Jesus und das Landrecht
Zur Realitätsreferenz bibelepischen Erzählens in Hoch- und Spätmittelalter
0716
2018
978-3-7720-5593-5
978-3-7720-8593-2
A. Francke Verlag
Henrike Manuwald
Gegenstand der Studie sind mittelhochdeutsche Versbearbeitungen des Nikodemusevangeliums (Konrad von Heimesfurt: Diu urstende; Gundacker von Judenburg: Christi Hort; Heinrich von Hesler: Evangelium Nicodemi) und deren Rezeptionszeugnisse. Ausgehend von der darin erfolgten partiellen Umgestaltung des Prozesses gegen Jesus nach Konventionen des 'deutschen' Rechts wird die grundsätzliche Frage nach der Funktion solcher Bezüge auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit gestellt. Eine umfassende Untersuchung der komplexen Vernetzungen von Text und Kontext erschließt deren inhaltliche Implikationen für die narrative Sinnkonstitution wie auch die Stellung der Erzähltexte im Rechtsdiskurs: Wie lässt sich davon erzählen, dass in der Gestalt Jesu Gott vor Gericht steht, den die Texte zugleich als Legitimationsgrund allen Rechts inszenieren? Über die Analyse des Verhältnisses von 'Literatur' und 'Recht' werden außerdem die Möglichkeiten und Grenzen der kulturellen Aneignung eines heilsgeschichtlichen Stoffes erkundet. Damit eröffnen die Ergebnisse auch neue Perspektiven auf die Poetologie bibelepischen Erzählens.
<?page no="0"?> 5 Gegenstand der Studie sind mittelhochdeutsche Versbearbeitungen des Nikodemusevangeliums (Konrad von Heimesfurt: Diu urstende; Gundacker von Judenburg: Christi Hort; Heinrich von Hesler: Evangelium Nicodemi) und deren Rezeptionszeugnisse. Ausgehend von der darin erfolgten partiellen Umgestaltung des Prozesses gegen Jesus nach Konventionen des 'deutschen Rechts' wird die grundsätzliche Frage nach der Funktion solcher Bezüge auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit gestellt. Eine umfassende Analyse der komplexen Vernetzungen von Text und Kontext erschließt deren inhaltliche Implikationen für die narrative Sinnkonstitution wie auch die Stellung der Erzähltexte im Rechtsdiskurs: Wie lässt sich davon erzählen, dass in der Gestalt Jesu Gott vor Gericht steht, den die Texte zugleich als Legitimationsgrund allen Rechts inszenieren? Über die Analyse des Verhältnisses von 'Literatur' und 'Recht' werden außerdem die Möglichkeiten und Grenzen der kulturellen Aneignung eines heilsgeschichtlichen Stoffes erkundet. Die Studie leistet damit einen Beitrag zur Poetologie bibelepischen Erzählens. ISBN 978-3-7720-8593-2 Manuwald Jesus und das Landrecht BIBL. GERM. 67 Henrike Manuwald Jesus und das Landrecht Zur Realitätsreferenz bibelepischen Erzählens in Hoch- und Spätmittelalter <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, BURKHARD HASEBRINK UND SUSANNE KÖBELE 67 <?page no="3"?> Henrike Manuwald Jesus und das Landrecht Zur Realitätsreferenz bibelepischen Erzählens in Hoch- und Spätmittelalter <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72 070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-5593-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Jesus und das Landrecht: Perspektiven auf reht in der Bibelepik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Erzählen von Gott vor Gericht: Zum Ausgangspunkt der Untersuchungen . . . . . 11 1.2 Diu urstende , Christi Hort und das Evangelium Nicodemi im Spiegel der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.3.1 ,Law in Literature‘ als methodologische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.3.2 Realitätsreferenz aus der Sicht rezeptionsorientierter Forschung . . . . . . . . . . 29 1.3.3 Zur Sonderstellung der Bibelepik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1.4 Text und Kontext: ,Recht‘ als Bezugsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.4.1 Was ist reht ? Probleme der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.4.2 Rechtstexte als Kontexte: Eine heuristische Setzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.5 Vorgehensweise und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2 Das lateinische Nikodemusevangelium : Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext . . . . . . . . . 55 2.1 Charakteristika des Werks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.2 Zur Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.3 Ausgestaltung der Prozesshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3 Variationen der Rechtsthematik in Diu urstende , Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.1 Das Nikodemusevangelium aus der Sicht des ,deutschen‘ Rechts: Anknüpfungspunkte und Irritationsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.2.1. Entstehungsumfeld und Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.2.2 geriht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.2.3 wârheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.2.4 reht und ê . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.2.5 Interdependenz von Zeugenschaft und Heilswahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.3.1 Entstehungsumfeld und Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.3.2 geriht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.3.3 wârheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.3.4 reht und ê . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.3.5 Heilsgeschichte als (rechts)ethische Anleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3.4.1 Entstehungsumfeld und Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3.4.2 geriht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.4.3 wârheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.4.4 reht und ê . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 3.4.5 Verflechtungen göttlichen und menschlichen Rechtshandelns . . . . . . . . . . . . 173 3.5 Zur Hybridität der Erzählwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4 Verfahren der kulturellen Aneignung in Diu urstende, Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.1 Explizite kontextuelle Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . 183 4.3 Mediävalisierung des Heilsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5 Externe Bezugsfelder von Diu urstende , Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 5.4 Zum Spannungsverhältnis von diskursiver und narrativer Logik . . . . . . . . . . . . . . 271 6 Neuperspektivierung der Rechtsfragen in Rezeptionszeugnissen von Diu urstende , Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 6.1 Die Passionskompilation , die Weltchronik Heinrichs von München und Die Neue Ee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 6.1.1 Zur Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.1.2 Die Weltchronik Heinrichs von München nach H1 und H15 . . . . . . . . . . . . . . 281 6.1.3 Die Weltchronik nach H12 (Heinz Sentlinger 1399) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 6.1.4 Die Neue Ee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 6.1.5 Von der Passionskompilation zu Die Neue Ee : Historisierung des Heilsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 6.2 Das Evangelium Nicodemi in Kompilationen mit Bruder Philipps Marienleben . 314 6.2.1 Zur Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 6.2.2 geriht : Zur Rolle des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 6.3 Das ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk des Österreichischen Bibelübersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 6.3.1 Das ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk als Rezeptionszeugnis von Christi Hort ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 6.3.2 Zur Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 6.3.3 Die Pilatus-Veronika-Legende im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk . . . . . 331 6.3.4 Aktualisierungen im Passionsteil des ( Klosterneuburger ) Evangelienwerks : Moralisierung des Heilsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 6.4 Die Prosafassung E des Nikodemusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 6.4.1 Die Prosafassung E als Rezeptionszeugnis von Diu urstende ? . . . . . . . . . . . . . 345 6.4.2 Zur Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 6.4.3 wârheit : Das Verhältnis von heilsgeschichtlicher und juristischer Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 6.5 Hawich der Kellner, Sankt Stephans Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 6.5.1 Zur Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6.5.2 Transformation von Diu urstende in Sankt Stephans Leben . . . . . . . . . . . . . . . 354 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 6.5.3 reht und ê : Verschriftlichung und Verweltlichung des Rechts . . . . . . . . . . . . . 364 6.5.4 Ausblick: Der Überlieferungskontext von Sankt Stephans Leben . . . . . . . . . . 371 6.6 Neukomposition tradierter Textelemente: Zu thematischen und motivischen Gestaltungsspielräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 7 Jesus und das Landrecht: Aspekte einer Poetologie bibelepischen Erzählens . . . . . . . 377 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Bibliographische Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Siglen für Handschriften und Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Ausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 1 Autoren und Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 1.1 Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 1.2 Autoren, Werke (außer Rechtstexten im engeren Sinne), Gattungen . . . . . . . 458 1.3 Rechtstexte im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 2 Handschriften und Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 2.1 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 2.2 Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 3 Rechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 <?page no="9"?