französischen Einforderungen stellten ein einheitliches Paket dar, aber die Briten verlangten aufgrund des Wertverlustes des französischen Franken, dass ihr Teil gesondert behandelt und in Pfund verrechnet wird. <?page no="171"?> Staatsschulden und die finanzielle Lage in Serbien [1878-1918) 171 die Abzahlung der französischen Schulden an die jugoslawischen Forderungen aus den deutschen Reparationszahlungen.51 Schlussendlich hat Serbien also alle seine Vorkriegs- (953,3 Millionen französische Franken) und Kriegsschulden (62.850.000 amerikanische Dollar, 25.591.428 Pfund Sterling und 1.024 Millionen französische Franken) in den neuen Staatsverband, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das auch die geerbten Schulden der sezessionistischen Provinzen aus Österreich-Ungarn (die 413,4 Millionen französische Franken und 52,2 Millionen österreichische Kronen betrugen)52 übernahm, mitgenommen. Die geerbten Schulden 'vor der Ehe' beeinflussten wesentlich nicht nur die finanzielle, sondern vor allem die politische Stabilität des neugeschaffenen Staates.53 Übersetzt von Naser Šečerović 51 Jozo Tomašević, Financijska politika Jugoslavije 1929-1934, Zagreb 1935, p. 37-38. 52 AJ, 70-241-436. Nasleđeni dugovi Austro-Ugarske. Triva Militär, Listići iz moje autobiografije, Flandschriftenabteilung der Mabca srpska, M. 12.444. Nach Meinung von Jaša Tomić selbst war die Vereinigung zu früh erfolgt, weil man sowohl die Serben, als auch die Kroaten und Slowenen ihre Leben hätte leben lassen sollen, bis sie auch in der wirtschaftlichen Entwicklung ein gemeinsames Niveau erreicht hätten. So sind die nichtgeregelte Geld-, Finanz- und Fiskalpolibk sowie die geerbten Schulden zu den tödlichsten Waffen der Feinde des neuen Staates geworden. <?page no="173"?> D ževad J uzbašić (S arajevo ) W irtschaftsbeziehungen auf dem Balkan eine der Hauptursachen des Krieges zwischen Österreich-Ungarn und Serbien This article analyzes the economic relations in the Balkans on the eve of the First World War. It focuses on the respective economic interests of the great powers of Europe and the other countries that played a crucial role in the 'July Crisis' of 1914. In this respect, central attention will paid to plans for further railroad construction the Dual Monarchy had at the time. Die politischen und wirtschaftlichen Interessen Österreich-Ungarns waren auf Grund von dessen geographischer Lage, nationaler und ökonomischer Struktur viel größer als die irgend einer anderen Großmacht auf dem Balkan, so dass die Donaumonarchie am unmittelbarsten vom Geschehen in diesem Gebiet betroffen war. Für sie waren die Nationalstaaten auf dem Balkan und die europäische Türkei traditioneller Markt und Objekt ökonomischer Expansion und politischer Einflussnahme. Obwohl es zu Großmächten zu zählen war, blieb Österreich-Ungarn doch wirtschaftlich hinter den führenden Industrienationen Europas zurück. Die Monarchie beteiligte sich mit etwa 6,3% an der europäischen Industrieproduktion, obwohl sie einen Anteil von 15,6% der Gesamtbevölkerung Europas aufzuweisen hatte (diese Prozentzahlen beziehen sich auf den Kontinent ohne Russland). Deutschland, Frankreich und England waren für 72% der europäischen Industrieproduktion (ohne Russland) verantwortlich.1Daher war die Doppelmonarchie nicht in der Lage, sich in den Kampf um Kolonien erfolgreich einzumischen, so dass für sie nur der Balkan als Hauptquelle für Rohstoffe und Absatzmarkt für Industrieprodukte blieb. Die österreichisch-ungarische Ausfuhr nach Deutschland betrug 1912 39% des Gesamtexports. Auch wenn es selbst die Rolle des landwirtschaftlichen Exporteurs nach Westen spielte, in erster Linie nach Deutschland, blieb Österreich-Ungarn weitestgehend von der W irt- 1 Berend, T. Ivan / Ranky, György: Das Niveau der Industrie Ungarns zu Begin des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu dem Europas. In: Sändor, V ilm o s/ Hanak, Peter (Hg.): Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Budapest: Akademiai Kiadö 1961, p. 268ff. <?page no="174"?> 174 Dževad Juzbašić schaftspolitik seines wichtigsten Handelspartners abhängig.2 Außerdem geriet es selbst in Abhängigkeit vom ausländischem, in erster Linie deutschem Finanzkapital, welches die bedeutendsten ökonomischen Positionen in der Monarchie eingenommen hatte. Im Jahr 1914 entfiel auf Österreich-Ungarn fast ein Viertel der deutschen Gesamtinvestionen in Europa. Sie erreichten das höchste Niveau in den Jahren 1913 und 1914. In Ermangelung der Wirtschaftskraft zur Expansion des Monopolkapitals außerhalb der Staatsgrenzen entwickelte sich in Österreich-Ungarn eine besondere Form des Monopolismus, der abhängig war vom ausländischen Imperialismus. Sein Hauptmerkmal bestand darin, dass sich das Finanzkapital der herrschenden und wirtschaftlich entwickelten Nationen auf Kosten weniger entwickelter Nationalitäten innerhalb der Monarchie verbreitete.3Im Unterschied zu anderen führenden Ländern erschien die Kapitalausfuhr aus Österrreich-Ungarn meist in Form der Warenausfuhr und Kreditvergabe im Bereich des Handels,4 was eine besondere Bedeutung für die Haltung der maßgeblichen k.u.k. Akteure im Verlauf der Balkankrise seit 1912 hatte. Die ökonomische Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts war von einer abermaligen Verschärfung der Agrarschutz-Politik geprägt, was weitreichende wirtschaftliche und politische Folgen zeitigte. Die Industrie der Monarchie musste die Beschränkung der Einfuhr der Lebensmittel aus den Balkanstaaten, insbesondere aus Serbien, mit dem Verlust eines großen Teils seines traditionellen Marktes zugunsten Deutschlands und westeuropäischer Staaten bezahlen. Dazu trugen vor allem der Zollkrieg m it Serbien und der türkische Boykott gegen österreichische Waren zur Zeit der Annexionskrise bei. Und während Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts als immer stärkerer Konkurrent seine Waren in Balkanländer absetzte, beherrschte Frankreich deren Geldmarkt.5Auch in Bulgarien, wo Österreich-Ungarn fast bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die Stellung des stärksten Einfuhrlandes beibehalten konnte, verringerte sich relativ der Anteil am bulgarischen Import.6*1 Đoiđević, Dimitiije: Raspad Habsburške monarhije 1918. Slučajnost ili neizbežnost. \n: Jugoslovenski istorijski časopis (JIČ) 1 -2 (1968), p. 26f. Vgl. Wekeile, Sändor: Der Charakter der Abhängigkeit Ungarns im Zeitalter des Dualismus. In: Hanak & Sändor 1961, pp. 322f.; löding, Dörte: Deutschlands und Österreich-Ungarns Balkanpolibk 1912-1914, unter besonderer Berichtsichbgung ihrer Wirtschaftsinteressen. Hamburg: Diss. [masch.] 1969, p. 3f. 1 Aleksić-Pejković, ljiljana: Odnos Srbijesa Francuskom i Engleskom 1903-1914. Beograd: Istorijski insbtut, 1965, p. 44. Đoiđević 1968, p. 27. 6 Zwischen 1904 und 1908 betrug der österreichisch-ungarische Anteil an der bulagirschen Einfuhr 33,8%, um vordem Ausbruch des Balkankrieges auf 24,19% zu fallen. Vgl. Paskaleva, <?page no="175"?> Wirtschaftsbeziehungen auf dem Balkan 175 Im Unterschied zu den Balkan-Nationalstaaten, die mehr oder weniger eine Politik des hohen Zollschutzes vertraten und oft auch prohibitive Zolltarife für die Einfuhr einzelner Industrieartikel zum Schutze ihrer eigenen Industrie einführten, war in der Türkei ein gemäßigter Zolltarif in Kraft (11%), der einen rein fiskalen Charakter hatte. Im Übrigen erstreckte sich das System türkischer Kapitulationen bis ins Gebiet des internationalen Austauschs und ermöglichte den Großmächten besondere Erleichterungen in Bezug auf Verkehrs- und Handelstarife. Die Handelsverträge zwischen Istanbul und den unabängigen Balkanstaaten waren kurzfristig und unbedeutend.78Der Handel der Großmächte nutzte nicht nur die Begünstigungen des türkischen Zollsystem aus, sondern er war auch von sonstigen Abgaben freigestellt. Ihre Schiffe hatten Sonderrechte in türkischen Häfen und ihre Staatsangehörigen waren von der Steuer befreit und genossen den Konsularschutz vor lokalen türkischen Behörden. Die europäische Türkei spielte eine sehr bedeutende Rolle in der k.u.k. Industrieinfuhr. Die österreichisch-ungarische Beteiligung am Import in die Türkei, sowohl in den europäischen als auch in den asiatischen Teil, die 1901 21,1% ausmachte, kletterte trotz spürbarer Rückschläge während der Annexionskrise (1908-17,8% ; 1909-17,9% ) im Jahr 1910 wieder auf 20,2%.s Während England bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs den größten Anteil an der gesamten türkischen Einfuhr, der 1910 noch 35,1% betrug9, beibehalten konnte, kletterte der Anteil Österreich-Ungarn in der Gesamteinfuhr nur für den europäischen Teil der Türkei 1911 auf 36%, da nur ein geringer Teil der Einfuhr aus der Monarchie auf die asiatische Türkei entfiel.10 Der internationale Handel mit der europäischen Türkei vollzog sich hauptsächlich über Thessaloniki. Der dortige Hafen hatte in dem Sinne eine größere Bedeutung als irgendein anderer in der europäischen Türkei einschließlich Konstantinopels.11 Im Jahr 1911 vollzog sich 88% der öster- Viizinija Stefanova: Uber den wirtschaftlichen Einfluss Österreich-Ungarns in Bulgarien 1878 bis 1918.In: Klein, Fritz (Hg.): Österreich-Ungarn in der Weltpolitik 1900 bis 1918, Berlin: Akademie-Verl. 1965, p. 189. ' Stojanović, K.: Vorwort zu Dimitrijević. Mito: Privreda i trgovina u novoj Srbiji. Beograd: Nova štamparija Save Radenkovića 1913, p. 3. 8 Vgl. Dimitrijević 1968, p. 112. 9 Ibid. Vgl. Taylor, Alan / Perivale, John: Borba za prevlast u Evropi, 1848-1918. Sarajevo: Vese- Iin Masleša 1968, p. 455; Skoko, Savo: Drugi balkanski rat 1913. Bd. 1. Beograd: Vojnoistorijski institut 1968, p. 41. 10 Im Jahr 1910 betrug die österreichisch-ungarische Einfuhr in die europäische Türkei 100,5 Milionen Kronen, in die asiatische Türkei nur 32,8 Milionen. Im Jahr 1911 betrug die österreichisch-ungarische Einfuhr in die euuropäische Türkei 98,1 Milionen Kronen, in die asiatische Türkei 32,8 Milionen Kronen; vgl. Dimitrijević 1913, p. 113. 11 Ibid., pp. 78-115. <?page no="176"?> 176 Dževad Juzbašić reichisch-ungarischen Einfuhr in die europäische Türkei auf dem Seeweg, während nur 12% des Imports auf dem Eisenbahnwege durch Serbien abgewickelt wurde.12 In den Jahren vor den Balkankriegen nahm die Doppelmonarchie den ersten Platz in der gesamten Einfuhr über Thessaloniki ein,13von wo die österreichisch-ungarische Waren den Landweg in das Innere des Balkans antraten. Österreich-Ungarn verfolgte sehr aufmerksam die Entwicklung der Lage vor dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Balkanstaaten und der Türkei. Außenminister Graf Berchtold vertrat an der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates vom 8. und 9. Juli 1912 in Bezug auf den italienisch-türkischen Krieg und die Gefahr einer Aktion der Balkanstaaten den Standpunkt, dass die Truppen an der Grenze verstärkt werden müssten, um als Machtfaktor aufzutreten und so zu verhindern, dass Entscheidungen in einem für die wirtschaftliche Expansion der Monarchie nächsten Gebiet ohne ihre Mitsprache getroffen werden würden.14 Deutschland hatte keine eigene Balkanpolitik, während diese Frage für Österreich-Ungarn lebenswichtig war. Das deutsche Kaiserreich versuchte den Konflikt m it Frankreich zu lokalisieren, während Österreich-Ungarn die Absicht hatte, Serbien durch M ittel der W irtschaftspolitik zu verdrängen und seine Aktionen auf dem Balkan zu verhindern. Darin scheiterte die Monarchie. Für eine kriegerische Abrechnung mit Serbien waren in Österreich-Ungarn nicht nur die Kriegspartei, sondern auch andere Faktoren; es war nur eine Frage der Zeit, wann es so weit sein würde.15 In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs vor dem Ausbruch der Balkankrise erweckte der Tripolitanienkrieg in österreichischen Geschäftskreisen den Wunsch, die Situation zu nutzen, um ohne Opfer und erfolgreicher als Italien die eigene Interessensphäre zu auszuweiten. So tauchte Anfang 1912 im Zuge der Verhandlungen über das Engagement des Wiener Bankvereins in der Realisierung eines Industrie-Programms für Bosnien-Herzegowina die größenwahnsinnige Idee auf, den Wirkungskreis des österreichischen Kapitalsvon Bosnien auf Albanien und Mazedonien auszuweiten, und somit deren große Wald- und Mineralienvorkommen 12 Đorđević, Dimitrije: Izlazak Srbije na Jadransko more i konferencija ambasadora u Londonu 1912. godine. Beograd: S. Jović 1956, p. 32. 13 Die Angaben über die Einfuhr in Thessaloniki sind von Dimitrijevic 1913, p. 133f., der publizierte Bel ichte der österreichisch-ungarischen Konsulate benutzte; vgl. Hallgarten, G. W. F.: Imperialismusvor 1914. Bd. II. München: C.H. Beck 1963, p. 328f. Hallgarten bringt Angaben zur Einfuhr in den Hafen von Thessaloniki nach englischen Quellen. 11 Haus-, Hofund Staatsarchiv (HHStA), Polibsches Archiv (PA), XL Interna, 310 Kart. Gemeinsame Ministerratsprotokolle (GMKPZ) 494 v. 08. und 09.07.1912; Hantsch, Hugo: Leopold Graf Berchtold-Grandseigneurund Staatsmann. Wien, Graz, Köln: Böhlau 1963, Bd. 1, p. 281. 15 löding 1969, p. 35f.u. 160. <?page no="177"?> Wirtschaftsbeziehungen auf dem Balkan 177 "wirtschaftlich zu okkupieren".16 Wie diese Bestrebungen der kapitalistischen Kreise mit den außenpolitischen Zielen der Monarchie im Einklang standen, illustrieren am besten die Auslegungen Graf Berchtolds über die Probleme der österreichisch-ungarischen Außenpolitik, die er Anfang 1912 während einer Audienz beim Kaiser vortrug, unmittelbar bevor er zum Außenminister ernannt werden sollte. Berchtold äußerte dabei, dass Österreich-Ungarn nur die Balkanhalbinsel als Wirkungssphäre verbleibe und deren westlichen Teil als eigenes Einflussgebiet betrachten solle: 1. als Hinterland der nichtitalienischen Adria; 2. als natürlichen Markt und 3. als eine Verbindung mit dem Orient. Berchtold war der Ansicht, dass die Aufgabe der österreichisch-ungarischen Diplomatie sein sollte, fremde Ansprüche von diesem Gebiet abzuwenden und dort die wirtschaftliche Vorherrschaft Österreich-Ungarns abzusichern.17 Doch die ökonomischen Beziehungen entwickelten sich im Gegensatz zu den beschriebenen Wünschen des österreichischen Kapitals. Der österreichisch-italienische Konflikt führte zur Abschwächung des ökonomischen Einflusses der Monarchie in Albanien zugunsten Italiens. So waren noch 1900 von dem gesamten Handelsumsatz Shkodras 86% auf Österreich und 14% auf Italien entfallen; 1905 fiel der österreichische Anteil auf nur noch 23,8%, während der italienische Anteil 56,7% erreichte.18 Durch die Annexion Bosnien-Herzegowinas und die Abschaffung des Artikels 29 des Berliner Vertrags befreite sich Montenegro von der österreichisch-ungarischen Seepolizeiaufsicht im Hafen von Bar und am ganzen montenegrinischen Ufer. Das führte unter anderem dazu, dass sich Italien in Fragen des Handels Montenegro wie auch anderen Balkanstaaten annäherte.19 Die Einfuhr aus Italien stieg vor dem Ersten Balkankrieg kontinuierlich. Auf der anderen Seite gelang es dem französischen Kapital in den letzten Jahren der türkischen Herrschaft, das österreichische Kapital aus den Gebieten zu vertreiben, die später Serbien zufallen sollten.20 Der Ausbruch der Balkankriege und ihr überraschender Verlauf zwang die Diplomatie der Monarchie, die Politik der Erhaltung des Status quo auf dem Balkan aufzugeben. Sie wurde bekanntlich von einer Strategie abgelöst, die darin bestand, von Serbien und Montenegro weitreichende Kompensationen im ökonomischen Bereich für die Anerkennung ihrer ter- 16 Arhiv Bosne i Hercegovine u Sarajevu (ABH), Privregistratur (Pr iv. Reg.), Ni. 104/ 1912: Benzian an Bilinski, 21. 03 .191 2. 17 Hantsch 1963, Bd. 1, p. 244. 18 Sosnosky, Theodor v.: Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns seit 1866. Bd. II. Stuttgart, Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1914, p. 257f. 19 Dimitrijevic 1913, p. 114f. 20 Aleksić-Pejković 1965, p. 295. <?page no="178"?> 178 Dževad Juzbašić ritorialen Vergrößerungen zu verlangen, und gleichzeitig entschieden die Prätensionen Serbiens auf Nordalbanien und dessen territorialen Zugang zur Adria abzuwehren. Damit sollten gewissermaßen die Siege der Balkanverbündeten, die vitale politische und wirtschaftliche Interessen Österreich-Ungarns verletzten, neutralisiert werden. Die Exponenten der "Kriegspartei", deren Kern die höchsten M ilitärkreise bildeten, betrachten es als conditio sine qua non für die Erhaltung der Monarchie, benachbarte slawische Staaten in die Einflusssphäre Österreich-Ungarns einzugliedern. Als ersten Schritt in diese Richtung sollten eine Zollunion und Militärkonventionen mit diesen Ländern erzielt werden.21 Die Kriegspartei bestand während der Balkankrise auf der Notwendigkeit einer militärischen Auseinandersetzung mit Serbien mit dem Ziel, die jugoslawische Frage radikal zu lösen. Das Landesoberhaupt Bosnien-Flerzegowinas, General Oskar Potiorek, vertrat den Standpunkt, dass das Ziel einer Zollunion mit Serbien und Montenegro auch durch einen Krieg erreicht werden könnte.22 Doch die Idee einer Zollunion wurde auch am Ballhausplatz wiederbelebt, und zwar im Rahmen der Forderungen nach ökonomischen Kompensationen und Absicherung wirtschaftlicher Interessen Österreich-Ungarns auf dem Balkan.23 Für die Zollunion mit Serbien und Montenegro wie auch m it Bulgarien setzten sich einflussreiche österreichische politische und wirtschaftliche Kreise ein. Die Befürworter waren prominente österreichische Politiker wie Josef Redlich und Joseph M. Baernreither, die sich für die Lösung der jugoslawischen Frage innerhalb der Monarchie einsetzten, während Baernreither insbesondere eine Politik der Verständigung und Versöhnung m it Serbien bevorzugte. Auch die Führer der tschechischen Opposition wie Tomaš G. Masaryk und Karel Kramar, wie auch deutsche liberale Politiker, die an einer Entspannung der Beziehung zwischen der Monarchie und Serbien arbeiteten, schlugen vor, die Forderungen nach einer engeren ökonomischen Gemeinschaft der Monarchie und der Balkanstaaten anzunehmen.24 In der Forschungsliteratur wird allgemein unterstrichen, dass die Forderungen des Finanzkapitals und der Industriellen den außenpolitischen Kurs der österreichisch-ungarischen Diplomatie und die Pläne des Militärs 21 Conrad V . Hötzendoif, Franz: Aus meiner Dienstzeit. Bd. 2, Wien: Rikola 1922; vgl. Ćorović, Vladimir: Odnosi Srbije i Austro-Ugarske u XX veku. Beograd: Štampa državne štamparije Kraljevine Jugoslavije 1936, p. 371f., 391. Baernreither, Joseph Maria: Fragmente eines politischen Tagebuches. . Berlin: Verlag für Kulturpolibk 1928, p. 928, 165, 182; vgl. Kapidžić, Hamdija: Skadarska kriza i izuzetne mjere u Bosni i Hercegovini u maju 1913. In: Godišnjak Društva istoričara BiH 13 (1962), pp. 14-17. 23 Ćorović 1936, pp. 376-397; Đorđević 1956, p. 28ff.; Hantsch 1963, Bd. 1, pp. 323-338. 24 Đorđević 1956, p. 3 3 , 106f.; vgl. Hantsch 1963, Bd. 1, pp. 36 9-372. <?page no="179"?> Wirtschaftsbeziehungen auf dem Balkan 179 vor dem Ersten Weltkrieg beeinflussten. Dabei wird auf eine Verschmelzung der alten militaristisch-dynastischen Tradition und der imperialistischen Tendenzen der neuen Epoche hingewiesen.25 W ir haben nun die Gelegenheit, auf Grund eines Memorandums der Industriekorporationen Österreich-Ungarns konkret zu belegen, dass hinter der im übrigen völlig unrealistischen - Idee von 1912, eine Zollunion zwischen der Monarchie und den Balkanstaaten zu schließen, führende österreichische Industriellenkreise standen, die auch tatsächlich Initiatoren gewisser Schritte der österreichisch-ungarischen Diplomatie in diese Richtung waren. Die österreichischen Industriellen befürchteten besonders, den Markt in früheren Gebieten der europäischen Türkei zu verlieren, aber vertraten einen realitätsfernen Standpunkt, dass der Moment gekommen sei, im Zuge der Neuordnung der Verhältnisse auf dem Balkan ihre Märkte in dieser Region nicht nur zu verteidigen, sondern auch wesentlich zu erweitern.26 Im Herbst 1912 forderte der Ständige Ausschuss der drei zentralen Industriellenverbände Österreichs in einem umfangreichen Memorandum von Graf Berchtold, dass die österreichisch-ungarische Diplomatie eine Zollunion mit Serbien und Bulgarien erwirken solle. M it dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Erweiterung der Mörkte für die österreichische Industrie erkannten sie ihre vollständige Unterlegenheit gegenüber der mächtigen Konkurrenz der europäischen Industriegroßmächte an und sahen ein, dass der Vertrag m it den größtmöglichen Begünstigungen für sie keine Garantie auf den Märkten des Balkans sei.27DieVertreter der österreichisch-ungarischen Industrie waren der Ansicht, dass nur die Erweiterung des Markts, auf dem sie unter besonderen Vorzugsbedingungen auftreten würden, die Grundlage für eine bessere Nutzung der Industriekapazitäten und Spezialisierung der Produktion schaffen würde. Dabei unterzogen sie die Politik eines hohen Agrarschutzes in der Monarchie einer scharfen Kritik und sahen in ihr ein Hindernis für die Interessen der Industrie und die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt.28(Im Unterschied zu anderen imperialistischen Staaten beschränkte sich die Kapitalausfuhr aus Österreich-Ungarn hauptsächlich auf Warenausfuhr und Kreditierung des Handels.) Im Memorandum verlangte man vor allem eine solche Regulierung der Verkehrsbeziehungen m it Serbien und den Bau neuer Verkehrswege, die 25 Vgl. Winogradov, Kirill Borisovič/ Pisarev, Jurij Alekseevič: Die internationale Lage der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in den Jahren 1900 bis 1918. In: Klein 1965, p. 13f. 26 ABH Gemeinsames Finanzministerium (GFM), PrBH Nr 1762/ 1912. Der ständige Ausschuss der drei zentralen industriallen Verbände an Berchtold, mit einer Kopie an Bilinski im November 1912, vermerkt im Protokoll des GFM am 23. XI. 1912. 27 Ibid. 28 Ibid. <?page no="180"?> 180 Dževad Juzbašić ermöglichen sollten, dass die österreichische Ware die Vorzüge der geographischen Lage gegenüber anderen Industriestaaten nutze und sich auf dem kürzesten kontinentalen Weg Zugang zum ehemaligen türkischen Territorium verschaffe. Insbesondere wurde der Bau einer besseren Verbindung der österreichischen Eisenbahnen mit Mazedonien verlangt und eine dauerhafte Sicherung der Tarifbegünstigungen für österreichischen Export und Im port29 (Diese Forderungen sollten etwas später ihren Platz im Balkan-Eisenbahnprogramm Österreich-Ungarns finden.). Als ihr letztes Ziel markierten die Autoren des Memorandums die wirtschaftliche Durchdringung des Balkans seitens der Monarchie und die Schaffung eines geschlossenen Wirtschaftsraumes, in dem die österreichische Industrie ungestört dominieren und sich weiter entwickeln würde, nachdem sie Märkte, Rohstoffe, und Produktion von Lebensmitteln abgesichert hätte.30 Dies war jedoch eine illusorische Idee, deren Realisierung unmöglich schon im Hinblick auf bestehende innenpolitische und ökonomische Verhältnisse in der Monarchie und den Widerstand der Grundbesitzer vor allem in Ungarn war. Sie war ebenso inakzeptabel für Serbien und andere Balkanstaaten und europäische Länder. Ernsthafte Vorbehalte gegenüber ihrer Realisierung äußerten auch ihre Anhänger unter den österreichischen Politikern, so dass die Monarchie am Ende versuchte, ihre Forderungen um einiges zu reduzieren. Diese Versuche wurden auch von der Einstellung Deutschlands als dem Hauptkonkurrenten Österreich-Ungarns im serbischen Handel beeinflusst. Die offizielle deutsche Politik war allgemein reserviert, aber weder Deutschland noch andere Staaten waren damit einverstanden, dass Österreich-Ungarn eine begünstigte Position im Handel m it Serbien bekommen sollte. Dies führte dazu, dass sich Berchtold in der zweiten Novemberhälfte 1912 auf die Erneuerung des Handelsabkommens m it Serbien aus dem Jahr 1908 konzentrierte. Anfangs strebte man nur eine Zollunion m it Montenegro an, aber dann gab man die Idee auf, weil man Handelsverträge m it den Balkanländern auf Basis der maximalen Begünstigung schließen wollte.31 Auf der Plattform, die durch eine Vereinbarung zwischen dem Außenminister und den österreichischen und ungarischen Regierungschefs im November 1912 festgelegt wurde, entstand Anfang 1913 ein detalliertes "Programm für Wirtschaftsvereinbarungen m it den Balkanstaaten" als Ergebnis langwieriger Kommissionsberatungen. Es konnte jedoch erst nach Bereinigung übriggebliebener Unterschiede, in der Sitzung des Gemein- 30 31 Ibid. Ibid. Löding 1969, pp. 4 0 -4 7 . <?page no="181"?> Wirtschaftsbeziehungen auf dem Balkan 181 samen Ministerrats vom 16. und 17. Februar 1913 endgültig festgelegt und angenommen werden.32 Doch auch dann waren nicht alle Ursachen für Unstimmigkeiten zwischen einzelnen einflussreichen Fraktionen in der Monarchie beseitigt. In einem Teil des Programms über die Zollpolitik nahm die Frage des Abkommens m it Serbien einen zentralen Platz ein. Es sah faktisch die Erneuerung des Flandelsvertrags von 1908 vor, außer in Fällen, in denen der Vertrag von 1910 weitere Zugeständnisse an Serbien beinhaltete.33 Darüber hinaus sah das Programm weitere Zugeständnisse an Serbien im Flinblick auf den Eisenbahntransport von Vieh durch Österreich-Ungarn vor, wie auch die Vergrößerung des Viehkontingents für die Einfuhr aus Serbien, 85.000 Schweine und 35.000 Rinder, was bis dato ein Streitpunkt zwischen der österreichischen und ungarischen Regierung war. Ziel dieser Zugeständnisse war die verspätete Absicht, den serbischen Bestrebungen, sich von der wirtschaftlichen Einflusssphäre der Monarchie zu emanzipieren, Einhalt zu gebieten. Andererseits wollte man sich auch der serbischen Eisenbahnpolitik widersetzen, die Österreich-Ungarn als schädlich für seine Verkehrsinteressen ansah. Weiters sah das Programm vor, Sonderkonventionen über den wirtschaftlich-juristischen Schutz mit Serbien, Bulgarien und Griechenland zu schließen, sowie Maßnahmen zum Schutz der Landesangehörigen von Österreich und Ungarn und deren auf Basis osmanischer Gesetze erworbenen Rechte in Gebieten, die nun den Balkanstaaten zufallen sollten. Österreich-Ungarn rechnete mit der Unterstützung Deutschlands und Italiens für seinen Standpunkt, das Kapitulationsregime in den ehemaligen türkischen Gebieten beizubehalten.34 Doch der wirtschaftliche und politische Nutzen dieses Regimes war für Deutschland nicht sonderlich groß; dies gilt erst recht für Italien, dem die neue Konstellation auf dem Balkan die Möglichkeit für wirtschaftliche und politisches Einflussnahme bot, so dass Österreich-Ungarn nicht bei seinem Standpunkt bezüglich des Kapitulationsregimes bleiben konnte. Dazu trug vor allem der russische Widerstand gegen den österreichisch-ungarischen Vorschlag bei. Gemeinsame Ministerratesprotokolle GMKPZ 503, Beilage 3, HHStA PA XL interna K. 311. Über die Entstehung des Programms fü r Wirtschaftsabkommen mit den Balkanstaaten und die vorangehenden Diskussionen über das Thema siehe Löding 1969, pp. 40-47. ” Über Handelsabkommen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien aus den Jahren 1908 und 1910 siehe Đorđević, Dimitrije: Carinski rat Austro ugarske i Srbije 1906-1911. Beograd: Istorijski institut 1962, pp. 447ff, 626ff. 51 Bittner, Ludwig u.a. (Hg.): Österreich-Ungarns Aussenpolitik von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Diplomatische Aktenstücke des österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äussern. Wien, Leipzig: Österr. Bundesverlag 1930, VI, Nr. 6665, 6670 [im folgenden zit als ÖUA 1930], <?page no="182"?> 182 Dževad Juzbašić Die russischen Pläne konzentrierten sich auf die Meerengen, und die Balkanstaaten, vor allem Serbien, sollten die Rolle des Störfaktors bei einem deutsch-österreichischen Vordringen spielen. Für die Haltung Russlands war von besonderer Bedeutung, dass sein Anteil am türkischen Außenhandel, der türkischen Wirtschaft und den türkischen Finanzen überhaupt ein geringer war.35 Russland konnte gar nicht von der Liquidation der Privilegien der europäischen Mächte in Gebieten der früheren europäischen Türkei betroffen werden, so dass es auch deswegen eine solche entschiedene und vorbehaltslose Haltung gegenüber der Frage einer Beibehaltung des Okkupationsregimes vertrat. Obwohl zutiefst interessiert für die Erhaltung der Beziehungen aus der Zeit der türkischen Herrschaft, konnte Österreich-Ungarn nicht mehr darauf bestehen, dass auf den Territorien, die der Türkei entrissen worden waren, das türkische Zollsystem beizubehalten, da dies völlig unrealistisch war. Es konnte sich höchstens dafür einsetzen, dass wie zum Beispiel im Entwurf des Abkommens m it Serbien von Juli 1913 seit der Eingliederung der neuen Gebiete in das serbische Zollgebiet keine höheren Zolltarife für die österreichisch-ungarischen Waren anfielen.36 Österreich-Ungarn musste sich an direkten Verhandlungen m it den Balkanstaaten auf Grundlage des im Februar 1913 formulierten Programms orientieren. Doch äußerte Pašić bekanntlich im Herbst 1913 bei einem Treffen m it Minister Berchtold in Wien in der Diskussion über die W irtschaftsbeziehungen zwischen Serbien und der Monarchie die Ansicht, dass m it dem Anschluss dieser Gebiete an Serbien die Kapitulationsrechte erloschen waren.37 Dieses Problem blieb offen, wie auch eine Reihe anderer wirtschaftlicher und politischer Fragen in den österreichisch-serbischen Beziehungen. Ein bedeutendes finanzielles Interesse hatten beide Staaten der Monarchie an der Erhaltung des Status quo beim Kauf, der Produktion, dem Verkauf und der Ausfuhr des mazedonischen Tabaks. Das wertvollste Exportprodukt in Thessaloniki war nämlich der Tabak. Nach Einschätzung eines lokalen österreichisch-ungarischen Funktionärs aus Bosnien konnte Serbien allein mit dem hochwertigen Tabak aus den neuen Gebieten, den es als Monopol in Pacht geben würde, 80 Millionen Franc jährlich verdienen.38 Die österreichischen und ungarischen Tabakregien hatten bis zum 55 Vgl. Taylor/ Perivale 1968, p. 438, 455; Aleksić-Pejković 1965, p. 27f.; Skoko 1968, pp. 45, 48. 56 ABH, ZMF, PrBH, Nr. 1125/ 1913: Nachtragsübereinkommen zum Handelsvertrag von 27/ 14. 07. 1910. 57 ÖUA 1930, VII, Nr. 8813; vgl. Hantsch 1963, Bd. 2, p. 490. ! S ABH, Priv. Reg. Nr. 39/ 1913: Teftedarevic an Potiorek, Sarajevo, 03. 01.1913. <?page no="183"?> Wirtschaftsbeziehungen auf dem Balkan 183 Balkankrieg und auf Grundlage des österreichisch-türkischen Abkommens von 1862 eine Reihe von Begünstigungen bei der Anschaffung von mazedonischem Tabak, so dass die Erhaltung des bisherigen Regimes auch im Programm für die Wirtschaftsbeziehungen mit den Balkanstaaten vom 16. und 17. Februar 1913 als besonderes Ziele der österreichisch-ungarischen Politik form uliert wurde. Die europäischen Großmächte hatten außer dem Schutz ihrer unmittelbaren materiellen Interessen auf ehemaligen türkischen Territorien, die man sollte es betonen nicht identisch waren, auch weitere strategisch-politische und wirtschaftliche Ziele im Blick. Es zeigte sich daher sehr schnell, dass Österreich-Ungarn nicht mit der Solidarität der Großmächte rechnen konnte. Frankreich befürchtete eine ökonomische Vorherrschaft Österreich- Ungarns auf dem Balkan, welche die Interessen des eigenen Kapitals treffen würde. Die französische Industrie hatte ihre Positionen in Serbien befestigt. Ihre Interessen, wie auch die Interessen der Banque Franco-Serbe und schließlich auch das Bündnis von Frankreich und Serbien, waren nach den Worten Flallgartens die drei Säulen, auf die sich der französische Imperialismus in Serbien und auf dem Balkan stützte.39 Die Stärkung der Balkanstaaten bedeutete für das französische Kapital neue Möglichkeiten, sich zu verbreiten: Neben Serbien war es auch in Bulgarien und insbesondere in Griechenland eingedrungen.40 Dagegen war das investierte Kapital in der Türkei unsicher wegen allgemeiner Instabilität und der deutschen Konkurrenz.41 Für die französische Schwer- und Rüstungsindustrie wurde Russland erstrangige Priorität, und nicht mehr das türkische Gebiet, das in vielen Bereichen vom deutschen Kapital schon monopolisiert worden war. M it einer verhältnismäßig geringen Beteiligung an der gesamten türkischen Wareneinfuhr (10,8% im Jahr 1910) und einem viel deutlicheren Engagement in der asiatischen Türkei, war Frankreich als Hauptgläubiger der Türkei in erster Linie am Schicksal des in die türkischen Finanzen investierten Bankkapitals interessiert. Es beeinflusste m it seiner Einstellung sehr stark die Orientierung der Balkanstaaten Richtung Entente.42 Da nun England im Konkurrenzkampf m it Deutschland in der Türkei ständig Rückschläge erfuhr, verlagerte auch diese Großmacht ihren Schwerpunktaufdie Balkanstaaten m it einer gleichzeitigen Intensivierung Hallgarten 1963, p. 467; vgl. Fay, Sidney Bradshaw: The Origins of th e World War, Bd. I . New York: Macmillan 1929, p. 40. 40 Skoko 1968, p. 38. 41 Đorđević 1956, p. 39. 42 Vgl. Taylor/ Perivale 1968, p.440f., 455; Aleksić-Pejković 1965, pp. 27, 83f.; Hallgarten 1963, p. 373f. <?page no="184"?> 184 Dževad Juzbašic des Handels mit ihnen. Da sie im Balkanbündnis ein Hindernis für das österreichisch-deutsche Vordringen sowie die russische Einnahme Konstantinopels und der Meeresengen erblickte, versuchte sie ihren Einfluss darauf verstärken, ohne dabei die englisch-russischen Beziehungen zu gefährden.43 Während die Interessen des deutschen Kapitals, das die ganze Türkei durchdrang, auf den Bau der Bagdadbahn, sowie auf Konstantinopel und Kleinasien konzentriert waren, interessierten sich die Engländer ökonomisch besonders für das Gebiet des Persischen Golfs. Im Vergleich zum Gewinn in der asiatischen Türkei, war der ökonomische Profit auf dem Balkan relativ gering. (Und die Balkankriege aktualisierten die Frage der asiatischen Türkei in internationalen Beziehungen.) Obwohl Deutschland kein besonderes Interesse an den politischen Verhältnissen in der Monarchie zeigte, erregten die sich mehrenden Anzeichen einer Auflösung Österreich-Ungarns schon 1905 die Befürchtung der deutschen Hochpolitik, sie könnte ihren einzigen Verbündeten verlieren. Dies wurde besonders aktuell ab 1913. Die große Sorge deutscher Politiker galt dem Bündnis m it einem Staat, dessen Existenz von der 'slawischen Gefahr' bedroht wurde. Der deutsche Kaiser setzte sich für eine radikale Abrechung m it den Slawen ein, und Jagow sprach vom deutschen Charakter der Monarchie. Deutschland brauchte das Bündnis mit der Monarchie für den Fall eines Kriegs mit Russland, mit dem es im Frühling 1914 zu einer Verschlechterung der Beziehungen kam. Aus denselben Gründen brauchte auch Österreich-Ungarn das Bündnis mit Deutschland. Die österreichisch-ungarischen politischen Player waren sich durchaus bewusst, dass im Falle einer Aktion gegen Serbien zur Lösung der südslawischen Frage das Risiko eines Kriegs gegen Russland bestand. Dafür brauchten sie das Bündnis mit Deutschland. In derzweiten Maihälfte 1914 schrieb Tschirschky an Jagow, dass ohne das Bündnis mit Österreich-Ungarn Deutschland gezwungen sein würde, einer Teilung der Monarchie zuzustimmen. Seiner Meinung nach würde das Land sehr schnell auseinanderfallen, wenn man die verschiedenen Kräfte in den Ländern der Monarchie nicht stärker verbinde. In diesem Fall müsste Deutschland seine Politik anders einstellen.44 Indem es die slawische Gefahr hervorhob, war Deutschland besonders interessiert an der Erhaltung der Habsburger Monarchie als Großmacht und einzigem Bündnispartner. Doch im ökonomischen Bereich verdrängte das deutsche Kapital zunehmend das österreichische, wie es auch das französische gefährdete. In Deutschland, das die Türkei schützen wollte und an der Erhaltung Österreich-Ungarns interessiert war, verbreitete 43 Aleksić-Pejković 1965, pp. 26, 280f., 530, 535, 562, 569; Skoko 1968, p. 42ff. 44 Vgl. Löding 1969, pp. 236ff., 261f. <?page no="185"?> Wirtschaftsbeziehungen auf clem Balkan 185 sich aber auch die Überzeugung, dass die Siege der Balkan-Nationalstaaten doch von Nutzen sein könnten.45 Im Verlauf der Balkankrise blieben gewisse Schritte der deutschen Diplomatie zur Gewinnung der Zuneigung der Balkanstaaten, darunter auch Serbiens, nicht aus, während sie gegenüber Griechenland aus dynastischen Gründen eine besondere Rücksicht zu nehmen hatte. Den wichtigsten Stellenwert in diesem Programm hatte die Eisenbahnpolitik, die als Hauptfaktor wirtschaftlicher Penetration und politischer Einflussnahme der Monarchie auf dem Balkan fungieren sollte nach tiefgehenden politischen Veränderungen, die sich aus der Niederlage der Türkei ergeben hatten. Schon gleich zu Anfang des Balkankriegs war man am Ballhausplatz der Meinung, dass die serbisch-montenegrinische Besetzung des Sandschaks als Ausgangstor österreichisch-ungarischer Wirtschaftsexpansion durch entsprechende verkehrspolitische Abkommen bis zu einem gewissen Grad für die Monarchie kompensiert werden könnten.46 Bald wurden einzelne österreichisch-ungarische Pläne zum Bau einiger Eisenbahnstrecken auf dem Balkan aktualisiert. Zunächst wurde im österreichisch-ungarischen Außenministerium die Idee der bosnischen Transversale wiederbelebt, mit dem Ziel, einen territorialen Zugang Serbien zum Meer zu verhindern und durch den Bau einer kürzeren Strecke auf serbischem Territorium (Užice-Vardište) Serbien einen Zugang zur Adria über dalmatinische Häfen zu ermöglichen.47 Doch in Berchtolds politischen Kombinationen wurde im Dezember 1912 wieder der Bau einer Sandschak-Eisenbahn als Bedingung für die Zustimmung der Monarchie zum Bau einer serbischen Donau-Adria-Eisenbahnstrecke erwähnt.48 Im Programm, das am 17. Februar 1913 angenommen wurde,49 wurde an erster Stelle vorgesehen, dass grundsätzlich das Recht Österreich-Ungarns festgelegt wird, drei Eisenbahnlinien zu bauen und zu exploitieren, und zwar über eine noch zu bestimmende Gesellschaft und bei Gewährleistung seines entsprechenden Einflusses auf die Tarifbildung. Dies waren Strecken, denen das österreichisch-ungarische Außenministerium aus politischen Gründen große Bedeutung beimaß: 1. die Bahnlinie durch Montenegro und Albanien bis zum Anschluss an das griechische Eisenbahnnetz mit der Verpflichtung Griechenlands, notwendige Anschlüsse zu bauen; 15 Taylor / Perivale 1968. p. 422; vgl. Đorđević 1956, p. 42f. 16 ÖUA 1930, IV, Nr. 4118; Siehe Ćorović 1936, p. 376ff.; Uebersberger, Hans: Österreich zwischen Russland und Serbien. Köln, Graz: Böhlau 1958, p. 88. 17 ÖUA 1930, IV, Nr. 4170, 4317, 4351; Ćorović 1936, p. 380, 391; Đorđević 1968, p. 20-21. 18 ÖUA 1930, V, Nr. 4924. 19 Gemeinsame Ministerratsprotokolle GMKPZ 504, Beilage 3, HHStA PA XL Interna K. 311. <?page no="186"?> 186 Dževad Juzbašić 2. die Sandschak-Strecke, Uvac-Mitrovica oder eine andere günstige Verbindung zwischen bosnischem und orientalischem Eisenbahnnetz; 3. die Verlängerung der Eisenbahnstrecke von Bitola in Richtung Adria. Die Erhaltung des Anspruchs auf bestehende Privateisenbahnen in der europäischen Türkei war eines der Ziele der österreichisch-ungarischen Politik, dem eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Im Programm wurde besonders unterstrichen, dass die Balkanstaaten als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches alle Vertragsverpflichtungen akzeptieren sollten, welche in Bezug auf die Privateisenbahnen die Türkei übernommen hatte. Das bezog sich in erster Linie auf die Orientbahn, die auch auf die EisenbahnlinienThessaIoniki-BitoIa und Thessaloniki-Dedeagag: . Im übrigen sollten alle Verpflichtungen in Bezug auf Eisenbahnbau und Eisenbahnpolitik überhaupt, die für die Balkanstaaten aus dem Programm hervorgingen, in separaten Eisenbahnkonventionen Österreich-Ungarns mit Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland festgehalten werden. Das ganze Programm wutde von Graf Berchtold stark geprägt; er dachte den Eisenbahnen die Rolle eines besonderen außenpolitischen Instruments zu. Berchtold stellte sich selbst die Aufgabe, politischen und w irtschaftlichen Einfluss der Monarchie in den Balkanstaaten zu erhalten und zu stärken, und zwar so gut es ging m it friedlichen M itteln.50 Weitere außenpolitische Schritte der Monarchie in Bezug auf das Problem der Balkaneisenbahnen wurden im Geiste der im Programm festgelegten Intentionen unternommen, doch sie konnten zu keinen konkreten Ergebnissen führen. Die Verhandlungen m it Serbien, die 1914 geführt wurden, wurden vom Attentat in Sarajevo unterbrochen, und zwar in einem Moment, als sie in der Endphase standen und schon eine grundsätzliche Einigung erzielt war, dass die Strecken der Ostbahnen in Serbien in staatlichen Besitz übergehen sollten bei einer entsprechenden Kompensation für Österreich-Ungarn auf dem Gebiet der Verkehrspolitik.51Während also die österreichisch-ungarische Diplomatie große Anstrengungen unternahm, die politische und ökonomische Position der Monarchie als Großmacht auf dem Balkan, zu verteidigen, vollzogen sich auf Territorien der ehemaligen europäischen Türkei bedeutende wirtschaftliche Veränderungen. Die Balkanstaaten versäumten keinen Augenblick, Vorteile aus der Besetzung Mazedoniens und anderer vormals osmanischer Regionen zu ziehen. Der Ausbruch der Balkankriege richtete für die Monarchie unmittelbar einen großen wirtschaftlichen Schaden an; die Ausfuhr in den Balkan musste eingestellt werden und es wurde in den Staaten zudem ein Moratorium 50 Ibid. 51 Vgl. Ćorović 1936, pp. 5 1 1-51 6; Aleksić-Pejković 1965, pp. 770-800. <?page no="187"?> Wirtschaftsbeziehungen auf dem Balkan 187 für alle Zahlungen eingeführt. Das bedeutete einen plötzlichen Abbruch der Wirtschaftskonjuktur in Österreich-Ungarn, das in die Periode einer schweren Depression eintrat.52 Das Außenhandelsdefizit der Monarchie erreichte im jahr 1912 eine Rekordsumme von 743 Milionen Kronen.53Viele Industriezweige gerieten in eine äußerst schwierige Lage, insbesondere die Textil- und Papierindustrie. Im Sommer 1914 konnte man das Ende der ökonomischen Depression noch nicht absehen. Die Ausfuhr in die Balkanländer wurde noch nicht begonnen, die Investitionen in die Industrie ließen nach, und die Massenarbeitslosigkeit, die durch die Migration etwas sank, nur etwas war chronisch geworden.54 Die einzige Kompensation stellte die Orientierung der Industrie an den Kriegsbedürfnissen, was letztendlich der Wirtschaft viel mehr schadete als nützte.55 Die schwere Lage der Industrie und Finanzen wirkte sich auf die Verschärfung nationaler und sozialer Gegensätze in der Monarchie aus und bedingte den Anstieg einer allgemeinen inneren Unzufriedenheit. Die Versuche Österreich-Ungarns in den Jahren 1913/ 14 für die eigene Wirtschaft neue Wirkungsfelder durch Teilung der Türkei in Kleinasien zu erschließen, endeten m it Misserfolg, da Deutschland keine Bereitschaft zeigte, der Monarchie auch nur eine Interessensphäre in Südanatolien zu überlassen.56 Andererseits verschloss sich der Balkan immer mehr für Österreich-Ungarn, wozu vor allem das französische Kapital beigetragen hatte. Österreich-Ungarn konnte in Serbien das französische Kapital nicht gefährden, sondern musste selbst Kreditverhandlungen mit den französischen Finanziers aufnehmen. Im politischen Geschehen auf dem Balkan erblickten österreichisch-ungarische Handelskreise eine der wichtigsten Ursachen für den ökonomischen Verfall der Monarchie, so dass gerade aus diesen Kreisen der Aufruf immer lauter wurde, die Situation durch ein entschiedenes Vorgehen zu klären.57 Dies hatte einen wesentlichen Einfluss auf den Ausbruch des Kriegs 1914. Die österreichisch-ungarischen Prätensionen auf dem Balkan erlebten einen endgültigen Zusammenbruch mit der Niederlage der konservativen Doppelmonarchie im Ersten Weltkrieg, wonach ihre Auflösung folgte. Doch 52 Benedikt, Heinrich: Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Josef-Zeit. Wien, München: Herold 1958, p,178ff. 53 Werner, Karl H.: Österreichs Industrie- und Außenhandelspolitik 1848 bis 1948. In: Mayer, Hans (Hg.): Hundert Jahre österreichischer Wirtschaftsentwicklung 1848-1948. Wien: Springer 1949, p. 439. 54 W inogradov/ Pissarev 1965, p. 31. 55 Hallgarten 1963, p. 375f. 56 ÖUA 1930, VII, Nr. 9285; W inogradov/ Pissarev 1965, p. 14. 57 Hantsch 1963, Bd. 2, p. 522. <?page no="188"?> 188 Dževad Juzbašić die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Balkanstaaten waren nicht in der Lage, konstruktiv und zeitgemäß die Probleme anzupacken, die sich aus der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung und des allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts ergaben. Die Rückständigkeit blieb auch weiterhin weitestgehend erhalten. Dies wurde von reaktionären politischen Entwicklungen und nationaler Unterdrückung begleitet. So hat Bosnien-Herzegowina mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs unter anderem auch darunter gelitten, dass bereits gesetzlich angenommene Investitionen, worunter auch der Bau der normalspurigen Bahnstrecken gehörte, nicht mehr realisiert wurden. Daran hätten sich Österreich und Ungarn m it eigenen finanziellen Mitteln beteiligen sollen. Damit wären teilweise die Mittel zurück investiert worden, welche auf Kosten des okkupierten Landes für strategische Interessen der Monarchie eingesetzt worden waren. Übersetzt von Vahidin Preljević <?page no="189"?> M arcela P ožarek (P rag / W ie n ) Thron, Tratsch und Treibjagd oder w ie man auf Tannen schießt Franz Ferdinands Frau The article examines the complicated role of Sophie, Duchess of Hohenberg, the wife of Archduke Franz Ferdinand. Although the countess came from the ancient Bohemian noble family of Chotek of Chotkov and Vojnin, according to the Habsburg nuptial laws she was not of equal birth to her husband since she did not belong to a sovereign dynasty. Her morganatic marriage to Franz Ferdinand was one of the major reasons for the poor relations between him and Emperor Franz Joseph. Franz Ferdinand kept up an emphatically aristocratic lifestyle, as expressed in his love of hunting. A typically Habsburg passion, in him the thrill of the chase took on an almost pathological character: Franz Ferdinand was the most trigger-happy of the Habsburgs, as attested by his meticulously kept hunting ledgers which record a total of 274 511 kills. These characteristics - Franz Ferdinand's pathological passion of hunting and the rather bourgeois mannerisms of his wife create the perfect setting for the narrative decline of the Habsburg monarchy culminating in the assassination of the couple in Sarajevo. Bleich, mit farblosen Lippen unterbrach ihn die Baronin: "Und die Herzogin Sophie? " "Ebenfalls ermordet. Slawisches Blut, vergossen von slawischer Hand, zu unserer ewigen Schmach! " kommentierte der Erzpriester und trat in die Kirche.1 In der prägnant inszenierten und pointiert formulierten kleinen Szene aus Fulvio Tomizzas Roman Franziska. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts wird das plötzliche Ableben der Gattin des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand von Österreich-Este auf banale und gleichzeitig melodramatische Weise dargestellt, was in nuce sowohl das Wesen dieser böhmischen Adeligen, als auch ihr Schicksal zu charakterisieren scheint. Die Passage beginnt m it der lapidaren Bemerkung eines Kutschers: "Böse Nachrichten aus Wien",2worauf Tomizzas Protagonistin, eine mysteriös matronenhafte Baronin auf einem Kirchplatz im slowenischen Elinterland von Triest aussteigt und von einem echauffierten Erzpriester m it den Worten 1 Tomizza, Fulvio: Franziska. EineGeschichteausdem 20. Jahihundert. Wien: Zsolnay 2001, p. 62. 2 Ibid., p. 62. <?page no="190"?> 190 Marcela Požarek empfangen wird: "Wie? Sie wissen von nichts? Der Thronfolger ist ermordet worden."3 Die Baronin erwidert gleichzeitig entsetzt und bestimmt: "Der Ferdinand! "4und lässt ihr Gebetsbuch fallen. Selbstverständlich wird, dem Rang der Gattin an Erzherzog Ferdinands Seite entsprechend, deren Tod erst an zweiter Stelle erwähnt: "Und die Flerzogin Sophie? "5 Die mit der einfachen Konjunktion "und" elliptisch eingeleitete Nachfrage w irft ein sehr klares Licht auf die Position dieser Frauenfigur: ganz im Geiste der Doppelmonarchie handelt es sich um eine doppelte Marginalisierung. Sophie Chotek stand lebenslänglich durch ihre Flerkunft im Schatten ihres Mannes, der wiederum selbst nur Thronfolger war und eine Frau ehelichte, die als Böhmin zu Lebzeiten wenig Sympathien am kaiserlichen Flof genoss und durch das morganatische Ehebündnis a priori benachteiligt war. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, wie die Stellung dieser Frau ein spezielles Licht auf die ohnehin schon prekäre Position ihres berühmt-berüchtigten Gemahls w irft, wie Thron und Tratsch hierbei eine höchst faszinierende Allianz bilden und wie das ad absurdum getriebene aristokratische Flobby ihres Gatten Ferdinand, die Treibjagd, als Schlüssel verstanden werden kann, um diese als Liebesheirat deklarierte und geltende Ehe zu analysieren, die im Attentat von Sarajevo gipfelte. Die Position des Thronfolgers innerhalb des habsburgischen Machtgefüges war von Anfang an eine schwierige, wie Christopher Clark knapp festhält: "Franz Ferdinand occupied a complex but crucial position within the Habsburg leadership structure. At court, he was an isolated figure. His relations with the Emperor were not warm."6 Clark erklärt Franz Ferdinands labiles Verhältnis zu Kaiser Franz Joseph durch die Abwesenheit von Kronprinz Rudolf, nach dessen Selbstmord der Lückenbüßer Franz Ferdinand geraume Zeit warten musste, um offiziell als Thronfolger zu gelten,7 3 Ibid. 4 Ibid. 5 Erzherzogin Sophie wird hier auf eine Weise beschrieben, als wäre sie durch ihre zweitrangige Position nicht erwähnenswert, so als könne man sie genauso gut auch auslassen, oder wie Carlo Ginzburg in einer Studie zu Flaubert im Zusammenhang mit der Education sentimentale analysiert: "Einerseits eine unvermittelte Beschleunigung durch eine Auslassung; andererseits eine unvermittelte Verlangsamung durch ein unerwartetes Abschweifen, verstärkt durch den brüsken Abschluss des Kapitels, vor dem unmittelbar bevorstehenden Gefühlsausbruch." (Ginzburg, Carlo: Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis. Eine Auslassung entziffern. Berlin: Wagenbach 2001, p. 105) 6 Clark, Christopher: Sleepwalkers. Flow Europe went to war in 1914. London: Penguin 2013, p. 106. 7 Interessanteweise beschreibt die Flistorikerin Alma Flannig in ihrer Franz Ferdinand-Biografie die Nachfolge Odyssee ambivalenter, so dass Franz Ferdinands staatspolitische Mängel klar zu Tage kommen, gleichzeitig aber auch relativiert werden: "Erst nach dem Tod seines Vaters, Erzherzog Carl Ludwig, und der eigenen Genesung nach einer langjährigen Krankheit <?page no="191"?> Franz Ferdinands Frau 191 wobei Sophie Chotek keinesfalls eine vermittelnde Rolle im Verhältnis von Franz Ferdinand zum Kaiser spielen konnte. Im Gegenteil: The scandal of Franz Ferdinand's marriage to the Czech noblewoman Sophie Chotek in July 1900 was a further burden on his relationship with the Emperor. This was a marriage of love contracted against the wishes of the Emperor and the Flabsburg royal family.5*** Die Liebesheirat schien auch in den Augen des von Machtkalkülen besessenen Papst Leo XIII. keine vorteilhafte gewesen zu sein, wie sich dem Tagebuch von Jaroslav Thun entnehmen lässt: Rom (17.10.1902): Papstaudienz: "Er nennt Eh. Franz immer Ferdinand, erkundigte sich, wie er sei, ob Sophie einen guten Einfluss auf ihn habe, ob ihre Stellung schwierig sei..."9 Diese genaue Berichterstattung verdanken wir der monumentalen Franz- Ferdinand-Biografie von Wladimir Aichelburg, in der die Amouren des Erzherzogs, wie überhaupt sämtliche Details seines Lebens akribisch verzeichnet werden, was den Rezensenten des Wiener Standard zur hymnischen Aussage verführt: herzzerreißend die Liebesgeschichte mit der späteren Ehefrau, der Ehefrau zur Linken, Sophie C h o te k -beider amourösen Kommunikation verbrannt von den eigenen Kindern in Artstetten! Ich kann mit der Flundertschaft telegrafischer Innigkeit, von Aichelburg für die Nachwelt gerettet, nur ahnen, was zwischen beiden hin und her funkte an Leidenschaften und Feuer.10 Unbeeindruckt hingegen von dieser Leidenschaft und Liebesheirat war, wie bereits erwähnt, Kaiser Franz Joseph.11 Dieser Umstand verleitet Dawurde Franz Ferdinand im Alter von 34 Jahren offiziell Thronfolger. Durch die späte Ernennung hatte er keine Monarchenerziehung genossen. W ie die meisten Eizheizöge wurde er militärisch ausgebildet, was ihn nur bedingt auf das künftige Herrscheramt vorbereitet hatte. Es stellt sich also die Frage, welche Schritte unternommen wurden, um dieses Dehzit später auszugleichen. W ie hat sich der Erzherzog selbst im Laufe der Jahre auf den Thronwechsel vorbereitet und wer hat ihn dabei unterstützt? " (Hannig, Alma: Franz Ferdinand. Die Biografie. Wien: Amalthea Signum 2013, p. 12) 0 Clark 2013, p. 106. 9 Zit. n. Aichelburg, Wladimir: Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este 1863-1914. Horn: Berger 2013, p.147. 10 Roos, Peter: Franz Ferdinand, famos. In: Der Standard, Album, p. A l l , 28.06.2014. 11 Alma Hannig konstatierte denn auch in einem Interview pragmatisch: "Nachdem Franz Ferdinand dem Kaiserdie Heirat mit Sophie abgepresst hatte, konnte diese Beziehung natürlich nicht mehr besser werden. Katharina Schratt, die Gefährtin des alten Franz Joseph, schreibt, dass der KaiserjederAudienz mit dem Thronfolger entgegen bange. Am liebsten würde er ihn gar nicht mehr sehen." (Riedl, Joachim: Franz-Ferdinand-Biografin: Erwar nie ein Kriegsgegner. In: Die Zeit, 06.03.2014, http: / / www.zeit.de/ 2014/ ll/ franz-ferdinand-biografin-alma-hannig abgerufen: 25.8.2014) <?page no="192"?> 192 Marcela Požarek vid James Smith zur lapidaren Bemerkung: "The emperor did not like Franz Ferdinand and cared less fort the 'common' wife he had married. Fle had not attended their marriage. Nor would he attend their funeral either."12 In der direkten Gegenüberstellung von Fleirat und Begräbnis kommt bei Smith auf makabere Art der krönende Abschluss dieser Ehe im Attentat zur Sprache, ein Akt, der gleichzeitig wie ein blinder Fleck in der Geschichte des Paares figuriert. Nach ihrer Fleirat zur Fürstin von Flohenberg avanciert, ließ sie sich 1908 auf dem böhmischen Sitz der Familie vom in Paris geschulten Porträtmaler František Dvorak malen. Dieses monumentale Porträt, welches sie in imperialer FHaltung, mit Flermelinmantel und Krone auf dem Flaupt in inszenierter Flerrscherpose zeigt, wird im Folgenden mit einem berühmten Vorläufer einer solchen Darstellung, Louis Toques Porträt von Maria Leszczynska (1740) im Krönungsornat verglichen, um damit nicht nur die dahinterliegende Symbolik, sondern auch die raffiniert dargestellten Machtnarrative zu dechiffrieren: Insofern sie etwas repräsentieren, das wie die Macht nicht nur unsichtbar ist, sondern auf den ungreifbaren und imaginären Akten eines Glaubens an ihre Wirksamkeit beruht, sind Flerrscherporträts Bilder, die immer etwas enthalten und auf etwas aufbauen, was in ihnen nicht zu sehen ist. Sie verweisen auf ein Zeichensystem, einen Diskurs, eine Erzählung, die unabhängig von ihnen und außerhalb ihrer besteht - und doch in sie mündet und damit die Bedingung der Möglichkeit bestimmt, ein Herrscherporträt richtig zu sehen.13 Louis Tocque zeigt die gebürtige polnische Adelige Maria Leszcynska, die durch eine von Machtkalkül bestimmte Heirat mit Ludwig XV. zur Königin von Frankreich avancierte, klassisch in einer m it floralen Motiven üppig bestickten Robe m it Spitzenbesatz und einem Hermelin unterfütterten und mit Lilienmotiven verzierten Mantel, den Insignien des französischen Herrscherhauses. Die Königin wird in einer interessanten Raumanordnung gezeigt, vor einem theatralisch drapierten Vorhang und diskret im Hintergrund stehenden Thron als majestätischem Attribut, kontrastierend dazu 12 Smith, James David: One Morning in Sarajevo, 28 June 1914. london: Weidenfeld & Nicolson 2008, p. 6 7 - Die Hochzeitszeiemonie selbst fand fernab des W iener Hofprotokolls in Böhmen statt: "Die Hochzeit des Thronfolgers mit der Gräfin Sophie Chotek war für den 1. Juli 1900 in Schloss Reichstadt angesetzt. Schloss Reichstadt diente Maria Theresia, der Stiefmutter Franz Ferdinands, als Witwensitz. Die Hochzeit des Thronfolgers war dessen Privatangelegenheit. Sie sollte nicht einmal den Anschein eines offiziellen Festaktes haben. Auf Wunsch Franz Josephs sollte kein Mitglied des Kaiserhauses der Trauung beiwohnen." (Weissensteiner, Friedrich: Franz Ferdinand. Der verhinderte Herrscher. Wien: Kremayr & Scheriau 2007, p. 134) 13 Horn, Eva: Vom Porträt des Königs zum Antlitz des Führers. ZurStrukturdes modernen Herrscherbildes. In: Honold, Alexander, Simon, Ralf (Hg.): Das erzählende und das erzählte Bild. München: Fink 2010, p. 129. <?page no="193"?> Franz Ferdinands Frau 193 dorische Säulen und eine architektonische neoklassizistische Konfiguration, was als eher ungewöhnlich für ein weibliches Porträt zu werten ist. Laut Analyse der Kunsthistorikerin Inge Boer ist jedoch insbesondere die Assemblage auf dem Empire-Tisch auffallend: "M ost interesting as a feature in the painting however is the gesture with which Marie Leczinska points at the crown, placed on a little cushion."14Was macht die Faszination dieser Krone auf dem Samtkissen im Kontext eines Machtnarratives aber aus? Während die Königin von Frankreich auf Ihre eigene Krönung hinweist, zeigt ihre Geste zugleich, welches ambivalente Verhältnis sie zu diesem Objekt hat. Sie präsentiert es stolz und gleichzeitig als etwas, das nicht ganz in der Sphäre ihres Wirkungskreises zu liegen scheint, was wiederum darauf zurückzuführen ist, das Maria Leczinska die Krone nur verliehen wurde, weil es politisch opportun erschien, sie zur Königin zu ernennen. So w irkt die Flaltung, die die Königin von Frankreich gegenüber ihrer eigenen Krone ein, nimmt nicht nur distanziert, sondern geradezu entfremdet; sie präsentiert sie wie ein nahezu beliebiges Objekt, das je doch von fundamentaler Wichtigkeit für ihre Funktion ist, oder wie Boer schreibt: "Marie Leczinskas gestures towards her crown, because the crown provides her with a raison d'etre, the officially assigned position of queen [...]."15 Die Position der Königin ist also nur insofern stark, als dass sie dazu gemacht wird, die Stellung wird ihr zugeschrieben, sie selbst ist wie ihre eigene Krone nur ein Attribut der Staatsmacht und ihre Position labil. František Dvoraks Monumentalbild von Sophie Chotek wiederum positioniert die Porträtierte in der Mitte des Bildes, somit kommt ihre matronenhaft majestätische Statur besser zu Geltung. Der Fürstin wird prima vista ein zivileres, weniger pompöses Aussehen verliehen, was laut der Kunsthistorikerin Marie Mlykovä durchaus beabsichtigt war: Es geht hier nicht um pathetische Repräsentation barocken Charakters; Würde und Glaubhaftigkeit des Porträts führen zu einem zivileren Ausdruck; die Malerei musste sich mit den Möglichkeiten der Fotografie konfrontieren so wie sie der mondäne tschechische Pariser, František Dvorak einsetzte. Sein Porträt von Sophie Flerzogin von Flohenberg aus dem Schloss Konopischt, huldigt einerseits die problematische Würde der morganatischen Ehefrau des 14 E. Boer, Inge: Culture as a gendered battleground. The patronage of Madame Pompadour. In: Akkoman, Tjitske / Stuuman, Siefs: Perspectives on Feminist Policitical Thought in European History. From the MiddIeAgesto the Present. London: Routledge 1998, pp. 104-105. Siefährt in ihrer Ausführung mit den Fragen fort: "Why, one might ask, this gesture, as so many details already indicate that we are dealing with a royal figure? Is it not enough to demonstrate by the ermine mantle and the proliferating fleurs de Iys that this woman is not just any woman, but the queen herself? So why the abundance of references to royalty, why this hysterical repetition of the fleurs de Iys as if to drum their importance into our heads? " (ibid.) 15 Boer 1998, p. 104. <?page no="194"?> 194 Marcela Požarek František Dvorak: Sophie Fürstin von Hohenberg, 1910, Öl, 251 x 143.5 cm Sammlung des Schlosses Konopischt. Quelle: Privatarchiv der M a rie M iy k o v a li 16 Mzykovä, Marie: Kfidla slavy. Dil II: Vojtech Hynais. Češti Parižane a Francie. Praha: Galerie Rudolfinum 2001, p. 234. <?page no="195"?> Franz Ferdinands Frau 195 Thronfolgers Ferdinand d'Este, andererseits ist sie das Paradebeispiel orthodox interpretierter, technisch brillant ausgeführter akademischer Malerei.17 Die Raumkonstellation, in der die Herzogin in Pose steht, ist eine sehr ähnliche, wie die der Königin von Frankreich, nur spiegelverkehrt. Als überraschend banales Attribut steht allerdings auf dem imposanten Empire-Tisch keinesfalls eine Krone, sondern eine Vase mit Rosen, wie sie auf Schloss Konopischt gezüchtet wurden. So forsch und souverän Sophies Blick auf dem Porträt, so passiv und geradezu statuenhaft ihre Körperhaltung, bei der die gekünstelt elegante rechte Handbewegung darauf schließen lässt, dass sie es nicht gewohnt ist, einen Hermelinmantel zu tragen, noch dazu in einem Arrangement, das zwar aristokratisch wirken soll, aber gleichzeitig ein Milieu mit unzweifelhaft bürgerlichem Anstrich suggeriert, bei dem alles Imperiale wie Staffage wirkt. Aus dem ästhetisch inszenierten Rahmen fällt hierbei das merkwürdig aufgesetzt wirkende Blumengebilde am Taillengürtel, wobei es sich um weiße Trichterwinden handelt, deren Sorte in violetter Farbe als Prunkwinde bezeichnet wird, einer sehr schnell dahinwelkenden Blumenart eine bezeichnende Symbolik für ein majestätisches Bild, das als Hinweis für die Stellung Sophie Choteks am Habsburger Hof gelesen werden kann, ist sie doch eine Adelige, die auf Umwegen ins Herrscherhaus kam.18 Sie musste sich zuerst als Hofdame verdingen: "Nichtsdestotrotz konnte letztendlich auch die vorher nicht besonders begehrte Gräfin Chotek eine Partie machen - und mit dem Thronfolger noch dazu die beste in der ganzen Monarchie."19 Verschiedenste Quellen sind sich darin einig, dass selbstverständlich Sophie Choteks passables Ausse- 17 Ibid., p.233: "Nejde však o patetickou reprezentativnost barokniho typu; düstojnost a poitretni verohodnost smeruje k civilnejšimu vyrazu; malba se zäroven vyiovnävala s možnostm ifo to g ra fie -ja k to prijal a uplatnil jeden z monden ich ceskych Pafižanfl, František Dvorak. Jeho portret Žofie vevodkyne z Hohenbergu, ze zamku Konopište, pfedstavuje hold prob- Iematicke dustojnosti morganaticke choti naslednika trimu, Ferdinanda d'Este, na druhe strane je dokladem ortodoxniho pojeti reprezentativni, technicky svrchovane akademicke malby." (Übers. M.P.) 18 Hannig 2013, p. 57: "Die Choteks gehörten zum böhmischen Uradel, waren jedoch kein regierendes Haus und somit für eine Heirat mit den Habsburgern nicht standesgemäß." 19 Vgl. Winkelhofer, MartinaiAdeI verpflichtet. Frauenschicksale in der k.u.k. Monarchie. Wien: Amalthea 2004, p. 113. "Der bekannteste und spektakulärste Fall einer Aristokratin, die sich ursprünglich als Ledige ihren Unterhalt bei Hof verdiente, war jener der böhmischen Gräfin Sophie Chotek, die den österreichischen ThronfoIgerFranz Ferdinand heiratete. Obwohl aus einer der ältesten und vornehmsten böhmischen Adelsfamilien stammend, hatte Sophie Chotek Schwierigkeiten auf dem Heiratsmarkt. Die Familie w ar nicht vermögend und die junge Gräfin, deren Liebe zum Thronfolger schon vor ihrer Verlobung begann, musste sich bis zur Bekanntgabe der erst heimlichen Beziehung als Hofdame verdingen. So angenehm in der Regel eine Stelle als Hofdame sein mochte, Sophie Chotek hatte nicht das beste Los gezogen: Sie kam als Hofdamezu Erzherzogin Isabella, die für ihre ruppige und herablassende Art bekannt war." <?page no="196"?> 196 Marcela Požarek hen ihre Heiratschancen erheblich steigerten, was scheinbar auf Gemälden gut zur Geltung kam. Ein Familienölgemälde (das der Erzherzog selbst immer etwas zu affektiert fand) zeigt, warum sie überall eine gute Figur machen würde: sehr große, dunkle braune Augen unter einer zum Knoten gebundenen Fülle dazu passenden dunklen Flaares, dessen glänzende Farbe einen vollendeten Teint hervortreten ließ. Die Augen deuteten sowohl auf klaren Verstand, als auch auf verborgenes Feuer: Eswareinewirkungsvolle Kombination.20 In dieser Beschreibung wird Sophie Choteks Matronenhaftigkeit durch dunkle, Wärme symbolisierende Augen charakterisiert und das prachtvoll üppige Haar als untrügliches Zeichen eines standhaft soliden Charakters gelesen, oder wie die Historikerin Monika Kubrova im Zusammenhang m it adeliger Erziehungskultur attestiert: "Die inkorporierten Tugenden fügsam und gerade spiegeln symbolisch familien-und adelserhaltende Verhaltensanforderungen an die einzelne."21 Erstaunlicherweise werden hier die Peripetien eines adeligen Frauenschicksals des 19. Jahrhunderts in einer Weise definiert, die absolut keine alternativen Lebenswege zuzulassen scheint, geschweige denn, diese auch nur in Erwägung zieht, wie es so selbstverständlich der Fall im postrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts war, wie Elisabeth Badinter in ihrer Frauenbiografie Emilie, Emilie konstatiert: Cependant, Ie XVIIIe siede constitue une sorte de paradoxe dans l'histoire des femmes privilegiees. Tout en maintenant a celles-ci ! 'obligation de se marier et d'avoir des enfants, ! Ideologie dominante Ieur accordait Ie droit a Ia negligence. L'inconstance conjugale n'etait pas un vice on peut meme dire que Ia fidelite etait consideree comme une valeur desuete, presque ridicule et Ies soins du maternage n'etaient pas juges dignes des preoccupations d'une femme du monde.22 Wiewohl Erzherzog Franz Ferdinand ursprünglich durchaus mondänere Partien als potenzielle Heiratskandidatinnen ins Auge fasste, ermangelte es ihm unter anderem wohl an Fremdsprachenkenntnissen, um eine Adelige aus höheren, kosmopolitischeren Kreisen zu ehelichen, so wie im Falle Helenes von Orleans: Der Thronfolger hatte die hübsche Prinzessin während seines Besuchs in England kennengelernt. Das Gespräch mit ihr gestaltete sich wegen seiner be- 20 Brook-Shepard, Gordon: Die Opfer von Sarajevo: Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie von Chotek, Stuttgart: Engelhorn 1988, p. 68f. 21 Kubrova, Monika: Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert. EIitenwandel in der Moderne. Berlin: Akademie 2011, p. 110. 22 Badinter, Elisabeth: "Emilie, Emilie " L'ambition feminine au XVIII eme siede. Paris : Flammarion 1983, p. 105. <?page no="197"?> Franz Ferdinands Frau 197 scheidenen Französisch-Kenntnisse jedoch eher mühsam und von weiteren Treffen oder gar Heiratsplänen war nicht mehr die Rede.23 Gordon Brook Shepard beschreibt die Heiratsambitionen von Franz Ferdinand äußert detailliert unter der Kapitelüberschrift "Sophie": Bevor er sein Herz an die dynastisch unebenbürtige Dame verlor, war Franz Ferdinands Name unter wechselnden Graden an Glaubwürdigkeit mit drei königlichen Prinzessinnen in Verbindung gebracht worden. Die erste und am ehesten in Frage kommende war Prinzessin Mathilde von Sachsen aus der katholischen Dynastie der Wettiner gewesen, die über Jahrhundert hin Bräute für viele Habsburger Erzherzoge (einschließlich natürlich seines eigenen Vaters) zur Verfügung gestellt hatte.24 Franz Ferdinands Frauengeschmack war aber keineswegs aristokratisch, vielmehr suchte er nach einem ganz anderen, geradezu bürgerlichen Typus von Gattin und Mutter, der Landedelfrau: Bis ins 20. Jahrhundert hinein existierten im Adel zwei verschiedene, sich zum Teil widersprechende Frauenideale, jedes in einem der beiden Lebensbereiche des Adelsstandes-Landsitz und Hof-verankert: das Bild der Landedelfrau und das Bild der höfischen Dame. Das Ideal der Landedelfrau entsprach dem der altständischen Hausmutter, die umsichtig, fleißig und sparsam das Gutshaus leitete. Innerhalb der patriarchalischen Familien- und Gesellschaftsstruktur unterstand die Gutsfrau der Herrschaft ihres Gatten, des Hausvaters. Dennoch übte sie im Bereich des Gutes eine gewisse ökonomische und moralische Machtaus.25 Dieser Charakterisierung entsprach Sophie Chotek nahezu perfekt und paarte sich in idealer Weise m it Rollen, die böhmische Frauen traditionell im Wiener Bürgertum spielten: Ihre Funktion oszillierte leicht simplifizierend form uliert zwischen Köchin, Kindermädchen oder Prostituierter.26 23 Hannig 2013, p. 55. Selbstverständlich waren des Eizherzogs Heiratsabsichten ein großes Politikum, wie Hannig ausführlich dar legt: "Da die Frage der erzherzoglichen Brautwahl eine durchaus politische war, verwundert es nicht, dass die anderen Großmächte regen Anteil an den Entwicklungen nahmen und sogar versuchten, diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. In Deutschland zeigte man sich grundsätzlich über die Russophilie Franz Ferdinands besorgt, aber als Gerüchte aufkamen, der Thronfolger könnte Helenevon Orleans heiraten, befürchtete man im Auswärtigen Amt in Berlin bei einer solchen Verbindung künftig gar eine Österreich ische-russisch-französische Koalition." 24 Brook-Shepard 1988, p. 64f. 25 Diemel, Christa: Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen, 1800-1870, Frankfurt am Main: FTB 1998, p. 120. 26 Beasley-Murray, Tim: German-Language Culture and the Slav Stranger Within. In: Central Europe, Vol. 4, No. 2 (Nov. 2006), p.131-145, hier p. 134: "The most extreme example of the way in which the Slav could come to stand for the repressed, on purely sociological grounds, isto be found in the pairing of the Czech nursemaid and the Czech prostitute. For many male members of th e German-speaking Viennese upper-middle classes there were two ways in which they were Iikelyto encounter Czechs: first, in the form of their Czech nursemaids, and, second, in the form of a Czech prostitute." <?page no="198"?> 198 Marcela Požarek Franz Ferdinands eigene Brautwahl bewegte sich zwischen den Polen aristokratischer Gepflogenheiten und bürgerlich privaten Geschmackspräferenzen, einem Balanceakt zwischen Anpassung und Aufbegehren also, in dem es galt, strategisch pragmatisch vorzugehen, wie es Norbert Elias am Beispiel Louis XIV. aufzeigte: "Die Fülle der Machtchancen, die ihm kraft seiner Position zur Verfügung stand, ließ sich nur aufrechterhalten durch eine überaus sorgfältige und berechnete Manipulierung der komplexen, multipolaren Spannungsbalance seines weiteren und engeren Herrschaftsfeldes."27 Franz Ferdinands Charakter war aber für raffinierte Machtkalkulationen im Stile von Louis XIV zu labil, ließ doch auch sein Gesundheitszustand oft zu wünschen übrig und so war er nach einer Lungentuberkulose28 zu wiederholter Bettlägerigkeit gezwungen. Bei einem solchen Kuraufenthalt kam es zu folgender, in der Forschungsliteratur vielfach zitierter und kommentierter Episode: Nur zu bald langweilte es den Erzherzog, auf einer Pritsche oder einem Liegestuhl im Garten zu liegen und die prachtvolle Aussicht über das Etsch- und Eisacktal zu genießen. Eine Ablenkung fand er sofort, und zwar, mit einem kleinen Luftgewehraufdie zarten Äste einer etwa 30 Schritte entfernten Lärche zu schießen. Erschoss Plünderte von ihnen a b -s o sauber, dass der Baum schließlich aussah, als wäre er mit der Gartenschere bearbeitet worden.2930 Einerseits illustriert diese Szene in genialer Weise die biedere Akkuratesse, m it der er ans Werk ging, und thematisiert gleichzeitig sehr hintergründig seine perverse Passion und Faszination für Schieß- und Jagdunternehmungen mannigfaltigster Art einem Hobby, das er mit seiner Gattin durchaus teilte. W ladimir Aichelburg konstatiert in seiner Franz Ferdinand Biografie im Kapitel "Der letzte Jagdtag": Tatsächlich war seine Jagdleidenschaft außergewöhnlich; der Thronfolger war aber auch ein außergewöhnlicher Schütze. Wie alles, was er tat, betrieb er auch die Jagd nie oberflächlich. Die Natur interessiert ihn als Ganzes. Die Jagd war nur ein äußerlicher und nur für die vielen Uneingeweihten verabscheuungswürdiger, weit sichtbarer Teilaspekt seines Gesamtinteresses für die Umwelt.90 27 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zurSoziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Bd.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, p. 239. 28 Biografin Alma Flannig beschreibt seine gesundheitlichen Gebrechen in rührendem Duktus: "Nachdem er seit Monaten bereits kränklich gewesen war, brach Ende 1894 beim Thronfolger die Lungentuberkulose aus. Mehr als zwei Jahre sollte sein Kampf gegen die tödliche Krankheit andauern. Auch wenn er sie am Ende besiegt hatte, musste er sich in Zukunft schonen und blieb asthmaanfällig. Offiziell ließ der Erzherzog verlauten, dass er als Folge seiner Weltreise an Tropenfieber erkrankt sei." (Hannig 2013, p. 49) 29 Brook-Shepard 1988, p. 79. 30 Aichelburg 2013, p. 1209. <?page no="199"?> Franz Ferdinands Frau 199 Dieses "Gesamtinteresse für die Umwelt" ist auch der Biografin Alma Hannig ein eigenes Kapitel "Exkurs: Jäger und Sammler" wert, in dem sie die abartige Obsession des Thronfolgers als üblichen aristokratischen Zeitvertrieb zu legitimieren versucht.31 Schlussendlich muss das Attentat in Sarajevo als ein symbolisches "Ende der Jagd" gesehen werden, das durch Dramatik und Pathos so sehr besticht, dass die eher kompliziert uneindeutigen Beweggründe der ganzen Sarajevo-Expedition verblassen.32 Sophie von Hohenberg begleitete ihren Gemahl auf einer Reise, die sehr idyllisch begann und von keinerlei Gefahren getrübt zu sein schien: The archducal couple were strikingly unconcerned about their own safety. Franz Ferdinand hat spent the last three days with his wife in the little resort town of llidze, where he and Sophie had seen nothing but friendly faces. There had even been time for an impromptu shopping visit to the Sarajevo bazaar, where they had walked unmolested in the narrow crowded streets. What they could not know was that Gavril Princip, the young Bosnian Serb who would shoot them dead just three days later, was also in the bazaar shadowing their movements.33 Bezeichnend an dieser Beschreibung ist die eindeutige Jagdterminologie, die Beobachtung sämtlicher Bewegungen der zu erlegenden Beute, die minutiöse Genauigkeit auch, mit der in allen Attentat-Diskursen sehr pedantisch und akribisch die Vorbereitung, die im Tod des Thronfolgerpaars gipfelt, beschrieben wird. So kulm iniert beispielsweise der Anschlag auf das Paar im sentimental religiös gefärbten Erinnerungsblatt des österreichischen Geistlichen Eduard Fischer S.J. in einer pathetisch knappen Wendung: "Erzherzog Franz Ferdinand und seine erlauchte Gemahlin Herzogin Sophie von Hohenberg wurden am 28. Juni 1914 in Sarajevo von ruchloser Mörderhand dahingerafft."34 Die sentimentale Beschreibung des Jesu- 31 Hannig kommentiert politisch korrekt einige Abweichungen von Franz Ferdinands natürlichem Jagdtrieb, indem sie darauf hinweist: "Makaber klingt es, wenn der Erzherzog sein Jagdgewehr liebevoll "meine treue Freundin" nennt. Allerdings müssen, die Bräuche bestimmter Länder und das Verhalten vergleichbarer Personen berücksichtigt werden, um ein möglichst objektives Urteil zu treffen." (Hannig 2013, p. 48.) 32 "The emperor broadly told the Archduke he could do as he wished, but seems to havesubliminally made his feelings known, that IiethoughttheArchduke ought to go. Ferdinandthen asked if Sophie could accompany him, to which there was no objection. Some suggest that it was Sophie's anxieties which prompted Ferdinand to approach the emperor. It was she who was troubled by the effect of the heat on his health and perhaps too she was afraid for his safety, insisting that if he was going, she would go as well." (Smith 2008, p. 154) 33 Clark 2013, p. 369. 34 Fischer, Eduard: Ein Erinnerungsblatt an Se. kaiserliche und königliche Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand und seine erlauchte Gemahlin Herzogin Sophie von Hohenberg. Für das liebe Volk. Zum Besten der Canisiuskirche in Wien IX. Wien: Buchdruckerei Austria F. Doll 1914, p. 4. <?page no="200"?> 200 Marcela Požarek itenpaters w irft ein theatralisches Licht auf eine Szene, in der die Herzogin Sophie von Hohenberg im Grunde eine marginale Rolle spielte; sie wurde von den Anwesenden des Attentats auch kaum beachtet: "Harrach and General Potiorek were not worried about the archduchess. They believed that she had fainted from fright. Instead, the tw o turned their attention to gravely injured archduke."35 Bei der Gerichtsverhandlung der Attentäter wird über die Todesszene sogar noch lapidarer gesprochen: "And the Archduke's wife, Nedjo was asked at his trial, did you plan to kill her too? Oh no, said Nedjo, they agreed to make every effort to spare her."36 Diese kurzen Bemerkungen zeigen in exemplarischer Weise, wie Herzogin Sophie von Hohenbergs Tod als ein Symptom37 gelesen werden kann, als eine genaue Beschreibung ihres Untergangs an der Peripherie der Monarchie. Während sie am kaiserlichen Hof in Wien nicht wirklich hoffähig war, konnte sie an der Seite Ihres Gatten in Sarajevo zwar prim a vista standesgemäß ihren repräsentativen Pflichten nachkommen und schien doch in einer absolut marginalen Rolle zu einer zweitrangigen Statistin verdammt zu sein. Die Rolle, Funktion und das Ende der Thronfolger Gattin kann aber auch ganz anderes gelesen werden, denn die quasi-bürgerliche Sophie Chotek als Vorbotin des Niedergangs der Monarchie ist keine Figur, der Einflussnahme auf die politische Taktik des Thronfolgers fremd gewesen ist, im Gegenteil, wie Hannig festhält: "Vor allem in Deutschland scheint sich die Meinung durchgesetzt zu haben, dass Sophie der Schlüssel zum Thronfolger in jeder Hinsicht war."38 Im streng patriarchalisch hierarchischen Milieu der Habsburger Monarchie war somit die Matrone Sophie Chotek durchaus kein diplomatisches Leichtgewicht. Sie war keine banale Tochter aus gutem Haus, sondern der eher schwachen Figur des Thronfolgers ebenbürtig, wenn nicht in geschichtsträchtiger Weise in ihrer Rolle als Fremdkörper im Getriebe der Adelskreise sogar überlegen, oder wie Elisabeth von Samsonow prägnant in ihrer Analyse von M atronen zum Schluss kommt: Mein Konzept vom Ende der guten Tochter war vom Wunsch getragen, dass die Rückkehr zur Matrone eine Art von Horrorfigur, den Teufel, erlösen würde, den Teufel, der eben nicht, so wie Freud das meint, pervertierter Vater, sondern natürlich pervertierte M utter ist. Dass w ir unsere Teufel, die ihre 35 Doak, Robin S.: Assassination at Sarajevo. The SparkThat Started World War I. Minneapolis, Minnesota: Compass Point Books 2009, p. 14. 36 Smith 2008, p. 67. 37 "Die aphoristische Literatur ist per Definition der Versuch, Urteile über den Menschen und die Gesellschaft auf der Basis von Indizien und Symptomen zu formulieren: über einen Menschen und eine Gesellschaft, die krank, in Krise sind." (Ginzburg 1995, p. 37) 38 Hannig 2013, p. 75. <?page no="201"?> Franz Ferdinands Frau 201 Hochzeit im abendländischen imaginaire schon hinter sich gebracht haben, in aller Ruhe wieder auf ihr ursprüngliches Format zurückbringen, und in ihnen die übermächtige Matrone den Patronen gegenübergestellt werden dürfte, tatsächlich so etwas wie ein Equilibrium zwischen den Geschlechtern ermöglichen könnte.39 So sehr also die marginale Matrone Sophie Chotek lebenslänglich bis zu ihrem spektakulären Tod in der Adelshierarchie eine prekäre Position inne hatte, so sehr ist sie doch integraler Bestandteil der äußerst komplexen und letztlich ins Leere laufenden Machtambitionen ihres Gatten. Insofern spielt sie eine absolut zentrale Rolle bei der Demontage der Habsburger Monarchie: sie ist die perfekte Figur an der Schnittstelle von zerfallendem Imperium und beginnendem bürgerlichem Zeitalter. Samsonow, Elisabeth von: "Das Bild ist etwas sein, sehr Merkwürdiges". In: Mahr, Peter (Hg.): Österreichische Ästhetik. Klagenfurt: Ritter 2003, pp. 130 145, hier p. 138. <?page no="203"?> DAS ATTENTAT VON SARAJEVO IN DISKURSEN UND MEDIEN <?page no="205"?> V e d a d S m a i l a g i ć ( S a r a j e v o ) Das A ttentat vom 28. Juni 1914 am Tag danach Eine Untersuchung der Berichterstattung in deutschsprachigen Zeitungen der österreichischen Reichshälfte This contribution applies the tools of critical linguistic analysis to the Austrian newspaper coverage of the Sarajevo assassination in order to obtain a better understanding about the role of the print media on the eve of WWI and their intended effects on contemporary readers. The analysis of the use of expressive terms, the perpetrator/ victim dichotomy and the ways to insinuate the complicity of the Serbian state show how media construct reality and direct public opinion. Through its methodology, my article also tries to show the contribution of linguistics as an academic discipline to a better understanding of history. Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, die deutschsprachigen Zeitungen Cisleithaniens vom Tag des Attentats auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo und vom Tag danach durch genaue linguistische Analyse der Inhalte und Formulierungen auf ihre Rolle im historischen Kontext zu untersuchen. Zeitungen sind wichtig, denn generell spricht man ihnen entweder das Abbilden oder das Konstruieren der Wirklichkeit zu. Außerdem soll gezeigt werden, wie mit den Mitteln der linguistischen Textanalysejener Konflikt, der zum ersten Weltkrieg führen sollte, ein Stück mehr erhellt werden kann. Kurt Lewin hat schon 1943 den Ausdruck Gatekeeping geprägt, der darauf abzielt, dass Medien in ihrer Selektionsfunktion was wird veröffentlicht, was nicht kontrollieren, welche Informationen der Öffentlichkeit verm ittelt werden und welche nicht.1 Damit sind die Medien diejenige Instanz, die bestimmt, was gesellschaftlich so relevant ist, dass es diskutiert wird. Information unter dem Gesichtspunkt der Selektion von Inhalten ist jedoch nicht die einzige Funktion von (Massen)medien, denn: Eine zentrale Rolle bei der Wirklichkeitskonstruktion durch Massenmedien spielen Bewertungen, da sie per definition über ein Ereignis nicht neutral informieren, sondern diesem einen bestimmten Wert und somit eine bestimmte Bedeutungzuschreiben. Bewertungen beeinflussen so maßgeblich die Repräsentationen des Ereignisses und damit die mediale Realität, die in einem Medientext konstruiert wird.2* 1 Cf. Bölin, Andreas/ Seidler, Andreas: Mediengeschichte. Tübingen: GNV 2008, p. 68. 2 Luginbühl, M aitin / Baumberger, Thomas / Schwab, Kathrine, Burger, Harald: Medientexte zwischen Autor und Publikum. Zürich: Seismo 2002, p. 81. <?page no="206"?> 206 Vedad Smailagic In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Dieter Kroppach hilfreich, der die Sprache der Presse beschreibt, indem er vom Konzept der journalistischen Aussageweisen ausgeht. Diese lassen sich demnach aufgrund ihrer sprachlichen Merkmale in tendenziell repressive und emanzipatorische Aussageweisen einteilen3. Dietendenziell repressive Form weist Merkmale einer subjektiven oder propagandistischen Einstellung (emotional, pathetisch, werbend, affirmativ usw.) auf, während die emanzipatorische eher zur Objektivität in der Themenbehandlung neigt. Vor dem Hintergrund dieser Analysen und Überlegungen zur Zeitungssprache scheint es nun sinnvoll, die Berichterstattung über das Attentat auf den Thronfolger aus dem Zeitraum unmittelbar danach zu untersuchen, um durch Feinanalyse der Sprache dieser Berichterstattung bzw. der Inhalte und ihrer Präsentation auf die "wahren" Absichten der Zeitungen schließen zu können und darüber hinaus auch auf die mögliche Wirkung, die diese Texte bei den Rezipienten bzw. den Lesern erzielen. Brinkerspricht in diesem Zusammenhang von Textfunktion, wahrer Absicht des Emittenten und Textwirkung.4 Zunächst soll es um Textfunktionen gehen, die Klaus Brinker in Anlehnung an Searles Klassifizierung des illokutiven Teils der Sprechakte in 4 bzw. fünf Klassen einteilt: Informations-, Appell-, Obligations-, Kontakt- und auch Deklarationsfunktion5. M it Brinker halte ich es für notwendig zwischen Textfunktion und "wahrer Absicht" des Textproduzenten zu unterscheiden, denn in einem informativen Text kann eine appellative Absicht des Emittenten stecken, die vom Rezipienten nicht unbedingt als solche erkannt werden muss. M it der Analyse dieser Texte möchte ich gerade hier ansetzen und zeigen, wie diese beiden Funktionen bei brisanten Nachrichten über das Attentat auf den Thronfolger miteinander verflochten sind und somit beim Rezipienten, dem Zeitungsleser, am Tag danach bestimmte Wirkungen auslösen. Für meine Analyse sind also nur die ersten zwei Funktionen von Bedeutung: die Informationsfunktion und die Appellfunktion. Die Informationsfunktion meint, dass der Emittent bei den Lesern neues Wissen vermitteln bzw. sie über etwas informieren will.6Da es sich bei der Nachricht über den Tod des Thronfolgers am Tag danach tatsächlich um eine neue Nachricht handelt, sollen diese Texte zunächst für Texte mit Informationsfunktion gehalten werden. Dieser Vorfall, der Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand kurz vor Mittag in Sarajevo, war damals eine sehr brisante Nachricht und deshalb gibt es bereits am Nachmittag des selben Tages fast bei al- Cf. Kroppach, Dieter: Journalistische Aussageweisen. Ein Beitrag zur Sprache der Presse. In: Publizistik, 21 (1976), pp. 196-207. 1 Bl inker, Klaus: linguistische Textanalyse. ESV. Berlin. ESV. 2001, p. 83-128. 5 Ibid. 6 Ibid., p. 108. <?page no="207"?> Eine Untersuchung der Berichterstattung in deutschsprachigen Zeitungen 207 len Tageszeitungen Sonderausgaben, in denen über das Attentat berichtet wird. Am Tag danach ist es dann die Nachricht des Tages. Die von mir untersuchten Printmedien Marburger Zeitung, Bukowinaer Post, Salzburger Chronik, Arbeiter Zeitung, Prager Tagblatt, Pilsener Tagblatt, Allgemeiner TiroIerAnzeiger, Arbeiterwille, Innsbrucker Nachrichten (Linzer) Tages-Post, Reichspost, Teplitz-Schönauer Anzeiger, Neue Freie Presse, Fremden-Blatt, Linzer Volksblatt, Wiener Neueste Nachrichten und WienerZeitung berichten darüber. Die Analyse dieser Printmedien unmittelbar nach dem Attentat ergibt das auffällig häufige Vorkommen von expressiven Ausdrücken, Extremformulierungen und quer durch alle Zeitungen das Vorkommen identischer Topoi, die letztendlich die "wahre Absicht" erkennen lassen. Expressive Ausdrucksweise Die Untersuchung beginnt m it der Analyse der Aufmacher. Das Attentat kommt auf der Titelseite aller Zeitungen am 29. Juni vor bei denjenigen, die schon am Vorabend über das Attentat berichten, ebenfalls. Die Titelseiten aller Zeitungen zeichnen sich durch starke grafische Betonung aus. Eine Möglichkeit sind Abbildungen, selbst bei den Zeitungen, die sonst nie ein Foto auf der Titelseite haben: Por ТУ ои 1 о Г јкг yon Qitorrofct M m O— Iito cto Htn oato von Hotowbara «л ко гм! _ _ S i r n t r Jtlontno53oumnf ftUNu« Andere Zeitungen machen lediglich mit schwarzer Umrahmung auf: <?page no="208"?> 208 Vedad Smailagic finjcr-Volt. lUienrr^S? 3ritun0. e----f <w - -------------------------- Andere wiederum betonen die Nachrichten desTages durch Schriftgröße, die so als besonderer Blickfang dient: Bilder, Fotos und andere grafische Mittel zählen heute zu den "semiotischen Elementen" der Medien, d.h. zu den besonderen Zeitungszeichen, m it denen bestimmte Botschaften an die Leserschaft verm ittelt werden.7 Somit ist ein Zeitungstext auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts multimedial. Die regelmäßigen Leser dieser Zeitungen sehen hier besondere Zeichen, die sie sonst aus anderen Ausgaben nicht kennen und erkennen darin eine Botschaft: "Etwas Brisantes ist passiert! " Die auffallend schwarze Umrahmung verspricht zudem nichts Gutes. Schon hier ist zu sehen, wie diese Zeitungen ihre zweitwichtigste Aufgabe bewerkstelligen, nämlich wie sie den Vorfall bewerten: als brisant und auch traurig. Die expressive Ausdrucksweise bei diesem Thema setzt sich mit den Überschriften fort. Sie lauten meistens so: бтогђипд Des Sfironfolgers. £гзђсгзо0 £гапз ^erfcinattt> unfc ^ е г з о д т Čjoltenbcrtj tot. Burger zählt sie zu den statischen semiotischen Elementen, cf. Burger, Harald: Mediensprache. Berlin: WdG 2005, p. 65f. <?page no="209"?> Eine Untersuchung der Berichterstattung in deutschsprachigen Zeitungen Per Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand nnd Gemahlin ermordet. Wttentat auf Oen ШропОДег und ljadjüeflfen (ШетађПп! Beide tot. Sprachlich auffällig ist hier das fehlende finite Verb, das in diesem Falle entweder wurde ermordet oder (eher unwahrscheinlich) ist ermordet heißen könnte. In der Sprachwissenschaft spricht man in solchen Fällen von sog. Ellipsen. Dies sind sprachliche Abweichungen, die in Überschriften sehr häufig Vorkommen. Ihre kommunikative Leistung ist die Verdichtung von Informationen sowie die expressive Ausdrucksweise, die dann gleich im Text fortgesetzt wird. Es sind folgende Formulierungen vorzufinden, die als Belege für weitere Überlegungen zugrunde stehen: Der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Frau Herzogin von Hohenberg sind heute in Sarajevo das Opfer eines Attentates geworden. (Freie Presse) Der Erbe der Kronen Oesterreichs und Ungarns und seine durchlauchtige Gefährtin im Leben, die ihm auch im Tode treu blieb, sind das Opfer ruchloser Mörderhände gefallen. (PragerAbendbIatt) Der Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger in den habsburgischen Ländern, ist heute in Sarajevo ermordet worden. (Arbeiter Zeitung) Aus Sarajevo kommt die Schauerkunde, daß Oesterreichs Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand einem grauenerregenden Attentate zum Opfer gefallen ist. (Salzburger Chronik) Ein jäher grausamer Schicksalsschlag hat das Allerhöchste Erzhaus, die Monarchie und ihre Völker betroffen und die Gemüter im tiefsten erschüttert. (WienerZeitung) <?page no="210"?> 210 Vedad Smailagic Man kann das Ungeheuerliche gar nicht schaffen. Unser Erzherzog-Thronfolger, der Mann, an den die Völker des Habsburgerreiches all ihre Hoffnungen, ihre ganze Zukunft gehängt haben, er ist nicht mehr. (Reichspost) Bei diesen Sätzen, die in dieser Form in den meisten Zeitungen Vorkommen, können wir einen auffälligen Gebrauch von Lexemen wie Opfer, grausam, ungeheuerlich, Schauer u.Ä. feststellen. Der Gebrauch der expressiven Ausdrücke kann einerseits als Ausdruck der Einstellung von Emittenten selbst stehen, andererseits zeigt uns der Gebrauch dieser stark wertenden Lexeme, die im Vorfeld der eigentlichen Nachricht Vorkommen, dass sie als Interpretationsanleitungen verstanden werden wobei eine sehr gefühlsbetonte Leseart und konkrete Wertung gemeint ist. Es wird kein Raum gelassen für eine andere Interpretation, denn alle Rezipienten sollen das Attentat so verstehen und mitempfinden. Solche drastischen und direkten Formulierungen sollen den Leser emotional beeinflussen, indem er z.B. traurig, und wütend wird. Solche Gefühle sind die erste Wirkung, die diese Texte auf die Rezipienten ausüben. Opfer und Täter Dass der Thronfolger als Opfer bezeichnet wird, ist zunächst sehr nachvollziehbar, aber im nächsten Interpretationsschritt sucht der Rezipient gleich nach einem Täter. Somit wird die Dichotomie Opfer - Täter konstruiert. In den Zeitungen vom Tag nach dem Attentat werden beide charakterisiert. Das Opfer ist an sich schon bekannt, trotzdem wird der Thronfolger in den Texten folgendermaßen beschrieben: Freund des Landes (Bosniens), der neugeborene Stammhalter, das Blut von 112 Ahnengeschlechtern, mutig (hat die erste Bombe zurückgestoßen, küm m ert sich um andere, h a lf Armen, sehr intelligent, gläubig (Ferdinand der Katholische genannt), Zukunft, gut gesinnt den Südslawen gegenüber u.Ä. Der unbekannte Täter, Gavrilo Princip, dessen Name, Herkunft und Lebenslauf schon gleich an dem Tag bekannt gemacht werden, wird m it folgenden Formulierungen dargestellt: Bube, Südslawe, Anarchist; Fanatiker, ein Serbe aus Bosnien, 19-jähriger Gymnasiast aus Grahovo, Serbe, fana tisch, zynisch, serbischer Abstammung, unselig, großserbischer Irredentist, der in Belgrad zur Schule ging. Damit wird m it der Dichotomie Opfer - Täter auch die Dichotomie von Gut und Böse konstruiert, wobei m it Gut der Thronfolger, jedoch stellvertretend für Österreich und die Österreicher, und m it Böse Gavrilo Princip eben metonymisch für Serbien und Serben gemeint sind. <?page no="211"?> Eine Untersuchung der Berichterstattung in deutschsprachigen Zeitungen 211 Diese Dichotomie wird durch weitere Formulierungen etwas verändert. Auffallend ist nämlich das Vorkommen der Pronomen der ersten Person Plural wir, uns, unser usw. Noch sind wir betäubt von der furchtbaren Schreckenstunde, die heute gleich einem Blitzstrahl aus heiterem Himmel auf uns niederfuhr. (Das Fremdenblatt) Unser Thronfolger, m it ihm teilen wir den Schmerz und von ihm hoffen wir [...]. (Bukowiner Post) Dieser Gebrauch unterscheidet sich vom w ir in früheren Ausgaben dieser Zeitungen, z.B.: Wie wir erfahren Vom Festausschüsse werden wir um Aufnahme folgender Zeilen ersucht. (Linzer Volksblatt 27.6.1914) Hiermit war meist der Bezug auf die Redaktion oder den Autor gemeint. Das Wir nach dem Attentat indessen spricht alle österreichischen Leser an und lässt eine Art Gruppenzwang entstehen. Damit werden die Leser mobilisiert, das gleiche Empfinden und die gleiche Meinung m it den Zeitungen zu teilen - Wer bei dieser Nachricht nicht traurig ist, sich nicht betroffen und auch persönlich angegriffen fühlt, gehört nicht zu uns oder Werzu uns gehört, muss bei dieser Nachricht traurig und wütend sein. M it diesen Formulierungen wird die Dichotomie etwas anders konstruiert: wir versus die Serben, wobei m it w ir zunächst die Bürger Österreichs gemeint sind. Aber durch weitere Formulierungen, nämlich Extrem-Formulierungen, wird der Kreis derjenigen, die das Pronomen w ir einschließen, erweitert. In der Berichterstattung vom Tatort finden sich solche Sätze: Die beiden Attentäter wurden von der Menge beinahe gelyncht. (Innsbrucker Nachrichten) Die erbitterte Menge hat die beiden Attentäter nahezu gelyncht. (Arbeiterzeitung/ Arbeiterwille) Dies ist eine Formulierung, die in beinahe allen Zeitungen vorzufinden ist. Die Bedeutung von Menge ist zunächst eine große Zahl von Personen, die nicht näher definiert wird, so dass man sich darunter alle Personengruppen in Sarajevo vorstellen muss. Diese Menge ist gegen den Attentäter und damit implizit auf der Seite Österreichs. Sie steht für die Sarajevoer bzw. für die Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina. Der Täter wird aus der bosnischen Menge isoliert. Da der Täter Serbe ist und die Menge Bürger Bosnien-Herzegowinas, entsteht hier der Eindruck, dass jene Bürger, indem sie auf der Seite Österreichs sind, auch durch wir mitgemeint werden. <?page no="212"?> 212 Vedad Smailagic Damit werden sprachlich die Südslawen voneinander gespalten. Das geht auch weiter, wenn z.B. von Demonstrationen in Zagreb berichtet wird: Nieder m it den serbischen Mördern, an den Galgen m it ihnen, nieder mit der serbisch-kroatischen Koalition. (Linzer Volksblatt) Für die österreichische Berichterstattung in diesem Moment ist es besonders wichtig, das zu dem Zeitpunkt immer stärker werdende Gemeinschaftsgefühl der Südslawen ins Schwanken zu bringen, damit die Serben von anderen Gruppen isoliert werden. Solche propagandistischen Formulierungen in den Zeitungstexten gleich nach dem Attentat mit dem Ziel, die Serben sprachlich als isoliert, allein gegen alle darzustellen, nehmen durch die Extrem-Formulierungen an Intensivität zu: Ein großer Trauertag fü r alle Völker des Reiches. (AIlg. Tiroler Anzeiger) Tiefgebeugt, ins Innerste getroffen, empfangen die Völker der Monarchie diese grausame Fügung. (Wiener Zeitung) Ihren Schmerz teilt die ganze gesittete Welt, die einig ist in dem Abscheu vor dem unmenschlichen Verbrechen [...]. (WienerZeitung) Alle Welt steht unter dem erschütternden Eindrücke der Kunde von dem verruchten Attentate (Deutsches Volksblatt) Der ganzen Menschheit Jammerfasst uns an. (TirolerAnzeiger) M it ihrem untrüglichen Instinkt erwartete die Menschheit Bedeutendes von diesem Erben. (Pester Lloyd) In diesen Sätzen werden Konstruktionen wie alle oder die ganze Welt erweitert durch Partizip-Adjektive wie gesittet oder zivilisiert gebraucht, um dem Rezipienten deutlich zu machen, dass Österreich die Unterstützung der ganzen Welt besitzt, während Serbien allein bleibt. Die Emittenten nutzen die Sprache, um zumindest und zunächst sprachlich, die Südslawen zu spalten, aber um auch die Serben aus der internationalen Gemeinschaft zu isolieren. Es war Serbien Parallel mit der Argumentation in Richtung einer Spaltung der damaligen europäischen Gemeinschaft werden auch implizite Argumente präsentiert, die beweisen sollen, dass hinter dem Attentat eigentlich der serbische Staat steht. Diese Argumentation beginnt mit der fast ausnahmslosen <?page no="213"?> Eine Untersuchung der Berichterstattung in deutschsprachigen Zeitungen_____ 213 Identifizierung der Attentäter als Serben, auch wenn die Formulierungen ganz unterschiedlich sind: Es ist eine Bombe serbischer Faktur. (Neues Wiener Journal) Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, daß es sich um serbische Einflüsse handelt. (Illustriertes Wiener Extrablatt) Die Bluttat ist in Sarajevo, in der Hauptstadt Bosniens, erfolgt und derjugendliche Mörder ist ein Serbe. Und es wurden zwei Attentate verübt. Beweis genug, daß es sich bei dem Mordanschlag, [...] nicht um die Tat eines einzelnen Wahnwitzigen handelt, sondern offenbar um eine planmäßige Verschwörung. (LinzerTages-Post) Ein zweites Attentat - Eine serbische Verschwörung. (Linzer Volksblatt) Alle drei hatten abgetragene Kleider an und trugen die serbische Trikolore im Knopfloch. (Neue Freie Presse) Wird das Wort serbisch benutzt, dann relativ oft serbisch-nationalistisch und serbisch-irredentistisch. Das Neue Wiener Journal führt ein sehr merkwürdiges Argument an, indem dort von einem Zeugen berichtet wird, der zwei Männer gehört haben will, die sich in "serbischer Sprache" über das Attentat unterhalten hätten. In der Anlehnung an Wengelers Topos-Analyse8 meint Stein, dass die Begriffe nicht isoliert auftauchen, "sondern gerade im Bereich der politischen Kommunikation häufig in bestimmte Argumentationsmuster eingebettet sind [..]"9. Folgen wir dieser Meinung, so können wir schließen, dass diese häufige Nennung von Serben als Argument gebraucht wird, und zwar dafür, dass hinter dem Attentat das politische Serbien steht man kann dies als Flerkunfts-Topos bezeichnen, nach dem Modell: "Weil die Mörder Serben waren, stehen alle Serben hinter dem Attentat." Laut Wengeler muss ein Topos meist nicht explizit ausgesprochen, sondern vom Textrezipienten interpretativ erschlossen werden10. Er muss nicht unbedingt etwas mit der Wahrheit zu tun haben, sondern lediglich plausibel und überzeugend sein.11 Die Topos-Analyse in einem Diskurs bringt Aufschlüsse über kollektives, gesellschaftliches Wissen, welches im Rahmen thematisch bestimmter öffentlicher Diskurse, bspw. was das Attentat ist, entweder explizit zum Ausdruck kommt, oder in sprachlichen Äußerungen 8 Cf. Wengeier, Martin: Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985). Tübingen: Niemeyer. 2003. 8 Stein, Christina: Die Sprache der Sarazzin-Debatte. Eine diskurslinguistische Analyse. Marburg: Tectum 2012, p. 24. 10 Vgl. Wengeler 2003, p. 181. 11 Stein 2012, p. 26. <?page no="214"?> 214 Vedad Smailagić in Texten als verstehensrelevantes Hintergrundwissen zugrunde gelegt und evoziert wird.12 In einem Diskurs werden also nur diejenigen Argumente vorzufinden sein, die eine Gesellschaft oder eine Kultur kennt, versteht und akzeptiert. D.h., die Formulierung des Typs weil die Mörder Serben waren, stehen alle Serben dahinter, ist ein Topos, der damals überhaupt möglich und den Rezipienten zumutbar war. Dieser Topos ist allerdings doch etwas schwach, denn im politischen Diskurs sollen politische Akteure angegriffen werden, also Serbien als Ganzes, und nicht das Volk als solches. Daher reicht dieser Topos allein nicht als Argument dafür aus, dass dahinter der serbische Staat steht, und es werden weitere Topoi in den Texten konstruiert. Die ethnische und die Herkunfts-Bezeichnung des Täters werden oft durch Bezeichnungen wie jung, 19 Jahre alt oder Schüler und Gymnasiast ergänzt. Viele Anzeichen aus den letzten Jahren weisen daraufhin, daß namentlich die serbische Jugend ganz unterwühlt undfanatisiert ist. (Linzer Volksblatt) Indem das junge Alter des Täters und sein damals doch hohes Bildungsniveau so ausführlich und intensiv beschrieben werden, wird der Topos des gebildeten Revolutionärs konstruiert. Solche Leute waren politisch interessiert, ideologisch stark geprägt und auch gut organisiert. Eine Verbindung, eine Institution oder am wahrscheinlichsten ein ganzer Staat muss hinter ihnen stehen. Der Topos, der also als Bildungs-Topos hier konstruiert wird, lautet: "Weil sie jung, gebildet und fanatisch sind, ist es eine Verschwörung." Auch dass es mehrere Mord-Versuche gegeben hat, was immer wieder thematisiert wird, soll die Verschwörung beweisen. Hinter der fanatisierten, gut organisierten und gebildeten Jugend muss jemand stehen, der dafür verantwortlich ist. Es ist eine sehr gut organisierte und geplante Verschwörung. In den von mir analysierten Texten lassen sich auch andere Formulierungen finden, deren Ziel es ist, den Serben die "Neigung" zum Königsmord und zur Verschwörung zu unterstellen: Und nach knapp vierundzwanzig Stunden hat sich in Sarajevo eine Fürstentragödie abgespielt, von solcher Schaurigkeit, wie sie vielleicht nur noch den Königsmord in Serbien begleitete. (Neues Wiener Journal) Die von mir im Laufe der Arbeit erkannten Topoi der Herkunft und der Bildung des Attentäters zusammen mit weiteren in den Texten belegten Formulierungen sollen den Rezipienten implizit suggerieren, dass die Serben 12 Wengeier, Martin: Topos und Diskurs- Möglichkeiten und Grenzen dertopologischen Analyse gesellschaftlichen Debatten. In: Warnke, Martin (Hg.): Sprachgeschichte als Zeitgeschichte. Hildesheim/ New York: Olms 2007, pp. 185-236, hier p.165. <?page no="215"?> Eine Untersuchung der Berichterstattung in deutschsprachigen Zeitungen ___ 215 Königsmörder und Verschwörer per se sind und dass hinter dem Attentat auf den Thronfolger eine Organisation steht, was weiter suggeriert, dass das politische Serbien daran beteiligt gewesen sein muss - und sei es nur als Mitwisser. In den Texten werden keine konkreten Beweise genannt, sondern Serben charakterisiert, d.h. allein der serbische Charakter ist der Beweis für deren Schuld. Manche Formulierungen werden auch expliziter, so dass sich, selbst wenn bei der ersten Nachricht vom Nachmittag des 28.6. über den Mord z.B. in der Salzburger Chronik nicht gemutmaßt wird, wer hinter dem Mord steht, schon am nächsten Tag folgende Formulierung findet: Ganz Oesterreich und m it ihm die gesamte gesittet Welt steht unter dem niederschmetternden Eindrücke, den die verruchte Mordtat am Sonntag in Sarajevo überall hervorrief. Es ist selten ein Mord vollbracht worden, der so fluchwürdig und so unnütz war, wie dieser. Selbst derfanatischste serbische Nationalismus sollte noch so viel Einsicht haben, daß die Ermordung des Thronfolgers unserer Monarchie unmöglich den serbischnab'onalen Bestrebungen nützen kann. Aber die Serben sind im höllischen Hass gegen alles, was österreichisch ist und heißt, hineingesetzt worden; Rußland hat in Belgrad und von Belgrad aus den Haß der Serben bis zur Siedehitze geschürt, und wenn sich in Sarajevo eine serbische Mörderbande bilden konnte m it dem Zweck, den Thronfolger Oesterreich-Ungarns zu ermorden, so laufen die Fäden, an denen diese Bande gelenkt wurde, zweifellos nach Belgrad und darüber hinaus. Dieser Textabschnitt lässt keinerlei Zweifel, dass Serbien (und darüber hinaus Russland) dahinter stecken. DerText ist so formuliert, als würden schon alle wissen oder zumindest denken, dass Serbien für das Attentat verantwortlich ist und es nur noch eine Frage der Folgen und nicht mehr der Täter ist. Das führt auf der Rezipientenseite dazu, dass der Verdacht auf Serbien als bewiesen verstanden wird, auch in anderen Texten: ... es muß dies offen ausgesprochen werden die eigentlichen Schuldigen sind nicht die zwei Meuchelmörder, sondern die wirklich Schuldigen sind die Leiter und Schürer jener seit den Balkankriegen so maßlos auftretenden großserbischen irredentischen Agitation, denen die Zerstörung des Donaureiches das einzige Ziel und Streben ist. (Innsbrucker Nachrichten) Das Attentat scheint die Gelegenheit zu sein, um es offen auszusprechen, was wohl alle schon denken. So werden Serben bzw. Serbien, auf das/ die unterschiedlich metonymisch referiert wird, als Täter und die Donaumonarchie, für die in diesem Moment der Thronfolger metonymisch steht, als Opfer dargestellt. Zumindest für die österreichische Öffentlichkeit ist hiermit alles eindeutig klar. Damit war die propagandistische Absicht, die eigene Seite von einer Idee zu überzeugen, vollbracht und die Unterstützung aus den eigenen Reihen schien gesichert. <?page no="216"?> 216 Vedad Smailagić Fazit Anhand meiner kurzen Analyse konnte ich feststellen, dass die Sprache der Berichterstattung zum Attentat auf den Thronfolger am 28.6. und 29.6.1914 sehr expressiv und sehr suggestiv ist. Sie zeichnet sich durch zahlreiche bewertende Formulierungen sowie Extremformulierungen aus. Wenn wir uns an die Einteilung von Aussageweisen von Kroppach erinnern, dann sollen die von mir untersuchten Texte zu tendenziell repressiven Aussageweisen gehören d.h. die Texte sind stark subjektiv, was in dem Maße vorhanden ist, dass es einem sehr schwer fällt, die Fakten von Wertungen zu trennen. Wie gezeigt, wird über das Attentat nicht objektiv, sachlich sondern sehr subjektiv, emotional und expressiv berichtet. Es werden sprachlich zwei Seiten konstruiert; dabei werden Serben als die Bösen dargestellt, die wiederum isoliert vom Rest Europas da stehen (mit noch nicht gewisser Unterstützung Russlands), während die ganze Welt auf der Seite der Guten, der Österreicher ist. In Anlehnung an Neubert13, der 1974 seine Überlegungen zur Sprache und Geschichte präsentierte, kann gesagt werden, dass aus der Sprache, der sich die Menschen bedienen, welche Wörter sie benutzen, und welche neuen Bedeutungen, welche Wertungen, emotionale und voluntative sie in einem konkreten Text ihren Wörtern geben, das Wesen einer historischen Situation erkannt werden kann. Demzufolge zeigt uns die Analyse der österreichischen Zeitungstexte vom 28. und 29.6. 1914 nicht nur, dass die Situation sehr emotional war, sondern auch, dass die Zeitungen wesentlich dazu beigetragen haben, dass schon gleich am Anfang der sogenannten Juli-Krise Serbien sowohl implizit als auch explizit als der Schuldige abgestempelt wird und zwar nicht, weil die objektiven Beweise das zeigen, sondern weil die Serben an sich sowie ihr Staat wegen ihrer Charaktereigenschaften dazu bereit sind. Aber die Leser sollen auch davon überzeugt werden, dass die ganze Welt das so sieht, wom it die zukünftigen Schritte der k.u.k.-Regierung im Voraus als notwendig, legal und legitim gerechtfertigt werden. Auch wenn manche vermuten würden, dass die erste Berichterstattung über das Attentat nur informativ war, konnte die genauere Analyse doch zeigen, dass diese Texte sehr appellativ sind und bei den Lesern einen starken Einfluss ausüben sollten. 13 Neubert, Albrecht: Überlegungen zum Thema Sprache und Geschichte. In: Linguistische Arbeitsberichte 10 (1974), pp. 78-87, hier p. 85. <?page no="217"?> A dela F ofiu (C luj ) Rene Girard's m odern apocalypse A Case Study on the fears of 1914 in the Romanian print media from Transylvania This research develops an exploratory study of apocalyptic narratives re: interethnic themes in periodicals published in the province of Transylvania a site of prolonged nationalist struggles between two cultural worlds, Flungary and Romania developed through media accounts of the events in Sarajevo in the beginning of the FirstWorId War. A hundred years after the outburst of the Great War, western cultures have experienced other media discourses on the apocalypse: the Mayan 2012, the apocalyptic fears of peak oil, the survivalist fear of the global crisis of 2008. This repetition has brought to my attention the apocalyptic fears, since war, even more so on a global scale, is a tangible form of the apocalypse both as termination, for some, and as change, for others. I thus use Rene Girard's theory of mimetic violence to discuss the media coverage of the shots of Sarajevo. In this context, by the means of content analysis, patterns of inter-cultural contact are explored and will be further used in a larger project developed by the Institute for Global Studies at the Babes-Bolyai University: Clash o f Civilizations or Peaceful Co-evolution? Intercultural Contact in the Age o f Globalization. This larger project aims at creating a transdisciplinary theory of intercuItural contact, through analyzing historical, archival and online records of intercultural relations in Transylvania and Banat in 1867-1927, with the support of artificial intelligence and computer modeling. Introduction Rene Girard's work is well known nowadays as a strong contribution to the anthropology of religions. Still, as he notes himself, most of his analysis and critique of Christianity focused not on the religious factor itself but on how violence has evolved into an essential component of modernity through religion and inter-denominational contact. Violence, for Girard, is endemic and ubiquituous, since it grows through mimesis. In this essay, I discuss the media representations of the shots of Sarajevo and the advent of the Great War in Transylvania as apocalyptic, as framed by and built on fears of the revelation of the end. I also use Girard's theory of mimetic violence to dis- <?page no="218"?> 218 Adela Fofiu cuss why the sacrifice from Sarajevo started a "total war",1instead of healing violent outbursts. Girard interprets sacrifice in archaic communities as cathartic for violent impulses, as vital for harmony and peace. Why did the shots of Sarajevo escalate into violence, then? The Great War, in this sense, was the first glimpse of what the modern man-made apocalypse can look like. Girard himself was overwhelmed by his own theory of mimetic violence and became pessimist when he comprehended that "technology in the twentieth century made apocalyptic war indisputably possible."2 In his book, Je vois Satan tomber comme I'eclair, Girard gives voice to his pessimism: "A somewhat careful examination shows us that all that can be said against our world is true: it is, by far, the worst of all."3 This is so because humans no longer have the possibility, nor the capacity to control and limit their violence. The desacralized modern world has lost the balancing mechanism of sacrificial rituals. Violence can flow freely, unrestrained, unchanneled. In a world in which imitation is the hard wired reactive behaviour, this is a recipe for disaster. In an archaic community, violence, as channeled through rituals, produced the feeling of sacredness. Nowadays, violence only reproduces itself. This is why Girard envisions in his analysis of Clausewitz's On War that armed conflicts in the twentieth century are apocalyptical.4They have the capacity of becoming "ideal wars", "to tal wars", in which the opponents are entirely focused on destroying each other. In previous armed conflicts, war was always restrained by social dynamics, by politics, by cultural limitations. Modern warfare, however, goes beyond defeating the enemy: it asks for the enemy to be destroyed.5 This is a strong premise for how the Great War evolved, eventually, a hundred years ago. But, stepping outside politics and adopting a larger perspective on our modern history, we need to ask an important question: why did the sacrifice of Franz Ferdinand start a war? Why were the Sarajevo Shots perceived as apocalyptical? In order to answer these questions, I interpret the media coverage of the Sarajevo Shots in front page articles in the Transylvanian periodicals Romanul (published in Arad) and Unirea - Foaie bisericeascä §i politico (published in Blaj).6 1 Cf. Reineke, Martha J.: A fterthe Scapegoat. Rene Girard's ApocaIypticVision and the Legacy of Mimetic Theory. In: Philosophy Today, vol. 56, no. 2 (2012), p. 141, available via Questia. 1 Ibid. Girard, Rene: Präbujirea Satanei. Bukuresti: Ed. Nemira, 2006, p. 189, my translation. 1 Girard, Rene: On War and Apocalypse, online (August 2009), available at http: / / www.firstthings.com/ article/ 2009/ 08/ apocalypse-now, accessed on 25.05.2014 Reineke 2012. 6 This work is supported by the Romanian national research project Clash o f Civilizations or Peaceful Co-Evolution? Intercultural Contact in the Age o f Globalization, financed by the National Authority for Scientific Research, CNCS - UEFISCDI. Project identification PN-II-ID- <?page no="219"?> A Case Study on the fears of 1914 in the Romanian print media from Transylvania 219 Amrt IV - Аи^втг Arad, MtiH 1)14 lulle 1914. Pe uo u i . 40.—Iranci T « U l i ) pealru oraj •>iatxrajbxo Kr TM- __ ROMANUL Nr. 142 CTCTfTt... A D M IN IS T R A T IA St-t-dx Zrinji M-rnl 1/ x INSERTIUNILE ИPriBMC U utmlnt- VgItBBiIe poMoeti Let J tK h ii CBiti «(nil 20 (! I A j i u g f e c v ..IdtOBtnltle de r ip Xceall. Ild t C. Ci poporol romin dolB*tit. »Л i f bocciie. Deocaradaii uzeli coniine dla TransOvanla b x t ! si Nsslim i idtlDdaiarex Ctnrti Л - Ätv. Rob ' Vestea atentataludda Serajevo a tost prlm itflcu diieritc tcaneiste Ia diferitele neamuri ? i grupSri de ineese politice in Europa, ia r urm flrile M i fost calculate In fei $i chip. Presa din Qermaii, — spre Iauda Qermaniei fie zis, nu tcnai cea mai serioasä, — gäseste cä tripla lanja nu mai are rost. Constatarea aceas«4 Indemn Qermanilor re a lis ti, čari spuneatfl fdnä acum, cä trip la alianfä eto iluzie, si ilncaz de conflict Germania se va trezl ce giavä dezrluzie, sä izhucneaacä färä jenä„Oit das er to t is t! ” Presa ruseascä niiicÄ. Presa francezä geieroasä. Prosa italianä : ce* englezä vorbesc, academic dar cu m il iguranfä, de o apropiatä parcdare a nnahiei. Presa särbeascJWträ, рго»и«%л «i «имnm|ä, asemenea zinio „m ondiale" dm Vleпа $i din Budapes, i spirate de guvernde lor, sau de prosti priprie. In ora$de ma- Kfiiare. chiar si ln .Jaml nostru, lucnea maghiarfl s’a pus pe cefri. Ia vestea atenfatului. Scenele dln pa^Rntul budapestan sunt cunoscute. Presa romän<s<ädin Ardeal1 Ungarla Si Bucovina —. b<4t Pe c flt de sellWft sunt aocentele presei i b o c e t e l e ! germane, $i frivolitatta presei sflrbesti $i a parlamentului „maghiar", pe atflt de nebärbätesti sunt bocetele in trim irilo r si a presei noastre. O singurä scizä mare au de: Iirea espanzivä si sincerä a rassei romflne. Dar bocetele noastre trebuie ncapärat Iflmurite; almintrea s’ ar pärea, cä noi ne-am perdut capul cu desävärsire, si cä am descurajat si nu mai stim ce sä facem. Nu-i asa. N’am descurajat si nu ne-am pierdut firea. $thn foarte bine ce avem de fäcut; calea, pe care avem sä urmäm, stä luminoasä fnaintea noasträ. E o cale cunoscutä. E calea cea veche. Atentatul dda Serajevo, a adus el oarecare schimbare In s itia jia noasträ de axi? N'a adus nici o schimbare. Dacä poate fi vorba de schimbäri. itu n c i numai asteptärile noastre d in v iito r au suferit o simtitoare atingere. Dar situafia de azi rämflne acoias. Si* rämflnänd situafia, rämflne sl ati- Iudinea noasträ In $i ft f ä de ea. V'/ Tvem decät sd continuäm ca arm ele de lu p td de pdnd a a m , pe ie re n u l de lap td, pe ca re ne-am rds b oit pdnd axi. S i nu vorbim deci de zflpäcealfi, de perdere de cap, de neorientare. Am ajuns Ia räspflntie, sl trebuie sä alegem: Ia dreapta sau Ia stflnga? Nu. Umblflm pe-o cale veche, pe-o singurä cale, pe care am sträbätut’o de jumätate, poate am stribätut’o aproape chiar Intrcagfl. M ergern pe aeeia$ cole, Inainte/ A r putea fi vorba de-o schimbare a situaflei, dacä in urma atcitatului s’ ar face o schimbare in sistemul de guvernameet, Inspre mai räu. Decät o schimbare In spre mai räu n’a urmat §i nu va urma. De una, nu. pentrueä mai räu decum e, nici cä se mai poate. De alta, nu, pentrueä astäzi oricare politician maghiar, orieflt de sovinist si de necopt ar fi, I$i dä seama. mstinctiv sau prin lafionament. cä o politicä de opresiune ad extremis inseamnä accoerarea terapeuticä a descompunerii! § i asta nu o vrea nici un politician maghiar, cäci prin descompunerea monarhiei noi, Romflnii $i slavii, pierdem foarte pufin, Qermanii pierd ceva? mai mult, Maghrarii insä pierd — foarte mult, pierd totul. Kärolyi, Justh, Andrässy, Tisza et tu tti quanti, stiu foarte bine, cä dacä diplomafia europeanä vorbetfe azi de monarhia austro-ungarä ca de al doilea „ m a re boln a v " , de Ungarla In dependentd si im p ila to are va vorbi Ia capitolul nortaütäfii infantile... latä de ce opozjfia maghiarä se iasä bucuros Infrflntä, iatä de cc, astdxi poiiticiariii maghiari, rflnd pe rflnd, devin dualisti „convinsi” , ? i iatä de ce, ca m dne, cu siguranffl se va gäsi un partid maghiar, nesträin de ideile federaliste. Instinctele popoarelor desteaptä m mod biologic, deci in mod fatal, o politicä de conservare. Iar dacä nu? ... Pentru aceste motive nu trebuie sä primim seriös ameninfärHe Iui Tisza, etalate In ultimul consiliu de ministri, despre care ne vestea scrisoarca din Viena, publicatä ln numärui nostru de Sflmbätä. T ot pentru accste motive nu este iertat sä ne Ifisflm ademenifi de politicä. ce urmeazfi guvernul Tisza faffi de noi, tn vremea din irm fi, p o litic i care t Dnirtl P kc MI i . Dr. 0 . QhltNi. Numanrl ultlni i , Cunvorblrllor Ilierare'' a adeverit svonul rjpe care Pam auzit acum vre-o douä säptätl Säliste. In adevfij profesor dcla Bi vH... ID. PuschUa ei oameni säraci, cu dln satul lor, *u vflrsta de 7—8 In satul meu i____... litru Pusclilla, tflnärul l>i nu mai e prlntre cei rar din Sfiliste. Copil de a lost siliti sä emigreze Ila a pflrflsit SÄJ/ stea Ia cirflnd dupfl ce IntriS In ilii sflu, de care a räinns Ii moerte. In Bucuresli ...— ... — iituatle foarte modestä, Puschiia a urmt I ul, IndurAnd Iipsuri pestc lipsuri. de car In nn s'a plflns nici cflnd. Vara, n vacant, mit imeori sä-sl revadfi satul »I putinck ( erli, carl nhiu emtgrat. Hrinlre noi .,StdsJ' de acum 10-12 anl aparlfla Iu Push/ trezea totdeauna simpatil sincere si amiaita k i a rflmas via prlntre top cel de-o scu cu «V La 1905 s’a Ip ll la umversitatea dln Bucurestl, sectia fcofko. Clne nu-i cunoVea mai de aproapeÜ n i r fi bflniUt de cfltfl In- Ielegere $1 de c t rflvai era capabil acel W ita j pläpänd, C! m> Iaica totdeauna impres'a de slab hrfin it.ir n’a trecut un an sl profesoru Iul l-au gäP »coala prim ari i legat suüetestepä Ii und« DArintH ata §l-a Ierminat apoi iiudille universitäre *1 a Iuat o catedrä Ia nn stiu rare Ilceu. unde а Iunctionut vr’o J - . i am. In aerst timp a continual sä lucres« pe UronuI ! Kolo»; ! «! , afirmiindu-se ca un muncitor original sl metodic. „ Dotut cu c d mal desävflrsit spirit de obs^rvafiel capabil de concentrare sulleteascä Intr'un grad superior, Puschila a lost cel mal distins dev al Universität! ! din Bucaresti In ordinea pregätirii Iilologice In domeniul romanic $1 gerinanlc” , — dupfl cum zice d. D. Stefänescu In „Convorbiri llterare" (i* . 579 a. c.) n'a lost mirare deci, dacä ministerul de culte si instructlo Ta Iuat dda catedra sa pc accst tflnflr, care ce c drept publlcase pflnfl aci abia un stndiu ln „Anuarul de Geografie” ; i ccva In „Convorbiri Iiterare'', — si l'a trimis sä studieze mal departe, Ia Berlin. In capitata Oermaniei tflnärul filolog a Iucrat mai muh pentru pregätirea Iul metodlcä. deeflt penlru a se Inloarce cu Iucrflri gata. Dar iatä cä, toemai cflnd se apropla de sfflrsitul studiilor sale strälucite, trebuind sä se Intoarcä pentru cfltäva vreme In tarfl, tn orum J a granitS, o IntArziere neprev&zutS, frigul, — o pneumonic gräbitä" — Ii pune capflt zilelor... La Iocul prim „Convorbirile Iiterare" dln Mal a. c. aduc un studiu postum alui PnscitUa despre „Purca de tors". E o lucrare. care va pilstra nutnele tflnärulul ei autor de abia 26 de anl. prlnlre reprezentanfl: cei mal devotafl al Stiinfd romflnesti. Dormi In pace, scumpe prieten! Amintirea ta va rämänea Intre pufinii cari te-au cunoscut Si iubit. Sibliu, 27 Iunie 1914. Sonet. Am strdtfdiut sl eu de-alung Ddmdntut In Koand oartfd diipd lertclre, In suJlet pard, Iar In s in d nestlre, Po m ll sä-ml oflu proda sea mormdntuL In calea mea Intrat am In palate Strdlacltoare, pllne dt lamlnd $1 In bördele stunde, fr» rulnd; Bdtat-am cdt pustit ; f seumblate. SI m'am Inters Ia vatra mea uttatd SI lnima-ml stdlea sd n t se spargä In van cäuldnd norocu n Iumea largd. SI IstovJt de dramul lung. Oe odaid Un Nor ndprainle Im l treeu prin vtne... Sl-atuncI aflat am IeHdrea 'n mine. I o m AI. <fo L«m«ny. Romänul, periodical published in Arad, Romania (1911-1938), caption of front page, issue I Julyl914. Available at http: / / dspace.bcucluj.ro/ handle/ 123456789/ 16376 PCE-2011 -3 -0 7 7 1 .1thank ProfessorSpariosu for his support. I also thank the CENDARI (Collaborative European N etw orkfor Digital Archives and Research Infrastructure) team of the Long Room Elub Arts and Elumanities Institute at Trinity College Dublin for their supportive feedback on this work during my study visit. <?page no="220"?> 220 Adela Fofiu АлиЈ X X IV . B la j, M a rti 30 Iu n ie 1914. N u m a ru l 66. A B O N A M E N T U L Pcatru m o n s r h i c : f t i n 18 co r V» on ♦ cor. 1 4 4 '5 0 fil. ■ B Pentru s t r A in A t a t c : Pe nn an 24 согоадс 'I, Sn 12 cor. Vt s o 6 corosne. INSERTION! . U n $tr g a r m o n d : o d a ti 14 fil.. a dotta oarA 12 fil., a trci* o a ri 10 fil. Toe cc p rirc ftc foara s i sc adrcsczc la: Redacfiunea fi adm ini. siratiunca .U n i r e i* in Blskf. Foaie bisericeascä'politicä. — A p are: Marta, Joia $i SAmbAta. Asasinarea mostenitorului nostru đe tron. N« ni s'a dat incä, sä inregisträm un atentat atät de infam, o tragedie atät de sguduitoare, ca aceea ce s'a desfäfurat Duminecä, in Serajevo. Mostenitorul noetru de tron F R A N C I S C F E R D I N A N D fi sofia sa, arhi* ducesa S O F I A de H O H E N B E R G , au cäzut victima unui atentat, cu ocazia manevrelor, ce s’au terminat acolo, cu sfärfitul säptämänii trecute. Bätränul nostru Monarh, dupä o boalä atät de primejdioasä pentru värsta Lui, a fost destinat de soartä, sä indure, Ia adänci bäträneje, fi aceastä loviturä. N 'au fost de ajuns nenorocirile, ce s'au descärcat asupra acestui cap inco* ronat? A trebuit sä urmeze fi acest act sängeros, pentru a turbura, Incä odatä, liniftea senilä a Domnitorului, asupra cäruia s'au descärcat, cu nemiluita, cele mai groaznice lovituri, ce pot sä ajungä pe un om pämäntean? Stäm Incremeniti in fafa acestei nenorociri, ce s'a descärcat asupra noasträ, ca un träsnet din senin. Incercäm sä ne reculegem, sä infieräm dupä vrednicie pe criminal; sä scormonim toate amänuntele acestei tragedii, cu urmäri incalculabile. D ar nu putem. Judecata ! impede a realitäfii ni se intunecä; ne simfira cutropiti, sub povara unei nenorociri, ce ne*a venit färä veste, cum vin toate nenorocirile. Resimtim — in aceste clipe de grea Incercare — tot entuziasmul, cu care pärintii fi sträbunii noftri fi*au värsat sängele pentru „patrie fi impärat“. Ne gändim Ia toate nädejdile frumoase, ce ni»le fäuriam, in legäturä cu urcarea pe tron a Clironomului, in cea mai maturä värstä a bärbäfiei Lui — fi nädejdile aceste ni-se spulberl acum, ca un vis de dimineafä, ca un nour ce se distramä... Concretizäm, ln douä vorbe durerea noasträ: „Flere possumus! . . Aceste douä cuvinte ezprimä tot ce putem spune, in clipa acestui cataclism, ce ne»a sguduit adänc. Ele vor tälmäci neclintita alipire a neamului nostru pentru tronul habsburgic, doveditä — in eure de atätea veacuri — cu cele mai gräitoare pagini ale istoriei. Elc ne vor face sä uitim — in aceste zile de obfteascä fi nefäfäritä jale — tot ce am indurat vreodatä; fi vor aduna in preajma aceluias sicriu pe tofi fiii patriei noastre. Vom avea, altädatä, prilej, sä ne däm seamä de grozävia acestei lovituH. Acum rämänem, cu capetele descoperite, cu ochii umezi in faja osemintelor — Aceluia, care avea menirea sä conducä — probabil spre un viitor mai fericit — deetinele mult incercatei noastre fA ri! Unireo - Fooie bisericeoscö §i politicä, periodical published in Blaj, Romania (1891-1945), caption of front page, issue 30 June 1914. Available at http: / / dspace.bcucluj.ro/ handle/ 123456789/ 36575 <?page no="221"?> A Case Study on the fears of 1914 in the Romanian print media from Transylvania 221 The apocalyptic cycle of mimetic violence At the core of the cycles of mimetic violence is the scandal/ the conflictual mimetism. It is in scandals that we can see the allmightiness of the collective. The Sarajevo Shots became very soon on the next days, 30 June-1 July 1914s a powerful media event. All important social and political periodicals in Transylvania reported the incident. It is remarkable, then, to observe that the first page articles in the sample I have analysed in our research on intercultural contact as harmony or conflict were opinions about the Sarajevo Shots, not reports. In this sense, the media coverage of the shots contributed to the contagion of the scandal throughout the region. As Girard puts it, scandals elicit a mimetic crisis in which everyone turns against everyone, a critical moment in which the community can be annihilated*9. Indeed, the Sarajevo Shots are reflected in the Transylvanian media as scandalous, as critical: Unirea, 30 June 1914, page I: "Nu ni s'a dot incä, sä inregisträm un atentat atät de infam, o tragedie atät de sguduitoare, ca aceea ce s'a desfä§urat Duminecä, in Serajevo "We have never registered such an infamous attack, such a disturbing tragedy, as the one that happened on Sunday in Sarajevo." The crisis they produce is so strong and so deep, that the order of the world is affected. The shots create chaos, they break the balance and the order of their times. The disturbance is received and reflected as shocking, as creating awe and an emotional standstill, beyond which no action is possible: Romanul, I July 1914, page 2: "Se va isca o tulburealä complectä, o babilonie modema [...]" "There will be a complete chaos, a modern Babylon [...]" Unirea, 30 June 1914, p. I ; "Stam increm ent in fa ta acestei nenorociri, ce s'a descärcat asupra noasträ, ca un träsnet din senin. Jncercäm sä ne reculegem, sä infieräm dupä vrednicie pe criminal; sä scormonim toate amänuntele acestei tragedii, cu urmäri incalculabile. Dar nu putem. Judecata ! impede a realitätii ni se intunecä; ne simftm cutropiji, sub povara unei nenorociri, ce ne'a venitfärä veste, cum vin toate nenorocirile." 1 Giiaid 2006, p. 34-35. * The 28 June issue of Romänul did not cover the Sarajevo crisis. Onlythe next issue, on I July 1914 presented a reaction to the public. 9 Girard 2006, p. 40. <?page no="222"?> 2 2 2 Adela Fofiu "We stand frozen in front of this disaster that has fallen upon us, like a lightning out of the blue sky. We try to recollect ourselves, to punish the criminal; to search for all the details of this tragedy, with unbelievable effects. But we can not. The clear judgement of reality is getting blurry; we feel conquered, under the burden of a disaster that came without notice, as do all disasters." This discourse is both anticipative and reflexive. On one hand, for the authors of Romanul, the crisis has started, there is no turning point and all the community can do is wait for the modern Babylon to happen. As Reineke elaborates, the apocalypse is not limited to destruction, it is also wisdom.10 Wisdom that comes from the revelation of the possibility of the end: the Sarajevo Shots started a crisis, a disorder that will unfold into the future. On the other hand, the authors in Blaj, writing for Unireal construct a different image: those that are far away from Sarajevo, yet not that far, also perceive the attack as a disaster that is already unfolding. Its dimension is incomprehensible, there can be no understanding of how disorder happens and how chaos will affect the community. The future is hidden, inaccessible, yet the present is a pressing burden that conquers and upsets the community. The apocalypse in this discourse takes a dystopian dimension: it is a lived dystopia, it is lived even if the events that have caused it happened in a different space. The apocalyptic narratives in Unirea foresee no possibility for reaction or for recollection. All the community can do is weep: Unirea, 30 June 1914, p. I: "Vom avea, altädatä, priiej, sä ne däm seamä de grozävia acestei lovituri. Acum rämänem, cu capetele descoperite, cu ochii umezi in fafa osemintelor Aceluia, care avea menirea sä conducä — probabil spre un viitor m aifericit — destinele m ult incercatei noastre färi." "Some othertim e, we will have the chance to understand the horror of this hit. Now we stand with our heads uncovered, with misty eyes, before the remains of the One that was meant to lead probably toward a happier future the destiny of our wretched country." The apocalyptic character of the narratives around the Sarajevo Shots is multifold: it reveals the possibility of the end as a result of a sudden crisis; it already unfolds into the present, creating a lived, concrete dystopia; it creates a standstill in which the negative emotions of the crisis are nuanced, nurtured, grown and in which the future, the continuation is passively anticipated. The revelation, thus, comes with sadness, with the need to mourn for a future that did not happen, even before trying to imagine a different future. 10 Reineke 2012. <?page no="223"?> A Case Studyon the fears of 1914 in the Romanian print media from Transylvania 223 Romänul, I July 1914, page I: "Atentatu! deld Serajevo, a adus el oarecare schimbare in situapa noasträ de azi? N'a adus nici o schimbare. Daca poate f i vorba de schimbäri, atunci numai a§tepta rile noastre din viitor au suferit o simptoare atingere." "The Serajevo shots, did they bring any change in our current situation? No, they didn't bring any change. If we can talk about changes, then only our expectations toward the future have suffered a sensible touch." Unirea, 30 June 1914, page I: "Ne gändim Ia toate nädejdile frumoase, ce ni'le fäuriam, in legäturä cu urcarea pe tron a Clironomului, in cea mai maturä värstä a bärbäpei Lui — $i nädejdile aceste ni'se spulberä acum, ca un vis de dimineajä, ca un nour ce se distramä..." "We think of all beautiful hopes that we were nurturing, about the ascendance to the throne of the Heir, in the most mature age of His manhood and these hopes are shattered now, like a dream early in the morning, like a cloud that breaks away..." The crisis affects not only the present, but also the future. The community is well aware of how a critical trigger such as the Sarajevo Shots, can do and undo trajectories. It is interesting and meaningful to observe that the Transylvanian media of 1914 build a deeply emotional discourse about the crisis of the Balkans. On one hand, these emotions are lived at high intensity. On the other hand, the emotional experience is not prolongued endlessly. The discourse in Romanul shows as that the awe is slowly melting down and the community is able to recollect: Romänul, I July 1914, page 2: "[...] insä in scurtä vreme elementele se vor alege. Ndmoiui se va a$eza Iafund, iar apa va curge, lini$tit §i ! impede, deasupra." "[...] shortly, though, the elements will sepparate. The mud will settle on the bottom, and the water will flow, calm and clear, above it." The water will flow, clear and calm the apocalypse will unfold and will restore order in this chaotic world. There is a sense of confidence in a fu ture that will regulate itself, that will rearrange the world which has been disturbed. Or, as the narratives in Romänul break again with victimhood, the community will be the one to regulate the future: Romänul, I July 1914, p. I: "N'am descurajatp nu ne-am pierdutfirea. ^rim foarte bine ce avem defäcut; calea, pe care avem sä urmäm, stä luminoasä inaintea noasträ. Eo cale cunoscutä. E calea cea veche. [...] N'avem decät sä continuäm cu armele de iuptä de pänä acum, pe terenuI de Iuptä, pe care ne-am räsboit pänä azi." <?page no="224"?> 224 Adela Fofiu "We are not discouraged and we did not lose our temper. We know very well what we have to do; the path that we need to walk on is bright in front of us. It is a well known path. It is the old path. [...] We need to continue with the weapons we used so far, on the battle field that we fought on until today." This is a strong cue for mimetic violence as reaction to the events in Sarajevo. As representations of reality, even as constructed reality, these narratives prove to play the card of mimeticism in times of crisis. As Girard puts it, each generation refuses to see the power of imitation and this is the strongest source of violent repetitions.11There is, though, a constructive side of this mimeticism: starting from the premise that the Balkans were, by the time of the Sarajevo Shots, fragmented in an all-against-all dynamic, the crisis of the attack itself, in spite of the chaos it generated, has facilitated the solidarity of communities in an attitude of all-against-one.12The violence of all-against-all has the potential to annihilate the world, while the violence of all-against-one can restore the unity. As Unirea writes: 30 June 1914, p. I: "Ftesimpm — in aceste clipe de grea incercare — tot entuziasmul, cu care pärinpi $i strabunii no§tri p'au värsat sängele pentru 'patrie j / impärat'." "We feel in these times of ordeal the enthusiasm of our parents and ancestors who have shed their blood for 'country and emperor'." The memory of the parents and of the ancestors, and the memory of their sacrifices for the unity expressed as "the country and the emperor" is a discursive expression of unity within the community. The suffering, past and present, brings "us" together. When the Sarajevo Shots happened, they facilitated the media expression of community convergence around the scandal. Girard discusses the value of scandals as strongly dependent of the prestige of those involved in them. There are small scandals and big ones: "There is a mimetic competition between scandals that continues until the most polarising scandal isthe only one on the stage " 13Inthe context of the Sarajevo Shots, the scandal of the attack itself became the most polarising in the Balkan, the true "powder keg". On the one hand, the media of that tim e elaborate the image not the inocent victim when they write about the death of the Archduke. On the other hand, they describe the peoples as reuniting, as gathering to weep, not to forget and to act. "There are victims in general, but the most interesting victims are always those who allow us to blame our neighbors."14 11 Girard 2006, p. 35. 12 Ibid. 13 Ibid., p. 38, my translation. 14 Girard 2006, p. 189. <?page no="225"?> A Case Study on th e fears o f 1914 in th e Romanian p rin t media fro m Transylvania 225 As Girard elaborates, we always lament about the victims we accuse each other of sacrificing, or the victims we allow to be sacrificed, and this lamentation leads towards polarisation and then blaming. This is the trigger point of violent mimeticism. But, since sacrifices are meant to restore order in a chaotic world, let us return to the starting question of this discussion: why did the Sarajevo Shots the sacrifice of the Archduke as it were start a war instead of restoring order? The media discourses around the Sarajevo Shots in the tw o periodicals herein discussed have a strong common point: they show us that sacrifices are efficient in melting down violence only when both parts engaged in conflict agree that the scapegoat was innocent. This, clearly, is not the case. Both periodicals lament about the sacrifice. The front page articles of Romanul and Unirea construct a deeply apocalyptic image of the Sarajevo Shots. The narratives of the revelation of a potential end play the card of mimetic violence as response to the horror of the attack on the Archduke. The discourse in Romanul is mobilising and promotes an active reaction of the 'people', while Unirea describes a wide array of emotions of shock and awe and the impossibility to react. Clearly, though, the Archduke is presented as an innocent victim only on this side of the polarisation. How history played out after this sacrifice raises the question whether the other side agreed on the innocence of the victim or not. Conclusions In this short paper, I analysed front page articles from Unirea (BIaj) and Romanul (Arad), exploring the apocalyptic narratives of the Sarajevo Shots. Girard's mimetic violence served as a valuable frame to interpret the dimensions of the media discourses around the event, pointing out that Romanul developed a mobilizing discourse that stressed the importance of fight to redeem the harm caused by the attack. Unirea had a more passive discourse, constructing the image of Romanians as indirect victims of the Sarajevo Shots, while mimetic violence had an emotional dimension expressed in the memory and respect of ancestors who fought for the country. In both discourses, the experience of the Sarajevo Shots is dystopic: they shattered the world and produced chaos. My argument, using Girard's theory of mimeticism, is that the Sarajevo Shots did not represent the paroxism of a crisis the identity crisis of the Balkans so as to solve it and restore order. Instead, it was the trigger o f a crisis which was perceived as certainly unfolding into the future. For this reason, the media representations of the event were apocalyptical and developed around elaborate emotions <?page no="226"?> 226 Adela Fofiu towards the uncertainty of the future based on the tensions of the present. Beyond the newspapers, the way the Great War unfolded and played out after the Sarajevo Shots is an illustration of how the ideal, apocalyptic war that engulfs the world and gains totality can happen in modernity. Since Clausewitz's time the Napoleonic wars and Girard's tim e the World Wars man-made apocalypse has found expression several times in the combination of technology, emotions and the desire to imitate violence. <?page no="227"?> N orbert R ichard W olf (W ürzb urg ) Aggressive Intelligenz Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs The events at the beginning of World War I, above all the attack on Belgium and the destruction of Louvain caused many intellectuals, professors and artists, to state their views on the events and to try to justify themselves and the military actions. My article analyses 13 manifestos by German professors at the beginning of the war, particularly examining their key words. I have found many terms denoting dienen/ Dienst (serving and service) and Militarismus (militarism), signifying an apparently intellectual discourse. These texts and discourses implicitly and explicitly defend the war by denoting and evaluating these terms, Militarismus above all, positively. Am 16. Oktober 1914 erschien, verfasst vom berühmten Altphilologen Ulrich von W ilam owitz-M oellendorff,1 eine Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reichs, die von insgesamt 3016 Professoren und Hochschullehrern aus 53 deutschen Universitäten und Hochschulen unterschrieben wurde; von meiner Universität Würzburg, um ein Beispiel anzuführen, Unterzeichneten 63 Personen. Der Text ist auf zwei Spalten gedruckt, die linke auf Deutsch, die rechte auf Französisch. Daneben gab es "noch drei weitere Varianten mit englischer, italienischer und spanischer Übersetzung".2 Der deutsche Text ist in Fraktur gesetzt, der französische in Antiqua. Die deutschen Hochschullehrer tun damit deutlich kund, dass sie sich auch in typographischen Äußerlichkeiten an den überkommenen deutschen Usus halten wollen. Der Text ist leicht greifbar in einer Sammlung von Aufrufen und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, die als Reclam-Büchlein im Jahre 1975 von Klaus Böhme3herausgegeben wurde. Aus aktuellem Anlass ist diese Sammlung samt Vorwort, zusätzlich versehen mit einem Nachwort von Hartmann Wunderer, im Jahre 2014 in zweiter Auflage erschienen. 1 Vgl. Böhme, Klaus: Einleitung zu: Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten W eltkrieg. Stuttgart: Reclam 2014, pp. 5-45, hier p. 13. 2 de.wikisource.org/ wiki/ Erkl%C3%A4rung_der_Hochschullehrer des Deutschen Reiches [16.06.2014]. 3 Vgl. Böhme 2014. <?page no="228"?> 228 Norbert Richard Wolf Diese Textsammlung enthält neben der Erklärung der Hochschullehrer 33 weitere Texte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Ich werde nun in der Folge die 'Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches' etwas genauer lesen und zwölf weitere Texte, die in den Jahren 1914 und 1915 erschienen sind und auf den Beginn des Krieges Bezug nehmen, analysierend und vergleichend heranziehen. Es sind dies (die Ziffern vor den Titeln beziehen sich auf die Nummerierung in der Ausgabe von Klaus Böhme (siehe Anm. 3): (1) An die Kulturwelt (04.10.1914) (2) Die Erklärung der Hochschullehrer (3) Aufruf Bonner Historiker (01.09.1914) (4) Kundgebung deutscher Universitäten (Oktober 1914) (5) Erklärung gegen die Oxforder Hochschulen (03.12.1914) (6) Ulrich von M ilam owitz-M oellendorf: Krieges-Anfang (veröff. 1914) (7) Otto von Gierke: Krieg und Kultur (veröff. 1915) (8) Erich Mareks: Wo stehen wir? Die politischen, sittlichen und kulturellen Zusammenhänge unseres Krieges (Vortrag 13.10.1914, veröff. 1914) (9) Adolf von Harnack: Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen müssen (veröff. 1915) (10) Hermann Oncken: Die Deutschen auf dem Wege zur einigen und freien Nation (veröff. 1915) (11) Gerhard Anschütz: Gedanken über künftige Staatsreformen (veröff. 1915) (12) Reinhard Seeberg: 'Seeberg-Adresse' (20.06.1915) (13) Delbrücks Gegenerklärung (09.07.1915) Diese 13 Texte werden von mir als ein kleines Korpus behandelt, und ich werde einigen Phänomenen nach den korpuslinguistischen Prinzipien der "Exhaustivität", der "Frequenzorientiertheit" und der "Kontextsensitivitä t"4 nachgehen. Zunächst aber ist aufschlussreich, dass unter den Autoren dieser Texte nur Geisteswissenschaftler vertreten sind: 1* 1 Mukherjee, Joybrato: Anglistische Korpuslinguistik. Eine Einführung. Berlin: E. Schmidt 2009, p. 24f. <?page no="229"?> Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 229 Fach Autoren Text Nr. Philologie Ulrich von W ilam ow itz-M oellendorf (2), (6) Jura Otto von Gierke (7) Gerhard Anschütz (11) Erich Mareks (S) Geschichte Hermann Oncken (10) Hans Delbrück (13) Theologie Adolf von Harnack 0 ) Reinhard Seeberg (12) Dieses Bild ändert sich nicht grundsätzlich, wenn wir die weiteren Texte in der Sammlung von Klaus Böhme heranziehen: Die meisten Autoren waren Historiker, hinzu kommen Philosophen und ein Nationalökonom. Dass gerade die Geschichtswissenschaft so stark vertreten ist, überrascht nicht, denn die Vertreter dieses Faches beanspruchten (und beanspruchen) in rebus politicis die Deutungshoheit schlechthin. Unter den Theologen fin den wir nur Protestanten, die ja seit Luther ein besonderes Nahverhältnis zur jeweiligen Landesherrschaft pflegten (und die preußischen Hohenzollern pflegten ihrerseits diese Beziehung ebenfalls intensiv). Naturwissenschaftler sind unter den Autoren nicht zu finden, wohl aber unter den Unterzeichnern; sie waren sicherlich derselben politischen Auffassung wie ihre geisteswissenschaftlichen Kollegen. Zudem fällt auf, dass viele der Autoren von der Berliner Universität kamen. Diese Hohe Schule, die 1810 als Reformuniversität gegründet worden war, hatte sich durch eine gezielte Berufungspolitik besonders seit der Reichsgründung zu einer regimetreuen Einrichtung entwickelt. Doch für den "Professorenstand" insgesamt gilt, dass er "völlig in das Gefüge des 2. Reichs integriert" war und dass sich die Professoren "als politische Mentoren sahen".5 Ob ihre Manifeste große Wirkung hatten, muss dahingestellt bleiben; 6 doch kann gesagt werden, dass diese Äußerungen einem gesellschaftlichen und sicherlich von 'oben' gesteuerten 'Diskurs' entstammen. (Unter 'Diskurs' verstehe ich eine "[v]irtuelle Gesamtheit von Äußerungen" zu einem gesellschaftlichen Problem.7) Die Professoren fühlten sich offensichtlich dazu berufen, in einem solchen Diskurs ihre Stimme zu erheben. 5 Böhme 2015, p. 6. 6 Vgl. Wunderer, Hartmann: Nachwort zur Neuausgabe 2014. In: Böhme 2014, pp. 247 251, hier p. 248. 7 Niehrj Thomas: Einführung in die linguistische Diskursanalyse. Darmstadt: WBG 2014, p. 29. <?page no="230"?> 230 N orbert Richard W olf Die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches ist jedenfalls ein ziemlich kurzer Text, der in einer Spalte Platz hat. Er besteht aus zehn syntaktischen Einheiten, die durch einen Punkt voneinander abgegrenzt sind; grammatisch gesehen handelt es sich um zwölf Sätze, wobei die Sätze (3) bis (5) nur durch Kommas voneinander getrennt sind: (3) In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, (4) denn beide sind eins, (5) und wir gehören auch dazu. Auf diese Weise, verstärkt durch die Konnektoren denn und und, wird signalisiert, dass diese drei Sätze sehr eng Zusammenhängen. Der Text beginnt mit einem Aussagesatz, der ein Selbstbild der Unterzeichner liefert: Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens. Dieser Satz enthält zwei Prädikate, die durch und miteinander verbunden sind. Die Konjunktion und drückt aus, dass, wie schon gesagt, die beiden Prädikationen eng zusammengehören, ein genaueres semantisches Verhältnis wird damit nicht ausgedrückt. Der Autor hätte auch sagen können: W ir Lehrer [...] dienen der Wissenschaft und treiben so / dadurch / a u f diese Weise ein Werk des Friedens. Dies wird indes nicht gesagt, sondern die beiden Aussagen über zwei Tätigkeiten werden einfach nebeneinandergestellt; der Hörer bzw. der Leser kann oder muss sich eine Relation selber hersteilen. Andererseits wird durch die Konjunktion und signalisiert, dass die beiden Sachverhalte miteinander sehr wohl kompatibel sind. Zudem ist die Wortwahl in diesem ersten Satz aufschlussreich: Die Lehrer treiben nicht Wissenschaft, sondern ein Werk des Friedens. Die Wendung Wissenschaft treiben hätte es im frühen 20. Jahrhundert ohne Zweifel gegeben. Das Grimm'sche Wörterbuch bucht unter der Bedeutung "etwas 'gewohnheitsmäszig betreiben' als dauernde beschäftigung oder beruf"8. Und Daniel Sanders, der Zeitgenosse unserer Professoren, notiert in seinem Handwörterbuch: "Etwas als Geschäft, als gw. Beschäftigung üben, z.B.: Ein Gewerbe t. [...] u. (wobei der Begriff des Erwerbs zurücktritt od. verschwindet) eine Kunst, ein Studium, eine Wissenschaft treiben".9 Doch die Hochschullehrer wollen gar nicht Wissenschaft treiben, sondern etwas Anderes, etwa Edles: Indem ein Werk des Friedens getrieben wird, drückt der Text aus, dass dies 1.) gewohnheits-, wenn nicht berufsmäßig gemacht wird und dass 2.) Keiner an Geldverdienen 8 Grimm, Jacob/ Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch Bd. 11/ 1/ 2. Von ludwig Denecke. Leipzig: S. Hirzel 1932, p. 60. 9 Sanders, Daniel: Handwörterbuch der deutschen Sprache. 8. Aufl. von J. Ernst Wülfing. Leipzig, Wien: Otto Wigand 1912, p. 715. <?page no="231"?> Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 231 denkt. Die Professoren charakterisieren sich auf subtile, aber unmissverständliche Weise als Betreiber eines sehr edlen Werkes. Die Hochschullehrer sagen, dass sie der Wissenschaft dienen. Das Verbum dienen hat nach dem 'Handwörterbuch' von Daniel Sanders die Bedeutung "Sklave; Einem unterworfen sein; dann allmählich in weiterem Sinn: in abhängigem, oft unter gewissen Bedingungen freiwillig übernommenem Verhältnis sein; Einem seine Untergebenheit od. auch nur Ergebenheit tätig beweisen"10. Als Kontextbelege bringt Sanders (ebd.): "Gott, einem Götzen übrtr.: der Wahrheit, Gerechtigkeit, der Sünde, den Lüsten, dem Mammon dienen." In diesen Sinn verwendet die Erklärung der Hochschullehrer das Verbum dienen m it Wissenschaft als Dativobjekt in übertragener Bedeutung. Das metaphorische Konzept, das dahinter steht, sagt uns, dass die Wissenschaft herrscht und dass die Hochschullehrer ihr untertan sind. Satz (7) unseres Textes bringt den Begriff dienen, diesmal in Form des Verbalabstraktums Dienst m it dem Werk des Friedens und mit der Wissenschaft in einen Zusammenhang: (7) Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Wenn w ir unser ganzes Korpus durchgehen, dann sind es immer Begriffe, die von den Dienenden für positiv gehalten werden und die als Adressaten des Dienens fungieren; in Subjektfunktion stehen immer Personenbegriffe: Subjekt: Personen, die zu a lt oder zu ju n g oder nicht rüstig genug f ü r das W affenhandwerk sind Adressat: Heer Subjekt: die deutschen Frauen Adressat: Heer {Heeresdienst) Wer aber zu alt oder zu jung oder nicht rüstig genug für das Waffenhandwerk war, suchte in irgend anderer Weise dem Heere zu dienen und war beglückt, wenn es ihm gelang, eine Stellung zu finden, die ihn zur M itarbeit an dem ungeheuren Werke berief. Und mit den Männern zugleich wuchsen die deutschen Frauen zu heldenhafter Größe empor und wetteiferten m it ihnen an freudigem Opfermut und vaterländischer Begeisterung. Auch sie leisten an unzähligen Stellen in friedlicher Arbeit und vielseitiger Liebestätigkeit ihren Heeresdienst! (p. 71) 10 Sanders 1912, p. 144. <?page no="232"?> 2 3 2 Norbert Richard W oif Subjekt: w ir (= der Redner Otto von Gierke) und die angesprochenen teuren Volksgenossen) Adressat: W eltkultur Retten, verjüngen, erhöhen w ir die deutsche Kultur, so dienen w ir zugleich der W eltkultur. Denn jäm m erlich und flach wäre die W e ltkultur ohne den befruchtenden Einschlag der deutschen Kultur, (p. 78) Subjekt: die einzelnen Glieder des Staates Adressat: der Staat so wenig der Staat als solcher eine Gegengabe dafür verlangt, daß er seinen einzelnen Gliedern Schutz gewährt, können diese eine Gegengabe dafür in Anspruch nehmen, daß sie sich m it Gut und Blut in seinen Dienst stellten; die tiefe Zusammengehörigkeit des Ganzen und aller seiner Teile, die unsere Nation erlebt hat, kann nicht in der Form eines Handels ihren Abschluß finden, (p. 111) Subjekt: Steuerpflicht (= Verpflichtung des Volkes durch die Regierer) Adressat: Wehrpflicht, Kriegsbereitschaft und Grundlagen der Kriegsbereitschaft All das zu pflegen und fortzuentwickeln, darin liegt ein unermessliches Arbeitsprogramm fü r die Regierer unseres Staates, darin aber auch eine gigantische Last, welche auf unserem Volke immerdar ruhen wird. Eine höchstgesteigerte W ehrpflicht, eine nicht minder starke Steuerpflicht im Dienste der Wehrpflicht, der Kriegsbereitschaft und der Grundlagen der Kriegsbereitschaft, das sind Lasten, wie sie in diesem Ausmaß kaum irgendeinem Kulturvolke auferlegt sind und auch künftig auferlegt werden müssen. Viel fordert unser Staat von seinem Volke, [...] (p. 116f.) Subjekt: Unser Kaiser Adressat: Nation Unser Kaiser hat unlängst (in einer Kundgebung an den Reichsbankpräsidenten nach dem glänzenden Ergebnis der zweiten Reichsanleihe) das, nicht mit lautem, aber m it tiefinnerlichem und um so nachhaltigerem Jubel aufgenom mene W ort gesprochen: es ist eine Ehre für mich und ich bin stolz darauf, der erste Diener einer solchen Nation zu sein. (p. 119) W ir brauchen und wollen einen Kaiser, der in derTat der erste Diener, das oberste Organ des Reiches und nicht das zweitoberste ist, neben und unter den verbündeten Regierungen; einer sei Herrscher: das ist der Kaiser. Und dieser Herrscher sei nach dem Geist und Sinne der Institution, die er vertritt, zugleich ein Diener, wie es einst Preußens größter König von sich sagte. Der erste Diener der im Reiche sich verkörpernden Volksgesamtheit, der gekrönte Vertrauensmann der Nation. Ein deutsches Kaisertum, so echt monarchisch, wie ehrlich konstitutionell, das sei das Ziel der Zukunft. Es ist der Traum unserer Väter, derer, die in den Jahren 1848 und 1849 der deutschen Einheit und Freiheit eine erste Bahn brachen, der Plan der Frankfurter Nationalversammlung: das Kaisertum auf demokratischer Grundlage und mit demokratischen Einrichtungen, (p. 119) <?page no="233"?> Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 233 Zweimal kommt die Wendung den Zielen dienen bzw. etw. in den Dienst von Zielen stellen vor, die semantisch nicht so festgelegt ist, wie die sieben obigen Beispielfälle: Deutschland ist in den Krieg nicht mit der Absicht auf Eroberung gegangen, sondern zur Erhaltung seines von der feindlichen Koalition bedrohten Daseins, seiner nationalen Einheit und seiner fortschreitenden Entwicklung. Nur was diesen Zielen dient, darf Deutschland auch bei einem Friedensschluß verfolgen, (p. 135f.) Für diesen Zweck stellt die von Eduard VII. angebahnte Politik hohe und niedere Ziele der Völker in ihren Dienst und verbrüdert sich in kühler Gleichgültigkeit gegen das Gemeingefühl der europäischen Völker mit deren unerbittlichstem und verschlagenstem Feinde aus der mongolischen Welt. (p. 51) In diesen Kontexten werden das Verb (dienen), das Nomen agentis (Diener) und das Nomen actionis (Dienst) zu 'Fahnenwörtern', also zu positiv konnotierten 'Schlagwörtern'. Ein Schlagwort ist ein auf "öffentl. Wirkung abzielender, häufig ideologieabhängiger, wertender Ausdruck, m it dem sich ein Programm bzw. eine Zielsetzung von besonderer gesellschaftl. Aktualität verbindet"11. Satz (2) der 'Erklärung der Flochschullehrer' beginnt m it der adversativen Konjunktion aber, die einen Kontrast ankündigt: (2) Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, daß die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich zu unsern Gunsten einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen. Während Satz (1) ein w/ r-Gefühl formuliert, kommen jetzt die Feinde Deutschlands zur Sprache. Von den Feinden wird nur England direkt genannt, wobei auffällt, dass zunächst die Personenbezeichnung Feinde im Plural verwendet wird, dann aber nicht die Engländer genannt werden, sondern der Ländername in metonymischer Funktion gesetzt wird. Es ist dies ein Sprachgebrauch, wie er im Krieg oder kriegsähnlichen Spielen (wie etwa Fußball) üblich ist: Es kämpfen nie Individuen gegen Individuen, sondern Kollektive wie Länder/ Staaten gegen vergleichbare Kollektive. Deshalb heißt es auch die Feinde Deutschlands und nicht unsere Feinde. Damit ist auch angedeutet, dass es im Folgenden um einen Gegensatz gehen wird, der von den Feinden konstruiert worden ist, um den Gegensatz zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem preußischen Militarismus. Die Feinde Deutschlands sehen einen Widerspruch zwischen zwei Haltungen, zwischen dem Geist der Wissenschaft und dem Militaris- 11 Schaeder, Burkhard: Schlagwort. In: Metzler Lexikon Sprache. Hg. von Helmut Glück. CD-ROM-Ausgabe. Berlin: Digitale Bibliothek '2000. <?page no="234"?> 234 N orbert Richard W olf mus. Die eine Haltung bzw. der Begriff dafür wird durch ein Syntagma beschrieben, die andere durch eine Wortbildungskonstruktion benannt. Wir können daraus schließen, dass es für den einen Begriff keine Nominationseinheit im Sinn eines Wortes gibt, wohl aber für dem Militarismus. Die Erklärung der Hochschullehrer zitiert dieses W ort gewissermaßen, wobei die Feinde es, wie schon gesagt, im Gegensatz zum Geist der Wissenschaft sehen. Militarismus ist somit, zumindest für die Feinde Deutschlands, ein 'Stigmawort', ein negativ konnotiertes Schlagwort. "Bildungen mit -ismus" haben "in Zeitungstexten und geisteswissenschaftlichen Schriften eine vergleichsweise hohe Frequenz, da sie leicht eine grobe Einordnung bestimmter Phänomene im geistigen oder politischen Raum ermöglichen, ohne daß sich die Verfasser immer darauf einlassen müssen, genauer zu bestimmen, was denn nun [Militar-ismus] wirklich bedeutet".12 Das W ort Militarismus "ist vermutlich Ende der 60er Jahres des [19.] Jahrhunderts aus frz. militairisme 'Militärherrschaft; Militärwesen' übernommen, das in Frankreich seit etwa 1860 als abwertendes Schlagwort verwendet wurde, m it dem die liberalen und linken Parteien den Zustand des bewaffnetes Friedens unter Napoleon III. kritisierten".13 Im Deutschen hat Militarismus von Anfang an die Bedeutung "Vorherrschaft der militär. Macht, Überbetonung des Militärwesens, übersteigerte militär. Gesinnung".14 Da das W ort bzw. die Wortbildung bewusst als "unscharfe ^ ] und vieldeutige[r] Ausdruck"15 verwendet wird, eignet es sich zum 'Stigmawort' oder, wie ich es auch nennen möchte, zum 'Reizwort'; darunter verstehe ich ein Wort, bei dessen Verwendung die Konnotationen, die wertenden Nebenbedeutungen, die Denotation, den begrifflichen Kern, überlagern. Bei Reizwörtern ist es besonders leicht, die wertenden Konnotationen zu ändern, weil ja der denotative Kern kaum betroffen ist. Die Erklärung der Hochschullehrer tut dies; sie ist als Verteidigungstext geradezu darauf angelegt, Vorwürfe des Gegners zu widerlegen oder zumindest zurückzuweisen. Der Kriegsbeginn, vor Allem auch der Einmarsch ins neutrale Belgien und die Zerstörung von Löwen waren der Anlass für "den Vorwurf der Barbarei und des Militarismus"16. Der französische Philosoph Henri Bergson äußerte als Communis Opinio der französischen Intelligenz am 8. August 1914: "Der begonnene Krieg gegen Deutschland ist der eigentliche n Erbenjohannes: Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. Berlin: E. Schmidt ‘’2006, p. 56. 13 Strauß, Gerhard/ Ulrike Haß/ Gisela Harras: Brisante Wörter von Agitabon bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin, New York: de Gruyter 1989, p. 248. 14 Wahrig. Deutsches Wörterbuch. CD-ROM-Ausgabe. Gütersloh/ München: Wissensmedia ’ 2012. 15 Strauß/ Haß/ Harras 1989, p. 248. 16 Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin: Rowohlt 2013, p. 248. <?page no="235"?> Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 2 3 5 Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. Jeder fühlt das."17 Der bekannte englische Schriftsteller Arthur Conan Doyle, "der Erfinder des Sherlock Holmes", schrieb im September 1914 in einem Zeitungsartikel: W ir kämpfen für das starke, tiefe Deutschland der Vergangenheit, das Deutschland der Musik und der Philosophie, gegen das jetzige monströse Deutschland von Blut und Eisen. Für die Deutschen, die nicht der regierenden Klasse angehören, wird unser Sieg dauernde Erlösung bringen. Aus den Trümmern des Reiches wird sich der Deutsche dann jenes herrliche Juwel heraussuchen: das Juwel der persönlichen Freiheit, das höher steht als der Ruhm der Eroberung fremder Länder.18 Dagegen will die Erklärung der Hochschullehrer ar\kätr\pfer\, indem sie zentrale Begriffe des Gegners umdeutet; die Umdeutung wird dabei als Richtigstellung dargestellt. Der Aufruf An die Kulturwelt! vom 4. Oktober 1914 ist solch ein prototypischer Verteidigungstext, dessen Hauptaufgabe darin besteht "Lügen und Verleumdungen" zu "widerlegen": AN DIE KULTURWELT! W ir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskämpfe zu beschmutzen trachten. Dereherne Mund der Ereignisse hat die Ausstreuung erdichteter deutscher Niederlagen widerlegt. Um so eifriger arbeitet man jetzt mit Entstellungen und Verdächtigungen. Gegen sie erheben wir laut unsere Stimme. Sie soll die Verkünderin der Wahrheit sein. Der A ufruf beginnt mit einer fett und in großen Lettern gedruckten Überschrift, die die Adressaten nennt; die Typographie und das Ausrufezeichen, das die Überschrift beschließt, sind ausdrucksseitige Signale einer starken Emotionalität, die durch das Pathos, das den ganzen Text stilistisch markiert, fortgesetzt wird. Wie auch die Erklärung der Hochschullehrer beginnt der A ufruf mit dem Personalpronomen w ir der 1. Person Plural. Diese Pronominalform referiert auf eine Gruppe, für die in der Regel den Chor im antiken Drama und in der Oper ausgenom m en-ein SprecherdasWort ergreift. In den beiden Manifesten bezieht sich das Pronomen wir auf die Unterzeichner, also auf die 3016 Hochschullehrer der 'Erklärung' und die 93 Wissenschaftler und Künstler, darunter 56 Professoren, des Aufrufs. In beiden F ä llen-w ie in anderen auch wissen wir, dass einzelne Personen als Verfasser tätig waren: der A ufruf wurde vom Autor Ludwig Fulda verfasst, die Erklärung, 17 Ibid. 18 Der Krieg der Geister. In: Sp/ ege/ -Online 30.03.2004, www.spiegel.de/ spiegelspecial/ a-295458-2.html [17.06.2014], <?page no="236"?> 2 3 6 Norbert Richard Wolf wie gesagt, vom Altphilologen Wilamowitz-Moellendorf. In beiden Fällen wird das w ir durch eine Apposition präzisiert: Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst19 und Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen.20Die Nennung der Unterzeichner dient der Legitimation und der Kundgabe der Qualifikation der unterzeichnenden Personen. Hier eine höchst subjektive Auswahl: Professoren Alois Brandl Andreas Heusler Max Planck W ilhelm Röntgen Karl Voßler Ulrich von W ilam ow itz-M oellendorf W ilhelm W undt Autoren Richard Dehmel Ludwig Fulda Gerhard Hauptmann Maler Franz von Defregger Friedrich August von Kaulbach Franz von Stuck Komponisten Engelbert Humperdinck Theatermänner Max Reinhardt Siegfried Wagner Unter den Unterzeichnern waren auch zahlreiche katholische Theologen sowie eine Reihe von Männen jüdischen Glaubens: Paradoxerweise waren die treibenden Kräfte hinter dem Aufruf aber nicht etwa notorische Chauvinisten oder servile Untertanen des Kaisers. Das Gegenteil ist richtig: Gerade die Hauptbeteiligten hatten sich in den beiden Vorkriegsjahrzehnten als herausragende liberale Widersacher der reaktionären Kulturpolitik Wilhelms II. hervorgetan. Dasgilt vor allem für den Verfasser des Aufrufs, Ludwig Fulda (1862 bis 1939). Sein Leben und Wirken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus bezeichnet die Tragödie eines hoch begabten jüdischen Deutschen und geistigen Weltbürgers, der sich zeit seines Lebens als deutscher Patriot verstand.192021 Der Hauptteil des Aufrufs besteht aus sechs Absätzen, die alle m it dem fett gedruckten Hauptsatz Es ist nicht wahr beginnen. Was nicht wahr ist, folgt 19 Aufruf, p. 47. 20 Erklärung, p. 49. 21 W ieA nm . 18. <?page no="237"?> Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 237 dann in einem dass-Satz in der Funktion eines Subjektsatzes. Der sechste Absatz des Aufrufs geht auf den Militarismus ein: Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampfgegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei, (p. 48) Schon der A u fru f erhebt gegenüber den Feinden den Vorwurf, den Deutschen Militarismus zuzusprechen. Das W ort Militarismus ist in diesem Kontext negativ konnotiert; der A u fru f versucht nun nicht, das W ort umzudeuten, zu einem positiv zu bewertenden Begriff zu machen, sondern formuliert vielmehr, dass der Militarismus für das Überleben der deutschen Kultur notwendig sei. Deutschland wurde jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht, was eine bedeutungsvolle Konsequenz hatte: Deutsches Fleer und deutsches Volk sind eins. Der A u fru f geht m it den Feinden nicht zimperlich um. Selbst vor rassistischen Klischees macht er nicht Halt: Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinderdie Erde, und im Westen zerreißen Dum-Dum-Geschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbündeten und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen, (p. 48) Für den 'Aufruf' ist Militarismus ein notwendiges Übel. Die 'Erklärung der Flochschullehrer' hingegen will den Begriff Militarismus mit positiven Merkmalen versehen: Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche 'Militarismus' erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien Volkes, (p. 50) Militarismus ist demnach nicht mehr die "Vorherrschaft der militär. Macht", die "Überbetonung des Militärwesens" und die "übersteigerte militär. Gesinnung",22 sondern eine moralische Haltung, die man durch den Dienst im Fteere erlernt: 22 Wie Anm. 14. <?page no="238"?> 238 Norbert Richard Wolf (7) Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. (8) Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. Militarismus als moralische Haltung äußert sich demnach in selbstentsagender Pflichttreue und freiwilliger Unterordnung. M it Begriff und W ort Militarismus gehen weitere Begriffe und Wörter aus dem Referenzbereich Militarismus einher, wodurch die Begriffsdefinition von Militarismus plausibler werden soll: In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und w ir gehören auch dazu. Unser Heer pflegt auch die Wissenschaft und dankt ihr nicht zum wenigsten seine Leistungen. Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet, (p. 49) Und wenn das Ergebnis stimmt, dann wird sogar ein Krieg ein göttliches Gnadengeschenk: So war der Krieg von 1870 mit allen seinen Opfern an Blut und Gut für unser Volk ein göttliches Gnadengeschenk! Was wären wir ohne ihn? Ihm verdanken wir, daß w ir die unselige Zerklüftung von Jahrhunderten in unzerreißbarer Einigkeit für immer überwunden haben. Ergab uns die uns einst geraubte Westmark Elsaß-Lothringen zurück, verschaffte uns die Vormachtstellung auf dem europäschen Kontinent und gewährte uns die Möglichkeit, als ihren Hüter unsere siegreiche Armee zu dem unüberwindlichen Volksheer auszubauen, vor dem heute die Feinde beben. (Sp 67) Die im deutsch-französischen Krieg eroberten Gebiete werden zur Westmark; das alte W ort Mark bezeichnete ursprünglich einen Grenzstreifen und war nicht militärisch gemeint. Erst der Nationalismus des 19. Jahrhunderts nutzte die Möglichkeit, zum Wort Grenze, einer Entlehnung aus dem Westslavischen, ein militaristisches Synonym auszudrücken. DerText, dem diese Stelle entnommen worden ist, ist eine Rede des Berliner Juristen Otto von Gierke an die Teure[n] Volksgenossen. Es ist hier nicht der Platz, sämtlichen Belegen für Militarismus und ihm zuzuordnenden Begriffen nachzugehen. Festzuhalten aber ist, dass in allen Texten unseres Korpus das W ort Militarismus nur positiv konnotiert vorkommt. Signifikant erscheint mir zudem, dass dass nur das Abstraktum Militarismus vorkommt, nicht aber die Personenbezeichnung Militarist. In dem Verteidigungsdiskurs der deutschen Professoren geht es um Haltungen, Strömungen und Überzeugungen, nicht um Individuen oder einzelne <?page no="239"?> Deutsche Professoren zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 239 Personen, die eine solche Haltung repräsentieren könnten. Lediglich das Heer wird mehrfach erwähnt, denn dies ist eine Kollektivbezeichnung, die m it dem umfassenden Kollektiv Volk in engem Zusammenhang steht: Das Heer ist die vollkommene Realisierung eines idealen Volkes, in dem sich der Einzelne, der wahrhaft freie Mann willig dem Ganzen unterordnet, sodass Otto von Gierke die Einheit von Heer und Volk, von der Wilamowitz- Moellendorf in seiner Rede m it dem Titel 'Krieges Anfang' gesprochen hatte, in einem unüberwindlichen Volksheer sieht. Als Grammatiker möchte ich formulieren: Die gedachte Einheit von Heer und Volk führt direkt zu einem einheitlichen Wort, zum Kompositum Volksheer. Die Professoren sind bekanntlich nicht die Einzigen, die sich im Diskurs, zum Diskurs und aus dem Diskurs heraus äußern. Bekannt ist der Thomas Manns Essay Gedanken im Kriege21, der im November-Heft 2014 der Neuen Rundschau erschienen ist. Darin form uliert Mann Gedanken, die sich nur im Zusammenhang mit dem Verteidigungsdiskurs erklären lassen: Es ist wahr: der deutschen Seele eignet etwas Tiefstes und Irrationales, was sie dem Gefühl und Urteil anderer, flacherer Völker störend, beunruhigend, fremd, ja widerwärtig und wild erscheinen lässt. Es ist ihr "Militarismus", ihr sittlicher Konservativismus, ihre soldatische Moralität, ein Element des Dämonischen und Heroischen, das sich sträubt, den zivilen Geist als letztes und menschenwürdigstes Ideal anzuerkennen, (p. 19) Der Diskurs findet nicht nur in intellektuellen Kreisen statt, sondern er fin det auch Eingang in die Alltagskultur, wofür ich zum Abschluss ein Beispiel bringen möchte: Die Werbeanzeige eines Korsettherstellers hat die Überschrift Deutscher Sieg, die gleichzeitig das Subjekt des ersten Satzes ist: Deutscher Sieg a u f dem Gebiet der Frauenkultur ist unaufhaltsam.2324 In der Folge erfahren wir, dass die französischen Korsettmoden [...] fast alle deutschen Frauen zu Kranken gemacht hätten. Wenn ich Kabarettist wäre, würde ich jetzt sagen, dass das deutsche Korsett als Produkt des deutschen Militarismus ein hohes Kulturgut ist: Das einzige deutsche Erzeugnis, welches ohne Anlehnung an französische Modelle einzig und allein die Entwicklung wirklicher Schönheit ohne Schädigung der Gesundheit erreicht, ist der längst bekannte ges. gesch. Thalysia-Edelformer. Die deutsche Frau wird durch den Edelformer wahrhaft frei und schön: 23 Mann, Thomas: Gedanken im Kriege. In: ders.: Politische Schriften und Reden. Bd. 2. Frankfurt (Main), Hamburg: Fischer 1968, pp. 7-20. 24 Kruse, Wolfgang: Kriegsideologie und moderne Massenkultur, www.bpb.de/ geschichte/ deutsche-geschichte/ ersterweltkrieg/ 155308/ kriegsideologieundmodernemassenkultur [21.06.2014] <?page no="240"?> 240 Norbert Richard Wolf Er ist [...] nicht schamlos, wie diese [= die Pariser Korsetts], sondern er verwandelt ins Zarte und Deutsch-Sinnliche selbst eine zu üppig gediehene Form. Für die Männer ist also der Militarismus, für die Frauen hingegen das Korsett Ausdruck der wahren Moralität. <?page no="241"?> H ans -P eter G rosshans ( M ünster ) Vom Fortschrittsoptimismus zur Kulturkritik Zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Protestantismus In cultural studies reflecting WWI and the cultural transformations caused by it not much awareness is given to the role of religions despite the fact that in the first decades of the 20th century secularization had not progressed much and the European societies and cultures were still strongly shaped by religious attitudes and practices. In a paradigmatic case study, this article reflects the transformations which Protestant Christianity in Germany has gone through in coming to terms with the experience of the First World War and its inhumanity. Before WWI Protestant Christianity in Germany was a state religion and had a very optimistic understanding about the cultural, economic, political and scientific progress of society. Protestant Christianity understood itself and its religious activities almost in identity with the general developments in culture and society and tried to contribute to the perfection of the present culture and society. But Protestant Christianity of the pre-War time was not aware of the apocalyptic mindsets and trends among many contemporary artists, some of whom even hoped for a world war. With the disillusioning experience of WWI, Protestant Christianity became more critical to culture and society; especially to all attempts to create a perfect society and culture. So the apocalyptic trends among pre-War (expressionist) artists were indirectly adapted in German Protestant Christianity bringing forth a principally critical relation to culture and society. Kulturen sind seit jeher in hohem Maße von Religionen nicht nur beeinflusst, sondern auch gestaltet worden. In heutigen säkularisierten Gesellschaften mag dies vielleicht nicht mehr so ausgeprägt der Fall sein und öffentlich nicht mehr so auffallen, doch vor und nach dem Ersten Weltkrieg war der Prozeß der Säkularisierung, der heute die Wahrnehmung der Religionen in Europa prägt, noch nicht wirklich in Gang gekommen. Deshalb stellt sich in einer kulturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Rekonstruktion des am 28. Juni 1914 verübten Attentats von Sarajevo und des darauffolgenden Ersten Weltkriegs auch die Frage, wie in den Religionen der beteiligten Gesellschaften mit diesen Ereignissen umgegangen wurde, welche Einstellungen die Repräsentanten der Religionen zu diesen Geschehnissen und insbesondere dann zum Ersten Weltkrieg vor, <?page no="242"?> 242 Hans-Peter Grosshans während und nach dem Krieg hatten, und welche Rolle die Religionen bei diesen Geschehnissen insgesamt spielten. M it den Religionen ist dabei in erster Linie das Christentum m it seinen verschiedenen Konfessionen und Kirchen gemeint, aber auch das Judentum und der Islam. Das Judentum war in den europäischen Gesellschaften in unterschiedlicher Weise präsent; der Islam war vor allem innerhalb von Österreich-Ungarn und dort besonders in Bosnien präsent, aber auch in der Türkei, die im Ersten Weltkrieg eng mit Deutschland kooperierte. Die so form ulierte Aufgabe bedürfte einer umfassenden Studie und kann für einen Tagungsbeitrag in einem Sammelband nur paradigmatisch und nur in Grundzügen bearbeitet werden. Ich werde mich deshalb meinen Kompetenzen entsprechend im Folgenden auf eine Untersuchung des deutschsprachigen Protestantismus beschränken und mich dabei vor allem auf die ideengeschichtlichen Umformungen konzentrieren, die durch den Ersten Weltkrieg in der deutschsprachigen evangelischen Theologie im Blick auf das Verhältnis von Christentum und Kultur bzw. Gesellschaft vollzogen wurden. Analoge Untersuchungen zur Stellung zum Ersten Weltkrieg und dessen theologischer Verarbeitung in Judentum und Islam, aber auch im katholischen1 und orthodoxen Christentum wären höchst wünschenswert für ein umfassendes Bild vom Verhältnis der europäischen Religionen und Konfessionen zum Ersten Weltkrieg, aber auch für ein besseres Verständnis der Transformationsfähigkeit von Religionen und Konfessionen in der Verarbeitung epochaler, geschichtlicher Ereignisse. I. Religiöse Legitimierung des Kriegs und expressionistische Kriegssehnsucht 1. Es ist erstaunlich, wie wenig in kulturgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Ersten Weltkrieg die Rolle der christlichen Kirchen, ja, überhaupt der europäischen Religionen, und ihre Thematisierung und Verarbeitung des Krieges thematisiert wird. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war der Prozess der Säkularisierung, der heute die Wahrnehmung der Religionen in Europa prägt, noch nicht wirklich in Gang gekommen. In den damaligen Staatskirchensystemen waren die Geistlichen, die Pfarrer, Priester und Bischöfe für die Regierungen und Monarchien diejenigen, die den Staatswillen in die breite Bevölkerung kommunizierten. In Deutschland wurde der sogenannte Burgfrieden, den der 1 Vgl. dazu u.a.: Lätzel, Martin: Die Katholische Kirche im Eisten Weltkrieg. Zwischen Nationalismus und Friedenswillen. Regensburg: F. Pustet 2014. <?page no="243"?> Zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Protestantismus 243 deutsche Kaiser m it allen Parteien am 4. August 1914 schloss, intensiv von religiösen Aktivitäten begleitet, in denen vor allem zum Ausdruck kommen sollte, dass das deutsche Volk ein von Gott erwähltes Volk sei. Der 5. August 1914 wurde zu einem deutschlandweiten Buß- und Bettag, an dem von den Kanzeln der Kirchen die Botschaft des Kaisers ans deutsche Volk verlesen und in den Predigten der Krieg legitim iert wurde. Der aufs Alte Testament zurückgehende Wahlspruch des preußischen Königshauses und der deutschen Kaiser "Gott m it uns" wurde von den Kanzeln der deutschen Bevölkerung neu ins Bewusstsein gerufen in ähnlicher Form geschah dies auch in anderen Ländern. Die Geistlichen begründeten, dass Deutschland einen gerechten Krieg führe und Gott deshalb an seiner Seite sei; dies auch deshalb, weil Deutschland ein bußfertiges Volk und Gott auch schon m it den Vorfahren gewesen sei. Auch diejenigen, die einem Krieg m it Befürchtungen entgegen sahen, wollten ihn dann doch als ein reinigendes Gewitter verstehen. Nicht nur beim Kriegseintritt, sondern durch den ganzen Ersten Weltkrieg hindurch betätigten sich die Geistlichen als erfolgreiche Propagandisten, die den vorhandenen Zeitgeist vielleicht zwar nicht erzeugten, aber doch zu seiner Überhöhung maßgeblich beitrugen. In Deutschland wurde die Verbreitung einer Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung im Wesentlichen von den Geistlichen betrieben. Im Rückblick stellt sich ja die Frage, wie es trotz Bedenken in der Bevölkerung zu dem Narrativ von einem einmütig vom Krieg begeisterten Volk gekommen ist. In Deutschland haben dazu wesentlich die Pfarrer beigetragen, von denen die ersten Berichte über das zum Krieg bereite und vom Krieg begeisterte Volk geschrieben wurden. Das sogenannte "Augusterlebnis", also das Gefühl der Einigkeit aller Deutschen und ihre Kriegsbegeisterung im August 1914, war eine kulturelle Inszenierung, die in Deutschland vor allem von den Geistlichen der christlichen Kirchen betrieben wurde. Dies galt in erster Linie von der evangelischen Pfarrerschaft. Doch auch die Geistlichen der katholischen Kirche waren involviert; nach dem Kulturkampf unter Bismarck sahen die Katholiken die Chance, durch die aktive Mitwirkung an dieser kulturellen Inszenierung und durch die Unterstützung des Krieges endlich im Deutschen Reich richtig anerkannt zu werden. Ähnlich verhielt es sich mit den Juden in Deutschland. Die Kirchen konnten in ihrer Legitimierung des Krieges und der Inszenierung der Kriegsbegeisterung besser als alle anderen Akteure in der Gesellschaft längerfristig wirkende Empfindungen und Überzeugungen der Bevölkerungen ansprechen und auf Deutungsmuster zurück greifen, die in den europäischen Bevölkerungen tie f verankert waren. Es ist interessant, dass die dabei von den Kirchen verwendeten Deutungsmuster in den ver- <?page no="244"?> 244 Hans-Peter Grosshans schiedenen Nationen, aber auch in den diversen Konfessionen erstaunlich ähnlich waren. Dominierend war dabei die Verbindung von Christentum und Nationalismus. Diejeweilige nationale Identität wurde m it religiösen Deutungen aufgeladen. Von einer Entzauberung der Welt durch die Modernisierung konnte hier keine Rede sein; vielmehr kam es zu einer massiven Resakralisierung: Die Geistlichen aller großen Konfessionen des Westens unterstützten materiell und erst recht moralisch die Kriegsanstrengungen ihres jeweiligen Landes, während katholische, protestantische und jüdische Nichttheologen ihre Glaubensbrüder mit ebenso wenig Schuldgefühlen erschlugen wie die Atheisten ihre ungläubigen Kollegen umbrachten. M it Inbrunst begriffen sich die Kirchen und die großen Mehrheit der Christen in sämtlichen kriegführenden Staaten nicht nur als Verteidiger ihres Vaterlandes, sondern der Kultur und des Christentums insgesamt. Und mit enormer Selbstverständlichkeit sahen sie dabei Gott als Kombattanten, als den Mitstreiter im eigenen Lager.2 2. Der Siegener Germanist und Literaturwissenschaftler Klaus Vondung hat jüngst in einem Vortrag3*gezeigt, dass der Erste Weltkrieg nicht nur in den Köpfen und Herzen von serbischen Nationalisten und Anhängern eines südslawischen Großreiches, sondern unter anderem auch in Deutschland schon längst vor dem Attentat in Sarajevo in vielen Köpfen und Herzen begonnen hatte und sich in apokalyptischen Vorstellungen in Literatur, Malerei und Musik artikulierte. Bei den deutschen Schriftstellern und Künstlern, die dem Expressionismus zugerechnet werden, kann schon in den zehn Jahren vor 1914 eine wachsende Faszination für den Krieg, ja, geradezu eine Sehnsucht nach einem Krieg beobachtet werden. Für die einen war die vorhandene bürgerliche Welt Langeweile pur; für die anderen war sie eine falsche Welt. Der Krieg erschien als eine Möglichkeit, ja, als die einzige Chance, nicht nur der Langeweile des wohl geordneten, bürgerlichen Lebens zu entfliehen, sondern überhaupt zu einer erstrebenswerten Gesellschaft zu gelangen. Dazu, so schien es, musste die alte Welt grundlegend destruiert werden. 2 Greschat, Martin: Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart: Kohlhammer 2014 (Kohlhammer-Urban-Akademie), p. 13. Predigten zum Kriegsbeginn und aus dem Verlauf des Ersten Weltkriegs sind reichlich publiziert worden. Eine inhaltliche und stilistische Analyse der evangelischen Kriegspredigten mit reichlich Literaturangaben findet sich u.a. bei: Pressei, Wilhelm: Die Kriegspredigt 1914-1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1967. Der SchweizerTheoIoge Karl Barth hat von der sicheren Schweiz aus den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in seinen Predigten vorwiegend kritisch kommentiert. Eine Analyse darüber findet sich in: Fahler, Jochen, Der Ausbruch des 1. Weltkrieges in Karl Barths Predigten 1913-1915. Bern u.a.: Peter Lang 1979. 3 Vondung, Klaus: "Apokalyptische Visionen des Kriegs-vorund nach 1914", Vortrag gehalten 6. April 2014 in Münster. <?page no="245"?> Zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Protestantismus 245 Ein schönes Beispiel ist Alfred Lichtensteins Gedicht Sommerfrische von 1913: Der Himmel ist wie eine blaue Qualle. Und rings sind Felder; grüne Wiesenhügel - Friedliche Welt■du große Mausefalle, Entkäm ich endlich d ir ... O hätt ich Flügel! - Man würfelt. Säuft. Man schwatzt von Zukunftsstaaten. Ein jeder übt behaglich seine Schnauze. Die Erde ist ein fe tte r Sonntagsbraten, Hübsch eingetunkt in süße Sonnensauce. War doch ein W ind... Zerriss m it Eisenklauen Die sanfte Welt. Das würde mich ergetzen. War doch ein Sturm ... der müsst den schönen blauen Ewigen Himmel tausendfach zerfetzen.4 Alfred Walter Heymels Gedicht Eine Sehnsucht aus derZeit endet mit den Zeilen: Im Friedensreichtum wird uns tödlich bang. Wir kennen Müssen nicht noch Können oder Sollen Und sehnen uns und schreien nach dem Kriege.5 Der Dichter der späteren Nationalhymne der DDR Johannes R. Becher schrieb 1912 die Verse: So aber w ir faulen an hohen Pultsitzen Und bröckeln zu Mehlstaub in Wartsälen bang. Wir horchen a u f wilder Trompetdonner Stöße Und wünschten herbei einen großen Weltkrieg.6 Aus theologischer Sicht werden hier und in den vielen anderen ähnlichen Texten und Kunstwerken apokalyptische Vorstellungsmuster verwendet, die aus biblischen Texten und der Geschichte des Christentums vertraut sind. Es ist die Vorstellung, dass sich eine wirklich bessere Welt und Gesellschaft nicht kontinuierlich aus der gegenwärtigen Welt und Gesellschaft heraus entwickeln lasse, sondern nur auf der Basis einer Zerstörung der vorhandenen, faulen und falschen Welt und Gesellschaft. In der Lehrbildung der Theologie spricht man von der annihilatio mundi (der Vernichtung der Welt). Dieser Vorstellung steht im Gegensatz zu der alternativen 1 Lichtenstein, Alfred: Sommerfrische. In: Vietta, Silvio (Hg.): Lyrik des Expressionismus, M ünchen: DTV 1976 (Deutsche Texte 37), p. 123. Heymel, Alfred Walter: Eine Sehnsucht aus der Zeit. In: Der Sturm, Nr. 85 (1911), p. 677. 6 Becher, Johannes R.: Beengung. In: Ders.: Verfall und Triumph. Teil 1: Gedichte, Berlin: Hyperionverlag 1914, p. 52. <?page no="246"?> 246 Hans-Peter Grosshans eschatologischen Vorstellung, dass die bessere Welt und Gesellschaft durch eine Vollendung einer bereits begonnenen Entwicklung hin zum Besseren erlangt werde. Man spricht dann von der consummatio mundi, der Vollendung der Welt zum Reich Gottes. Die Apokalyptik war in den Staatskirchen Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht populär und entsprechend konnte und kann dann auch ein Attentat wie das in Sarajevo am 28. Juni 1914 aus theologischer und kirchlicher Sicht nur kritisiert werden. Das apokalyptische Denken und Hoffen, wie es sich insbesondere bei den jüngeren Expressionisten vor 1914 artikulierte, war auch unter den religiösen Menschen Europasjener Zeit wenig verbreitet. Vielmehr war unter ihnen und den großen christlichen Kirchen, denen in ihren Gesellschaften die Mehrheit der Bevölkerung angehörte, im Blick auf die Hoffnung auf eine bessere Welt die andere eschatologische Konzeption verbreitet - und zwar in einer durchaus irdischen Variante: Die bessere Welt und Gesellschaft wurde hier und jetzt auf Erden erhofft - und nicht nur im Jenseits. Während die damalige Apokalyptik sich eine neue, lebenswerte Welt und Gesellschaft nur vorstellen konnte unter der Voraussetzung der Destruktion der alten Welt und Gesellschaft, setzten die christlichen Kirchen, insbesondere die evangelischen Kirchen, auf eine kontinuierliche Entwicklung der Gesellschaft hin auf ein Reich Gottes auf Erden. In der apokalyptischen Gesinnung der Künstler artikulierte sich der revolutionäre Geist, der sich einen Fortschritt nur in einer diskontinuierlichen Entwicklung mit Abbrüchen und dialektischen Entgegensetzungen -vorstellen konnte; in der kirchlichen Reich-Gottes-Eschatologie vor dem Ersten Weltkrieg artikulierte sich dagegen ein religiöses Bewusstsein, das sich einen Fortschritt einer Gesellschaft nur als kontinuierliche Entwicklung vorstellen konnte und dem jede revolutionäre Bewegung - und auch deren Inszenierung durch ein Attentat als ein dramatischer Rückfall in der Fortschrittsbewegung der Gesellschaft erscheinen musste. II. Vom Fortschrittsoptimismuszur Kulturkritik 1. Die Hoffnung, das eigentliche Thema der Religionen, konzentriert sich im Christentum neben den individuellen Hoffnungen gesellschaftlich auf das Reich Gottes. Immanuel Kant hatte in seiner späten Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft die Hoffnung auf das Reich Gottes ganz auf die irdische Gegenwart bezogen und von der Idee des "Reiches Gottes auf Erden" und dessen irdischer Realisierung gespro- <?page no="247"?> Zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Protestantismus 247 chen.7 Realisiert wird dieses Reich Gottes auf Erden in Form der Kirche. Kant folgt der alten, spätestens durch Augustinus populär gewordenen Auffassung, dass "die Idee eines Volks Gottes ... nicht anders als in der Form einer Kirche auszuführen" ist.8 Es handelt sich dabei um eine "Gesellschaft nach Tugendgesetzen"9, die von Kant parallel zu dem vertragstheoretisch konzipierten staatlichen Gemeinwesen aus einem Urzustand konstruiert wird, um die Moralität der Menschen guten Willens gegen die Anfechtungen aus dem Vergleich m it den Mitmenschen abzusichern eine Feistung, die ein die Fegalität sichernder Staat, der die Flerzen der Menschen nicht erreichen kann und darf, nicht erbringen kann. Kant ist besonders in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts intensiv rezipiert worden. Natürlich teilen die von Kant inspirierten deutschen Protestanten des 19. Jahrhunderts diese Floffnung auf ein Reich Gottes auf Erden nur m it einem letzten Vorbehalt: Die Vollendung eines solchen Reiches Gottes kann der Mensch nicht leisten, sondern diese liegt letztlich in Gottes Eland. So hat Friedrich D. E. Schleiermacher formuliert: "Da die Kirche in dem Verlauf des menschlichen Erdenlebens nicht zur Vollendung gelangen kann: so hat die Darstellung des vollendeten Zustandes unmittelbar nur den Nutzen eines Vorbildes, welchem wir uns nähern sollen."10 Bei dem für die evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts höchst einflußreichen Albrecht Ritschl er gilt "als der Kulturtheologe des Kaiserreichs"11können w ir Ähnliches lesen: Indessen ist es nicht möglich, eine Gemeinschaft der Vollkommenen als solcher herbeizuführen ... Deshalb entspringt aus ihm die Überzeugung, daß die in ihrer Art vollkommenen Christen ihr gemeinschaftliches Ziel des Lebens und der Seligkeit unter anderen Bedingungen des Daseins erreichen, als in der erfahrungsmäßigen Weltordnung. [...] Als das übernatürliche und überweltliche Ziel der im Reiche Gottes zu vereinigenden Menschheit ist es... nur dann zu begreifen, wenn die natürlichen Bedingungen, an die unser geistiges Leben in der gegenwärtigen Weltordnung gebunden ist, dereinst wegfallen oder verändert werden.12 7 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Deis.: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Darmstadt: WBG 1956, pp. 64 9-879, hier p. 753. 8 Ibid., p. 759. 9 Ibid., p. 752. 10 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhänge dargestellt (2. Auflage 1830/ 31). Erster und Zweite r Band. Hg. von Rolf Schäfer. Berlin, New York: de Gruyter 2008, p. 456 (§ 157 Leitsatz). 11 Graf, Friedrich Wilhelm / Tanner, Klaus: Art. Kultur II. Theologiegeschichtlich. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 20 (1990), pp. 187-209], p. 194. 12 Ritschl, Albrecht: Unterricht in der christlichen Religion. Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage. Hg. von Christine Axt-Piscalar. Tübingen: MohrSiebeck 2002 (UTB 2311), p. IO lf. (§§ 76 .77). <?page no="248"?> 248 Hans-Peter Grosshans Trotz des letzten theologischen Vorbehalts gibt die Hoffnung auf eine Realisierung des Reiches Gottes auf Erden die Richtung vor: Die Christen sollen alles dafür tun, dass eine Gesellschaft sich dem vollendeten gesellschaftlichen Zustand annähert. Der deutsche Protestantismus des 19. Jahrhunderts entwickelte dem entsprechend eine Vorstellung vom Zustand eines perfekten gesellschaftlichen Miteinanders und hielt eine Annäherung an eine bessere Welt und Gesellschaft für möglich. Dabei ist von Bedeutung, dass der deutsche Protestantismus diese Annäherung ans Reich Gottes in die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft hinein projizierte: Die Kirche sollte also nicht selbst die perfekte Gegenwelt zu Gesellschaft und Staat bilden. Sie sollte jedoch auch keine religiöse Politik entfalten und Gesellschaft und Staat zu dominieren versuchen. Vielmehr sollte das Christentum seine Hoffnung auf das Reich Gottes so in die gesellschaftlichen Verhältnisse einbringen, dass diese nicht nur von Recht und Gesetz geordnet, sondern auch noch vom Geist der Liebe bestimmt sind. So schreibt Albrecht Ritschl: Die sittliche Aufgabe des Reiches Gottes wird nur dann als die allgemeinste Aufgabe in der christlichen Gemeinde gelöst, wenn das Handeln aus der Liebe gegen den Nächsten der letzte Beweggrund des Handels ist, welches man in den natürlich bedingten sittlichen Gemeinschaften engeren Umfanges (Ehe, Familie, bürgerliche Gesellschaft, nationaler Staat) nach den auf jeder Stufe derselben geltenden besonderen Grundsätzen ausübt.13 Der Protestantismus verstand also seine Aufgabe darin, die Qualität der Verhältnisse in einer Gesellschaft zu verbessern unter Anerkennung der jeweiligen Eigenlogik der Lebensbereiche. Gerade so sollte ein Beitrag zur Annäherung der gesamten Gesellschaft an den gesellschaftlichen Idealzustand, der im Modell des Reiches Gottes vorgestellt wurde, geleistet werden. Vorausgesetzt ist dabei, dass über Bildungsprozesse ein Fortschritt in der Erziehung des Menschengeschlechts, aber auch in der Bildung jedes einzelnen Menschen ebenso möglich erscheint wie eine Verbesserung in den gesellschaftlichen Institutionen. Der deutsche Protestantismus identifizierte sich nach 1870, nach dem Kulturkampf in Deutschland, m it dem Kulturfortschritt, den er im deutschen Nationalstaat auf gutem Wege sah. Die KuIturprotestanten deuteten "auf dem Hintergrund einer intensiven Kant-Rezeption [...] Religion als jene kulturtranszendente Macht in der Kultur, die allein deren Humanität garantieren könne."14 13 Ibid., p. 42f. (§ 27). Ritschl fährt fort: "Denn das Allgemeine wird immer nur innerhalb der besonderen Arten verwirklicht. Im umgekehrten Fall, wenn man die christliche Aufgabe außerhalb der natürlichen Ordnungen des Lebens erfüllen wollte, würde man dasjenige, was allgemein gültig sein soll, zu einer falschen Besonderheit, zu etwas Absonderlichem ausprägen." 14 Graf/ T ann er 1990, p. 194f. <?page no="249"?> Zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Protestantismus 249 2. Die positive Synthese von Religion und Kultur im deutschen Protestantismus und andere Formen einer christlichen Kultursynthese wurden in der evangelischen Kirche und Theologie durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs grundsätzlich in Frage gestellt. Nach 1918 etablierte sich durch die theologische Verarbeitung der Erfahrung des Ersten Weltkriegs eine grundsätzliche Kulturkritik in der protestantischen Theologie und es kam zu diversen Versuchen, das Verhältnis von Christentum und Kultur neu zu bestimmen. Hier ist insbesondere die sogenannte Dialektische Theologie ein loser Zusammenschluss überwiegend jüngerer protestantischer Theologen zu nennen, die bis in die Gegenwart hinein ihre Wirkung entfalten und die aus christlicher Sicht eine grundsätzliche Kritik der bürgerlichen Kultur entwickelten. Zu nennen sind aber auch konservative theologische Kreise, religiöse Sozialisten oder liberalprotestantische Kulturtheologen, die neu über das Verhältnis von Christentum und Kultur nachdachten. Die kulturkritischen protestantischen Theologen der Nachkriegsjahre teilten m it dem expressionistischen Kulturpessimismus der Vorkriegsjahre vor allem die radikale Antibürgerlichkeit. Der bürgerliche Kulturoptimismus wurde grundsätzlich kritisiert. "Der Weltkrieg wird als 'die große 'Krisis' [...] alle(r) Wirklichkeiten und Werte der 'K ultur" bzw. als Offenbarung der 'Dämonien der Kultur'" erlebt.15 Entsprechend lassen sich in der evangelischen Theologie der Nachkriegsjahre apokalyptische Muster und Motive identifizieren, die vor dem Ersten Weltkrieg unter expressionistischen Künstlern und Literaten verbreitet waren. Die Vorstellung von einer kontinuierlichen geschichtlichen Entwicklung in Kultur, Wirtschaft und Politik hin auf eine bessere und humanere Welt und Gesellschaft (Reich Gottes) wurde mehr oder weniger aufgegeben. Der Menschheit wurde nicht mehr die Kraft und der Glauben zugeschrieben, aus sich selbst heraus, z.B. durch Bildungsprozesse, zu dem erhofften paradiesischen Zustand auf Erden selbst zu kommen. Vielmehr wurde nun auch in der protestantischen Theologie m it apokalyptischen Elementen zum Ausdruck gebracht, dass die Gesellschaft einer revolutionären Unterbrechung bedarf, wenn sie sich zum Bessern hin entwickeln solle. Allerdings wurde damit nicht die Hoffnung verbunden, dass das Resultat einer gesellschaftlichen Revolution das Reich Gottes auf Erden sein könnte. Vielmehr wurde nun die Realisierung des Reiches Gottes grundsätzlich nicht mehr als eine von Menschen zu realisierende Möglichkeit betrachtet, ja selbst eine gesellschaftliche Annäherung an das Reich Gottes wurde nicht mehr für möglich gehalten. Es wurde nun angenommen und geglaubt, dass das Reich Gottes, diese perfekte Form menschlichen Zusammenlebens, nur von Gott selbst gewis- 15 Ibid., p. 198. <?page no="250"?> 250 Hans-Peter Grosshans sermaßen revolutionär herbeigeführt werden könne. Damit wurden zugleich alle Versuchen, einen gegebenen gesellschaftlichen Zustand religiös zu überhöhen und ihn so der Kritik zu entziehen, disqualifiziert. Vielmehr galt nun - und gilt bis heute - , dass das evangelische Christentum grundsätzlich gesellschaftskritisch zu sein hat. So schrieb der Schweizer Theologe Emil Brunner 1922 in einem Text über Die Grenzen der Humanität: Nicht schrittweise sich realisierende Freiheit, sondern Schuld und Erlösung, nicht der immanente Denkprozeß, sondern der schroffste Dualismus vor Gott und Mensch, nicht die gerade stolz aufsteigende Linie der Entwicklung, sondern die gebrochene Linie des Kreuzes das sind die jedem humanistischen Ohr widerwärtigen Themata der Religion [...] Im drohenden Zusammenbruch einer Kultur beginnt die Religion wieder ihres transzendenten Inhalts sich zu erinnern und dringlicher als je erhebt sich die Frage nach der Bedeutung der Grenzen der Flumanität.16 Gerade um der Humanität willen, an der dem Protestantismus vor dem Ersten Weltkrieg und das ganze 19. Jahrhundert hindurch gelegen war der Ermöglichung einer von der Liebe geprägten humanen Gesellschaft! wurden nun aus religiöser Sicht die Grenzen der Humanität bestimmt. Darin artikulierte sich die Erfahrung, dass das ganze Streben nach einer von der Liebe geprägten humanen Gesellschaft die humane Katastrophe des Ersten Weltkriegs nicht hatte verhindern können. Der gerade im Kulturprotestantismus verbreitete allgemeine Humanismus konnte die Humanität im Konfliktfall nicht gewährleisten. Es setzte sich deshalb im Protestantismus die Überzeugung durch, dass eine wirkliche Humanität der Menschen einer Begründung jenseits humanistischer Überzeugungen bedarf: in einer Transzendenz, die nicht von der Tagespolitik oder den diversen Ideologien abhängig ist. Zum Symbol für solche Humanität wurde das Kreuz Christi, das dem humanistischen Selbstbewusstsein entgegen gesetzt wurde, eine bessere Welt aus eigner Kraft zu schaffen, und in dem sich die Menschheitserfahrung verdichtete, dass Freiheit ohne Schuld, die der Vergebung bedarf, nicht zu erlangen sei. Karl Barth, auch er ein Schweizer Theologe, der schon während des Krieges diesen von der Schweiz aus kritisch kommentierte, betonte ebenfalls nun das Diskontinuierliche, das durch ein recht verstandenes Christentum erzeugt werde: "der Protest gegen das jeweilige Seiende und Bestehende ist ... ein integrierendes Moment im Reich Gottes, und es waren dunkle, dumpfe, gottlosen Zeiten, wo dieses Moment des Protestes unterdrückt 16 Brunner, Emil: Die Grenzen der Humanität. In: Moltmann, Jürgen (Hg.): Anfänge der dialektischen Theologie. Teil 1: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner. München: Kaiser 1962 (Theologische Bücherei 17,1), p. 264. <?page no="251"?> Zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Protestantismus 251 und verhüllt werden konnte".17 Natürlich gründet auch das Bestehende in Gott und ist insofern zuerst einmal hinzunehmen, so wie es ist. Die bestehende Welt und Gesellschaft ist in dieser theologischen Sicht nicht grundsätzlich böse oder gar widergöttlich. Sie enthält immer auch Gutes. Und doch verstand Barth dann "das Reich Gottes" als "A ngriff auf die Gesellschaft"18. Der Angriff artikuliert sich in einer Reihe schlichter Fragen: Morgen, morgen soll es besser werden? Warum stehen w ir immer nur in den Vorbereitungen zu einem Leben, das nie anfangen will? Warum können wir nicht triumphierend, im Sonnenschein des Humanismus, auf zwei Füßen, mit zwei Händen und zwei Augen ins Reich Gottes eingehen, sondern bestenfalls als Lahme, Krüppel und Einäugige, als die Erniedrigten, Gedemütigten und Zerknirschten? ... Warum können w ir uns ... gerade im letzten Grunde nicht verschließen gegenüber dem Protest, den Kierkegaard gegen Ehe und Familie, den Tolstoj gegen Staat, Bildung und Kunst, den Ibsen gegen die bewährte bürgerliche Moral, den Kutter gegen die Kirche, den Nietzsche gegen das Christentum als solches, den der Sozialismus mit zusammenfassender Wucht gegen den ganzen geistigen und materiellen Bestand der Gesellschaft richtet? 19 M it solchen Fragen wird die bestehende Gesellschaft und Kultur in Frage gestellt und eine neue kritische Positionierung und ein Neubeginn in Gesellschaft, Kultur und auch in der Religion gesucht. So ist für Karl Barth das richtige Verhältnis des Christentums zu Kultur und Gesellschaft immer ein zweifaches: "Neben die schlichte sachliche Mitarbeit im Rahmen der bestehenden Gesellschaft ist die radikale Opposition gegen ihre Grundlagen getreten."20 Doch er warnt sogleich vor dem Missverständnis, durch gesellschaftliche Opposition könne das Reich Gottes auf Erden vorangebracht werden: "[...] so müssen wir uns jetzt sichern gegen den Irrtum, als wollten wir durch Kritisieren, Protestieren, Reformieren, Organisieren, Demokratisieren, Sozialisieren und Revolutionieren [...] etwa dem Sinn des Gottesreiches Genüge leisten."21 Das Reich Gottes, dieser Zielpunkt aller gesellschaftlichen Floffnung im Christentum, wird nun in der theologischen Verarbeitung der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der als eine humanitäre Katastrophe und als Versagen jeglicher humanen Kultur erfahren wurde, als etwas ganz anderes begriffen als sich hier auf Erden als menschliches Unternehmen realisieren ließe. "Die Kraft der Thesis und die Kraft der Antithesis wurzeln in der 11 Barth, Karl: DerChrist in der Gesellschaft (1920). In: Ders.: Das W ort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge. München: Kaiser 1924, p. 50. 18 Ibid., p. 60. 19 Ibid., p. 61. 20 Ibid., p. 64f. 21 Ibid., p. 64. <?page no="252"?> 252 Hans-Peter Grosshans ursprünglichen, absolut erzeugenden Kraft der Synthesis", die nach Barths theologischer Überzeugung jedoch gerade nicht in der Welt und Gesellschaft ist, sondern transzendent sein muß. "Nur in Gott ist die Synthesis zu finden ..., die Synthesis, die in der Thesis gemeint und in der Antithesis gesucht ist."22 Kein gesellschaftlicher Zustand kann theologisch legitimiert werden und beanspruchen, in irgendeiner Form die abschließende Synthese zu sein. Gesellschaftlich ist alles, was realisiert wird, immer nur These und Antithese. Es ist aus der Sicht protestantischer Theologie dieser Zeit anzunehmen, der kritische gesellschaftliche Prozess könnte zu einem Abschluss kommen. So hat der Erste Weltkrieg dem protestantischen Christentum eine grundsätzliche Gesellschafts- und Kulturkritik eingeschrieben und ein Misstrauen gegenüber zu viel Einigkeit in einer Gesellschaft. In dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Auffassung freilich nur von einer sich als Avantgarde verstehenden Minderheit evangelischer Theologen vertreten; und dies auch noch in einer geschichtlichen Phase, in der die junge Demokratie in Deutschland mehr als Kritik kräftige Unterstützung jeglicher Art gebraucht hätte. Allerdings bewährte sich diese vor allem von der sogenannten Dialektischen Theologie vertretene gesellschafts- und kulturkritische Auffassung evangelischer Theologie in der Zeit ab 1933, als es galt, einem nationalistisch und religiös sich überhöhenden Staat (bzw. der regierenden Partei) kritisch entgegen zu treten. 22 Ibid., p. 65f. <?page no="253"?> M i l k a C a r ( Z a g r e b ) Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo im Juni 1914 This paper discusses the often repeated hypothesis that until the July crisis in 1914, the National Theatre in Zagreb functioned as the "centre of spiritual life for all South Slavs" and "a mediator between Serbs and Slovenes" (AGRAMER TAGBLATT, February 5th 1914). Departing from this hypothesis, the paper will analyze the national-integrative role of theatre in pre-war times using the a guest performance of the Zagreb Opera in Sarajevo as a case study. The extremely important role ascribed to the National Theatre and the Opera is justified by the historical role the theatre had in the struggle to homogenize the nation. The main goal of this paper is therefore to present emancipatory discourses as patterns of emotional activation in the process of creating an imaginary community of South Slavs in pre-war times of crisis. In doing so, the paper uses the methodology of comparative literature and history of theatre reception. Das Phänomen des Gastspiels wird in Theaterenzyklopädien und Lexika1 zumeist in einer kurzen Notiz behandelt und als kommerziell lukrativer A uftritt außerhalb des Stammtheaters beschrieben oder, was in der kroatischen Enzyklopädie2 der Fall ist, in einem unkommentierten chronologischen Überblick über die Frequenz der Dramen- Opern- und Ballettgastspiele behandelt. Demgegenüber soll das Gastspiel in der vorliegenden Arbeit als ein kulturelles Phänomen untersucht werden, das Interkulturalitätsprozesse impliziert, ausgehend von der Einsicht, dass die Spielarten kultureller Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Bereichen aufs Engste verbunden sind und dabei nicht immer konfliktfrei erfolgen, sondern die latenten Konfliktquellen im symbolischen Feld der Kultur aufdecken. Das Phänomen 'Gastspiel' wird im Konzept des kulturellen Transfers3 1 So z. B. Schumacher, Horst: Gastspiel. In: Brauneck, Manfred (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen. Bühnen und Ensembles. Reinbek: Rowohlt 2001, p. 4 H f. ; B.P.F.: Gostovanja. In: Cindrić, Pavao (Hg.): Enciklopedija Hrvatskoga narodnoga kazališta u Zagrebu, 1894-1969. Zagreb: Naprijed 1969, pp. 307-334. Vgl. dazu: Takäcs, Dori: Gastspiele als kulturelle Transfers. Die Wiener Moderne auf Budapests Bühnen. In: Mitterbauer, Helga / Katharina Scherke (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kultu- <?page no="254"?> 254 Milka Car als direkte Begegnung zweier Kulturen verstanden, das ein ganzes Spektrum an symbolischen Bedeutungen im nationalen, historisch-politischen und sozialen Haushalt aktiviert. Damit eröffnet das Phänomen Gastspiel und v.a. seine Rezeption die Möglichkeit, die Kultur als Besinnungsraum für die Stiftung kollektiver und nationaler Identitäten zu verstehen, so dass in diesem Fall Gastspiel als ein Sammelbecken des Erfahrungswissens über die multiethnischen Gebiete Österreich-Ungarns fungiert. DieTradition der Gastspiele beschreibt der kroatische Theaterhistoriker Slavko Batušić als eine wohl organisierte und gesetzlich legitimierte Praxis, die im Rahmen der Monarchie nicht nur von der Aufgabe getragen wird, einen repräsentativen Ausschnitt aus rezenter Theaterproduktion dem Publikum zu präsentieren, sondern vielmehr noch als "national-politische Propagandatätigkeit" verstanden wird, mit dem Ziel, "das patriotische Bewusstsein in durch Assimilationstendenzen gefährdeten Gegenden zu erheben"*1**4. So kann das Phänomen des Gastspiels vor allem in krisengeschüttelten Zeiten als ein kulturwissenschaftlich brisantes Muster gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion beobachtet werden. Zudem wird das damals "rege Gastspielwesen"5 von immanent politischen Faktoren begleitet, denn in ihrer Rezeption zeichnet sich in der Regel die Tendenz ab, die vorhandenen Nationalitätenkonflikte auf das Theater zu projizieren. Die Funktion der Gastspiele wird in zeitgenössischen Printmedien zweifach definiert: Einerseits geht man davon aus, dass die Gastspiele als eine bedeutende kulturelle und künstlerische Innovation zu betrachten sind so wird das Zagreber Landestheater von prominenten Namen und Gruppen besucht, wie z. B. im Jahre 19086 von Sofija Borštnik Zvonarjeva aus dem Slowenischen Theater in Ljubljana, von Dobrica Milutinovic aus dem königlichen Serbischen Theater in Belgrad und Ankica Krnic vom Berliner Theater. Andererseits werden mit der hier exemplarisch angeführten Wahl der Gastspiele zugleich die benachbarten Kontexte und kulturell ähnliche Zonen Umrissen, denn am Anfang des 20. Jahrhunderts soll die Idee der slawischen Zugehörigkeit betont werden, wobei die exogene Ergänzung des Repertoires in Form des Gastspiels mit dieser Idee korrespondiert. Als Grund für die frequenten Gastspiele werden in der Presse an erster Stelrelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Wien: Passagen 2005 (Studien zur Moderne 22), pp. 377-393. 1 Batušić, Slavko: Vlastitim snagama (1860-1941). In: Cindrić, Pavao (Hg.): Enciklopedija Hrvatskoga narodnoga kazališta u Zagrebu, 1894-1969. Zagreb: Naprijed 1969, pp. 79-140, hier p. 107. Batušić, Slavko: Das kroatische Theater. In: Kindermann, Heinz (Hg.): Theatergeschichte Europas. X. Band/ Ill. Teil. Naturalismus und Impressionismus. Salzburg: O. Müller 1974, pp. 242-262, hier p. 247. 6 In: Hrvatsko pravo, Nr. 3775 (2.4.1908), p. 3. <?page no="255"?> Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo imJuni 1914 255 Ie die Ideen über "Patriotismus" und "slawische Einheit"7 angeführt. Erst an zweiter Stelle kommen die Herausforderungen der "neuen modernen Epoche"8. Demzufolge soll das Nationaltheater gleichzeitig die "künstlerischen, patriotischen und sozialen Ideale"9 verfolgen. Die hier zitierte Reihenfolge spiegelt getreu die damaligen Auffassungen über das Gastspiel wieder, denn das Theater als Institution wird nicht an eine autonome Kunstkonzeption gebunden, sondern vor allem durch exogene Faktoren determiniert. In Einklang mit dieser ausgeprägten sozial-repräsentativen Rolle des Theaters betrachtet Slavko Batušić die Gastspiele als "Symptome für das politische Engagement des Theaters, für den Untergang der Monarchie und eine Wiedervereinigung der Völker des slawischen Südens in einem neuen Staat."10 Es lassen sich darin die integrativen Tendenzen erkennen, die u. a. schon im Jahre 1899 zum Tragen kommen, als die Schauspieler des Zagreber Theaters in Kooperation mit bosnischen Schauspielern am 2. Januar 1899 mit Franz Grillparzers Drama Medea das neue Theatergebäude [Narodno pozorište im Vereinshaus] in Sarajevo feierlich eröffnen konnten. Ein weiteres herausragendes Beispiel für die Mobilisierung der kulturellen Institution Theater für nationalintegrative Zwecke findet im Jahre 1914 m it dem Gastspiel des Zagreber Nationaltheaters in der Landeshauptstadt Sarajevo statt. Angekündigt wird ein Gastspiel des zagreber Sprechtheaters, es wird jedoch infolge ausgebrochener ideologischer Auseinandersetzungen abgesagt, was im zweiten Teil dieser Arbeit näher erläutert wird. Schließlich kommt es doch zu einem Gastspiel der Zagreber Oper im Juni 1914. In der Vorbereitungsphase dieses Gastspiels wird auf der Titelseite der Zeitung Male novine11 in einem Artikel unter dem Titel "Zagreb und Sarajevo" eine "Bildungsaktion" des Zagreber Theaters für die "Brüder im Süden" angekündigt, in deren Rahmen Sarajevo sich "nervös" vorbereitet, der "sanftäugigen Frau Thalia ein neues Heim" zu eröffnen. Auffallend ist einerseits der Bildungsauftrag des schon traditionsreichen Zagreber Landestheaters, wie anderseits die nicht konfliktfreien Versuche, die Theaterentwicklung in Sarajevo voranzutreiben. 7 "Bio bi to jedan lijepi korak na polju kulturnog zbližavanja Slavena, koje je tako sjajno manifestirano na nedavno svršenoj sveslavenskoj konferenciji." Anonym: Zašto hrvatsko kazalište nije išlo u Prag? In: Novosti, Nr. 249 (19.7.1908), p. 5. * N.N.: Nekrolog dr. Stjepanu pl. Miletiću. In: Obzor, Nr. 249 (10.9.1908), p. 2. 9 "umjetničke, patriotičke i društvene idejale" J.B-ć [Julije Benešićj: Naša prošla dramska sezona. In: Narodne novine, Nr. 154 (9.7.1909), p. 34. 10 Batušić 1974, p. 252. 11 "Sarajevo se nervozno sprema, da milovidnoj gospodji Thaliji, koja hoće da se udomi među našom braćom na jugu spremi što dostojniji dom" Zagreb i Sarajevo. In: M ale novine. List napredne Demokratske stranke, Nr. 49 (19.2.1914), p. 1. <?page no="256"?> 256 Milka Car Daraus kann man schließen, dass sich in diesem Gastspiel der Zagreber Oper zwei unterschiedliche Entwicklungslinien widerspiegeln, die jede für sich Schlaglichter auf die miteinander verflochtenen und oft antagonistischen theater- und kulturpolitischen Entwicklungen in der letzten Phase der Österreichisch-Ungarischen Monarchie an ihrer südslawischen Peripherie werfen. Das Gastspiel kann als eine regelrechte Parallelaktion gedeutet werden: Einerseits sollen daraus wichtige Entwicklungsimpulse im Kampf für die Europäisierung des kulturellen Lebens in Bosnien und Herzegowina erfolgen. Andererseits kommt es dazu in einem von der österreichisch-ungarischen Zentralregierung oktroyierten und als fremd empfundenen Rahmen, so dass die Aktion im Geiste südslawischer Solidarität wahrgenommen wird, damit Zagreber Opernensemble nicht zu einem Element der von Benjamin Källay propagierten und durchgeführten österreichisch-ungarischen kulturellen Mission wird. Wie strikt die Ablehnung kultureller Aktionen der Okkupationsmacht auch nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie gewesen ist, geht aus dem Artikel des serbischen Theaterhistorikers Alojz Ujes in Kindermanns einflussreicher Theatergeschichte hervor. In seinem Überblick der Theaterperiode bis zur Entstehung eines ständigen Theaters in Serbien im Jahre 1919 hebt er die "enge Zusammenarbeit der Theater in Novi Sad, Beograd, Zagreb" hervor. Rückblickend detektiert er im gleichen Artikel, dass die genannten Theaterhäuser "ein gemeinsames Auflehnen gegen das Fremde verbindet, außerdem sind sie durch die Sprache, die Traditionen und die Pläne für eine neue gemeinsame Zukunft miteinander verbunden."12 Um die divergierenden Entwicklungslinien und die mit ihnen verbundene Zukunftsprojektionen im peripheren südslawischen Raum zu erklären, muss zuerst die Rolle des Zagreber Theaters historisch kontextualisiert werden, um sie mit der Situation in Sarajevo im Jahre 1914 vergleichen zu können. Die Rolle des Zagreber Landestheaters muss in diesem Zusammenhang auch deshalb besonders dargestellt werden, da das Argument für das Gastspiel in der kroatischen Presse von der Annahme ausgeht, dass das Zagreber Nationaltheaters "dem Brudervolke"13 Orientierung anbieten und kulturelle Entwicklungshilfe leisten könne. Damit wird die oft vorkommende These aktualisiert, das Zagreber Theater sei bis zur Julikrise 1914 12 Ujes, Alojz: Das serbische Th eater. In: Kindeimann 1974, pp. 263 283, hier p. 269. 13 "[...] da se udomi medju našom braćom na jugu spremi što dostojniji dom" N. N.: ,Zagreb i Sarajevo'. In: Narodne novine, Nr. 65 (20.3.1914), p. 4. <?page no="257"?> Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo imJuni 1914 257 das "Zentrum des geistigen Strebens aller Südslawen" und "Vermittler zwischen den Slowenen und Serben"14. Gerade deshalb müsse es m it seinen künstlerischen Leistungen an der Spitze seiner Zeit bleiben. Zagreb sei "die kulturellste Stadt in den südslawischen Ländern" und dürfe seine integrative Führungsposition nicht hergeben, lässt sich im Feuilleton des Agramer Tagblattes lesen, worin die stark ausgeprägte und immer wieder betonte nationalbildende und nationalintegrative Funktion des Theaters hervorgehoben wird. Der kroatische Dramatiker und Dramaturg Milan Ogrizović15 betont die Notwendigkeit, "guten Schritt mit dem, was draußen bei großen Kulturvölkern hervorgebracht w ird "16zu halten, und so ein dem Landestheater angemessenes Niveau zu behalten. Ähnlich wird im 1914 veröffentlichten und positiv intonierten Bericht aus der Wiener Zeit die repräsentative Funktion des Zagreber Theaters betont. In seinem kurzen historischen Überblick erwähnt der anonyme Berichterstatter die Wurzeln des Zagreber Theaters im illyrischen Programm der politischen und kulturellen Vereinigung aller Südslawen und damit auch seine herausragende kulturelle Funktion. Der umfassende Artikel schließt mit folgender Feststellung: "W ir können kühn behaupten, dass unser heutiges Repertoire m it jenem Europas einherschreitet."17 In Zusammenhang damit kann die Frage gestellt werden: Woher kommt die hohe Wertschätzung der eigenen Position? Sie findet ihre Rechtfertigung vor allem in der geschichtlichen Rolle, die das nationale Theater im Kampf um die kulturelle Emanzipation und Homogenisierung der Nation gespielt hat. Die Sendung des kroatischen Nationaltheaters, die aus dem Schwung der illyrischen Bewegung hervorgeht, wird für die Bestätigung der nationalen Repräsentationsbedürfnisse mit nationalen und integrativen Elementen aufgeladen, was ein langfristiger Prozess ist, der die ganze erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet und auf engste m it allgemeinen sozialen Entwicklungen in der letzten Phase in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie verbunden ist. Die klaffenden Unterschiede zwischen dem industrialisierten Zentrum und den unterentwickelten Randgebieten der Habsburger Monarchie verschärfen die ungelösten nationalen Fragen, während sich die Innenpolitik in Versuchen erschöpft, das immer stärkere Drängen nach nationaler Emanzipation zu verhindern. Dadurch erstarken die Autonomiebestrebungen der Völker zusätzlich. Als Antwort auf die Machtpolitik Wiens und die Durchsetzung imperialis- 11 Z. R.: Literarische Revuen. In: Agramer Tagblatt, Nr. 28 (5.2.1914), pp. 1-2. Dr. M. 0: Feuilleton. In: Agramer Tagblatt, Nr. 46 (31.4.1914), pp. 1-2. 16 Z. R.: Literarische Revuen. In: Agramer Tagblatt, Nr. 28 (5.2.1914), pp. 1-2. 17 N.N: Königl. Kroatisches Landestheater in Agram (Zagreb). In: Die Zeit, Nr. 4360 (15.11.1914) P- 25. <?page no="258"?> 258 Milka Car tischer Ziele nach dem 1879 geschlossenen Bündnis der Monarchie mit dem Wilhelminischen Deutschland als "Drang nach Osten" bezeichnet und gefürchtet werden die proslawischen integrativen Tendenzen immer stärker, wom it die Idee der Zusammengehörigkeit und potentieller Vereinigung virulent wird. Damit eng verbunden ist ein weiteres Merkmal des kroatischen Nationaltheaters, das in seiner Entstehungsphase von kulturell und sozialgeschichtlich vielfach belasteten Kontakten m it der deutschsprachigen Dramatik stark geprägt war. Die Ambivalenz gegenüber dem deutschsprachigen Theater geht aus der Tatsache hervor, dass das Nationaltheater in Zagreb starken Einflüssen der deutschsprachigen Dramatik unterliegt, zugleich aber im Zuge der Artikulation nationaler Identität große gesellschaftliche Integrationskraft bekommt. So ist die Feststellung richtig, dass das Theater vom Phantasma eines einheitlichen nationalen Theaters auch in seiner weiteren Entwicklung hypnotisiert18 bleibt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wird im andauernden Primat der exogenen Sphäre eine neue Ausrichtung erkennbar, in der versucht wird, v. a. an die slawischen Theatermodelle anzuknüpfen, die dem Publikumsprofil und den neuen national-integrativen Ideen mehr entsprächen. Somit wird das Theater für die Ideen der südslawischen Solidarität instrumentalisiert. Exemplarisch für diese Tendenz ist ein Artikel der Zeitung Novosti zur neuen Balkankrise191913, in der der Sieg "unserer Brüder aller drei Konfessionen" nach der "fünfhundertjährigen Periode türkischer Versklavung"20 gefeiert wird. Da in diesen Jahren das Laibacher Theater nicht tätig war, falle dem Zagreber Theater die "Rolle eines Kulturzentrums" am Balkan zu. Es hätte damit zehn Millionen Südslawen zu repräsentieren, sodass es sich nicht leisten könne, "nur die Aufgabe eines Durchschnitts-Provinztheaters" zu erfüllen, sondern sich als ein "vollwertiges Kulturinstitut"21 behaupten müsse. Dies ist allerdings nur mit einer größeren Beachtung des kroatischen bzw. slawischen Repertoires zu erreichen. Damit wird die geschichtlich verankerte Rolle des Theaters in Flinblick auf dessen zukünftige Mission im Projekt der einheitlichen südslawischen Nationenbildung22for- 18 Čale Feldman, Lada: "Teorija", transdisciplinarnost i (nacionalno) kazalište. In: Biti, Vladim ir/ Nenad Ivic (Hg.): Prošla sadašnjost. Znakovi povijesti u Hrvatskoj. Zagreb: Naklada MD 2003, pp. 292-323, hier p. 313. 14 Zur Einstellung der kroatischen Öffentlichkeit zu Balkan-Kriegen vgl. Despot, Igor: Balkanski ratovi 1912.-1913. i njihov odjek u Hrvatskoj. Zagreb: Plejada 2013. 20 "Naša braća svih triju vjeroispovijesti na Balkanu oslobodjena su iz turskog jarma poslije robovanja od petstotina godina." N. N.: Nova kriza na Balkanu. In: Novosti, Ni. 142 (29.5.1913), p. lf. 21 Zd. V. [Vernić, Zdenko]: Ein kritischer Rückblick. Dererste Monat der Theatersaison. In: Agramer Tagblatt, Nr. 2284 (10.1913), pp. 1-3. 22 Zu verwickelten Antagonismen und Einheitlichkeitsdiskursen vgl. Kann, Robert A.: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen <?page no="259"?> Gastspiel der zagreber Oper in Sarajevo imJuni 1914 259 muliert. Im Theater wurden in der Folge die Forderungen nach der "Pflege der kroatischen Kunst, der kroatischen dramatischen literarischen Produktion und der kroatischen Darstellerkunst" noch lauter, um sein "Daseinsrecht als kroatisches Landestheater zu erwerben",*23so der damals einflussreiche Theaterkritiker Zdenko Vernić. Zu einem Loyalitätsbruch der Monarchie gegenüber kommt es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorerst nicht, die klare südslawische Orientierung wird erst ab dem Jahr 1917 virulent, als auch im Theater die Verkündungen südslawische Solidarität nicht mehr von Zensurmaßnahmen verhindert werden können. Damit wird die Rolle des Theaters "nicht nur als Tempel unserer Bildung, sondern auch unseres nationalen und politischen Bewusstseins"24aufgefasst. Darin sind die gleichen Mechanismen erkennbar, die die Institution Theater unmittelbar mit dem nationalbildenden Diskurs verknüpfen und in damalige unterschiedlich akzentuierte Flomogenisierungsprojekte überführen. Im so umrissenen Rahmen werden die Gastspiele als eine Möglichkeit angesehen, diese sozial verankerte repräsentative Rolle des Theaters zu bestätigen. Auch die besonders repräsentative Rolle der Oper wird anlässlich der Ernennung des neuen Intendanten des kroatischen Landestheaters Vladimir Treščec Branjski, der mehrere Jahre als Verwaltungsbeamter in Bosnien tätig war, betont. In der Wiener Zeit konnte man über seine Verdienste lesen: "Unter der Leitung unseres gegenwärtigen Intendanten stieg der Ruf unserer Oper wie nie zuvor: ihre Gastspiele in Belgrad, Sarajevo, Dalmatien und Laibach feierten wahre Triumphe."25 Das Ziel solcher feierlichen Ankündigungen ist, emphatisch die repräsentative Funktion des Theaters zu beleuchten und damit insgesamt "unserem kleinen Lande mehr Aufmerksamkeit [zu] widmen",26womit im Versuch, den hohen künstlerischen Status der kroatischen Oper hervorzuheben, unbemerkt die eigene periphere Lage fixiert wird. Das Opernensemble gastierte in der Vorkriegssaison 1913/ 14 in Ljubljana, da die Oper im damaligen Herzogtum Krain aufgelöst27wurde. Bestrebungen vom Vormärz bis zu ! Auflösung des Reiches im Jahre 1918.2. Bde. Graz, Köln: Böhlau 1964. 23 Zd. V.: Kroatische Dramaturgie. In: Agm m er Tagblatt, Nr. 135 (14.6.1913), pp. 1-2. 24 "Hrvatsko nas je kazalište probudilo, osvjestilo kulturno i nacijonalno, otreslo zauvijek tudjinštine iza težkog doba absolutizma i pokazalo nama i cielom svietu i onima, koji su nas barbarima zvali, d a je i hrvatski duh i hrvatski jezik dorastao za velika umjetnička djela. Hrvatsko narodno kazalište je dakle ne samo hram prosvjete naše, nego isviesti naše naše nacijonalne i političke." Lj. M: Proslava dvadesetogodišnjice nove kazalištne zgrade. In: Hrvatska. Glavno glasilo stranke prava za sve hrvatske zemlje, Ni. 1187 (15.10.1915), p. 1. 