> Vorwort 9 Vorwort Warum spielt in einer mittelhochdeutschen Versdichtung über den Prozess gegen Jesus das ‚Landrecht‘ eine Rolle? Welche Implikationen sind damit verbunden, dass ausgerechnet Pilatus eine Rede über das richtige Verhalten vor Gericht in den Mund gelegt ist? Aus diesen Fragen, die sich mir bei der Lektüre von Diu urstende Konrads von Heimesfurt stellten, hat sich ein Forschungsprojekt entwickelt, aus dem das vorliegende Buch hervorgegangen ist. Es handelt sich um die leicht überarbeitete Version meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2014 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg akzeptiert wurde. Gegutachtet haben Burkhard Hasebrink, Susanne Köbele und Martina Backes, denen ich für die intensive Auseinandersetzung mit meiner Arbeit herzlich danken möchte. Weitere wertvolle Anregungen verdanke ich Ursula Peters, die das Projekt in seinen verschiedenen Phasen interessiert mitverfolgt hat. Dass mein Manuskript für die Bibliotheca Germanica angenommen wurde, hat mich sehr gefreut. Die Veröffentlichung wurde durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften gefördert, wofür ich dankbar bin. Mein Dank gebührt auch dem Verlag, namentlich Tillmann Bub, für die sachkundige Drucklegung. Entstanden ist das Buch während meiner Zeit als Juniorprofessorin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort wurde mein Projekt „ Got is selve recht : Rechtskonzeptionen in mittelhochdeutscher Literatur zum Prozess Jesu“ durch das Juniorprofessorenprogramm des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördert (2010-2012). Im Rahmen des Projekts konnten in fruchtbarer Zusammenarbeit mit Kristina Odenweller - und zeitweise Ramona Raab - als wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen die rechtshistorischen Grundlagen gelegt werden, auch im Austausch mit Bernd Kannowski, der als Rechtshistoriker dem literaturwissenschaftlichen Projekt von Anfang an mit großer Offenheit begegnete. Allen Beteiligten möchte ich meinen Dank aussprechen; ich denke gern an die gemeinsamen Ausflüge in die Rechtsgeschichte zurück. Zeit zum Schreiben hat mir ein Feodor Lynen-Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung im akademischen Jahr 2012 / 13 verschafft, das ich auf Einladung von Nigel F. Palmer für einen Forschungsaufenthalt in Oxford nutzen konnte. Der Alexander von Humboldt-Stiftung sei an dieser Stelle ebenso gedankt wie Nigel F. Palmer, Almut Suerbaum und Annette Volfing, die mich in Oxford herzlich empfingen und mir mit Rat und Tat zur Seite standen. Den Oxford-Aufenthalt mitgetragen haben meine Freiburger Kolleginnen und Kollegen der germanistischen Mediävistik, die mich überhaupt in jeder Hinsicht unterstützten. Besonders hervorheben möchte ich Martina Backes und Burkhard Hasebrink, die immer für Gespräche fachlicher wie nicht-fachlicher Natur da waren und mir zugleich kollegialen Rückhalt gegeben haben. Zu meiner Freude hat mein Projekt in Freiburg über die germanistische Mediävistik hinaus Interesse geweckt: Die Wissenschaftliche Gesellschaft Freiburg im Breisgau hat 2015 meine Habilitationsschrift mit dem Albert-Bürklin-Preis ausgezeichnet. Auf dem Weg zur Veröffentlichung habe ich über die Jahre hinweg Denkanstöße und Hilfeleistungen von verschiedenster Seite erfahren. Die bereichernden Kontakte mit Fach- <?page no="10"?> 10 Vorwort kolleginnen und Fachkollegen kann ich an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachzeichnen; genannt seien nur Kurt Gärtner und Freimut Löser, die mir dankenswerterweise Informationen zu ihren eigenen Projekten zur Verfügung stellten. Julia Buchholz, Xenia Buchwald, Anne Schäfer, Verena Spohn und Joana Thinius, die sich als Hilfskräfte in Freiburg und Göttingen mit Jesus und das Landrecht befassten, haben tatkräftig Korrekturarbeiten durchgeführt. Sie ließen sich von der großen Menge zu überprüfender Zitate und Stellenangaben nicht schrecken und haben mich durch ihre akribische wie fachlich kompetente Arbeit vor zahlreichen Fehlern bewahrt. Danken möchte ich auch Jutta Gilles, die mir in der Phase der Drucklegung im Göttinger Sekretariat den Rücken freigehalten hat. Am eingehendsten hat sicherlich meine Schwester Gesine den Text von Jesus und das Landrecht gelesen: Trotz ihrer eigenen Verpflichtungen hat sie Fassung um Fassung kritisch durchgesehen und Unstimmigkeiten aufgedeckt. Dafür gebührt ihr mein großer Dank. Wie meine Eltern mich und mein Projekt in den letzten Jahren unterstützt haben, das wissen sie selbst am besten. Ihnen sei das Buch in Dankbarkeit gewidmet. Göttingen, im April 2018 Henrike Manuwald <?page no="11"?> 1.1 Erzählen von Gott vor Gericht: Zum Ausgangspunkt der Untersuchungen 11 1 Jesus und das Landrecht: Perspektiven auf reht in der Bibelepik 1.1 Erzählen von Gott vor Gericht: Zum Ausgangspunkt der Untersuchungen Der ‚Prozess‘ gegen Jesus vor Pontius Pilatus gehört zu den berühmtesten Gerichtsverhandlungen der Weltgeschichte. Wie auch immer man die Historizität des Geschehens einschätzen mag, 1 die Schilderungen dieser zur Kreuzigung Jesu führenden Verhandlung 2 haben das Christentum maßgeblich mitgeprägt. Die Bekanntheit des Prozesses steht in einem gewissen Gegensatz zu der Tatsache, dass zentrale Punkte des Prozessgeschehens unklar sind: Der juristische Grund für die Verurteilung ist bis heute umstritten; 3 der Wortlaut des Urteils ist unbekannt, ja es ist sogar angezweifelt worden, ob überhaupt ein formelles Urteil gefällt wurde. 4 Ausgangsbasis für diese Diskussionen sind die kanonischen Evangelien, die ihrerseits Versuche der Sinnstiftung darstellen. So ist etwa im Markusevangelium eine ,Historisierung‘ der exegetischen Traditionen des Alten Testaments zu erkennen. 5 Die Herstellung eines solchen Geschichtsbezugs ist von ,Historizität‘ im Sinne eines objektivierbaren Quellenwerts abzusetzen. 6 Für die kanonischen Evangelien ist beides allerdings 1 Zur Frage nach dem historischen Jesus und der Historizität der Evangelien vgl. z. B. die Beiträge in Schröter / Brucker 2002; außerdem Strotmann 2012. 2 Ob darin ein Strafprozess oder ein administrativer Akt (Koerzitionsverfahren) zu sehen ist, wird kontrovers diskutiert (vgl. Mikat 1999, Sp. 677; vgl. z. B. im Hinblick auf das Lukasevangelium Heusler 2000, S. 261 [nach der Lukas das Verfahren gegen Jesus „nach dem Muster eines ordentlichen römischen Kapitalprozesses ausrichtet“] vs. Bormann 2001, S. 343 [nach dem „kein wirklicher Prozeß im Sinne eines klar geregelten juristischen Verfahrens“ erkennbar ist]). Da sich beide Verfahren in den römischen Provinzen einander angenähert hatten (vgl. Mikat ebd.) und zudem die cognitio extra ordinem , bei der staatliche Amtsträger das Urteil sprechen, dort nicht die Ausnahme, sondern die Regel war (vgl. Kaser / Hackl 1996, S. 435-441), wird man die Erzählungen in den Evangelien jeweils als Beschreibungen einer ordnungsgemäßen Gerichtsverhandlung interpretieren können. Sie wird im Folgenden mit Kaser / Hackl (ebd.) als ,Prozess‘ begriffen. 3 Vgl. dazu in jüngerer Zeit Rosen 1990; Mikat 1999; Knothe 2005; Krimphove 2006; Burnside 2011; Schnabel 2015, S. 241-243. 4 Vgl. dazu z. B. Bammel 1984, S. 428 f.; Rosen 1990, S. 56; Berliner 2003 (1933 / 34), S. 43; Knothe 2005, S. 96. 5 Vgl. Donahue 1973, S. 237: „The initial contribution of Mark is to give it the formality of the trial, as our analysis of the introductory verses indicated. The traditions available to Mark were primarily exegetical traditions which reflected on the Old Testament to proclaim the innocence of the suffering Jesus before unjust accusers. Mark has historicized these traditions […]“. Nach Donahue (ebd., S. 239) heißt das aber nicht, dass man historische Authentizität erwarten könne, denn Markus habe schließlich ein Evangelium geschrieben. Lukas orientierte sich am „markinischen Erzählablauf “, wobei er die Rechtsterminologie schärfte und „staats- und verwaltungsrechtliche Sachverhalte“ betonte (vgl. Bormann 2001, S. 341). Zur Umarbeitung der Prozesserzählung durch Johannes vgl. Lincoln 2000, S. 307-332; 2015 (auch im Hinblick auf eine mögliche Rezipientenorientierung). 6 Vgl. Frey (2009, S. 459, Anm. 1) einleitend zu seinen Untersuchungen des Verhältnisses von „Heil und Geschichte“ (so der Titel seines Aufsatzes) im Johannesevangelium : „Dabei ist im Folgenden methodisch zwischen dem sachlich festgehaltenen und theologisch relevanten Geschichtsbezug einerseits und dem historischen Quellenwert bzw. der (mit den Mitteln historisch-kritischer Forschung) zu erhebenden Historizität der johanneischen Aussagen andererseits sorgfältig zu unterscheiden.“ (Hervor- <?page no="12"?> 12 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik nur schwer zu trennen, auch wenn der Geschichtsbezug zumindest teilweise nach der Erfahrungswirklichkeit 7 der Evangelisten und ihres Publikums modelliert ist, denn deren (Rechts-)Welt entsprach noch in Grundzügen den Verhältnissen zur Zeit Jesu. 8 Bereits die kanonischen Evangelien bieten jedoch eine Mischung von Referenzen auf die Zeit Jesu und solchen auf die Entstehungszeit der Evangelientexte. 9 Auf diese komplexe historische Welt der kanonischen Evangelien und die in ihnen fixierten Prozessabläufe referieren alle späteren (apokryphen) Prozesserzählungen, die jeweils in einem intertextuellen Verhältnis zu den kanonischen Evangelien stehen. 10 Abgesehen von dem Bezug auf die bereits vorhandene autoritative Texttradition zeigen die späteren Texte Verfahrensweisen der Sinnstiftung, die mit denen in den kanonischen Evangelien parallel gehen: So ist das Prozessgeschehen im spätantiken Nikodemusevangelium weiter komplettiert worden, indem etwa klare Anklagepunkte benannt werden. 11 Inwieweit im Nikodemusevangelium auch eine partielle Anpassung an die Rechtskultur der Entstehungszeit des Textes erfolgte, ist nicht abschließend geklärt. 12 Unverkennbar ist eine solche Adaptation in einer Gruppe deutscher Versdichtungen des 13. Jahrhunderts, die sich als „Apokryphen zweiten Grades“ 13 bezeichnen lassen, weil sie sich für das Prozessgeschehen und die Ereignisse nach dem Tod Jesu maßgeblich auf das Nikodemusevangelium stützen: 14 Diu urstende Konrads von Heimesfurt, Christi Hort Gundackers von Judenburg und das Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler. 15 Schon früh hebungen im Original). Vgl. auch die Ausführungen zur historischen Referenz auf S. 500-503: Sie sei an einigen Stellen vorhanden, oft sei das aber nicht mehr zu klären. Die Reden Jesu seien ganz gewiss nicht authentisch, sondern dem Darstellungsinteresse der dramaturgischen Gestaltung geschuldet. Die Kreuzigung sei hingegen ein „unhintergehbar ,geschichtliches‘ Geschehen“ (ebd., S. 505). 7 Zur Begrifflichkeit s. u. S. 31. 8 So Rosen 1990, S. 40-42. Er sieht trotz kultisch-kerygmatischer Absicht ein historisches Interesse auch bei den Evangelisten und bei deren Publikum gegeben und betont, dass die Evangelisten auf die Erwartungen des Publikums hätten Rücksicht nehmen müssen. 9 Dazu und zu den sich daraus ergebenden methodologischen Problemen in Bezug auf das Johannesevangelium vgl. Frey 2004, S. 38. Er hat für die dort festzustellende „Verschmelzung der temporalen Horizonte“ (1998, S. 247-268) eine genauere Analyse vorgelegt. 10 Vgl. Mimouni 2002, S. 3; Nicklas 2006, S. 66-73. 11 Auch von Dobschütz (1902, S. 92) betrachtet die Ausgestaltung der Prozesshandlung als Fortsetzung von Tendenzen, die bei Matthäus und Johannes festzustellen sind, wobei er neben der Formalisierung des Prozesses besonders die Ausgestaltung der positiven Züge der Pilatusfigur im Blick hat. 12 S. dazu u. Kap. 2.2; zur Datierung der einzelnen Textteile s. u. Kap. 2.1. 13 Vgl. Nicklas (2006, S. 73), der sich auf einen unveröffentlichten Vortrag Els Roses bezieht. Während für christliche Apokryphen biblische Texte einen ,privilegierten Hypotext‘ bilden (vgl. Nicklas ebd., S. 66), sind ,Apokryphen zweiten Grades‘ durch „ ihre Hypertextualität zu anderen christlichen Apokryphen “ gekennzeichnet, die den Bezug zur Bibel in den Hintergrund treten lassen. Wenn man die bibelepischen Texte als Apokryphen betrachtet, setzt das voraus, dass es sich bei den Apokryphen nicht um ein in frühchristlicher Zeit abgeschlossenes Textcorpus, sondern um eine offene Gruppe von Texten handelt, die sich durch ihren Bezug auf den biblischen Hypotext konstituiert (vgl. dazu Nicklas ebd., S. 74-77, der konsequenterweise auch die Entstehung neuer Apokryphen nicht ausschließt; auch Kaestli 2007, S. 31-33, sieht die Schreibweise der Texte als entscheidend an, tritt aber nicht mit derselben Radikalität für die zeitliche Offenheit ein). 14 In den Prozessschilderungen ist zusätzlich auch jeweils kanonisches Material verarbeitet (s. dazu u. S. 74; 110; 140; vgl. zusammenfassend Hoffmann 1997a, S. 288). 15 Mit der ausgeprägten Anpassung an die Rechtskultur der Entstehungszeit nehmen diese drei Texte in der deutschsprachigen Rezeption des lateinischen Nikodemusevangeliums (vgl. dazu die Überblicke bei Hoffmann 1997a; 1997b) eine Sonderstellung ein. Im Vergleich mit Rezeptionszeugnissen des Nikode- <?page no="13"?> 1.1 Erzählen von Gott vor Gericht: Zum Ausgangspunkt der Untersuchungen 13 ist in der Forschung erkannt worden, dass in das Prozessgeschehen ,deutschrechtliche‘ 16 Details eingearbeitet sind. 17 Sie liegen auf der Ebene von Realien, Handlungsabläufen und Konzeptionalisierungen des Gerichtsverfahrens. In Diu urstende argumentieren sogar Figuren mit zeitgenössischen Rechtsgewohnheiten: Die Aussage von zwölf Männern, die einen ungerechtfertigten Vorwurf der Anklage widerlegen wollen, versuchen die Ankläger mit dem Argument zu entkräften, dass deren lantreht in diesem Prozess nichts gelte (sie also nicht als Zeugen aussagen könnten), denn sie seien Proselyten (vv. 702-723). Um die Argumentation nachvollziehen zu können, muss man mit dem Personalitätsprinzip des Landrechts vertraut sein, d. h., der Text fordert die Rezipienten 18 geradezu auf, zeitgenössische Konzepte an die Handlung heranzutragen, die im Text nicht explizit genannt sind. Doch heißt das, dass auch die weitere Handlung unter den Prämissen des ‚deutschen‘ Rechts betrachtet werden soll? Oder produktionsästhetisch gefragt: Ist versucht worden, die vorgegebene Handlung dementsprechend umzugestalten? Auf jeden Fall gewinnen die Prozesserzählungen in den drei genannten Werken (im Folgenden ,Kerntexte‘ genannt) 19 durch die ,deutschrechtlichen‘ Elemente neben dem Geschichtsauch einen deutlichen Gegenwartsbezug. Mit einer solchen hybriden Zeitstruktur stehen diese bibelepischen Werke 20 unter den Texten des Mittelalters nicht allein; ähnliche Phänomene finden sich in Antikenromanen oder Geistlichen Spielen. Die konkrete Wirkungsweise und die Funktion der partiellen Aktualisierung in den bibelepischen Kerntexten bleiben jedoch klärungsbedürftig. Die in ihnen zu beobachtende Hinzufügung ,deutschrechtlicher‘ Motive lässt sich als ein Schritt in der weiteren Apokryphisierung 21 der Prozesserzählung verstehen, bei der das Prozessgeschehen vervollständigt und das Handeln der Figuren neu interpretiert wird. Dabei wird aber gleichzeitig eine Referenz auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit geschaffen, die den (damaligen) Rezipienten sowohl dazu einlädt, semantisches Material aus seinem Lebensumfeld an die Texte heranzutragen, als auch, das im Text beschriebene Gerichtswesen auf die außertextliche Wirkmusevangeliums in anderen Sprachen müsste dieser Aspekt erst noch systematisch untersucht werden (für einen Überblick über die Texttradition in Westeuropa vgl. Izydorczyk 1997a). 16 Zur Abgrenzung vom römischen und vom kanonischen Recht werden hier und im Folgenden die regional ausdifferenzierten Rechtsgewohnheiten im deutschen Raum mit diesem Sammelbegriff bezeichnet, ohne dass damit ihre Diversität in Frage gestellt sein soll (s. dazu u. S. 45). 17 Vgl. Wülcker 1872, S. 37-40 (in Bezug auf Diu urstende ); Klibansky 1925, S. 9-27 (zu allen drei Texten); zur weiteren Forschungsgeschichte s. u. Kap. 1.2. 18 Hier und im Folgenden ist die männliche Form generalisierend gebraucht, schließt also auch Rezipientinnen mit ein. 19 Der Terminus ist allein aus der Analyseperspektive gewählt, weil die Texte den Kern dieser Untersuchung bilden, und besagt nichts über ihre Stellung in der Reihe der Passionserzählungen. 20 Zur Problematik von ,Bibelepik‘ als Gattungsbezeichnung vgl. Kartschoke 1997; Czapla 2013, S. 225-228; Quast / Spreckelmeier 2017b, S. 5. Für die hier betrachteten Texte ist wegen ihrer apokryphen Quellen und der Integration der Pilatus-Veronika-Legende in Christi Hort und in das Evangelium Nicodemi insbesondere die Nähe zu Legenden relevant, die stofflich freier sind als die Bibelepik (vgl. Kartschoke ebd., S. 219). Da sich die Kerntexte im Passionsteil über das Nikodemusevangelium auch direkt auf die Bibel beziehen, werden sie hier der Bibelepik zugeordnet. So verfährt für Diu urstende auch Kartschoke (ebd., S. 220), wenn er den Text zusammen mit der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen als Beispiel dafür nennt, dass „der Anteil legendarischer Motive und apokrypher Stoffe“ in der Bibelepik zu Beginn des 13. Jahrhunderts zugenommen habe. 21 Gemeint ist die narrative Ausgestaltung im Sinne der für Apokryphen typischen narrativen Exegese (vgl. dazu Kaestli 2007, S. 41-43). Prica (2010, S. 9 f.) sieht hingegen einen kommentierenden Zugang zur Bibel nur dann gegeben, wenn der Ursprungstext nicht erweitert wird. <?page no="14"?> 14 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik lichkeit zu beziehen. Soweit sich diese Wechselwirkungen heute rekonstruieren lassen, legen sie die Vermutung nahe, dass sich die der Prozesshandlung inhärenten Spannungen durch den Gegenwartsbezug verstärkt haben: Das heilsgeschichtliche Paradox, dass sich der Weltenrichter der menschlichen Gerichtsbarkeit unterwirft, um die Menschheit zu erlösen, dürfte umso prekärer gewirkt haben, wenn das menschliche Gerichtswesen nicht von vornherein als Unrechtssystem gekennzeichnet wird, sondern - z. B. über das Stichwort ,Landrecht‘ - eine zeitgenössische Rechtsordnung anzitiert ist, bei der Gott als Legitimationsgrund fungiert. 22 Möglicherweise haben Vorstellungen von der Göttlichkeit des Rechts schon bei der Produktion der Kerntexte eine Rolle gespielt. Auffällig ist jedenfalls, dass zwar jeweils am Ende des Prozesses Pilatus als Richter versagt, dass aber das Rechtswesen vorher so dargestellt wird, als ob Gerechtigkeit möglich wäre, und sogar an Pilatus vorbildliches richterliches Verhalten demonstriert wird, obwohl das zu handlungslogischen Brüchen führt. Solche Brüche lassen auch Rückschlüsse auf Spielräume und Grenzen bibelepischen Erzählens 23 zu: Den Freiheiten in der Ausgestaltung der Prozesshandlung (auch über die Anbindung an die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit) stehen die Erfordernisse der heilsgeschichtlichen Abläufe gegenüber, wie sie in den kanonischen Evangelien fixiert sind. Vor dem Hintergrund der skizzierten Zusammenhänge kristallisiert sich aus dem mit den Stichworten ‚Jesus‘ und ‚Landrecht‘ umrissenen Problemkreis eine konkrete Fragestellung heraus: Wie gehen die bibelepischen Kerntexte um mit dem Verhältnis von ,Gott‘, der Weltenrichter, aber in Gestalt von Jesus auch Objekt eines Gerichtsverfahrens ist, und ,Recht‘, das die göttliche Rechtsordnung, aber auch menschliche Verfahrensweisen umfasst? Diese Frage wird sich nur durch eine Analyse des thematischen Netzes von Bezügen in den jeweiligen Texten klären lassen. Sie sind wiederum nur zu erfassen, wenn die Sinnstiftung über Referenzen auf das zeitgenössische Lebensumfeld und deren Implikationen, soweit wie möglich, rekonstruiert wird. 24 Dass solche Referenzen in den Kerntexten überhaupt eine zentrale Rolle spielen, deutet darauf hin, dass sich das Erzählen von Heilsgeschichte nicht allein aus dem (durch autoritative Texte vermittelten) sakralen Stoff speist. 25 , Jesus‘ und das ,Landrecht‘ können deshalb auch als Chiffren für den heilsgeschichtlichen Stoff 22 Symptomatisch dafür ist der programmatische Satz Got is selve recht im Prologus des Sachsenspiegels (wegen der Problematik der Ausgabe Eckhardts [1973; vgl. dazu Schmidt-Wiegand 1991, S. 19 f.; 38-50], wird der Sachsenspiegel hier und im Folgenden nach der von Homeyer [1861] edierten Handschrift der Vulgatfassung zitiert). Zur Interpretation vgl. Otte 2008, der mit guten Gründen recht als ,gerecht‘ versteht und die Nähe zu Psalm 10[11],8 betont. Gott, der ungerechtes Handeln ahnden wird (vgl. den letzten Satz des Prologus ), ist im Sachsenspiegel also Fluchtpunkt gerechten Handelns, nicht Quelle einer konkreten Rechtsordnung. Doch steht die Vorstellung, dass die Gerechtigkeit Gottes Maßstab für menschliches Rechtshandeln sein soll, in Zusammenhang mit einer derivativen Ableitung des menschlichen vom göttlichen Recht (s. dazu u. Kap. 5.3). 23 Unter ,bibelepischem Erzählen‘ wird hier und im Folgenden das ,Wiedererzählen‘ biblischer Geschehnisse gefasst. Dabei wird ein weiter Begriff von Erzählen und Erzählung zugrunde gelegt, d. h., es geht um einen Darstellungsmodus, der weder dramatisch noch primär argumentativ ist. Vgl. aber die narratologische Diskussion zur Unterscheidung von Erzählung und Bericht (dazu Bleumer 2015, bes. S. 234-239, mit weiterer Literatur) sowie zur genaueren Bestimmung von Narrativität (dazu Abbott 2011 / 2014, mit weiterer Literatur). 24 Zu den methodologischen Vorannahmen und dem Vorgehen im Einzelnen s. u. Kap. 1.3-1.5. 25 Zur Bedeutung der medialen Vermittlung vgl Prica 2010, S. 28. Anders als bei Prica, die wegen der „Vielheit der Überlieferungen“ von ,Heilsgeschichten‘ im Plural spricht, soll hier ,Heilsgeschichte‘ im Singular als Bezeichnung für das nach göttlichem Plan realisierte Geschehen reserviert sein. Zum Changieren des erst im 19. Jahrhundert geprägten Terminus ,Heilsgeschichte‘ zwischen der Ereig- <?page no="15"?> 1.2 Diu urstende , Christi Hort und das Evangelium Nicodemi im Spiegel der Forschung 15 und die Bezugnahme der Texte auf die Erfahrungswirklichkeit zu ihrer Entstehungszeit verstanden werden. In diesem Sinn vermag die Analyse des Verhältnisses von , Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ auch Perspektiven auf die Poetologie der bibelepischen Texte zu eröffnen. 1.2 Diu urstende, Christi Hort und das Evangelium Nicodemi im Spiegel der Forschung Diu urstende Konrads von Heimesfurt, Christi Hort Gundackers von Judenburg und das Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler 26 sind die einzigen erhaltenen mittelhochdeutschen Versdichtungen, bei denen für die Erzählung von der Passion Jesu und von seiner Höllenfahrt das Nikodemusevangelium als Quelle dominant ist. 27 Sie sind teilweise genetisch miteinander verbunden 28 und haben eine gemeinsame Rezeptionsgeschichte, weil sie - über eine zu erschließende Passionskompilation - Eingang in die Weltchronik Heinrichs von München fanden. 29 Schließlich teilen sie ein besonderes Erzählinteresse an den rechtlichen Aspekten der Passionsgeschichte. Die Ausgestaltung der Rechtsmotive ist zwar in den einzelnen Texten je anders gelagert, hat aber trotzdem dazu geführt, dass sie in Erich Klibanskys (1925) und Hans Fehrs ([1931]) Studien zum Recht in der Literatur jeweils als Trias erscheinen. 30 Mittlerweile sind die Texte also auch forschungsgeschichtlich verbunden; spezielle Untersuchungen zu den einzelnen Texten überwiegen jedoch. Allerdings lassen sich für diese Einzelanalysen in der Rückschau jeweils ähnliche Schwerpunkte ausmachen. Sie seien als Basis für die weiteren Überlegungen vergleichend skizziert, auch weil die hier zu beobachtende Forschungsgeschichte für bibelepische Texte nicht untypisch ist. 31 Bei allen drei Werken nahm zunächst die Untersuchung von Sprache und Reimtechnik einen großen Raum ein, sowohl verknüpft mit Fragen nach dem Entstehungsgebiet und der Verfasserzuordnung als auch unter dem Aspekt von Stiluntersuchungen. 32 Die Parallelen zu höfischen Dichtungen, die im Zuge dieser Analysen für Diu urstende und Christi Hort aufgezeigt wurden, bilden bis heute die Grundlage für die Datierung dieser Texte; zugleich sind sie Ausgangspunkt für neuere Überlegungen zur inhaltlichen Höfisierung, die vor nis- und der Erzählebene vgl. aus Sicht der (evangelischen) theologischen Forschung Frey / Krauter / Lichtenberger 2009. 