25 In: Die Zeit, Nr. 4360 (15.11.1914), p. 25. 26 Ibid. 27 "So gab es vom 30. März 1913 bis zum 21. November 1918 keine slowenischen Opernaufführungen." Noll, Josip/ Fran Gerbič: Slowenien. In: Kindermann 1974, pp. 214 241. <?page no="260"?> 260 Milka Car Auch diese Gastspiele werden als ein Kohäsionsfaktor für die südslawische Bevölkerung innerhalb der Monarchie angesehen, denn unterstützt werden sie "nicht mehr von den äußerst konservativen Landesbehörden, sondern von dem liberal gesinnten Stadtrat."28 Daraus ist zu schließen, dass die für das 19. Jahrhundert in kroatischen Landen typische Situation politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Rückständigkeit dazu führt, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts die Kultur von politischen und ideologischen Faktoren entscheidend geprägt wird und im Dienste unterschiedlicher nationaler oder unitaristischer Programme stand. Die oft gebrauchte Wendung vom Sendungsbewusstsein des Theaters ist in ähnlich programmatischer Form in Reaktionen auf das angekündigte Gastspiel in Sarajevo zu lesen. Das Theater erweist sich in dieser Perspektive als Medium für ideologische und nationale Inhalte, wobei ausdrücklich gefordert wird, die neuen südslawischen Identitäten kroatischen, bosnischen, serbischen oder jugoslawischen zu kontextualisieren. III. Von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend, jedoch vergleichbar ist die Rolle des erst zu gründenden Theaters in Sarajevo, das auch als ein "künstlerisches und erzieherisches Institut"29* definiert wird, jedoch keine klare historische Entwicklungslinie vorzuweisen hatte. Zudem wird noch vor der offiziellen Theatergründung aus einer kulturellen Theaterfrage eine politische Frage gemacht. In seinen theatergeschichtlichen Arbeiten geht der Theaterhistoriker Josip Lešić von der Notwendigkeit aus, Kontinuitätslinien zu entwickeln, denn am Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgt die Gründungsphase des ständigen Theaters in Sarajevo oft nur "ad hoc, zufällig, ohne System, gebrochen, in zerrissenen und gebrochenen Linien".80Erschwerend kommt hinzu, dass die Gründung einer ständigen Bühne stets vom starken politischen Druck begleitet wird. Lešić betont in diesem Zusammenhang weiter, die "Theaterkunst in Sarajevo war nie frei von Politik".31 Den politischen Druck in der Zeit nach der Annexion Bosniens erklärt Lešić mit Formel von der "österreichisch-ungarischen Politik der Entfrem- 28 Ibid., p. 224. 29 In: Hrvatski dem, Nr. 92 (24.04.1914), p. 1. 50 "ad hoc, od slučaja, bez sistema, iskidano, u vrludavim i nepovezanim linijama, bez jasne umjetničke koncepcije" Lešić, Josip: Skica za (ne) napisanu istoriju pozorišta Bosne i Hercegovine. In: Ders. (Hg.): Savremena drama i pozorište. Novi Sad: Sterijino pozorište 1984, pp. 5-41, hier p. 5. ” Ibid., p. 6. <?page no="261"?> Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo imJuni 1914 261 dung". Er versteht das Ziel der neuen Macht als "totale Okkupation", die mittels der "kulturellen und geistigen Domination"32durchzuführen gewesen wäre. In seiner kurzen Theatertypologie zählt Lešić die Jahre von 1908 bis 1914 zur dritten Periode der Theaterentwicklung in Sarajevo, die vor allem durch Abwesenheit eines ständigen Theaters gekennzeichnet war. Diese Phase charakterisiert er als Periode der Epigonalität und der Dekadenz, vor allem deshalb, weil das Theater "nicht nur das deutsche Provinzrepertoire, sondern auch die deutsche Provinzmentalität übernim m t".33 Der andere Chronist des Sarajevoer Theaters Dragoljub Vlatković erklärt diese Gründungsabsichten ohne ideologische Markierung als einen "kulturellen Entwicklungsschub unter der schwarz-gelben Fahne"34, denn die damalige bosnisch-herzegowinische Landesregierung hat offiziell das erste professionelle Theater35 gegründet. Bilinski erwog die Idee, diese neue kulturelle Institution "Franz Joseph Nationaltheater" zu nennen, was davon zeugt, dass diese Institution als "Instrument im Kampf gegen alle Formen freiheitlicher und revolutionärer Ideen"36 geplant wurde. Zum Intendanten wurde Mihailo Marković und zum technischen Direktor der kroatische Dramatiker Milan Begović37*ernannt. Der zagreber Intendant Treščec Branjski riet dem neu ernannten Intendanten Marković, den kroatischen Dramatiker und damaligen Lektor Milan Ogrizović zum Dramaturgen im Zagreber Theater zu berufen. Er wird in der kroatischen Presse als ein "kreativer und reform orientierter" Theatermensch dargestellt, der imstande wäre, dem erst zu gründenden Theater 32 Ibid. 33 Die erste Periode bezeichnet er als die Periode des romantischen Nationalismus nach der Okkupabon Bosnien und Herzegowinas im Jahr 1878, die zweite Periode umfasst die Jahre von 1895 bis 1908, in denen die Formen des bürgerlichen Theaters, u. a. auch mit zahlreichen Gastspielen entwickelt werden. Schon in dieser Periode verzeichnet er den immer stärkeren Einfluss des deutschsprachigen Theaters, den er in Hinblick auf die nabonalintegrabven Prozesse nur negabv beurteilt. Vgl. dazu Lešić 1984, p. 10. 34 Vlatković, Dragoljub: Počeci rada sarajevskog pozorišta. Sarajevo: Sonderdruck 1972, pp. 54- 90, hier p. 54. 35 Vgl. dazu Kapidžić, Hamdija: Pokušaj osnivanja stalnog pozorišta u Sarajevu 1913. g. In: Život, Nr 10 (1958), pp. 665-662; Dizdar, Hamid: Osnivanje Prvog državnog pozorišta u Bosni i Hercegovini. In: Pozorište Nr 1 (1967), pp. 33-40. 36 "instrument za borbu probv svih oslobodilaćkih i revolucionarnih ideja" Dizdar 1967, p. 33. 37 "Po mišljenju ove vlade bilo bi najzgodnije pozvab za upravnika g. Milana Begovića. On je već godine 1914. namešten u bos.herc. službi u svojstvu profesora sarajevske Gimnazije i to prema godinama službe u Vili činovnom razredu [...] neko vrijeme u Gimnaziji sarajevskoj kao nastavnik, a kad je 1915. određena evakuacija stanovništva iz Sarajeva, obšao je u Beč, gde je uzet u vojničku službu odakle se do danas nije vrabo na svoje mjesto. U februaru 1919. pozvan je Begović da se vrab u Sarajevo s primjedbom da će mu se obustavib isplaćivanje prinadležnosti." In: Hrvatski don, Nr 92. (24.04.1914), p. 1 <?page no="262"?> 262 Milka Car in Sarajevo "eine feste und solide Basis für seine organische Entwicklung"38 zu bürgen. Dieser Vorschlag wird m it einem Veto aus der Redaktion des Srpske Riječi abgelehnt, da Ogrizovic politisch exklusiv kroatische Ideen3940 vertreten hat. Daraufhin werden die geplanten Vorbereitungen unterbrochen und zum angekündigten Gastspiel des Zagreber Dramenensembles kommt es nicht. Stattdessen findet in der ersten Hälfte des 1914 das Gastspiel des Zagreber Opernensembles unter Leitung Srećko Albinis in Sarajevo statt. Die Zeitung Male novine40 aus Zagreb hat einen Artikel aus der Slowenischen Illustrierten Wochenzeitung übernommen, in dem der Status des angesehenen Dirigenten und Opernleiters Srećko Albinis erklärt wird. Nicht nur, dass er der Zagreber Oper in seiner Amtszeit ihr künstlerisches Renommee nach einer längeren Pause in der sogenannten dritten Opernperiode41zurückerobert hat, vielmehr werden seine Operettenerfolge hervorgehoben, m it denen er zugleich die Ideen der südslawischen Solidarität m ittransportiert und somit als "jugoslawischer Künstler"42 das bosnische, serbische und kroatische Publikum ansprechen konnte. Diesmal hat auch die Zeitung Srpska riječ*3das Gastspiel begrüßt und das große Interesse für Zagreber Oper hervorgehoben. Im Sarajevoer Tagblatt wird das Gastspiel des Zagreber Opernensembles m it Begeisterung angekündigt. Betont wird, dass die Karten schon im Vorverkauf vergriffen seien, wom it ein "lebendiges Interesse" "dem Agramer Ensemble" entgegengebracht wird, da das Publikum in Sarajevo "dessen erstklassige künstlerische Darbietungen [...] wohl zu schätzen weiß" und deshalb ihm "besonders gewogen ist".44 In der Bosnischen Post wird "im Festsaale des Vereinshauses ein auf sechs Abende berechnetes Gastspiel" der Zagreber Oper angekündigt, das "von einem eigenen Empfangskomitee begrüßt werden"45 solle. Dadurch wird diese später als 58 "U sporazumu s intendantom hrvatskog kazališta g. Trešćecom odlučio se onda, da uzme za dramaturga i literarnog upravitelja sarajevske drame profesora dra Milana Ogrizovića [...] kao stvaralac i reformator, koji će bosansko kazalište postaviti na stalnu i solidnu bazu i osigurati mu trajnu budućnost i organički razvoj" Ibid. 59 Zur Genese der exlusiv kroatischen Ideologie vgl.: Gross, Mirjana: Povijest pravaške ideologije. Zagreb: Hrvatski institut za povijest 1973. 40 Slovenci o ravnatelju naše opere Srećku Albiniju. In: M ale novine, Nr. 109 (22.4.1914), p. 2. 11 So heißt es in der Festschrift des kroatischen Nationaltheaterszum50-jährigen Jubiläum der Zagreber Oper. Vgl. Uprava narodnog kazališta: Hrvatska opera (1870.-1920.) O pedesetoj godišnjici njezina vijeka. Zagreb: Kr. zemaljska tiskara 1920. 42 Vgl. ibid. 43 Zagrebačka opera. In: Srpska riječ, 24.4.1914. 44 Die Agramer Oper in Sarajevo. In: Sarajevoer Tagblatt, 24.4.1914. 45 Das Gastspiel der Zagreber Oper. In: Bosnische Post, 24.4.1914. <?page no="263"?> Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo im Juni 1914 263 "ruhmvoll" bezeichnete Tournee der Zagreber Oper angekündigt, aus der sie "moralisch und materiell"46 gestärkt ihre repräsentative Funktion und ihr Sendungsbewusstsein bestätigen kann. In Sarajevo entwickelt sich je doch aus diesem Impuls in diesem Jahr kein ständiges Theater, denn die Krise explodiert im Juni, so dass die geplante Theatergründung auf das Jahr 192047verschoben wird und im Zeichen des integralen Jugoslawismus erfolgt. Auch in diesem Fall wird die kulturelle Entwicklung von exogenen Faktoren entscheidend beeinflusst. Angekündigt wurden Opern aus dem erwarteten kosmopolitischen Repertoire wie Traviata und Tosca, wie auch die populären slawischen Operetten Polenblut [Poljačka krv] von Oskar Nedbal und Franz Lehars Endlich allein [Napokon sami]. Gesungen wurde von prominenten Ensemblemitgliedern, u. a. von Sängerinnen wie Mira Korošec, Irma Polak, Maja de Strozzi und Krista Zupančić, wie auch von Opernsängern wie Zvonimir Strmac, Marko Vušković, Marijan Kondracki, Davor Lesić-Križa und Aleksander Binički. Daraufhin berichtet die Zagreber Zeitung Obzor vom "kolossalen"48*Erfolg des Gastspiels und vom besonders warmen Empfang in Sarajevo. Die kroatischen Künstler werden nicht nur von einer riesigen Menschenmasse bei ihrer Ankunft begrüßt, sondern auch von einem hohen Empfangskomitee, angeführt vom Sarajevoer Bürgermeister Fehim Ćurčić, dem Parlamentspräsident Safvetbeg Bašagić, dem StadtpoIitikerJosip Vancaš, wie auch von Abgeordneten Vasić und Besarovic und anderen. Alle Opernaufführungen wurden positiv und sogar begeistert aufgenommen, die Zagreber Zeitung Narodne novine49 schreibt von Ovationen, Geschenken und Blumen, die die Künstler entgegennehmen. Nach dem Abschluss des Gastspiels werden die Dankesbriefe der kroatischen Leitung in allen bosnischen Zeitungen publik gemacht: Der Direktor des bosnisch-herzegovinischen Landestheaters Mihajlo Markovih erhielt vom Direktor des königlich-kroatischen Landestheaters Felix Albini nachstehendes Telegramm: Ich bitte Sie, dem ganzen Ausschüsse die Gefühle unserer tiefsten Dankbarkeit für die uns erwiesenen Sympathien und das Entgegenkommen anlässlich des Gastspiels der kroatischen Oper ausdrücken. Wir danken allen! AufWiedersehen! 50 46 Vgl. Uprava narodnog kazališta: Hrvatska opera, p. 42. 47 Vgl. dazu: Isović, Kasim: Pitanje osnivanja pozorišta u Sarajevu 1919 godine. In: Život, Nr. 10 (1967), p. 776-780. 48 Gostovanje zagrebačke opere u Sarajevu. In: Obzor, Nr. 120 (2.5.1914), p. 4. 44 "Oduševljenje neopisivo; poslije pmog čina umjetnici su obdareni skupocjenim darovima. Kiša vienaca ih je zasula i pozdravila na pozornici, a odobravanju nije bilo kraja." In: Narodne novine, Nr. 274 (6.4.1914), p. 2. 50 Der Dank der Zagreber Oper. In: Bosnische Post, 11.5.1914. <?page no="264"?> 264 Milka Car In der Zeitung Vakat wird der Originalwortlaut übertragen, in dem Srećko Albini emphatisch bei dem "lieben Brudervolke sich bedankt"51und dam it die damals virulent gewordenen Diskurse der Brüderlichkeit aktiviert. Die begeisterte Aufnahme zeugt davon, dass das Gastspiel zu einem tem porär befristeten Interferenzraum wird, in dem die Hoffnung auf Neubeginn im Zeichen kultureller Kooperation m it dem kroatischen Nachbarn im Rahmen der Monarchie als eine reale Möglichkeit für die weitere Modernisierung der Gesellschaft erscheint. Jedoch sind in der Presse auch dissonante Tone zu vernehmen, so schreibt die exklusiv kroatisch nationalistische Zeitschrift Hrvatska von der Zukunft des erst zu gründenden Sarajevoer Theaters, das als eine "neue kulturelle Errungenschaft" in der bosnischen Provinz m it klarem "erzieherisch-national-kulturellen Zweck"52 erfolgen solle. Betont wird das kulturelle Prestige des Theaters, das Sarajevo zu einer europäischen Stadt machen würde. Gleichzeitig werden die in einem Teil der damaligen kroatischen Öffentlichkeit präsenten Diskurse von dem völligen Verlust der kroatischen Einflusssphäre in Bosnien und Herzegowina angesprochen, die m it der Angst vor serbischer Dominanz infolge expansiver serbischer Kulturpolitik untermauert werden. So ist in der Zeitung Male novine53zu lesen, dass die kroatische Sprache im neuen Theater in Sarajevo vernachlässigt wird. Damit werden die ideologischen Kämpfe zwischen der schon ausprofilierter Idee der südslawischen bzw. jugoslawischen Solidarität auf der einen und den historischen Ideen eines exklusiv kroatischen bzw. serbischen Nationalismus auf der anderen Seite angesprochen. Wie stark die ideologische Markierung auch im künstlerischen Bereich war, zeigt allein die Tatsache, dass daraufhin im neu gegründeten SHS-Königreich im Vorbereitungsprogramm der neuen bosnischen Landesregierung für die Gründung des Theaters 1919 steht, dass die erst zu gründende Institution nach dem Modell des serbischen Theaters erfolgen und dadurch tatsächlich zu einer "Filiale des Belgrader 51 "Pod dojmom onih krasnih časova, koje smo među svojom milom braćom sproveli i koji će ostati vječno usađeni u našim srcima šaljemo Vam kao pročelniku Sarajeva najsrdačnije pozdrave. Zahvaljujemo svim Sarajlijama na Ijubeznom gostoprimstvu i susretanju i Vas, da ova naša čuvstva zahvalnosti primite kao maleni znak naše duboko osjećanje harnosti. Živilo šeher Sarajevo! Živio njegov dični načelnik! " Zahvala zagrebačkog kazališta Sarajevu. In: Vakat, 2.5.1914. 52 "Početkom listopada treba da se Sarajevu otvori Bosansko-Hercegovačko "pozorište" kako je to već strane uprave najavljeno. Eto nas u predvečerje otvorenja te naše nove kulturne tekovine, koja treba u prvom redu, da posluži odgojnoj nacionalno-kulturnoj svrsi; čistom narodnom riječi i umjetničkim predavanjem. U drugom pak redu treba da nam taj naš dramsko-glasbeni umjetnički zavod podigne u svijetu ugled, da postane naše Šeher-Sarajevo Evropski grad." J. K. Budućnost sarajevskog kazališta. In: Hrvatska, Nr. 896 (25.7.1914), p. 27. 53 In: Male novine, Nr. 33 (3.2.1914), p. 2. <?page no="265"?> Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo im Juni 1914 265 Theaters"54werden sollte. So spiegelt das Gastspiel der kroatischen Oper in Sarajevo die ideologischen Differenzen im südslawischen Raum wider, wobei sie im bosnischen Fall infolge der komplexen historischen Entwicklung, die Miranda Jakiša in ihrer Studie treffend als "Bosniens vervielfachte Zwiegerichtheit"55beschreibt, äußerst komplex sind und weiter potenziert werden. In diesem Zusammenhang führt der bosnische Theaterhistoriker Josip Lešić aus, dass gerade die österreichisch-ungarische Administration das erste Theater in "serbokroatischer Sprache"56 organisiert habe, jedoch bringt er diese "kulturelle Mission" m it der politisch-ideologischen Situation im okkupierten Bosnien in Verbindung. Er leitet die Entwicklung des Theaters in Sarajevo aus zwei entgegengesetzten Tendenzen ab: Einerseits soll das Theater indigenen Faktoren entspringen und anhand der Initiative der einheimischen Kulturträger und Theaterleute entstehen, andererseits wird es seitens österreichisch-ungarischer Kulturpolitik vorangetrieben. Lešić deutet diese kulturpolitische Initiative als einen Kontrollmechanismus, denn die Gründung eines aus dem Zentrum der Monarchie gesteuerten Theaters würde den "leidenschaftlichen Wunsch"57 nach Entwicklung eines Nationaltheaters paralysieren und somit die eigenständige Kulturentwicklung verhindern. Die im Jahre 1913 von der österreichisch-ungarischen Leitung initiierte Theatergründung deutet er als "Bedürfnis nach Eliminierung des immer stärkeren serbischen Einflusses auf das Kulturleben in Bosnien und Herzegowina".58 Er zitiert dazu den Briefwechsel zwischen dem Gemeinsamen Finanzminister Leon Bilinski und dem Landeschef General Oskar Potiorek, in dem es heißt, das Theater "solle dem Regime dienen und sich möglichst eng mit ihren politischen Auffassungen verbinden, d. h. mit der sgn. Großpolitik" wie die kulturelle und politische Mission59 Österreich-Ungarns auf dem Balkan genannt wurde. Als Ziel dieser Aktion wird angeführt, "das serbische Prestige in Hinblick auf das kulturelle Leben 54 Darüber schreibt ausführlich Dragoljub Vlatković in seinem Artikel über die Anfänge des Sarajevoer Nationaltheaters. Vgl. Fußnote 34, hier insbesondere p. 56f. 55 Jakiša, Miranda: Bosnientexte. Ivo Andrić, Mesa Selimović, Dževad Karahasan. Berlin et al.: P. Lang 2009 (Slavische Literaturen), p. 13. 56 Lešić, Josip: Sarajevsko pozorište između dva rata (1918-1929). Sarajevo: Svjetlost 1976, hier p. 13. 57 Ibid., p.9f. 58 Ibid., p. 19. 59 Flamdija Kapidžić hat in seiner Arbeit den privaten Brief von Bilinski an Pocorek aus August 1913, in dem es heißt: "M ir läge aber aus Rücksichten der grossen Politik der Monarchie daran, dass mit der obigen Aktion, deren Popularität wohl durch keine Kraft, sei es in Bosnien, sei es in Serbien, untergraben werden könnte, schon in der jetzigen, für die Monarchie und die süd-slavischen Völker so kritischem Zeitpunkte begonnen werden mochte." Arhiv Bosne i Flercegovine. Priv. reg. br. 672/ 13, zit. nach: s. Fn. 34. <?page no="266"?> 266 Milka Car in Bosnien und Herzegowina einzudämmen". Damit soll - und dieses Zitat ist äußerst signifikant für die baldige Entwicklung in Sarajevo verhindert werden, dass diese "politisch heikle Materie, die in der Öffentlichkeit immer stärker vertreten wird, im Theater Verbreitung findet und so zu einer unangenehmen Explosion führt".60 Das kleine Gastspiel der kroatischen Oper hat zu einer Explosion der Begeisterung geführt, die jedoch die unterschiedlichen Visionen nicht miteinander versöhnen konnte. Dasvon österreichischer Landesregierung organisierte Landestheater hat nach dem Ausbruch des Krieges nie als ständiges Theater61funktioniert. In seiner Kulturgeschichte Bosniens geht Ivan Lovrenović von einem ähnlichen Befund aus und schreibt vom Versuch der k. u. k. Macht, angeführt vom Reichsfinanzminister und dem Hauptarchitekten der Religions- und Nationalitätenpolitik in Bosnien und Herzegowina Benjamin Källay (1882- 1902), die "Modernisierung und Europäisierung der Gesellschaft"6263 im "Namen einer zivilisatorischen Mission" durchzuführen. Jedoch würden in seinem Plan die komplexen ethnischen, religiösen und historisch-sozialen Implikationen nicht beachtet, denn "längst sind die unterschiedlichsten, nationalen Identifikationsprozesse aller drei Nationen im Gange", so dass der Versuch, "Bosnien von allen politischen Integrationsprozessen im breiteren südslawischen Raum abzuschneiden"53scheitern muss. Ivan Lovrenović schließt mit der Feststellung, dass der komplexe "Prozess der nationalen Selbstidentifikation nicht zu stoppen"64 war. Diesen integrativen Zielen ist auch die Gründung der Bühne in Sarajevo gewidmet, die sich erst im Jahre 1919 konsolidiert und von der Aufgabe getragen wird, "ein Theater fürs Volk zu werden, das Aufklärung verbreiten, das Nationalbewusstsein wecken und Kunst pflegen würde",65wie es in der damaligen Presse heißt. Abschließend kann man daraufhin in Zagreb die Formen der proklamierten "nationalen südslawischen Kulturpolitik"66in ihrer nationalen und 60 "trebala da služi režimu i da se što uže poveže sa političkim shvatanjima njegovih nosilaca, tako zvanoj velikoj politici", kako je bila nazvana kulturna i politička misija Austro-Ugaiske na Balkanu, ali i "suzbijanju srpskog prestiža u oblasti kulturnog života BiH" spriječiti da "politički zapaljiva materija, koja se u javnosti nagomilala, povećava preko pozorišta i da dovede do neprijatne eksplozije" Ibid., p. 20. 61 "Planirano stalno austro-ugarsko pozorište nije uopšte radilo kao stalno pozorište." Markovih, Marko: Trideset godina Narodne republike Bosne i Hercegovine. In: Bilten Narodnog pozorišta. Sarajevo: Narodno pozorište 1951, p. 3. 62 Lovrenović, Ivan: Bosnien und Herzegowina. Eine Kulturgeschichte. Übers. Von Klaus Detlef Olof. Wien, Bozen: Folio 1999, p. 142f. 63 Ibid., p. 144. 64 Ibid. 65 "jedno narodno pozorište koje bi širilo prosvjetu, budilo nacionalnu svijest i njegovalo umjetnost." Isović, Kasim: Pitanje osnivanja pozorišta u Sarajevu 1919. g. In: Život 8 (1958), p. 77. 66 Vernić, Zd.: ,Theaterpolitik'. In: Agramer Tagblatt, Nr. 28 (16.3.1920), p. 4. <?page no="267"?> Gastspiel der Zagreber Oper in Sarajevo im Juni 1914 267 integrativen Funktion m it verfolgen, indem die symptomatischen Rezeptionswandlungen nachgezeichnet werden, die von der emphatischen Nähe "dem Brudervolke"67 gegenüber bis zur kriegsbedingten Distanzierung in der traditionsreichen Beziehung des Zagreber und Sarajevoer Theaters reichen. Die Reflexe einer "nationalen südslawischen Kulturpolitik"68werden insbesondere seit der Proklamation von Korfu, einem von der serbischen Regierung und dem Jugoslawischen Komitee am 20. Juli 1917 Unterzeichneten Manifest der zukünftigen südslawischen Vereinigung, im kroatischen Nationaltheater in Zagreb manifest. Die integrative und identitätsstiftende Rolle des Theaters wird als "die große Mission der Volksbildung bei einem werdenden Kulturvolk" beschrieben, wobei "seine Tätigkeit einen integrierenden, höchst wichtigen Bestandteil der Kulturarbeit am Volke"69 bilde. Stärker denn je wird eine slawische Ausrichtung der Bühne gefordert. Das Theater zollt dem patriotischen Utilitarismus den schuldigen Respekt, seine Doppelgesichtigkeit zwischen dem Streben nach Autonomie einerseits und der nationalen Selbstverpflichtung anderseits prägt insbesondere die Rezeption der Kriegszeit. Diesem Mechanismus folgend, werden auf das Gastspiel die interethnischen Beziehungen in einer krisenhaften Situation projiziert, die zwischen Konkurrenz, Fremdinteressen und Solidarität oszillieren. Das Phänomen des Gastspiels lässt einen Raum erscheinen, in dem sich sprachliche, nationale und politisch-historische Identifikationsangebote vielfach überlagern. Somit lässt es auch die Möglichkeit zu, die unterschiedlichen Differenzkonstruktionen in ihren konkreten Erscheinungsformen zu analysieren. Zugleich kann das erstellte Raster der binären Oppositionen in ein dynamisches Netz des kulturellen Transfers transponiert werden, das die grundsätzliche Ambivalenz jeglicher Grenzziehungen und konfliktreichen Kontakte markiert und damit deren Instabilität zum Vorschein bringt. Diese neuen Interpretationen bieten einen Ausweg aus Partikularismus und Provinzialismus, wom it die unheilige Allianz zwischen einer indigenen Theaterentwicklung und dominanten exogenen Konflikten abgekoppelt wäre. So stellt das hier besprochene Gastspiel einerseits die festen kulturellen Grenzen dar, weist zugleich aber auch deren Instabilität bzw. ihre ambivalente Flerkunft und ihre umstrittene Gegenwart auf. Die Verflechtung theaterästhetischer Normen m it einer durch Spannungen zwischen südslawischer Vision und unterschiedlichen, in Bosnien und Flerzegowina erst ausformulierten politischen und nationalen Programmen bleibt charakte- 67 "[...] da se udomi medju našom braćom na jugu spremi što dostojniji dom" N. N.: Zagreb i Sarajevo. In: Narodne novine, Nr. 65 (20.3.1914), p. 4. 68 Vernić, Zd.: Theaterpolitik. In\ Agramer Tagblatt, Nr. 28 (16.3.1920), p. 4. 69 Ibid. <?page no="268"?> 268 Milka Car ristisch für diese Periode. Die kontroverse Rezeption des Gastspiels m itsamt seinen Kontexten ist als eine symbolische Vorwegnahme bzw. kulturpolitische Antizipation der kommenden Konflikte anzusehen, denn nicht nur die sozial bedingte Abhängigkeit des Theaters als Institution kommt zum Vorschein, sondern vielmehr noch die konfliktgeladenen nationalen und integrativen Diskurse in ihrer Vehemenz. Vor allem wird die Tatsache sichtbar, dass das Theater als Institution starke normative Anhaltspunkte mittransportiert. So können die Modi der Reflexion auf geschichtliche Transformationsprozesse anhand dieses Gastspiels beobachtet werden, das permanente Krise und soziale Umbrüche indexiert, die bald im Weltkriegsgemetzel kulminieren. <?page no="269"?> I rm a D uraković (S arajevo ) Schuss und Gegenschuss Antun Valić und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo Where does the history of early Bosnian-Herzegovinian cinematography start, and who wrote it? In this contribution, these two questions will be discussed, concentrating on 28 June 1914, the day of the Shots of Sarajevo, when the most important documentary footage in the era of early Bosnian film was shot as well. Along with the life and work of the early local film pioneer Antun Valid, his images of the Archduke and his wife at the Sarajevo City Hall reception will be analyzed. But how does a film about a film articulate itself? Answering this question, the second part of this paper concentrates on the cinematographic interpretation of the making of Valics film, produced by Nikola Stojanović in the 1990s, which was to become the last Yugoslavfilm ever, ironically. In der Eröffnungsszene von Nikola Stojanovićs Film Belle Epoque ili posljednji valcer u Sarajevu (Belle Epoque or the Last Waltz in Sarajevo, 1990,) führt der Kinooperateur Fabrizio Marinetti' den Zuschauer in die Stadt Sarajevo ein. Marinetti trägt seine Kamera und erzählt, wie er auf dem Weg von Italien nach Wien in der charmanten orientalischen Stadt haltgemacht und sich entschlossen hat zu bleiben. In knappen Sätzen berichtet er, dass der Fandtag in Sarajevo feierlich eröffnet und Bosnien-Flerzegowina endgültig der Doppelmonarchie angeschlossen worden ist. Nur wenige Sekunden darauf wird der Zuschauer Zeuge, wie auf dem Weg zum Rathaus auf den Statthalter Marijan Freiherr Varešanin ein Attentat verübt wird. Der Prolog von Belle Epoque wird somit m it dem 15. Juni 1910 eröffnet, dem Tag als Bogdan Žerajić sich nach dem missglückten Attentat das leben nimmt. Marinetti ist also nicht zufällig mit seiner Kamera vor Ort, sondern möchte den Empfang filmen und m it den ersten Schüssen auf Varešanin schaltet er auch erst seine Kamera ein. Wie Stojanović im Vorspann anführt, widmet er seinen Film den Pionieren der Kinematografie. Indem er sich teilweise an die geschichtlichen Fakten hält, rekonstruiert er die Tage vor dem Atenttat von Sarajevo und setzt in den M ittelpunkt des Geschehens den bosnischen Filmpionier Antun Valić, an dessen Erwachsenwerden in der kulturell auflebenden Stadt der Zuschauer teilnim m t. Es wird klar, dass der Anfang des bosnischen Kinos ohne den österreichisch-ungarischen Kontext nicht denkbar wäre. Beide <?page no="270"?> 270 Irma Duraković Geschichten die Geschichte der Stadt unter der österreichisch-ungarischen Herrschaft und die Anfänge des Kinos verlaufen parallel zueinander, um am Ende mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges voneinander zu scheiden. Diese Trennung setzt Stojanović symbolisch in Szene durch einen Zug, der m it Valić den Bahnhof verlässt. Während also am Anfang der Filmära bei den Gebrüdern Lumiere der Zug in die Station einfährt, lässt der Regisseur seinen ins Unbekannte davonziehen. Und mit dieser Anspielung eines ins Ungewisse verschwindenden Zuges, der die Soldaten und unter ihnen auch den Filmpionier Valić an die Front bringt, wird eine Frage angedeutet, die sich erst Jahrzehnte später Filmhistorikern stellen wird: Wo liegt der Anfang der bosnischen Filmgeschichte und wer war Antun Valić? Hatte er, der den Empfang Franz Ferdinands und seiner Gattin Sophie vor der Vijećnica aufnahm, vielleicht etwas m it dem Attentat von Sarajevo zu tun oder wollte er nur für sein Kino filmen? Um das Leben und Schaffen des Filmpioniers annähernd rekonstruieren zu können, führen die wenigen Spuren an die immer noch sehr unerforschte Anfangszeit der bosnischen Filmgeschichte zurück, in die Zeit der Doppelmonarchie und mithin zum folgenchweren Datum, dem 28. Juni 1914. Einige Notizen über die Anfänge der bosnischen Kinogeschichte Die Geschichte der Filmkultur in Bosnien-Herzegowina fängt in der österreichisch-ungarischen Monarchie an. Schon zwei Jahre nach der Geburtsstunde der siebten Kunst sind in Bosnien die ersten Wanderkinos unterwegs, die aus und über Österreich im Land eintreffen. Durch die Tatsache, dass das Land Bestandteil verschiedener staatlich-politischer Strukturen war, wurde die kinematografische Entwicklung dadurch mittelbar und unmittelbar bedingt, schreibt der serbische Filmhistoriker Dejan Kosanović im einleitenden Kapitel seines Buches Kinematographie in Bosnien und Herzegowina 1897-1945.1 Die erste Filmvorführung, m it der das Kino in Bosnien seinen Anfang feiert, stellt am 27. Juni 1897 der Edison Kinematograph vor. Kosanović schreibt, dass sie von einem gewissen Angelo Curriel vorgeführt wurde, der zunächst in Kroatien und danach in Sarajevo unterwegs war.2 In den Anfangsjahren kommen die Kinovorführer größtenteils aus der Doppelmonarchie, Deutschland oder, wie Curriel, aus Italien. Dass Curriel in seiner ersten Vorführung angekaufte Filme der Brüder Lumiere 1 Kosanović, Dejan: Kinematografija u Bosni i Hercegovini 1897 1945. Sarajevo: Kino savez Bosne i Hercegovine 2003, p. 8. 2 Ibid., p. 14. <?page no="271"?> Antun Valić und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo 271 nach der Zagreber-Vorführung auch in Sarajevo zeigte, dokumentiert die Bosnische Post in ihrer Ansage am 30. Juni: "Es sind bewegte Bilder. Dann ist auch eine Gruppe spielender Kinder zu sehen, ein Zug, der ankommt, eine humorvolle Szene im Garten usw."* 1*3 Bis zum Jahr 1907, als sich in Sarajevo das Edison's American Bioscope niederlässt, führen Wanderkinos regelmäßig Filme vor. Was in dieser Zeit gefilmt und dem Publikum gezeigt wird, arbeitet in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts teilweise Bosa Slijepčević in der ersten wegbereitenden kleinen Studie zur Kinematographie in Bosnien-Herzegowina von 1896 bis 1918 auf. Da Filmaufnahmen als eigentliche Primärquellen in Bosnien größtenteils entweder verschollen, oder als Kopien nicht erhalten sind, forschten Slijepčević und auch Kosanović in Archiven und Zeitungen und stellten anhand von Aufzeichnungen und Zeitungsnotizen die Filmgeschichte zusammen.4Ähnliches unternimmt auch der österreichische Filmhistoriker Walter Fritz bei der Erörterung der Dokumentarfilme der Doppelmonarchie, die in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zurückführen und verloren gegangen sind. Um auf die Spur der Anfänge und der Entwicklung des österreichischen Dokumentarfilms zu kommen, versucht der Historiker ebenfalls aus Zeitungen ein annäherndes Bild zu gewinnen. So schreibt er im Vorwort seiner Arbeit: Die ersten Filmaufnahmen in Österreich machten nicht österreichische Firmen sondern ausländische, speziell französische. Und das blieb so über ein Jahrzehnt. Als nach 1906 einige Österreicher ihre ersten Filmversuche unternahmen und ab 1908 auch Spielfilme hergestellt wurden, war die Vormachtstellung der Ausländer noch lange nicht gebrochen. [...] Der Durchbruch des österreichischen Films konnte nur erreicht werden durch den Kriegsbeginn und die Ausweisung der Firmen aus Feindstaaten. Die Vorherrschaft der ausländischen Filmwirtschaft war damit gebrochen.5 Dass der österreichische Film seinen Durchbruch erst durch den Kriegsbeginn erreichen konnte, ist mit Filmunternehmen verbunden, die den internationalen Filmhandel weltweit dominierten und die wichtigsten Anbieter waren. So wurde in den Jahren von 1903-1909, wie der französische Filmhistoriker Georg Sadoul schreibt, der internationale Filmhandel von "Pathe [...] beherrscht: in jedem Land drohten seine Zweiggeschäfte ihre Rivalen zu erdrücken. Die Tausenden Meter Film, die täglich in Vincennes verkauft Bosnische Post, 30. 06.1897. 1 Kosanovic 2003, p. 112. Fritz, Walter: Dokumentarfilme aus Österreich 1909-1914. Hg. von österreichischen Gesellschaft für Filmwissenschaft, Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wien: Schriftreihe des Österr. Filmarchivs 1980, p. IOf. Wie Fritz zeigt, machen Naturaufnahmen, Reise- und Städtebilder fast 40 % des österreichischen Filminventars aus den Jahren 1909-1914 aus, während die restlichen 60 % aktuelle repräsentative Berichte (z.B. offizielle Besuche der Staatsmänner), Kriegsberichte und diverse Berichte zur Kultur, Technik, Wirtschaft darstellen. <?page no="272"?> 272 rma Duraković werden, waren tonangebend für die Welt."67Das gleiche Schicksal trifft auch Bosnien: erst nach dem Kriegsbeginn wird sich die bosnische Kinematographie teilweise autonom entwickeln, doch bis 1918 wird sie ebenfalls vorwiegend von französischen und österreichischen Filmfirmen beherrscht. Was gefilmt und in Kinos vorgeführt wurde... Bevor in Sarajevo das erste geplante und im Jahr 1912 erbaute Apollo-Kino-Theater eröffnet wird - Betreiber ist die Familie Valid - und damit auch die ersten einheimischen Aufnahmen entstehen, brennt nur knapp ein Jahr zuvor das bereits erwähnte Edison's American Bioscope7 mitsamt allen seinen Filmen und Maschinen völlig nieder. Auch hier ist der Kinobesitzer ein Italiener namens Giovanni Fabris8, der mit seinen Ersparnissen nach Sarajevo gezogen ist. In Stojanovids Film Belle Epoque wird ebenfalls dem eingangs erwähnten Kinooperateur Marineth' sein Kinotheater am Zirkusplatz von Flammen verschluckt, und als diese Nachricht die überaus dominante und zielstrebige M utter von Antun Valid erreicht, die sich zum Zeitpunkt des Brandes im Bett mit dem PoIizeichefViktor Ivasjuk befindet, sagt Paulina Valid in dieser Szene, der Brand passe ausgezeichnet zu ihrer Idee. Was ihre Idee ist, spricht sie in dieser Szene zwar nicht aus, aber dem Zuschauer wird klar, dass sie damit die Eröffnung ihres Kinos meint und nun keine Konkurrenz mehr für sich sieht. Später im vorliegenden Text werden wir untersuchen, wie die Figur der M utter des Kinopioniers Valid und der Pionier selbst in Stojanovids Film charakterisiert werden und wie der Regisseur zwischen Faktizität und Fiktion jongliert. Flier ist aber interessant, wie Stojanovid dieses geschichtliche Detail aussondert und auf eine bestimmte Interpretation hinweist, die auch zwar nicht direkt aber dennoch nach dem Brand in einer Zeitung erwähnt wird. Der Brand vom März 19119 wird nämlich in der Sarajevoer Zeitung Hrvatski Dnevnik 6 Sadoul, George: Geschichte der Filmkunst. Wien: Schönbrunn-Verl. 1957, p. 55. 7 Laut Kosanovic wurde das Edison's American Bioscope von einem nicht identifizierbaren J. Roland Muehlhaus eröffnet, dersich in seinen ersten Anzeigen als "Besitzei von Edison amerikan bioskop" ausgab; doch bald darauf übernimmt Giovanni Fabris sein Unternehmnen. Vgl. Kosanovic 2003, p. 21. 8 Slijepčević, Bosa: Kinematografija u Srbiji, Crnoj Gori, Bosni i Hercegovini 1896 1918. Belgrad: Institut za film u Beogradu 1982, p. 283. Der Kulturhistoriker Risto Basarović nennt in seinem Buch Iz kulturnog života u Sarajevu pod austrougarskom upravom einen anderen Vornamen des Kinobesitzeis, nicht Giovanni Fabris, sondern Ivan Fabrio, vgl. hierzu: Basarović, Risto: Iz kulturnog života u Sarajevu pod austrougarskom upravom. Sarajevo: Veselili Masleša 1974, p. 219 (das Kapitel Prvi kontakt sa film om pp. 2 1 1 2 3 1 ). 9 Im Dezember 1912 brennt auch das Goller'sches Grand EIektro Bioskop nieder. Vgl. dazu Basarović 1974, p. 219. <?page no="273"?> Antun Valid und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo 273 als ein absichtlicher Vorfall interpretiert: "Der allgemeinen Meinung nach wurde das Feuer gelegt."10Auch nachdem das Apollo-Kino-Theater eröffnet worden ist, sind weiterhin fast ausschließlich ausländische Filme vertreten, die vorwiegend von ausländischen Kameramännern gedreht worden sind. Wie Kosanovićs Recherchen ergeben haben, stieg das filmische Interesse für das Land Bosnien erst nach der Annexionskrise, sodass von insgesamt 38 Filmen, die in Bosnien-Flerzegovina aufgenommen wurden, nur drei Filme vor 1908 datiert sind.11 Während die französischen Filmfirmen sich besonders auf das Land und die Sitten konzentrieren, zeigen die Österreicher großes Interesse für Armee, Manöver und Heerführer. Die in Kinos angebotenen Vorstellungen wurden zunächst von denjenigen besucht, die nach 1878 nach Bosnien kamen, also von der österreichisch-ungarischen Armee, den Offiziers- und Beamtenfamilien. An zweiter Stelle folgen Kinder und Jugendliche und erst an dritter und letzter Stelle die ältere Generation des bosnischen Publikums.12 Das Desinteresse des einheimischen Publikums an der neuen Kunst war m it der Sprachbarriere bzw. der Germanisierung in Bosnien verzahnt, die auch im Kino präsent war. Wie bekannt, wurden in früheren Filmen Zwischentitel einmontiert, die ein besseres Verständnis beim Publikum erzielen sollten und die bewegten Bilder, die das Publikum anfangs ohnehin überforderten, kommentierten. Filme wie auch Filmplakate, die für die ersten wichtigsten Informationen sorgten, waren in deutscher Sprache und nur gelegentlich gefolgt von bosnisch/ kroatisch/ serbisch. Hierdurch wurde deutlich, dass die Germanisierung auch im Film Oberhand nahm. So thematisiert z.B. das Blatt Hrvatski dnevnik in einigen Artikeln das filmische Sprachproblem in den Monaten März und April 1917. Das Blatt kritisiert vor allem die Kinos Imperial und Apollo - Kinos also, die die Familie Valid betreibt. Am 25. August 1917 steht zu lesen: "Trotz unserer Proteste überfluten diese Kinos unserer Stadt zu unserem Nachteil tagtäglich mit riesengroßen deutschen Anzeigen, die ab und zu auch einige kleingedruckte kroatische Wörter erhalten, die aber kaum sichtbar sind. Filme sind nur auf Deutsch betitelt, die zwei Drittel der Besucher überhaupt nicht versteht."13Wie aus diesem Ausschnitt hervorgeht, hat sich im Gegensatz zu Kroatien Bosni- 10 Hrvatski dnevnik, Sarajevo, 02. 12. 1912, zit. n. Basarovic 1974, p. 219f. (Übers. Falls nicht anders vermerkt immer von der Verfasserin, I.D.) 11 Kosanovic 2003, p. 231. 12 Vgl. Slijepčević 1982. p. 29lf. 12 Hrvatski dnevnik, 25. 08. 1917, zit. nach Slijepčević 1982, p. 291. Das selbe Blatt wird am 28. August 1917 die Sarajevoer Kinos aufrufen, den ersten kroatischen Film Breko u Zagrebu (1917: Arsen Maasa / Mazoff) zu kaufen und ihn zu zeigen. "In Sarajevo sind die Titel nur auf deutscher Sprache", schreibt das Blatt, "die Kinobesitzer respektieren nur wenig das Volk, unter dem sie leben." <?page no="274"?> 274 Irma Duraković en der Germanisierung im Kino wohl nicht widersetzen können. Auffällig jedoch ist, dass in diesem Zusammenhang immer wieder die zwei führenden Kinos Apollo und Imperial kritisiert werden und sogar der Vorschlag gemacht wird, ein Kino in Sarajevo zu eröffnen, dass nur Filme aus Zagreb zeigen sollte. Sicherlich wird hier eine Politisierung des Kinos aus nationalkroatischer Perspektive angestrebt mit dem Ziel u.a. die deutsche Sprache aus den Kinos auszuschließen, doch die Tatsache, dass in beiden Kinos die ersten bosnischen Filme entstehen, zeigt wiederum, dass trotz der Germanisierung Bosnier endlich die Möglichkeit bekamen zu filmen und ihre Aufnahmen in Kinos vorzuführen. Der Pionier und seine Kinos Über das Schaffen des Filmpioniers Antun Valic ist bis heute noch vieles unbekannt. Die einzigen Quellen, die Auskunft über das Leben des ersten bosnischen Kinobesitzers und Kameramannes geben, gehen auf Interviews m it Familienmitgliedern zurück. Slijepčević und Kosanović haben in den 1980er Jahren alle uns heute bekannten Angaben aus Gesprächen mit Albert Metz' Sohn und seiner Tochter gewonnen, die zu dieser Zeit noch in Sarajevo lebten.14So wissen wir, dass Antun Valid15im Jahr 1893 in Travnik geboren wurde; wann er m it seiner Familie nach Sarajevo übersiedelte und ob die Familie aus Österreich nach Travnik gekommen ist, ist nicht bekannt. Antuns Vater, Gustav Valid, war Inhaber eines Sarajevoer Kaffeehauses und lange Zeit gelähmt, so dass das Geschäft seine zielstrebige Frau Pauline, geborene Metz, übernahm und weiterführte. Im Auftragvon Paulines Bruder Albert Metz, der ein österreichischer Bauunternehmer war, wurde 1912 das Kino Apollo erbaut, in das auch Paulina Valid investierte und somit Mitinhaberin eines kleinen Teils wurde. Zum Kinoleiter und Filmvorführer wurde Paulinas Sohn Antun ernannt. "Nach damaligen sehr strengen Gesetzvorschriften", so Kosanovid, "die die österreichisch-ungarische Regierung im Jahr 1906 brachte, musste Antun Valid die Fachprüfung für den Kinooperateur bestehen, was damals in Sarajevo nicht möglich war. Deswegen schickt ihn die Familie nach W ien."16 Anlässlich der Eröffnung des Apollo-Kinos schreibt Sarajevski list am 3. September 1912, dass 14 Siehe Slijepčević 1982, p. 314 und Kosanović 2003, p. 36. 15 Sein Name wird auch als Anton Walits geschrieben. Es könnte sein, dass die Familie ihren Namen eingedeutscht hat, wie es zu dieser Zeit üblich war, und dass es so u.a. zu unterschiedlichen Schreibweisen gekommen ist. Ob Valics Vater aus Österreich nach Bosnien gezogen ist oder nicht, konnten Kosanović und auch Slijepčević nicht in Erfrahrung bringen. Vgl. Slijepčević 1982, p. 300. 16 Kosanović 2003, p. 36. <?page no="275"?> Antun Valic und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo 275 der Theaterleiter Antun Valić "in Wien seine Ausbildung abgeschlossen und die Prüfung bestanden" habe.17Sehr bald gewinnt der zwanzigjährige Valić in Sarajevo ein großes Ansehen als einziger einheimischer Kinooperateur. Seine erste Kamera beschafft sich der junge Kinoleiter im Jahr 1913 und fängt im selben Jahr m it dem Filmen an. Während in Serbien nur drei Jahre vor dem Großen Krieg über sechzig einheimische Filme entstehen, darunter vier Spielfilme, die größtenteils vom ungarischen Kameramann und serbischen Filmpionier Louis Pitrolfde Beerygedreht werden, sind in Bosnien vor 1914 insgesamt drei Filme dokumentiert, die Valić zugeschrieben werden. Sein erster Film entstand anlässlich der Eröffnung des Hauses Napredak in welchem die Familie das zweite Kino Imperial eröffnette. Wie Kosanović schreibt, ist der Film verlorengegangen und über seine Länge und Inhalt lässt sich nur rätseln. In den Zeitungen wird der Film vorerst nicht erwähnt, erst zwölf Tage später schreibt ein Blatt: "Für uns Sarajevoaner sind die Aufnahmen von der feierlichen Eröffnung des Hauses Napredak von zweierlei Bedeutung. Erstens ist es der erste und erfolgreiche Versuch der Direktion des 'Imperial Kinos' hier in Sarajevo mit eigenen Apparaten zu filmen. Zweitens werden die Filmbilder in das Filmjournal Pater Frer aufgenommen und in allen größeren Kinos der Welt gezeigt."18 Das es für die Kinoleiter wichtig war eigene Aufzeichnungen dem Publikum vorzuführen, zeigt auch Valić m it seinen weiteren selbstgedrehten Aufnahmen, in denen sich obwohl in der kurzen Zeitspanne von nur knapp zwei Jahren-sein Interesse an visueller Geschichtsaufschreibung herauskristallisiert. So film t er am 26. März Ustoličenje reis-ul-uleme (die Amtseinsetzung des Reis-ul-ulema) in Sarajevo und am I. Mai 1914 die Sozialistische Feier des 1. Mais. Erst mit dem 28. Juni. 1914 entstanden jedoch seine bedeutendsten Aufnahmen, die im Filmgedächtnis eingeschrieben sind und in den 1990er Jahren den serbischen Regisseur Stojanović bewegen, die bosnische Filmgeschichte und die Ereignisse um das folgenschwere Datum zu visualisieren und interpretieren. Valics Aufzeichnungen während und nach dem Attentat von Sarajevo Sarajevo. Die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand lautet der Titel von Valićs Aufzeichnungen, die die Bosnische Post am 4. Juli ankündigt und bekannt gibt, dass sie im Kino Imperial die ganze Woche über gezeigt werden würden. Zwei Tage darauf erscheint eine gemeinsame Anzeige für beide Kinos der Familie Valić. 17 Sarajevski list, 03. 09.1912, zit. n. Slijepčević 1982, p. 300. 18 Zit. n. Kosanović 2003, p. 38; den Namen der Zeitung nennt der Verf. nicht. <?page no="276"?> 276 Irma Duraković jj IMPERIAL-KINO-THEATER S Dk кШет fctJm S E * In Suilcr» Programm für den 6., 7., 8; und 9. Iuli 1914; „ Qaumontwothe. ah »«»». Kakennanihrtt mit 4tm vertllcheeen Eabtttag Pram ГегЉпажЈ. — Der u5t 1914. (Nach dt« trsim AUanlat“ Die PreUamfenaigdei Stai —We TiteMii iueüanleiir, —Des Wlintr Ulebenbeglfijnli 8« Thronfols . .В Д м ^ р ј ј ј ј д о de« loptiIalkiooa). Das Todesgeläute. ^ rama I ^ s Akten. . ' jtin5fcT _ e Hose. U1HfWhJAMM.. «if MHimtaHm-toBc-t. D er Q endarm Dir HlfIniUir WEgUMffllt ■ а а ш ч и а ч и а . . . AP0LL0-K1N0-TH EATER Programm fUr den 6., 7. und 8. Juli 1914; S. M. unser Kaiseru. Königauf einer Inspektionsreise. Uute KimmtTegiapMatlK Auliuhmt- №. [ Neutaie» Se.-u*Uoa*df«4e .Ia 3 Akttn mit Prltz FeWr in der HanptroUg. Der Lumpenbaran. Ein Lustspiel Ia 2 Aktu. m m n k i A b b .l Anzeigevom 6. Juni 1914 fü r Imperial- und Apollo-Kino-Theater, Bosnische Post Zwar werden im Apollo-Kino keine selbstgedrehten Aufnahmen gezeigt, doch das Publikum kann die letzten Aufnahmen von einer Inspektionsreise des Kaisers sehen. Schon zwei Tage nach dem Attentat am 30. Juni 1914 gibt Valić in der Bosnischen Post die Anzeige auf: und erweist damit dem Erzherzog und der Monarchie die letzte Ehre. Dass beide Kinos sich pro-österreichisch zeigen, verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Valićs M utter und sein Onkel Österreicher waren. Das Kinoprogramm, das regelmäßig in der Bosnischen Post erscheint, illustriert, wie oft deutschsprachige Stücke im Programm liefen und wie präsent Militärkonzerte in den Vorführungen waren.19 I M P E R I A L - K I N 0 - T H E A T E R _ Е и и и м Е н а в н и в и и и и а в а и и к к в ч и а д в а а и Е A P O L L O K I N O - T H E A T E R K d e g e s c h lo s s e n . H e u t e g e s c h lo s s e n . Abb. 2 Aus: Bosnische Post Kehren wir aber zurück zu den Aufzeichnungen vom 28. Juni 1914 zurück. Aus der Anzeige der Bosnischen Post geht nämlich hervor, dass Antun Valid den Empfang vor dem Rathaus nach dem ersten Attentatsversuch gefilmt hat, zudem die Proklamierung des Standrechts in Sarajevo und die Krawalle in Sarajevo. Nach seinen Erinnerungen, die er im Jahr 1944 im Hrvatskislikopis veröffentlicht, hat der Pionier seine Aufzeichnungen an das französische Filmunternehmen Eclair für einen guten Preis verkauft. Valid, der nach dem 19 So schreibt die Bosnische Post am 3. August "Patriotische Kundgebung im Apollo-Kino. Bei den sechs gestern stattgefundenen, beinahe durchwegs ausverkauften Vorstellungen im Apollo-Kinotheater löste der patriotische Film Unser Kaiser jedesmal frenetischen Jubel aus. Dasvon der MusikgespieItejGott erhalte' sowie das,Prinz- Eugenlied' wurden mitgesungen und mit Jubel begleitet. Auch der Deutsche Kaiser, der ebenfalls im Film erscheint, wurde stürmisch bejubelt. Das Piogiamm bleibt auch noch heute." Bosnische Post, 0 3 .0 8 .1 9 1 4 . <?page no="277"?> Antun Vaiić und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo 277 Ersten Weltkrieg nach Zagreb zieht und dort weiterhin als Kinooperateur und Kinotechniker arbeitet, greift nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zur Kamera. Er stirbt 1977 in völliger Anonymität, so dass "niemand von den jugoslawischen Filmhistorikern mit ihm persönlich sprechen konnte".20 Mit seinen ersten Filmversuchen wird er indes als Pionier der bosnischen Filmgeschichte und als der erste bosnische Kameramann gefeiert. Doch da er sein gefilmtes Material, das er seinem Publikum zeigte, selbst geschnitten und geordnet haben muss, wäre sicherlich nicht falsch zu behaupten, dass er auch der erste bosnische Filmemacher war und mit seinen ersten Filmen auch die ersten dokumentaristischen Streifen schuf. "Ein Dokumentarfilm", schreibt Tom Gunning, entsteht erst im Moment, in dem das filmische Material neu geordnet wird, also durch Schnitt und Zwischentitel in einen diskursiven Zusammenhang gestellt wird. Der Dokumentarfilm ist nicht mehr eine Abfolge von Aufnahmen, er entwickelt mithilfe der Bilder entweder eine artikulierte Argumentation, wie in den Filmen aus Krieg, oder eine dramatische Struktur, die auf dem Vokabular der continuity editing und dem Spielfilm entlehnten Gestaltung von Charakteren beruht.21 Obwohl wie bereits gesagt bis dato noch unbekannt ist, wie Valics Film um das Attentat von Sarajevo genau aussieht dazu ist eine detaillierte Nachforschung in den gesamten ex-jugoslawischen Archiven erforderlich kann anhand der Angaben, die wir aus Zeitungen und Anzeigen haben, die Bildersequenz und damit also ein annäherndes Bild des geschnittenen und in seinem Kino gezeigten Films gewonnen werden. Valićs erste Aufnahmen zeigen, wie das erzherzögliche Ehepaar nach dem ersten Attentatsversuch vor dem Rathaus empfangen wird. Interessant ist hier die Zufälligkeit "der flüchtigen Erscheinung",22 die sich in dieser Episode der Kamera und dem Zuschauer zeigt. Während sich das Ehepaar, dass wir zwar nicht direkt sehen können, vorbereitet, den Wagen zu verlassen, um die Treppen hinaufzusteigen, schaut der Chauffeur abwechselnd in Richtung des Paares und hinter sich in jene Richtung, wo sich das erste Attentat abgespielt hat. Nach einem groben Schnitt sitzt er wieder aufrecht, sieht vor sich hin und dann wieder das Ehepaar an. Als der Erzherzog zusammen mit seiner Ehegattin die Treppe hinaufgeht, verlässt auch der Chauffeur mit raschen und nervösen Bewegungen den Wagen. 20 Kosanovic 2003, p. 39. 21 Gunning, Tom: Vor dem Dokumentarfilm. Frühe non-fiction-Filme und die Ästhetik der "Ansicht". In: KINtop 4. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films: Anfänge des dokumentarischen Films. Hg. von Frank Kessler, Sabine Lenk u.a. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld / Roter Stern 1995, pp. 111-121, hier p. 118. " Kracauer, Siegrfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, p. 99. <?page no="278"?> 278 Irma Duraković Abb. 3 Loyka schaut nach dem Ehepaar Abb. 4 Das Ehepaar geht die Treppe hinauf Abb. 5 Loyka prüft den Wagen Abb. 6 Und noch einmal Wagencheck Die Nervosität des Chauffeurs Leopold Loyka wird mit der Kamera festgehalten. M it schnellen Schritten prüft er von allen Seiten den Wagen, der nach der folgenschweren Einbiegung,23 die sich nur kurze Zeit später ereignen wird, gemeinsam mit ihm selbst im filmgeschichtlichen Dokument eingeschrieben ist. Verglichen mit den zwei folgenden Episoden "Demolierungen in Sarajevo" und "Proklamierung des Standrechts in Sarajevo" wird augenfällig, wie das Objekt durch die Kameranähe subjektiviert wird. Die Kamera saugt nahezu alle Blicke vorbeigehender junger Männer, Kinder und Frauen ein, die an den demolierten Läden Vorbeigehen. Ein leichter Schwenk in Richtung Gassenlänge zeigt ein sehr imposantes Bild der Verwüstung. An der Gasse, die von Möbeln und Sachen überdeckt ist, stehen Soldaten, während eine weitere Schar der Kamera mit großen Schritten entgegenkommt. "Chauffeur Loyka, der einfach dem Wagen vor ihm folgte, schickte sich zum Einbiegen an. General Potiorek bemerkte zu spät, was vor sich ging und fährt den Chauffeur an, dem Polizeiwagen nicht zu folgen, sondern zurück zum Appel-Kai zu fahren. Während dieser mit den Gängen hantierte, stieg Potiorek auf eines der in jenen Tagen außen angebrachten Trittbretter des Auots, und während dieses fü r einige Sekunden anhielt, und zwar in nur ganz kurzer Entfernung von der Menge auf dem Bürgersteig, gingen die Schüsse los." (Brook-Shepherd, Gordon: Die Opfer von Sarajevo. Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie von Chotek. Übers, von Christian Zinsser. Stuttgart: Engelhorn 1988, p. 328f.) <?page no="279"?> Antun Valic und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo 279 Abb. 7 Neugierige Blicke der Passanten Abb. 8 Demolierungen von Läden Abb. 9 Verwüstete Gasse Abb. 10 ...und Soldaten Und auch in der dritten Aufzeichnung, die zwar nur wenige Sekunden dauert, wird bei der Proklamierung die Kamera direkt in die Masse gesetzt und damit zum Teil des Geschehens. Abb. 11 Bei der Proklamierung Abb. 3 - 1 Г ’ Ausschnitte, die Valic gefilm t hat24 24 Das A ttentat au f den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo, 1914. Sascha-Film / La Revue Eclair, Filmarchiv Austria. <?page no="280"?> 280 Irma Duraković Obwohl bis heute diese Aufzeichnungen nicht näher untersucht und analysiert wurden und sie sogar nicht immer Valid zugeschrieben werden bzw. sein Name, wie Kosanovid bemerkt, nicht immer genannt wird,25 kann man schon anhand der Kameraführung und der Kamerapositionierung so in den letzten beiden Aufnahmen ein bewusstes Ins-Geschehen-Setzen den gleiche Kameramann vermuten. Außer der Frage, wie das Filmoriginal des Imperial-Kinos aussieht, ob Zwischentitel einmontiert sind oder sogar weitere Aufnahmen der Ereignisse nach dem Attentat, bleibt weiterhin die wichtige Frage offen, ob auch tatsächlich nur die oben drei genannten Filme der Filmpionier in der kurze Zeitspanne von 1913-1914 hinterlassen hat. Eine ähnliche Frage stellt sich der serbische Regisseur Nikola Stojanovid in seinem Film Belle Epoque: Wie verlief Valids kinematographischer Werdegang und wie geschah es, dass er am 28. Juni 1914 mit seiner Kamera beim Rathaus war? Belle Epoque oder: Anfang und Ende einer Filmära Stojanovid konzentriert sich in seinem Film auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und darauf, wie die Anfänge des Kinematographen und des Filmpioniers Antun Valid u.a. mit dem Attentat von Sarajevo miteinander verschränkt sind. In bunten Bildern visualisiert der Regisseur die Kinogeschichte der Stadt unter der Flerrschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie. Nicht nur die Attraktion der siebten Kunst wird anvisiert, sondern auch das langsame Absterben des Varietes und der Aufschwung der neuen Technik, die u.a. durch Automobile eine moderne und vielschichtige Stadt zeigt. Dass Stojanovids Protagonist Valid den Umbruch einer Epoche m it seiner Filmkamera dokumentiert, ist in dieser filmischen Interpretation kein Zufall. Auf die Frage, ob die Politik in seinem Film erst an zweite Stelle rückt, sagt Stojanovid für das serbische Blatt Politika: "Dieser Film ist eine künstlerische Vision und in ihm gibt es keine politische Rhetorik. Seit Beginn der Arbeit an dem Film habe ich gesagt, dass es sich nicht um eine Rekonstruktion der Epoche handelt, sondern um eine Rekonstruktion meiner Sicht dieser Epoche. Dadurch habe ich mich von der Politik nicht distanziert, aber meine Sicht gehört der Kunst."26 In seiner Interpretation wird Valid aber zwischen allen möglichen herrschenden politischen Positionen hin- und hergerissen, die hauptsächlich von Frauen repräsentiert sind. An erster Stelle tr itt Valids M utter als selbstbewusste und energische Frau mit 25 Kosanović 2003, p. 40. 26 http: / / www.politika.rs/ rubrike/ intervjui-kultura/ t34227.lt.html (letzterZugriff: 10.01.2015). <?page no="281"?> Antun Valić und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo 281 geschäftlichen Ambitionen hervor, die sich m it der k.u.k. Ordnung arrangiert und eine Affäre m it dem Polizeichef Viktor Ivasjuk hat. Die M utter fördert und ermöglicht Antun eine Ausbildung in Wien. Gleichzeitig versucht ihr Liebhaber ihn als seinen Schnüffler zu gewinnen. Das sehr symbolische Ambiente des Polizeichefs, der in dieser Szene an seinem Tisch sitzt und hinter sich das Porträt des Kaisers Franz Joseph I. hängen hat, soll Valić beeindrucken. Am Beispiel des Schädels von Bogdan Žerajić, der auf seinem Tisch als Aschenbecher dient, will Ivasjuk zeigen, dass alle Jungbosnier Flohlköpfe sind und man sich der herrschenden Ordnung nicht widersetzen soll. Doch bei dem jungen Valić hinterlässt Ivasjuk keinen Eindruck, denn er möchte kein Spion sein und zeigt sich sonst unpolitisch. Auf der anderen Seite versucht ihn seine große Jugendliebe Jovanka Čabrinović, die Schwester des späteren Attentäters Nedeljko Čabrinović, für die Jungbosnier zu gewinnen. Er soll keine Unterhaltungsfilme drehen, sagt sie ihm, sondern Erziehungsfilme, die nicht die Wirklichkeit verdrehen. Um seinen Patriotismus Jovanka gegenüber unter Beweis zu stellen, entschließt sich Valić in Wien den Jungbosniern eine Geheimbotschaft in Versen zu überbringen und lernt so einige der wichtigsten Vertreter nur kurz kennen. An dritter und letzter Stelle der dominanten Frauenfiguren ist noch die Varietekünstlerin Erži zu nennen, die sowohl für den jungbosnischen Ideologen und Aktivisten Vladiimir Gaćinović als auch für Dragu- <?page no="282"?> 282 Irma Duraković tin Dimitrijević Apis, den Chef des serbischen Militärgeheimdienstes und den Führer der Schwarzen Fland, spioniert, dazu aus Wien kommt und den vielversprechenden Nachnamen Jevropa trägt. M it Erži kostet der junge Valić seine ersten sexuellen Erfahrungen aus, und im Gegensatz zu der zielstrebigen Mutterfigur, die nur ihr Interesse um jeden Preis durchsetzen will, und der patriotischen und nach Revolution dürstenden Jugendliebe, unterstützt Erži Valić in seiner künstlerischen Arbeit. So fragt sie ihn am Vorabend des 28. Juni: Erži: Gehst du morgen mit der Kamera zum Empfang? Valić: Du denkst, es wird interessant? Erži: Ich nehme an, dass es unglaublich unterhaltsam sein wird. Du solltest es dir nicht entgehen lassen.27 Da Erži aus Belgrad die Aufgabe bekommt. Danilo llić zu vergiften denn es wird gemeldet, dass die Vorbereitungen für das Attentat abgebrochen werden müssen sie diese Aufgabe jedoch nicht erfüllt, weiß sie, dass am 28. Juni das geplante Attentat verübt werden wird. Sehr schön kommentieren Variete-Nummern einzelne Filmsequenzen, so dass auch im Anschluss an diese Szene Erži singt: 'AufWiedersehen Belle Epoque. Alles hat nun mal sein Ende." Bei Stojanović steht Valić demnach nicht zufällig vor dem Rathaus. Er ist am 28. Juni m it seiner Kamera und dem Kinooperateur Marinetti unterwegs und steht an der historischen Straßenecke, an der Loyka falsch abbiegen und Princip zwei Schüsse abfeuern wird. Während er an dieser Ecke seine Kamera vorbereitet, nähert sich Gavrilo Princip der wartenden Masse und zwischen ihnen beiden, die sich nur oberflächlich kennen einmal geht Valić mit Jovanka zusammen zu llić und trifft dort Princip werden längere Blicke ausgetauscht. Ob Valić etwas weiß, bleibt offen, sicher jedoch ist, dass er etwas ahnt. " S t o j a n o v i ć , N i k o la : Belle Epoque ili Posljednji valcer u Sarajevu (Y U 1 9 9 0 ) 1 : 5 1 : 0 6 . <?page no="283"?> Antun Valic und seine Aufzeichnungen rund um das Attentat von Sarajevo 283 Wie Kosanović schreibt, erwähnt Valid in seinen Erinnerungen nirgends, dass er den Akt des Attentats gefilmt hat.28 Doch bei Stojanovid läuft Valids Kamera sogar noch als Princip fast bewusstlos abgeschleppt wird. j I m Abb. 15. Principwird abgeführt Dass der bosnische Filmpionier dank einem Flinweis einer Varietetänzerin sich entschließt, den Empfang des Erzherzogs vor dem Rathaus zu filmen, und als junger Mann m it den Jungbosniern in Berührung kommt, wird in Stojanovid Film auf eine melancholische Art nuanciert. Denn ganz unpolitisch zeigt sich die Figur des Filmpioniers in Stojanovids Film doch nicht. Obwohl u.a. oben zitierte Kinoanzeigen belegen, dass Valids Kinos nach dem Attentat weiterhin pro-österreichisch bliebt und er ebenfalls selbst Jahrzehnte später sein Unbeteiligtsein am Attentat hervorhebt denn wie alle, wird auch Valid aus der Ankündigung über den Empfang des Erzherzogs in der Vijećnica aus Zeitungen gewusst haben lässt ihn Stojanovid nicht zufällig drehen. "Diese Aufzeichnungen werden auch dann weiterleben, wenn w ir nicht mehr sind", zitiert Valić im Film einen seiner Kollegen. Obwohl der Pionier in Stojanovićs Film wiederauflebt, scheint doch stärker die politische Verstrickung rund um das Attentat in den Vordergrund zu treten als die Gier des Pioniers nach der neuen Kunst selbst. "Für diese Idee haben sie gelebt", sagt Valić über die Jungbosnier, der bis zur Abfahrt des Zuges sein filmisches Dokument bei sich trägt. Interessant ist, dass Stojanovićs Film einer der letzten jugoslawischen Filme sein wird und in einer Zeit eines erneuten Umbruchs entsteht. Zum Blatt Politika sagt der Regisseur: W ir drehten während des Sommers 1990 und als ich die erste Version montie rt habe, waren alle, die den Film gesehen hatten, zufrieden. Als der Krieg anfing, änderten sich auch die Umstände. Wenn wir uns erinnern, hat am 6. April 1992 Deutschland die Unabhängigkeit Bosnien-Flerzegowiens anerkannt, 28 Kosanović 2003, p. 240. <?page no="284"?> 284 rma Duraković genau das Gegenteil von dem, was sich in Sarajevo 80 Jahre früher abgespielt hatte. Über Nacht hat sich das Establishment in Sarajevo verändert, in dem es einen Teil der Geschichte negierte und meinem Film Vorwürfe machte.29 Das Attentat von Sarajevo, wie Stojanovics Vision über die Entstehung der Aufzeichnungen zeigt, ist auch im Filmgedächtnis eingeschrieben. Doch dass die wohl berühmtesten letzten Aufzeichnungen des Erzherzogs und seiner Gattin vor der Vijećnica einem nahezu völlig unbekannten Kameramann zugeschrieben werden, der den Anfang der bosnischen Filmgeschichte markieren wird, scheint noch heute in filmwissenschaftlichen Kreisen von nebensächlicher Bedeutung zu sein. 29 http: / / www.politika.rs/ rubrike/ intervjui-kultura/ t34227.lt.html (letzterZugriff: 10.01.2015). <?page no="285"?> M arina A ntić (P ittsburgh ) "Bosnian Spring": a Young B o s n ia M o v e m e n t 2.0? The History of Uneven Development on the European Margins from Princip to the Plenums Exactly 100 years ago, Gavrilo Princip embodied Bosnia's modernizing, nationalist, and anti-colonial youth's arrival on the world stage. The Molotov cocktails that teenagers hurled at government buildings at the end of January 2014 ignited another popular uprising, but fundamentally different, if not in some ways opposite to Princip's and yet so similar. Both movements were against recently established (neo) colonial orders in the country, the main difference being that the former Young Bosnia movement arose at the beginning of modernization in the region, while the current one arises at the end of the so-called post-socialist transition. This essay presents a comparative, interdisciplinary analysis that relates these two moments in Bosnian history by tracing the history of uneven development that stretched from Princip to today, which isto say, by tracing the history of empires and imperialism in Bosnia and Herzegovina, from late 19th century into the present. What is the real nature of this [native] violence? We have seen that it is the intuition of the colonized masses that their liberation must, and can only, be achieved by force. By what spiritual aberration do these men, without technique, starving and enfeebled, confronted with the military and economic might of the occupation come to believe that violence alone will free them? How can they hope to triumph? (Frantz Fanon1) Once their rage explodes, they recover their lost coherence, they experience self-knowledge through reconstruction of themselves; from afar we see their war as the triumph of barbarity; but it proceeds on its own to gradually emancipate the fighter and progressively eliminates the colonial darkness inside and out. As soon as it begins it is merciless. Either one must remain terrified or become terrifying which means surrendering to the dissociations of a fabricated life or conquering the unity of one's native soil. When the peasants lay hands on a gun, the old myths fade, and one by one the taboos are overturned: a fighter's weapon is his humanity. For in the first phase of the revolt killing is a necessity: killing a European is killing two birds with one stone, eliminating in one go oppressor and oppressed: leaving one man dead and the other man free. (Jean-Paul Sartre2) 1 Fanon, Frantz: The Wretched of the Earth. New York: Grove Press 2007, p. 73. 2 Sartre, Jean-Paul: Preface. In: Fanon 2007, pp. 7-34, cit. p. 21-22. <?page no="286"?> 286 M arina Antić Introduction Gavrilo Princip's legacy is contested: a terrorist, a freedom fighter, a warmonger, a Iiberationist and everything in between. In the days preceding the centennial commemoration of the beginning of World War I in Sarajevo (a series of events funded largely by the European Union and foreign foundations), we witnessed sharp denunciations of the violence of Princip's act. Monarchist nostalgia was on offer as memorial images of the slain royal couple replaced Princip's steps at the infamous Sarajevo corner, while the kitschiest forms of capitalist entrepreneurship prevailed but a few feet away a Franz Ferdinand impersonator offering 'rides' in the royal vehicle replica, all for a modest fee. That the young Bosnian boy smiling on those tourist photos has more in common with Princip than with them, his customers could not imagine. That he perhaps might have the same native hatred of the poverty and backwardness that surrounds him, or that he too could have been one of the kids who had hurled Molotov cocktails at the Bosnian presidency only four months earlier, never crosses the tourist's mind. In the scholarly circles, at the same time, the long-understood distinction between the occasion for the First World War and its cause seems to have slipped away. The media discourse in Princip's home country has tended to veer to the right as post-Dayton nationalist elites define him exclusively through the lenses of their own interconnected nationalist narratives: a Serb nationalist hero celebrated by the Serb elites and despised by the Bosniak and Croat ones. The popular perceptions of Gavrilo Princip and his assassination of the Archduke and the Duchess are more generous, at least insofar as public expression goes. The latter was anecdotally confirmed in the popular reaction to a group of young Bosnians protesting the commemoration on June 28, 2014. Across the river from the newly renovated City Hall where the Vienna Philharmonic Orchestra was playing for the top Bosnian and European political elite, these youths wore Gavrilo Princip masks and held up banners saying 'We are occupied again I' I witnessed Sarajevans approaching them repeatedly, exclaiming 'Good for you! ' and 'finally someone who speaks the tru th ! ' The same scene played out on the corner where Princip's footsteps were once memorialized in concrete, where tw o of the protesting 'Gavrilos' held signs asking 'Where is Gavrilo? ' and 'This is where Gavrilo stood, shot, and removed the occupier' while those passing by sounded the same note of approval. Thus a multitude of narratives seems to be at play here. For one, the scholarly confusion of occasion and cause, or the assassination of the Archduke and the inter-imperialist rivalry in Europe at the beginning of the last century, is based on tw o poles of ahistoricism: first, Eurocentric historiog- <?page no="287"?> The History of Uneven Development on the European Margins from Princip to the Plenums 287 raphy that juxtaposes the 'civilization' of Austria-Hungary with the 'barbarism' of the Balkans; and secondly, monarchist nostalgia based on the reactionary utopian belief that the Yugoslav wars of the 1990s could have been avoided had the imperial rule of Vienna endured in the region. The shortcomings of this type of Eurocentric historicism have been amply demonstrated and catalogued by J. M. Blaut3and I will not repeat them here. The monarchist nostalgia is merely a particular manifestation of the post-socialist European reincarnation of Eurocentric historicism that celebrates a 'united Europe' (sic! ) and attempts to salvage the 'European legacy and civilization.' There are many critiques of this new European project, including my own arguments regarding the Derridian and Habermasian project of 'united Europe' published elsewhere.4 The local discourse about Gavrilo Princip is similarly based on the ahistoricism of its own nationalist rhetoric, which, like many successful ideologies, is based on some truth, namely, that Gavrilo Princip was a Serb and that he was a nationalist.5 However, to identify Princip with Radovan Karadižić or the post-socialist nationalist rhetoric, as the political elites in Bosnia and Herzegovina have done, is to deny any historical development to the national idea or ideology in the last hundred years in the region, and to posit the unchanging and unchangeable Serb nation along with it. To make Princip commensurate with Karadižić or Milošević, one would have to excise much of modern history and development in the region, including the socialist period; transpose Princip's opposition to Austria-Hungary into his opposition to Bosniaks and Croats, as illogical as that sounds; and deny the multi-ethnic nature of the Young Bosnia movement and its antiimperialist goals of national liberation. Not surprisingly, the ideas that allow for such incoherent ahistorical moves are the very foundation of nationalist ideology, namely, that nations originated at some time in the distant past; that they are ahistorical, primary categories of human social organization which travel through time unchanged and unchangeable; and that a Serb nationalist in 1914 is therefore the same as a Serb nationalist in 2014. This essay, on the other hand, posits that Princip and the rest of the Young Bosnia movement belonged to a peripheral modernist intelligentsia, and that their actions, including the assassination, were responses to the Blaut, J.M.: The Colonizer's Model of the World. Geographical Diffusionism and Eurocentric History. New York: The Guilford Press 1993. 1 Antic, Marina: The Balkans and The Other Heading: Identity and Identihcations on the Margins of Europe. In: Spaces o f Identity 6.2 (2006), http: / / www.yorku.ca/ soi/ _Vol_6_2/ _HTML/ Antic.html I take 'Serb' to stand here for Gavrilo Princip's ethnic origin as viewed by both his contemporaries and by today's standards of ethnic and national differentiation in the region. <?page no="288"?> 288 Marina Antić needs of their time and place at the European capitalist periphery. Nothing brought this particular aspect of Princip's legacy better into focus for me more than the recent popular uprising in Bosnia and Herzegovina. In February 2014, the first mass demonstrations in the country since 1992 began as workers' rights protests in the former industrial centre Tuzla and spread throughout the country over the course of two weeks. These new Young Bosnians are, in fact, also peripheral modernists whose movement arose out of socio-economic conditions similar to the ones that pushed the Young Bosnia movement to the world stage in 1914. In what follows, I will elucidate this seemingly spurious comparison of the tw o 'Young Bosnias,' focusing on the socio-economic and political conditions in 1914 and 2014, as well as the cultural and political emancipation presented by these two movements. Princip's Young Bosnia was a movement nurtured on the Herderian concept of 'national enlightenment' and the bitter struggle against the 'old world' empires. It was a moment of Bosnia's modernizing, nationalist, and anti-colonial youth's arrival on the world stage. The Austro-Hungarian Empire proved no less oppressive than the Ottoman one it replaced, and the Bosnian youth, powerless, indigent, and armed with the ideas of national liberation, began plotting its demise. Little did they know that their liberation struggle would spark a world war. And now, the youth in Bosnia are at it again. The Molotov cocktails that the teenagers hurled at government buildings in February 2014 ignited a popular uprising. This generation is different, if not in some ways opposite to Princip's, and yet so similar. This Bosnian Spring of sorts was fundamentally anti-nationalist, even though it preserved some of the same anti-colonial sentiment that inspired Princip to assassinate the Archduke. But while the former Young Bosnia movement arose at the beginning of modernization in the region, the current one arises at the end of the socalled post-socialist transition, a full, if bloody realization of the ideal of 'democracy,' 'market capitalism,' and 'national self-determination' in the ethnicized kleptocracy of post-war Bosnia and Herzegovina. Granted, this movement would not spark a world war, but it did spark a revival of civil society in the short-lived plenums. And yet, even more importantly, it has sparked hope that people can change the conditions of their existence through collective action. Bosnians have proven to them selves, with 93% approval rating for the February events in the Federation and 88% overall, that they can unite and bypass the nationalist bickering that has cemented Bosnia in the impossible post-Dayton no-man's-land.6 6 Većina Građana Podržava Proteste, a Nasilje Predstavlja Preveliku Cijenu Promjena. In: Klix.ba, http: / / w w w .klix.ba/ vijesti/ bih/ vecina-gra dja na-podrzava-protest e-a-n as ilje-predstavljapreveliku-cijenu-promjena/ 140212119. <?page no="289"?> The History of Uneven Development on the European Marginsfrom Princip to the Plenums 289 From Princip to Plenum This parallel between Princip and the Plenums is not as spurious as it might seem. Yes, there are those similarities that follow Marx's dictum of first time as tragedy and second time as farce: 7for example, the first time you get Mr. Kallay, and the second time Mr. Inzko. But there are also similarities in the 'objective conditions' between Princip's time and our own, some of which are deeply structural: the Raiffeisen Bank offers now as then, in the words of another Young Bosnian, that "fata morgana of comfort, security and happiness for all and everyone at reasonable prices and on good credit terms".8While writing of those times, Ivo Andric seems to have been anticipating our own: two thirds of his most celebrated novel covers the precise nature of this fa ta morgana of early, or in our case, late capitalism. One example of such similarity is the only seemingly more bearable state power, such that it hides, in Andrić's words, "all that [is] cruel and predatory" behind "the dignity and glitter of traditional forms."9Thus, the national elites who purport to protect the traditional values of the religious and ethnic life of Bosniaks, Croats, and Serbs, but in reality defraud the Bosnian public with the highest salaries at any level of government, and criminal privatizations after conspiring to devalue all public ownership.10 Andrić continues about Austria-Hungary and capitalism: this new life was not "in any way less subject to conditions or less restricted than in Turkish [or should we say communist? ] times," and the state "got as much or more, even more swiftly and surely."11 Compare, for example, the misuse of public funds by the communist party elites to the corruption rampant in Bosnian political life today. Equally deceiving are the possibilities offered in the new system: wealth is on display, and "the masses of people [can] see something of its glitter, even if only in its trash." The circulation of money on the other hand, "even in the poorest man, induce[s] the illusion that his poverty is only temporary and therefore more bearable."12 And finally, even the desires and gratifications that were now exposed in public and thus seemed more easily obtainable (commodity fetishism in the popular meaning of 7 Marx, Karl: The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte. Rockville, MD: Serenity Publ. 2008, p. 9. 8 Andrić, Ivo: Na Drini Ćuprija. Sabrana de. Beograd: Prosveta 1976, p. 176. Translabon mine? 9 Ibid. 10 Padalović, Elvir: Grafikon. Poslanici u BiH najplaćeniji u Evropi! In: buka.com, 05.06.2014, http: / / www.6yka.co m/ novost/ 52484/ grafikon-poslanid-u-bih-najplacenijhu-evropi. 11 Andrić 1976, p. 176 [emphasis mine], 12 Ibid. <?page no="290"?> 290 Marina Antić that term), were in fact producing "even more restrictions, order and legal hindrance; vices were punished and enjoyments paid for even more heavily and dearly than before, but the laws and methods were different and allowed the people, in this as in all else, the illusion that life had suddenly become wider, more luxurious, and more free".11 And in the same manner, postsocialist glittering markets, credits, and mortgages seem to make private wealth possible and attainable, but alas, just as illusory, as close to half of unemployed Bosnians today can attest to the fact. Then as now, this capitalist illusion of comfort and possibility also has its dark side, when the market crashes of 1882 and 2008 devastated Bosnia, while the entire system seemed like "a crazy and perfidious game which more and more embittered the lives of more and more people, but in which they could do nothing for it depended on something fa r away; on those same unattainable and unknown sources whence had come also the prosperity o f the firs t years".1'1In other words, just as the arrival of the capitalist empire brought about the illusion of happiness and wealth, so did the economic crash in the centre bring about the economic collapse in the provinces. The larger point being made, of course, is precisely the distance between that centre where all the decisions were being made and the periphery like Bosnia, then and now. This last point is at the heart of my reading of these historical parallels, for it is precisely the history of peripheral, uneven and combined development that explains the uncanny similarities between Princip's times and our own. In what follows, I will offer a reading of this development that includes, rather than occluding, the socialist period. My thesis is that this history of peripherialization continued uninterruptedly since Princip's times, and that we are only now seeing its latest phase. The principal similarity between 1914 and 2014 is the position of Bosnian and Herzegovinian society on the periphery of global capital: then in the form of one 'proper' Austro-Hungarian colony, and now, as is the case with postcolonial nations worldwide, in the position of severe indebtedness to international financial capital with full cooperation of the comprador, post-Dayton elite of Bosnian society. Development of Underdevelopment on the European Periphery: 1914 to 2014 Prior to World War I, regions that would form the first and second Yugoslavia were colonial satellites or dependencies of European empires.1314 13 Ibid, [emphasis mine], 14 Andric 1976, p. 211 [emphasis mine]. <?page no="291"?> The History of Uneven Development on the European Margins from Princip to the Plenums 2 9 1 Slovenia, Croatia and Bosnia-Herzegovina were serving the needs of the Austro-Hungarian monarchy: exporting raw materials and agricultural products and developing only to further facilitate such extraction of goods through, for example the development of transportation infrastructure. On the other hand, Austria-Hungary blocked independent Serbia from establishing protective tariffs necessary for internal development, however corrupt that internal situation might have been at the time. In terms of Western European capital overall, it "developed almost exclusively as usury and trading capital, penetrating and contributing to a transformation of a traditional Ottoman fief-system".15 In Bosnia particularly, "capitalism penetrated agriculture in a more indirect way than it did in the North of the South Slavic region, where Austro-Hungarian imperialism infiltrated the peasant economy and, having ended feudalism, radically transformed it".16The usury and trading capital "seldom influenced the villages and the South Slav peasants' lives directly, but they often made the landowning Muslim lords dependent on [traders and foreign capital]; " the landowners, "in turn increased their exploitation of the peasants through an oppressive quasi-feudal system of land tenure".17 Petrified feudal relations combined with an uneven position in the global capital exchange in the early 20th century led to widespread poverty among the peasants, including the family of young Gavrilo Princip. The pattern of uneven incorporation into structures of global capital had not ceased with the break-up of the occupying empire in 1918. Following WWI, interwar Yugoslavia had such serious internal problems that, in Schierup's words', it "was incapable of implementing a strong and independent foreign policy and was thus unable to achieve one of the most important preconditions for independent socio-economic development, namely a settlement with imperialist domination".18 Specifically, foreign ownership of the richest mineral resources and export of raw, unfinished products to the more developed countries characterized the dependent position of the newly established state.19 French and British interests owned copper, lead and zinc mines, and by 1940 controlled between 75% and 90% of all mining, metal-extracting and chemical industries.20 Foreign 15 Schierup, Carl-Ulrik: Migration, Socialism, and the International Division of Labour. The Yugoslavian Experience. Brookfield et a t: Gower 1990, p. 31-32. ,I: Ibid. 17 Ibid., p. 32. 18 Ibid., p. 35. 19 Cf. ibid., p. 37. 20 Cf. Singleton, Frederick Bernard / Carter Bernard: The Economy of Yugoslavia. London; New York: Croom Helm / St. Martin's Press 1982, p. 66; Schierup 1990, p. 38. <?page no="292"?> 292 Marina Antić control of the royal economy was also evident in international debt. As Singleton states: The state borrowed heavily abroad; large parts of industry were either under direct foreign ownership or their activities were circumscribed by agreements with foreign cartels; and finally, the predominance of Germany after 1935 as the principal trading partner gave that country and its Nazi rulers an overwhelming influence on YU economic development.21 All of these examples are typical of combined and uneven development on the periphery of global capitalism and they hold true for interwar Yugoslavia as much as for any Third World country. It should come as no surprise then that the narrative of Yugoslav resistance to Nazi occupation once again took the form of a national liberation struggle. The armed fight was waged against the Nazi occupiers, while the political struggle included an anti-colonial program of resisting foreign economic domination. The communist leadership materialized this anticolonial program with nationalization of all industry and mines immediately after the war. The second, socialist Yugoslavia, upon inheriting a colonial pattern of development from the first Yugoslavia, and having suffered the devastation of World War II, faced long odds at developing into an independent socialist state. Like other peripheral countries of global capital, Yugoslavia had to answer the first and only question of every developing nation: whether to develop its industry towards export production and thereby gain capital necessary for development, or to turn to allies for the capital needed and develop industrially for its own needs. Yugoslavia, like many newly decolonized countries, chose the latter but was pushed into the form er by the USSR's decision to break ties with Yugoslavia in 1948. Left to their own devices, with no help from friendly powers, the Yugoslavs turned to capitalist countries for help. The centres of global capital negotiated the terms by which Yugoslavia could obtain capital from them, which included compensation for all nationalized industrial property and cooperation with international financial institutions, i.e., a rollback of the nationalization project. Unlike most other socialist states, Yugoslavia was forced very early into integration into global capitalism with all this entailed: International Monetary Fund (IMF) and World Bank membership, lines of credit on beggar's terms and imposition of structural adjustments to internal policies of the state, all of which only deepened the pre-war pattern of combined and uneven development. 21 Singleton / Carter 1982, p. 69. <?page no="293"?> The History of Uneven Development on the European Marginsfrom Princip to the Plenums 293 However, this arrangement worked well for Yugoslavia as long as it was allowed to have protective tariffs for nascent industry, for roughly 20 years, resulting in fast and successful industrialization. The capital contraction in the centre following the end of the Bretton Woods agreement and the oil shocks of the 1970s, however, led to Yugoslavia's rising debt and gradual but steady loss of sovereignty in the economic realm. As was the case with most developing countries, Yugoslavia was indebted to Western banks and governments, producing for export in order to continue servicing its debt and in that way taking away capital needed for further development. The General Agreement on Tariffs and Trade and the IMF controlled much of the internal economic conditions, continued the protectionism and outright economic warfare by Western states, all the while preaching marketization and free trade at all costs. To make matters worse, the Yugoslav international account was divided among the republics in 1975, while the federal government remained the main guarantor of all international borrowing.*22Coupled w ith the rising regionalism, this move almost guaranteed bankruptcy and, importantly, the break-up of the state along republican lines. The 1980s were a ruinous decade for Yugoslavia, as they were for many form er colonial countries. As the Cold War was coming to an end and with it Yugoslavia's strategic value to the US was declining, the international economic system of unbridled free markets was allowed to exert itself fully over Yugoslavia. Combined with its internal socio-economic divisions and a decentralized federation, this spelled an end to the Yugoslav state as such. Following another devastating war, the process of transition from social ownership of the means of production (that is, workers self-management) into free market capitalism has crippled former Yugoslavia, including Bosnia. Just one illustration will do: while Yugoslav foreign debt in 1990 totalled $18 billion (or $32.2 billion in 2012 dollars) with a debt to GDP ratio of 13.18%, the 2012 total for the same geographic region amounted to $177.86 billion with a debt to GDP ratio of 100.7%.23 Drastically higher 22 Woodward, Susan L: Socialist Unemployment. The Political Economy of Yugoslavia 1945 - 1990. Princeton: Princeton UP 1995, pp. 252-253. 22 Slovenia, as the first to accede to the EU, bears the heaviest burden: $61.23 billion or 134.9% of its GDP; Croatia follows with $66.3 billion and 118%; followed by Serbia ($31.53 billion or 82.7%), Macedonia ($6.6 billion or 68.9%), Bosnia and Herzegovina ($10.54 billion or 62.5%), Montenegro ($1.2 billion or 29.6%), and the most recent addition, Kosovo with $.466 billion or 7.2% of its GDP. All GDP data is from the World Bank's World Development Indicators Structure of Output (cf. World Bank: World Development Indicators. Structure o f Output. 14.12.2014, http: / / wdi.worldbank.Org/ table/ 4.2). All external debt data is from the Central Intelligence Agency's The WorldFactbook, https: / / www.cia.gov/ library/ publications/ the-world-factbook/ ; all 1990 data re: Yugoslavia stems from the 1991 edition of this factbook. <?page no="294"?> 294 MarinaAntic indebtedness and ever more draconian austerity measures have made it abundantly clear that South Eastern Europe has not been 'transitioning' into Europe proper, but into a peripheral zone of global capital, characterized by the precarious existence of most of its citizens. In Bosnia and Herzegovina, today's GDP to debt ratio is closer to 45%, while the foreign debt has doubled to about 3.5 billion euros. The path out of what is colloquially known as debt slavery, as Kadrija Hodžić, in an interview with Radio Free Europe, said, lies in changing the current and imposed neoliberal path of economic development. In its stead, a policy of economic development based on production and protection of the overexposed native market, coupled with changes in monetary policy, is the only conceivable way forward for the Bosnian economy.24 However, the 'bad Samaritans' of international financial institutions have no intention of allowing such changes to Bosnian economic policy even if the local elites could be made to endorse such an approach, as the recent Compactfo r Growth and Jobs indicates.25The Delegation of the European Union to Bosnia and Herzegovina effectively the gatekeepers to the promised EU accession for Bosnia produced this document in May 2014, detailing six urgent measures "that would re-ignite the process of modernising the economy."26 It reads instead as the brochure for deepening the neo-liberal intervention already responsible for the devastating conditions on the ground in Bosnia and Herzegovina during the last twenty years.27 The Compact "advises" reductions in government expenditures; "efficiency improvements," i.e., cuts in the health and pensions systems; increase in sales taxes; elimination of seniority in labour contracts; "harmonising" labour legislation; "reforming" collective bargaining; improving the business climate by "streamlining tax procedures; " "stronger insolvency framework to make resolution faster and restructuring easier," i.e., allow for even faster criminal privatizations; and raising the effective retirem ent age.28As The Compact reads, these "reform measures would be implemented by governments after the October [2014] elections".29They have been endorsed by the international financial institutions and the Eu- 24 Nikolić, Maja: Hodžić: BiH klizi ka dužničkom ropstvu. In: Radio Slobodna Evropa, 15.12.2014, http: / / www.slobodnaevropa.org/ content/ hod%C5%BEi%C4%87-bih-klizi-kadu%C5%BEni%C4%8Dkom-ropstvu/ 25307567.html. 25 The full text of The Compact fo r Growth and Jobs can be accessed under: http: / / europa.ba/ News.aspx? newsid=7261&lang=EN. 2,1 Ibid. 27 Ibid. 28 Ibid. Ibid. 29 <?page no="295"?> The History of Uneven Development on the European Marginsfrom Princip to the Plenums 295 ropean Union who have plans ready "to assist with their implementation and to provide financial assistance to alleviate their short-run effects".'0 These short-term effects would be a drastic drop in the already extremely low standards of living in Bosnia. To make matters worse, the June 2014 IMF Letter o f Intent furthermore endorsed new labour laws to, at a minimum: (i) require all collective bargaining agreements to be time-bound, and with sector-specific collective agreements applying only to those enterprises and workers that want to be part of the agreement; (ii) allow differentiated wage setting based on skills, qualifications, experience, and performance; (iii) reduce disincentives for hiring; (iv) step up labor inspections and increase penalties for labor law violations; and (v) protect workers' rights consistent with HO labor standards and EC labor directives.3031 The fight over the new labour law was building up as the unions were actively opposing many of these provisions, including 182.2 that would invalidate all collective agreements unless they are modified to agree with the new law, thereby denying decades of hard-won labour rights and protections. As Kenan Mujkanović of the Metalworkers Union says: We've seen a similar process in Croatia and Serbia, where the [IMF and World Bank] and rating agencies claimed an unacceptably high index of legal protections for workers, as they claim this about us now. [...] Recently, the British Ambassador in Bosnia and Herzegovina, Edward Ferguson, said that the high price of labour in BiH is the cause of our low competitiveness, and a barrier to new investments and job creation. This claim hardly deserves serious consideration, as we know that the average salary in the real sector is between 500 KM and 600 KM, while the consumer basket for a family of four is 1,800 KM a month. However, this statement also clearly points to the interest and significant role the international community plays in the creation of future conditions in labour relations [in Bosnia and Herzegovina].32 In the 1980s, the international partners (IMF, World Bank) proposed a similar neoliberal economic course for Yugoslavia a series of policies later denounced not only for their utter failure to bring about development, but for actually heightening and speeding up the economic collapse of the federal state.33 30 Ibid. [Emphasis mine.] 31 The full text of the Letter o f Intent can be found at http: / / www.imf.org/ external/ np/ loi/ 2014/ bih/ 061314.pdf. 32 Dajić, Mirza: Kenan Mujkanović, pravnik u sindikatu metalaca BiH: sa socijalizmom koketiraju poslodavci, a ne radnici. In: Oslobođenje, 14.12.2014, http: / / www.oslobodjenje.ba/ intervju/ kenan-mujkanovic-sa-socijalizmom-koketi raju-poslodavci-a-ne-radnici. 33 E.g. see Boughton, James M.: Silent Revolution. The International Monetary Fund 1979- 1989 (2001), https: / / www .imf.org/ external/ pubs/ ft/ history/ 2001/ . <?page no="296"?> 296 MarinaAntic What began as modernization by means of colonization in Bosnia in 1878 is reaching the final stages of peripheral uneven development: high indebtedness, imposed austerity measures, foreign direct ownership and free trade to the detriment of native development. While the rhetoric of free market capitalism, combined with an illusionary sense of democratic governance, seems to still woo some Eastern Europeans (for example, Ukrainians), it seems the Bosnians have finally learned their lesson. The protests of February 2014 and the plenums demonstrated that the majority of people understand that this economic and political system is not only fundamentally dependent on the centre and thus unaccountable to the local public, but also that the ethno-nationalist divisions that have paralyzed the country for 30 years must be bypassed if Bosnia is to thrive. As is to be expected, the most North-Western former Yugoslav republic also led the charge in the current wave of protests in former Yugoslavia: the first protests of this different type began in Slovenia in 2011. Starting in large industrial centres like Maribor, and focusing on the very real material consequences of the EU 'transition/ these protests mobilized the energy of the social and economic 'losers'. The former Yugoslav workers have been left behind, as their factories were first illegally appropriated by the state, then artificially devalued, sold in often criminal and corrupt privatization processes, and having been run into the ground by the 'privatization' mafia are now literally cut up and sold for scrap metal, leaving hundreds of thousands of unemployed. What had began in Maribor now spread to Bosnia in 2014, starting once again in industrial centres like Tuzla. What we had on display then, is the worst nightmare of the guarantors of the post-socialist 'transition': the masses of people awakening from this ahistorical, nationalist slumber that we know as the rhetoric of a return to Europe, realizing that the promise of European prosperity cannot apply to the peripheries. Monarchist Revisionism and the Making of the Bosnian Native That was a generation of rebel angels, in that short moment while they still had all the power and all the rights of angels and also the flaming pride of rebels. These sons of peasants, traders or artisans from a remote Bosnian township had obtained from fate, without any special effort of their own, a free entry into the world and the great illusion of freedom. [...] What could especially be said of them was that there had not been for a long time past a generation which with greater boldness had dreamed and spoken about life, enjoyment and freedom and which had received less of life, suffered worse, was more enslaved and perished more often than had this one.34 34 Andric 1976, p. 232. <?page no="297"?> The History of Uneven Development on the European Marginsfrom Princip to the Plenums 297 The starving peasant, outside the class system, is the first among the exploited to discover that only violence pays. For him there is no compromise, no possible coming to terms; colonization and decolonization are simply a question of relative strength.35 The monarchist revisionism that has gone hand in hand with nationalist construction of Gavrilo Princip rests on the construction of the native as such. The violence of the young Bosnian peasant against the symbol of not only the regime that has created these conditions of almost unimaginable poverty, but also of the perpetuation of that regime in royal succession, is now as then, marked as barbaric, terrorist, bloodthirsty, and above all inhumane. The native man, upon whom violence has been impressed as the condition of his very existence, is ironically called out for responding to such violence w ith violence. The discourse of humanity is mobilized in such judgments of Princip's act, ignoring the inhumanity of the very presence of the colonizing force in Bosnia and the very real connection this occupation had with the far more successful and brutal colonisations of Africa, decided at that very same Berlin Congress in 1878. Much in the same way as the British were scandalized by the 'brutality' of the Mau Mau rebellion in Kenya, or the French by the violence of Algerian resistance, so were the Austrians by the political assassination of the heir to the throne. At the same time, the republicanism constitutive of modern Europe is passed over in judgments of the assassination. For how is one to deal with those whose claim to legitimacy as the head of state is nothing but their very existence? What is far more fascinating in Princip's act is his persuasion that an act of violence against the colonizing state can help bring about its end. Flis conviction rests in what Frantz Fanon proposes in The Wretched o f the Earth: that the native, if he is ever to become human, must first exert violence against the settler (see quotation above). The fact that this notion sounds scandalous today is only testament to how little the discourse of European humanity and native inhumanity has changed since 1961 when Fanon wrote about Algeria. Becoming native is a matter of active construction of the native by the colonizing power. The Austro-Flungarian administration in Bosnia did so in a farcical attempt at imitating the centres of global capital and colonization. The Flabsburg Empire remained a mercantile empire whose competition with the developing capitalist empires in the centre was destined for failure. In one last attem pt to play up its significance in the symbolic economy of colonial competition, Austria-Flungary attempted to imple- 35 Fanon 2007, p. 84. <?page no="298"?> 298 MarinaAntic ment its own mission civilisatrice, but in the comically insignificant Bosnia and Herzegovina. It managed to spark a World War in the attempt. That the rebellion against the occupying empire took the form of nationalism is not surprising either, considering the general state of European politics and philosophy in the late 19th century. While Princip's motivations today are being evaluated from the standpoint of inter-ethnic conflict in 1990s Bosnia and Herzegovina, we would be wise to keep in mind that the enemy of Princip's nationalism was first and foremost the Austro-Hungarian occupying empire, and with it, the catastrophic socio-economic conditions for the vast majority of Bosnia's agricultural population. Today's monarchist revisionism follows the well-trodden path of colonial apologetics that in the immediate aftermath of decolonisations proclaime in a self-satisfied tone: 'See, everything is worse since we left! ' conveniently forgetting that the very socio-economic conditions in the postcolonial period were created by the colonizing powers and maintained even after decolonisations by the global regime of capital markets, centres, and peripheries. Today, one can hear not infrequently from both Ottoman and Austro-Hungarian Empire revisionists that the interethnic violence in Bosnia was the reason why they occupied Bosnia to begin with, and that the latest carnage just might have been prevented had the old empires survived these nascent and ugly ethnic nationalisms. Both, of course, conveniently forget that ethnic violence "should [...] be seen not as expressive of primordial ethnic differences, but as a response to unstable historical conditions that catalyzes essentialist identities be they ethnic, generational, gender, class, or urban-rural ones".36 In other words, the savagery of the fratricidal war was not a result of some essentialist nature of Bosnia and Bosnians better managed by foreigners, but rather, a response to the historical conditions, namely the collapse of the federal state and the economy of the 1980s, and the rise of nationalisms that catalyzed ethnic essentialist identities and narratives in its bid for power in the 1990s. Be it in the Balkans or Bantustans, as Rob Nixon points out, the construction of the native (primordial, ethnic, racial, violent, barbaric, etc.) is the very ground upon which the logic of colonialism and imperialism rests.37 The recent Bosnian uprising shows that the Bosnian native the one whose primordial hatred and violence is to be managed by the Dayton Peace Agreements, High Representatives, Delegations of the European Union and the like is ready to become human once again. Recognizing 56 Nixon, Rob: Of Balkans and Bantustans. In: Transition 60 (1993), pp. 4 -2 6 . 57 Cf. ibid., p. 14. <?page no="299"?> The Historyof Uneven Developmenton the European Marginsfrom Princip to the Plenums 299 each other as rightfully meddling in their own lives, disrupting business as usual, concerning themselves with politics, and bypassing the nationalism of the elites, the protesters of February 2014, the Young Bosnia 2.0, were ready to take front stage in Bosnian politics once again. Flere is one of the spokespersons of this new Young Bosnia, the hip-hop artist Frenkie38, summarizing the anti-nationalist and anti-imperialist inspiration for the protests in February 2014; it only indicates the long-standing nature of the Bosnian youth's disenchantment with the current regime: Izgubljen narod, smrdi mržnja i barut U kriznom smo stanju, odavno Treba sa snagom da krenemo hrabro Sa dignutom glavom kroz branu ravno A people lost, the stench o f hatred and gunpowder In a crisis statefor long We should go bravelyforth, with power Head held up high, straight through the wall Buržoazija njihova nacija Kapital trajna okupacija Pravila nisu ista za sve, upali um Pitam se gdjeje "bailout" za Somaliju Gori Wall Street i gori MMF Gori svaka banka i svaki sef Gori Brisel i gori Washington Gori, gori, gori Babilon Bourgeoisie is their nation Capital, permanent occupation The rules are not the samefo r all I wonder where's the bailoutfo r Somalia Wall Street is burning, IMF is burning too Every bank on fire, and every safe too Brussels is burning, Washington is burning too Burning, burning, burning Babylon Ja optimista sam do kraja skroz lako svjetlo na kraju tunela može b iti voz Umjesto zida napravit ću most Ako misliš isto budi mi gost Neće niko doć, neće ništa past s neba ti M i smo ti koje smo čekali Neće niko doć, neće ništa past s neba ti M i smo ti koje smo čekali I'm an optimist all the way to the end Even if the light at the end o f the tunnel could be a train Instead o f a wall. I'll build a bridge Be my guest, i f you think the same No one will come, nothing willfa ll from the sky We are the ones we've been waitingfo r No one will come, nothing willfa llfrom the sky We are the ones we've been waitingfo r 38 Frenkie: Gori. In: Troyanac.Tuz\a\ FmJam Records 2012 [English translation mine]. <?page no="300"?> 300 Marina Antić Gori Dejton, gore Laktaši Dayton is burning. Laktaši are burning Gore njihovi, gore naši Theirfolks are burning, ourfolks are burning Gori Tuzla, vatrajebena Tuzla is burning, a damn goodflame Gore čak i Panonskajezera Even the Pannonian lakes are on fire Gore bašte, gore kafići Patios are burning, cafes are burning Gore pozorišta i umjetnici Theatres are burning, artists on fire Gori B i gori H Bjosnia] is burning, Hjerzegovina] is burning Goriš ti i gorim ja You are on fire, I am on fire too Post Scriptum Today, the sophistication of capitalist centres is not to be underestimated. The same group that is responsible for the development of underdevelopment known as Compact fo r Growth and Jobs designed a brilliant local campaign against the protesters and the new Young Bosnia movement. Just prior to the centennial, Sarajevo was covered with billboards displaying a common, simple 'advice' in local jargon: "Gledaj od čega ćeš živjet! " (Concern yourself with how you'll make a living). With only the website for the conference that was to produce the Compact later in May 2014 in small print at the bottom of the billboards, the implication was that it had somethingto do with the creation of jo b s th e main preoccupation o fth e vast majority of Bosnians today. What was conspicuously missing on the billboards was the second part of that local saying, usually something along the lines of: "a ne kako ćeš rušiti vladu! " (...and not how you'll bring down the government). Because, the local saying that starts with those five words usually ends in more 'sensible' advice not to rock the boat: "Gledaj od čega ćeš živjet a ne politiku I" (Concern yourself with how you'll make a living and not with politics! ), or "Gledaj od čega ćeš živjet' a ne petljaj se gdje ti nije mjesto! " (Concern yourself with how you'll make a living, and quit meddling into others' business! ) and so on. Subtle or not, the advice o fth e international community was clear: do not concern yourself with politics, protests, and the like, that's for others to decide. Keep worrying about your daily survival and we'll take care of the rest. In light of that campaign, the lofty pronouncements by the representatives of the international community during the February 2014 protests sound awfully hollow, but rather familiar. That is to say, when the <?page no="301"?> The History of Uneven Development on the European Marginsfrom Princip to the Plenums 301 natives begin to rebel and take things into their own hands, the imperialists are quick to declare 'independence' or support a 'moderate' national campaign, for fear of more radical and more effective native rebellion taking over the political scene. Hence the pleadings of the international community for peaceful protests, peaceful demonstrations, etc. They forget that tw enty years of peaceful protests have proven fruitless to the vast majority of Bosnians. <?page no="303"?> NARRATIVE DES ATTENTATS VON SARAJEVO IN ZENTRALEUROPÄISCHEN KULTUREN <?page no="305"?> B oris P revišić (B asel ) Ideologisierung historischer Rekonstruktion Der M ehrw ert literarischer Rekonstruktion des 28. Juni 19141 After having attempted an periodical overview over the last hundred years of cultural narration which tries to make sense of the Sarajevo assassination, there are two interesting findings: I. Periods of a rather literary discourse alternate with such of a more historiographical character. 2. Both discourses become more and more ideological and polarize Europe as a result of more and more developed narratives. It remains to analyse the connection between certain types of narration and their level of ideologisation. Überblickt man die hundert Jahre Aufarbeitung des Attentats von Sarajevo, sind zwei Befunde erstaunlich: So lösen sich zum einen eigentliche 'Epochen' literarischer und dann wieder historiografischer Aufarbeitungen ab; zum anderen werden beide Diskursformen mit der zeitlichen Distanz nicht 'objektiver' und 'nüchterner', im Gegenteil um es mit Milo Dor zu formulieren: "Über kein Ereignis in der Geschichte hat man so viel und mit so viel Leidenschaft und oft unverhohlenem Eiaß geschrieben wie über das Attentat von Sarajewo [...]." 2 Sowohl der literarische als auch der historiografische Diskurs werden immer ideologischer, was sich als europäischer Erinnerungsgraben entlang der ehemaligen Kriegsbündnisse - Entente vs Mittelmächte mitten durch ganz Europa zieht, wobei durchwegs auch Selbstbeschuldigungen und Fremdentlastungen zur Tagesordnung gehören: Man denke in diesem Zusammenhang an die herausragenden Beispiele, an Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht, worin er 'seinem' Land die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg zuweist,3 oder an Christopher Clarks The Sleepwalkers, worin er das Deutsche Reich wieder entlastet, indem er einen Zusammenhang zwischen großserbischem Wahn, der später zum Genozid in Srebrenica führen sollte, und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs suggeriert.4 1 Dieser Beitrag bildet einen hier leicht erweiterten -T e il in der kleinen Monografie Previšić, Boris: Das Attentat von Sarajevo. Ereignis und Erzählung. Hannover: Hohesufer 2014. 2 So das Vorwort zu Dor, Milo: Die Schüsse von Sarajevo. Roman. Nördlingen: Beck 1989, p. 7. Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/ 18. Düsseldorf: Droste 1961. 1 Clark, ChristophenTheSIeepwaIkers. How EuropeW enttoW arin 1914. London: Penguin 2012. <?page no="306"?> 306 Boris Previšic Folgender Beitrag weist zwei Teile auf: In einem ersten deskriptiven Abschnitt werde ich anhand eines relativen großen Korpus das dichotomische Muster von literarischer und historiografischer Aufarbeitung aufzeigen. Im zweiten Teil geht es dann darum zu plaubilisieren, worin der Mehrwert literarischer Bearbeitungen bestehen könnte. Es geht mir dabei nicht darum zu behaupten, Literatur sei weniger ideologisch untermauert. Im Gegenteil: Beide Beispiele, auf die ich ausführlicher eingehen werde, sind hochgradig ideologisiert. Doch sie relativieren ihre Position in spezifischen literarischen Verfahren die sich letztlich auch die Historiografie vermehrt zu Herzen nehmen und aneignen könnte. 1. Literarisch-historiografische Komplementarität und Ideologisierung der Diskurse In der chronologischen Anordnung der verschiedenen 'Erinnerungsschübe' an das Attentat über die letzten hundert Jahre wird vor allem eines deutlich: Historiografische und literarische Aufarbeitungsphasen sind nicht direkt ineinander verzahnt, sondern lösen sich in den meisten Fällen im 10bis 20-Jahre-Rhythmus ab oder bilden eigentliche Konzentrationspunkte. Abgesehen von einzelnen Quellentexten steht der 28. Juni 1914 in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg zunächst nicht im Vordergrund. Erst m it der Einspeisung der wichtigsten Quellen zum Kriegsanfang, mit Luigi Albertinis Le origini della guerra 1914 aus dem Jahre 1943 und dem Folgejahr beginnt eine längere gut vierzigjährige Periode, in der man vermeint, das Ereignis immer genauer in den Blick nehmen zu müssen um dadurch den oder die am Krieg Schuldigen eruieren zu können.5 Die literarisch-historiografische Erinnerung vom Ereignis bis heute lässt sich m it relativ hoher Evidenz in sieben Phasen einteilen: 1) Direkte Reaktionen innerhalb der ersten zehn Jahre sind neben Verhörprotokollen und Berichten vor allem literarische Zeugnisse. Dazu gehört die Verehrung Franz Ferdinands in Hermann Bahrs Roman Himmelfa h rt aus dem Jahre 1916. Darin bildet die Nachricht vom Attentat wie auch in vielen anderen Erzählwerken, z.B. in Joseph Roths Radetzkymarsch die eigentliche Klimax in der vergeistigten Liebesgeschichte des Protagonisten Franz. DerThronfoIger wird als der neue Christus inszeniert: "Franz Ferdinand. [...] In den zwei Worten stand die neue Zeit da. [...] Ja, sie ist 5 Albertini, Luigi: Le origini della guerra del 1 9 1 4 .1. Vol.: Ie relazioni europee dal congresso di Berlino all'attenlalo di Sarajevo, 2. Vol.: la crisi del Iuglio 1914. Dall'attentato di Sarajevo alia mobilitazione generale dell'Austria Ungheria, 3. Vol.: l'epilogo della crisi del Iuglio 1914. Le dichiarazioni di guerra e di neutralitä. Milano: Bocca 1943 1944. <?page no="307"?> Der Mehrwert literarischer Rekonstruktion des 28. Juni 1914 307 schon da, man fühlt sie schon überall im Lande; sie ist nur gerade jetzt noch auf der Jagd oder fährt auf dem Meer [...]."6So ironisch die Anspielung auf die häufigen Reisen und die Jagdexzesse des Thronfolgers hier in unseren Ohren auch tönen mag: Das 'Prinzip Franz Ferdinand' und damit das föderale Volksprinzip der 'vereinigten österreichischen Nationen' wird im Folgekapitel transzendiert: "Er mußte nun ganz hinüber, [...] um in Erfüllung zu gehen."78Zu dieser ersten literarischen Phase gehört natürlich auch Jaroslav Hašeks Verwechslungsgeschichte und die erste Verhaftung des Protagonisten zu Beginn des Schwejka 2) Darauf folgt eine zweite Phase der intensiven historiografischen Aufarbeitung. Innerhalb von drei Jahren erscheinen die ersten Standardwerke zum Kriegsausbruch, insbesondere diejenigen von Fay und Schmid.9 3) Phase drei ist lediglich als kurzes literarisches Intermezzo zu verstehen, welches aber im größeren Kontext des sich ankündenden Nationalsozialismus die imperiale Epoche vor dem Ersten Weltkrieg nostalgisiert und das Attentat als Anfang des Endes markiert. Dazu sind die einschlägigen Romane von Friedrich Oppenheimer, Bruno Brehm, Joseph Roth, Jozef W ittlin und Ludwig Winder zu zählen. Sie alle erscheinen im kurzen Zeitfenster zwischen 1931 und 1937.10 6 Bahr, Hermann: Himmelfahrt (1916). Hildesheim: Borgmeyer 1927. 7 Ibid., p. 367, p. 319f. 8 Hašek, Jaroslav: Osudy dobreho vojaka Švejka za svetove välky [Die Schicksale des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges], Prag: Adolf Synek 1921-1923. 9 Vgl. dazu Krumeich, Gerd: Juli 1914. Eine Bilanz. Paderborn: Schöningh 2014, p. 10. Er verweist dort auf: Fay, Bradshaw Sidney: The Origins of the World War. 2 Vols. New York: Macmillan 1928 sowie Schmid, Bernadotte Everly Schmid: The Coming O fT he War, 1914. 2 Vols. New York: Scribner 1930. Auffallend sind weitere IiistorischeAufarbeitungen insbesondere in Deutschland: Nikitsch-Boulles, Paul: Vor dem Sturm. Erinnerung an Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand. Berlin: Verlag für Kulturpolitik 1925; Fischer, Eugen: Die kritischen 39 Tage. Von Sarajewo bis zum Weltenbrand. Berlin: Ullstein 1928 oder Jux, Anton: Der Kriegsschrecken des Frühjahrs 1914 in der europäischen Presse. Berlin: Hendrick 1928. Ebenso in der Sowjetunion mit Poletmika, Nikolaj: Сараевское убииство. Исследование no истории австросербских отношении и балканскои политики России в период 1903-1914 гг [Der Mord in Sarajevo. Studie zur Geschichte der österreichisch-serbischen Beziehungen und zur Balkanpolitik Russlands in den Jahren 1903 bis 1914], Moskau: Mysl' 1930. Dazu gehören auch die Augenzeugen berichte wie derjenige von Tartaglia, Oskar: Veleizdajnik [Hochverräter], Moje uspomene iz borbe protiv crnožutog orla. Zagreb, Split: Albrecht 1928 bzw. von Pappenheim, Martin: Gavrilo Princips Bekenntnisse. Ein geschichtlicher Beitrag zur Vorgeschichte des Attentats von Sarajevo (1916). Wien: R. Lechner & Sohn 1926. Dieser Beitrag dient der jüngsten Biograhe zu Gavrilo Princip als Grundlage: Mayer, Gregor: Verschwörung in Sarajevo. Triu mph und Tod des Attentäters Gavrilo Princip: Salzburg, Wien: Residenz 2014. 10 Oppenheimer, Friedrich: Sarajevo. Das Schicksal Europas. Roman. Wien: Phaidon 1931; Brehms, Bruno: Apis und Este. So fing es an. Ein Franz Ferdinand Roman. München: Piper 1931; Roth, Joseph: Radetzkymarsch. Berlin: Kiepenheuer 1932; Wittlin, Jözef: Sol ziemi <?page no="308"?> 308 Boris Previšić 4) Eine zweite historiografische Aufarbeitung folgt in der vierten Phase in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier finden wir die eigentlichen Klassiker wie den bereits genannten Luigi Albertini, aber auch Fritz Fischer und Vladimir Dedijer.11 Darin kündet sich eine weitere künstlerische Auseinandersetzung m it dem Stoff an.12 5) Auf die größtenteils historiografische Aufarbeitung folgt eine hochgradig ideologisierte fünfte Phase, die sich durch ein Ineinander von hoch literarischen, essayistischen und populärwissenschaftlichen Werken auszeichnet: In Ingeborg Bachmanns letzten vor ihrem Tod noch fertiggestellten Erzählung Drei Wege zum See schenkt die Protagonistin Elisabeth ihrem Vater Dedijers Monografie The Road to SarajevoT3 Ingeborg Bachmann konterkariert damit die nostalgisierende Sicht auf den 'Habsburgischen Mythos', den sie m it der Übernahme von Joseph Roths Figurenarsenal einspeist. Der österreichische Journalist Friedrich Würthle hingegen behauptet m it dem bis heute im deutschsprachigen Raum immer noch gültigen Standardwerk zum Attentat das Gegenteil: Die Spur fü h rt nach Belgrad.111Darauf reagiert wiederum Milo Dor mit seinem Dokumentarroman, auf den wir noch genauer eingehen werden: Die Schüsse von Sarajevo. Darin lässt Dor den dem Helden des Romans höchst verhassten Chef der Justiz in Bosnien und Herzegowina sagen: "W ir müssen schnellstens Beweise für die Verantwortung der Serben liefern. Die Sache ist doch klar [und jetzt folgt der Buchtitel von Würthle]: die Spur führt nach Belgrad."15 In diesem topografischen Pingpong zwischen Sarajevo und Belgrad wird eines klar: Die historische Distanz bewirkt keine 'Objektivierung' der Fak- [Das Salz der Erde], 1935; Winder, Ludwig: DerThronfoIger. Ein Franz-Ferdinand-Roman. Zürich: Elumanitas 1937. 11 Dedijer, Vladimir: Sarajevo 1914. godine. Beograd: Prosveta 1966 / The Road to Sarajevo [Die Zeitbombe. Sarajewo 1914. Übers, von Tibor Simänyi. Wien: Europa Verlag 1967], In dieser Monograhe zeigt Dedijer die mit in Indien unter dem British Empire vergleichbaren Verhältnisse in Bosnien und in der Elerzegowina unter der Doppelmonarchie auf. Diese Verhältnisse bildeten folgt man Dedijers Argumentation den eigentlichen Nährboden für das Attentat. Zur selben zweiten historiografischen Aufarbeitungsphase sind zu zählen Bogićević, Vojislav: Sarajevski atentat. Stenogram Glavne rasprave protiv Gavrila Principa i drugova. Sarajevo: Državni Arhiv Narodne Republike Bosne i Elercegovine 1954; Remak, Joachim: Sarajevo. The Story of a Political Murder. London: Weidenfeld & Nicolson 1959 und insbesondere die eingangs erwähnte Monograhe von Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/ 18. Düsseldorf: Droste 1961. 12 Dazu gehört der Film von Fritz Kortner: Um Thron und Liebe. Österreich 1955; zu erwähnen ist ebenfalls die Princip-Biograhe von Ljubibratić, Drago: Gavrilo Princip. Belgrad: Nolit 1959/ 22014. 13 Bachmann, Ingeborg: Drei Wege zum See. In: Dies.: Simultan. Erzählungen. München 1972. 11 Würthle, Friedrich: Die Spurführt nach Belgrad. Die Eiintergründe des Dramas von Sarajevo 1914. Wien: Molden 1975. 15 Doi 1989, p. 73. <?page no="309"?> Der M ehrwert literarischer Rekonstruktion des 28. Juni 1914 309 tizität. Im Gegenteil: Die inzwischen ausgebildeten kohärenten Narrative reagieren nur noch aufeinander, um 'ihre' 'W ahrheit' zu behaupten.16 6) Die darauf folgende sechste Phase ab M itte der 1980er Jahre setzt diese ideologisierte Linie auf beiden Seiten fo rt,17 die selten genug durch literarische Parodien wiederum unterwandert werden.18 Und das Traurige an der Geschichte: Die postjugoslawischen Kriege bestätigen die jew eiligen Positionen nur noch so gegenteilig sie auch sind auf meist populistische Weise. Ich möchte nicht so weit gehen und behaupten, die verhärteten Fronten in der Politik der Erinnerung an das Attentat 1914 seien für die postjugoslawischen Kriege verantwortlich. Doch ein Zusammenhang ist nicht von der Fland zu weisen. Erst seit gut zehn Jahren gibt es wieder eine breitere historiografische Aufarbeitung, welche sich nicht mehr einfach auf das Ereignis konzentriert, sondern dieses in einen größeren Kontext stellt. Dadurch wird zwar wieder die Primordialität der Fakten behauptet. Doch die ideologischen Gräben lassen sich nicht so einfach zuschütten, geschweige denn reflektieren. Dazu ist wohl eine neue Generation gefragt, welche sich in den literarischen Texten neu ankündet und die 'Ideologeme' neu liest. Die chronologische Zusammenstellung der verschiedenen Rezeptionsgenres zeigt in erster Linie die historisch-kulturelle Kontextgebundenheit und die intertextuelle Verknüpfung der Narrative. Es gibt folglich nicht die 16 Neben dei topografischen Positionieiungvon Friedrich Wiirthle und Milo Dorschlägtsich die Einschreibung in ein spezifisches Opfernarrativ zunächst auf ‘serbisch jugoslawischer' Seite in weiteren Werken nieder, so z.B. im Erlebnisbericht von Popović, Cvetko Ć: Sarajevski Vidovdan 1914. Doživlaj i sećanja. Beograd: Prosveta 1969, im Film von Veljko Bulajić: Sarajevski atentat/ T h e DayThatShooktheWorId aus dem Jahre 1975, in der popu lärhistoriografischen Monograhevon Parežanin, Ratko: Die Attentäter. DasJunge Bosnien im Freiheitskampf. München: Jevtic 1976 oder im Drama von Ljubiša Ristić: Tajna crne ruke (UA Belgrad 1983). 17 Gewissermaßen auf 'österreichisch-ungarischer Seite' positionieren sich Werke wie Brook- Shepherd, Gordon: Victims at Sarajevo. The Romance and Tragedy of Franz Ferdinand and Sophie. London: Harvill 1984; Fronius, Hans: Das Attentat von Sarajevo. Graz: Styria 1988; Rauchensteiner, Manfried: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg. Wien, Graz: Styria 1994 / Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie. Wien: Böhlau 2013; Aichelburg, Wladimir: Sarajevo das Attentat 28. Juni 1914. Das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este in Bilddokumenten (1984). Wien: Österreichische Staatsdruckerei 21999. Auf der 'Gegenseite' ist zwar zu nennen der Film Belle epoque ili poslednji valcer u Sarajevu von Nikola Stojanović, der 1990 in Sarajevo gedreht, aber erst 2008 fertiggestellt worden ist. Dieser Film schafft es aber, seine eigene Perspektive als filmische Mise en abyme zu thematisieren. 18 Am eindrücklichsten hebt sich interessanterweise ein brasilianisches Werk, das ins Serbische übersetzt worden ist, von dieser Verhärtung der Fronten ab: Soares, Jo: O homem que matou Getülio Vargas. Säo Paulo: Editora Companhia das Letras 1988. / Čovek koji nije ubio Franca Ferdinanda. Biograhja jednog anarhista. Prevela sa portugalskog Ana Marković [Der Mann, der Franz Ferdinand nicht getötet hat. Die Biograhe eines Anarchisten. Übersetzt aus dem Portugiesischen von Ana Marković], Beograd: Clio 2003. <?page no="310"?> 310 Boris Previšić Geschichte zum Attentat und dessen Folgen, sondern nur pluraliter Geschichten, die sich nicht auf ein allgemeingültiges historiografisches Narrativ zurückbinden lässt, weil dieses wiederum text- und narrationsgebunden ist und einen entsprechend großen Spielraum für Interpretationen und Reinterpretationen offen lässt. Der Unterschied zwischen historiografischen und literarischen Aufarbeitungen beruht zwar lediglich auf einer äußeren Einordnungskategorie: So steuert das paratextuelle Beiwerk (wie "Roman" im Titel oder ein Stichwortverzeichnis im Anhang) die Zuordnung zur jeweiligen Kategorie. Doch kaum ein fiktionalisiertes Werk erhebt bei diesem konkreten Ereignis weniger Anspruch auf Wahrhaftigkeit als eine historiografische Monografie nur m it dem feinen Unterschied, dass die Literatur diesen Anspruch explizit zu formulieren hat und entsprechend auch form uliert.19 Dies wird gleich zu Beginn des ersten Beispiels deutlich. Die Literatur bietet durch ihren fiktiven 'Möglichkeitssinn' und ihre unterschiedlichen Erzählverfahren wertvolles reflexives Material, das der Überbrückung von Erinnerungsgräben dienen könnte. Darum möchte ich nun im zweiten Teil exemplarisch auf zwei literarische Werke der dritten und fünften Phase eingehen, die für die Aufarbeitungder Erinnerung an das Attentat zentral sind: erstens auf Friedrich Oppenheimers Sarajevo. Schicksal Europas (1931), zweitens auf Milo Dors Roman Die Schüsse von Sarajevo (1982/ 1989). 2. Literarische Perspektivierung des Ereignisses Friedrich Oppenheimers Roman aus dem Jahre 1931 beginnt mit einem Vorspann, der zwar nicht deutlich als Paratext markiert wird, aber zumindest mit einem Ich-Erzähler beginnt, der dem Autor zugeschrieben wird. In der Narratologie spricht man von einem hohen Attachment-Faktor zwischen Autor und Ich, wobei der behauptete Autorname am Schluss wohl entgegen der Autorintention bereits eine erste Distanz zwischen Ich und Autor markiert.20 Der Authentizitätsanspruch wird hier in verschiedenen Punkten behauptet, welche miteinander redlich wenig miteinander zu tun haben, in ihrer Summe jedoch überzeugen sollen: Erstens wird das Argument der eigenen Erfahrung und der eigenen Nachforschungen in Anschlag gebracht: 19 Vgl. dazu den Artikel von Jaeger, Stephan: Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft. In: Nünning, Ansgar und Vera (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wissenschaftl. Verlag 2002, pp. 237-263. 20 Vgl. dazu Stanford Friedman, Susan: The "I" of the Beholder. Equivocal Attachments and the Limits o f Structuralist Nanatology. In: Phelan, James / Rabinowitz, Peter J. (Hg.): A Companion to NarrativeTheory. Oxford: Blackwell 2008, pp. 206-219. <?page no="311"?> Der Mehrwert literarischer Rekonstruktion des 28. Juni 1914 311 In diesem Roman sind die Erlebnisse meiner bosnischen Jahre nachgezeichnet. Als junger Offizier sah ich aus nächster Nähe alle treibenden Kräfte, die schließlich zu den verhängnisvollen Schüssen an der Miljatschka [eigtl. Miljacka] führten. [...] DasWissen um die Machenschaften der Staatsbureaukratie und genaue Kenntnis der Wesensart des südslawischen Volkes ließen dieses Werk erstehen. Umfangreiche Forschung ergänzte das Material.21 Zweitens beteuert der Autor entgegen des Romanplots, dass die Ereignisse gerade nicht fiktiv seien: "Die Ereignisse, die ich darstelle, sind nicht erfunden. Vorgänge, Handlungen und Aussprüche sind historisch getreu." (p. 7) Bereits hier lässt der Vorspann aber offen, worauf sich die historische Treue bezieht auf das Ereignis der "Fabula" oder auf den "Text" und somit auf das 'historische Dokument'. Drittens wird die eigene Erfahrung durch Quellenmaterial gestützt, welches die "Fabula" plausibilisiert: "Umfangreiche Forschung ergänzte das Material. Aus Diplomatenmeldungen, Gedächtnisprotokollen und Geheimbriefen erwuchs mir dann vollends das Ereignis." (ibd.) Aufgrund der Pluralität von Geschichten, die dann im vorliegenden Roman erzählt werden, ist völlig unklar, auf welches Ereignis sich nun der Autor bezieht: auf das Attentat oder auf seine persönlichen Erlebnisse oder letztlich auf seine eigene Fiktion als Ereignis zweiten Grades. Schließlich wird das Material zu einem sonderbaren neuen Leben erweckt: "Schreie gellten aus Schriftzügen; aus knisternden Bogen wurden Menschen, die nun als stumme Ankläger durch die Landschaft des Romans schreiten." (ibd.) Das ästhetisch überzeugendste Argument bürdet sich gleichzeitig ein Paradox auf: Zwar garantiert die Akustik, dass die "Schreie" der bisherigen Texte wahrgenommen werden; doch werden sie im neuen Schriftträger des Romans gleichsam wieder stillgestellt, wenn sie als "stumme Ankläger durch die Landschaft dieses Romans schreiten". Der Roman wechselt von Kapitel zu Kapitel den Schauplatz. Drei völlig unabhängig voneinander erzählte Handlungsstränge lösen sich im Laufe des Romans jeweils ab: Der erste Handlungsstrang des Machtzentrums folgt dem Thronfolger Franz Ferdinand im "Schönbrunner Schlosshof" auf seinem Landsitz "Konopischt" und schließlich auf der Reise nach Sarajevo. Der zweite Handlungsstrang siedelt sich an der imperialen Peripherie an. Er widmet sich den Attentätern bei Versammlungen in verrauchten Hinterzimmern, in Belgrad und ebenfalls auf ihrer Reise nach Sarajevo. Und der dritte Handlungsstrang schließlich hat zunächst nicht viel mit den antagonistischen Kräften von imperialem Zentrum und imperialer Peripherie zu tun. Er ist aber letztlich der interessanteste, nicht nur weil hier der Protagonist der literarischen Fantasie geradezu Flügel verleiht, sondern weil 21 Oppenheimer, Friedrich: Sarajevo. Das Schicksal Europas. Roman. Wien: Phaidon 1931, p. 7. <?page no="312"?> 312 Boris Previšić diese Fantasie eine ganz sonderbare Eigendynamik entwickelt welche in einer selbstreflexiven Volte der Handlung zum Schluss eine unerwartete Wende einleitet, von der her das 'Ereignis' selbst neu zu lesen ist. Dieser dritte Handlungsstrang folgt dem 'verständnisvollen' und 'sensiblen' Soldaten Wolfgang Ulmianus, der im Jahre 1913 in Sarajevo seinen Dienst als Tambour absolvieren muss. Er gerät hier nicht zwischen die militärischen, sondern amourösen Fronten. Wie sich weisen wird, ist das Weibliche hochgradig politisch konnotiert: Kaum in Sarajevo angekommen, sucht unser Soldat das Objekt seiner Begierde man merke sich den Namen - Ulla Wegstreit auf: Er eilt dafür eine für Sarajevo so typische Gasse hoch und erblickt dort gewissermaßen als Präludium durch eine "Lücke im Bretterzaun" eine eigenartige Szenerie, welche die orientalisierende Fantasie unseres Protagonisten noch mehr anregt: "Auf einer Wiese tummeln sich, von einem Eunuchen behütet, an die hundert muselmanische Frauen und Mädchen. Sie sind ohne Schleier, wähnen sich unbelauscht. Ein Reigenspiel ist im Gang." (p. 33) Er reißt sich von dieser orientalisch stereotypisierten Szene los, um seine Ulla Wegstreit doch noch aufzusuchen. Sie ist keine Einheimische, sondern eine typische kakanische Beamtentochter, welche von älteren wohlhabenden Herren in der Stadt aufs Heftigste umworben wird, insbesondere vom Armenier Oramian (p. 36) und von einem einheimischen Adligen, dem Beg Gaduhl. Letzterer erkauft sich von ihr dann auch eine Liebesnacht für tausend Pfunde was zum ersten Eifersuchtsanfall von unserem Soldaten Wolfgang Ulmianus führt, während er im Kasino zum Kaiserwalzer aufzuspielen hat: "Da fällt ihm fast der Bogen aus der Hand: Ulla und Gaduhl tanzen vorüber. Fest hält der Beg das Mädchen. Nun spürt der ihre Brüste." (p. 95) Und just am 2. Dezember, zum 65. Jahrestag des "Regierungsantritts" seines Kaisers, kriegt Ulmianus (wie er mit der Pauke zur Parade antreten muss) mit, wie der Armenier Oramian seine Ulla mit einer Hure vergleicht worauf er "in ohnmächtiger Wut mit blanker Faust das Paukfell" einschlägt (p. 98). In der Folge wird er an die Grenzen zu Montenegro strafversetzt wo er auf die schöne Stojka trifft. Doch so wenig Ulla einheimische Muslimin ist, so wenig handelt es sich bei Stojka um eine einheimische Serbin wie man im ersten M om ent vermuten könnte. Denn das serbische Familienoberhaupt Milan lässt, um seine Unfruchtbarkeit zu verbergen, seine aus dem albanischen Skutari stammende Frau Stojana m it den Grenzoffizieren schlafen: "Albanisches hat sich m it österreichischem Blut vermengt." (p. 107) Das Wissen, dass Stojka einen aristokratischen Vater haben könnte (p. 115), steigert die Fantasie unseres Ulmianus noch einmal. Er wird ihr "Osman" wie sie ihn nennt (p. 123) - , w om it er in <?page no="313"?> Der Mehrwert literarischer Rekonstruktion des 28. Juni 1914 313 ihrer Imagination und in ihrem Spiel quasi zur imperialen Gegenseite, zur Hohen Pforte wechselt. Die nationalen Zuschreibungen werden konsequent durchkreuzt und unterlaufen. Die Attraktivität geht vom Imperialen aus, das national gerade nicht definierbar ist. In der Mimikry des imperialen Gegners eignet sich das Zentrum die Peripherie vermeintlich an wobei der eigentliche Gegner, das Nationale, welches in Reinform als das Serbische aufzutreten hat, vorneweg abgestraft wird: Denn der vermeintliche Vater von Stojka, der in den Balkankriegen auf serbischer Seite gekämpft haben soll, ist und bleibt unfruchtbar. Soweit ist der Roman deutlich ideologisiert. Der Roman kulminiert im Attentat von Gavrilo Princip in der konsequenten Koinzidenz von erstem und zweitem Handlungsstrang. Dieses Ende ist voraussehbar und allgemein bekannt; doch der dritte Handlungsstrang, dem wir bisher konsequent gefolgt sind, verharrt in einer eigenartigen Suspension: So wird Ulmianus, unser Soldat, von der montenegrinischen Grenze wieder nach Sarajevo zurückbeordert, wo er sich ein letztes Mal mit Ulla Wegstreit verabredet, um ihr seine neue Situation zu erklären. Stojka folgt ihm aber heimlich und kommt von wilder Eifersucht getrieben diesem Treffen zuvor. Hoch über Sarajevo auf dem Felsen Erzedol verbeißen sich die beiden Frauen und liefern sich einen erbitterten Kampf. Dem herbeigeeilten Ulmianus gelingt es nicht, Stojka von Ulla zu trennen und die Sache zu klären. Im Gegenteil: "Ein blindwütiger Tritt [von Stojka] schleudert Ulmianus über die Steilwand. M it lautem Pfiff die Stadt grüßend, knirscht der Frühzug aus dem Erzedoltunnel. Einen Todesschrei übertönend. Indes zwei Mädchen im Sonnenglast miteinander ringen." (p. 292) Damit endet nicht nur die inzwischen zentral gewordene Erzählung, welche die beiden anderen Erzählstränge verdrängt hat. Auch der Protagonist wird eliminiert, bevor er Zeuge des Attentats auf den Thronfolger werden könnte. So lose der Konnex zwischen Autor und Figur, zwischen dem jüdisch-österreichischen Friedrich Oppenheimer und dem kroatisch sprechenden Protagonisten Wolfgang Ulmianus auch sein mag, so sehr bestimmt die begehrte Mittlerfigur, selber Opfer seiner oriental-erotischen Projektionen, die Perspektive auf das kulturelle Setting und den historischen Konflikt an der imperialen Peripherie. Die Figur entzieht sich nicht nur ihrer narrativen Funktion für die Schlussszene des Attentats, sondern lässt die beiden Frauen in einem sinnlosen Kampf zurück der wiederum Antizipation des bevorstehenden Kriegs ist. In der Logik des Romans ist der Kampf doppelt sinnlos: Zum einen sind die beiden Frauen Ulla und Stojka sowieso imperiale Österreicherinnen und lassen sich in kein nationales Korsett pressen; zum anderen fällt die vermittelnde Perspektive unseres einfachen Soldaten Ulmianus jäh weg. Genau diese <?page no="314"?> 314 Boris Previšic Perspektive hätte mit ihrem Mehrwissen um die Mimikry aller Figuren -v e rm itte ln und den Konflikt entschärfen können. Doch nun heißt es nur noch "Sarajevo. Schicksal Europas". Während Friedrich Oppenheimers Roman im expressionistischen Gestus die Tragik Europas in einem Eifersuchtsdrama vermeintlich nationaler Missverständnisse veranschaulicht, schlägt Milo Dor, den Weg von der anderen Seite her ein: Der Roman beginnt mit dem Attentat. Er versucht, wie im "Vorw ort" ausgeführt wird, "jede Emotion, soweit das überhaupt möglich ist, zu vermeiden und die nachprüfbaren Fakten für sich sprechen zu lassen".22 Die erste Fassung erscheint 1982 noch unter dem Titel Der letzte Sonntag. Bericht über das Attentat von Sarajewo und unterstreicht damit den Rückgriff auf Quellen. Erst in der Dramatisierung im Titel wird man überhaupt auf seinen "Roman" wie es in der hier zitierten Neuauflage 1989 heißt aufmerksam. M it der Entscheidung, das Attentat aus der Perspektive des historisch verbürgten Untersuchungsrichters Leo Pfeffer erzählen zu lassen, verknüpft Milo Dor den historischen Objektivitätsanspruch mit der literarischen Subjektivierung: "So ist aus diesem Menschen, den es in ähnlicher Form tatsächlich gegeben hat, eine Romanfigur entstanden, die mit ihrer Auffassung von Recht und Gerechtigkeit in einer Welt voller Unrecht und Haß zwangsläufig scheitern muß."23 Die meisten deutschsprachigen Adaptionen im Fernsehen und auf der Bühne, die im Moment zu sehen sind, folgen übrigens genau dem Muster von Milo Dor und stellen Leo Pfeffer ins Zentrum der Handlung um die Aufklärung des Attentats. Wie schon bei Friedrich Oppenheimer erweist sich die M ittlerfigur als tragisch, da sie gegen den Lauf der Dinge - und hier ganz konkret der Beschuldigung Österreich-Ungarns, die serbische Regierung sei für das Attentat verantwortlich nichts ausrichten kann, obwohl seine Verhöre eine andere Sprache sprechen. Die Sympathie, welche Leo Pfeffer für die Attentäter empfindet, begründet sich m it seiner Herkunft. Im dreiteiligen Roman wird gleich zu Beginn des zweiten Teils diese Verbindung hergestellt: Das Attentat, das, einem Sommergewitter gleich, plötzlich über Sarajewo hereingebrochen war, sowie die Vernehmungen der beiden Attentäter [Nedjeljko Tschabrinowitsch und Gawrilo Princip] zwangen ihn, über Dinge nachzudenken, die er bisher als gegeben angenommen hat. Zum Beispiel über seine Herkunft und die Welt, in die er durch den Willen seines Vaters und seiner M utter hineingeboren war. (p. 83) ” Dor, Milo: Die Schüsse von Sarajevo. Roman. Nördlingen: Beck 1989, p. 7. 23 Ibid. <?page no="315"?> Der Mehrwert literarischer RekonstruWon des 28. Juni 1914 315 Es folgt die Geschichte seiner jüdischen Vorfahren, die aus Galizien stammen und sich schließlich im heutigen Osijek niederlassen und zum Katholizismus konvertieren, so dass sich Pfeffer "durchaus als Kroate" fühlt. Der Konnex südslawischer Solidarität wird dabei explizit hergestellt: "Sie [Pfeffers Vorfahren] hatten nur die Zugehörigkeit zu einem verfolgten Volke [der Juden] gegen die Zugehörigkeit zu einem anderen rechtlosen Volke [der Kroaten] eingetauscht." (p. 85) In seiner analytischen Aufarbeitung entzieht sich der Roman einer vermeintlichen Logik der Faktizität, welche den Grund zur Kriegserklärung bilden sollte. Die Dramatik verlagert sich wie schon bei Oppenheimer v o m Objekt, von den 'Schüssen von Sarajevo', zum Subjekt der Betrachtung: zu uns. An uns richtet sich die literarische Verarbeitung. Sie entzieht sich der historischen Faktizität als etwas Gegebenem. Angesichts sich verhärtender Fronten in Erinnerungskriegen - und jeder Krieg ist immer auch ein Erinnerungskrieg bietet hier die Literatur ein 'Drittes', wom it Handke Husserls "Lebenswelt" umschreibt.24 Die Literatur entzieht sich in diesem 'Dritten' der Macht einer historiografischen Rhetorik, ein endgültiges Urteil zu fällen. Damit bleibt die Literatur so klar ihre anfängliche Position auch sein m a g -im m e r wieder offen für das Andere in ihrer Skepsisgegenüber dem Erzählten selbst. ; J Handke, Peter: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit fürSerbien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, p. 51. <?page no="317"?> N orbert C hristian W olf (S alzburg ) Die Dichter und ihr Krieg Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 Thisarticle considers cultural responses to the outbreak of World War I in (mostly essayistic) texts by prominent German and Austrian authors (Bertolt Brecht, Robert Musil, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Georg Trakl and Karl Kraus), written and published before the end of 1914. The style and pattern of argument of these texts reveal a previously unrecognised intellectual mobilization, yet one which is also typical for political, ideological and aesthetic discourses of modernity. The analysis suggests that, in spite of the texts' premodernist heroic elements, their pattern of reasoning reflects problems characteristic of modern artistic practice. Anders, als es manche kulturselige Sonntagsreden und das recht eindimensionale Selbstverständnis vieler Literaten, Literaturwissenschaftler und Deutschlehrer suggerieren, bildeten Kunst und Literatur im 'kurzen' 20. Jahrhundert (Eric Hobsbawm) kein bloß vergebliches Bollwerk gegen die Schrecknisse des politischen Terrors und der äußerst brutal geführten Kriege, sondern waren im Gegenteil oft an vorderster Front aktiv an deren Propagierung beteiligt. Dies gilt im Jahr 1914 nicht allein für die serbischen Attentäter von Sarajewo, die sich auf nur scheinbar archaische Weise einer auch kulturellen Mission verpflichtet wähnten, wie Karl Kraus bereits kurz nach der Mordtat des "ungewaschene[n] lntellligenzbub[en]" Gavrilo Princip in seinem Kurzessay Franz Ferdinand und die Talente hervorgehoben hat: Keine kleineren Mächte als Fortschritt und Bildung stehen hinter dieser Tat, losgebunden von Gott und sprungbereit gegen die Persönlichkeit, die mit ihrer Fülle den Irrweg der Entwicklung sperrt. [...] [S]ie war der Hinterhalt intellektueller Gewalten, und was Druckerschwärze und Talent gegen die Welt vermögen, erfahren die Machthaber erst mit der Schallwirkung.1 Entsprechendes gilt allem anderen Anschein zum Trotz genauso für die deutschsprachigen Autoren jener künstlerischen Moderne, die man lange so ausschließlich wie verkürzend als kulturelle Begleiterscheinung eines friedlichen und gerechten 'Fortschritts' identifiziert hat. Davon zeugt eine schier unüberblickbare Menge von Aufsätzen, Reden, Manifesten und Do- Die Fackel, 16. Jg., Nr. 400-403 (10.07.1914), p. 1-4, hier p. 1. <?page no="318"?> 318 Norbert Christian W olf kumenten, deren Tenor man aus dem historischen Abstand im doppelten Wortsinn als niederschmetternd bezeichnen muss. Dem Fokus der Fragestellung zu den (mittelbaren) Folgen des Attentats von Sarajewo entsprechend beschäftigt sich der vorliegende Beitrag ausschließlich m it Texten, die den ersten Kriegsmonaten offenbar meist in einem Zustand affektiver Erregung und partieller intellektueller Absenz geschrieben und publiziert wurden. Erkenntnisleitend ist dabei die Frage, ob sich darin charakteristische Probleme modernen Künstlertums niederschlagen. Anders form uliert: Inwiefern erweisen sich die Machart und die Argumentationsmuster der äußerst zahlreichen Texte des Jahres 1914 über den Krieg als charakteristisch für die politischen, ideologischen und ästhetischen Diskurse der Moderne? Angestrebt wird mithin eine Spezifizierung jener allgemeineren Fragestellung, die der Flistoriker Ernst Piper seiner Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs mit dem Titel Nacht über Europa zugrundegelegt hat, indem er vor allem die "jeweiligen diskursiven Anstrengungen zur Legitimation des kriegerischen Flandelns beziehungsweise des Handelns in Kriegszeiten" in den Blick nimmt, also die umfangreiche "Literatur im Kontextdergeistigen Mobilmachung".2 Die hier ange- Stellten Überlegungen zielen demgegenüber insbesondere auf die Frage, ob und inwiefern sich in den untersuchten Texten bei aller heroischen Archaik dennoch genuine Aspekte 'moderner' Literatur manifestieren. In seiner großen Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900- 1918 hat Peter Sprengel das eindimensionale Bild einer allgemeinen und die gesamte Bevölkerung umfassenden Kriegsbegeisterung differenziert und dabei auf jene historische Studien über den Kriegsbeginn verwiesen, die "in doppelter Weise die Bedeutung der Medien herausgestellt" haben: Offenbar war die Kriegsbefürwortung in verschiedenen Regionen und Milieus unterschiedlich stark ausgeprägt: Indem die Zeitungen von den kriegsbegeisterten Aufzügen in der Hauptstadt berichteten, suggerierten sie eine allgemeine Verbreitung der Stimmung, wie so sie eigentlich oder ursprünglich nicht zutraf. Die vielerorts bestätigte Ansammlung größerer Menschengruppen vor Zeitungsbüros oder Rathäusern darf dabei kaum schon als politisches Votum erklärt werden; sie versteht sich aus den medialen Bedingungen einer Zeit, in der aktuellste Nachrichten nur über Extraausgaben von Zeitungen oder öffentliche Verkündigungen erfahrbar waren. Die Zeitungen, die nachher die Kunde von den erregten Menschenmassen in die Lande hinaustragen werden, hätten insofern selbst zu ihrer Entstehung beigetragen.3 Vgl. Piper, Emst: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin: Propyläen 2013, p. 11. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München: Beck 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd.9/ 2), p. 767. <?page no="319"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 319 Entsprechendes hat Karl Kraus in mehreren Essays schon zu Kriegszeiten angeprangert und vor allem im Monumentaldrama Die letzten Tage der Menschheit (1922 in Buchform veröffentlicht) auf suggestive Weise gestaltet. Dennoch kann kaum geleugnet werden, dass der Beginn des Ersten Weltkriegs in den daran beteiligten europäischen Ländern vor allem unter den Schriftstellern und Intellektuellen eine vordem ungeahnte Welle von Kriegsbegeisterung und Nationalismus ausgelöst hat, an deren Produktion und massenmedialer Vermittlung sie federführend teilhatten. Von den zahllosen Fällen, die zumindest für den deutschsprachigen Raum mittlerweile gut aufgearbeitet worden sind,4 werden im Folgenden die kriegsbejahenden Texte einiger heute prominenter Autoren, nämlich Berto lt Brechts, Robert Musils, Thomas Manns und Flugo von Flofmannsthals gemustert, die 1914 trotz aller ästhetischen und ideologischen Unter- 1 Vgl. Schröter, Klaus: Chauvinism and Its Tradition. German Writers and the Outbreak of the First World War. In: Germanic Review 43 (1968), pp. 120-135; Schröter, Klaus: Der Chauvinismus und seine Tradition. Deutsche Schriftsteller und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In: Ders.: Literatur und Zeitgeschichte. Fünf Aufsätze zur deutschen Literatu r im 20. Jahrhundert. Mainz: v. Flase & Köhler 1970 (Die Mainzer Reihe, Bd. 26), pp. 7-46; Koester, Eckart: Literatur und Weltkriegsideologie. Positionen und Begründungszusammenhänge des publizistischen Engagements deutscher Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Kronberg: Scriptor 1977 (Theorie, Kritik, Geschichte, Bd. 15); Philippi, Klaus-Peter: Volk des Zorns. Studien zur "poetischen Mobilmachung" in der deutschen Literatur am Beginn des Ersten Weltkriegs, ihren Voraussetzungen und Implikationen. München: Fink 1979; Boschert, Bernhard: "Eine Utopie des Unglücks stieg auf". Zum literarischen und publizistischen Engagement deutscher Schriftsteller fü r den Ersten Weltkrieg. In: August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Berlin: Nishen 1989 (Berliner Geschichtswerkstatt, Bd. 7), pp. 127-135; Kruse, Wolfgang: Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich 1914. In: van der Linden, Marcel u.a. (Hg.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien. Berlin: Duncker & Humblot 1991 (Beiträge zur politischen Wissenschaft, Bd. 61), pp. 73-87; Stanzel, Franz K./ Löschnigg, Marbn (Hg.): Inbmate enemies. English and German literary reacbons on the Great War 1914-1918. Heidelberg: W inter 1993 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Folge 3, Bd. 126); Sprengel, Peter: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin: Schmidt 1993 (Philologische Studien und Quellen, Bd. 125), pp. 233-261; Fries, Helmut: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in derSicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. 1: Die Kriegsbegeisterung von 1914. Ursprünge - Denkweisen - Auflösung. Konstanz: Verlag am Hockgraben 1994; Fries, Helmut: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. 2: Euphorie - Entsetzen - Widerspruch. Die Schriftsteller 1914-1918. Konstanz: Verl, am Hockgraben 1995; Mommsen, Wolfgang J. (Hg.): Kultur und Krieg. Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München, Wien: Oldenbourg 1996 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 34); Segal, Joes: Krieg als Erlösung. Die deutschen Kunstdebatten 1910-1918. München: scaneg 1997 (Punctum, Bd. 11); Flasch, Kurt: Die geisbge Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin: Fest 2000; Schneider, Uwe/ Schumann, Andreas (Hg.): "Krieg der Geister". Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. Spezifisch zur österreichischen Situabon: Sauermann, Eberhard: Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2000 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 4). <?page no="320"?> 320 N orb e rt Christian W olf schiede plötzlich durch ihr bellizistisches Engagement vereint erschienen. Abschließend soll ihnen dann m it Karl Kraus der schon 1914 dezidierteste Kritiker gegenübergestellt und ein flüchtiger Blick auf den Sonderfall Georg Trakls geworfen werden. 1. "Das ganze Volk steht auf": Bertolt Brecht Einen unverstellten Blick auf den in den ersten Kriegswochen geläufigen Diskurs erlaubt ein kurzer Aufsatz des erst 16-jährigen Gymnasiasten Eugen Berthold Friedrich Brecht (* 10. Februar 1898), der unter dem Pseudonym Berthold Eugen und m it dem Titel Der Untergang der Viktoria Luise am 10. August 1914 in den Augsburger Neuesten Nachrichten erschien. Der Text berichtet vom Untergang eines deutschen Minenbotes, das vom englischen Kreuzer Amphion torpediert worden war, während das größere britische Schiff dann selber durch eine von der Viktoria Luise gelegte Mine beschädigt wurde und anschließend sank: Es ist bei jener Siegeskunde, die gestern übers Meer kam, das seltsam Ergreifende, daß die Braven, die jenen Sieg mit dem Tod bezahlten, schon als sie ausfuhren zu dieser letzten Fahrt, damit rechneten, daß sie nimmer kommen würden. Das macht diesen Sieg so schön und erhebend, daß diese Männer still und ernst in eine bange Nacht hinaussegelten, sie, für die es nur ein Vorwärts, keine Vergangenheit mehr gab.5 Wie diese pathetischen Zeilen mit ihren archaisierenden Vokabular ("hinaussegelten") offenbaren, schrieb der Mittelschüler Brecht, der noch nicht seinen veränderten zweiten Vornamen Bertolt zum ersten Teil seines Künstlernamen erkoren hatte, ganz und gar 'unbrechtisch' über den Krieg, der damals noch kein Weltkrieg war. Der Duktus dieses Textes ist ausgesprochen traditionell gehalten und erlaubt einen Einblick in die damals gängigen schulischen Topoi: Schweigend gingen sie eines Abends, vielleicht ohne daß jemand außer ihnen etwas davon wußte, brachen damit alle Brücken hinter sich ab, vergaßen Weib und Kind, Vater und Mutter und gingen in einen sicheren Tod für die große Sache. / Das waren größtenteils einfache Männer, machten sich keine theoretischen Gedanken um den Zweck eines Staates. Sie fühlten nur, daß sie ihre Kraft für ein unermeßlich Großes einsetzen mußten, und handelten einfach danach.6 5 Blecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, W erner Mittenzwei u. Klaus-Detlef Müller. Bd. 21: Schriften 1. Bearbeitet V. W erner Hecht u.a. Berlin. Weimar: Aufbau und Suhrkamp 1992, p. 8f., hier p. 8 . 6 Ibid. <?page no="321"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 321 Es ist genau dieses 'atheoretische' Gefühl, gegen das die gesamte Poetik Brechts später gerichtet sein wird. Hier aber noch am Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn stehend folgt er einem traditionellen Narrativ von 'Erhabenheit' und tapferer Pflichterfüllung, dessen Machart in seiner stereotypen Topik gleichsam als Problemvorgabe für sein späteres Schaffen gelten kann: "Und dann, als die Arbeit getan war auf einsamer See, da erfüllte sich ihr Schicksal. Sterbend, während sie versanken in den unergründlichen Fluten, sahen sie noch den Triumph, den Nutzen ihres Werkes: Der Feind ward getroffen. Dann nahm sie der Tod in seine Arme, und sie gingen unter ohne Furcht. ------ " 789Der spätere Brecht etwa jener der KhegsfibeP hätte wohl die Frage gestellt, wer über dieses "Schicksal" entschied und woher der junge Brecht so genau um die Furchtlosigkeit der sterbenden Matrosen wusste. Dieserjedoch glaubte offenbar noch an ein unpersönliches "Schicksal" und an die kollektivierende Kraft der Nation. In einer eher simplistischen Vorwegnahme späterer Verfahrensweisen formuliert er als Fazit seines Berichts eine regelrechte 'Moral der Geschichte': Wir aber, die wir zurückblieben, wir, für die jene Männer ihr Leben opferten, wir müssen staunend, erschüttert stehen vor dieser Nachricht. Wir können ihnen nichts mehr Gutes tun, die in jener Nacht für uns starben. - Aber w ir können, und das ist die Forderung, die Mahnung, die aus den paar Telegrammzeilen, die das Sterben von Hunderten meldet, klingt, wir können und müssen den anderen, denen, die noch da sind und die auch hinausziehen vielleicht heute, vielleicht morgen, noch Gutes tun, sie stärken für ihren schweren Beruf. Laßt uns ihnen zeigen, daß wir ihr Opfer begreifen und es ihnen danken! - Die pathetische Proklamation eines kollektiven Opferwillens verschafft einen Eindruck dessen, was den Schülern eines deutschen Gymnasiums in den ersten Kriegsmonaten verm ittelt wurde. Darüber hinaus veröffentlichte Brecht vom 14. August bis zum 27. September 1914 gleichsam als Antwort auf eine Serie angeblich direkt an der Front verfasster Deutscher Kriegsbriefe aus den Augsburger Neuesten Nachrichten1011*jeweils auf der Titelseite des Konkurrenzblattes München- Augsburger Abendzeitung sieben Augsburger Kriegsbriefe ,n in denen 7 Ibid., p. 9. 8 Vgl. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956. Bearbeitet v. Jan Knopf. Berlin, Weimar: Aufbau und Suhrkamp 1988, p. 127-283 (Kommentar p. 409-436). 9 Brecht 1992, p. 9. 10 Vgl. Hillesheim, Jürgen: Schriften 1913-1924. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch in fünf Bänden. Bd. 4: Schriften journale, Briefe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, p. 16-18, hier p. 16f. 11 Fuegi, John: Brecht & Co. Biographie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt/ Rotbuch 1997, p. 47, berichtet hingegen, daß die Augsburger Kriegsbriefe zuerst ebenfalls in den Augsbur- <?page no="322"?> 322 Norbert Christian Wolf er den Krieg angesichts der "übermächtige[n] Bewegung" in sämtlichen Schichten der Gesellschaft auf ganz charakteristische Weise feierte; ich zitiere nur aus dem ersten: Da sind sie bis über Mitternacht hinaus am Königsplatz gestanden, Tausende und aber Tausende. Sie haben 'hoch, Deutschland, hoch, hurra der Kaiser' geschrien, daß ihnen die Kehlen heiser wurden. Einfache Arbeiter haben mit Offizieren, mit Beamten gestritten und gelacht. Wenn ein neues Telegramm verlesen wurde, ward atemlose Stille, die sich dann in ein ohrenbetäubendes Jubeln kehrte. Dieses Jubeln, das an den äußersten Enden der Stadt hörbar war, diese Gesichter, die in frommer, heiliger Begeisterung glühten, sie zeigten an, daß dieser Krieg, den w ir Deutschen um unsere Existenz führen, ein Volkskrieg, eine Erhebung der Nation ist.12 M it dieser Apostrophierung des Krieges als "Volkskrieg" und "Erhebung der Nation" stellt sich der junge Brecht unüberhörbar in die Nachfolge Heinrich von Kleists und dessen martialischer Prosa aus der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon. Er präsentiert die Kriegsbegeisterung am Augsburger Beispiel als soziale Entdifferenzierung - und damit als Gegenbewegung gegen die sozialen Begleiterscheinungen der Modernisierung: Das ganze Volk steht auf. / In den Kasernen drängen sich die Freiwilligen zu Tausenden. Ganz junge Leutchen sind darunter, Mittelschüler, Lehrlinge. Das ist ein Wogen und Brausen! Es sind so viele gekommen, daß man seit gestern niemand mehr nimmt. Als sie das hörten, zogen sie betrübt ab, solch ehrlichen Schmerz im jugendlichen Gesicht, daß man fast lächeln mußte.13 Der literarisch ambitionierte Gymnasiast inszeniert sich hier als wohlwollender und altersweiser Beobachter. Allerdings verschweigt er nicht den allmählichen Wandel der Stimmung in der bayerischen Kleinstadt, die nach der ersten Begeisterung wieder vom Alltag, aber auch von Sorgen angesichts des Krieges erfasst wird: Die übermächtige Bewegung ist vorbei. Wohl stürmen die Leute noch die Zeitungskioske und Depeschenstellen, wohl zweifelt auch heute niemand am Sieg, aber die Stimmung ist ruhiger, ernster geworden. In viele Gesichter ist ein eigener Ernst getreten, eine stille, quälende Sorge. / [...] Tag für Tag rücken mehr Reservisten ein, von den Angehörigen bis an die Kasernentore geleitet. Und wenn auch vielen die Familie erhalten bleibt, die Angst der andern stimmt sie trübe.14 ger Neuesten Nachrichten erschienen und dann "von der auflagenstärkeren München-Augsburger Abendzeitung übernommen wurden." 11 Brecht 1992, pp. 10-22 u. 28-33, zit. p. 11. Ibid. 14 Ibid. <?page no="323"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 323 M it solchen Eindrücken verm ittelt der Mittelschüler und spätere Autor recht anschaulich private Bilder des Krieges, betreibt aber daneben auch krude Propaganda im Sinne des von Wilhelm II. ausgerufenen 'Burgfriedens' zwischen den Parteien: So steht das ganze Volk harrend und sorgend. Und all die Augen dieser Tausende ruhen auf einem Mann: dem Kaiser. DeristderHeId allergeworden überNacht. Aller: der stetigen Nörgler, der kühlen Denker und der-Sozialdemokraten. An allen Stammtischen [...], überall ist er der Gegenstand der Bewunderung. Und diese mit Eifer geführten Gespräche über ihn sind gar nicht lächerlich.15 Um dieses Idyll mit jener beißenden sozialkritischen Analytik zu kontrastieren, für die Brecht später berühmt geworden ist, eignet sich das 1935 im dänischen Exil verfasste Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters, das erstmals 1936 in der Zeitschrift Das Wort in Moskau veröffentlicht wurde und folgende Verse enthält: Derjunge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte Untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich derZweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer Siegte außer ihm? Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? 16 Vorweggenommen wird der Geist dieser skeptisch-rhetorischen Fragen allerdings in einem kritischen Schulaufsatz, in dem der junge Brecht anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn eine ganz andere Flaltung einnahm als in seinen frühen Kriegstexten; das vom Lateinlehrer vorgegebene Thema war die Erläuterung eines Horaz-Zitats: "Dulce et decorum est pro patria mori"; darauf antwortete der Schüler Brecht im Jahr 1915: Der Ausspruch, daß es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, kann nur als Zweckpropaganda gewertet werden. Der Abschied vom Leben fällt immer schwer, im Bett wie auf dem Schlachtfeld, am meisten gewiß jun- 15 Ibid. 16 Vgl. Brecht 1988, pp. 29 u. 121. <?page no="324"?> 324 Norbert Christian Wolf gen Menschen in der Blüte ihrer Jahre. Nur Hohlköpfe können die Eitelkeit soweit treiben, von einem leichten Sprung durch das dunkle Tor zu reden, und auch dies nur, solange sie sich weitab von der letzten Stunde glauben. Tritt der Knochenmann aber an sie selbst heran, dann nehmen sie den Schild auf den Rücken und entwetzen, wie des Imperators feister Hofnarr bei Philippi, der diesen Spruch entsann.17 Nur ein Jahr nach den patriotischen Wallungen anlässlich des Kriegsbeginns verabschiedete Brecht sich endgültig von den gängigen chauvinistischen Stereotypen. Der sich abzeichnende Schulskandal konnte durch die Verteidigung des Französischlehrers (ein junger Benediktinerpater! ), es handele sich doch bloß um den Fehltritt eines "vom Krieg verwirrten" Schülergehirns,18 gerade noch verhindert werden. Angeblich hat Brechts Vater der Schule eine erkleckliche Summe gespendet, um die drohende Relegation des Sohnes abzuwenden.19Äußerst knapp ist der achtzehnjährige kritische Geist somit der sonst drohenden "sofortigejn] Einberufung und Verschickung an die Front" entgangen.20 Im Jahr 1914 bediente sich der schreibende Mittelschüler Brecht aber noch keineswegs seiner späteren kritischen Anthropologie oder auch nur einer in der Literatur der Moderne verbreiteten Ästhetik und Semantik, sondern befleißigte sich wie seine Übernahmen von Gedanken aus einer Predigt seines Religionslehrers Hans Detzer zeigen21 allererst einer populären Ausprägung des überkommenen idealistischen Erhabenheitsdiskurses. Es sei hier je denfalls entschieden angezweifelt, dass sich "das nationalistische Pathos der ersten Zeitungspublikationen Brechts" tatsächlich nur einem genialen "Kalkül" verdanke bzw. als bloß "vermeintliche Kriegsbejahung" und "Zugeständnis an die Redakteure" verharmlost werden kann nämlich als rein taktisches Zugeständnis, "das Brecht machen musste, um überhaupt eigene kleinere Arbeiten erstmals [...] in einem größeren Publikationsorgan gedruckt zu sehen", wie es die panegyrische Brecht-Philologie verklärt.22 17 Zit. nach Fuegi 1997, p. 54; vgl. auch Kesting, Marianne: Bertolt Brecht in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1959, p. 14. Genaueres dazu in Ludwig, Otto: "Dulce et decorum est pro patria mori". Berthold [sic] Brechts Antikriegsaufsatz aus dem Jahre 1916. In: Haas, Renate/ Klein-Braley, Christine (Hg.): Literatur im Kontext. Festschrift für Helmut Schrey zum 65. Geburtstag am 6 .1 .1 9 8 5 . Sankt Augustin: Richarz 1985, pp. 146-157. 18 Zit. nach Fuegi 1997, p. 54. 19 Vgl. Kesting 1959, p. 14. 20 Fuegi 1997, p. 54. 21 Vgl. den Kommentar in Brecht 1988, p. 593f. 22 So Hillesheim 2003, p. 17. An den bellizistischen Äußerungen des jungen Brecht ändert es wenig, dass er bereits 1913 in einem Aufsatz über Hauptmanns Drama Die Weber "ein Interesse an sozialen Themen" gezeigt hat, wie ebd. zur Verteidigung angeführt wild. Hauptmann selbst ließ sich ja von seiner Kriegsbejahung nicht abhalten und ging damit genau jenen "intellektuellen Rückschritt", den man Brecht aus prinzipiellerSympathie nicht zutrau- <?page no="325"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 325 Nachvollziehbar erscheint allein die Vermutung, dass der zukünftige Autor auch mit diesen Texten seine schriftstellerische Karriere vorantrieb. 2. "Die, welche sterben müssen [...], haben das Leben": Robert Musil Viel 'moderner' argumentierte hingegen im September 1914 der Österreicher Robert Musil (*6. November 1880), der als leitender Redakteur der damals wichtigsten deutschsprachigen Literaturzeitschrift Die neue Rundschau in Berlin lebte und schrieb. Einen Monat nach Kriegsbeginn und zwei Monate vor einem vergleichbaren Aufsatz Thomas Manns, der noch ausführlicher zu würdigen ist, meldete Musil sich mit dem Aufsatz Europäertum, Krieg, Deutschtum in der Neuen Rundschau zu Wort. Darin zeigt sich der im Kriegshandwerk ausgebildete Offizier der k.u.k.-Armee von der allgemeinen Begeisterung angesteckt. Zwar verschweigt er nicht einen gewissen Vorbehalt, wenn er auf seiner "Skepsis" beharrt, die verlange: "w ir wollen nicht vergessen, daß stets auch die andern das gleiche erleben; wahrscheinlich sind die, welche drüben unsre Freunde waren, genau so in ihr Volk hineingerissen".23 Dennoch stimmt er in den schrillen Chor der Feier von 'Schönheit' und 'Brüderlichkeit' des Krieges ein, wenn er diesen von der Vorkriegszeit abgrenzt: Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit, - Tugenden dieses Umkreises sind es, die uns heute stark, weil auf den ersten Anruf bereit maen möchte. Es zeugt aber von einem ebenfalls 'unbrechtischen' Kniefall des Philologen vor dem geheiligten Dichter, wenn er die Augsburger Kriegsbriefe begeistert als "erste Beispiele für Brechts Talent" rühmt, "mit dem Leser (in diesem Falle auch mit den Redakteuren) zu spielen, seine Erwartungen zu erfüllen und dabei selbst eine andere Position zu vertreten" (für die es im fraglichen Zeitraum kein belastbares Zeugnis gibt! ). Die ausführlich und mit argumentativen Winkelzügen betriebene Rechtfertigung kruder Kriegspropaganda, die deren Verfasser von jeder Verantwortung für das Geschriebene augenzwinkernd freispricht, stützt sich auf folgende Arbeiten: Grimm, Reinhold: Brechts Anfänge. In: Ders.: Brecht und Nietzsche odei Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, pp. 55-76; Gier, Helmut: Brecht im Ersten Weltkrieg. In: Cisotti, Virginia/ Kroker, Paul (Hg.): 1898-1998. Poesia e politica. Bertolt Brecht a 100 anni dalla nascita. M ilano: Montedit 1999, pp. 39-52. Sie mündet in ein so bezeichnendes wie bedenkliches Fazit: "Die Kriegsbriefe sind nicht Resultat einer tiefen nationalistischen Gesinnung, sondern weitestgehend berechnete Kunstprodukte." Zu Brechts anfänglicher Kriegsbegeisterung vgl. dagegen Fuegi 1997, p. 47f. 21 Musil, Robert: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frise. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, Bd. 8: Essays und Reden, p. 1021. Relativierende W orte wie diese wird man bei damals ähnlich gesonnenen Schriftstellerkollegen wie Thomas Mann vergeblich suchen; s. unten. <?page no="326"?> 326 N orb e rt Christian W olf chen zu kämpfen. Wir wollen nicht leugnen, daß diese Tugenden einen Begriff von Heldenhaftigkeit umschreiben, der in unsrer Kunst und unsren Wünschen eine geringe Rolle gespielt hat. Teils ohne unsre Schuld, denn wir haben nicht gewußt, wie schön und brüderlich der Krieg ist, teils mit unsrer Absicht, denn es schwebte uns ein Ideal des europäischen Menschen vor, das überStaat und Volk hinausging und sich durch die gegenwärtigen Lebensformen wenig gebunden fühlte, die ihm nicht genügten.24 Zunächst weist Musil auf die fundamentale 'Fremdheit' der archaischen Kriegstugenden für einen dezidiert 'modernen' Künstler hin. Attraktiv an der allgemeinen Kriegsbegeisterung erschien dem Dichter allerdings, dass ein Einstimmen in sie es ihm erlaubte, seinen elitären Dünkel abzulegen und sich endlich als Teil seines 'Volkes' zu fühlen: Ein kleines äußerliches, aber in seiner Gefühlswirkung nicht unbeträchtliches Zeichen dafür war, daß die wertvollsten Geisterjeder Nation meist schon in die Sprache anderer Völker übersetzt wurden, bevor sie in ihrem eigenen eine breite Wirkung erlangten. Geist war die Angelegenheit einer oppositionellen europäischen Minderheit und nicht das von dem Willen der Nachfolgenden getragene und mit Dankbarkeit ermunterte Vorausgehn eines Führers vor seinem eigenen Volke.25 Musil berauscht sich hier an der verlockenden Vorstellung, als Intellektueller eine Führungsaufgabe verliehen zu bekommen, die er sonst in einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft nicht erstreben hätte können und wollen. Plötzlich erschienen die lange im sozialen Abseits stehenden Schriftsteller als herausgehobene Exemplare der Gattung Mensch. 'M o dern' ist also weniger die affirmative Tendenz der forcierten Argumentation, vielmehr die ihr zugrunde liegende Kritik am bisherigen status quo sowie die Selbstermächtigung des gesellschaftlich marginalisierten Künstlers. Der Biograph Karl Corino hat Musils Essay als "Gegenstück" zu der Kriegsbegeisterung bezeichnet, "wie man sie aus den Manifesten der italienischen Futuristen kannte", doch aus "den Augen der Nachgeborenen" betrachtet zugleich als "eines der deprimierendsten Beispiele der Musilschen Publizistik"; in dessen Ausführungen werde nämlich deutlich, daß selbst "die Klügsten sich der Verführung zum Blutrausch nicht entziehen konnten."26 Aus heutiger Sicht wirken Gedanken wie die folgenden in der Tat befremdlich: Aufgrund der Erfahrung einer von allen umgebenden Staaten auf die deutschsprachigen Länder hereinbrechenden "Verschwörung", in der man deren "Ausrottung beschlossen" habe, sei in der Fleimat "ein neues Gefühl geboren" worden: "Die Grundlagen, die gemeinsamen, über denen wir uns M Musil 1978, p. 1020. 25 Ibid., p. 1020f. 26 Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt 2003, p. 493. <?page no="327"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbrüchs 1914 327 schieden, die wir sonst im Leben nicht eigens empfanden, waren bedroht, die Welt klaffte in Deutsch und Widerdeutsch, und eine betäubende Zugehörigkeit riß uns das Herz aus den Händen, die es vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten."2728Kritiklos vertraute der vom Patriotismus trunkene 33-jährige Autor der medial aufgeheizten Berichterstattung der ersten Kriegswochen und berauschte sich am kollektiven Erlebnis nationaler Einswerdung und internationaler Entfremdung: W ir wissen nicht, was es ist, das uns in diesen Augenblicken von ihnen trennt und das w ir trotzdem lieben; und doch fühlen w ir gerade darin, wie w ir von einer unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der Einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen. Dieses Gefühl muß immer dagewesen sein und wurde bloß wach; jeder Versuch, es zu begründen, wäre matt und würde aussehn, als müßte man sich überreden, während es sich doch um ein Glück handelt, über allem Ernst um eine ungeheure Sicherheit und Freude. DerTod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.25 Bisher hatten gewollt archaisierende Begriffe wie "Stamm" oder "Urmacht" in Musils Texten keine Rolle gespielt und sollten es auch später nicht mehr tun, jedenfalls nicht in so undifferenziert affirmativem Bezug auf moderne Gesellschaften. Der terminologische Rückgriff veranschaulicht die gedankliche Regression, auf die auch die reichlich naive, aber umso beliebtere Vorstellung einer sozialen Entdifferenzierung durch den Krieg verweist.29Der brillante Diagnostiker moderner Zerrissenheit erweist sich hier selbst als ein "Zerrissener, der Orientierung suchte"; der Krieg erscheint ihm deshalb als "religiös überhöhte[s] Gemeinschaftserlebnis, das eine neue Intensität des Lebens und Erlebens" verheißt.30 Besonders verstörend w irkt auch Musils krude Verklärung des Kriegstodes und der kriegerischen Güterbzw. Wertevernichtung unmittelbar zu Beginn des letzten Satzes: "Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, ha- 27 Musil 1978, p. 1021. 28 Ibid., p. 102I f . 29 Vgl. etwa Troeltsch, Ei nst: Die Ideen von 1914. Rede, gehalten in der "Deutschen Gesellschaft 1914" [1916], In: Ders.: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden. Hg. v. Hans Baron. Tübingen: Mohr(Siebeck) 1925, pp. 1-58, p. 42f.: "In der Kriegsarbeit schmolzen alle, Hoch und Niedrig, Gebildete und Ungebildete, zusammen, und die Gliederungen wurden wieder die natürliche Gliederung der Arbeit und der leistung. [...] Es ist die ungeheuere Bedeutung des August, daß er unter dem Druck der Gefahr das gesamte Volk zu einer inneren Einheit zusammen preßte, wie es niemals vorher gewesen war." ! 0 Pipei 2013, p. 253. <?page no="328"?> 328 N orb e rt Christian W olf ben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis".31Das klingt bei aller Emphase doch seltsam überzogen, so als ob der Skeptiker sich selber von seinem Rausch überzeugen müsse. Ernst Piper hat diese Worte, die so gar nicht zur sonstigen Musil'schen Essayistik passen wollen, folgendermaßen kommentiert: Auf den ersten Blick reiht sich dieser Text ein in das Heer der zeittypischen euphorischen Exklamationen, aber eine genaue Lektüre offenbart seine skeptische Gebrochenheit. Musil hatte den Krieg nicht herbeigesehnt, eher war er von ihm überwältigt worden. Er konnte dieses elementare Erlebnis nicht wirklich in seine Lebensordnung einfügen, der Essay blieb ein Solitär in seinem schriftstellerischen Werk.32 Es handelt sich bei dem von Musil durchaus selbst geteilten und (reprodu zierten "Sommererlebnis im Jahre 1914"33 offensichtlich um eine Urszene seiner Schriftstellerexistenz, deren Erinnerung ihm während der aktiven Teilnahme an den äußerst verlustreichen Materialschlachten der italienischen Front bald das ganze Ausmaß jenes Irrsinns offenbarte, der davon neben dem Einheitsgefühl ebenfalls verm ittelt wurde.341919 stellte er bedauernd fest: "Die fünfjährige Sklaverei des Kriegs hat [...] aus meinem Leben das beste Stück herausgerissen."35 Musils anfänglich ostentative Kriegsbegeisterung wich einem anhaltenden Erkenntniswillen, der ihn nach seiner Rückkehr von der Front ins zivile Leben bis zu seinem Tod im Jahr 1942 beschäftigte.36 Er legte ihn als kritische Auseinandersetzung mit dem 'anderen Zustand' auch der satirischen Konstruktion des Mann ohne Eigenschaften zugrunde. Wie andere Autoren machte Musil die Verstörung angesichts der eigenen Blindheit später literarisch produktiv. Noch gegen Ende seines Lebens stütze er in seinem Arbeitsheft 33 auf die etablierte Ausbruchsmetaphorik: "Der Krieg kam wie eine Krankheit, besser wie das begleitende Fieber, über mich."37 31 Musil 1978, p. 1022. 32 Piper 2013, p. 254. 33 So Musil aus dem Rückblick seines Essays DieNation als Idealundals Wirklichkeit. [1921], In: Musil 1978, pp. 1059-1075, hier p. 1060. 34 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung in Corino 2003, pp. 497-592. 35 Musil, Robert: Tagebücher. 2 Bde. Hrsg, von Adolf Frise. Reinbek: Rowohlt 21983, Bd. 1, p. 527 [H 19/ 1], 36 Vgl. dazu Rußegger, Arno: "Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse, die ich zeige." Erster Weltkrieg und literarische Moderne am Beispiel von Robert Musil. In: Schneider/ Schumann 2000, pp. 229-245; darüber hinaus die einschlägigen Abschnitte in Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften". München: Fink 1995 (Musil-Studien, Bd. XXV). 37 Musil 1983 1, p. 956. <?page no="329"?> Publizistische (De-)Legitim ationen des europäischen Ziviiisationsbruchs 1914 329 3. " M it großem Recht hat man die Kunst einen Krieg genannt": Thomas Mann Der damals schon recht etablierte 39-jährige Thomas Mann (*6. Juni 1875) publizierte seine Gedanken im Kriege im November 1914 ebenfalls in der Neuen Rundschau. Es handelt sich laut Peter Sprengel um "die konzentrierteste Zusammenfassung der deutschen Kriegsrhetorik der ersten Stunde".38 Sie wird deshalb im Folgenden ausführlicher gewürdigt, zumal ihr Autor "zum bedeutendsten literarischen Apologeten des gerade beginnenden Krieges"39 erklärt worden ist, wenngleich er sich von ihm konsequent fernhielt: Der ungediente Landsturmmann Thomas Mann wurde bei der auf die Mobilmachung folgenden Musterung von einem wohlmeinenden Stabsarzt, der große Ehrfurcht vor dem berühmten Schriftsteller an den Tag legte, ausgemustert, um ihm Unbequemlichkeiten zu ersparen, und bei einer Nachmusterung im November 1916 wegen Nervosität und Magenschwäche dauerhaft freigestellt.40 Er widmete sich lieber dem geistigen und schriftstellerischen Kriegsdienst, dessen Gefahren nicht dem eigenen Leben galten; sie beschränkten sich vielmehr für den Verfasser bequem auf ideologiegeschichtliche Kontroversen in der Nachwelt. Doch nicht damit beschäftigt sich die folgende Darstellung, sondern m it dem berüchtigten Pamphlet vom Flerbst 1914. Ausgehend von der hochgradig ideologisierten Opposition zwischen 'Kultur' und 'Zivilisation' entwickelte Mann eine typologische Gegenüberstellung der Kriegsgegner Deutschland und Frankreich. Auf der Basis seines konsequent dichotomischen Denkens begrüßte er den Krieg als willkommenen Ausweg aus der Dekadenz geradezu euphorisch. Zunächst stellte er mit Blick auf den durch die westeuropäischen Kriegsgegner nach der Invasion des neutralen Belgien erhobenen Vorwurf einer spezifisch deutschen 'Barbarei' fest: Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur. [...] Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendwie gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. [...] 38 Sprengel 2004, p. 799. 39 So Piper 2013, p. 145. 40 Ibid., p. 146. <?page no="330"?> 330 Norbert Christian Wolf Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, - Geist.41 Mann unternimmt hier eine Dichotomisierung aus dem Geist eines nietzscheanisch definierten Künstlertums, wobei die Sympathieverteilung klar auf der Hand liegt; demnach wird Kultur als dionysisch implizit auf-, Zivilisation als apollinisch aber unmissverständlich abgewertet. In seiner Typologie klingen unter der Hand auch die topischen Einsätze im immer verbissener ausgefochtenen Bruderzwist mit Heinrich Mann an,42 so dass man mit guten Gründen von einem recht persönlichen "Bruder-Krieg" gesprochen hat, den der Weltkrieg für ihn vor allem darstellte.43 Und mit dieser problematischen Überlagerung des Politischen durch das Private sind die Implikationen der mindestens ebenso persönlich aufgeladenen wie staatsvergleichenden Opposition noch lang nicht ausgeschöpft: Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer Widersinn, wenn man sagt, daß er auch antigenial ist. / Das Genie, namentlich in der Gestalt des künstlerischen Talents, mag wohl Geist und die Ambition des Geistes besitzen, es mag glauben, durch Geist an Würde zu gewinnen, und sich seiner zu Schmuck und Wirkung bedienen, das ändert nichts daran, daß es nach Wesen und Herkunft ganz und gar auf die andere Seite gehört, - Ausströmung einer tieferen, dunkleren und heißeren Welt, deren Verklärung und stilistische Bändigung w ir Kultur nennen. Die Verwechselung [sic] des Geistigen, des Intellektualistischen, Sinnigen, ja Witzigen mit dem Genialen ist zwar modern; wir alle neigen ihr zu. Doch bleibt sie ein Irrtum.44 Die wiederum typologische Opposition zwischen 'Genie' und 'W itz' steht in einer langen antirationalischen Traditionslinie deutschen Denkens, die vom Sturm und Drang über die Romantik bis tie f ins 20. Jahrhundert reicht, in dem das eigentlich 'Schöpferische' schließlich auf unergründlichen Triebkräften gegründet werden kann. Diese Linie war im deutschsprachigen Raum stets m it einem eindeutigen Wertgefälle versehen gewesen und wird nun m it dem Gegensatzpaar von 'Kultur' und 'Zivilisation' verquickt, das Thomas Mann schon länger beschäftigt hatte.45 Auch in seiner Argu- 41 Vgl. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke u.a. Bd. 15.1: Essays II. 1914 1926. Hg. v. Hermann Kuizke [...]. Frankfurt a.M.: Fischer 2002, pp. 27 46, hier p. 27. 42 Vgl. Piper 2013, p. 145f. u. 149f., mehr dazu in de Mendelssohn, Peter: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Erster Teil: 1875 bis 1918. Frankfurt a.M.: Fischer '1996, pp. 1585 1904. 43 Vgl. Eder, Jürgen: Die Geburt des Zauberbergs aus dem Geist der Verwirrung. In: Schneider/ Schumann 2000, pp. 1 7 1 1 8 7 , Iiiei p. 173. 44 Mann 2002, p. 27f. 45 Vgl. Eder 2000, p. 176. <?page no="331"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 331 mentation wird rasch klar, auf welcher Seite der Opposition er sich selber stehen sieht und wo er die 'geniale' künstlerische Produktivität verortet, wenn er gleichsam ex cathedra ewige Wahrheiten verkündet: "Kunst, wie alle Kultur, ist die Sublimierung des Dämonischen. Ihre Zucht ist strenger als Gesittung, ihr Wissen tiefer als Aufklärung, ihre Ungebundenheit und Unverantwortlichkeit freier als Skepsis, ihre Erkenntnis nicht Wissenschaft, sondern Sinnlichkeit und Mystik. Denn die Sinnlichkeit ist mystischen Wesens, wie alles Natürliche."46 Manns Ausformung eines spezifisch deutschen Antirationalismus folgt freilich allererst der rationalitätskritischen Rhetorik Friedrich Nietzsches. Auf dieser gedanklichen Basis entwickelte der Autor im Geiste der später so genannten "Ideen von 1914", die man "als Antwort auf 1789" und das ideologische Erbe der Französischen Revolution verstand,47 nun eine regelrechte Rechtfertigung des Krieges aus primär ästhetisch-anthropologischen Gründen, indem er auf eine ideologiegeschichtlich höchst prekäre Gleichung abzielt: Die Kunst ist fern davon, an Fortschritt und Aufklärung, an der Behaglichkeit des Gesellschaftsvertrages, kurz, an der Zivilisierung der Menschheit innerlich interessiert zu sein. Ihre Humanität ist durchaus unpolitischen Wesens, ihr Wachstum unabhängig von Staats- und Gesellschaftsformen. Fanatismus und Aberglaube haben nicht ihr Gedeihen beeinträchtigt, wenn sie es nicht begünstigen, und ganz sicher steht sie mit den Leidenschaften und der Natu r auf vertrauterem Fuße, als mit der Vernunft und dem Geiste. Wenn sie sich revolutionär gebärdet, so tu t sie es auf elementare Art, nicht im Sinne des Fortschritts. Sie ist eine erhaltende und formgebende, keine auflösende Macht. Man hat sie geehrt, indem man sie der Religion und der Geschlechtsliebe für verwandt erklärte. Man darf sie noch einer anderen Elementar- und Grundmacht des Lebens an die Seite stellen, die eben wieder unsern Erdteil und unser aller Herzen erschüttert: ich meine den Krieg.48 M it seinem antimodernistischen Votum für die 'bewahrende' Synthese anstelle der vorgeblich 'zersetzenden' Analyse verabschiedet Thomas Mann hier Grundüberzeugungen der aufklärerischen Gesellschaftsphilosophie und Verfassungslehre; er verw irft den perfektibilistischen Fortschrittsgedanken wie auch alle Formen kritischer Analytik und ersetzt sie durch rhetorisch geschickt kombinierte Versatzstücke aus dem Umfeld der vitalistischen Lebensphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowie des morphologischen Gestaltdenkens. M it ihrer Hilfe entwickelt er auf der Basis seines Postulats der 'Formgebung' die angeblich "völlig gleichnishafte[n] Beziehungen, welche Kunst und Krieg miteinander verbinden", und setzt m it einer bezeichnenden Geschichtsklitterung ein, 46 Mann 2002, p. 28. 47 Vgl. Eder 2000, p. 177. 48 Mann 2002, p. 29. <?page no="332"?> 332 N orb e rt Christian W olf indem er eine Anspielung auf eine Passage aus seiner 1912 publizierten Erzählung Der Tod in Venedig49für einen generellen Befund ausgibt: Mirwenigstens schien von jeher, daß es der schlechteste Künstler nicht sei, der sich im Bilde des Soldaten wiedererkenne. Jenes siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation es ist ja das erste Prinzip, das Wesen der Kunst. Das Ineinanderwirken von Begeisterung und Ordnung; Systematik; das strategische Grundlagen schaffen, weiter bauen und vorwärts dringen mit 'rückwärtigen Verbindungen'; Solidität, Exaktheit, Umsicht; Tapferkeit, Standhaftigkeit im Ertragen von Strapazen und Niederlagen, im Kampf mit dem zähen Widerstand der Materie; Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben 'Sicherheit' heißt [...], die Gewöhnung an ein Gefährdetes, gespanntes, achtsames Leben; Schonungslosigkeitgegen sich selbst, moralischer Radikalismus, Hingebung bis aufs äußerste, Blutzeugenschaft, voller Einsatz aller Grundkräfte [des] Leibes und der Seele, ohne welchen es lächerlich scheint, irgend etwas zu unternehmen; als ein Ausdruck der Zucht und Ehre endlich Sinn für das Schmucke, das Glänzende: Dies alles ist in der Tat zugleich militärisch und künstlerisch.50 Bei den Worten über die "Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben 'Sicherheit' heißt", lässt sich unschwer an kämpfende Autoren wie Ernst Jünger denken, der seine Kriegstagebücher In Stahlgewittern allerdings erst nach dem Krieg publizierte (zuerst 1920). Mann seinerseits hat sich indes von der Front und dem 'unbürgerlichen' Abenteuer konsequent ferngehalten und beschäftigt sich lieber theoretisch mit dem Kriegshandwerk. Er zeichnet ein regelrechtes Porträt des Künstlers als Krieger und überschreibt m it diesem auch jene "Antithese", die für sein eigenes Frühwerk so bedeutend gewesen war: M it großem Recht hat man die Kunst einen Krieg genannt, einen aufreibenden Kampf: schöner noch steht ihr das deutscheste Wort, das Wort 'Dienst' zu Gesicht, und zwar ist der Dienst des Künstlers dem Soldaten viel näher verwandt als dem des Priesters. Die literarisch gern kultivierte Antithese von Künstler und Bürger ist als ein romantisches Erbe gekennzeichnet worden, nicht ganz verständnisvoll, wie mir scheint. Denn nicht dies ist der Gegensatz, den wir meinen: Bürger und Zigeuner, sondern der vielmehr: Zivilist und Soldat.51 Indem Thomas Mann die Kunst hier überraschend als 'Dienst' an der nationalen Sache qualifiziert, w irft er relativ unbedacht den ebenfalls in 'aufreibenden Kämpfen' seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verteidigten ästhetischen Autonomieanspruch über Bord und setzt an seine Stelle ein planes Abhängigkeitsverhältnis. M ithilfe der typologischen Ana- Iogisierung zwischen Soldaten und Schriftstellern kann er auch seine eigene Kriegsbegeisterung scheinbar motivieren - und zugleich legitimieren: 49 Vgl. Edei 2000, p. 176. 50 Mann 2002, p. 29f. 51 Ibid., p. 30. <?page no="333"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 333 Wie die Herzen der Dichter sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde! [...] Nun sangen sie wie im Wettstreit den Krieg, frohlockend, mit tief aufquellendem Jauchzen als hätte ihnen und dem Volke, dessen Stimme sie sind, in aller Welt nichts Besseres, Schöneres, Glücklicheres widerfahren können, als daß eine verzweifelte Übermacht von Feindschaft sich endlich gegen dieses Volk erhob [...].52 Die hier praktizierte Verschleierung des tatsächlichen Verlaufs der Kriegserklärungen war in der Propaganda der Mittelmächte üblich. Daneben fällt an dieser Passage aber die in der Tradition Herders stehende Stilisierung der Dichter als Stimme des Volkes auf. Thomas Mann bedient sich dabei einer Freud'schen Verneinung, die implizit zum Ausdruck bringt, was sie explizit in Abrede stellt: Es wäre leichtfertig und ist völlig unerlaubt, dies Verhalten der Dichter auch nur in den untersten, bescheidensten Fällen als Neugier, Abenteurertum, und bloße Lust an der Emotion zu deuten. Auch waren sie niemals Patrioten im Hurra-Sinne und 'Imperialisten' [...], so daß auch die Wunder und Paradoxien, welche der Krieg sogleich im Lande zeitigte: das brüderliche Zusammenarbeiten von Sozialdemokratie und Militärbehörde etwa, jene phantastische Neuheit der inneren Lage, die einen radikalen Literaten zu dem Ausruf begeisterte: 'Unterder Militärdiktatur ist Deutschland frei geworden! ' daß auch dies alles den Dichtern wohl keine Lieder gemacht haben würde. Aber wenn nicht Politiker, so sind sie doch stets etwas anderes: sie sind Moralisten. Denn Politik ist eine Sache der Vernunft, der Demokratie und der Zivilisation; Moral aber eine solche der Kultur und der Seele.53 Dass die als oberflächlich diskreditierte Vernunft in dieser Diagnose eine zweifelhafte Rolle spielt, muss nicht eigens betont werden. Die dem Innersten des Menschen zugeordnete Moral hingegen wird zum eigentlichen Gegenstand der Dichtung erklärt. Im Sinne eines primär ästhetischanthropologischen Projekts erscheint der Krieg dem Dichter deshalb als vitalistische Befreiung von ennui und spieen der Vorkriegszeit: "Als sittliche Wesen [...] hatten wir die Heimsuchung kommen sehen, mehr noch: auf irgend eine Weise ersehnt; hatten im tiefsten Herzen gefühlt, daß es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht mehr weitergehe."54 Das hier zum Ausdruck gebrachte Grauen an der Zivilisation und der ausdifferenzierten modernen Welt erweist sich als Funktion einer zutiefst antimodernistischen Gesinnung, die zahlreiche Texte der klassischen Moderne prägt und sich mithin als besondere Hervorbringung ebendieser Moderne erweist; Thomas Mann stellt etwa eine Reihe rhetorischer Fragen: 53 54 Ibid. Ibid., p . 31. Ibid. <?page no="334"?> 334 Norbert Chrisban W olf Ist es zuviel gesagt, daß es kein Kriterium des Echten, nicht Mut noch Möglichkeit zur Verdammung mehr gab, daß buchstäblich niemand mehr aus noch ein wußte? Würde? Aber sie war Hochstapelei und Snobismus. Infamie? Aber sie hatte Talent; [...] und sie fächelte sich vor Eitelkeit unter dem Beifall derer, die nur eine Sorge kennen: den Anschluß nicht zu versäumen. Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! 55 Wie später zahlreiche Texte der 'konservativen Revolution' ist auch diese Passage von einem eklatanten Bedürfnis nach ewigen Werten (statt zeitbedingter 'Mode'), klaren Entscheidungen und einfachen Antworten diktiert und mündet in einen begeisterten Ausruf: "Krieg! Es war Einigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung."56 Man kann sich aus dem geschichtlichen Abstand von hundert Jahren und angesichts des heute bestehenden historischen Wissens kaum vorstellen, wie ein Krieg dieser Dimension solche Glücksgefühle auslösen konnte. Zur Beglaubigung dieser Vorstellung argumentiert Mann ganz ähnlich wie Musil: Was die Dichter begeisterte, war der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not. Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung einer Bereitschaft, einem Radikalismus der Entschlossenheit, wie die Geschichte der Völker sie vielleicht bisher nicht kannte. Aller innere Haß, den der Komfort des Friedens hatte giftig werden lassen wo war er nun? Eine Utopie des Unglücks stieg auf...57 An diesen Überlegungen überrascht und verstört die Bedenkenlosigkeit, m it der ein Dichter eigene subjektive Erfahrungen und Nöte auf die gesamte Nation projiziert und diese nur aus dem Gesichtspunkt letzterer zu interpretieren vermag. Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen kehrt Mann wieder zur bewährten Antithese zwischen 'Kultur' und 'Zivilisation' zurück, den er mit dem politischen Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich kurzschließt und anhand einer gewagten Analogie zum intrikaten Verhältnis zwischen dem ja äußerst frankophilen und zugleich bellizistischen Preußenkönig Friedrich II. und dem in Deutschland spätestens seit dem Sturm und Drang vielgehassten urbanen französischen Aufklärungsphilosophen Voltaire exemplifiziert: Voltaire und der König: Das ist Vernunft und Dämon, Geist und Genie, trockene Helligkeit und umwölktesSchicksal, bürgerliche Sittigung und heroische Pflicht; Voltaire und der König: das ist der große Zivilist und der große Soldat seit jeher und für alle Zeiten. / Aber da wir den Gegensatz in nationalen Sinnbildern vor 55 Ibid., p. 32. 56 Ibid. 57 Ibid., p. 31. <?page no="335"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbrüchs 1914 335 Augen haben, in den Figuren des zentralen, immer noch herrschenden Franzosen und des deutschen Königs, dessen Seele jetzt mehr als je in uns lebt, so gewinnt er selbst, dieser Gegensatz, nationalen Sinn und aufschließende Bedeutung für die Psychologie der Völker.58 Später hat Thomas Mann selbst die Problematik solcher generalisierender Völkerpsychologie erkannt, ohne sich jemals ganz von ihr zu befreien. So findet sich der hier skizzierte Gegensatz in der Endfassung des Zauberberg als Feindschaft zwischen dem Jesuiten Naphta und dem Zivilisationsliteraten Settembrini wieder, zwischen denen sich der Protagonist Hans Castorp dann allerdings nicht mehr entscheiden wird. Seinem Autor fiel es 1914 hingegen leicht, in Form weiterer rhetorischer Fragen zu suggerieren, daß unser soziales Kaisertum eine zukünftigere Staatsform darstellt als irgendein Advokaten-Parlamentarismus, der, wenn er in Feierstimmung gerät, noch immer das Stroh von 1789 drischt? Ist nicht die bürgerliche Revolution im Sinne des gallischen Radikalismus eine Sackgasse, an deren Ende es nichts als Anarchie und Zersetzung gibt und die vermieden zu haben ein Volk, das Wege ins Freie und Licht sucht, sich glücklich preisen muß? 59 M it den diskreten Vorzügen indirekter Demokratie kann Thomas Mann damals genauso wenig anfangen wie die Populisten unserer Tage (man denke nur an deren Forderung ständiger Volksabstimmungen). Generell vermeint man in seiner begrifflichen Konstruktion eine Vorwegnahme 'konservativrevolutionärer' Gedankengänge der Zwischenkriegszeit zu vernehmen: Die deutsche Seele ist zu tief, als daß Zivilisation ihr ein Flochbegriff oder etwa der höchste gar sein könnte. Die Korruption und Unordnung der Verbürgerlichung ist ihr ein lächerlicher Greuel. [...] Und dieselbe tiefe und instinktive Abneigung ist es, die sie dem pazifistischen Ideal der Zivilisation entgegenbringt: ist nicht der Friede das Element der zivilen Korruption, die ihr [der deutschen Seele, N.C.W.] amüsant und verächtlich erscheint? Sie ist kriegerisch aus Moralität, nicht aus Eitelkeit und Gloiresucht oder Imperialismus. Noch der letzte der großen deutschen Moralisten, Nietzsche (der sich sehr irrtümlich den Immoralisten nannte), machte aus seinen kriegerischen, ja militärischen Neigungen kein Hehl. Zur moralischen Apologie des Krieges haben deutsche Geister das meiste und wichtigste beigetragen [...].60 In der outrierten Feugnung von "Eitelkeit und Gloiresucht" klingt schließlich ein letztes M otiv an, das in Manns Gedanken im Kriege eine tragende Rolle spielt, nämlich das geschlechtstypologische. Nachdem der Autor den deutschen Dichter m it dem 'männlichen' Soldaten gleichgesetzt hat, identifiziert er zuletzt die Haltung der französischen Kriegsgegner als 'weiblich', 58 Ibid., p. 35. 59 Ibid., p. 37. 60 Ibid., p. 39. <?page no="336"?> 336 Norbert Christian Wolf indem er auf deren Bestreben einer Rückgewinnung Elsaß-Lothringens anspielt, das nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 an das Deutsche Reich gefallen war: Es ist auch wenig soldatisch, es ist sogar wenig männlich, ein halbes Jahrhundert lang Revanche zu heischen, m it furchtsamer Sehnsucht endlich in den Krieg zu tappen und dann das Toben der Elemente beständig mit dem dünnen Schrei zu überschrillen, der 'Zivilisation' lautet. [...] Diese Nation nimmt Damenrecht in Anspruch, es ist kein Zweifel. Zart und liebreizend wie es ist, darf das unbedingt entzückendste der Völker alles wagen. Rührt man es aber an, so gibt es Tränen aus schönen Augen, und ganz Europa erbebt in zornigem Rittergefühl.61 Also spricht ein Autor m it unbestreitbar homoerotischen Neigungen, der vor dem Krieg die Kategorien 'Weiblichkeit' und 'Frankreich' durchaus positiv konnotiert hatte.62 Thomas Mann beschließt seine Abhandlung mit einer Apotheose der Eigenart des deutschen Volkes und eine finalen Drohung an dessen (vermeintliche) Verächter: Es ist wahrscheinlich das unbekannteste Volk Europas, sei es nun, weil es so schwer zu kennen ist, oder weil Bequemlichkeit und Dünkel die bürgerlichen Nachbarn hinderten, sich um die Erkenntnis Deutschlands zu bemühen. Aber Erkenntnis muß sein, Leben und Geschichte bestehen darauf, sie werden es als untunlich erweisen, die sendungsvolle und unenetbehrliche Eigenart dieses Volks aus wüster Unkunde gewaltsam zu verneinen. Ihrw olltet uns einzingeln, abschnüren, austilgen, aber Deutschland, ihr seht es schon, wird sein tiefes, verhaßtes Ich wie ein Löwe verteidigen, und das Ergebnis eures Anschlages wird sein, daß ihr euch staunend genötigt sehn werdet, uns zu studieren.63 M it letzterem hat Thomas Mann sicherlich Recht behalten, ohne dass daraus eine besondere Ehre für das deutsche Volk entsprungen wäre. Die theoretische Grundlage seiner Argumentation von 'Beweisführung' wird man hier schwerlich sprechen wollen bezieht er aus der genuin 'deutschen' Ideengeschichte von Herder bis Nietzsche, die er freilich aus der 'modernen' Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts ziemlich selektiv deutet und ihrer widerständigen, ja politisch oppositionellen Aspekte weitestgehend entkleidet. So erscheint die subversive Spitze von Nietzsches Rationalitätskritik ins Affirmative, ja Repressive verkehrt, dessen radikaler Tenor eine aus heutiger Sicht unangenehme Iegitimatorische Schlagseite erhält, wenn man bedenkt, dass damit nichts Geringeres als die Zerstörung von Löwen (Leuven) oder die Beschießung der Kathedrale von Reims gerechtfertigt wird. 61 Ibid., p. 41f. 61 Vgl. den Kommentar Kurzkes. In: Mann 2002, p. 10. 63 Mann 2002, p. 46. <?page no="337"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 337 4. "Sie waren eben alle nicht bei Sinnen gewesen": Zwischenbilanz Die ganz unterschiedlichen Rechtfertigungen des Krieges als Volkserhebung, wie ihn der junge Brecht - und zumindest brieflich auch Thomas Mann64 feierte, als Gemeinschaftserlebnis, wie ihn nicht nur Musil annoncierte, aus Genialität oder aus völkerpsychologischen Gründen stehen für ein großes Spektrum von Argumentationsweisen, deren apologetische, ja propagandistische Bemühungen stets auf eine freudige Bejahung des Kriegsbeginns hinausliefen und unzählige Nachahmer und Trittbrettfahrer zu Ähnlichem inspirierten. In seinem am 1. Oktober 1918 erschienenen Aufsatz Wandlung der geistigen Atmosphäre beschreibt der pazifistische Publizist Carl von Ossietzky diese allgemeine Begleiterscheinung des Kriegsanfangs aus dem Rückblick: Jeder Oberlehrer fühlte sich als ein kleiner Fichte und richtete seine storchbeinigen Perioden hübsch bescheiden an die Adresse der ganzen deutschen Nation. Und das schlimmste war: der Erfolg ermunterte. [...] Wer aber denkt heute noch an die Propheten und Sibyllen, die von einem kritiklos geschwätzten Auditorium mit michelangelesken Maßen gemessen wurden, während ihnen nach menschlicher und literarischer Bedeutung kaum ein mikroskopisches Format zukam. Ein jeder rupfte sich aus der Gloriole der großen Zeit ein paar Strahlenbüschel [...].65 Der Krieg erlaubte demnach eine dichterische Selbsterhebung; er ermöglichte noch einmal die Anwendung des schulisch nach wie vor vermittelten, aber ästhetisch längst obsoleten Erhabenheitsdiskurses. Rückblickend resümiert Ossietzky aus seiner Sicht optimistisch: "Das alles ist nun Vergangenheit." Denn: "Der Geist von 1914 hat sich in sein Gegenteil verkehrt."66 Gemeint ist damit jene "österliche W eltstimmung" die sich wenig später mit der Enttäuschung durch die Pariser Vorortverträge und die gebrochenen Versprechungen Woodrow Wilsons jedoch ebenfalls als illusionär erweisen sollte.67 Im Zusammenhang einer Kritik der Kriegsbegeisterung und Apologie spielen auch genderkritische Aspekte eine nicht zu überschätzende Rolle, was schon die aufmerksamen Zeitgenossen nicht übersahen: So leitete die seinerzeit äußerste erfolgreiche Unterhaltungsschriftstellerin Clara Viebig ihren sozialkritischen "Roman aus unserer Zeit" Töchter der Hekuba (1917) 61 Vgl. Eder 2000, pp. 173 u. 177. 65 Ossietzky, Carl von: Sämtliche Schriften. Oldenburger Ausgabe. Bd. 1: 1911-1921. Hg. v. Mathias Bertram, Ute Maack u. Christoph Schottes. Reinbek: Rowohlt 1994, pp. 96f. u. 98. 66 Ibid. 67 Vgl. dazu Robert Musils Bemerkungen aus dem Rückblick seines Essays Die Nation ais Ideal und als Wirklichkeit. In: Musil 1978, p. 1061. <?page no="338"?> 338 Norbert Christian Wolf m it einer erlebten Rede ein, die aus genuin weiblicher Perspektive den von "Schulm eistern]" also von Männern bewirkten "allgemeine[n] Taumel" bei Kriegsausbruch aufs Korn nahm: "Sie waren eben alle nicht bei Sinnen gewesen, die Söhne nicht, die Lehrer nicht, die Väter nicht alle nicht. Nur die M ütter sahen, wie es wirklich war; die ahnten, wie es kommen würde. Gekommen war."68Anders aber die (männlichen) Dichter kaum einer ahnte auch nur ansatzweise, was ihm und seinem 'Vaterland' bevorstand, wie das letzte Beispiel aus dem Reigen kriegsverherrlichender Propaganda von renommierten Schriftstellern zeigt. 5. "Das Ungeheure betäubt jeden Geist": Hugo von Hofmannsthal Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal (*1. Februar 1874) erhielt zur Vorbereitung der österreichischen Teilmobilmachung vom 28. Juli 1914 bereits "am 26. Juli 1914 seine Einberufung als Offizier zum Landsturm Feld-Regiment Nr. 5 nach Pisino (Pazin) im Hinterland von Istrien".69 Am 27. Juli schreibt er seiner Frau Gerty und seinem Vater aus Wien über die allgemeine Kriegsbegeisterung, diese sei "von solcher Schönheit, solchem Ernst, dabei so zuversichtlich und man muß beinahe sagen heiter, daß man sich wirklich schämen würde, gar nicht dazuzugehören".70Zumindest ein wenig "dazugehören" wollte der Dichter auf jeden Fall. Die durch seine irritierende Einschränkung "gar nicht" bereits merklich distanzierte, doch angeblich uneingeschränkte Begeisterung hinderte den Autor allerdings nicht, schon nach wenigen Tagen Garnisonsaufenthalt und noch vor Einsetzen der Kampfhandlungen systematisch seine Freistellung vom Kriegsdienst zu betreiben.71 "Bereits am 4. August kann er zurück nach Wien fahren, am 12. August wird Hofmannsthal der Pressegruppe des Kriegsfürsorgeamtes zugeteilt, am 1. Oktober erreicht er die gewünschte Superarbitrierung, also die Abberufung vom Truppenin den Lokaldienst. Der offizielle Anlaß ist mit seinem fortgeschrittenen Alter und gesundheitlichen Problemen gegeben - Diabetes und Kurzsichtigkeit lassen ihn als nicht militärtauglich erscheinen."72 Fortan widmet auch er sich der schriftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Krieges, 68 Viebig, Clara: Töchter der Hekuba. Ein Roman aus unserer Zeit. Berlin: Fleischel 1917, p. 2; Flinweis darauf in Sprengel 2004, p. 825. 69 Schumann, Andreas: "Macht mir aber viel Freude". Flugo von Flofmannsthals Publizistik während des Ersten Weltkriegs. In: Schneider/ Schumann 2000, pp. 137-151, hier p. 137. 70 Zit. ibid. 71 Vgl. zum Kontext auch Sauermann 2000, p. 38ff. 72 Schumann 2000, p. 138. <?page no="339"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 339 dessen "materielle[m] Chaos" er eine allererst "geistige, ideelle Dimension abzugewinnen" versucht.73Seine besoldete Tätigkeit im Pressebüro des Kriegsfürsorgeamtes, die er zwischen dem 12. August 1914 und dem 17. Mai 1917 ausübt,74 bietet ihm dafür die besten institutioneilen Voraussetzungen: "Öffentlichkeit erreicht Hofmannsthal durch sein publizistisches Engagement, durch seine Wortmeldungen und Deutungen, die sich mit dem Krieg auseinandersetzen und durch Abdruck in Zeitungen und Zeitschriften wie durch Verlage ihr Publikum finden."75 Die erste essayistische Veröffentlichung Hofmannsthals zu Kriegszeiten stellt sein Feuilleton Appell an die oberen Stände dar, das am 8. September 1914 als Leitartikel auf dem Titelblatt der liberalen Wiener Tageszeitung Neue Freie Presse abgedruckt wurde und mit pathetischen Worten einsetzt: Das Ungeheure betäubt jeden Geist, aber es ist in der Gewalt des Geistes, diese Lähmung wieder von sich abzuschütteln. Unsere Lähmung von uns abzuschütteln, um das geht es jetzt. Das völlig Unfaßliche ist Ereignis geworden; wir erlebens und fassen es nicht, werden es durchstehen, und es wird gewesen sein, wie ein dunkler Traum, durch dessen Finsternisse doch Gottes Licht hinzuckte, Gottes Atem hinwehte, fühlbarer als in öden, stockenden Jahren, die wir zuvor zu ertragen hatten.76 Von neuem figuriert hier unter der Hand eine implizit wertende Gegenüberstellung der "öden, stockenden" Vorkriegszeit und des offenbar auch hier als Erlösung empfundenen Kriegs. Doch im Unterschied zu Thomas Mann richtet Hofmannsthal den Fokus seiner Darlegungen nicht an die "draußen im Felde kämpfenden Soldaten", sondern ausnahmslos auf die Daheimgebliebenen; "über die anderen wird nur berichtet wenn auch wohlwollend, zustimmend und unterstützend. Der Krieg soll als etwas 'Alltägliches' begriffen werden, dem ebenso m it alltäglichem Handeln zu begegnen sei".77 M it Hofmannsthals eigenen Worten: [Jjetzt gilt es weiterzuleben, während dies Ungeheure um uns sich vollzieht. Es gilt, zu leben, als ob ein Tag wie alle Tage wäre. Es gilt, sich zu ernüchtern daß w ir nüchtern werden könnten, ist eine Gefahr. Aber gefährlich ist es und frevelhaft, von Erregungen einzig leben zu wollen und für Erregungen. Gefähr- 73 So Schneider, Sabine: Oi ientieiung der Geister im Bergsturz Europas. Hofmannsthals Hermeneutik des Kriegs. In: Wagner, Karl/ Baumgartner, Stephan/ Gamper, Michael (Hg.): Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Zürich: Chronos 2014 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen, Bd. 28), pp. 185-196, hier p. 186. 74 Vgl. Schumann 2000, p. 138. 75 Ibid., p. 139. 76 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke. [Bd. 9: ] Reden und Aufsätze II. 1914-1924. Hg. V . Bernd Schoellei in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M.: Fischer 1979, pp. 347- 350, hier p. 347. 77 Schumann 2000, p. 141. <?page no="340"?> 340 Norbert Christian Wolf Iicher wäre es und frevelhafter, in der Absonderung das Ungeheure, das heute Wirklichkeit ist, vergessen zu wollen, an Behagen, an eigensüchtigen Genuß, und wäre es selbst geistiger Art, zu denken. Hier sind Skylla und Charybdis. Aber dazwischen führt ein Weg.78 Welchen Weg Hofmannsthal damit meint, macht er in der Folge klar, wenn er einen kriegerisch unproduktiven Attentismus oder eine bloß abstrakte, pekuniäre Beteiligung an den Kriegskosten anprangert im Sinne von Kriegsanleihen oder des von der Regierung unterstützten Programms "Gold gab ich für Eisen" - und statt dessen ein Höchstmaß an persönlichem Engagementjedes Einzelnen fordert: [Jjetzt muß jeder zurück auf seinen Posten und dem Werktag geben, was des Werktags ist. Wir haben Geld hergeschenkt, und es war viel und war doch wenig [...]. Und das Warten von einem Zeitungsblatt zum andern ist begreiflich aber nicht produktiv. Und es handelt sich darum, produktiv zu sein, jeder auf seinem Posten. Aus sich herauszuholen, was herauszuholen ist, jeder auf seinem Gebiet, darum handelt sichs.79 Jeder Staatsbürger muss demnach alles das geben, was er überhaupt zu geben vermag. Letztlich propagiert Hofmannsthal eine Vorform jener Konzeption des Krieges, die noch die privatesten Lebensbereiche tangiert. Dem Krieg müssen demnach die sozialen und politischen Gegensätze der Donaumonarchie, ja sämtliche Bereiche des privaten Alltagslebens dem öffentlichen Kampf ums Überleben des Staates untergeordnet werden. Der anerkannte Dichter nimmt somit bereits 1914 den Grundgedanken dessen vorweg, was knapp dreißig Jahre später ein anderer, erfolgloserer Dichter namens Joseph Göbbels in seiner berüchtigten Rede vom 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast unter das Motto "W ollt Ihr den totalen Krieg? " stellen wird: In Augenblicken wie dieser, den wir durchleben, gibt es kein gleichgültiges Handeln. Jeder ist vorgerufen, auf jedem ruhen, ohne daß er es weiß, tausend Blicke. Jetzt ist jeder mutig oder feige und also gut oder böse. Und gegen den Feigen, den Bösen ist jedes Mittel recht. Niemand steht heute gegen niemand in diesem weiten Reiche, nicht Nation wider Nation, nicht Klasse wider Klasse. Aberjeder Böse, jeder Feige muß fühlen, daß er diesen Gottesfrieden bricht. Diese Zeilen schreibt nur ein Einzelner, aber es gibt keinen Einzelnen, wo die Not allgemein ist, und wie stets, im Drang, der Entschlossene den Unentschlossenen niederschlägt, wird auch das Mittel gefunden werden, den zu strafen, der böse handelt. Hier versagen die Gesetze, und das Dickicht der sozialen Ordnung scheint auch dem frevelhaft Selbstsüchtigen noch Schutz zu gewähren; aber das Außerordentliche findet einen außerordentlichen Weg, und den Bösen wird eine unerwartete Strafe ereilen.80 78 Hofmannsthal 1979, p. 347. 79 Ibid., p. 348. 80 Ibid., p. 350. <?page no="341"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Ziviiisationsbruchs 1914 341 Hofmannsthal versteht seine Aufgabe darin, "Gemeinschaftsgefühl einzufordern, lebensweltliche Unterschiede in einem 'W ir' verschmelzen zu lassen und seine Leserschaft zu emotionalisieren ohne dabei Verzicht auf eine ständische Gliederung der Gesellschaft zu leisten."81 Dies ist wiederum eine typisch österreichische Position, die sich damals in besonderer Weise herausgefordert sah, sozial und national Heterogenes unter dem Dach der Monarchie und ihrer Armee zu vereinigen: 82 "Unser sind drei Millionen, die heute und morgen ihre Pflicht tun werden bis zum letzten Atemzug. So seien denn nirgends, in keinem Winkel, ihrer auch nur ein paar hundert, die sich gegen die allgemeine Pflicht vergehen. Man würde sie aus dem Winkel hervorziehen und strafen müssen."83 Die martialische Rede von der staatsbürgerlichen "Pflichterfüllung", die in Österreich nach 1945 noch zu zweifelhafter Ehre gelangen sollte, erinnert an Thomas Manns Rede vom 'Dienst' des Dichters an der Gemeinschaft.84Sie hat heute, nach den bitteren Erfahrungen zweier verlorener Weltkriege, ebenso einen schalen Beigeschmack wie die manichäische Unterscheidung zwischen 'gut' und 'böse', die noch durch die Androhung von Strafen für jene verschärft wird, die sich aus welchen Gründen auch im m e r-d e m angeblichen "Gottesfrieden" im Inneren des Staates verweigern. Bezeichnenderweise wird dem österreichischen Analogon zum deutschen 'Burgfrieden' zwischen den Parteien von Hofmannsthal nichts weniger als ein göttlicher Wille unterstellt. Dass die vom Dichter artikulierte Drohung nicht im luftleeren Raum stand, kann erst heute in seiner ganzen Tragweite ermessen werden.85 Doch schon damals zeugten davon etwa jene martialischen Fotos von Hinrichtungen, die Karl Kraus später in der Buchausgabe seines 'Marsdramas' Die letzten Tage der Menschheit abdrucken ließ. Weitere einschlägige Publikationen Hofmannsthals aus den Monaten September bis Dezember 1914 sind die patriotischen und kriegsbejahenden, doch nie blind chauvinistischen Feuilletons Boykott frem der Sprachen? , Die Bejahung Österreichs, Unsere Fremdwörter, Bücher fü r diese Zeit und zur Wehrertüchtigung besonders einschlägig - Worte zum Gedächtnis des Prinzen Eugen. Der zuletzt angeführte Aufsatz erinnert an einen der wenigen erfolgreichen Kriegsführer der österreichischen Ge- 81 Schumann 2000, p. 141f. 82 Mehr dazu in Sauermann 2000, p. 42f. 83 Hofmannsthal 1979, p. 350. 84 Vgl. Schumann 2000, p. 141. Schneider 2014, p. 186, legt Manns Begriff des ‘ Dienstes' "m it der Feder anstelle des Bajonetts" auch Hofmannsthal in den Mund; in Appell an die oberen Stände ist aber nur vom "Bahnhofabladedienst" die Rede; vgl. Hofmannsthal 1979, p. 348. s‘’ Vgl. dazu Leidinger, Hannes/ Moritz, Verena/ Moser, Karin/ Dornik, Wolfram: Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914-1918. St. Pölten, Salzburg: Residenz 2014. <?page no="342"?> 342 Norbert Christian Wolf schichte, wodurch er thematisch und rhetorisch in einer gewissen Analogie zu Thomas Manns Großessay Friedrich und die große Koalition (1914/ 15) steht. Während dieser Text unter anderem angesichts der darin them atisierten kriegerischen Konkurrenz Preußens zu Österreich ideologisch nicht unproblematisch war,86 ist es jener durch die savoyische also letztlich französische - Herkunft des großen österreichischen Feldherrn gewesen. Beide führen dergestalt unwillentlich die schiere Unmöglichkeit einer umstandslosen Revitalisierung traditioneller Mythologeme in der Moderne vor Augen. Auch Hofmannsthals Darstellung kann die Brüchigkeit ihrer Argumentation nur notdürftig übertünchen und mündet in folgende patriotische Apotheose des Vielvölkerstaats, der sich eben nicht auf eine einheitliche Nation berufen kann: "Dies Österreich ist ein Gebilde des Geistes, und immer wieder will eine neidische Gewalt es zurückreißen ins Chaos; unsäglich viel aber vermag ein Mann, und immer wieder, im gemessenen Abstand, ruft ja die Vorsehung den Mensch herbei, von dem das Gewaltige verlangt wird und der dem Gewaltigen gewachsen ist."87 M it dem "Gebilde des Geistes" verteidigt der Dichter offenbar auch seinen ureigenen Schaffens- und Wirkungsraum. Der von Österreichs führenden Staatsmännern relativ unbedacht ausgelöste Krieg erscheint demnach als ein von einer geistfeindlichen "Gewalt" aufgezwungenes Übel; um ihn doch zu gewinnen, bedarf es also schon wenige Monate nach Kriegsbeginn ganz offensichtlich einer höheren Macht. Ähnlich wie schon im Kaiserlichen Manifest zur Kriegserklärung88findet sich auch in Hofmannsthals Essay "zum Gedächtnis des Prinzen Eugen" ein bezeichnender Satz, der für das litaneihaft wiederholte Selbstverständnis der Habsburgermonarchie im Weltkrieg steht: "Österreich ist das Reich des Friedens, und es wurde in Kämpfen geboren; es ist seine Schickung, daß es Gegensätze ausgleiche, und es muß sich in Kämpfen behaupten und erneuen."89 Hier geht es vor allem um eine 'geistige' Konzeption des Vielvölkerstaates, denn die tatsächliche Politik der Wiener Regierung und des Generalstabes im Jahr 1914 wird durch solche Worte eher verdeckt als angemessen beschrieben. Man könnte den Tenor dieser eigenwilligen Argumentation aber 'gegen ihren Strich' auch so zusammenfassen: Um den inneren Frieden zu bewahren, muss nach außen ein Krieg geführt werden. Es handelt sich also um den Versuch, die im heterogenen Staatsgebilde der Donaumonarchie besonders drastisch zum Ausdruck kommenden 86 Genaueres in Eder 2000, pp. 178-181, bes. p. 179. 87 Hofmannsthal 1979, pp. 375-383, hier p. 383. 88 Der Orginalwortlaut findet sich in: http: / / www.oesta.gv.at/ Getlmagelnfos.aspx7Cobld= 31593. 89 Hofmannsthal 1979, p. 377. <?page no="343"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 343 Zentrifugalkräfte moderner Gesellschaften durch die Bekämpfung eines äußeren Feindes kosmetisch zu kitten. Insgesamt eröffnet der Weltkrieg Flofmannsthal "zunächst die Gelegenheit zu intensiver Beschäftigung mit der politischen Situation, zu einem rückwärtsgewandten, konservativen Entwurf einer geistigen Heimat m it Namen Österreich. Man hat die Frage aufgeworfen, in wie weit dieses Programm durch die Wahrnehmung der Kriegssituation geprägt wird oder diese Wahrnehmung selbst beeinflußt."90 Dem Versuch einer Antwort darauf kann hier aus Platzgründen nicht nachgegangen werden. Bezeichnenderweise erschienen sämtliche der politisch affirmativen Texte Hofmannsthals m it Ausnahme des Feuilletons Die Bejahung Österreichs, das in der Wiener Kulturzeitschrift Österreichische Rundschau veröffentlicht wurde in der Neuen Freien Presse. Es handelt sich dabei um jene berühmte Zeitung, die den bevorzugten Gegenstand der kriegs- und medienkritischen Polemik des damals wichtigsten kritischen Intellektuellen Österreichs darstellte. 6. "Die Depesche ist ein Kriegsmittel wie die Granate": Karl Kraus Eine durchaus singuläre Stimme im stark misstönenden publizistischen Konzert zu Beginn des großen Krieges ist jene des bald entschiedensten Kriegskritikers unter den österreichischen Autoren: Karl Kraus (* 28. April 1874) war Angehöriger desselben (Matura-)Jahrgangs wie Hofmannsthal, im Unterschied zu diesem aber aus medizinischen Gründen wegen einer Wirbelsäulenverkrümmung immer schon vom Militärdienst befreit gewesen.91 Er hatte zwar unmittelbar auf das Attentat von Sarajewo m it dem (bereits zitierten) kurzen Würdigungsartikel Franz Ferdinand und die Talente reagiert,92 sich hinsichtlich der auf den 28. Juni 1914 folgenden politischen und militärischen Ereignisse aber bis zum Spätherbst 1914 ausgeschwiegen. Erst am 5. Dezember veröffentlichte er in der seit 1912 nur noch m it eigenen Artikeln gefüllten Zeitschrift Die Fackel seine persönliche Abrechnung m it den zitierten und zahlreichen weiteren dichterischen sowie insbesondere m it journalistischen Verlautbarungen. Der rhetorisch streng durchkomponierte Text, der zuvor am 19. November 1914 im mittleren Wiener Konzerthaussaal vorgetragen worden war,93 füllte ein ganzes Heft des Kraus'schen Hausblattes.94 Sein Titel In dieser großen 90 Schumann 2000, p. 139. 91 Vgl. Timms, Edward: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Wien: Deuticke 1995, p. 398. 92 Vgl. Die Fackel, 16. Jg., Nr. 400-403 (10.07.1914), pp. 1-4. 93 Vgl. Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 20. 94 Vgl. ibid., pp. 1-19. <?page no="344"?> 344 Norbert Christian Wolf Zeit besteht auf bezeichnende Weise aus einem ironischen Phrasenzitat95 und setzt m it sarkastischen Worten ein: In dieser großen Zeit / die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe n ic h t-; 96 Zu diesem rhetorisch fulminanten und noch lang nicht an sein Ende gelangten Einsatz erläutert der Kommentar Sigurd Paul Scheichls: "Hier ist bereits einer der Elauptgedanken Kraus' über den Ersten Weltkrieg form uliert: der Krieg sei die Folge einer durch die Presse bewirkten Phantasiearmut; die Phrasen der Journalisten hätten den Menschen den Zugang zur Wirklichkeit verstellt."97 Angesprochen wird damit insbesondere auch die Unfähigkeit fast aller Beobachter, sich einen modernen, hochtechnisierten Materialkrieg überhaupt vorzustellen ein Versagen der Imagination, das von der Berichterstattung gezielt befördert wurde.98 In Übereinstimmung m it zahlreichen Befunden der neueren Geschichtsschreibung99erscheinen die Gräuel des Krieges bei Kraus sogar als bloße Funktion der Medienberichte über sie, wie aus der unmittelbaren Fortsetzung der langen Eingangsperiode hervorgeht: [l]n dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt.100 Durchaus wortreich grenzt Kraus sich von der Inflation der Worte infolge des Kriegsbeginns ab, die für den moralisch rigorosen Sprachkritiker ein Ausdruck tiefster Verlogenheit ist. Während die anderen Schriftsteller und 95 Vgl. dazu die Belege in Scheichl, Sigurd Paul: "In dieser großen Zeit". Ein Kommentar. Unter Mitarbeit von Ulrike Lang. In: Kraus-Hefte 50 (April 1989), pp. 2-19, hier p. 3. Mehr dazu in Scheichl, Sigurd Paul: 'Die Fackel' und der Erst Weltkrieg. In: Lunzer, Heinz/ Lunzer-Talos, Victo ria / Patka, Marcus G. (Hg.): "Was w ir umbringen". 'Die Fackel' von Karl Kraus. [Ausstellungskatalog], Wien: Mandelbaum 1999, pp. 112-123, hier p. 114f. 96 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 1. 97 Scheichl 1989, p. 5. 98 Vgl. Timms 1995, pp. 370-379. 99 Vgl. ibid., pp. 383-385. .. DieFackeI, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 1. <?page no="345"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 345 Journalisten "die Greueltaten des Krieges als 'heroische' Taten priesen, mußte das Schweigen das, was es an Reinem in der Kunst und der Schrift gab, bewahren."101 Zugleich lässt sich Kraus' Formulierung vom Fehlen jeglichen 'eigenen' Wortes als treffliche Charakterisierung seines eigenen kompositorischen Montage- und Collageverfahrens verstehen, das daraus hinausläuft, gleichsam die Phrasen aufeinander zu hetzen, und zugleich den besonderen Rahmenbedingungen der Publizität in Kriegszeiten Rechnung trägt: "Um der Zensur zu entgehen, begnügte Kraus sich damit, die Sätze der anderen sprechen zu lassen, eine vorrangig aus Zeitungen stammende, mit ein paar kommentierenden Worten versehene Textcollage zusammenzustellen."102 Er legitimiert dies folgendermaßen: Zu tief sitzt mir die Ehrfucht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich.103 Wie Thomas Mann setzt auch Kraus auf die Kraft der Moral, aus der er im Vergleich zu jenem freilich vollkommen konträre Schlüsse zieht. Er tut das ebenfalls m it einem gewaltigen Pathos, indem er sich zahlreicher rhetorischen Figuren bedient etwa der des Paradoxons, mittels dessen er der so zeitgemäßen Technik eine zeitlose Ethik gegenüberstellt: Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Weretwaszu sagen hat, trete vor und schweige! Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange Taten geschehen, die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, daß sie ihnen nicht zuzutrauen waren. Mein Wort konnte Rotationsmaschinen [der Druckerpresse, N.C.W.] übertönen, und wenn es sie nicht zum Stillstand gebracht hat, so beweist das nichts gegen mein Wort. Selbst die größere Maschine hates nicht vermocht und das Ohr, das die Posaune des Weltgerichts vernimmt, verschließt sich noch lange nicht den Trompeten des Tages.104 Indem Kraus hier und in der Folge wiederholt mit Anspielungen auf die neutestamentarische Offenbarung des Johannes operiert und den biblischen Stil gleichsam im itiert, betreibt er einen gewaltigen rhetorischen Aufwand. Auch seine harsche Abrechnung mit der großen "Maschine" und dem seelenlosen "Betrieb"105zielt implizit auf eine moralische Selbsterhö- 101 Pollak, Michael: Aktionssoziologie im intellektuellen Feld. Die Kämpfe des Karl Kraus. In: Pinto, Louis/ Schultheis, Franz (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. [...] Konstanz: UVK 1997, pp. 235-282, hier p. 254. 102 Ibid., p. 255. 103 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. lf. 104 Ibid., p. 2. 105 Ibid., p. 6; vgl. dazu Scheichl 1989, p. 10. <?page no="346"?> 346 Norbert Christian Wolf hung, die genauso wie jene Thomas Manns oder Hofmannsthals auf einem manichäischen Denken beruht, nur eben zu entgegengesetzten Zwecken. Dies geht aus Sätzen wie diesem hervor: "Nicht erstarrte vor Schreck der Dreck des Lebens, nicht erbleichte Druckerschwärze vor so viel Blut."106 Kraus, damals noch keineswegs grundsätzlich Pazifist,107 imaginiert einen anderen, nicht weniger konsequenten Krieg, nämlich einen Krieg gegen die verhasste Presse, die er für das Elend des Kriegs und den Gebrechen der Moderne überhaupt und allein108 verantwortlich machte: "Krieg ist mir erst, wenn nur die, die nicht taugen, in ihn geschickt werden."109 Der Satiriker betreibt hier ein rhetorisches Spiel m it der Mehrdeutigkeit des Verbums 'taugen', bezeichnet er damit doch einerseits die aus naheliegenden Gründen gern in Abrede gestellte körperliche 'Tauglichkeit' zahlreicher Schriftsteller und Journalisten zum Kriegsdienst, andererseits aber ihre fragwürdige Moral, die sich darin konkretisiert, dass sie sich privat vor dem drückten, was sie als Bellizisten öffentlich propagierten. Der rhetorische Einsatz von Paradoxen wird in sein Extrem getrieben, wenn der unter den Bedingungen massiver Zensur schreibende Satiriker in einem Akt "unglaubliche[r] Naivität"110in politicis sogar deren Verschärfung fordert: Sonst h a t m ein Frieden keine Ruhe, ich richte mich heim lich au f die große Z eit ein und denke m ir etw as, was ich nur dem lieben G o tt sagen kann und nicht de m lieben S taat, der es m ir je tz t nicht erlau bt, ihm zu sagen, daß er zu to le ra n t ist. D enn w en n e r je t z t nicht au f die Idee kom m t, die sogenannte P re ßfreih eit, die ein paar w e iß e Flecke nicht spürt [g em eint sind die infolge von Zensureingriffen un bedruckten Stellen in den Zeitungen, N.C.W.], zu erw ü rg en , so w ird e r nie m e h r au f die Idee kom m en , und w o llte ich ihn je tz t auf die Id ee bringen, e r vergriffe sich an d e r Idee und m ein Text w äre das einzige Opfer. Also m uß ich w a rte n , w ie w o h l ich doch der einzige Österreich e r bin, der nicht w a rte n kann, sondern den W eltu n te rg a n g durch ein schlichtes A utodafe e rsetzt sehen m ö c h te .111 Eine Bücherverbrennung erscheint hier ironischerweise als letzter Ausweg aus einer allumfassenden Verderbnis, sind es doch nun auch die Dichter, die der 'Lüge' das W ort reden. In diesem Sinn geißelt Kraus die mörderische Rolle der Literaten als moderne Narren der Weltgeschichte, die durch ihr lächerliches Treiben dem kaiserlichen Kriegsmanifest vom 28. Juli 1914 m it der auf Erhabenheit zielenden Überschrift An meine Völker! statt einer 106 Die Fackel" 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 2. 