26 Angaben zu den Verfassern, der Datierung der Werke und ihrer Überlieferung finden sich in Kap. 3.2.1, 3.3.1 und 3.4.1. 27 Vgl. dazu den Überblick bei Hoffmann 1997a. 28 Christi Hort ist in Kenntnis von Diu urstende entstanden (vgl. Hoffmann 2000, S. 303-311, und u. S. 110). Für das Evangelium Nicodemi sind Bezüge zu Christi Hort wahrscheinlich, lassen sich jedoch nicht sichern (s. dazu u. S. 141). 29 S. dazu u. Kap. 6.1. 30 Vgl. Klibansky 1925, S. 9-27; Fehr [1931], S. 229-232. 31 Zur weitgehenden Konzentration auf „die überlieferungsgeschichtlichen und quellenkritischen Aspekte“ vgl. (für das Werk Avas) Prica 2010, S. 195. Vgl. aber zu neueren Ansätzen in der Erforschung bibelepischer Texte Quast / Spreckelmeier 2017b, S. 3 f. 32 Zu Diu urstende vgl. den Forschungsbericht von Hoffmann 2000, S. 12-17; zu Christi Hort vgl. Stübinger 1922 (mit Verweisen auf die spärliche ältere Forschung); zum Evangelium Nicodemi vgl. Helm 1899 (mit Verweisen auf die ebenfalls spärliche ältere Forschung). Bei Gundackers Christi Hort standen die Stilanalysen auch unter dem Gesichtspunkt, ob die einzelnen Teile des Werks zusammengehören. <?page no="16"?> 16 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik allem für Szenen der Botenaussendung und des -empfangs in Diu urstende und Christi Hort aufgezeigt wurde. 33 Einen zweiten zentralen Forschungsstrang bildet die Quellenanalyse. Seit der Arbeit Richard Paul Wülckers (1872) werden die deutschen Verserzählungen als Bestandteil der Nikodemusevangelium -Tradition betrachtet. 34 Wegweisend für die Forschungen zu dieser Tradition und der oft mit dem Nikodemusevangelium verbundenen Pilatus-Veronika-Legende sind die Arbeiten Zbigniew Izydorczyks, für die deutschsprachige Literatur insbesondere der von ihm herausgegebene Band The Medieval Gospel of Nicodemus. Texts, Intertexts and Contexts in Western Europe (1997) mit Beiträgen von Werner J. Hoffmann zu mittelhoch- und mittelniederdeutschen Texten, die auf dem Nikodemusevangelium aufbauen. Für Diu urstende hat Hoffmann (2000) außerdem eine mögliche Vorlagenhandschrift (des lateinischen Nikodemusevangeliums ) identifiziert und einen detaillierten Vergleich damit durchgeführt, den er interpretatorisch fruchtbar gemacht hat. Seinen Analysen zufolge geht die Bearbeitungstendenz dahin, die Messianität Christi zu betonen, wobei die Zeugenaussagen einen besonders hohen Stellenwert einnehmen. 35 Anders als Diu urstende enthalten Christi Hort und das Evangelium Nicodemi (mit seinen zahlreichen Exkursen) Passagen mit dezidiert theologischem Gehalt, die sich nicht auf das Nikodemusevangelium als Prätext zurückführen lassen. Auch für diese Passagen sind jeweils ,Quellen‘ in der Forschung benannt worden, die die Verfasser der jeweiligen Studien aber selbst als indirekte Quellen oder Parallelen klassifizieren. 36 Was die Überlieferung der Kerntexte angeht, so wurde sie zunächst unter textkritischen Gesichtspunkten in den Blick genommen, der Überlieferungslage entsprechend am intensivsten für das Evangelium Nicodemi , 37 denn Christi Hort und Diu urstende sind vollständig jeweils nur in einer Handschrift überliefert. 38 Für Diu urstende legten Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann 1989 eine neue Ausgabe vor. Nachdem Werner Fechter (1968) schon das Programm der Sammelhandschrift (Wien, ÖNB , Cod. 2696) analysiert hatte, die als einzige Diu urstende überliefert, hat Nikolaus Henkel (1996) das Phänomen der „Corpusbindungen“, in denen die (um 1200 entstandenen) „religiös-erbaulichen Erzählungen“ in der Überlieferung zusammengefasst wurden, systematisch in den Blick genommen und davon ausgehend die Stellung dieser Texte im Verhältnis zur höfischen Literatur zu bestimmen gesucht. 39 Weiter vorangetrieben wurde die Forschung zur Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte durch die Arbeit Werner J. Hoffmanns zu Diu urstende (2000), der neben dem Überlieferungskontext auch die Textgeschichte nachzeichnet. 40 Wegen der späteren kompilatorischen Verbindung von Diu urstende mit Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi 33 Zu Diu urstende vgl. Voorwinden 1997, S. 31-33; Hoffmann 2000, S. 8-12; zu Christi Hort vgl. Fechter 1974; Geith 2000. Voorwinden sieht an der Heiligen Familie in Diu urstende höfische Verhaltensweisen exemplifiziert und schließt daraus, dass der Text - ebenso wie die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen - für ein Laienpublikum gedacht sei. Seine Interpretationen sind jedoch zu einseitig, wenn er etwa Marias Handarbeit für den Tempelvorhang in die Kindheit Jesu allein als Beschäftigung adeliger Damen deutet; überhaupt berücksichtigt er die Exzeptionalität der Heiligen Familie (vgl. dazu z. B. Koschorke 2000, S. 18-24) nicht in ausreichendem Maße. 34 Wülcker (1872, S. 34-50) geht auf Diu urstende und das Evangelium Nicodemi ein. 35 Vgl. Hoffmann 2000, S. 93-197, bes. 187-197. 36 Vgl. zu Christi Hort Stübinger 1922, S. 79-94, zum Evangelium Nicodemi Helm 1899, S. 134-145. 37 Vgl. Helm 1899, S. 85-117; 1902, S. I-XXVI (in der Einleitung zu seiner kritischen Ausgabe). 38 Christi Hort ist 1910 von Jaksche ediert worden. 39 Vgl. Henkel 1996, bes. S. 20 f. 40 Vgl. Hoffmann 2000, S. 199-325. <?page no="17"?> 1.2 Diu urstende , Christi Hort und das Evangelium Nicodemi im Spiegel der Forschung 17 bieten Hoffmanns Untersuchungen zur Textgeschichte, obwohl sie von Diu urstende ausgehen, Erkenntnisse zu allen drei Werken. Christi Hort betrachtet Hoffmann außerdem im Rahmen der Wirkungsgeschichte von Diu urstende . 41 Die jeweilige Wirkungsgeschichte von Diu urstende und von Christi Hort wird darüber hinaus in Arbeiten zu deutschen Prosafassungen des Nikodemusevangeliums kontrovers diskutiert. 42 Gegenüber den bisher genannten Forschungstendenzen ist die Zahl interpretatorischer Ansätze, die nicht primär vom Verhältnis zur Vorlage ausgehen, überschaubar. 43 Als eine wichtige Arbeit, die sich auf den Inhalt eines der Werke konzentriert, ist Peter Wiedmers Studie zu Sündenfall und Erlösung (1977) zu nennen. Er analysiert und kommentiert die Passagen zur Heilsgeschichte im Evangelium Nicodemi , im Apokalypsekommentar ( Apokalypse ) Heinrichs von Hesler und im Fragment von dessen Erlösung und versucht daraus, „Heinrichs Sicht des heilsgeschichtlichen Geschehens von Sündenfall und Erlösung in ihrer Gesamtheit zu verstehen“, 44 um sie dann geistesgeschichtlich einzuordnen. Zwar ist die Autorbezogenheit methodisch nicht ganz unproblematisch, aber Wiedmer hat die theologischen Dimensionen der Werke deutlich gemacht und die Verrechtlichung der Heilsgeschichte bei Heinrich von Hesler herausgearbeitet. In der Forschung Aufmerksamkeit gefunden hat auch der judenfeindliche Schlussexkurs des Evangelium Nicodemi , der - losgelöst vom Gesamtwerk - in Arbeiten zu Judenbildern in diskursiven Texten untersucht wurde. 45 In anderer Weise auf den Inhalt fokussiert ist Bettina Mattig-Krampes Studie Das Pilatusbild in der deutschen Bibel- und Legendenepik des Mittelalters (2001), in der sie auf die genannten Versdichtungen und deutsche Prosafassungen des Nikodemusevangeliums eingeht. 46 Da die Ergebnisse deskriptiv bleiben und oft psychologisierend erscheinen, 47 ist für eine Aufarbeitung der zeitgenössischen Diskussionen, vor denen die Pilatus-Figur in den bibelepischen Texten angelegt sein mag, auch auf Andreas Scheidgens parallel zu Mattig-Krampes Untersuchung entstandene Monographie Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit (2002) zurückzugreifen. 48 Auf die Machart der bibelepischen Texte sind bislang nur einzelne Schlaglichter geworfen worden, z. B. mit der Analyse der Dialoge im Descensus -Bericht in Diu urstende durch Elke Ukena-Best (2012). 49 Am intensivsten wurde bisher die Textstruktur von Christi Hort diskutiert, allerdings zunächst allein unter dem Aspekt, ob die verschiedenartigen Werkteile einem Autor zuzuweisen und von vornherein als Einheit konzipiert seien oder nicht. 50 Betty Bushey (1988) untersuchte die Form der Gebete im zweiten Teil von Christi Hort im Kontext der Frömmigkeitskultur der Zeit und interpretierte das Werk auf diese Weise als Vorläufer 41 Vgl. Hoffmann 2000, S. 303-311. 42 Umstritten sind das Verhältnis der Pilatus-Veronika-Legende im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk zu Christi Hort und das Verhältnis von Diu urstende zur Prosafassung E. S. dazu u. Kap. 6.3.1 und 6.4.1. 43 Petersen (2004, bes. S. 62-66) deutet den Descensus -Abschnitt des Nikodemusevangeliums als narrative Explizierung der victoria Christi , geht aber bei seiner Analyse mittelalterlicher Beispiele für eine solche ,narrative Soteriologie‘ nicht auf die Kerntexte ein. 44 Wiedmer 1977, S. 23. 45 Vgl. Schreckenberg 1994, S. 360 f. (mit weiterer Literatur); Schulze 2002, S. 119-124. 46 Mattig-Krampe 2001, S. 99-154. 47 Vgl. u. a. die kritischen Rezensionen Kartschokes (2004) und Kössingers (2004). 48 Die bibelepischen Texte hat Scheidgen jedoch ausgespart. Zum Verhältnis seiner Arbeit zu der Mattig- Krampes (2001) vgl. Scheidgen 2002, S. 19. 49 Für eine Übersicht über die hohen Dialoganteile in Diu urstende insgesamt vgl. Becker 2009, S. 73-77. 50 S. dazu u. Kap. 3.3.1. <?page no="18"?> 18 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik eines im 14. und 15. Jahrhundert populären Werktypus, bei dem narrative Darstellungen des Lebens Jesu (insbesondere seiner Passion) mit Gebeten verbunden sind. Ulrich Wyss (1986), der Christi Hort in seinem Überblick über „Religiöse Epik im österreichischen Spätmittelalter“ behandelt, hatte ebenfalls die Modernität des Werkes hervorgehoben. Er sieht die Verschiedenartigkeit der einzelnen Werkteile als Symptom für die Suche nach einer angemessenen Ausdrucksform für religiöse Erfahrungen. 51 Susanne Köbele (2017) hat in ihren grundsätzlichen Überlegungen zum bibelepischen ,Wiedererzählen‘ das „Neben- und Ineinander von Sprechregistern“ als typisch für scheinbar kunstlose bibelepische Texte herausgearbeitet und hat in diesem Zusammenhang auch auf Christi Hort verwiesen. 52 Insgesamt hat sich das Forschungsinteresse in jüngerer Zeit zur Poetologie der Texte hin verschoben, wobei insbesondere die selbstreflexiven Passagen im Mittelpunkt standen. 53 Der Prolog von Diu urstende , der in der älteren Forschung zunächst auf sein biographisches Potenzial hin betrachtet worden war, 54 wurde im Zuge einer stärker kulturwissenschaftlichen Orientierung der germanistischen Mediävistik und der durch die New Philology belebten Diskussionen zum Zusammenhang von Überlieferung und Textualität unter der Fragestellung analysiert, welcher Text- oder Werkbegriff sich daraus erschließen lässt. 55 Besonderen Erkenntnisgewinn bietet der Aufsatz „Reden und Schreiben“ Peter Strohschneiders (2005), weil er den gesamten Text von Diu urstende auf das darin zum Ausdruck kommende Textwissen befragt und zeigen kann, wie „Zusammenhang und Differenz von Rede und Schrift“ auch in den narrativen Passagen thematisiert werden. 56 In der Weiterentwicklung seiner Thesen (2014) hat Strohschneider den Zusammenhang von Latenz der Schrift und interaktiver Rede noch einmal grundsätzlicher auf das Prinzip des Wiedererzählens hin perspektiviert, dem sich Diu urstende zuordne. 57 Vor allem selbstreflexive Textelemente sind der Ausgangspunkt für Bruno Quasts Überlegungen zu „Spielräume[n] des Narrativen“ in der Bibelepik, die er an Der Sälden Hort und an Christi Hort untersucht (2009). Quast geht davon aus, dass der bibelepische Text zwar eine gewisse Freiheit habe, aber „die Grenzen des Erzählens in selbstreflexiv-poetischen Akten der Legitimierung erst selbst ausloten“ müsse. 58 Dass sich in Christi Hort an eine Gebetspassage die dem Nikodemusevangelium folgende Erzählung anschließt, interpretiert Quast als „Bewegung vom Kult zur Kunst“ 59 und sieht darin eine Inszenierung des Wunsches des Prologgebet-Sprechers, dass Gott ihm zu einer ehrenden Dichtung die 51 Vgl. Wyss 1986, S. 300-302. Für eine Betrachtung von Christi Hort im Rahmen regionaler Literaturgeschichtsschreibung vgl. auch Knapp 1999, S. 342-348. 52 Vgl. Köbele 2017, S. 168, Anm. 3; S. 201 (Zitat). 53 Diese Tendenz lässt sich auch für andere bibelepische Texte beobachten, vgl. z. B. Gay-Cantons Aufsatz „Zwischen Zensur und Selbstzensur. Verbesserungsappelle in der ›Vita beate Marie et Salvatoris Rhythmica‹ und ihre mittelhochdeutschen Bearbeitungen“ (2009). 54 Vgl. dazu Hoffmann 2000, S. 2 (mit weiterer Literatur). Noch Thelen (1989, S. 314 f.) in seiner Studie zu Gebetsprologen vermutet im Prolog vor allem einen Versuch des Verfassers, keinen Anstoß zu erregen. 55 Vgl. Grubmüller 2001, S. 23 f.; Quast 2001a, S. 36-39; 2001b. 56 Strohschneider 2005, S. 342. 57 Strohschneider 2014, S. 91-126, bes. S. 119-122. Das Buchkapitel ist ausdrücklich als Weiterentwicklung des Aufsatzes von 2005 gekennzeichnet (vgl. ebd., S. 329 f.). Für eine produktive Auseinandersetzung mit den Thesen Strohschneiders vgl. Becker (2015), die den Schwerpunkt auf die Analyse der Prologmetaphorik legt. 58 Quast 2009, S. 387. 59 Quast 2009, S. 393. <?page no="19"?> 1.2 Diu urstende , Christi Hort und das Evangelium Nicodemi im Spiegel der Forschung 19 sinne […] berichte (v. 1323). 60 Ob sich die verschiedenen Unfähigkeitsbeteuerungen, die jeweils argumentativ eingebunden sind, tatsächlich zu einem poetologischen Gesamtprogramm zusammenschließen lassen, 61 ist ebenso zu diskutieren wie die Frage, ob hier ein allgemeines Phänomen sichtbar wird, 62 zumal zwischen rituellem Sprechen im Gebet und dem Nachvollzug eines biblischen Textes zu differenzieren wäre. Grundlegend für weitere Forschungen ist aber die Frage, die Quast am Ende seines Aufsatzes formuliert, nämlich wie „fiktional […] mittelalterliche Bibeldichtung als besondere Form normativ gebundener Literatur sein“ dürfe. 63 Für Christi Hort betont Quast, dass der Text „der Maßgabe des Faktizität verbürgenden Referenztextes konsequent und unverbrüchlich zu folgen behauptet“. Die vorsichtige Formulierung deutet zugleich an, dass das nicht der Fall sein könnte. Um die erzählerischen Lizenzen bestimmen zu können, wird man also über die selbstreflexiven Passagen hinaus die Erzählung selbst in den Blick zu nehmen haben. Ohne dass die Konsequenzen für den Status der Texte insgesamt diskutiert wurden, ist der Umgang mit der Rechtsmotivik in den einzelnen Texten bereits intensiv erforscht worden. Wie schon Wülcker (1872) aufzeigte, sind in Diu urstende „viele züge aus dem Deutschen gerichtsverfahren eingeschaltet“. 64 Auch wenn sich nicht alle seiner Einzelinterpretationen als tragfähig erwiesen, 65 legte er damit den Grundstein für weitere Forschungen, von denen die Studie Erich Klibanskys Gerichtsszene und Prozeßform in erzählenden deutschen Dichtungen des 12.-14. Jahrhunderts (1925) 66 als bis heute gültiges Referenzwerk hervorzuheben ist. 67 Klibansky identifiziert unter Bezug auf Rechtsbücher wie den Sachsenspiegel und die rechtshistorische Sekundärliteratur deutschrechtliche Züge in Diu urstende , in Christi Hort und im Evangelium Nicodemi , betont aber, dass die Anpassungen in Diu urstende und dem Evangelium Nicodemi punktuell erfolgen. Am ehesten sieht er ein typisch deutsches Gerichtsverfahren in Christi Hort dargestellt. Klibansky geht methodisch sehr vorsichtig vor, indem er den besonderen Charakter literarischer ,Quellen‘ zum Gewinn historischer Erkenntnis betont, denen er Lebendigkeit, aber eben auch größere Freiheiten als etwa Rechtsbüchern attestiert. Trotz seines primär historischen Interesses stellt er für Diu urstende erste Überlegungen dazu an, welche Funktion die gegenüber der Quelle zu beobachtenden Umarbeitungen erfüllen. 68 Einen Ansatzpunkt für weitere Forschungen 60 Vgl. Quast 2009, S. 292 f. 61 S. dazu u. S. 109; S. 391, Anm. 96. 62 Quast (2009, S. 393) zieht auf der Basis seiner Beobachtungen an Christi Hort den Schluss: „Dichten von den Evangelien erzwingt die Bewegung von einer rituellen Vollzugsform hin zu einem genuin Erzählerischen.“ 63 S. dazu u. Kap. 7. 64 Wülcker 1872, S. 37. 65 Vgl. dazu Klibansky 1925, S. 14 f. 66 Klibansky (1925, S. 7) versteht unter ‚Prozeßform‘ „[i]m weitesten Sinne alles, was irgendwie zur äußeren Gestaltung und Beurkundung des gerichtlichen Verfahrens gehört“ (vgl. ebd., S. 7). Dagegen wollte Strothmann (1969 [1930], S. 3) nur Prozessdichtungen untersuchen, die durch Rede und Gegenrede zweier Parteien geprägt sind: Bei den Dichtungen zum Prozess Jesu hätten die stofflichen Vorgaben jedoch meist die Ausbildung einer prozessualen Form verhindert (vgl. ebd., S. 70). 67 Für „Juristisches“ im Evangelium Nicodemi s. auch das Register in Helms Ausgabe (1902, S. 272 f.). 68 „Die außerordentliche Freiheit, mit der Konrad v. Heimesfurt […] seine Quellen benutzte, hat ihren Grund allein in dem Bestreben des Dichters, die breiten und oft sich widersprechenden Angaben seiner Vorlagen, möglichst knapp und in logischer Entwicklung darzustellen. Auf diesen rein künstlerischen Gesichtspunkt lassen sich alle seine Ergänzungen und Auslassungen letzten Endes zurückführen […]“ (Klibansky 1925, S. 15 f.). <?page no="20"?> 20 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik bieten seine - in das Vokabular der Zeit gekleideten - rezeptionsästhetischen Schlussüberlegungen: Dabei [sc. bei der anschaulichen Schilderung von Vorgängen] kommt es gar nicht so sehr darauf an, daß der Dichter alle einzelnen Momente immer besonders betont; vielmehr genügt auch hier, wie überhaupt in allem echten künstlerischen Schaffen, die Hervorhebung einiger weniger, aber charakteristischer Züge aus der unendlichen Fülle des Lebens vollauf, um unsere Phantasie zur Reproduktion der vom Künstler geschauten Wirklichkeit anzuregen. 69 Klibansky hebt hier auf die Vorstellungskraft moderner Rezipienten ab, es ist aber auch die Frage zu stellen, welche Assoziationspotenziale die ,charakteristischen Züge‘ aus der Erfahrungswelt für Rezipienten zur Entstehungszeit der Werke besessen haben mögen. Hans Fehr nimmt in seinem Überblickswerk Das Recht in der Dichtung ([1931]), in das die Textgruppe Diu urstende - Christi Hort - Evangelium Nicodemi ebenfalls Eingang fand, 70 neben dem Prozessrecht auch Rechtsvorstellungen in den Blick. Bei seiner Darstellung konzentriert er sich vor allem auf die Passage zur Zweischwerterlehre und die rechtliche Stellung der Juden im Evangelium Nicodemi . Wie aus der Einleitung hervorgeht, will Fehr den engen Zusammenhang nicht nur von „Dichter und Recht“, sondern auch von „Kultur und Recht“ aufzeigen. 71 Die literarischen Texte sind für ihn sowohl rechtshistorische als auch vor allem mentalitätsgeschichtliche Quellen. Anders als Klibansky setzt Fehr jedoch für den Bereich des Rechts ein Abbildungsverhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit voraus: Vor allem für die Dichtung des Mittelalters erweisen sie [sc. die Dichtwerke] sich als wertvolle Quelle. Sie zeigen namentlich eins: sie lassen erkennen, wie sich das Recht im Volke spiegelte, wie die Rechtsnormen aufgefaßt wurden und praktische Verwendung fanden. Die Dichter sind keine Theoretiker. Sie geben Recht und Rechtsvorstellungen wieder, wie sie die Wirklichkeit ihnen darbietet. So stark sie sich im Reiche der Phantasie bewegen: im Augenblick, wo sie den Kreis des Rechts betreten, wagen sie sich nicht über die Realität der Dinge hinaus. Ausnahmen sind selten. Das Recht gilt ihnen gleichsam als heilige Mauer, die nicht durchbrochen, nicht überstiegen, nicht zerstört werden darf. 72 Aus heutiger Sicht erscheint diese Annahme problematisch, vor allem wenn man an die z. B. von Rüdiger Schnell (1993) nachgewiesenen Diskrepanzen zwischen literarischer Darstellung und Praxis von Gottesurteilen denkt. Bedenkenswert ist allerdings, dass die Hemmschwelle für eine abweichende Darstellung wegen der Normativität des Rechts höher gelegen haben könnte als bei anderen Themen. Die genannten Studien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden nach wie vor eine wichtige Grundlage, zumal die Standardwerke zum deutschen Prozessrecht, auf die sie sich stützen, nicht als überholt angesehen werden können. Im Anschluss an Hoffmanns Sachkommentar (im Rahmen seines Quellenvergleichs) 73 sind aber die einzelnen Beobachtungen Klibanskys und Fehrs mit der neueren rechtshistorischen Forschung (z. B. Drüppel 1981; Meyer 2009) abzugleichen. Vor allem gilt es - über die Überlegungen bei 69 Klibansky 1925, S. 63. 70 Vgl. Fehr [1931], S. 229-232. 71 Fehr [1931], S. 7. 72 Fehr [1931], S. 7. 73 Vgl. Hoffmann 2000, S. 121-184. <?page no="21"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 21 Klibansky und Hoffmann hinaus -, die Funktionalisierung der punktuellen Anpassungen an das deutsche Recht zu untersuchen. Dazu sollte jeweils der gesamte Text in den Blick genommen werden, was sich gut am Evangelium Nicodemi verdeutlichen lässt, bei dem Überlegungen zum Prozessrecht bislang unverbunden neben der Beobachtung der Verrechtlichung der Heilsgeschichte stehen. 74 Da die Kerntexte in die heutigen international geführten Diskussionen um das Verhältnis von Recht und Literatur (‚Law and Literature‘) noch nicht hinreichend einbezogen wurden, 75 bedarf es vor der inhaltlichen Arbeit umso mehr einer methodologischen Reflexion. 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 1.3.1 ,Law in Literature‘ als methodologische Herausforderung Die mit Das Recht in der Dichtung ([1931]) betitelte Studie des Rechtshistorikers Hans Fehr, in der auch die Kerntexte analysiert werden, ist der zweite Band einer Trilogie zu Kunst und Recht , deren erster Band Das Recht im Bilde (1923) sich auf Visualisierungen konzentriert, während der dritte Band Die Dichtung im Recht (1936) ,Poetisches‘ in Rechtstexten aufzufinden sucht bzw. Kleinformen (wie Sprichwörter) behandelt, in denen Rechtswissen gespeichert ist. 76 Insbesondere, was diesen letzten Band angeht, steht Fehr in der Tradition der eng mit dem Œuvre Jacob Grimms verknüpften ,Germanistik‘ des 19. Jahrhunderts, die Recht und Literatur ihrem Ursprung nach eng verbunden sah. 77 Zugleich sind in den beiden Bänden Fehrs zum Verhältnis von Recht und ,Dichtung‘ bereits zwei Betrachtungsweisen angelegt, die für die derzeitige Forschung zum Verhältnis von Recht und Literatur relevant sind: zum einen die Untersuchung von Rechtsmotiven in literarischen Texten, zum anderen das Aufspüren von ,poetischen‘ Elementen in Rechtstexten bzw. deren Analyse mit literaturwissenschaftlichen Methoden. In der vielstimmigen Forschungsliteratur aus der ,Law and Literature‘-Bewegung, 78 die sich seit den 1970er Jahren von den USA aus gebildet hat, lassen sich zwei entsprechende 74 Erste Ansätze zu vergleichenden Untersuchungen der Rechtsmotivik in allen drei Kerntexten bietet der Aufsatz der Verf. zur Zeugenschaft (Manuwald 2011). Zur Vernetzung des heilsgeschichtlichen Rahmens mit dem menschlichen Gerichtsverfahren im Evangelium Nicodemi vgl. Manuwald 2014. Strohschneider (2005; 2014) befasst sich intensiv mit Augenzeugenschaft in Diu urstende , aber gerade nicht unter juristischen Aspekten. 