107 Vgl. Scheichl 1999, p. 113. 108 Aus dieser etwas obsessiven Einseitigkeit resultiert aus heutiger Sicht eine Schwäche seiner ansonsten bestechenden Diagnose; vgl. Timms 1995, pp. 379-382. ... Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 2f. "" So Timms 1995, p. 380. 111 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 2f. <?page no="347"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 347 Krone gewissermaßen eine Geckenmütze aufsetzen: "Über jenem erhabenen Manifest, jenem Gedicht, das die tatenvolle Zeit eingeleitet, dem einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht hat, über dem menschlichsten Anschlag, den die Straße unserm Auge widerfahren lassen konnte, hängt der Kopf eines Varietekomikers, überlebensgroß."112 M it den Mitteln der Satire wettert Kraus hier gegen eine moderne Welt, die systematisch Mittel und Zweck verwechsle, indem er eine seinerzeit spätestens seit Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900) ausgesprochen beliebte kulturtheoretische Gedankenfigur polemisch auf den liberalen Leitbegriff 'Fortschritt' projiziert: "Der Fortschritt, unter dessen Füßen das Gras trauert und der Wald zu Papier wird, aus dem die Blätter wachsen, er hat den Lebenszweck den Lebensmitteln subordiniert und uns zu Hilfsschrauben unserer Werkzeuge gemacht."113 Unter dem Zeichen dieses zweifelhaften 'Fortschritts' und mit einigem Sarkasmus spießt Kraus die elende Verquickung von militärischen und wirtschaftlichen Interessen auf; er subvertiert dabei in einer vorweggenommenen Inversion der späteren berühmten Formel Flofmannsthals angesichts des verlorenen Weltkriegs114die überkommene Dialektikvon 'Oberfläche' und 'Tiefe': "Die Oberfläche sitzt und klebt an der Wurzel. Die Unterwerfung der Menschheit unter die W irtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen, und schärfte ihr der Fortschritt die Waffen, so schuf er ihr die mörderischeste vor allen, eine, die ihr jenseits ihrer heiligen Notwendigkeit noch die letzte Sorge um ihr irdisches Seelenheil benahm: die Presse."115 Der Sprach- und Medienkritiker schreckt nicht davor zurück, die verheerende performative Wirkung seines Lieblingsgegners mit dem physischen Effekt einer Bombe gleichzusetzen: "Die Depesche ist ein Kriegsmittel wie die Granate, die auch auf keinen Sachverhalt Rücksicht nimmt. Ihr glaubt; aber jene wissen es besser, und ihr müßt daran glauben."116 Das für den gegenwärtigen Zusammenhang aber zentrale Motiv besteht in seiner Auseinandersetzung m it der fragwürdigen Rolle der Schriftsteller und Dichter als Kriegsapologeten. "Viel schlimmer als die Prostitution der Schriftsteller während des Friedens, schlimmer als ihre kleine Korruption aus Karrieregründen, sah Kraus die Kompromittierung der Sprache wäh- 112 Ibid., p. 3. Il! Ibid., p. 6. 114 Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Welke. [Bd. 10: ] Reden und Aufsätze III 1925- 1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889 1929. Hg. v. Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahleit (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M.: Fischer 1980, pp. 233-299, hier p. 268: "DieTiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche." 114 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 8. 116 Ibid., p. 12. <?page no="348"?> 348 Norbert Christian Wolf rend des Krieges als das absolute Übel, als unentschuldbar, ja als Sünde an."117Verständlich wird seine Polemik aus heutiger Sicht nur dann, wenn man sich vor Augen führt, dass für ihn der Beruf des heteronomen Journalisten der Inbegriffvon Käuflichkeit und Korruption und somit das schiere Gegenteil des autonomen Dichters darstellte, dessen Aufgabe darin bestehe, den sich nicht zuletzt sprachlich niederschlagenden Verlockungen des Ungeistes zu widerstehen: "Aber w ir sehen rings im kulturellen Umkreis nichts als das Schauspiel, wie der Intellekt auf das Schlagwort einschnappt, wenn die Persönlichkeit nicht die Kraft hat, schweigend in sich selbst zu beruhen."118 Auf dieser Basis seiner rigorosen Sprachreinheitslehre inkrim iniert Kraus den Verrat von Dichtern wie Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel und Hugo von Hofmannsthal119 an der 'W ahrheit' sowie ihre fatale Vorbildwirkung für eine Vielzahl von vaterländisch erregten, schreibenden Dilettanten: 120 Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter ist ihr Eintritt in den Journalismus. Hierstehtein Hauptmann, stehen die Herren Dehmel und Hofmannsthal, mit Anspruch auf eine Dekoration in der vordersten Front und hinter ihnen kämpft der losgelassene Dilettantismus. Noch nie vorher hat es einen so stürmischen Anschluß an die Banalität gegeben und die Aufopferung der führenden Geister ist so rapid, daß der Verdacht entsteht, sie hätten kein Selbst aufzuopfern gehabt, sondern handelten vielmehr aus der heroischen Überlegung, sich dorthin zu retten, wo es jetzt am sichersten ist: in die Phrase.121 Innerhalb der Schriftkultur gilt die Phrase dem Sprachkritiker Kraus als schlimmste Sünde, denn sie dient im Reich der Wahrheit als trojanisches Pferd der Lüge. Die Dichotomie zwischen 'reiner' Literatur und 'phrasenhaftem' Journalismus ist in ihrer abwertenden Stoßrichtung direkt gegen Schriftstellerkollegen ä Ia Hofmannsthal gerichtet. Ganz ähnlich aber wie dessen ideologisches Pendant Thomas Mann operiert auch Kraus mit den topischen Antithesen zwischen 'Kultur' und 'Zivilisation'122sowie zwischen 'Literat' und 'Bürger', die er freilich spezifisch wendet: Trostlos ist nur, wie die Literatur nicht ihre Zudringlichkeit fühlt und nicht die Überlegenheit des Bürgers, der in der Phrase das ihm zustehende Erlebnis findet. Zu einer fremden und vorhandenen Begeisterung Reime und noch dazu 117 Pollak, Michael: Aktionssoziologie im intellektuellen Feld, p. 254. 118 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 16. ш M ehr dazu in Scheichl 1989, p. 14f. 120 Vgl. ibid., p. 15. 121 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 16. 122 Vgl. ebd., p. 5: "Kultur ist die stillschweigende Verabredung, das ! ebensmittel hinter dem ! ebenszweck abtreten zu lassen. Zivilisation ist die Unterwerfung des lebenszwecks unte r das ! ebensmittel. Diesem Ideal dient der Fortschritt und diesem Ideal liefert er seine Waffen." Vgl. dazu Scheichl 1989, p. 9. <?page no="349"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 349 schlechte zu suchen, gegen eine Rotte eine Flotte zu stellen und von den Florden zu bestätigen, daß sie morden, ist wohl die dürftigste Leistung, die die Gesellschaft in drangvoller Zeit von ihren Geistern erwarten kann.123 Während der Journalismus idealiter 'faktual' über etwas jenseits der Darstellung bereits 'Vorhandenes' berichtet und der referentiellen Funktion von Sprache verpflichtet ist, bringt die 'fiktionale' Kunst durch ihre spezifische Verfahrensweise ihren Gegenstand erst performativ hervor. Was hingegen in den ersten Kriegsmonaten seitens der Dichter und der Journalisten geschah, zeugt für Kraus von einem makabren, ja verwerflichen Rollentausch, dessen Resultate den vollkommenen Bankrott des Geistes bestätigen. Seine schon vor 1914 bestehende radikale Opposition gegen fast alle etablierten Autoren im österreichischen und deutschen literarischen Feld mag ihm seine kompromisslose Flaltung kurz nach Kriegsbeginn erleichtert haben. Von entscheidender Bedeutung in seiner vernichtenden Diagnose ist wohl folgender Befund, der eine zentrale Einsicht der späteren Medientheorie Marshall McLuhans vorwegnimmt, ohne aber deren Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität und Wertfreiheit zu teilen im Gegenteil: [A]n einem trüben Tage wird es klar, daß das Leben nur ein Abdruck der Presse ist. Flabe ich das Leben in den Tagen des Fortschritts unterschätzen gelernt, so mußte ich die Presse überschätzen. [...] Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind [...]. Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen.124 Gegenüber der diagnostischen Formel McLuhans: "The medium is the message"125 hält Kraus verbissen an der Vorstellung einer objektiv bestehenden Wahrheit fest, einer Wahrheit jenseits ihrer medialen Vermittlung durch die alles bestimmende Presse, die er als unbedingt vermeidbares Übel des von ihm perhorreszierten "Fortschritts" sieht. Er erweist sich in dieser Hinsicht mindestens genauso als Erbe der pessimistischkonservativen KulturphilosophieJean-Jacques Rousseaus wie als Prophet der in die postmoderne Philosophie weisenden Medientheorie Marshall McLuhans. Dies ändert wenig an der Triftigkeit seiner "vielschichtige[n] Analyse vom November 1914", in der er freilich bloß jene Argumente zusammenfasst, "die schon seit mehr als einem Jahrzehnt in der Fackel zu 123 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 16; vgl. Scheichl 1989, p. 15. 124 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 8f. 125 Unter dieser Überschrift steht das gesamte erste Kapitel in Mcluhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man. New York: McGraw-Hill 1964; dt. Übersetzung: Die magischen Kanäle. Düsseldorf: Econ 1968. <?page no="350"?> 350 Norbert Christian Wolf lesen sind"126 und denen eine gewisse auch privat bedingte - Obsessivität nicht abzusprechen ist. Die relative Konservativität der Kraus'schen Position geht nicht nur aus seiner heute bizarr wirkenden Apotheose von "Deutschlands größte[m] neuzeitliche^] Dichter, Detlev v. Liliencron" hervor,127 sondern auch aus der Tatsache, dass er in ästhetischer Hinsicht nach wie vor eine überkommene Ganzheitsvorstellung vertritt, die seinem eigenen, äußerst zukunftsweisenden Montage- und Collageverfahren keineswegs mehr entspricht, wenn er etwa form uliert: "es bleibt abzuwarten, ob unter jenen, die das Erlebnis dieses Krieges hatten, und jenen, die als Dichter erleben können, einer erstehen wird, der Stoff und W ort zur künstlerischen Einheit bringt."128 Gerade sein offenbar gar nicht 'intentional' herleitbarer kompromissloser Verzicht auf stilistische Homogenität kennzeichnet indes die auch ästhetische Avanciertheit seiner damals einzigartigen presse- und kriegskritischen Schriften. 7. "Alle Straßen münden in schwarze Verwesung": Georg Trakl Zum Abschluss dieser Ausführungen sei knapp an einen ganz anders gearteten Text erinnert, der gleichwohl eine bezeichnende Strukturanalogie zur Polemik Kraus' aufweist und ebenfalls im Herbst 1914 verfasst worden ist an Georg Trakls (*3. Februar 1887) berühmtes Gedicht GRODEK: Am Abend tönen die herbstlichen Wälder Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen Und blauen Seen, darüber die Sonne Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht Sterbende Krieger, die wilde Klage Ihrerzerbrochenen Münder. Doch stille sammelt im Weidengrund Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle; Alle Straßen münden in schwarze Verwesung. Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain, Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter; Und leise tönen im Rohr die dunklen Flöten des Herbstes. 0 stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre 126 Timms 1995, p. 385. 127 Die Fackel, 16. Jg., Nr. 404 (05.12.1914), p. 17; vgl. dazu Scheichl 1989, p. 16. 128 Die Fackel, ibid. <?page no="351"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 351 Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, Die ungebornen Enkel.129 Im Medium lyrischer Sprache versucht Trakl, die grauenhafte Erfahrung seiner Betreuung von 90 schwerverletzten Soldaten seiner Divison in einer Scheune ohne medizinische Versorgung zu verarbeiten. Der psychisch ohnehin labile, drogenabhängige Medikamenten-Akzessist war mit der Situation vollkommen überfordert und brach zusammen.130Grodek gilt als Antikriegsgedicht; indem es allerdings die "Geister der Helden" apostrophiert und in "stolzere[r] Trauer" an die "ehernen Altäre" appelliert, scheint es vorderhand am bellizistischen Diskurs zu partizipieren. Man kann diese Formulierungen des Kraus-Verehrers Trakl allerdings ebenfalls als distanzierte Zitationen der damals gängigen Kriegsrhetorik deuten.131 Demnach wäre sowohl die Formeln "Geister der Helden" (vom 'Geist der Helden' ist häufig in Todesanzeigen die Rede gewesen) und "0 stolzere Trauer" (in Todesanzeigen hieß es häufig 'In stolzer Trauer') als Entlehnungen einzustufen, während das Bild des "Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen" schwankenden Schattens "der Schwester" e in -w e n n auch nicht wörtliches - Selbstzitat ist. Durch das unvermittelte Hereinbrechen von traditionellen Pathosformeln in den ansonsten von Realitätspartikeln durchzogenen Text ("Alle Straßen münden in schwarze Verwesung") entsteht strukturell durchaus ähnlich wie bei Kraus wiederum stilistische Ambivalenz. Nicht zuletzt diese steht für die eminente Schwierigkeit, vor der ein anspruchsvoller Dichter stand, der die radikale vor- und außersprachliche Vernichtungserfahrung des hochtechnisierten Weltkriegs mithilfe überkommener Lyrismen zu vermitteln suchte, ohne die Widersprüchlichkeit, ja Unmöglichkeit dieser Situation zu nivellieren. Auch hier droht die Moderne zu versagen; sie kann jedenfalls keine ungebrochene 'Aussage' mehr vermitteln. 8. Kurzes Fazit Aus den angeführten Beispielen lässt sich folgender ernüchternder Befund ableiten: In den ersten Monaten des Weltkriegs zeigte sich kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller in der Lage, von den eigenen persönlichen Interessen und Projektionen abzusehen und eine einigermaßen intersub- 129 Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Walther Killy u. Hans Szklenar. Bd. 1. Salzburg: 0. Müller 21987, p. 167. 130 Genaueres berichtet Weichselbaum, Hans: GeorgTrakI. Eine Biographie. Salzburg: 0. Müller 2014, pp. 166-175. 1! 1 Die folgenden Überlegungen wurden angeregt von Hans Weichselbaum. <?page no="352"?> 352 Norbert Christian Wolf jektive Diagnose der komplexen politischen und militärischen Situation zu entwickeln. Mehr noch: Die Argumentationsweisen für und selbst wider den gesamteuropäischen Zivilisationsbruch erweisen sich als zutiefst abhängig von den jeweiligen künstlerischen Positionen und privaten Situationen. Wie in zahlreichen anderen kultur- und literaturhistorischen Konstellationen scheint auch hier der "Gegensatz" zwischen unterschiedlichen "Schriftstellerkategorien [...] den eigentlich politischen Antagonismen zugrunde" zu liegen, "und nicht umgekehrt".132 Knapp zusammengefasst: Während der junge Brecht publicityträchtig auf den Volkskrieg setzt und damit seine eigene Autorschaft überhaupt erst inauguriert, erhofft sich Musil vom Einheitserlebnis mir der kriegsbegeisterten Masse eine Aufwertung des modernen Schriftstellers in der ausdifferenzierten Gesellschaft. Während Thomas Mann mithilfe eines dichotomischen Bellizismus seine künstlerische, familiäre und sexuelle Verunsicherung zu überwinden sucht, kämpft Elofmannsthal m it großem rhetorischen Aufwand für die Konservierung und Konsolidierung seines traditionellen Produktions- und Wirkungsraums. Während Kraus angesichts des die schlimmsten Befürchtungen unterschreitenden intellektuellen und ethischen Niveaus der Kriegsberichterstattung sein bisheriges Ressentiment gegen die kapitalistisch organisierte Presse in ein neues Extrem treibt und dabei politische Verantwortlichkeiten überhaupt nicht wahrnimmt, bestätigt sich für Trakl im unvorstellbaren Kriegsleid der schon länger empfundene Überdruss an den Verwerfungen einer sich in eminenten sozialen und mentalen Brüchen modernisierenden Gesellschaft. Sämtliche schriftstellerische Antworten auf die Elerausforderung des Krieges tragen die Spuren zutiefst individueller Konflikte, die meist schon länger andauern und zugleich auf überindividuelle Diskurse verweisen. Sie werden überdies im traditionsreichen Genre künstlerischer Essayistik ausagiert. Es handelt sich dabei keineswegs bloß um atavistische 'Regressionen' hinter einen längst erreichten 'geistigen' Entwicklungsstand, sondern um Funktionen der höchst widersprüchlichen Moderne selbst. Insofern können Machart und Argumentationsmuster der betrachteten Texte durchaus als charakteristisch für jene politischen, ideologischen und ästhetischen Probleme gelten, die diese Autoren bereits vor dem Kriegsbeginn beschäftigt haben, ohne dass sie einfach zu 'bewältigen' gewesen wären. Daraus ist jedoch keineswegs zu schließen, dass perse keine einzige historische Stellungnahme von (männlichen) Schriftstellern zum Krieg 132 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfu rt a.M.: Suhrkamp 1999, p. 426. Eine Veranschaulichung dieses häufiger zu beobachtenden Sachverhalts findet sich in Sapiro, Gisele: La Guerre des ecrivains 1940-1953. Paris: Fayard 1999. <?page no="353"?> Publizistische (De-)Legitimationen des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 353 und seinen Begleiterscheinungen Triftigkeit beanspruchen dürfte. Am singulären Beispiel des Karl Kraus lässt sich vielmehr zeigen, dass selbst eine partiell aus einem Ressentiment geborene Diagnose unter gewissen Umständen starke Evidenz entfalten kann, wenn sie in einer relativ autonomen Haltung gegenüber den kunst- und literaturfernen, nämlich politischen, militärischen und vor allem ökonomischen Mächten gründet. Dies gilt insbesondere dann, wenn die konkurrierenden Autoren zum selben Zeitpunkt in entwaffnender Konsequenz jeglichen Autonomieanspruch der Literatur weit hinter sich gelassen haben. <?page no="355"?> A lm ir B ašović (S arajevo ) Literarische Bilder von Gavrilo Princip Based on theories of fiction and archetypes, the author deals with the emergence and development of the cultural image of a historical figure, Gavrilo Princip, in literary and cinematographic representations of the Yugoslav cultural space in the 20th century. Firstly, the influential Yugoslav-Czechoslovakfilm by Veljko Bulajic will be investigated as prototype of the official Princip narrative. Further, constructions of Princip as a character across all three main literary genres will be thoroughly analyzed, using Duško Anđić's drama, Abdulah Sidran's poems and a short story by Dževad Karahasan as case studies. Den hundertsten Jahrestag der Schüsse Gavrilo Princips in Sarajevo begleitet eine große Anzahl von literarischen, historiographischen, kulturologischen, ideologischen und anderen Deutungen dieses Ereignisses, was denn der 'Anlass' oder die 'Ursache' des Ersten Weltkriegs sei. Dieses erneuerte Interesse für das Attentat weist darauf hin, dass dieses Ereignis sich so behandeln ließe, wie Aleksandar Veselovskij das Motiv behandelt, wenn er es als eine Formel definiert, "die besonders bemerkenswerte Eindrücke der Wirklichkeit fixiert, die wichtig scheinen oder sich wiederholen."1 In diesem Sinne befasst sich die vorliegende Arbeit mit der literarischen Imagologie von Gavrilo Princip, also mit fiktionalen Bildern desTeilnehmers an einem wirklichen Ereignis, weswegen es wichtig erscheint, sich auf einige Unterschiede zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu besinnen. In ihrem Buch Wahrheit und ästhetische Wahrheit (1979) macht Käte Flamburger darauf aufmerksam, dass die Beschreibung der Schlacht von Waterloo in Victor Hugos Roman Les Miserables (1862), mag sie noch so geschichtstreu sein, nicht als Information für eine historiografische Darstellung dienen kann. Hamburger meint, dass diese Repräsentation, auch wenn darin keine einzige fiktionale Person auftaucht, nicht für einen historiografischen Text von Nutzen sein kann, weil sie als Teil des Romans nur für die Handlung und die Welt des Romans eine bestimmte Funktion hat, und in dieser Funktion an eine bestimmte, und nicht an eine andere Stelle des Romans gesetzt ist. Hamburger resümiert weiterhin, dass in der literarischen Fiktion nur fiktionale Sätze existieren, mögen noch so viele Realien in sie montiert sein oder, im Falle des historischen Romans, ihren Stoff darstellen.2 1 Veselovskij, Aleksandar N.: Istoričeskaja poetika. Moskau: Vyssaja škola 1989, p. 305. ; Vgl. Hamburger, Käte: Istina i estetska istina. Sarajevo: Svjetlost 1982, p. 133. <?page no="356"?> 3 5 6 A lm ir Bašović Man könnte sagen, dass in literarischen Werken irgendein historisches Ereignis nur den Stoff für eine die Form produzierende Gestaltung darstellt. Die Wirklichkeit ist, wie wir wissen, unvollendbar; in ihr kann irgendein Ereignis m it allen, aber auch allen anderen Ereignissen verbunden werden. Etwas als ein lyrisches Gedicht, Erzählung, Drama oder Film zu gestalten, heißt, auf sich die Verantwortung übernehmen, das Ereignis, das diese Formen behandeln (zum Beispiel das Attentat von Sarajevo), im Einklang m it einer bestimmten (Genre-)Logik zu ordnen und es aus der endlosen und ungeordneten W irklichkeit zu lösen. Der Rahmen des literarischen Werks stört die mechanische Reihenfolge der Ereignisse, indem er die Geschichte aus der Wirklichkeit löst, denn gerade über ihn wird die innere Logik des literarischen Werks begründet, die aus seinem Konstruktionsprinzip hervorgeht. Bei der Untersuchung von Werken, die das Attentat von Sarajevo als historisches Ereignis im M ittelpunkt haben, wird nun vor allem auf die Bedeutung des Rahmens als eines Phänomens, m it dem das literarische oder filmische Werk von der endlosen Wirklichkeit gelöst wird, Bezug genommen - und dies bezieht sich auch auf die Art und Weise, wie sich das konkrete Werk als eine Ganzheit herstellt. In Anbetracht der Grundcharakteristiken des Attentats von Sarajevo und seiner Folgen ließen sich die literarischen Bilder von Gavrilo Princip m it archetypischen Motiven verbinden, wie sie der russische Autor Eleazar Meletinskij in seinem Buch Über literarische Archetypen versteht, das auf die Verbindung des Flelden mit dem Kollektiv aufmerksam macht. Meletinskij sagt nämlich, dass der rebellische Charakter als Bestandteil der archetypischen Figur des Flelden zu gelten hat und dass er in einem gewissen Ausmaß die Emanzipation der Persönlichkeit modelliert, dass dabei jedoch stets die Transpersönlichkeit und die Superpersönlichkeit dominieren, weil die "kollektivistischen" Flandlungen des Flelden dermaßen unmittelbar sind.3Neben dem rebellischen Charakter Gavrilo Princips und der Tatsache, dass er im Namen eines Kollektivs den Vertreter eines anderen Kollektivs ermordet hat, sollte man auch die Folgen des Attentats von Sarajevo im Auge behalten, nämlich die Tatsache, dass der Begriff des Ersten Weltkriegs die Einbindung aller Individuen weltweit in irgendwelche kollektivistischen Flandlungen bedeutet. An die Überlegungen von Veselovskij und an die Arbeiten über die Morphologie und die historischen Wurzeln des Märchens von Wladimir Propp anknüpfend, schreibt Meletinskij über die Flerkunft derjenigen beständigen Elemente, aus welchen die Einheiten einer "Sujetsprache" zusammengesetzt sind; die ursprünglichen Elemente, aus denen in spä- 3 M eletinskij, Jeleazar M.: O književnim arhetipovima. Novi Sad: Izdavačka knjižarnica Zorana Stojanovića 2011, p. 42. <?page no="357"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 357 teren Epochen äußerst verschiedenartige Schemata entstehen, nennt er Sujetarchetypen.4 In seinen Überlegungen zu Jungs Archetypen-Begriff in die Literatur und dessen Anwendung in literaturwissenschaftlichen Erörterungen (bei Northrop Frye, Gaston Bachelard und Gilbert Durand) meint Meletinskij, dass diese wegen ihres psychologischen oder rituellen Reduktionismus zu einer Modernisierung des archaischen Mythos oder einer Archaisierung der neuen Zeit führen.5 Ganz im Sinne der russischen Schule, an die er sich anlehnt, kritisiert Meletinskij, dass Jung und die anderen Autoren von Archetypen reden, ohne dabei das Sujet zu beachten, sondern sich nur auf eine Ansammlung von Schlüsselfiguren oder Gegenständen/ Symbolen beziehen, aus denen verschiedene Motive hervorgehen.6 Unter einem archetypischen M otiv versteht Meletinskij "ein Mikrosujet, das ein Prädikat (eine Handlung), ein Agens und ein Patiens enthält sowie Träger eines mehr oder weniger selbstständigen und relativ tiefen Sinnes ist."7 Meletinskijs Überlegungen zu den archetypischen Motiven könnten nun bei der Untersuchung von verschiedenen literarischen Bildern von Gavrilo Princip nützlich sein, weil er den Schematismus der Motive betont, was er von Veselovskij übernimmt. Dabei muss auch beachtet werden, dass Meletinskij die Untrennbarkeit desjenigen, der die Handlung bewegt (in diesem Fall also - Princip) von der Handlung selbst (das Attentat) und des Bildes dessen, der diese Handlung erduldet (Franz Ferdinand und seine Frau Sophie), annimmt. Am Ende dieser Einleitung sollte gesagt werden, dass die Tatsache, dass Gavrilo Princip eine historische Person war, keinesfalls bedeutet, dass ein literarisches Bild von Princip "richtiger" oder "wahrer" als andere ist. Zahlreiche Arbeiten über die Autobiografie und Biografie, also über Formen, die sich mit Personen, deren wirkliche Existenz verbürgt ist, befassen, weisen auf die Problematik und Variabilität der Idee der Person selbst hin. So verweist Andrea Zlatar in ihrem Buch Ispovijest i životopis: srednjovjekovna autobiografija [Bekenntnis und Lebenslauf: m ittelalterliche Autobiografie] darauf, dass die Idee der Persönlichkeit im Mittelalter entstanden ist, aber nicht als eine moderne Individualitätstheorie gedacht war, weil der moderne Typ der Individualität bloß ein historisch konkreter Typ des Persönlichkeitsbewusstseins ist und auf keinen Fall seine einzig mögliche Gestaltungsweise.8 In seinem Text zu "Ich und Kultur in der Au- 4 Ibid., p. 5. 5 Ibid., p. 19. 6 Ibid. 7 Ibid., p. 85. s Zlatar, Andrea: Ispovijest i životopis: srednjovjekovna autobiografija. Zagreb: Antibarbarus 2000, p. 77. <?page no="358"?> 358 A lm ir Bašovic tobiografie" (über Identitätsmodelle und Grenzen der Sprache] beschreibt Paul John Eakin die Autobiografie als eine historische Variable, die "zu den stets veränderlichen Netzen der gesellschaftlichen Praxis, durch die sich das Leben des Einzelnen artikuliert, gehört."9 Die angeführten Thesen sowie die Beobachtungen zahlreicher anderer Autoren, die sich m it der Problematik von Biografie und Autobiografie beschäftigt haben, deuten auf die Unmöglichkeit der Übereinstimmung der wirklichen Person und der Person, über die geschrieben wird, hin, weil diese Beziehung immer durch die Sprache verm ittelt und geschichtlich bedingt ist. Neben der Tatsache, dass Gavrilo Princip eine historische Person war, kann er auch deswegen kein archetypischer Held sein, weil Meletinskij annimmt, dass das Schicksal von Archetypen m it der Erweiterung der Funktionen des Helden, m it der allmählichen Stereotypisierung des Sujets und m it der Übertragung des Akzents vom Weltmodell auf die Sujethandlung verbunden ist, was ungefähr der Bewegung vom Mythos zum Märchen entspricht.10 Princip kann weder ein mythischer noch ein Märchenheld sein, aus dem einfachen Grund, weil die Bilder, m it denen wir uns befassen, aus der Welt denjenigen literarischen Werke entstammen, die von einem einzelnen Autor geschrieben sind. Claude Levi-Strauss stellte in seinem berühmten Buch Mythologica fest, dass Mythen sich selbst in den Menschen denken, und zwar ohne deren Bewusstsein dessen: Mythen, sagt Levi-Strauss, denken sich gegenseitig.11 In seiner berühmten Polemik mit Levi-Strauss, im Nachwort zur italienischen Ausgabe der Morphologie des Märchens, weist Wladimir Propp darauf hin, dass die in seinem Buch vorgeschlagenen Methoden, sowie auch die Methoden der Strukturalisten, ihre Anwendungsgrenzen bei der Untersuchung von literarischer Kunst haben. Im Zusammenhang mit der von einem einzelnen, unwiederholbaren Autor geschaffenen Kunst sagt Propp, dass die exakte Methode nur dann positive Resultate zeitigen kann, wenn "die Erforschung der Wiederholbarkeit mit der Erforschung der Einzigartigkeit, vor welcher wir wie vor der Manifestation eines unbegreiflichen Wunders stehen, verknüpft wird."12 Aufgrund des Gesagten werden die literarischen Bilder Gavrilo Princips hier also als eine Transformation von Archetypen betrachtet werden, wobei die Ähnlichkeit zwischen den Bildern Princips und archetypischen Hel- 9 Eakin, Paul John: Ja i kultura u autobiografiji. In: Milanja, Cvjetko (Hg.): Autor-pripovjedač-lik. Osijek: Svjetla grada 2000, p. 375. 10 Meletinskij 2011, p. 84. 11 Levi-Strauss, Claude: Mitologike I. Presno i pečeno. Beograd: Prosveta - BIGZ 1980, p. 15. 12 Propp, Vladimir: Strukturalno i istorijsko proučavanje bajke. In: Ders.: Morfologija bajke. Beograd: Prosveta 1982, p. 264. <?page no="359"?> Literarische B ild e rvo n Gavrilo Princip 359 den ermöglichen wird, dass die Unterschiede zwischen ihnen beginnen, eine Bedeutung zu generieren. Dies wird anhand des folgenden Korpus geschehen: ein Film (Das Attentat in Sarajevo\ Regie: Veljko Bulajić; Drehbuch: Stevan Bulajić und Vladimir Bor), zwei Gedichte von Abdulah Sidran aus der Sarajevoer Sammlung, außerdem das Drama Princip G. von Duško Anđić und die Erzählung Das Prinzip Gabrielvon Dževad Karahasan. 1. Ein Märchen-Princip am Rande der Parodie Lassen wir die Szenen, die den Rahmen des Films bilden, außer Acht, so konstituiert sich Gavrilo Princip bereits am Anfang von Bulajićs Das Attenta t in Sarajevo (1975) als derjenige Heldentyp aus dem Märchen, den Me- Ietinskij als den "niedrigen" beschreibt: denjenigen, der "keine Hoffnung einflößt" und der allmählich sein "Heldenwesen" entdeckt, indem er seine Feinde und Gegenspieler besiegt.13 Princip sitzt nämlich am Anfang dieses Films in einer Belgrader Kneipe, und während die anderen am Tisch über die Revolution und die Ungerechtigkeit diskutieren, schreibt er Gedichte/ einen Briefan seine FreundinJeIena.14 Diesen Brief entreißt ihm ein Kneipenschläger und lacht Gavrilo aus, indem er den Text allen Gästen vorliest.15 Einige Szenen später sagt Šarac die Figur, die den Attentätern das Schießen beibringt und die in diesem Film bei der Konstituierung des ideologischen Standpunktes eine wichtige Rolle einnimmt über Princip: "Schau ihn an, Haut und Knochen, und macht sich auf, die Welt zu verändern."16 Propp betonte in seinen Studien an mehreren Stellen die Bedeutung, welche die Figur des Reisens im Märchen hat. So sagt er zum Beispiel in den Historischen Wurzeln des Zaubermärchens, dass die Komposition im Märchen auf der räumlichen Verlagerung des Helden aufgebaut wird.17 Da er die Wurzeln des Märchens im Initiationsritual findet und sie mit der symbolischen Reise der Seele ins Jenseits verbindet, weist Propp darauf hin, dass das Märchen den Unterschied zwischen der Welt, aus welcher der Held aufbricht, und der, in die er reist, immer betont. Ähnlich nimmt im Film von Bulajić die Verlagerung einer Gruppe von Helden - Gavrilo Princip, Trifko Grabež und Nedjeljko Čabrinović von Serbien nach Bosnien einen wichtigen Platz ein und auf die Verbindung mit dem Märchen 1! Meletinskij 2011, p. 43. 11 Atentat u Sarajevu (Yu/ CS 1975), Oh 21' 40". 15 Ibid., Oh 23'3 0 ". 16 Ibid., Oh 27'3 5 ". 17 Propp, Vladimir: Historijski korijeni bajke. Sarajevo: Svjetlost 1990, p. 77. <?page no="360"?> 360 A lm ir Bašović weist auch die Betonung des Flusses Drina als einer Grenze hin, meint doch Propp, dass der Übergang in ein anderes Reich die Achse des Märchens darstelle, und im m erein hervorgehobenes, ungewöhnlich betontes kompositorisches Element sei.18Als er ihnen die letzten Instruktionen gibt, ermahnt Šarac die Attentäter, dass es einfach sei, einen Abzug zu drücken und eine Bombe zu werfen, aber schwer, die Grenze mit Waffen beladen zu überqueren.19 Dieselbe Figur sagt zu den Attentätern, dass sie sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite auf jeden Schritt achten müssten, denn es gebe viele Flindernisse; 20 dann beschreibt er ihnen ausführlich, wie ihre Reise nach Sarajevo aussehen wird.21 Gavrilo, Trifko und Nedjeljko reisen auf einem Schiff die Sava entlang und kommen nach Zvornik, auf die Drina, deren Bedeutung wieder betont wird, diesmal in Form von Nedjeljkos Versen: "O du herrlicher und blauer Fluss Drina, Grenze zwischen meinem Bosnien und Serbien, der Tag ist gekommen, an dem ich dich überqueren werde, unsere Fleimat zu befreien [..J ."2223 Wegen Nedjeljkos unernstem Verhalten trennen sich Gavrilo und Trifko von ihm, dann folgt eine lange Szene der Flussüberquerung. In Bosnien empfängt die beiden Regen, in einem Dorf entkommen sie mit Mühe der Verfolgung durch k.u.k. Gendarmen (diese Funktionen nennt Propp: der Held w ird gejagt und der Held rettet sich vor der Verfolgung21), um sich in Tuzla wieder m it Nedjeljko zu treffen. Die Zugreise von Tuzla nach Sarajevo bietet neue Hindernisse, denn der Zug ist voll von Polizeipatrouillen, vor denen sich Gavrilo m it Hilfe von Nedjeljkos Spitzfindigkeit rettet, aber auch das deutet auf Gavrilo als einen "niedrigen" Märchenhelden hin: Das Mädchen, das er im Zug kennengelernt hat und m it dem er kokettiert, wird von Nedjeljko dazu überredet, die rasende Ehefrau des verwirrten Gavrilo zu spielen, um ihn dadurch vor der Polizeipatrouille zu retten. Ungefähr in der Hälfte des Films kommen die Attentäter endlich in Sarajevo an.24 (Bei Propp hieße diese Ankunft: der Held kommt unerkannt nach Hause.) Gleich nach seiner Ankunft aus Serbien trifft Gavrilo am alten Friedhof von Sarajevo Danilo llić.25 Hier werden zwei Sichtweisen auf das Attentat dargelegt, die m itunter am besten von der niedrigen Individualisierungsebene der Figuren in diesem Film und von der betonten Intention des 18 Ibid., p. 309. 19 Atentat u Sarajevu, Oh 27' 05". 20 Ibid., Oh 28' 30". 21 Ibid., Oh 28 '38". 22 Ibid., Oh 32' 40". 23 Propp 1982, p.62ff. 24 Atentat u Sarajevu, Oh 55' 32". 25 Ibid., Oh 57' 04". <?page no="361"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 361 Drehbuchs und des Regisseurs, mit diesem Film einige historische Irrtümer und Ungerechtigkeiten zu korrigieren, Zeugenschaft ablegen. Ilić spricht nämlich zu Princip über seine Zweifel im Zusammenhang mit dem Attentat und sagt: "Es sind große Risiken, Gavrilo, ich denke dabei nicht an unsere Leben, sondern an die Tatsache, dass die Waffen aus Serbien kommen..."26 Darauf antwortet ihm Gavrilo: "Serbien hilft uns nicht, das ist eine Sache von uns Jungbosniern und von niemandem sonst."27 Auch diese erste Szene von Princips Aufenthalt in Sarajevo und der gesamte Sujetverlauf im Zusammenhang mit den zwischen den Attentätern herrschenden Beziehungen weisen ebenfalls auf die Nähe Princips zum Märchenhelden hin. Meletinskij schreibt, dass die Initiation die vorläufige Isolation von der Gesellschaft und Kontakte des Helden mit anderen Welten impliziert.28 Princip versteckt sich in Sarajevo zunächst vor seiner Freundin Jelena, und nachdem Šarac aus Serbien kommt (wo Apis ihn überredet, das Attentat fallen zu lassen, weil Österreich es ausnützen würde, das unvorbereitete Serbien anzugreifen) und nachdem alle anderen Gruppenmitglieder ihre Zweifel im Zusammenhang mit dem Attentat zum Ausdruck gebracht haben, versteckt sich Gavrilo buchstäblich vor allen. Als seine Freundin Jelena den von der Gesellschaft isolierten Gavrilo sucht, findet sie ihn in Kontakt mit dem "Jenseits" am Grab von Žerajić.29 In Anbetracht der Stellung, die Princip hier einnimmt, könnte man in der Struktu r dieses Sujetablaufs das erkennen, was Propp die dreifache Prüfung des Märchenhelden nennt. Gavrilo wird nämlich dreimal vom Attentat abgeraten: zuerst macht das Ilić, dann Šarac, und schließlich auch seine verweinte Freundin Jelena. M it dem Märchen ließe sich auch die Waffe als "Wundergegenstand" verknüpfen, den der Märchenheld, wie Meletinskij schreibt, bekommt, verliert und wieder erhält.30 Die Attentäter bekommen die Waffen in Belgrad, dann lassen Gavrilo und Trifko ihre Waffen beim Händler Jovanović in Tuzla, um sie wieder in Sarajevo zu finden. Meletinskij schreibt, dass die Handlung selbst der Erwerb, der Verlust und der wiederholte Erwerb des Wundermittels sehr ferne Wurzeln hat, und zwar in den Motiven des Erwerbs von kosmischen und Kulturgegenständen bei mythischen und Kulturhelden. Gavrilo betritt die Welt dieses Films, indem wir in der ersten Kameraeinstellung zunächst die Waffe, aus der er schießt, sehen, und erst danach sein Gesicht. Die nächste Einstellung zeigt, dass er auf ein Poster 26 Ibid., Oh 58' 29". 27 Ibid., Oh 55' 44". 28 Meletinskij 2011, p. 33. 29 Atentat u Sarajevu, Ih 29' 30". ! 0 Meletinskij 2011, p. 100. <?page no="362"?> 362 A lm ir Bašović von Franz Ferdinand schießt, und auch Trifko und Nedjeljko werden beim Schießen auf Ferdinands Bild eingeführt. Keinesfalls zufällig erscheint Franz Ferdinand im Film zum ersten Mal, als er aus seinem Jagdgewehr auf Vögel, die aus Käfigen freigelassen werden, schießt. Danach sehen wir auch Sophie, die ein Gewehr in ihren Händen hält und an der Jagd teilnim m t. Nach den Vögeln tötet Franz Ferdinand einen Rehbock, einen Eber, einen Hirsch usw. In den Einstellungen lösen sich das lachende Gesicht Ferdinands und das Röcheln der getöteten Tiere gegenseitig ab. Die Jagd endet mit Fotoaufnahmen Franz Ferdinands, Sophies und ihres Gefolges m it ihren Trophäen den erlegten Tieren. Später, im Gespräch mit dem deutschen Kaiser Wilhelm31, wird offenbart, dass Franz Ferdinand über 5.000 Tiere getötet hat. Dabei sagt Wilhelm zu ihm, m it der Munition, die er beim Töten dieser Tiere verbraucht habe, hätte er sowohl in Serbien als auch in Montenegro Ordnung machen können.32 Das Bild Franz Ferdinands wird in diesem auch m it Hilfe der Aussagen des Kaisers FranzJoseph gestaltet. Unmittelbar nach der Jagdszene sehen wir den nackten Kaiser. Beim Anziehen lehnt er den Vorschlag des Barons Conrad von Hötzendorfs ab, eine Invasion in Serbien durchzuführen; im Anschluss sagt er zu ihm, dass er manchmal unheimlich gerne sterben würde, aber wenn er sich seinen Neffen Franz Ferdinand an der Spitze der Habsburger Monarchie vorstellt, dann möchte er lieber ewig leben.33 Später, bei den Manövern in der Umgebung von Sarajevo, gesteht Franz Ferdinand Potiorek und Hötzendorf, dass er zwar den Krieg gegen Serbien befürworte, es gebe "jedoch alte Männer, die nicht verstehen können, wie nützlich ein Durchbruch Richtung Osten wäre".3435Zwei unterschiedliche Sichtweisen des Krieges gegen Serbien werden keinesfalls zufällig die ganze Zeit von zwei verschiedenen Sichtweisen auf Franz Ferdinands Ehefrau Sophie und deren Ehe begleitet. Der Blick auf militärische Fragen und der Blick auf Sophie werden in der Bankettszene zusammengeführt, als Franz Ferdinand vor versammelten Gästen sagt: "Meine Frau braucht keine Armee, um zu befehlen. Sie befiehlt m ir/ 235 Die Bilder Franz Ferdinands und Sophies werden in diesem Film auch durch ihre Beziehung zu ihren Kindern aufgebaut. Sie treffen diese nämlich in einer Schulstunde, und es ist, als hätte man diese Szene ausgewählt, weil ihre Beziehung zu ihren Kindern distanziert und auf rationales Wis- 31 Atentat u Sarajevu, Oh 17' 20". 32 Ibid., Oh 18' 27". 33 Ibid., Oh 10' 47". 34 Ibid., Ih 19' 21". 35 Ibid., Ih 33' 06". <?page no="363"?> Literarische Bilclervon Gavrilo Princip 363 sen reduziert ist. Die betonte Zurückhaltung von Emotionen bestätigt auch Sophies Replik, die sie an den Lehrer und die an sie heraneilenden Kinder richtet: "Lasst euch nicht unterbrechen",36und aus Sarajevo telefoniert Sophie nach Wien nur, um zu fragen, ob die Kinder ihre Prüfung bestanden haben.37 Lür Lranz Lerdinand ist in der einzigen Szene, in der sie sich mit ihren Kindern zusammen treffen, viel wichtiger als Emotionen die Präge, die der Lehrer an die Tafel geschrieben hat: "M it welchem Datum hat das zwanzigste Jahrhundert begonnen? "38Später in Sarajevo, in einer intimen Szene zwischen Sophie und Lranz Lerdinand, sagt die Ehefrau, das zwanzigste Jahrhundert habe im Jahr 1901 angefangen39, und dies stellt eine Verknüpfung m it dem "dokumentarischen" Rahmen dar, denn der Lilm endet m it einer Stimme aus dem Off, die im Zusammenhang m it dem Ersten Weltkrieg sagt: "Dies war der Beginn einer neuen Ära, der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts."40 Die wichtigste archetypische Motivgruppe spezifisch sowohl für den Mythos als auch für das Märchen, das Epos und den Ritterroman sind nach Meletinskij die Motive des aktiven Widerstands des Helden gegen Vertreter der dämonischen Welt.41 Als er dieses Element des archetypischen Komplexes im Rahmen der Ligur des Kulturhelden erläutert, führt Meletinskij die Verteidigung des Helden gegen dämonischen Mächte als einem Hindernis für ein ruhiges Leben der Menschheit an.42 Aufgrund des bisher Gesagten ließe sich feststellen, dass die Vertreter dieser Welt in Bulajićs Lilm Lranz Lerdinand und Sophie sind, aber am Beispiel dieses Lilms ließe sich auch einwenden, dass einige Elemente archetypischer Motive sich leicht in Elemente des Melodramas transformieren. Das Melodrama entsteht im späten 18. Jahrhundert als Versuch, im Ambiente der bürgerlichen Gesellschaft ein Drama nach Vorbild der klassischen Tragödie zu schreiben. In seiner Arbeit zu einer Poetik des Melodramas betont Sergej Baluhatyj, desssen ästhetische Grundaufgabe sei die Erregung von "reinen und starken Gefühlen", und diese emotionale Teleologie bedinge die Auswahl von begrenzten Mitteln, deren Wirkung sichergestellt seo.43 Als eines der wichtigen Prinzipien des Melodramas 36 Ibid., Oh52'26". 37 Ibid., Ih 28'52". ! S Ibid., Oh52'34". 39 Ibid., Ih 03'34". 10 Ibid., 2h 09' 05". 31 Meletinskij 2011, p. 86. 37 Ibid., p. 29. 3! Baluhatyj, Sergej: Prema poetici melodrame. In: Miočinović, Mirjana (Hg.): Moderna teorija drame. Beograd: Nolit 1981, p. 428f. <?page no="364"?> 364 A lm ir Bašovic führt Baluhatyj die Kontrastierung an, und das gewöhnliche Verfahren bei dessen Gestaltung sei "die Verknüpfung der Schicksale von Figuren, die auf unterschiedlichen Höhen der gesellschaftlichen Stufenleiter stehen".44 Auch in unserem Film lässt sich eine ganze Reihe von Kontrasten erkennen, m it denen die Schicksale von Franz Ferdinand und Sophie auf der einen, und Gavrilo und Jelena auf der anderen Seite verknüpft werden. So wird zum Beispiel der geheimen Reise Gavrilos aus Belgrad und seinem Verstecken vor Jelena die "öffentliche" Reise Franz Ferdinands und Sophies nach Sarajevo gegenübergestellt, die durch Fotografien und Zeitungsberichte "nacherzählt" wird, bis hin zu ihrer zeremoniellen Begegnung vor dem Hotel in llidža.45 Das erzherzögliche Paar redet nackt im Bett liegend über die Vorzüge von gelegentlichen Abschieden,46während Gavrilo und Jelena im Bett nackt darüber sprechen, dass Gavrilo ihr nicht einmal diejenigen Briefe schickt, die er ihr geschrieben habe.47 Des Weiteren möchte Franz Ferdinand nicht ohne Sophie nach Sarajevo fahren und er ist derjenige, der darauf besteht, dass sie während der Parade neben ihm im Wagen sitzt, während Gavrilo die ganze Zeit vor Jelena wegläuft und nach dem Attentat, während er blutend abgeführt wird, zu ihr sagt: "Geh weg! "48DieTrennung und wiederholte Zusammenführung von Franz Ferdinand und Sophie abseits des offiziellen Protokolls führt zu ihrem "Zusammenkommen" im Tod und ist ein Kontrast zu PrincipsTrennung von Jelena. Der Brief, den Gavrilo an Jelena schreibt und der von ihrer Trennung Zeugenschaft ablegt, löst am Filmanfang eine Kneipenschlägerei aus, und ihre Trennung am Filmende ist der quasi der Auslöser des Ersten Weltkriegs. Es ist auch nicht zufällig, dass sich ein Kontrast auch in Sophies und Jelenas Thematisierung des Todes bemerken lässt. Im Hotel in llidža hat Sophie dunkle Vorahnungen und fragt Franz Ferdinand, ob der Tod für ihn eine Realität sei,49 während Jelena am Grab von Žerajić für Gavrilo die Verse zitiert: "Wer leben will, der möge sterben / Wer sterben will, wird ewig leben."50Alle diese Szenen sind charakteristisch für das Melodrama, denn dessen Sujetkonstruktion, so Baluhatyj, sei reich an außerordentlich "sentimentalen" Situationen, die eingeführt werden, damit auch beim Zuschauer eine starke emotionale Reaktion ausgelöst werde.51 44 Ibid., p. 434. 45 Atentat u Sarajevu, Ih OO' 57". 46 Ibid., Ih Ol' 20". 47 Ibid., Ih 41' 58". 48 Ibid., 2h 06' 20". 49 Ibid., Ih 04' 54". 50 Ibid., Ih 40' 14". 51 Baluhatyj 1981, p. 430. <?page no="365"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 3 6 5 Die Transformation von archetypischen Motiven in Elemente des Melodramas ist auch in der Beziehung der Figuren von Gavrilo und Nedjeljko sichtbar. Am Anfang des Films, während Gavrilo Gedichte schreibt, unterhält Nedjeljko mit der Gitarre in der Hand die Gäste der Kneipe, indem er spöttische Lieder über den Kaiser und die politische Situation singt. Der Plauderlust Nedjeljkos (er verrät einer Kellnerin in Zvornik, dass sie nach Sarajevo gehen, um Franz Ferdinand zu töten! ) wird Gavrilos Schweigsamkeit entgegengesetzt. Einen Tag vor dem Attentat treffen in Sarajevo Sophie und Franz Ferdinand die Attentäter, und bei dieser Gelegenheit blicken sich einerseits Sophie und Nedjeljko in die Augen,52 andererseits Gavrilo Princip und Franz Ferdinand.53 Am Tag darauf scheitert Nedjeljkos Attentatsversuch, während Gavrilos Versuch gelingt. Deswegen, aber auch wegen einer ganzen Reihe von Nedjeljkos Eigenschaften, mit denen als Kontrast die Figur Gavrilos beleuchtet wird, könnte man Nedjeljko als eine Art Narren und Zwillingsbruder des ernsthaften Helden betrachten, von dem Meletinskij ausführlich schreibt.54 Nimmt man jedoch den Film als Ganzes, so zeugen die beiden zusammen mit den anderen um das Attentat versammelten Figuren von einer für das Melodrama charakteristischen Figurenverteilung, in der "die positiven Helden eine Gruppe bilden und mit gemeinsamen Kräften einen Kampf um die ihnen eigenen moralischen 'Qualitäten' und das allgemeine Sujetthema führen".5556 Die Figuren von Nedjeljko und Gavrilo kommentieren sich außerdem auch über das Heiratsmotiv. Beim Ausstieg aus dem Zug in Sarajevo sagt Nedjeljko scherzhaft zum Mädchen, die im Zug Gavrilos Ehefrau gespielt hatte, dass Trifkos Vater Pfarrer sei und dass er sie verheiraten könnte. Am Tag des Attentats sagt er in einen schwarzen Anzug zu demselben Mädchen, er warte auf eine andere Dame, wobei er Jelena meint. Setzt man die Parallele zwischen Gavrilo und einem Märchenhelden fort, so lassen sich einige Implikationen aus dem Fehlen der letzten Funktion, die Propp als der Held heiratet und steigt auf den königlichen Thron56 bezeichnet, ziehen, und dies bezieht sich auf den Rahmen in diesem Film. Der Film Attentat in Sarajevo hat nämlich eine Art von 'dokumentaristischen' Rahmen. Am Anfang des Films wechseln sich Fotografien vom Berliner Kongress, die Verlautbarung Franz Josephs an das Volk von Bosnien-Herzegowina, Fotografien des Standgerichts, Galgen und Proteste in Dubrovnik und Zagreb, ein Zeitungsbericht von Žerajićs Attentat etc. mit 52 Atentat u Sarajevu, Ih 11' 46". 53 Ibid., Ih 1 2 '0 6 ”. 54 Meletinskij 2011, p. 63. 55 Baluhatyj 1981, p. 441. 56 Piopp 1982, p. 7Of. <?page no="366"?> 3 6 6 A lm ir Bašovic einander ab. In seinem Buch Die Struktur des künstlerischen Textes sagt Jurij Lotman, dass der Rahmen aus zwei Teilen besteht: dem Anfang und dem Ende,57 wobei der Anfang eine bestimmende modellierende Funktion habe: er ist kein Zeugnis der Existenz, sondern auch der Ersatz der späteren Kategorie der Kausalität.58 Ein solcher Anfang ermöglicht, dass die psychologische Motivation in der Figur Princips durch seine "leidenschaftlichen" Reden ersetzt wird, die nicht nur ein Zeugnis der Existenz des "großen Gefühls" sind, sondern auch zur Betonung des Ereignisablaufs im Sujet dienen, weil "die pathetische Rede sich m it den scharfen, wichtigsten Momenten im Sujetablauf deckt"59. Am Ende des Films, nachdem aufgezählt wurde, wie die Attentäter und ihre Flelfergeendet haben, wird eine 'dokumentaristische' Zusammenfassung des Ersten Weltkriegs gegeben. Sie lautet: Österreich erklärte Serbien den Krieg. Montenegro erklärte Österreich den Krieg. Russland eilte Serbien zu Hilfe. Deutschland erklärte Russland den Krieg. Frankreich blieb im Bündnis mit Russland. Deutschland erklärte Frankreich den Krieg. England erklärte Deutschland den Krieg. Amerika stellte sich an die Seite Englands. In diesem Krieg zerfielen vier Reiche: das österreichisch-ungarische, das deutsche, das türkische und das russische. Dies war der Beginn einer neuen Ära, der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.6061 Lotman behauptet, dass das Ende nicht nur von der Beendigung eines Sujets abhinge, sondern auch von der Konstruktion der Welt als Ganzem.51 Meletinskij schreibt, dass die Heirat mit der Königstochter im Märchen m it verwandelten Details aus traditionellen Eheversuchungen und Hochzeitsritualen korreliere. Als Ausdruck des Resultats der Märchenhandlung, behauptet weiterhin Meletinskij, könne die Heirat mit der Königstochter das Resultat der Manifestation einer ganzen Reihe von Motiven sein, vor allem des Motivs der "schweren Aufgabe".62 Wenn wir ihn mit einem Märchenhelden vergleichen, so bekommt Gavrilo Princip aber nach der Überwindung der schweren Aufgabe keinen Thron und er heiratet nicht die Königstocher, sondern er löst Ereignisse aus, in denen vier Königreiche verschwinden. Im Melodrama, schreibt Baluhatyj, sei das Ende ganz im Einklang mit seinem moralisierenden Sujetaufbau - "glücklich" für die positiven und "unglücklich" für die negativen Helden, und der Zuschauer nehme das als "natürlich", als Abbild "grundlegender" moralischer Geset- 57 Lotman, Jurij: Struktura umetničkogteksta. Beograd: Nolit 1976, p. 281. 58 Ibid., p. 282. 59 Baluhatyj 1981, p. 431. 60 Ibid. 61 Lotman 1976, p. 286. 62 Meletinskij 2011, p. 100. <?page no="367"?> Literarische Bilclervon Gavrilo Princip 367 ze hin.53 Da das Ende dieses Films für den positiven Helden Princip nicht glücklich ist, ließe sich die Figur Princip m it einem Trauerspielhelden vergleichen, wie ihn Walter Benjamin in seinem berühmten Werk definiert: "Wenn der tragische Held in seiner 'Unsterblichkeit' nicht das Leben, sondern den Namen allein rettet, so büßen Trauerspielpersonen mit dem Tode nur die benannte Individualität und nicht die Lebenskraft der Rolle ein. Ungemindert lebt sie in der Geisterwelt auf."6364 Auf Princips Ähnlichkeit mit einem Trauerspielhelden deutet auch sein an die Zellenwand in Theresin aufgeschriebene Satz hin: "Unsere Schatten werden in Wien herumziehen, den Hof durchstreifen, die Herrschaften erschrecken." Da man Franz Ferdinand in diesem Film mit dem Intriganten in einer Barocktragödie, von dem Benjamin behauptet, er sei eine komische Figur, verbinden könnte, bleibt die Frage, ob das Bild Gavrilo Princips deswegen, aber auch wegen der Verknüpfung von kollektivistischen Handlungen nach dem Vorbild des Märchens mit den Eigenschaften des Helden eines Melodramas hier nicht an den Rand der Parodie gelangt ist. 2. Princip als bewaffneter Melancholiker Gavrilo Princip ist das lyrische Ich in zwei Gedichten aus dem Gedichtband Sarajevska zbirka [Die Sarajevoer Sammlung, 1979] von Abdulah Sidran. Das erste Gedicht heißt Brauning 7,65. Vježba gađanja. Drhti Gavrilova ruka [Browning 7,65. Schussübung. Es zittert Gavrilos Hand], der Titel des zweiten Gedichts Gavrilo bunca noć uoči Pucnja [Gavrilo fiebert in der Nacht vor dem Schuss], und es ist, als würden Sidrans Titel die existentielle Situation, in der sich das lyrische Ich befindet, definieren. Im bereits zitierten Buch Wahrheit und ästhetische Wahrheit behauptet Käte Hamburger, dass der Begriff der Fiktion als ästhetischer Begriff den Sinn der Fiktion, d. h. den Schein des Lebens beinhaltet, und dieser nur von der erzählerischen und dramatischen Dichtung, also von Figurendichtung ausgefüllt werde, und sie fügt hinzu, dass der Schein des Lebens nur durch die Figur als Ich-Person, die lebt, denkt und spricht, produziert werde.65 Wegen den Besonderheiten von Sidrans Verfahren nähern sich diese Gedichte nun in großem Maße der Figurendichtung an. In seinem Text über die sprachliche Metamorphose bei Sidran unter dem Titel Die Sprache und das Subjekt in der Poesie von Abdulah Sidran. Ein Abenteurer 63 Baluhatyj 1981, p. 432. 64 Benjamin, Walter: Porijeklo njemačke žalobne igre. Sarajevo: Veselin Masleša 1989, p. 102. 65 Vgl. Hamburger 1982, p. 113. <?page no="368"?> 368 Almir Bašović in den Grenzen des Selbst schreibt Nihad Agić, dass in dieser Poesie "derjenige, der von sich als ein Ich spricht, die Rolle spielt, die ihm von der Sprache vorgeschrieben wurde und der er eine bestimmte Form verleiht".56 Dieses "Ich-mit-Rolle" erkennt Agić in denjenigen Gedichten Sidrans, in denen die Rolle des Subjekts fiktiven und wirklichen Personen aus der bosnischen Kultur und Geschichte verliehen ist, und stellt fest, dass "Sidran in diesen Schaffensphasen systematisch der Partizipation des individuellen Subjekts in der Sprache ausweicht, weswegen seine Sprache keine subjektiv-individuellen Eigenschaften aufweist, es ist nicht 'seine' Sprache, sondern die Sprache der kulturellen und historischen Allgemeinheit."666768 Im Gedicht Browning 7,65. Schussübung. Es zittert Gavrilos Hand6s erkennen w ir diejenige Eigenschaft der modernen Dichtung, die Flugo Friedrich als aggressive Dramatik im Verhältnis zwischen den Themen und Motiven bezeichnet.69 Diese "aggressive Dramatik" spiegelt sich zum Beispiel in Gavrilos Worten, er sei zur gleichen Zeit "hungrig und satt", "so entschlossen und so gebrochen", und vielleicht kommt sie am stärksten am Ende des Gedichts zu Ausdruck, wo Gavrilo den heißen Lauf des Revolvers streichelt und dann von sich sagt, er sei ruhig und möchte bloß noch weinen. Als eine wichtige Eigenschaft der modernen Lyrik führt Friedrich auch die Dramatik zwischen dem Thema und einer unruhigen Stilführung7071an; diese wird im Gedicht wird durch das körperliche Zittern Gavrilos, das im Titel an hervorgehobener Stelle steht, kommentiert, denn er sagt von sich, er habe lange seine Seele geübt, aber er zittere am ganzen Körper; dann sagt er, er zittere, und er weiß, dass er töten würde. Dieses ganze Gedicht ließe sich in gewisser Weise mit der Spannung zwischen dem gegenwärtigen Moment, in dem Gavrilo das Schießen übt, und dem zukünftigen Moment, in dem das Attentat zur Wirklichkeit werden soll, verbinden. Vielleicht wäre es im Grunde richtiger zu sagen, dass dieses ganze Gedicht auf der dramatischen Übertragung dieser zwei Momente aus der Außenwelt in Princips Bewusstsein aufgebaut wird, wo das Verhältnis zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Ich zu erahnen versucht wird, was auch in den folgenden Versen sichtbar ist: "Krank ist diese Sehnsucht, aber tot, das weiß ich, / werde ich vor Gesundheit bersten/ 771 66 Agić, Nihad: Jezik i subjekt u poeziji Abdulaha Sidrana. Pustolov u granicama sopstva. In: Sarajevske sveske 35-36 (2011), p. 413. 67 Ibid. 68 Sidran, Abdulah: Sarajevska zbirka. Sarajevo: Svjetlost 1979, p. 55f. 69 Friedrich, Hugo: Struktura moderne lirike. Od sredine devetnaestog do sredine dvadesetog stoljeća. Zagreb: Stvarnost 1989, p. 19. ' п Ibid. 71 Sidran 1979, p. 56. <?page no="369"?> Literarische Biidervon Gavrilo Princip 369 Einen Hinweis darauf bietet auch die Personifikation, die die Dramatik von Gavrilos räumlicher Konfrontation m it den Menschen, auf die er schießen wird, anzukündigen scheint, denn als er auf die Eiche schießt, hört er, wie die abgerissene Eichenrinde winselt, und sich selbst M ut machend, sagt er: "Man muss schießen, nicht denken / über nichts. Wieder, lass die Kugel in den Körper der Eiche eintreten / wie in eine Gebärmutter! "72 Die Auswahl des Moments, in dem Gavrilo dieses Gedicht "ausspricht" ließe sich m it der Thematisierung des Verhältnisses zwischen Kunst und Wirklichkeit verknüpfen. Somerset Maugham erachtet als grundlegenden Unterschied, dass in der Kunst das Medium die Begrenzungen aufstellt, während im Leben dieses Medium nur durch den Tod begrenzt ist, weil dann sein Praktizieren aufhört. In der Kunst kann man eine Fertigkeit erlangen, sagt weiterhin Maugham, aber im Leben kann man nur wenig verbessern, weil die Kunst eine Folge des Denkens ist, während das Leben dermaßen von Möglichkeiten gesteuert ist, dass seine Durchführung bloß eine ewige Improvisation sein kann.73 Indem er das Schießen übt, ist Princip sich des Lebens als einer Improvisation bewusst, und so ist das ganze Gedicht gefärbt von der Furcht vor dem Moment, in dem seine Schüsse nicht mehr eine sich wiederholende Übung sein werden, sondern wo sie sich in die irreversible Wirklichkeit verlegen werden. Von dieser Furcht spricht auch das zweite Gedicht von Sidran, Gavrilo fiebert in der Nacht vor dem Schuss.74 Im bereits zitierten Text sagt Nihad Agić über dieses Gedicht, es sei die Krone des neuen poetischen Programms von Sidran, und setzt fort: In der Technik des dramatischen Monologs wird ein Charakterporträt sowie ein psychologisches Porträt des Mörders in einer Krisensituation gegeben, in der der poetisch-dramatische Charakter mit einer besonderen Intensität seine Furcht und seine Todesgewissheit, seine Zweifel und seine Entschlossenheit entblößt. Diese lyrische Form kann man als ein Selbstporträt des lyrischen Ichs bezeichnen, in dem es sich selbst vor dem stummen Zuhörer entblößt. So wie der Rhythmus und die Sprache des Gedichts menschliches Sprechen imitieren und den Sprecher in einem besonderen geschichtlichen Moment seines Lebens präsentieren, erstickt das Gedicht bewusst die referenzielle Stimme und betont die metaphorische.75 Max Black definierte die Metapher als die "Herstellung einer Beziehung zwischen zwei Begriffssystemen",76und in diesem Sinne könnte man sagen, 72 Ibid., p. 55. 73 Maugham, W. Somerset: Points o f View. Five Essays. Garden City/ New York, 1959, p. 39. 74 Sidran 1979, p. 57f. 75 Agić 2011, p.420f. 76 Black, Max: Models and Metaphors. Ithaca, New York: Cornell University Press 1962, p. 42. <?page no="370"?> 370 Almir Bašović dass in diesem Gedicht das Öl als Metapher eine besondere Rolle spielt. Gavrilo sagt nämlich am Anfang des Gedichts, dass "die Welt, die Häuser und die Dinge in Öl getaucht sind, dann dass man auf den Zehenspitzen die vermoderte Treppe hinuntersteigen und mit der Hand diese Wand, dieses Öl berühren" sollte. In der letzten Strophe sagt er: "Tot werden wir liegen in der Dunkelheit, im Öl..." Sie Bedeutung des Öls im Christentum muss hier nicht besonders betont werden, denn die Etymologie des Wortes Christus steht im Zusammenhang mit der Salbung als einem wichtigen Bestandteil der Einweihung. (Im Neuen Testament sagt Jesus: "Der Geist des Herrn ruht auf mir; / denn der Herr hat mich gesalbt."77) Gleichzeitig evoziert das Öl auch die Bedeutung eines der sieben Sakramente der Heiligen Ölung als der Vorbereitung der Seele für die Reise ins Jenseits. Gerade durch die Wiederholung von Gavrilos Aufruf an die Seele, auf Reisen zu gehen, wird der Rhythmus dieses Gedichts aufgebaut, was gleichzeitig von der Bedeutung des Öls zeugt. Denn Gavrilo wendet sich dreimal an die Seele und sagt: "Gehen wir, Seele, die Waffen holen; dann: Beeilen w ir uns, Seele, die Waffen zu holen"; und das Gedicht endet mit dem Aufruf: "Auf, Seele, die Waffen zu holen! " Dadurch wird auch eine Verbindung zwischen dem Öl als einem Salbungsmittel und als Schmiermittel einer Waffe hergestellt, so dass man im Zusammenhang mit der Waffe von der Verwandlung von sakralen Gegenständen mit einem religiös-mythischen Charakter sprechen könnte. Meletinskij schreibt über diese Gegenstände, dass es sich im Mythos um die primäre Eroberung dieser Objekte handelt, um ihre Herkunft, im Märchen indes handele es sich um die Umverteilung, die Zirkulation dieser Objekte in der Welt, um den individuellen Besitz dieser Gegenstände. Die Bewegung, so Maletinskij weiter, gehe von der kosmischen "Schöpfung" hin zur Psychologie der Wunscherfüllung, die der Zaubergegenstand versprach.78 Gerade der Status der Waffe scheint diese zwei Gedichte von Sidran zu verbinden, denn im ersten Gedicht sagt Gavrilo: "das Magazin leert sich, und ebenso leert sich meine Seele."79 Wenn wir diese Gedichte als eine Art Ganzheit lesen, können wir feststellen, dass sich die Waffe, die Browning 7.65, von einem völlig von außen, durch kalte, technische Angaben zum Kaliber und Hersteller definierten Gegenstand, allmählich in den Grund für die Reise von Princips Seele in eine andere Welt oder zumindest an eine Zeitgrenze verwandelt. Denn gerade Gavrilos Gebrauch der Waffe wird diese Welt verändern. Im ersten Gedicht von Sidran fragt sich Gavrilo, wieviele Probeschüsse er denn noch abgeben müsse vor dem 77 Evangelium nach Lukas, 4: 18. ,s Meletinskij 2011, p. 101. 79 Sidran, p. 55. <?page no="371"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 371 Schuss, "der das Trommelfell der Welt zu Eis erstarren lassen wird", und zum bevorstehenden Schuss sagt er, er wird kurz dauern, "wie das Ziehen eines Zahnes", danach werde ihm alles egal sein, "denn anders wird alles sein in der zusammengestürzten W elt".80 Im zweiten Gedicht sagt Gavrilo, sich selbst Mut machend: "Irgendwo in der Nähe schmiedet man einen wahren Schild", und einem Aufruf an die Seele, die Waffen zu holen, folgt der Vers: "solange unser Gott noch nicht gestorben ist."81 Anlässlich des Bildes Der alte Mann - Die Zeit schreibt Erwin Panofsky, dass die Zeit nur durch die Zerstörung falscher Werte ihre Funktion der Wahrheitsentdeckung erfüllen kann und nur als Prinzip der Veränderung ihre wahre Universalmacht enthüllen könne.82 Die zeitliche Abfolge von Sidrans Gedichten von den Schießübungen im Wald bis zur Nacht vor dem Schuss selbst, den Sidran im Titel mit einem Anfangsgroßbuchstaben schreibt scheint auf die Grenze in der Zeit hinzuweisen und somit die Veränderung zu betonen, die PrincipsTat auslösen wird. Dies bestätigt, in welchem Maße das Prädikat (die Handlung) das Bild des Agens, der diese Handlung noch nicht ausgeführt hat und der in Sidrans Gedichten über den Sinn dieser Handlung nachsinnt, bestimmen wird. In seinem Buch Die Philosophie des modernen Menschen schreibt Bogdan Suhodolski über die berühmte Grafik Albrecht Dürers, dass Dürer die Melancholie als ein Grunderlebnis der Unruhe, der Versenkung und der Erwartung ausgedrückt habe, welche die Bemühungen der Menschen, die ihre Welt selbstständig bauen, begleiten. Der Mensch, sagt Suhodolski, sei nicht nur als handelndes Wesen dargestellt, sondern auch als ein Wesen, das über sein Handeln nachdenkt.83 In seinen beiden Gedichten bietet Sidran das Bild eines Gavrilo Princip als eines Melancholikers, der dramatisch über den Sinn seines Handelns nachdenkt, wobei diese Gedichte in der Nacht vor dem Schuss enden, also vor der Handlung, die Princip jenseits des menschlichen, allzu menschlichen Dilemmas führen sollte. Deswegen ließe sich sagen, dass Sidrans Gedichte ihr Leben nicht so sehr aus ihrem Verhältnis zu Princip als einer historischen Person schöpfen, sondern dass sie ihre volle Bedeutung erst im Verhältnis zu den dominanten Bildern des entschlossenen Princips, von dem auch der Film Das A ttentat in Sarajevo Zeugenschaft ablegt, entfalten, und aus diesen Gründen könnte man von Sidrans Lyrik als einer Poetik der Negation sprechen. 80 Ibid., p. 56. 81 Ibid., p. 58. 82 Panofsky, Erwin: Ikonološke studije. Humanističke teme u renesansnoj umetnosti. Beograd: Nolit 1975, p. 86. 82 Suhodolski, Bogdan: Moderna filozofija čoveka. Beograd: Nolit 1972, p. 322. <?page no="372"?> 372 A lm ir Bašović 3. Princip die Stimme Das Stück Princip G. (1983) von Duško Anđelić besteht aus acht Bildern und das erste Bild spielt in Sarajevo, "an der Ecke bei Schillers Laden", wo der Wagen mit Franz Ferdinand, Sophie und Potiorek fälschlicherweise vor Princip anhält, der eine Pistole zieht und schießt. Diese Sequenz des Attentats, wie es in der Didaskalie heißt, ist musikalisch bearbeitet, mit Akzenten apostrophiert, und die Musik ist "eine Funktion der Tat auf der Szene, die wie eine Erinnerung, eine Retrospektion, als etwas, das irgendwann und irgendwo geschehen ist, anmutet".8485Die zweite Szene spielt am Wiener Flof, wo ein prächtiger Ball mit der einzigen Replik, die in diesem Bild ausgesprochen wird, endet: MANN: Meine Dame! Franz Ferdinand wurde heute in Sarajevo erschossen! 55 Das dritte Bild spielt im Flaus von Danilo llić und ist als Darlegung zweier verschiedener Standpunkte zum Attentat aufgebaut. Dem unruhigen und etwas ängstlichen llić steht der entschlossene Princip gegenüber; llićs Zweifel, ob man zu Frieden und Wohlstand durch das Gerede über Krieg kommen könne, steht Princips Aussage gegenüber, dass man zur Freiheit nur über einen blutigen Weg gelangen kann; llićs Berufung auf die Vernunft und seiner Angst, dass der eventuelle Misserfolg des Attentats zur Erschießung, Flinrichtung, Gefangennahme und Folter von Tausenden von Menschen führen könnte und dass anstelle des einen zwei andere, noch schlimmere Erzherzoge kommen würden, steht Princips Überzeugung gegenüber, dass Europa ein vereiterter Pickel sei, den man durchbohren müsse, um dadurch "sowohl unseren als auch den slowenischen und den kroatischen und den ungarischen" Qualen ein Ende zu bereiten.86 Das vierte Bild spielt im Flotel in llidža und ist außer der Attentatsszene die einzige Stelle im Drama, wo Franz Ferdinand und Sophie auftauchen. Das Bild beginnt mit Sophies Morgengebet, dem sich auch Ferdinand anschließt, dann folgen Zärtlichkeiten zwischen den Eheleuten, die von Franz Ferdinands Bekenntnis, dass er lieber nicht regieren und seine Ehe lieber als eine Leidenschaft denn als eine Verpflichtung sehen würde, unterbrochen werden. Dieses Bekenntnis geht in Ferdinands zerfahrenes Erzählen seines Traums der letzten Nacht über, in dem er bei der Jagd mit einem Rehbock völlig hilflos Aug' in Auge stand, um dann im Schlamm zu versinken. Sophie erinnert Ferdinand daran, dass vor der Tür Potiorek wartet, 84 Anđić, Duško: Princip G. Sarajevo: Zajednica profesionalnih pozorišta BiH 1983, p. 12. 85 Ibid., p. 13. 86 Ibid., p. 21. <?page no="373"?> Literarische Biidervon Gavrilo Princip 373 und Potioreks A uftritt stellt eine Art von komischer Erleichterung dar, denn Ferdinand lacht über die Steifheit des Generals sowie alle Zeremonien und Rituale, zu denen ihn die Flierarchie des Reichs verpflichtet. Nach Potioreks Abgang endet das Bild m it einer Regieanweisung, die wieder den Zustand, in dem sich Ferdinand befindet, suggeriert: "Sophie erscheint in einer Ecke der Szene und schaut stumm der Flysterie ihres ohnmächtigen und verängstigten Mannes zu."87 Den zentralen Teil dieses Dramas von Anđić, seinen M ittelpunkt im buchstäblichen und semantischen Sinn, d.h. eine Art Symmetrieachse, in der sich die zwei Teile dieses Stückes gegenseitig spiegeln, bildet das fünfte Bild, das sich in "Zvono" in der Nacht unmittelbar vor dem Attentat abspielt. Am Beginn dieser Szene unterhalten sich llić, Princip und Mehmedbašić, dann gesellen sich noch Čabrinović und Grabež zu ihnen. Dieses Bild stellt dasjenige dar, was Gustav Freytag in seiner berühmten pyramidalen Struktur des Dramas8889als den Flöhepunkt, die Spitze der Pyramide bezeichnet, es ist auf eine gewisse Weise der Kulminations- und M ittelpunkt dieses Dramas. Flier werden wieder zwei Sichtweisen auf das Attentat dargelegt, und die Initiative hat bis kurz vor dem Ende dieses Bildes llić, der seine Bedenken im Zusammenhang mit dem Sinn des Attentats zum Ausdruck bringt und Meinungen ausspricht wie z. B. dass "der individuelle Terror nicht den Weg für eine Massenrevolution, zu der es kommen muss, ebnen wird, sondern er ist ein Akt der Gewalt, der nicht einmal den richtigen Schuldigen treffen muss, aber dafür kann viel unschuldiges Volk ins Unglück gestürzt werden".39 Vor Ilics Argumenten verlieren die anderen Attentäter allmählich ihre Entschlossenheit (in der Didaskalie steht: "als würde für einen Moment ein Flauch von Ohnmacht und Floffnungslosigkeit über sie kommen, so dass diese jungen und energischen Menschen plötzlich erstarren"90), bis am Ende des Bildes Princip sich mit einer flammenden Rede llić widersetzt (in der Regieanweisung wird betont, dass Princip diese lange Rede "aus dem Bauch hält, wie vom Grund eines belebten Vulkans"91). Begeistert von Princips Ansprache sagen Mehmedbašić, Čabrinović und Grabež, dass sie an Princips Seite sind, und unwillig schließt sich ihnen auch llić an. Das Bild endet mit dem Tanzen des rituellen Reigens, in dem die vier Attentäter stehen, während llić in Gedanken versunken abseits der anderen Figuren sitzt. 87 Ibid., p. 38. 88 Vgl. Freytag, Gustav: Technique of the Drama. An Exposition of Dramatic Composition and Art. Chicago: S. C. Griggs 1896, p. 192-209. 89 Anđić 1983, p. 41. 90 Ibid., p. 50. 91 Ibid. <?page no="374"?> 374 A lm ir Bašović Das letzte Drittel dieses Dramas spielt sich im Untersuchungsgefängnis und im H ofvor dem Gefängnis ab, und das zentrale Figurenverhältnis von llić und Princip wird durch das Verhältnis von Ivasjuk und Princip und von Pfeffer vs. llić verm ittelt. Das sechste Bild spielt sich im Folterzimmer ab, wo gelegentliche Schläge des Inspektors, die auf den blutig geprügelten Gefangenen Princip niedersausen, seinen abstrakten Dialog m it dem Polizeichef Ivasjuk unterbrechen (Ivasjuk erklärt Princip zum Beispiel seine originellen Foltermethoden, sagt ihm, dass er über Deformationen in Žerajićs Schädel, den er in seinem Zimmer hält, promovieren möchte, und Princip trägt unter anderem seine politischen Standpunkte vor und nennt sich selber einen Jugoslawen, einen Nationalisten, der nach einer Vereinigung aller Südslawen strebt.). Das Bild endet m it der Konfrontation zwischen Princip und Čabrinović, wo Princip die gesamte Verantwortung übernimmt; von der Bedeutung, die im Drama das Verhältnis zwischen llić und Princip hat, zeugt auch, dass am Ende des Bildes Princip es ablehnt zu gestehen, dass auch llić am Attentat teilgenommen hat, was Ivasjuk dazu bringt, dass er "durchdreht, herumtobt, brüllt" und befiehlt, dass man Princip kreuzigt.92 Das siebente Bild beginnt m it einem Dialog, in dem die Ideen des Untersuchungsrichter Pfeffer den Ideen des Polizeichefs Ivasjuk gegenübergestellt werden, und durch diesen Dialog wird die Wiedereinführung von llić in das Drama vorbereitet. Aufgebaut als vollkommener Gegensatz zu Ivasjuk, der durch physische Gewaltwendung nichts Nützliches für die Untersuchung erreichen konnte, schafft es Pfeffer durch List, llić ein Geständnis zu den anderen Teilnehmern am Attentat zu entlocken, und dann überredet er llić, für dieses Geständnis Princip vor dem Volk zu beschuldigen und ihn am Kreuz zu bespucken, denn "seine 'Heldentat' und sein Verrat werden sich gegenseitig vernichten."93 Das letzte Bild spielt sich im Gefängnishof ab, der voll von gefangenen Menschen ist, die um "das große Folterkreuz, an dem Princip wie Jesus gekreuzigt ist, bewusstlos und blutig",94 versammelt sind. Anstatt Princip spuckt llić Pfeffer ins Gesicht, und in der letzten Regieanweisung schreibt Anđić: Pfeffer verbirgt mit den Händen das Gesicht. Es ist, als würde sich Princip an seinem Kreuz aufrichten. Zufriedenheit leuchtet auf den Gesichtern der Gefangenen auf und das Bild hält an. AusderTiefe der Seele, wie ein Balsam, das heilt und neue Kraft gibt, strömt ein Lied hervor. Alles gerät in Dunkelheit, aber nicht 92 Ibid., p. 64. 92 Ibid., p. 79. 94 Ibid., p. 81. <?page no="375"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 375 in Vergessenheit. Wenn das Publikum zu einem großen Teil den Saal bereits verlassen hat, beginnt das Bild des Attentats (Bild I.) sich wieder abzuspielen.95 Am Schluss dieses Stücks wird also das erste Bild wiederholt. Das bedeutet, dass das Stück Princip G. auf dem vorwiegenden Kompositionsprinzip begründet ist, das Volker Klotz in seinem Buch Geschlossene und offene Form im Drama als das Prinzip einer kreisenden Variation bezeichnet hat.96 Dieses Drama ist durch eine finale kreisende Handlungsbewegung bestimmt, seine Kreisstruktur deutet auf die Unmöglichkeit der Herauslösung des Attentats von Sarajevo aus der unendlichen Wirklichkeit und suggeriert, dass Gavrilo Princip in einer Welt, in der sich die Geschichte wie ein Albtraum wiederholt, Ferdinand und Sophie immer noch tötet. Dadurch nähert sich dieses Drama dem Drama der manieristischen Linie, wie es Dževad Karahasan definiert, wenn er meint, dass solche Werke der "Geschlossenheit in ihre, die künstlerische Wirklichkeit, anstreben, deren Struktur niemals m it der Struktur der 'objektiven' (außerkünstlerischen) W irklichkeit deckungsgleich ist".97 Auf die Verbindung mit dem manieristischen Drama weist auch dieTatsache hin, dass Princip als handlungstreibende Figur im ersten und im letzten Bild, also über den Rahmen des Dramas, in unmittelbaren Kontakt zu Sophie und Franz Ferdinand, die diese Handlung erleiden, tritt. Auch der Hinweis von Anđić, das Stück Princip G. stelle seinen bescheidenen Beitrag zum Geheimnis der Ermordung des Thronfolgers Ferdinand dar,98 weist darauf hin, dass dieses Drama sich m it seiner Handlung nicht zur Totalität der W irklichkeit öffnet, was beim klassischen Drama stets der Fall ist, sondern dass es sich wie das manieristische Drama m it der Frage der Stellung, die die Kunst in der Welt einnimmt, beschäftigt. Das Bild Gavrilo Princips ist bei Anđić durch die Absicht des Autors bestimmt, ein Drama nach dem Vorbild des existentialistischen Ideendramas zu schreiben, wobei er ein hohes Bewusstsein über die Grundcharakteristiken dieser Dramen demonstriert, so dass man dieses Drama eher ein Drama über der Existentialismus als ein existentialistisches Drama nennen könnte. Peter Szondi schreibt, dass die Affinität des Existentialismus zur Klassik auf der Wiedereinsetzung des Freiheitsbegriffs beruhe,99und Anđić nimmt als Motto für sein Drama nicht von ungefähr Ibsens Satz: "Der Freiheitsbegriff schließt die Tatsache mit ein, dass sie unaufhörlich vergrößert 95 Ibid., p. 82. 