75 Vgl. jedoch Bleumer (2011a, S. 9), der das Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler in der Einleitung zum mediävistischen Sonderheft Recht und Literatur der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik erwähnt: „Den berühmtesten heilsgeschichtlichen Rechtsfall, den Prozess Christi vor dem Gericht des Pontius Pilatus nach dem apokryphen Evangelium Nicodemi , gestaltet Heinrich von Hesler im Deutschen mit Rechtsdetails aus: Das Recht dient hier zur Interpretation der Geschichte.“ 76 Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der Studien Fehrs vgl. Schmidt-Wiegand 1990b, Sp. 236 f. 77 Vgl. neben Jacob Grimms rechtshistorischen Arbeiten insbesondere den Aufsatz „Von der Poesie im Recht“ (1816), dem der vielzitierte Satz (vgl. z. B. Bleumer 2011a, S. 13 f.) entstammt, dass „recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden“ seien (S. 27). Zur Sprachtheorie Grimms und Modifikationen des Ursprungsgedankens bei ihm selbst vgl. Renner 2010 (2009). Zur historischen Einordnung Grimms (auch im Hinblick auf heutige kulturwissenschaftliche Zugänge zu ,Recht und Literatur‘) vgl. Garloff 2004, S. 87-91. Für einen Überblick über mediävistische Untersuchungen in der Nachfolge Grimms zum „Ort des Rechts in der Dichtung oder der Dichtung im Recht“ vgl. Bleumer 2012, S. 156 mit Anm. 3 (S. 156 f.). 78 Auch hier findet sich der Gedanke, dass Recht und Literatur bereits im Ursprung verbunden seien: „Law is associated with Literature from its inception as a formalized attempt to structure reality <?page no="22"?> 22 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik Hauptströmungen herauskristallisieren, für die sich die Bezeichnungen ,Law in Literature‘ und ,Law as Literature‘ etabliert haben. 79 Bei ,Law in Literature‘ geht es - wie schon bei Fehrs Buch Das Recht in der Dichtung - um die Analyse der Repräsentation von Recht in der Literatur; 80 daneben wird aber, insbesondere in der US -amerikanischen Juristenausbildung, noch ein anderes Ziel verfolgt: Die Studierenden sollen durch die Lektüre literarisch gestalteter Rechtsfälle Menschenkenntnis erwerben. 81 Wird hier eine stark identifikatorische Lektüre gefordert und Literatur sozusagen als bessere Realität betrachtet, 82 arbeitet die Forschungsrichtung ,Law as Literature‘ 83 mit einem grundsätzlich anderen Literaturbegriff: Dort wird betont, dass eine kategorische Unterscheidung der beiden Bereiche nicht möglich through language.“ (Weisberg / Baricelli 1982, S. 150). Einen Eindruck davon, wie breit gestreut die Gegenstände und Fragestellungen sind, die unter ,Law and Literature‘ subsumiert werden, vermittelt folgende, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Aufzählung aus einer Einführung zu dem Forschungsfeld von Dolin (2007, S. 10 f.): „(i) literary representations of legal trials, practitioners and language, and of those caught up in the law; (ii) the role played by narrative, metaphor and other rhetorical devices in legal speech and writing, including judgments; (iii) how the supposed freedom of literary expression is contained and regulated by laws; (iv) the circulation of legal ideas in literary culture, and vice versa in various periods and societies; (v) the effects of social ideologies such as race and gender in legal language; (vi) theory of interpretation; (vii) the use of theatricality and spectacle in the creation of legal authority; (viii) the cultural and political consequences of new technologies of communication, such as writing, the printing press and the Internet; (ix) legal storytelling or narrative jurisprudence“. Vgl. auch die weit ausgreifende Bibliographie von Sprecher 2011 (mit einem Schwerpunkt auf deutschsprachigen Studien). Für einen forschungskritischen Rückblick auf die bisherigen Versuche der interdisziplinären Arbeit vgl. Peters 2005; Olson 2010 (mit einem Fokus auf der Rezeption der Bewegung außerhalb der USA); 2015. Baron (1999, S. 1062) bezweifelt angesichts der Diversität der Ansätze, ob es sich überhaupt um e i n e Bewegung handelt: „If there is a single movement here, it is certainly a very fractured one. The concerns of its separate strands are quite disparate“. Auch Friedrich (2011, S. 286), der sich auf neuere deutschsprachige Arbeiten zu ,Recht und Literatur‘ bezieht, charakterisiert das schwer zu überblickende Forschungsfeld als ein „außerordentlich heterogenes“; Systematisierungsversuche fehlten bislang weitgehend (S. 292). 79 Vgl. dazu Garloff 2004, S. 69 f.; Sarat / Anderson / Frank 2010, S. 2-8, bes. Anm. 5 (S. 2 f.). Zur Interdependenz beider Betrachtungsweisen vgl. Minda 1997, S. 255; zur Unschärfe der Abgrenzung vgl. Lachenmaier 2008, S. 43 f. Julius (1999, S. xiii) nennt zusätzlich noch den Zweig „the law of literature“, d. h. die Untersuchung von Gesetzen, die sich auf Literatur beziehen oder darauf Anwendung finden. Außerdem unterscheidet er zwischen „law as literature“ und „legal and literary hermeneutics“. Mit diesen Differenzierungen kann er das tatsächliche Forschungsfeld besser erfassen; sie scheinen sich jedoch nicht durchgesetzt zu haben. 80 Zu dem gerade in der Anfangsphase der Bewegung vorherrschend untersuchten Kanon von Klassikern („Shakespeare, Twain, Austen, Dickens, or Melville to name only a few“) vgl. Rockwood 1996, S. 3 f. Julius (1999, S. xvi) spricht von einer „heterogeneous group“: „These add up to not much more than a themed subset of the received canon of Western literature, though a number are pre-eminent in the canon.“ 81 Lachenmaier (2008, S. 44-46) sieht diesen Ansatz als repräsentativ für die Strömung ,Law in Literature‘ an (zur Einseitigkeit von Lachenmaiers Betrachtungsweise vgl. Bergann 2009, Absatz 12). Zur Tradition des Gebrauchs von Fallgeschichten, die mit literarischen Mitteln erzählt werden, in der Juristenausbildung vgl. Lachenmaier ebd., S. 18 f.; Bleumer 2011a, S. 6 f. (zum [alten] Pitaval und dessen Rezeption). Als eine Folge des didaktischen Gebrauchs von Literatur für die Juristenausbildung im englischsprachigen Raum kann folgender Befund gelten: „The law and literature movement is largely confined to law faculties and does not figure in general accounts of modern literary theory.“ ( Julius 1999, S. xvii). 82 Vgl. dazu Peters 2005, S. 444. 83 Vgl. dazu den Überblick bei Lachenmaier 2008; zur Einordnung außerdem Garloff 2004, S. 70; 75-87. Binder (1999) will verschiedene Verständnismöglichkeiten von ,Law as Literature‘ zusammenführen, indem sie den Ausdruck als Tropus interpretiert. <?page no="23"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 23 sei, weil sich beide des Mediums Sprache bedienten. 84 Folgerichtig wurden auch Rechtstexte dekonstruktivistischen Lektüren unterzogen. 85 Dadurch wurden zugleich die für das Forschungsfeld ,Law and Literature‘ konstitutiven Dichotomien unterminiert. 86 Auch vonseiten der Narratologie ist die einfache Gegenüberstellung von ,Law‘ und ,Literature‘ aufgebrochen worden, indem das Augenmerk auf Phänomene der Narrativierung gerichtet wurde, die sich in beiden Bereichen nachweisen lassen. 87 Es dürfte kein Zufall sein, dass das Feld ,Law and Literature‘ inzwischen institutionell unter dem Dach der Forschungen zu ,Law, Culture and the Humanities‘ verortet wird, 88 wobei das genaue Verhältnis der beiden Forschungsfelder unklar ist. 89 Als programmatisches Argument dafür, weshalb die Formel ,Law and Literature‘ durch andere ,Law and …‘-Verbindungen zu ersetzen sei - nicht zuletzt ,Law and the Humanities‘ -, wird angeführt, dass nur dann historische Perspektiven angemessen berücksichtigt werden könnten. Schließlich habe es eine Zeit gegeben, da ,Law‘ und ,Literature‘ noch nicht systematisch zu trennen gewesen seien. 90 Dieses Argument ist für die germanistische Mediävistik, in der die Rezeption der ,Law and Literature‘-Bewegung erst beginnt, 91 von hoher Relevanz, da der juristische und der literarische Diskurs im Untersuchungszeitraum nicht streng separiert sind, sondern ,Literatur‘ und ,Recht‘ auf der Ebene der Performanz und der Symbolsysteme eng verflochten erscheinen. 92 Zu berücksichtigen wären außerdem 84 Zu den unterschiedlichen Literaturbegriffen in den beiden Strömungen vgl. Garloff 2004, S. 95 f. 85 Vgl. dazu Binder 1999, S. 80-83; Greiner 2010, S. 13 mit Anm. 31 (S. 13 f.). Die Übertragung literaturwissenschaftlicher Methoden und im Gegenzug die Berücksichtigung literarischer Texte in juristischen Diskussionen ist von Posner (2009 [1988]) heftig kritisiert worden. In der Rezension Balkins (1989) wird in seiner Argumentation und der eigenen Positionierung deutlich, wie stark die Beurteilung des Verhältnisses von Literatur und Recht (sowie Literatur- und Rechtswissenschaft) von den theoretischen Vorannahmen über Literatur geprägt ist. Vgl. dazu auch Bleumer 2011a, S. 11 f. 86 Vgl. dazu Minda 1997, S. 253. Die dichotomischen Vorannahmen betreffen nicht nur die Gegenstände, sondern auch die Herangehensweisen. Vgl. dazu Peters 2005, S. 449: „[…] the interdisciplinarity of law and literature enacted a double movement that ran counter to its own project. It sought to dissolve disciplinary boundaries, but, through the imaginary projection by each discipline of the other’s difference, it exaggerated the very disciplinary boundaries it sought to dissolve.“ Welche Art disziplinübergreifender Arbeitsweise dem Gegenstand überhaupt angemessen sei, diskutieren u. a. Baron 1999 und Pichler 2015. 87 Vgl. Bleumer 2011a, S. 7 f. Doering und Emmelius (2017, S. 10) bezeichnen darauf aufbauend denjenigen Forschungszweig, der sich „mit strukturellen Entsprechungen in Recht und Literatur“ befasst, als „ ,Law as Literature‘ bzw. ,Literature as Law‘ “, während sie die Analyse der literarischen Verfasstheit von Rechtstexten unter „ ,Literature in Law‘ “ subsumieren. 88 Vgl. den Einführungstext auf der Website der „Association of Law, Culture and the Humanities“ (http: / / lawculturehumanities.com/ , 15. 08. 2017). Zur Auflösung des ursprünglichen interdisziplinären Forschungsfeldes ,Law and Literature‘ vgl. auch Julius 1999, S. xiv f.; Olson 2015. 89 „Today, scholars in that field [i. e. Law and the Humanities] are supported by a well-developed infrastructure of professional associations and scholarly journals, but the precise contours of this field are anything but clear. What is its relationship to law and literature? What, if any, relationship does it have to the qualitative social sciences, for example anthropology? “ (Sarat / Anderson / Frank 2010, S. 1). 90 Vgl. Olson 2015, S. 41 f., mit weiterer Literatur. Eine historische Perspektive ist im gesamten Forschungsfeld nicht besonders ausgeprägt, jedoch gibt es z. B. für das 18. und 19. Jahrhundert Überlegungen dazu, dass sich die Abgrenzungen zwischen ,Law‘ und ,Literature‘ historisch unterschiedlich darstellen (vgl. Binder 1999, S. 65; Peters 2005, S. 449). 91 Zur zögerlichen Rezeption in der deutschsprachigen historisch orientierten Literaturwissenschaft insgesamt vgl. Bleumer 2011a, S. 13. 92 Vgl. Bleumer 2011a, S. 6-9. <?page no="24"?> 24 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik der weite Literaturbegriff der Mediävistik, der ,literarische‘ und ,pragmatische‘, also auch juristische, Texte mit umfasst, 93 und die Diskussion darüber, ob man es nicht überhaupt mit ,Texten vor der Literatur‘ zu tun habe. 94 Bei einer Inbezugsetzung von ,Recht‘ und ,Literatur‘ muss deshalb reflektiert werden, was jeweils damit gemeint ist. 95 Eine verallgemeinernde Terminologie erscheint jedoch als zu einfache Lösung, da sie vorhandene Differenzierungen einebnet. Dass es trotz der Schwierigkeiten, ,Literatur‘ und ,Recht‘ kategorial voneinander zu scheiden, auch für deutsche Texte des Mittelalters weiterführend sein kann, heuristisch zunächst eine Differenz von ,Literatur‘ und ,Recht‘ anzusetzen, belegen die Beiträge im mediävistischen Sonderheft Recht und Literatur der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik . 96 Wie die Skizze der bisherigen Diskussion erkennen lässt, hat sich im Forschungsfeld ,Literatur und Recht‘ keine allgemein anerkannte Methodik herausgebildet. 97 Einen bedenkenswerten Versuch zur Systematisierung stellt der diskursanalytische Ansatz Bernhard Greiners (2010) dar: Recht und Literatur lassen sich im Horizont Foucaultscher Diskurstheorie im Lichte eines gemeinsamen Dritten aufeinander beziehen, des Diskurses und der diskursiven Praxis, ihrer Regeln, Institutionen, Verfahren der Versprachlichung wie der Wissensproduktion. 98 Im Folgenden geht es Greiner weniger um das ,gemeinsame Dritte‘ als vielmehr um die gegenseitige Bezugnahme der beiden Spezialdiskurse ,Recht‘ und ‚Literatur‘. Zwar wäre der verwendete Diskursbegriff zu schärfen, 99 doch kann Greiner auf dieser Grundlage eine Systematik entwickeln, die verschiedene Bezugsmöglichkeiten differenziert. Mit der Kategorie „ Literatur in der Perspektive des Rechts “ erfasst er zum Beispiel Formen des Rechtsdenkens oder juristisch geprägter Urteilsverfahren in der Literatur, während er unter „ Recht in der Perspektive der Literatur “ die Verhandlung rechtlicher Fragen mit den Möglichkeiten der Literatur verstanden wissen will. 100 Sein Augenmerk will Greiner ausdrücklich nicht auf das „große Feld der Behandlung von Rechtsthemen in der Literatur“ richten, weil eine Diskursverschränkung nicht gegeben 101 und die Hinwendung der Literatur zum Recht, das zum 93 Vgl. dazu exemplarisch Ruh 1985. 94 Vgl. abwägend Peters 2007. 95 Mit der Einschränkung, dass für das Mittelalter noch nicht von einem ausgegliederten ,Literatursystem‘ gesprochen werden kann, ist im Folgenden auch für diese Zeit von literarischen Texten die Rede, wenn es sich um Texte handelt, die nicht einen pragmatischen Charakter im engeren Sinne haben. Zur Stellung der Bibelepik s. u. Kap. 1.3.3. Zur Frage, was mit ,Recht‘ in dieser Arbeit gemeint ist, s. u. Kap. 1.4.1. 96 Für einen Überblick vgl. Bleumer 2011a, S. 15-17. 97 Auch bei der kulturwissenschaftlichen Öffnung des Forschungsfeldes ,Recht und Literatur‘, wie sie gegenwärtig propagiert wird (vgl. Olson 2015), müssten Methoden der Tetxtanalyse reflektiert werden. 98 Greiner 2010, S. 11 f. 99 Greiner diskutiert nicht, ob ,Literatur‘ eventuell eine Sonderrolle als Interdiskurs zukommt (vgl. dazu z. B. Link / Link-Heer 1990). Zur Verunklärung des Diskursbegriffs trägt weiterhin bei, dass Greiner ,Diskurs‘ auch im Sinne von „Abfolge des Redens“ (S. 11) interpretieren will. 100 Vgl. Greiner 2010, S. 11-20. Das Verhältnis von rechtlichen Denk- und Ausdrucksformen zur Narration hat auch in der neueren mediävistischen Forschung verstärkt Aufmerksamkeit gefunden (vgl. Bleumer 2011b; Emmelius 2011; Doering / Emmelius 2017, S. 10-20). 101 Vgl. Greiner 2010, S. 15. „Gegenüber einem bloßen Aufgreifen rechtlicher Motive, Sachverhalte und Fragen in der Literatur, insofern Recht eben ein grundlegendes Ordnungsprinzip des menschlichen Lebens ist, kann von einem Ineinander beider Diskurse erst gesprochen werden, wenn sich der Über- <?page no="25"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 25 menschlichen Leben gehöre, ,akzidentiell‘ sei. 102 Gerade der Aspekt der Referenz auf das ,menschliche Leben‘ müsste jedoch ebenfalls einer methodologischen Reflexion unterzogen werden, 103 auch wenn er nicht exklusiv auf den Bereich ,Recht und Literatur‘ beschränkt ist. Dass das Verhältnis von Recht und Literatur auch unter der übergreifenden Fragestellung des Verhältnisses von Text und Kontext betrachtet werden sollte, klingt in der Einleitung zu einem 2012 anlässlich der Eröffnung eines Law-and-Literature-Studienganges in Hongkong erschienenen Band an: Recent interdisciplinary work often focuses on the ways in which law can learn from literature or the humanities more broadly, but what intellectual gain can be made from a legal reading of literature or other texts from the humanities? This question often becomes elided perhaps because the act of contextualising literary, philosophical or film texts in legal history is in itself not new. However, further theorisation could shed light on the exact nature of the relationship between the two domains. […] Or perhaps re-contextualisation could shed light on the wider question of the methods and practice of interdisciplinarity, so that the focus is not a re-evaluation of literature or law per se , but on achieving a new understanding of what it means to stage an encounter between them? Would the encounter problematise the difference between literary ‘text’ and legal ‘context’? 104 Für den Teilbereich der Untersuchung von rechtlichen Motiven und Rechtskonzepten führen die Überlegungen in der Forschung zu ,Law in Literature‘ also letztlich zur vieldiskutierten Text-Kontext-Problematik. 105 Auch unter diesem Blickwinkel sind ,Literatur‘ und ,Recht‘ aber nicht einfach dichotomisch gegenüberzustellen. Vor allem in der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft ist betont worden, dass ,Literatur‘ sich nicht darauf beschränkt, kulturelle Phänomene aufzunehmen und zu diskutieren, sondern dass literarische Texte Teil der Kultur sind und sie mit prägen. 106 Insofern wären literarische Textritt auf das Feld der Literatur in bestimmter Hinsicht als geboten oder doch mehr versprechend erweist, das Thema oder die Frage also vom einen Feld auf das andere ,verschoben‘ wird“ (ebd.). 102 Vgl. Greiner 2010, S. 12. 103 Das gilt umso mehr, als auch in der neueren Forschung die eigenen Vorannahmen nicht immer reflektiert werden, vgl. z. B. Vormbaum 2011 (2002), S. 13: „Stellt der Jurist […] fest, daß im literarischen Kunstwerks [sic] Behauptungen über das Recht aufgestellt werden, die der juristischen Überprüfung nicht standhalten, so mag er den Zeigefinger in jenen Fällen erheben, in denen der Schriftsteller - es wird im Zweifel kein bedeutender sein - Wohl und Wehe seines Werks auf das Sosein einer Rechtsnorm gestellt hat; in anderen Fällen wird er ihm den freien Umgang mit den juristischen Gegebenheiten nachsehen.“ Julius (1999, S. xvi) hatte eine solche Betrachtungsweise, die danach fragt, wie genau ein literarisches Werk Aspekte des Rechtssystems wiedergibt, als einen Typ von Fehlinterpretation („ mis reading“) eingeordnet, die es v o r dem Beginn der systematisch betriebenen Studien zu ,Law and Literature‘ gegeben habe. 104 Wan 2012, S. 6. Ziolkowski (1997, S. xii) will auf die Rechtsgeschichte zurückgreifen, um sein Verständnis des literarischen Werkes zu erhöhen, setzt sich aber nicht grundsätzlich mit der Text-Kontext-Problematik auseinander, sondern geht von vornherein davon aus, dass literarische Werke Krisen in der Entwicklung des Rechts s p i e g e l t e n (ebd., S. x). 105 Für die germanistische Mediävistik seien hier nur Peters 2000 und Müller 2007a genannt. Die Fokussierung auf den Bereich des Rechts stellt eine der „Komplexitätsreduktionen durch Segmentierungen [sc. ,der Welt‘]“ dar, wie sie Brenner (1998, S. 291) für kontextorientierte literaturwissenschaftliche Forschung als notwendig beschrieben hat. 106 Vgl. dazu zusammenfassend Köppe / Winko 2013, S. 244 f. Für den Bereich ,Literatur und Recht‘ (in der altfranzösischen Literatur) vgl. aber bereits Bloch (1977, S. 11), der hervorhebt, dass die literarischen Darstellungen nicht mimetisch seien. In ihrer Studie zur Repräsentation von Vergewaltigungen in altfranzösischen Rechtstexten und literarischen Texten betont Gravdal (1991, S. 18 f.) umgekehrt, dass <?page no="26"?> 26 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik te, die sich mit dem Recht befassen, als Teil der Rechtskultur zu begreifen. Angesichts einer insgesamt als Zeichensystem verstandenen Kultur wäre die Unterscheidung von Text und Kontext hinfällig, sondern es könnten allenfalls gleichgeordnete textuelle Identitäten miteinander in einen Dialog gebracht werden. 107 Auch wenn man literarische Texte nicht aus der Kultur aussondert, ist aber zu fragen, wie sich das Einzelwerk zum ,Kulturganzen‘ verhält; für den analytischen Zugriff ist also trotzdem zwischen einem ,Text‘ als Beobachtungsobjekt und Kontexten als ,Bezugshorizonten‘ zu trennen. 108 Eine Differenzierung zwischen einem rechtsbezogenen literarischen Text und dem ,Recht‘ außerhalb dieses Textes scheint ebenfalls weiterhin sinnvoll, denn es haben sich in literarischen Texten spezifische Muster der Sinnbildung nachweisen lassen. 109 Doch wie kann der spezifische Zugriff literarischer Texte auf die ,Kultur‘ differenziert beschrieben werden? Als einflussreich in der germanistischen Mediävistik haben sich in den letzten Jahren insbesondere zwei grundlegende Entwürfe zum Text-Kontext-Problem erwiesen: Christian Kiening (2007) und Jan-Dirk Müller (2007) haben jeweils die These aufgestellt, dass bei der Analyse kultureller Logiken, die (narrativen) literarischen Texten inhärent seien, ,Kulturmuster‘ eine zu allgemeine Bezugsgröße seien. 110 Müller richtet sein Interesse deshalb auf in bestimmten Zeiträumen wiederkehrende „Erzählkerne und Problemkonstellationen“, 111 wobei es ihm vor allem um die narrative Produktivität solcher Erzählkerne geht. 112 Die Verbindung zwischen Text und Kultur sieht Müller - unter Bezug auf Cornelius Castoriadis - im Bereich des Imaginären: Das literarisch Imaginäre fasst er „als integralen Teil des gesellschaftlich Imaginären“ (S. 17) auf, das alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt, doch begrenzt Müller seine Ergebnisse zur Anthropologie in der höfischen Epik um 1200 ausdrücklich auf das literarisch Imaginäre. 113 Das mag auch mit dem gewählten Untersuchungsansatz zusammenhängen, der sich dezidiert auf fiktionale Texte richtet und aus ihnen Problemkonstellationen ableitet, einen Abgleich mit der Verarbeitung dieser Problemkonstellationen in anderen Textsorten aber nicht vornimmt. 114 Rechtstexte keinen objektiveren Charakter hätten als literarische Texte. Heinzle (1994, S. 267) will in seinen Untersuchungen zum gerechten Richter exemplarisch zeigen, dass Literatur als ein „ Faktor “ zu betrachten ist, der historische Abläufe mit bestimmt. 107 Vgl. Köppe / Winko 2013, S. 246 f. Vgl. auch Kiening (2007a, S. 79) zum Begriff des ,kulturellen Textes‘: „Texte, Kontexte und Diskurse erscheinen beinahe ununterscheidbar vernetzt. Der literarische Text partizipiert am pragmatischen, der pragmatische besitzt rhetorische Strategien, die Kultur im ganzen ist ein fluktuierendes Gewebe von in Austausch befindlichen Zeichen.