96 Klotz, Volker: Zatvorena i otvorena forma u drami. Beograd: Lapis 1995, p. 176. 97 Karahasan, Dževad: Dnevnik melankolije. Zenica: Vrijeme 2004, p. 9. 98 Anđić, p. 7. 99 Szondi, Peter: Teorija moderne drame. Beograd: Lapis 1995, p. 89. <?page no="376"?> 376 A lm ir Bašović werden muss." Im Einklang mit diesem Leitspruch wird der Freiheitsbegriff in fast allen Bildern dieses Stücks thematisiert. So spricht Franz Ferdinand zum Beispiel über die Freiheit, als er Sophie seinen Traum erzählt: [...] Und sie können sich selbst nicht ernähren. Deswegen jagen wir sie... Nichts wird ihnen Brot geben, auch wenn sie frei wären, sondern es wird damit enden, dass sie ihre Freiheit vor meine Füße bringen und bitten werden: 'Ernährt uns, und nehmt die Freiheit wieder'. Und sie werden sich davon überzeugen, dass sie niemals frei sein könne, weil sie schwächer, lasterhafter, nichtswürdiger und Rebellen sind. Deswegen muss man auf sie schießen, pam, pam! schießen! schießen! pam! parni... Ich bin ja oben, nur weil ich es auf mich genommen habe, die Freiheit zu erdulden, vor der sie sich erschreckt haben.100 In Ferdinands Spielchen mit Potiorek wird ebenfalls die Freiheit thematisiert: Franz Ferdinand: Und... was denken sie über die Freiheit, Potiorek? Über dieses für alle Menschen interessante Rätsel? Vor allem unter den Menschen auf diesem, eurem Boden? ! Potiorek (denkt nach, dann selbstbewusst): Es gibt keine unnatürlichere und qualvollere Sorge für den Menschen, als wenn er frei bleibt oder frei wird, Eure Hoheit! 101 Auch in den Dialogen, die das zentrale dramatische Verhältnis von Princip und llić aufbauen, dominiert das Thema der Freiheit. So sagt zum Beispiel Princip im dritten Bild zu llić: "dies ist keine Arbeit für diejenigen, die zweifeln und die sich, einen Sklaven, nicht auf dem Altar der Freiheit zu opfern imstande sind... für diejenigen, die ihren noch ungezeugten Kindern zumindest den Namen SLOBODAN [der Freie] mit Recht und Stolz, ohne Angst werden geben können..."102 Im zentralen Bild des Stücks sagt Princip zu llić, dass viele sich dessen nicht bewusst sein würden, dass ihr Werk ein Opfer auf dem Altar der Freiheit sei, und äußert die Überzeugung, dass der Mensch nur unter anderen freien Menschen frei sein könne, dass die Versklavung eines einzigen Menschen die Freiheit aller anderen negiere.103 Im aristotelisch gedachten Drama hat die Dramenhandlung Vorrang vor den Charakteren oder, wie dies Gustav Freytag ausdrückt: Die Charaktere können ihr inneres Leben nur auf der Begebenheit begründen, und diese Begebenheit, wenn sie nach den Bedürfnissen der Kunst ausgerichtet ist, heißt Handlung.104 In der Renaissance drängt sich der dramatische Charakter als Wertzentrum auf und dies beginnt das europäische Drama 100 Anđić 1983, p. 25. 101 Ibid., p. 37. 102 Ibid., p. 20. 103 Ibid., p. 51. 101 Ibid., p. 32. <?page no="377"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 377 entscheidend zu bestimmen; am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts machen es aber verschiedene deterministische Strukturen für den dramatischen Charakter unmöglich, selbstständig zu handeln, und sie stellen seine Integrität in Frage. Anlässlich des existentialistischen Dramas schreibt Szondi: "die wesentliche Fremdheit der Situation und das Perennierende des menschlichen 'Geworfenseins' kann dramatisch nur in einer Flandlung sinnfällig werden, zu deren Besonderheit diese dem Existentialismus zufolge generellen Züge menschlichen Daseins geworden sind".105 So wird im existentialistischen Ideendrama, wie das in seinem programmatischen Text Für ein Situationstheater Sartre betont, der Vorrang der Flandlung vor den Charakteren zur Ausgangsgrundlage. Sartre sagt buchstäblich, dass die Grundnahrung eines Theaterstücks nicht der Charakter ist, der durch ausgewählte "Theaterworte" ausgedrückt wird, sondern die Situation.106 Brechts These über die Bedeutung der Geste übernehmend, bezeichnet Sartre Gesten, die Taten bezeichnen, als Handlungsbild, und schlussfolgert, dass das Theater eine Tat und nichts anderes darstellt.107 Als er über das Ideendrama schreibt, stellt George Steiner fest, dass es aus der Dramenhandlung eine Parabel über eine philosophische oder politische Abhandlung mache, und seine Theaterform sei dadurch fast zufällig.108Anlässlich des Dramas Princip G. sagt Josip Lešić, dass Duško Anđić den Ideen Vorrang vor den Charakteren gegeben hat, so dass, wie bei einer politischen Moralität, in vielen Bildern statt des Dramatischen das Epische und Deklarative überhandgenommen hat.109 Dies wird zum Beispiel durch die Tatsache bestätigt, dass das dritte Bild von Anđićs Drama sich in kausalzeitlicher Flinsicht vor dem ersten und zweiten Bild "abgespielt" hat, was davon zeugt, dass in diesem Drama keine zeitliche Kontinuität vorherrscht, die im Drama die Abwesenheit der Erzählerfunktion wettmacht und die Ganzheitlichkeit der dargestellten Vorgänge gewährleistet, und das Sujet nicht aus Segmenten gebildet ist, die, wie Aristoteles sagen würde, wahrscheinlich oder notwendig auseinander hervorgehen. Außerdem findet bei Anđić in den Regieanweisungen ein Erzählen statt, und anstatt einer neutralen Sprache, die das subjektive Reden der Figuren einrahmen würde, sind sie in diesem Drama ein M ittel für den Autor, seine Meinung zu den Ereignissen und Figuren auszudrücken. Im ersten Bild, nachdem Fer- 105 Szondi 1995, p. 89. 106 Sartre, J. P.: Za pozorište situacije. In: Sartre, J. P.: Izabrana dela, knj. 5. Beograd: Nolit 1981, p. 389. 107 Vgl. ibid. 108 Steiner, George: Smrt tragedije. Zagreb: Centarza kulturnu djelatnost 1979, p. 233. 109 Lešić, Josip: Dramska književnost II. Sarajevo: Institut za književnost, Svjetlost 1991, p. 226. <?page no="378"?> 378 A lm ir Bašović dinand im Wagen stirbt, folgt etwa die Didaskalie: "Und er starb! Leicht und schnell, ohne Zeit zu haben, noch einmal über alles besser und klüger nachzudenken. Und das hätte man machen sollen, wenn man ungebeten zu diesem oder zu solchen Völkern kommt. Jetzt war es viel zu spät".110 Dann, nachdem der Inspektor im Gefängnis Princip zu schlagen beginnt, steht in Anđićs Didaskalie: "Und er hätte so weiter gemacht, bis er ihn umgebracht hätte, doch zum Glück unterbricht ihn Ivasjuk, als er von seinem Anzug Kaffeeflecken abwischt."111 Eine solche in den Regieanweisungen vertretene Haltung Anđićs hat auch für das Stück als Ganzes eine gewisse Bedeutung, denn wie Lešić feststellt, "existieren Princip und seine Freunde in Anđićs Drama nicht als Menschen, sondern nur als Lautsprecher für die Ideen des Schriftstellers."112 Anđićs Anlehnung an das existentialistische Drama bestimmt natürlich auch das Bild Gavrilo Princips in diesem Stück. So wie er sein Drama als einen Disput über die Möglichkeiten der Freiheit des Grundthemas des existentialistischen Dramas aufbaut, so thematisiert Anđić auch den Status, den der dramatische Charakter im Ideendrama einnimmt. Im dritten Bild nämlich, als Princip zu Ilic über den Sinn des Attentats spricht, ist es, als würde er auch den Status, den seine Figur in diesem Drama hat, definieren: Princip: Ohne meine Idee existieren auch ihre Ideale nicht. Selbst die Idee, die nur Sinn ist, und nicht der Hände Werk ist wertlos. Schau dir den Adler an, während er fliegt. Er ist wie alle anderen Vögel, auch der Größe nach, denn er fliegt viel höher, als alle anderen. Ich habe ihn tagelang über dem Karst der Dinariden beobachtet. Wunderschön und würdig sieht er aus, aber keinerlei Nutzen davon. Erst wenn er sich wie ein Donner vom blauen Himmel stürzt und in einem einzigen Augenblick, so dass du nicht einmal mit der Hand winken kannst, das fetteste Lamm greift, siehst du die riesigen Flügel und die blutigen Fänge, du spürst seine Kraft. Erst dann siehst du den wahren Wert dieser himmlischen Schönheit. Erst dann wird diese Würde, diese Übermacht und die verborgene Weisheit in ihren realen Sinn überführt. (...)113 Gerade weil es sich hier auch um ein Drama handelt, in dem, wie das für Ideendramen George Steiner sagt, "w ir Stimmen hören, und keine Figuren",114 wird Princip als ein Bild aufgebaut, das im Dramaganzen fast durch ein anderes Bild ersetzbar ist. Darauf weist zum Beispiel die Tatsache hin, dass in seinen Überlegungen zur Herrschaft Princip dem Thronfolger näher ist als der Meinung von Danilo llić. Franz Ferdinand sagt zu Sophie, 110 Anđić 1983, p. 11. 111 Ibid., p. 54. ш Lešić 1991, p. 227. 113 Anđić, p. 17. 114 Steiner, p. 233. <?page no="379"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 379 dass er manchmal seine Brüder beneide, dass er manchmal denkt, wie ihn der Fluch des dritten Bruders heimsuche, denn er müsse herrschen; 115 Princip sagt zu Nie, dass er sich dessen bewusst sei, dass "in der Komödie der Herrschaft der Vorhang niemals fällt" und dass er wisse, dass es keine Ordnung gebe, die allen seinen idealistischen Anforderungen gerecht werden würde, aber er habe keine Absicht zu herrschen, denn man könne nicht herrschen und unschuldig bleiben.116 Franz Ferdinands und Princips Stimmen werden auch durch ihre Haltung zum Tod verbunden, denn Ferdinand fragt Sophie, ob die Tatsache, dass sie sich in einem fremden Land befinden, vielleicht nur ein Schicksalsspiel, eine göttliche Versuchung oder eine Versuchung der Menschen um sie herum sei, und dann fügt er hinzu: "Sollen wir töten oder getötet werden? "117 Princip zeigt llić das Kaliumzyanid, das er aus Belgrad mitgebracht hat, und vergleicht seine bevorstehende Tat mit einem Selbstmord. Er schließt seine lange Rede mit den Worten: "Franz Ferdinand und ich verlassen diese Welt zusammen, alle beide schuldig für einiges."118 Im Unterschied zu Sidrans Princip, dessen Verbindung mit Jesus "von innen heraus", durch die Verknüpfung von zwei Begriffssystemen suggeriert wird, kann Anđićs Princip seine Verbindung mit Jesus als dem berühmtesten Mediator zwischen Leben und Tod nur von außen hersteilen, und diese Verbindung muss zusätzlich kommentiert werden. Als er Princip die Originalität seiner Foltermethoden erklärt, sagt nämlich Ivasjuk: Ivasjuk: [...] Das ist dieses Kreuz, an das wir, so... den Behandelten aufhängen, so dass w ir auf diese Weise dieselbe Wirkung aber viel bessere Resultate erreichen. [...] Hier können w ir jedoch die Streckung der Glieder kontrollieren, so dass es uns praktisch unendlich möglich ist, die Zeit zu verlängern, und die Resultate sind entzückend und faszinierend. Schließlich kommt hier auch die Symbolik auf ihre Kosten. Das ist ein Kreuz. Alles geschieht also im Namen Gottes: Gerechtigkeit und Wahrheit kommen zum Vorschein, und der Befragte, auch wenn mancher das Gefühl haben mag, dass er draufgeht-geht am Symbol des Lebens und des Todes drauf, des Gottgegebenen, so dass es ihm zumindest in dieser Hinsicht viel leichter fällt. Tatsächlich, ich habe es noch nicht geschafft, Sie zu fragen, auch wenn Sie mir nicht Gott-weiß-was gesagt haben. Sind sie ein Theist oder ein Atheist? 119 Es ist nicht zufällig, dass die Parallele zwischen Princip und Jesus in diesem Drama durch die Rede und Handlung Ivasjuks eingeführt wird, einer Figur, 115 Anđić, p. 24. 116 Ibid., p.51f. 117 Ibid., p. 24. 118 Ibid., p. 52. 119 Ibid., p.55f. <?page no="380"?> 380 Almir Bašović die von Pfeffer als Idiot und kranker Mensch bezeichnet wird.120 Die Pathologie ist, sagt anlässlich des modernen Dramas György Lukäcs, die einzige Möglichkeit für undramatische Personen und Situationen, dramatisch zu werden, und nur sie kann dem Handeln eine solche Konzentration, den Gefühlen eine solche Intensität geben, dass die Tat und die Situation symbolisch werden, nur das kann die Figuren das Gewöhnliche und Alltägliche überwinden lassen.121 4. Princip und Prinzipien In seiner Erzählung Das Prinzip Gabriel (2007) baut Dževad Karahasan ein Bild von Princip auf, indem er archetypische Motivik und pathologische "Gefühlsintensität" verknüpft. Dieses Bild wird nämlich durch Princips Aussagen über sich selbst und seine Tat erzeugt, die er im Gefängnis im k.u.k. Militärgefängnis Theresienstadt tätigt, wo er im Fieber die letzten Tage seines Lebens verbringt. AufdieVerbindung m it dem archetypischen Helden weist auch die Tatsache hin, dass Princip sich selbst als Erzengel der Verkündigung erlebt (Gavrilo - Gabriel), also als jemanden, der das Chaos 'kosmogonisiert' und ein neues Zeitalter ankündigt. Außer dem eigenen Namen fü h rt er als klares Zeichen seiner Mission auch die Tatsache an, dass er während des Attentats sein Gesicht vom Ziel abgewandt hatte, und dennoch seien diejenigen, auf die er geschossen habe, tot: D.h., er habe zwar geschossen, aber "gezielt hat ein anderer".122 Princip sagt, dass, nachdem sich Gott dreimal gezeigt habe (auf dem Sinai, in Palästina und in Mekka), m it ihm als dem vierten Erzengel Gabriel das Quadrat die Form der Vollendung und der Ganzseins geschlossen würde und som it der Herrschaftszyklus des Einen Gottes vollendet sei.123 Des Weiteren erinnert Princip daran, dass das erste Mal Erzengel Gabriel sich als die Tafel m it den zehn Geboten, das zweite Mal als das W ort und das dritte Mal als der Geist gezeigt habe, während er das vierte Malals Explosion erscheint. Das erste Mal rief er zur Ordnung, das zweite zur Liebe, das dritte Mal rief er zum Frieden, und nun riefe er "zur Gewalt, zum Werk, zur nackten Macht."124Obwohl er in seinem Fieberwahn mehrmals die Worte "Ich verkündige! " wiederholt weiß Princip gar nicht, was er verkündet: 120 Ibid., p. 68. 121 Lukäcs, György: Istorija razvoja moderne drame, Beograd: Nolit 1978, p. 114. 122 Karahasan, Dževad: Izvještaji iz tamnog vilajeta. Sarajevo: Dobra knjiga 2007, p. 132. Deutsche Übers, von Brigitte Döbert: Berichte aus der dunklen Wett. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 2007. ,2! Ibid. 122 Ibid., p. 133. <?page no="381"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 381 Ich bin die Hand, nur die Hand, das habe ich gesagt. Eine willige, bereitwillige Hand, daran ist kein Zweifel, eine Hand, die freiwillig tat, was sie tun mußte, deswegen glückte das Werk auch so gut, doch trotz allem bleibt die Hand eine Hand. Sie kann nicht wissen, was im Kopfe, in der Seele, was im Willen hinter dem Kopfe und der Seele ist. ich weiß, daß ich mit einer Explosion das neue Zeitalter angekündigt habe, denn das kann nur kommen, wenn es der Erzengel Gabriel verkündet hat, aber ich kann nicht wissen, was es bringt, ich kann nur das wissen, was ich tun mußte.125 Die Art und Weise, auf die in dieser Erzählung die Figur von Gavrilo Princip behandelt wird, ist charakteristisch für Karahasans Poetik im Allgemeinen. Seine Erzähltechnik zeugt nämlich immer von seinem Bestreben, durch die Kombination der Außen- und der Innenperspektive die höchstmögliche Ebene der Objektivität zu erreichen, so dass in dieser Erzählung Princips subjektive Rede, die aufgrund seines Fieberwahns am Rande des Verstehbaren liegt, den Leser in Form des völlig neutralen Berichts von Dr. Levitan erreicht, dem Princips amtlicher Arzt Dr. Pappenheim den Auftrag gibt, "m it dem Patienten so viel Zeit wie möglich zu verbringen und seine Äußerungen so getreu wie möglich niederzuschreiben".126 Den Transkripten von Princips feurigen Reden gibt der Erzähler den Titel "Tagebuch der Beobachtung", was ebenfalls auf eine Kombination der subjektiven, persönlichen (Tagebuch) und der äußeren, auf einem Subjekt-Objekt-Verhältnis begründeten Fierangehensweise (Beobachtung) hinweist. Die Notizen zu Princip umfassen die letzten Monate seines Lebens, und Karahasan wählt einen Zeitpunkt aus, der einige Jahre nach dem Attentat angesetzt ist. Er versetzt Gavrilo also in eine Situation, die im Verhältnis zur Tat zum Attentat durch eine gewisse Distanz gekennzeichnet ist, was die Möglichkeit eröffnet, dass diese Tat in Princips Geist mehr oder weniger eine Form animmt. Princip behandelt an mehreren Stellen seine "kollektivistische" Handlung als eine Tat, die eine klare Trennung in "w ir" und "sie" herstellt. Der Arzt, der Princips Aussagen niederschreibt, aus Novi Sad stammend, hält in seinen Notizen fest: Versuchte herauszufinden, wen er mit "uns" und "ihnen" meint, bin nicht sicher, ob es mir gelungen ist. Vermute, daß "sie" die Westler, "w ir" die Serben, vielleicht auch die Slawen insgesamt sind, kann die Vermutung aber nicht belegen. Würde sagen, daß er mich als einen von "uns" empfindet, was ein gutes Zeichen wäre.127 125 Ibid., p. 133. 126 Ibid., p. 128. 127 Ibid., p. 131. <?page no="382"?> 382 A lm ir Bašovic Indem er die Welt in "w ir" und "sie" trennt, spricht Princip in seinen Monologen verschiedene Bereiche an, wie Ideologie, Politik, Wirtschaft, Geschichte oder Kultur, so dass man fast meinen könnte, dass aus diesen Monologen postkoloniale Grundthesen durchscheinen: Erst schickten sie Händler, dann Soldaten. Heute schicken sie Lehrer und Wissenschaftler. Die Lehrer bräuchten wir, sagen sie, für neue Schulen, sie wollten uns Bildung bringen und eine bessere Zukunft. Aber in ihrer Sprache, so daß unsere Kinder, wenn sie sich für diese Zukunft entscheiden, Gott morgen in der einen und ihre M utter in der anderen Sprache anreden. Wenn das geschieht, wann werden wir uns vereinigen und wiedererkennen? ! 128 Auf die Feststellung des Arztes, dass die Schule immer gut sei, mag sie auch in einer anderen Sprache sein, bemerkt Princip, dass aus Bruchstücken kein Glück erwachse und dass der Mensch zerbrochen sei, wenn sein Verstand in der einen, sein Gefühl in der anderen und die Seele sowie seine Erinnerung in einer dritten Sprache reden; dies ziehe bloß folgende Fragen nach sich: "Wo bleibe ich da? Wie soll ich da jemals m it mir selbst Zusammenkommen? "129 In diesem schmerzhaften Monolog Princips scheint auch eine der wichtigsten Problemstellungen der postkolonialen Kritikangesprochen zu werden die Frage der Spaltung des Subjekts - und durch die Wiederholung der Aussage "sie haben Angst vor m ir"130 scheint Princip auch den heutigen "Zustand der Dinge" in der westlichen Gesellschaft als eines angsterfüllten Kollektivs anzukündigen. Alles, was Princip in dieser Erzählung ausspricht, ist aber bloß ein Teil des Bildes, das Karahasan von ihm darbietet. Durch die Vervielfältigung von Rahmen multipliziert Karahasan auch die möglichen Lesarten der Erzählung und macht dadurch gleichzeitig auch das Bild von Princip in höchstem Maße komplex. Diese Rahmen werden in technischem Sinne als eine spezifische Vervielfältigung der Vermittlerinstanzen zwischen Princips Aussagen und uns Lesern realisiert: Zu den Transkripten von Princips Aussagen kommt der Erzähler nämlich nur, indem er nach Tschechien, in das Gefängnis von Theresienstadt reist und dort zufällig auf einen Wächter namens František Krylin Franta stößt, der ihn in die Zelle, in der Princip gefangen gehalten wurde, führt und ihm am Ende einige Blätter in die Hand drückt. Franta erzählt dem Erzähler mit viel Leidenschaft Fakten aus Princips Leben, und mit Hilfe von Zahlenmystik und deren geheimer Kraft verbindet er das Datum des Attentats, das Datum von Princips Einlieferung ins Gefäng- 128 ibid. 128 ibid. 130 Ibid., p. 135. <?page no="383"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 383 nis und das Datum seines Todes. Das Treffen des Erzählers mit Franta endet m it einem geschäftlichen Gespräch, denn bei ihrem Abschied gesteht Franta dem Erzähler, dass er für ein paar Flundert Dollar ein Transkript aller Notizen über Gavrilo Princip erstellen würde, und für ein paar Tausend Dollar würde er auch das originale Notizbuch und dasTranskript verkaufen.131 Die erhabene Mystik aus Gavrilos Monologen wird somit durch ihre parodistische Komponente ergänzt, denn sie werden aus der Perspektive einer lebhaften, komischen Figur behandelt, die sowohl Princips Lehren als auch den ganzen Fall bloß als eine gute Verdienstmöglichkeit ansieht. Die Besonderheit von Karahasans Rahmenaufbau in dieser Erzählung spiegelt sich auch in der Art und Weise, wie er diese Erzählung beendet: Es werden die Gründe angeführt, warum sich der Erzähler nicht noch einmal m it Franta treffen kann, um eventuell einige Lücken im "Tagebuch der Beobachtung" zu ergänzen. Nachdem er nämlich den Auszug aus den Notizen über Princip, die Franta als Köder für einen eventuellen Käufer betrachtet, gelesen hat, entscheidet sich der Erzähler, auf seinem Weg nach Dresden einen Abstecher nach Theresienstadt zu machen, um dort wieder m it Franta zu reden und um in sich etwas zu überprüfen, "das mir ständig entwischte und sich nicht klar zeigen mochte."132 An der österreichischtschechischen Grenze jedoch wird er aus dem Zug geholt, weil er kein Visum für Tschechien hat. Der Erzähler war auf dem Weg nach Dresden, um dort an der Aufführung einer Oper des russischen Autors Mussorgsky mitzuarbeiten, so dass sich am Ende dieser Erzählung Bosnien, Österreich, Tschechien, Russland und Deutschland 'treffen'; die Unmöglichkeit, die Grenze zu passieren, scheint zu suggerieren, dass Trennungen und politische Zersplitterung auch wichtige Folgen des Attentats von Sarajevo und des Ersten Weltkriegs sind. Das steht ganz im Einklang mit Karahasans Behauptung, dass die Bedeutung eines Ereignisses anhand seines symbolischen Umfangs zu messen sei133, was uns wiederum zu einem neuen Rahmen in dieser Erzählung führt. Im Nachwort zur Erzählsammlung Berichte aus der dunklen Welt erörtert Karahasan gerade diesen symbolischen Gehalt des Attentats von Sarajevo und schreibt, das 20. Jahrhundert habe am 28. Juni 1914 mit der Ermordung des Thronfolgerpaares der Flabsburger Monarchie begonnen und einen unübersichtlichen Ozean von Folgen ausgelöst, so dass es unmöglich sei, sie aufzuzählen. Eine der wichtigeren Folgen sei der Erste Weltkrieg, nach dem sich in vielen Ländern Europas die für das Europa 131 Ibid., p. 129. 132 Ibid., p. 137. 133 Karahasan, Dževad: Dosadna razmatranja. Zagreb: Durieux 1997, p. 30. <?page no="384"?> 384 A lm ir Bašovic des 20. Jahrhunderts charakteristische politische Gesellschaftsform zu entwickeln begann. Den Beginn und das Ende des 20. Jahrhunderts mit Sarajevo, das Attentat von Sarajevo m it der Belagerung dieser Stadt verknüpfend, schreibt Karahasan: Das Intermezzo der für das 20. Jahrhundert charakteristischen bürgerlichen Demokratie endete am 6. April 1992 in Sarajevo, vier Brücken flußabwärts der Lateinerbrücke. An diesem Tag wurden auf der Vrbanjabrücke Suada Dilberović und Olga Sučić ermordet. Sie demonstrierten gegen einen Krieg, der offiziell mit ihrer Ermordung begann. Wieder zwei Opfer, wieder eine Brücke in Sarajevo und wieder ein Krieg, mit dem etwas Neues begann. Wir können noch nicht wissen, was da begann, w ir wissen nur, daß es im Endstadium der politischen Gesellschaftsform einer bürgerlichen Demokratie, wie wir sie im 20. Jahrhundert kennengelernt haben, nicht im geringsten ähneln wird. Und w ir wissen, daß dieses Neue mit dem bosnischen Krieg 1992-1995 begonnen hat, der sich vornehmlich durch eine Gegenaufklärung auszeichnete und jene Werte kompromittierte, auf denen die bürgerliche Demokratie aufbaut.134 Der Rahmen der Erzählung Das Prinzip Gabriel wird also mit dem ganzen Band Berichte aus der dunklen Welt verbunden, und dieses Buch tritt auch m it seinem Titel in einen Dialog m it dem westlichen Blick auf Bosnien, mit dem Konstrukt, der zu großen Teilen auch als ein Resultat der bosnischen Literatur des 20. Jahrhunderts entstanden ist, also einer als 'Vermittlung' oder 'Übersetzung' von Bosnien und der bosnischen Kultur in eine dem Westen verständliche Sprache begriffene Literatur. (In diesem Sinne stellt Karahasans Erzählung Briefe aus dem Jahr 1993 eine unverhüllte Fortsetzung der so häufig missbrauchten Erzählung Briefaus dem Jahr 1920 von Ivo Andrić dar, und die Erzählung Karl der Große und die traurigen Elefanten ließe sich sowohl aufgrund ihres Themas als auch aufgrund ihrer Erzähltechnik als ein Dialog mit Andrics Geschichte vom Elefant des Wesirs.) Karahasan verbindet die dunkle Welt mit der Reise als einem der ältesten Motive in der Literatur, und das "Wesen des dunklen Ortes, der Stimme und der Wahrheit, die es in dieser Geschichte entdeckt, ist im mer im Einklang m it dem Charakter der Reisenden und den Gründen ihrer Reise."135 Karahasan schreibt weiter, dass dies in der Natur des dunklen Ortes ständig etwas verändere, aber dass dessen Sein unveränderlich ist, denn "zu allen Zeiten und in allen Kulturen galt er als Zwischenwelt, als historische (in der Zeit bestehende) Flypostase des ursprünglichen Chaos, aus dem einst alles entstand, als Nicht-Ort oder 'anders gearteter Ort', anders als alle möglichen Orte der materiellen Welt, [...] als 131 Karahasan 2007, p. 184. 135 Ibid., p . 177. <?page no="385"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 3 8 5 Ort also, an dem das Reale eine in der wirklichen W elt unvorstellbare Intensität erreicht."136 Es ist nicht zufällig, dass Karahasan die Tradition des dunklen Ortes am Beginn des Nachworts mit den eleusinischen Mysterien, also mit einem der wichtigsten vegetativen Kulte, verbindet und dass die Erzählung Das Prinzip Gabriel auf den Wechsel der Jahreszeiten referiert, denn die Kapitel in dieser Erzählung haben die folgenden Überschriften: "Eine Beichte im Frühling", "Eine Unterhaltung im Sommer", "Eine Frage im Herbst" und "Ein W inter ohne Folgen". Die Erzählung beginnt im Frühling, also zu einer Jahreszeit, die mit verschiedenen archetypischen Motiven, in deren M ittelpunkt die Auferstehung steht (von der Geschichte von Dionysos bis Jesus), in Verbindung steht, und gerade eine solche Einteilung der Erzählung in Kapitel verbindet sie organisch mit dem Buchganzen. Meletinskij schlussfolgert, als er über den Mythos schreibt: Der Schöpfungsmythos ist der grundlegende Mythos ein Mythos par excellence. Der eschatologische Mythos ist bloß ein umgekehrter Schöpfungsmythos über den zumeist vorübergehenden - Sieg des Chaos (durch eine Sintflut, ein Feuer o. ä., über das Ende der Welt oder das Ende der kosmischen Epoche). Etwas Dazwischenstehendes stellen die Kalendermythen dar, in denen der vorübergehende Tod der Natur, häufig personifiziert in der Gestalt eines Gottes oder Helden, stirbt-wiederaufersteht, deren Erneuerung dient.137 Indem er als Implikationen von Princips Tat den Beginn des 20. Jahrhunderts und die Entstehung eines neuen Zeitalters einführt, führt Karahasan eine Parallele zum Schöpfungsmythos ein, aber m it der Belagerung Sarajevos fü h rt er gleichzeitig die Parallele m it einem eschatologischen Mythos ein und them atisiert das Ende einer Epoche, das Ende der Welt der bürgerlichen Demokratie. Gerade weil sie sich m it einem historischen Ereignis und einer historischen Person befasst, fü h rt diese Erzählung durch ihre vielfachen Rahmen vor Augen, in welchem Ausmaße verschiedene ideologische Konzepte sowohl die dunkle Welt als auch die W irklichkeit, die sich an diesem Ort am intensivsten offenbart, reduzieren. Somit ließe sich sagen, dass die Logik, nach welcher Karahasan sowohl das Bild der dunklen Welt als auch das Bild Gavrilo Princips konstruiert, sich nicht auf einer entweder-oder-Logik des Ausschlusses, sondern auf einem sowohlals-auch-Prinzip der Einbindung, der auch für die Logik des Mythos charakteristisch ist, gründet. Boris Uspenskij verbindet dieses Phänomen, als er über die Bedeutung des Rahmens für die Gestaltung des gesamten Kultursystems schreibt, mit der Darstellung der Art und Weise, wie man 136 Ibid., p. 179. 1! 7 Meletinski 2011, p. 21. <?page no="386"?> 386 A lm ir Bašović die Welt e rle b t/ 38 und davon zeugt noch ein Rahmen in der Erzählung Das Princip Gabriel. Über den Rahmen begegnen sich nämlich Gavrilo Prinzip und der zweite wichtige Held dieser Geschichte der Komponist Viktor Ullmann (1898-1944). Der Erzähler kommt nach Theresienstadt, weil er sich, als er anlässlich des hundertjährigen Geburtstags von Ullmann eine Aufführung vorbereitete, davon überzeugen konnte, dass das Leben dieses Komponisten einer gut erzählten Geschichte ähnelt, und so wollte er das Gefängnis sehen, in dem Ullmann vor seinem Transport nach Auschwitz, wo er zwei Tage später hingerichtet wurde, festgehalten wurde. Ganz im Sinne der Natur von Theresienstadt, die ein Freund des Erzählers wegen der seltsamen Geschichte des Ortes mit einem Spiegel vergleicht,138139 erfährt der Erzähler nichts über Ullmanns letzte Tage, sondern er stößt auf Franta und Princips Geschichte, vor der er sein ganzes Leben lang davongelaufen war. Indem er Ullmanns und Princips Aufenthalt in Theresienstadt verknüpft, stellt Karahasan zwei historische Personen nebeneinander, was wohl mit dem dramatischen Prinzip der Dialogizität, das Michail Bachtin bei Dostojewskij beobachtet hat, zusammenhängt, was wiederum sein Bestreben zeigt, die Etappen in ihrer Gleichzeitigkeit zu begreifen, und sie nicht in eine Reihe zu verbinden.140 So wird aus einer neuen Perspektive, ganz im Einklang mit der Vorstellung von Theresienstadt als einem Spiegel, das Bild von Gavrilo Princip beleuchtet. So hat zum Beispiel der Erzähler mit seinem Freund, einem Regisseur, in eines der Theaterstücke auch Ullmanns Oper Der Kaiser von Atlantis einbezogen, was man als ein Spiegelbild von Princips Verhältnis zum Thronfolger eines Landes, das wie Atlantis in einem Krieg zerfallen war, auffassen könnte. Ebenfalls ist Gavrilo/ Gabriel ein Erzengel, der sich selbst als jemanden begreift, der ein neues Zeitalter ankündigt, und als jemanden, der dramatisch versucht, den gegenwärtigen Zeitpunkt zu reflektieren, und der Erzähler sagt über Ullmann, dass eine der Grundlagen für dessen Größe in dessen M ut und Fähigkeit, unzeitgemäß zu sein, lag, weil er es geschafft hat, sich selbst aus der Perspektive der Ewigkeit zu denken.141 Des Weiteren ist Princip derjenige, der es geschafft hat, wegen seiner Tat in der Außenwelt berühmt zu werden, während Viktor Ullmann im Konzentrationslager ohne Klavier und Notenpaper komponiert und sein Vertrauen in die Natur der ästhetischen Emotion bewahrt, die sich, wie dies beispielsweise Ivor Armstrong 138 Uspenski, Boris: Poetika kompozicije. Semitoika ikone. Beograd: Nolit 1979, p. 194. 139 Karahasan 2011, p. 119. 140 Bahtin, Mihail: Problemi poetike Dostojevskog. Beograd: Zepter Book Wodd 2000, p. 30. 141 Karahasan 2011, p. 114. <?page no="387"?> Literarische Bildervon Gavrilo Princip 387 Richards zeigt, in sich selbst erschöpft und niemals zu einer Aktion in der Außenwelt aufruft.142 In diesem Sinne schreibt Karahasan: "Ullmann war auch im Lager frei, er hatte genug Geist, um den Stoff des Lebens durch die Form zu überwinden, und die künstlerische Form des Lebens ist nichts anderes als die Freiheit."143 Dieses Bild des Komponisten beleuchtet auch das Bild Princips, denn Ullmanns Vertrauen in die Kunst, mit der man das Leben überwindet, steht als Spiegelbild für Princips Überzeugung, die er in den Versen "Wer leben will, soll sterben, / Wer sterben will, wird ewig leben" und im Satz, den er im Gefängnis in Theresienstadt niederschrieb: "Unsere Schatten werden in Wien herumziehen, die Flofburg durchstreifen und die Herrschaften erschrecken" zum Ausdruck brachte. Der Erzähler von Karahasans Erzählung Das Prinzip Gabriel sagt über das Attentat von Sarajevo, es sei "einer der vielen Vorfälle aus der ruhmreichen Vergangenheit meiner Völker, von denen ich nichts wissen und über die ich nicht nachdenken wollte, weil sie zu viel Unentwirrbares, Unbegreifliches, Bedrohliches und Düsteres enthalten, also zu viel von dem, was ich lieber vermeiden wollte."144Vor solchen Ereignissen kann uns, suggeriert Karahasan, nur gute Kunst retten, und das Schicksal von Viktor Ullmann scheint uns vor noch einer aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen Implikation zu warnen. Wie ein tiefer Schnitt im kollektiven Erleben der Zeit, und im Einklang m it dem hier erörterten Verhältnis zwischen dem Ereignis, m it dem er begann, und den archetypischen Sujets, veränderte der Erste Weltkrieg nicht nur das Bild der diesseitigen, sondern auch der jenseitigen Welt. Das Schicksal von Viktor Ullmann scheint uns daran zu erinnern, dass im Ersten Weltkrieg, der m it der ganzen Menschheit zu tun hatte, die Idee gezeugt wurde, nach welcher, wie Günther Anders es sagt, wir heutige Menschen nicht sterblich, sondern primär tötbar sind.145 Übersetzt von Naser Šečerović Richards, Ivor Armstrong: Načela književne kritike. Sarajevo: Veselin Masleša 1964, p. 170f. 113 Karahasan 2011, p. 115. 111 Ibid., p. 124. 115 Anders, Günther: Zastarelost čoveka. Beograd: Nolit 1985, p. 254. <?page no="389"?> N aser Š ečerović (S arajevo ) Der Mensch in der Geschichte Die Suche nach dem "neuen Menschen" in den Dramen Das Gelobte Land von Borivoje Jevtić und Die Blutdämmerung von Ahmed Muradbegović Triggered by the major crisis of Modernity in the early 20th century, the search of the Expressionists for a "New (Hu)Man" was not restricted to Germany and Western Europe, but also influenced Bosnian writing, e.g. Borivoje Jevtić and Ahmed Muradbegović with their theatre plays Promised Land. Princip and Blood Dawn. Juxtaposing these two in this paper will reveal two important aspects of Bosnian- Herzegovinian literature and culture in the 20th century. Jevtić's drama, on the one hand, using elements from tragedy and epic along with biblical motifs, stylizes Gavrilo Princip as freedom fighter against foreign occupation and as a martyr: a representation through which the assassin loses all characteristics of an individual, which proved to be very influential for the further reception of this historical figure in Bosnia and Yugoslavia. On the other hand, Muradbegović's drama shows the complete collapse of Ekrembeg returning from war, his wife and the 'old world' represented by his family. The chaos of the armed conflict continues in times of peace and the characters are just "naked humans" reduced to their mere instincts. Das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, also auch die Jahre, in denen der Erste Weltkrieg wütete, wurde im deutschsprachigen Gebiet von der expressionistischen Kunst geprägt, und zwar dergestalt, dass diese Periode häufig als das "expressionistische Jahrzehnt"1bezeichnet wurde auch wenn eine solche Charakterisierung dieser im künstlerischen Sinne außerordentlich heterogenen Epoche etwas übertrieben anmuten mag. Trotz zahlreicher Versuche, den Expressionismus auf eine bestimmte Poetik zurückzuführen oder ihn mit Hilfe seiner stilistischen Eigenschaften zu erfassen, ist dasjenige, was die einzelnen Vertreter dieser Kunstrichtung verbindet, in erster Linie ein Grunderleben "der Erschütterung über den Zustand von Mensch und W elt".2Aufden Bereich der Kunst übertragen, äußert sich 1 Vgl. z. B. Leiß, Ingo / Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte. Band 8: Wege in die Moderne 1890-1918. München: DTV 32004, p. 309. Denkler, Horst: Das Drama des Expressionismus. In: Rothe, Wolfgang (Hg.): Expressionismus als Literatur. Bern: Francke 1969, p. 125. <?page no="390"?> 390 Naser Šečerović diese Erschütterung in einer Weltwahrnehmung, die sich nicht mehr mit den künstlerischen Mitteln der Naturalisten ausdrücken lässt; es handelt sich also um ein vollkommen anderes Verhältnis zwischen der Kunst und der Wirklichkeit, als dies bei den Naturalisten noch der Fall war. Während diese nämlich ihre Kunst als eine Art wissenschaftliches Instrument, das die vollständige Registrierung der Wirklichkeit als Ideal hatte, auffassten hier genügt es, sich die berühmte Formel von Arno Flolz in Erinnerung zu rufen, welche lautet: Kunst = Natur x, wobei x die künstlerischen Reproduktionsmittel und die Flandhabung des Künstlers darstellt und gegen Null zu tendieren hat3- , ist bei den Expressionisten dieses Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und der Kunst zerrüttet. Die klassische Auffassung, wonach die sekundäre Kunst die primäre Wirklichkeit nachahmt, genügt ihnen nicht mehr, denn solche Kunst ist nicht mehr in der Lage, die immer komplexere Wirklichkeit und das Chaos, in das sich die Welt verwandelt hatte, zu bewältigen. "Der Expressionismus wächst und nährt sich aus der Chaotisierung der menschlichen Beziehungen",4die ihren Flöhepunkt im Ersten Weltkrieg erlebte. Die schreckliche "Schockerfahrung der Weltkriegsgeneration, die alle vorherigen Maßstäbe von Verhalten und Ethos ungültig werden ließ und in ein Orientierungsvakuum führte",5 machte eine neue Orientierung notwendig, neue Maßstäbe, die in der Lage wären, das neuentstandene Vakuum zu überwinden. Es ist also eindeutig, dass der Expressionismus einen Ausdruck der Krise und den gleichzeitigen Versuch der Überwindung dieser Krise, die Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts heimgesucht hatte, darstellte. Der Expressionismus trachtet also nicht danach, die bestehende Welt darzustellen, er möchte sie vielmehr verändern; er möchte in dieser Welt intervenieren. Die Expressionisten versuchen demnach, das naturalistische Konzept der Kunst-Schöpfung umzustülpen, indem sie eine "neue Ästhetik" forderten, "die ihr Ziel in der über das Ästhetische hinausreichenden Wirkung begreift und die von Friedrich Koffka seinerzeit sogar als "ethische Tat"6gedeutet wurde. Der Expressionismus möchte in einem gewissen Sinne das Bild der Welt bieten, wie sie einst aussehen könnte; er ist Ausdruck des "Wille[ns], das Kunstwerk in den Dienst der Idee zu stellen und mit den Mitteln der Kunst für die Idee zu werben".7 Damit eng verbunden ist die Tatsache, dass die Expressionisten sich in ihrer Kunst häufig 3 Vgl. Holz, Arno: Die K unst-IhrW esen und ihre Gesetze. Berlin: Wilhelm Issleib 1892, p. 26f. 4 Hübner, Friedrich Markus: Der Expressionismus in Deutschland. In: Best, Otto F. (Hg.): Theorie des Expressionismus. Stuttgart: Reclam '1982, p. 44. 5 Bayerdörfer, Hans-Peter: Dramatik des Expressionismus. In: Mix, York-Gothait (Hg.): Naturalismus. Fin de siede. Expressionismus. 1890-1918. München, Wien: C. Hansel 2000, p. 549. 6 Zit. nach Denklei 1969, p. 128. 7 Ibid., p. 128. <?page no="391"?> DieSuche nach dem "neuen Menschen' 391 rhetorischer und demagogischer Mittel bedienen, um dem Publikum ihre Ideale schmackhaft zu machen, so dass vermutlich zum ersten Mal in der deutschsprachigen Literatur "die Sprache der Ideologie integrierender Teil der Literatursprache"8 wird. Jedoch verwendet der Expressionismus nicht nur bereits bekannte rhetorische und demagogische Mittel, er neigt auch zu einer "Häufung mythischer, religiöser Bilder und Formeln aus allen Zeitaltern, Religionen und Kulturen"; 9zudem ist ihm auch "ein gewisser Eklektizismus hinsichtlich älterer Formbestände"10 eigen. Daher verwundert es nicht, dass der Faschismus und der Nationalismus es geschafft haben, den Expressionismus bewusst für die eigene Sache einzuspannen.11 Im expressionistischen Einsatz für die Idee ist es besonders wichtig zu betonen, dass im M ittelpunkt des Ganzen der Mensch stand, sowie "die im Expressionismus zur Darstellung kommende grundlegende Strukturkrise des modernen Subjekts, [...] die [...] vielfältig begründet ist: ökonomisch, politisch, sozialpsychologisch, weltanschaulich und wesentlich erkenntnistheoretisch."12 Diese Krise des modernen Subjekts steht im Hintergrund aller expressionistischen Werke. Die bereits angesprochene "expressionistische Revolution spielt sich folglich nicht in der Außenwelt ab, sondern im Menschen selbst, denn sie fordert nicht in erster Linie eine neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung, sondern den 'neuen Menschen', der durch einen Akt geistiger Reinigung entstehen soll."13 Es sind demnach nicht mehr ästhetische Kategorien, welche die Kunst bestimmen und zu denen sich die Kunst zu positionieren hat. Ganz vorne stehen vielmehr Erneuerung, geistige Reinigung, die Idee, also ausschließlich Kategorien, die ihren Ursprung außerhalb der Kunst haben. Derexpressionistische 'neue Mensch' soll diejenigen Werte in sich verkörpern, die helfen sollen, das existierende Vakuum zu überwinden; aus ihm soll eine neue Welt entstehen. Aber der neue Mensch trägt auch die andere Seite seiner selbst in sich, dasjenige, das überwunden werden muss. Da der Erneuerung eine völlige Zerstörung voranzugehen hat, vereint der Expressionismus in sich "ebensosehr die Sehnsucht nach einem heilen Ich [...] wie seine Aushöhlung und sein[en] Verfall."14Aus eben diesem Grunde 8 Thomas, R. Hinton: Das Ich und die Welt: Expressionismus und Gesellschaft. In: Rothe, Wolfgang (Hg.): Expressionismus als Literatur. Bern: Francke 1969, p. 31. 9 Bayerdörfer 2000, p. 546. 10 Ibid., p. 548. 11 Vgl. Vietta, Silvio / Kemper, Hans-Georg: Expressionismus. München: Fink 1975, p. 198 12 Ibid., p. 186. 13 Viviani, Annalisa: Das Drama des Expressionismus. Kommentarzu einer Epoche. München: Winkler 1970, p. 15. 14 Thomas 1969, p. 23. <?page no="392"?> 392 Naser Šečerović sind für die expressionistische Kunst zahlreiche Darstellungen des menschlichen Körpers charakteristisch. Sie impliziert die Freisetzung des Körpers als menschliche Ursprungsgestalt. [...] Der expressionistische Körper ist der der menschlichen Kreatürlichkeit, es ist nicht der schöne und schon gar nicht der starke Körper. So erscheint in der Dramatik [...] der Körper auch in seiner Zerstörung und Deformation, von der Kriegsverletzung bis zur Verkrüppelung.15 Damit ließe sich sagen, dass der Expressionismus in seiner Darstellung des Menschen sich entlang dieser zwei völlig entgegengesetzten, dennoch notwendig miteinander verbundenen Pole entlang bewegt. * * * Bedenkt man nun alle politischen und anderen Umwälzungen, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in und um Bosnien-Elerzegowina ereigneten, so lässt sich mit Sicherheit feststellen, dass die allgemeine Lage alles andere als stabil war. Auch in der bosnisch-herzegowinischen Nachkriegskunst spürt man die Suche nach dem Neuen, verursacht durch das "Chaos, das in unserer Literatur nach der Befreiung entstanden war. [...] Alles ist auf der Suche nach sich selbst, nach seiner Persönlichkeit und seinem richtigen Ausdruck."16 Dass man bei dieser Suche nach dem Neuen auch einen Blick auf die westliche(re) Kunst w irft und darauf, was diese zu bieten hat, ist mehr als sicher. In der Zeitschrift Bosanska vila werden Übersetzungen moderner deutscher Lyrik veröffentlicht,17und Dimitrije Mitrinović, einer der Mitglieder der Bewegung Junges Bosnien, behauptet an einer Stelle: Wir können uns nur freuen, dass sich unter unseren jüngeren Literaten immer mehr von der geistigen Kultur, immer mehr vom Aufstieg zum seelischen Elorizont des modernen Westens beobachten lässt. Ungeachtet ihrer Richtung und ihres Erfolges, verkünden unsere jüngeren Literaten die Morgendämmerung der Modernität und der Freiheit in unserer Literatur.18 15 Bayerdörfer 2000, p. 546. 16 Muradbegović, Ahmed: Smjerovi naše moderne književnosti. In: Ders.: Izabrana djela knjiga III. Eseji i kritike, članci i polemike. Sarajevo: Svjetlost 1987, p. 9 (Übersetzung wie auch im Folgenden vom Verf., N.Š.). " Vgl. Mitrinović, Dimitrije: Iz moderne njemačke lirike. In: Ders.: Sabrana djela I. O književnosti i umjetnosti. Sarajevo: Svjetlost 1991, p. 175. Einer der Übersetzer moderner deutscher Lyrik w ar auch Borivoje Jevtic (Vgl. Palavestra, Predrag: Književnost Mlade Bosne I, Sarajevo: Svjetlost 1965, p. 196). 18 Mitrinović, Dimitrije: Nacionalno tlo i modernost. In: Mitrinović 1991, p. 165. <?page no="393"?> DieSuche nach dem "neuen Menschen" 393 Mitrinović betont dabei ebenfalls, dass die großen Kulturvölker, da sie diesen Weg bereits hinter sich haben, hinsichtlich des Fortschritts und der Entwicklung als Vorbilder aufzufassen seien.19 Zweifellos kamen also die bosnisch-herzegowinischen Schriftsteller dieser Zeit m it der Literatu r des Expressionismus früh in Kontakt, was ihr Schaffen mit Sicherheit auch zutiefst geprägt hat. Es wird interessant sein, dies an zwei bosnischherzegowinischen Dramen aus der Nachkriegsperiode zu erörtern, deren Handlungen sich zum einen am Anfang des Ersten Weltkriegs, zum anderen unmittelbar nach dessen Ende abspielen. Es handelt sich um die Dramen Das Gelobte Land. Princip (1937) von Borivoje Jevtić und Die Blutdämmerung (1923) von Ahmed Muradbegović. Die Schlüsselthemen, die sich dabei aufdrängen, sind die Suche nach den neuen Menschen, sowie die Beziehung zwischen der Wirklichkeit und der Fiktion in der bosnischherzegowinischen Literatur dieser Zeit. Als besonders interessant für die Untersuchung der Beziehung zwischen der W irklichkeit und der Fiktion im Drama Das Gelobte Land. Princip von Borivoje Jevtić erweist sich ein autoreferentieller Kommentar aus der Erzählung Das Prinzip Gabriel (2007) von Dževad Karahasan, wo der Autor unter anderem eben dieses Verhältnis zwischen W irklichkeit und Fiktion sowie die literarische Rezeption von Gavrilo Princip in der bosnisch-herzegowinischen Kunst des 20. Jahrhunderts thematisiert. So ist Kunst nach der Meinung des Erzählers "die Überwindung, bei Bedarf sogar Auslöschung des Stoffes durch die Form, die Überführung des Stoffes in eine Gestalt, in der er sich selbst überwindet, zum Beispiel auch deswegen, weil der Stoff Bedeutung produziert und einen Sinn erhält."20 Bedenkt man, dass der Stoff für das Drama von Jevtić das Attentat Princips und der anderen Mitglieder des Jungen Bosnien auf Franz Ferdinand, die Vorbereitung und der ideologische Hintergrund dieser Tat sowie der gegen die Attentäter geführte Prozess, Princips Gefangenschaft und sein Tod in Theresienstadt ist, stellt sich gerade das Verhältnis zwischen dem Stoff und der Form in diesem Drama als grundlegend für das Verständnis der Bedeutung von Princip als Figur und seiner Position in der bosnischherzegowinischen K u ltu rinsbesondere wenn wir bedenken, dass dieses Drama als die Grundlage für die gesamte spätere Rezeption von Gavrilo Princip in Bosnien-Herzegowina aufgefasst werden kann. Das angeführte Zitat thematisiert zudem unmittelbar das Verhältnis zwischen der Geschichtsschreibung und der Kunst, das im Fall von Gavrilo Princip außerordentlich interessant ist. 19 Ibid., p. 159. 20 Karahasan, Dževad: Izvještaji iztamnog vilajeta. Sarajevo: Dobra knjiga 2007, S. 114 (Übers. N.Š.). <?page no="394"?> 394 Naser Šečerović Das Drama Das Gelobte Land. Princip wurde am 5. Dezember 1936 im Volkstheater 'König Petar II/ in Sarajevo uraufgeführt, und 1937 wurde es auch m it dem ersten Preis aus dem "Fond des Ritterkönigs Aleksandar I. dem Vereiniget' ausgezeichnet. Jevtić selbst schreibt im Prolog, das Bestreben des Autors sei es gewesen, die Haltungeines unvoreingenommenen Beobachterszu bewahren [...]. Daher verteidigt er hier niemanden und er greift auch niemanden an; er präsentiert nur die historische Wahrheit durch eine Reihe von Ereignissen, Gegebenheiten, Figuren, Leidenschaften und die Wirklichkeit vor allem.21 Der Autor versucht also ausdrücklich, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen historischen Fakten und deren künstlerischer Darstellung aufzulösen. Im gleichen Sinne lässt sich auch der geplante weitere Kontext des Dramas deuten. Das Drama Das Gelobte Land ist nämlich als letzter Teil einer "Pentalogie über das letzte Sklavenjahrhundert Bosniens" (p. 384) geplant gewesen, die jedoch niemals vollendet wurde. Andererseits wurde das Drama gleichzeitig als ein "dramatisches Triptychon" (p. 267) angekündigt. Im Einklang damit, besteht das Drama aus drei Teilen m it den Titeln "Der Flug", "Die Tat" und "Die Buße". In der einleitenden Szenenbeschreibung notiert der Autor: Der allgemeine Eindruck der Szene muss antik einfach sein, und gleichzeitig antik monumental: als würde hier eine antike Tragödie aufgeführt. Und mit diesem einen und unveränderlichen szenischen Rahmen ist dieses ganze Drama einer Generation verwoben, (p. 269) Alle angeführten Bemerkungen dienen zweifellos der Schaffung eines Hintergrunds, mit Hilfe dessen der Autor das Lesen oder Zuschauen in eine bestimmte Richtung lenken möchte. Der Titel des Dramas und seine Einbettung in eine Pentalogie über das "letzte Sklavenjahrhundert" weisen eindeutig darauf hin, dass dieses Drama den Anspruch erhebt, einen Wendepunkt in der Geschichte und den Anbruch eines neuen Zeitalters darzustellen, einer Zeit des Friedens und einer neuen Ordnung. Das Motiv des Gelobten Landes stellt das Drama an das Ende einer eschatologischen Entwicklung, die ihre Erfüllung nach dem Zerfall Österreich-Ungarns erleben wird. So findet man bereits am Anfang eine Anspielung auf einen Gründungsmythos, auf den Mythos der Entstehung eines neuen Staates. Außerdem trennt die unlösbare Verbindung eines Triptychons m it dem kirchlichen Altar und m it christlichen Motiven die Handlung dieses Drama eindeutig vom Profanen und versucht, es in die Nähe des Heiligen zu er- 21 Jevtić, Borivoje: Izabrana djela 2. Sarajevo: Svjetlost 1982, p. 381. Im Folgenden werden die Seitenzahlen dieses Dramas im Lauftext nachgewiesen. <?page no="395"?> DieSuche nach dem "neuen Menschen" 395 heben. Auch die bereits erwähnten Titel der einzelnen Teile des Dramas verstärken diesen Eindruck. Zudem lenkt die Bezeichnung des Dramas als Triptychon die Aufmerksamkeit des Lesers auf den M ittelteil, der traditio nell bestimmte Figuren oder Taten betont, also auf Princips "Tat", die als Wendepunkt und Anbruch dieser neuen Zeit aufgefasst werden möchte und die auch im Expressionismus stets einen wichtigen Platz für sich beanspruchte.22 Princip selbst wird auf eine bestimmte Weise in die Nähe des Heiligen gestellt, was ihn zu einer Art Heiligen macht. Die Ermordung Franz Ferdinands wird hierdurch in unmittelbare Nähe zu einem Wunder gebracht. Das ist auch im Kontext der Entstehung einer neuen Gemeinschaft von außerordentlicher Bedeutung, denn, wie Andre Jolles über die Legende schreibt, "w ir haben nicht die Empfindung, daß der Heilige von sich aus und für sich existiert, sondern daß er von der Gemeinschaft aus und für die Gemeinschaft da ist."23 Was wichtig ist, ist nicht der Heilige als solcher, sondern seine nachahmungswürdigen Tugenden sowie das gemeinschaftsstiftende Wunder, denn dabei verhält es sich immer so, "daß sich in einer Person, einem Ding, einer Handlung ein anderes vollzieht, was in ihnen gegenständlich wird und was von dieser Gegenständlichkeit aus nun wieder anderen die Möglichkeit gibt, hineinzutreten und aufgenommen zu werden."24 In diesem Kontext lässt sich eine ganze Reihe von Princips Repliken lesen, in denen seine angebliche Unselbstständigkeit bzw. der Anspruch, durch ihn habe eine höhere Macht gehandelt, thematisiert wird. So behauptet Princip an einer Stelle unmittelbar vor dem Attentat: "Ich bin nicht mehr mein eigener Herr." (p. 332) Auch im Prozess nach dem Attentat sagt er zu seiner Verteidigung: "Ich habe gehandelt im Namen eines höheren ethischen Prinzips, im Namen jener höchsten Gerechtigkeit und des Rechts, das das Land und die Städte aufrechthält..." (p. 364). Gleichzeitig wird seine Tat als ethisch unbedenklich und vollkommen richtig dargestellt: "Jede Arbeit, die ich bis jetzt gemacht habe, war rein. So werden auch alle zukünftigen sein." (p. 331) Der äußerst eklektizistische Ansatz von Jevtić spiegelt sich auch in der Tatsache, dass die Szenenanweisung, die das Drama in der Nähe der antiken Tragödie sehen möchte, dazu dient, die Konnotation aus einem 22 Hier ist es sehr wichtig, Jevtics Überzeugung zu erwähnen, nach welcher das Handeln notwendigerweise mit dem Nationalismus verbunden ist: "ich verstehe ihn (Nationalismus) als Tat, und nicht als Worte, als Leben, und nicht als Bild des Lebens." (Jevtić, Borivoje: Nove generacije. In: Palavestra, Predrag: Književnost Mlade Bosne 2. Sarajevo: Svjetlost 1965, Sp. 14) In dieser Dichotomieverbirgtsichzweifellosauch die Problematik, mit dersich die jungbosnische Bewegung, die sich vor allem als eine künstlerische Bewegung verstand, konfrontiert sah. 23 Jolles, Andre: Einfache Formen. Tübingen: Niemeyer 41968, p. 35. 24 Ibid., p. 38. <?page no="396"?> 396 Naser Šečerović ausschließlich christlichen Kontext zu lösen und auf eine allgemeine mythologisierende Ebene zu heben. Auch die drei Teile des Dramas spielen auf die antike Tragödie an. Außerdem soll zusätzlich der Eindruck verstärkt werden, dass es sich um einen besseren Menschen, wie Aristoteles den tragischen Helden charakterisiert, handelt. Es ist jedoch interessant, dass trotz des ausdrücklichen Hinweises auf die antike Tragödie Princip keinerlei Eigenschaften eines tragischen Helden trägt. Princip wird am Ende der ersten Szene mit der kurzen Replik "Nein! " (p. 291) eingeführt, als Reaktion auf die Bemerkung, er sei vor Angst erstarrt. Er wird festgenommen, weil er im Bosnischen Landtag laut "Nieder mit Österreich! " gerufen hatte. Gavrilo Princip ist ein furchtloser und trotziger Rebell und er ändert sich während der gesamten Handlung des Dramas nicht. Sein ganzes inneres Wesen ist wesentlich durch diese erste Replik definiert, nach welcher er erst seinen Namen ausspricht. Seine Identität ist in erster Linie die des Rebellen, erst danach ist er eine Person mit Vor- und Nachnamen. Dadurch wird die Tatsache betont, dass er vor allem eine Idee und das Kollektiv verkörpert, das sich um diese Idee versammelt. Er besitzt im Grunde keine einzige Eigenschaft, die ihn als eine freie Figur ausweisen würde, obwohl paradoxerweise sein gesamtes Wirken gegen den Tyrannen gerichtet ist. Dies bleibt bis zum Ende des dritten Teils unverändert, wo er mit den folgenden Worten auf den Lippen in seiner Zelle in Theresienstadt stirbt: "Dann, Kameraden, die Fahnen hoch! Die Fahnen des Ruhms vorwärts! Auf die Tyrannen! " (p. 380) Princip erfährt also während des gesamten Dramas keinerlei Entwicklung als Figur. Sein Märtyrertod am Ende des dritten Teils des Dramas stellt bloß den logischen Abschluss der Handlung dar. Er nimmt auch fast überhaupt nicht an den Gesprächen teil, in denen der ideologische Hintergrund des Attentats unterbreitet wird. Er ist zumeist bei diesen Gesprächen anwesend, aber er ist zurückgezogen und ruhig; andere Figuren wie Petar Kočić oder Vladimir Gaćinović führen das Wort. Princip erörtert die Gründe für seine Tat überhaupt nicht, denn "Diese Sachen können einzig mit dem Herzen verstanden werden! " (p. 297) Die erste Replik Princips erlebt ihren Höhepunkt im Schuss auf den Thronfolger im zweiten Akt, als sich zeigt, dass sein inneres Wesen und sein äußeres Handeln bei ihm vollkommen korrelieren. Da sein Wesen je doch auf ein einziges Element reduziert ist, so erfährt er keinerlei Individualisierung als Figur. Gleichzeitig nimmt er auch überhaupt nicht am Aufbau des Sujets teil, er ist nur die ausführende Hand eines höheren Willens, wie es sinngemäß an mehreren Stellen heißt. Was charakterisiert jedoch einen tragischen Helden? Wie Karahasan schreibt: Der tragische Held muss Opfer des eigenen Handelns sein [...]; der tragische Held muss mit seiner Aktion Grenzen überschreiten, die ihm als Menschen <?page no="397"?> DieSuche nach dem "neuen Menschen" 397 durch die Struktur des Universums auferlegt sind [...]; dertragische Held muss aus seinem Willen heraus Opfer des eigenen Handelns werden2526. Da Princip jedoch bloß als ausführende Hand eines höheren Willens fungiert, wie es sinngemäß an mehreren Stellen heißt, kann keine Rede davon sein, dass er Opfer des eigenen Handelns wird. Aus demselben Grund ließe sich auch ein eigener Wille nur schwer bei ihm nachweisen, aber mit der Ermordung Franz Ferdinands Übertritt Princip zweifellos die ihm vom Universum auferlegten Grenzen. Bedenkt man jedoch, wie lächerlich diese Welt dargestellt ist vor allem im Prolog, von dem noch die Rede sein wird, aber auch in zahlreichen anderen Szenen so entpuppt sich Princip in diesem Drama beinahe als eine Parodie seiner selbst, denn seine implizierte tragische Größe wird durch die Lächerlichkeit des Gegenübers völlig relativiert. Bedenken wir jedoch, dass die Figur Gavrilo Princips sich während des gesamten Verlaufs des Dramas überhaupt nicht ändert und dass sein inneres Wesen vollkommen mit seinem Handeln, aber auch mit der Außenwelt übereinstimmt, so führt ihn das in unmittelbare Nähe zum epischen Helden. Auch die Tatsache, dass das Drama den Wendepunkt in der Geschichte eines Volkes zu zeigen beansprucht sowie ein Ereignis zum Mittelpunkt hat, das als kohäsives Element für dieses Volk zu gelten hat, macht diese Nähe Princips mehr als deutlich. Nach Michail Bachtin wird das Epos als Gattung durch drei konstitutive Eigenschaften bestimmt. Erstens: "Gegenstand des Epos ist die nationale epische Vergangenheit, die 'absolute Vergangenheit'"; zweitens: "Quelle des Epos ist die nationale Tradition"; drittens: "die epische Welt ist von der Gegenwärtigkeit, d.h. von der Zeit der Sänger (der Autoren und ihrer Zuhörer), durch die absolute epische Distanz getrennt."“ Die Welt des Epos ist die Welt der "Ersten" und "Besten"27. Epische Heldenlieder, die Zeitgenossen im M ittelpunkt haben, integrieren diese Zeitgenossen "in die Welt der Ahnen, der Anfänge und der Höhepunkte, als würden sie sie, während diese noch am Leben sind, kanonisieren", wobei die Welt der Ahnen "das sich verwirklichende wert-zeitliche Superlativ"28darstellt. Charakteristisch für diese Gattung ist die Erinnerung, und nicht die Erkenntnis. Diese wert-zeitliche absolute Distanzierung wurde im Princip-Drama von Jevtić konsequent und vollkommen im Einklang m it der epischen 25 Karahasan, Dževad: Dnevnik melankolije. Zenica: Vrijeme 2004, p. 67. 26 Bahtin, Mihail: O romanu. Beograd: Nolit 1989, p. 445 (Übeis. N.Š.) 27 Ibid. 28 Ibid., p. 447. <?page no="398"?> 398 Naser Šečerović Gattung durchgeführt. Das Drama hat nämlich einen Prolog m it der Funktion eines Rahmens, der die Dramenhandlung eindeutig von der W irklichkeit trennt, sie objektiviert und ihr Glaubwürdigkeit verleiht. Die Figuren, die hier erscheinen, haben keine Namen, sie sind also nicht individualisiert, sondern sie vertreten allgemeingültige Werte. Das interessanteste in diesem Kontext ist jedoch die Tatsache, dass eine der Figuren aus dem Prolog, der "Kleine Mann aus einem kleinen Volk" (p. 273), gleichzeitig auch der "Erzähler" der Flaupthandlung des Dramas ist. Er "erzählt" das Drama vor einem Wiener Publikum, das sich eingefunden hatte, um den Vortrag einer gewissen Miss oder Fräulein "über die Ursachen des Weltkriegs und die Kriegsverantwortung" (ibid.) zu hören. Der Kleine Mann widerspricht der vom Fräulein vorgelegten, offiziellen in diesem Fall österreichischen - Deutung, denn seiner Meinung nach ist die "historische Tatsache keinesfalls auch die historische W ahrheit! " (p. 278) Letztere wird also von den geschichtlichen Tatsachen losgelöst und als absolut zweifelsfrei hingestellt: Und sollte sich das, was ich euch jetzt erzählen werde, nicht mit eurer historischen Rechnung decken, so ist das nicht meine Schuld. Platon ist mein Freund, wahrlich; aber die Wahrheit ein noch größerer! (p. 280) Der Kleine Mann erzählt also die absolute Wahrheit, die nicht notwendig m it den Tatsachen übereinstimmen muss, denn sie ist mehr als bloßes Fakt; er schafft somit eine absolute Distanz, die jegliche kritische Auseinandersetzung m it der absoluten Vergangenheit von vornherein ausschließt. Indem er Gavrilo Princip in die Welt der Ersten und Besten integriert, drängt er dessen Werte als absolut auf und macht dadurch jedwede Problematisierung von Princip als Person unmöglich. Princip als Persönlichkeit, als historische Person, existiert im Grunde gar nicht. Als epischer Held ist er aus dem historischen Ablauf in die absolute Zeit versetzt und als solcher muss er Erinnerung produzieren, wenn möglich bis in alle Ewigkeit, denn das ist der zeitliche Rahmen, m it dem das epische Bewusstsein hantiert. Alles, was nicht zur Gemeinde, deren Werte durch seine Person und seine Tat verkörpert werden, gehört, ist zwangsläufig außen, ist böse, ist Feind.29 Alle Figuren im Drama sind ausnahmslos nach diesem ideologischen Wertemuster aufgebaut. Man könnte sagen, dass Princip als Person auf diese 29 Die gesamte Problematik einer solchen ideologischen Teilung und ihre Spezifizität im Kontext Bosnien-Herzegowinas im 20. Jahrhundert thematisierte auch Dževad Karahasan in der bereits zitierten Erzählung. An einer Stelle schreibt derfiktionale Dr. Oskar Levitan in seinem Tagebuch der Beobachtung: "Ich habe versucht zu ergründen, wen oder was er (Princip) unte r "uns" und "ihnen" versteht, ich bin nicht sicher, dass ich das geschafft habe. Ich nehme an, dass "sie" Abendländer sind, und "wir" Serben, vielleicht Slawen allgemein, aber es gibt keinerlei Bestätigung für meine Behauptung." (Karahasan 2007, p. 131) <?page no="399"?> DieSuche nach dem "neuen Menschen" 399 Art und Weise völlig aus der Geschichte ausgeschlossen wird. Diese Feststellung wird zusätzlich durch die Tatsache erhärtet, dass die Darstellung des Attentäters in zahlreichen Geschichtsbüchern mit der von Jevtic im Grunde deckungsgleich ist, so dass der Transport seiner sterblichen Überreste aus Theresienstadt nach Sarajevo in einer Monographie über Princip als ein Transport von Heiligenreliquien beschrieben ist.30 Dies alles zeigt unmissverständlich, dass die ideologische Deutung des Ereignisses das Ereignis selbst fast völlig unzugänglich gemacht hat. Das spiegelt sich in fast allen späteren künstlerischen Darstellungen von Gavrilo Princip in der bosnisch-herzegowinischen Literatur. * * * Auch das Drama Die Blutdämmerung von Ahmed Muradbegovid ist von außerordentlicher Bedeutung im Kontext der expressionistischen Suche nach dem neuen Menschen in der Periode nach dem Ersten Weltkrieg. Es handelt sich um ein expressionistisches Theaterstück aus dem Jahre 1923, gleichzeitig war es das erste Drama des Autors. Die Handlung spielt zu Beginn des Jahres 1919 und thematisiert Ekrembegs Heimkehr nach dem Ersten Weltkrieg, damit natürlich auch die Folgen des Kriegs, vor allem in seinem Familienkreis, dadurch aber auch in der Gesellschaft im Allgemeinen. Nach Ekrembegs Heimkehr weist ihn seine Ehefrau Lebiba von sich, weil er, während er verwundet in der Fremde lag, von einer anderen Frau gepflegt wurde. A ufder anderen Seite besteht Ekrembeg darauf, dass Lebiba ihre ehelichen Pflichten erfüllt. In seinem Wahn ist er überzeugt, dass ihre Kinder zwischen ihm und seiner Frau stehen, so dass er seine Tochter Lejla an einen Mann "in seinen sechziger Jahren, ohne jegliche Abstammung, ohne jegliche Klasse, einen Speichellecker der Kreisobrigkeiten" verheiratet.31 Ihren Sohn Asim erwürgt er einer Nacht in einem Wahnanfall m it eigenen Händen, wonach er sich den Gendarmen stellt. Das Drama endet m it einer Replik von Ekrembegs Vater Zijahbeg, in der dieser die neue Zeit beschreibt: Ist denn das das Ende der Welt, dass die Menschen so entartet sind? Kann sich der Mensch in so kurzer Zeit in eine solche Bestie verwandeln? Keine vier Jahre sind vergangen, und alles istauf den Kopf gestellt... Nirgends Frieden, nirgends Freude oder Rechtschaffenheit, fort ist die Liebe, fort ist Gefühl, geblieben sind nur Räuber, Plünderer, Halsabschneiderund Kindermörder... Und warum ist al- 30 Vgl. Ljubibratić, Dragoslav: Gavrilo Princip. Beograd: Nolit 1959, p. 17f. 31 Muradbegović, Ahmed: Drame. Sarajevo: Biblioteka Most 1998, p. 76. Die Seitenzahlen dieser Ausgabe werden im Folgenden im Lauftext nachgewiesen. <?page no="400"?> 400 Naser Šečerović les so? Warum, warum? Ah ja, ich weiß es: Gottes Wille. Gott hat es so gewollt und bestimmt. Es konnte gar nicht anders sein. So ist es bestimmt und so steht es geschrieben... (p. 115) Diese Worte der ältesten Figur im Drama deuten darauf hin, dass das Die Blutdämmerung auch als eine Art anachronistischer Antwort auf das später geschriebene Gelobte Land - oder andersherum gelesen werden kann. Aus der Grundkonstellation des Stückes lässt sich auf den ersten Blick feststellen, dass Muradbegović den Stoff dafür in der noch von Goethe ins Deutsche übersetzten bosnischen epischen Ballade Hasanaginica gefunden hat. Deren abgeschlossener und geordneter Welt setzt Muradbegović einen Plot entgegen, der ganz "offensichtlich das expressionistische Weltgefühl form uliert"32. Dies kommt vor allem dank des epischen Hintergrunds des Dramas zum Ausdruck. Für dieses Drama ist, wie auch für das Drama von Jevtić, ein Aufbau des Sujets "als einer Reihe von einzelnen Szenen, die miteinander durch eine Bedeutungskorrespondenz, und nicht durch eine Ursache-Folge-Beziehung verbunden sind" charakteristisch sowie "eine Formulierung der Handlung als einer wechselseitigen Beziehung dieser relativ selbstständigen Szenen" (p. 268f.), was wiederum auch für das expressionistische Drama charakteristisch ist. Der Zerfall der Welt in der Blutdämmerung wird an drei Generationen, die im Drama präsent sind, dargestellt, und zwar am Beispiel von Ekrembeg und seiner Frau Lebiba, dann seiner Eltern, sowie am Beispiel von Ekrembegs und Lebibas Kindern. Die abgeschlossene Welt der Hasanaginica ist in dieser Adelsfamilie bloß noch in der Erinnerung von Ekrembegs Eltern präsent, denen es, wie es in einer Replik der alte Zijahbeg sagt, nur noch geblieben ist, "in der Einsamkeit die Augen zu schließen und sich diese ganze tote, verfallene Welt in Erinnerung zu rufen, sie uns stunden-, tage- und jahrelang anzuschauen, und zu weinen, weinen weil wir allein sind, weil es uns nicht mehr gibt" (p. 72). Bei der ältesten Generation, die noch immer im Einklang mit den alten Werten lebt, sieht man eindeutig eine Sehnsucht nach alten Zeiten, in denen alles besser war eine nostalgische Erscheinung, die in Bosnien- Herzegowina eines der Kennzeichen des 20. Jahrhunderts werden sollte, und zwar nach jedem Krieg, jeder Krise und jeder Veränderung. Der in diesem Drama thematisierte Bruch ist bei den zwei Hauptfiguren, also bei Lebiba und ihrem Mann Ekrembeg, am stärksten ausgeprägt. Im Unterschied zu Hasanaginica, die in erster Linie durch die in ihrem ganzen Tun zum Vorschein kommende Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern charakterisiert ist, ist es bei Lebiba und Ekrem zu einem völligen Bruch zwischen ihrem Innenleben, d.h. ihren Wünschen und Absichten, und ihrem 32 Karahasan 2004, p. 269. <?page no="401"?> Die Suche nach dem "neuen Menschen" 401 Außenleben, d.h. ihren Taten, gekommen, einem Bruch zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie tun. Werfen w ir jedoch einen Blick auf den Grundantrieb ihres Handelns, darauf, was sie von innen heraus bewegt, so stoßen wir auf eine erstaunliche Ähnlichkeit m it der Figur Gavrilo Princip aus dem Drama von Jevtić. Was Lebiba bewegt, ist ausschließlich der Trotz gegen ihren Mann, der ihr nicht treu war; erst hier zeigt sich ihre wahre Kraft. So sagt auch Ekrembeg zu ihr: "Während du noch um dein Kind weintest, warst du klein, winzig wie ein Weizenkorn, und als du dich auf mich gestürzt hast, für deine Ehre und für deinen Stolz, da branntest du wie eine Löwin, wie Pulver, wie Ekrasit..." (p. 105) Auch Lebiba sagt an einer Stelle: "ich will, dass auch meine Wünsche und meine Rechte anerkannt werden. Ich weiß, dass er nicht als erster nachgeben wird, aber ich gebe mein Kind nicht (den Dienstmädchen), solange noch eine Seele in mir atmet, auch wenn die ganze Welt unter mir einbricht! " (p. 95) Auch wenn diese W orte wie die Worte einer besorgten M utter klingen, so kommt Lebibas innerer Antrieb erst dann richtig zum Vorschein, wenn man ergänzt, dass in einigen vorhergehenden Szenen angedeutet wird, wie die Tochter Lejla zu viel Zeit mit den Dienstmädchen verbringt und Sachen von ihnen hört, die sie nicht hören sollte. So ist die Motivation für Lebibas Handeln nur vordergründig die Sorge um ihr Kind, im Grunde ist ihre Motivation negativ gekennzeichnet. Dies hebt auch Dubravko Jelačić hervor, wenn er schreibt: "Trotz, Übermut, Kult der eigenen Kommodität, hartnäckige Konservativität, religiöser Fanatismus all das bis zu extremen Ausmaßen getrieben das macht die Helden von Muradbegovic so spezifisch in ihren mentalen Eigenschaften"33. Lebibas Liebe zu ihren Kindern ist offensichtlich kleiner als ihre Selbstliebe, was vor allem bei einem Vergleich Lebibas mit Hasanaginica zum Ausdruck kommt. Hasanaginica stirbt nämlich in dem Moment, in dem sie dessen bewusst wird, dass sie das, was sie liebt, unwiederbringlich verloren hat, denn in dem Moment bleibt sie ohne ihr inneres Wesen, ohne das eine klassische Figur nicht existieren kann. Nachdem Hasanaginica ihre Kinder verliert, ist sie als Figur also zum Untergang verurteilt. Bei Lebiba ist die Situation anders: Sie ist zwar Mutter, aber das Muttersein macht ihr inneres Wesen nicht aus. Darauf deutet vor allem die Tatsache hin, dass sie nach dem Verlust ihrer beiden Kinder nicht stirbt. Sie bleibt am Ende am Leben, während ihre beiden Kinder sterben - Lejla wird symbolisch getötet, indem sie an einen alten Mann ohne Abstammung verheiratet wird, Asim wird buchstäblich erwürgt. Der expressionistische Zerfall der Welt 33 Zit. nach lsaković, Alija: Ahmed Muradbegovićživot i djelo. In: Muradbegović, Ahmed: Haremska lirika. Pripovijetke. Sarajevo: Svjetlost 1987 (Biblioteka kulturno nasljeđe BiH), p. 13. <?page no="402"?> 402 Naser Šečerović äußert sich hier vor allem im Zerfall einer Familie, die stirbt, weil sie ohne Nachkommen, d.h. ohne Zukunft bleibt. Auch die bereits zitierten Worte des alten Zijahbeg vom Ende des Dramas, mit denen er entsetzt und resigniert die neue Zeit beschreibt und sie als "Gottes W illen" rechtfertigt, zeigen die ganze Tragik einer Zeit, die nicht mehr die seine ist. Es ist nämlich in dieser Welt "nichts mehr heilig" (p. 55). Die Welt hat jeden Rahmen und alle allgemein gültigen Werte verloren, die die Figuren in eine Gemeinde versammeln könnte. Alle Figuren außer Zijahbeg und seiner Frau sind nur noch auf sich selbst reduziert und sind nichts anderes als leere FHüllen, die bloß im Einklang mit ihren Trieben handeln. Gerade deswegen sind fast alle Flelden bei Muradbegović, nicht nur in diesem Drama, "von einer pathologischen Leidenschaft nach einer absoluten Freiheit der Existenz besessen, und in diesem Begehren monströs von einem Zerstörungstrieb entstellt, der auf alles, was sie umgibt und vor dem sie panische Angst haben, gerichtet ist."34 Man könnte sagen, dass Zijahbeg, der dasganze Grauen einer absoluten Freiheit in sich spürt, einer Welt, die nicht mehr für Grenzen, und somit auch nicht zur Konstituierung einer Figur beziehungsweise einer Identität fähig ist, einen Sinn zu geben versucht. Gerade deswegen sind in dieser Welt alle Figuren eigentlich tot, wie das an einer Stelle Lebiba sagt: "Ich bin eine Tote, eine lebende Tote das bin ich! [...] und von allem, was einst in mir war, ist mir nur noch Flass, Gift und Ekel geblieben..." (p. 60). Der absolute Zerfall der Figur und Welt und kommt bei Ekrembeg am augenfälligsten zum Ausdruck. Seine Liebe zu seiner Frau ist in eine reine körperliche Anziehung verwandelt, seine Liebe zu seinen Kindern ist bloß noch auf die Macht, die er über sie hat, reduziert. Er sagt über sich selbst: Ich bin nun sogar schlimmer als ein Tier mit einem Stück Fleisch im Maul. [...] Esgibt Momente, wo ich wie eine Flyäne aus mir selbst herausspringe [...] und dann würde ich würgen, beißen und töten, nur um so einen menschenfresserischen Durst zu löschen, der mir die Eingeweide entzündet, (p. 88f.) In diesem Kampf von Ekrembeg mit sich selbst sind im Grunde alle Folgen der bereits erwähnten absoluten Freiheit und des Verlusts jedweden Rahmens, der den Figuren eine Orientierung böte, vollkommen sichtbar. Muradbegovićs Dramen stellen somit die "künstlerische Formulierung des 'nackten Menschen' und die Ergründung verschiedener Aspekte der 'inneren Unfreiheit' des Menschen bzw. der verschiedenen Zwang-Mechanis- Duraković, Enes: Pjesničko i pripovjedačko djelo Ahmeda Muradbegovića. In: Muradbegović, Ahmed: Flaremska lirika. Pripovijetke. Sarajevo: Svjetlost 1987 (Biblioteka kulturno nasljeđe BiH), p. 28. <?page no="403"?> Die Suche nach dem "neuen Menschen" 403 men, die das Handeln des Menschen von dessen Bewusstsein und dessen Willen trennen."35 Der äußere Rahmen hat sich in das Innere der Figuren verlegt, mit allen Folgen, die das mit sich bringt, denn der Rahmen wurde von Trieben ersetzt, denen der Mensch schutzlos ausgeliefert ist und denen er sich nur schwer widersetzen kann. Ekrem ist "schwarz, entstellt von innerem Chaos" (p. 57).. Er ist also aus dem Krieg zurückgekehrt, aber das Chaos des Krieges ist immer noch in ihm selbst: In ihn ist der Krieg eingekehrt, wie ein böser Geist, und so fühlt er nichts mehr als sich selbst und sein verdorbenes Blut. Nichts ist ihm mehr heilig, weder Vater, noch Mutter, Bruder, Schwester, nicht einmal sein eigenes Blut. (p. 55) Wieder ist ein Vergleich mit der epischen Ballade äußerst aufschlussreich. Der Krieg stellte in Hasanaginica eine Zeit des Chaos, der vorübergehenden Unterbrechung der Ordnung dar, und das Ende des Krieges bedeutete deren Wiederherstellung. So konnte Hasanaga aus dem Krieg wieder in seine Welt zurückkehren, und für diese Welt war der Krieg bloß eine kurze Episode. In der Blutdämmerung ist der Krieg nicht zu Ende, er brennt weiter in Ekrembeg, denn der alte Rahmen, in den Hasanaga zurückkehren konnte, existiert in seiner Welt nicht mehr. Es gibt aber auch keinen neuen Rahmen. Deswegen kann nur noch Lebiba bzw. ihre Liebe zu ihm Ekrembegs Existenz bezeugen; nur existert auch diese Liebe nicht mehr. Alle Figuren werden bloß noch durch das "Mysterium eines kranken Erotismus und die Mechanik einer blinden Gewalt"36 charakterisiert. Die Unmöglichkeit der Wiederherstellung einer dramatischen Figur im klassischen Sinne, also einer Figur, die eine individuelle Identität herzustellen in der Lage wäre, führt zum Schluss, dass fast alle Figuren in Muradbegovićs Drama "reine Masken"37sind, die das innere Chaos und die innere Leere verdecken. * * * Der Vergleich dieser zwei auf den ersten Blick außerordentlich verschiedenen expressionistischen Dramen zeigt