“ 108 Vgl. Kiening (2007a, S. 79), der vom ,Geschichtsganzen‘ spricht. Zur Aktualität des Text-Kontext-Problems vgl. auch Müller 2007b, S. 8; Köppe / Winko 2013, S. 249; in polemischer Zuspitzung Peters 2013. 109 Vgl. z. B. Müller 2000, S. 480 f. 110 Sie verstehen allerdings darunter jeweils etwas anderes: Müller (2007b, S. 6) fasst Kulturmuster als historisch spezifische ,kulturelle Vorgaben‘ auf, mit denen sich literarische Texte auseinanderzusetzen hätten, Kiening (2007a, S. 81) will Kulturmuster dagegen als „allgemein verfügbare Größen“ von historisch gebundenen ,kulturellen Konfigurationen‘ absetzen. 111 Müller 2007b, S. 6. Den Problembegriff erörtert Müller an dieser Stelle nicht weiter; aus dem Kontext ergibt sich aber, dass Müller nicht an überzeitliche Probleme denkt (zur Diskussion in der problemgeschichtlichen Forschung vgl. Spoerhase 2010, S. 114-121). 112 Vgl. Müller 2007b, S. 6; 18. 113 Vgl. Müller 2007b, S. 9-17 (Zitat S. 17); 479. 114 Vgl. dazu Hasebrink (2010, S. 146), der in seiner Rezension Müllers Studie Höfische Kompromisse (2007b) insgesamt zu Recht als „Meilenstein der Mittelalterforschung“ (S. 154) würdigt: „Der Versuch, über rekurrente ,Erzählkerne‘ weit in das historisch Innere einer Kultur vorzustoßen, ist faszinierend. Aber zugleich zeigen sich meines Erachtens hier auch die Grenzen eines Verfahrens, variante Erzählmuster auf zugrundeliegende ,Erzählkerne‘ zurückzuführen und diesen ,Kernen‘ über das Erzählen hinaus <?page no="27"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 27 Versucht man, Müllers methodologische Überlegungen für die Analyse von ,Literatur‘ und ,Recht‘ fruchtbar zu machen, ergeben sich an diesem Punkt Probleme, denn eine Differenzierung zwischen dem literarisch und dem gesellschaftlich Imaginären scheint für den gesellschaftlich zentralen Bereich des Rechts besonders schwierig. Kiening verfolgt in seinen Erwägungen, deren Ausgangspunkt das Aufgreifen bekannter Stoffe in Erzählungen ist, eine stärker rezeptionsorientierte Herangehensweise: Er setzt narrative Muster als syntagmatische Grundelemente, die den Bezug zu vorhandenen Texten konstituierten, von kulturellen Konfigurationen ab, die auf paradigmatischer Ebene den Anschluss an zeitgenössische Diskurse ermöglichten und „[b]ezogen auf die Dreiheit von Motiv, Stoff und Thema […] am ehesten auf der Ebene der Themen zu verorten“ wären. 115 Mit dem Bezug auf Diskurse ist ein grundsätzlich anderer Theorierahmen gesetzt als bei Müller: Auch Kiening warnt zwar davor, ,kulturelle Konfigurationen‘ direkt auf historische Tatsachen zu beziehen, 116 aber über die Diskurse ist die Untersuchungsperspektive zu nicht-literarischen Texten geöffnet und auch - so von Kiening nicht ausbuchstabiert - zu nicht-diskursiven Praktiken, auf die Diskurse rekurrieren. Kiening selbst betont, dass die „kulturelle Konfiguration […] nicht einfach vom narrativen Muster ablösbar“ sei: „Sie ist nicht ein allgemein verfügbares Thema, das einmal literarisch, ein ander Mal historisch, philosophisch oder theologisch abgehandelt würde.“ 117 Kienings Modell, das für die von ihm vorgenommene Analyse ,typologisch verwandter Texte‘ 118 außerordentlich leistungsfähig ist, lässt sich also nicht bruchlos auf die Analyse von ,Literatur‘ und ,Recht‘ übertragen, da in diesem Bereich allgemeine Problemkonstellationen existieren (z. B. die Spannung zwischen allgemeinem Recht und der Billigkeit im Einzelfall), die tatsächlich außerliterarisch wie literarisch diskutiert werden könnten. Insofern wäre für den Bereich ,Literatur und Recht‘ ein Analysemodell nötig, das literarische Texte doch im Hinblick auf übergreifende, aber nicht notwendig überzeitliche kulturelle Muster erfassbar machte. Anschlussfähig ist jedoch Kienings Forderung, bei der Textanalyse zwischen verschiedenen Bezugshorizonten zu differenzieren, die im literarischen Werk spannungsvoll interagieren können: dem Bezug auf andere Erzähltexte, der zugleich eine diachrone Dimension hat, und dem Bezug auf zeitgenössische Diskurse. 119 Aufgerufen ist damit letztlich die Frage nach der Referenz, die ihrerseits komplex ist. Guido Naschert (2003) unterscheidet in seinem Handbuchartikel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft drei Referenztypen: Referenzen des Textes auf die nichtsprachliche ,Welt‘, Referenzen des Textes auf andere Texte, Referenzen des auszulegenden Textes auf sich selbst. 120 Diese Systematik bedürfte einer eigenen Diskussion, vor allem weil fraglich ist, ob sich die nicht-sprachliche sauber eine gewisse kulturelle Signifikanz zuzusprechen. […] die Frage, wie interpretatorisch erschlossene ,Erzählkerne‘ zugleich für allgemeine kulturelle Phänomene paradigmatisch sein können, lässt sich meines Erachtens mit Rückgriff auf fiktionale Literatur allein nicht lösen.“ 115 Kiening 2007a, S. 80 f. 116 „Die narrativen Muster sind zunächst einmal formale Anordnungen, die verschiedene Sinnpotentiale transportieren - wobei diese Sinngehalte als kulturelle Konfigurationen zu bezeichnen nicht heißt, von mehr oder weniger universalen, Mentalitäten und Diskurse prägenden historischen Tatsachen auszugehen.“ (Kiening 2007a, S. 81). Kiening (ebd.) sieht in kulturellen Konfigurationen aber gleichzeitig „eben jenes Potential, mit dem Texte, Bilder und Objekte einen ihre Eigenweltlichkeit überwölbenden Geltungsanspruch erheben.“ 117 Kiening 2007a, S. 97. 118 Vgl. Kiening 2007a, S. 96. 119 Vgl. Kiening 2007a, S. 79 f.; 96 f. 120 Vgl. Naschert 2003, S. 239. <?page no="28"?> 28 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik von der sprachlichen Welt trennen lässt. 121 Für den Bereich des Rechts kann man aber auf jeden Fall festhalten, dass bei Rechtsmotiven oder der Verhandlung von Rechtsthemen in der Literatur erst einmal zu klären ist, inwiefern als Bezugshorizont Praktiken, Diskurse oder andere literarische Texte anzunehmen sind. Diese Frage stellt sich nicht erst aus der Perspektive der heutigen Literaturwissenschaft; vielmehr dürfte die Art der referentiellen Verankerung auch für die historische Rezeption literarischer Texte bestimmend gewesen sein. Wenn im Folgenden dieser Aspekt weiterverfolgt wird, dann ist das e i n Weg, sich Rechtsmotiven und -themen als einem Teilbereich von ,Law in Literature‘ methodologisch reflektiert anzunähern. Aufgelöst sind die aufgezeigten Aporien damit nicht. Im Bereich der mediävistischen Forschung zum Verhältnis von ,Recht‘ und ,Literatur‘ ist die Frage nach Bezugshorizonten nicht systematisch erörtert worden, klingt aber in verschiedenen Arbeiten an. So hat Rüdiger Schnell (2011) den Bezug von Rechtsmotiven in höfischer Literatur zur Rechtspraxis ausgelotet und hat die These aufgestellt, dass Diskrepanzen, aber auch Korrespondenzen als Fiktionssignal fungiert haben könnten: So sei der erzählerische Spielraum bei der Darstellung gottesgerichtlicher Zweikämpfe gewachsen, als deren Praxis zurückging; er sei als Fiktionalisierung zu deuten, nicht als Stellungnahme zur Rechtspraxis; der ,Realitätsbezug‘ sei verloren gegangen. 122 Ebenfalls als Fiktionalitätsmerkmal sei die Verrechtlichung von Liebe in literarischen Texten zu verstehen, denn dadurch, „dass das Recht (Rechtsverfahren, Strafbestimmungen, Tatbestände u. a.) ausgerechnet auf eine rechtsfremde und rechtsferne Materie angewendet wurde, erschien das Produkt dieser Transformation umso fiktiver“. 123 Schnells Untersuchung lässt erkennen, wie eine kontextorientierte Untersuchung von ,Law in Literature‘ auch poetologisch ausgewertet werden kann. Seinem Erkenntnisinteresse (der Transformation von Rechtsfiktionen in der Literatur) 124 gemäß ist Schnell an den in den literarischen Texten in ihrer Gesamtheit entfalteten Konzepten interessiert und thematisiert die zu vermutenden Rezeptionsprozesse im Einzelnen nur am Rande. 125 Eine Deutung der Verrechtlichung als Fiktionalitätssignal durch einen historischen Rezipienten setzt jedoch voraus, dass von ihm zunächst die Rechtspraxis (oder Wissen darüber aus anderen Texten) aufgerufen wird. Das kontextuelle Wissen ist schon allein deshalb unabdingbar, da rechtliche Verfahrensweisen in Erzähltexten selten vollständig repräsentiert sind, wie Ruth Schmidt-Wiegand (1986) für die Darstellung gottesgerichtlicher Zweikämpfe ausgeführt hat. 126 Am Beispiel des Rolandsliedes legt sie weiterhin das Problem der Koexistenz zeitgenössischer und archaischer Rechtselemente dar. 127 Auch wenn eine solche Verbindung nicht ungewöhnlich, sondern bei heldenepischen Texten mit älterer mündlicher Tradition verbreitet sei, müsse geklärt werden, wie die Rezipienten damit umgegangen seien: 121 Niefanger (2013, S. 45-54) erweitert die Zahl der Referenztypen erheblich, ohne allerdings deren Art und Hierarchisierung genau zu bestimmen. 122 Vgl. Schnell 2011, S. 21-27. Zu der chronologischen Diskrepanz zwischen Rechtspraxis und literarischer Darstellung vgl. auch dens. 1993. 123 Vgl. Schnell 2011, S. 28-41 (Zitat S. 41). 124 ,Rechtsfiktion‘ ist im Sinne von ,Alltagsfiktion‘ gebraucht (vgl. Schnell 2011, S. 18-21). 125 Vgl. Schnell 2011, S. 21 mit Anm. 9. 126 Vgl. Schmidt-Wiegand 1986, S. 4 f. (dort auch zum Zusammenhang von Prozessform und Handlungsstruktur). 127 Vgl. dazu auch Schmidt-Wiegand 1990a. Die Rechtsmotivik im Rolandslied ist seit den Veröffentlichungen Schmidt-Wiegands weiter diskutiert worden (vgl. z. B. Hoffmann 2001; Manuwald 2018a, jeweils mit weiterer Literatur). <?page no="29"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 29 Denn das Publikum, der Hörer oder Leser, mußte diese Verbindung akzeptieren können, sollte das Rechtliche seine funktionale Bedeutung behalten, die nicht allein darin bestand, den Handlungsverlauf zu strukturieren, sondern die sich auch auf die Personen und ihr Handeln erstreckte, indem auf diese Weise Motivationen geschaffen wurden, die dem Hörer oder Leser verständlich waren. 128 Schmidt-Wiegand erklärt die zu vermutende Akzeptanz durch das Publikum - unter Verweis auf Arbeiten Adalbert Erlers (1954; 1969) - damit, dass es wegen der Diskrepanz zwischen ,Zeitstil‘ und ,Rechtsstil‘ auf Unstimmigkeiten vorbereitet gewesen sei. Aber diese Hypothese kann nicht ganz befriedigen, denn Erlers allgemein gehaltene Überlegungen betreffen eventuelle Phasenverschiebungen in den Ausdrucksformen im rechtlichen Bereich gegenüber der allgemeinen Stilentwicklung, nicht das Nebeneinander verschiedener ,Zeitstufen‘ im Recht selbst. 129 Es wäre deshalb vielmehr zu fragen, ob man nicht grundsätzlichere Mechanismen bei der Rezeption von Erzähltexten anzunehmen hat, deren Sinn sich einerseits durch Bezüge auf die Kultur der Entstehungszeit konstituiert, die andererseits aber die Welt nicht einfach widerspiegeln, sondern zum Beispiel auch gattungstypischen Erzähllogiken folgen. 130 Solche Rezeptionsvorgänge sind nicht auf Phänomene von ,Law in Literature‘ beschränkt, bedürfen aber gerade für diesen Bereich einer genaueren Betrachtung, weil das Recht im menschlichen Zusammenleben eine so zentrale Rolle spielt, dass ein Bezug zur ,realen Welt‘ immer zu prüfen ist. Erst wenn die Sinnkonstitution in den Texten auch anhand ihrer Bezüge zur außertextuellen Wirklichkeit in den Blick genommen ist, lässt sich aufdecken, wie narrative und juristische Muster interagieren und wie sich Texte zu Rechtsfragen in einer Kultur positionieren. 1.3.2 Realitätsreferenz aus der Sicht rezeptionsorientierter Forschung Dass manche Sinndimensionen von Texten erst auf der Grundlage bestimmten kulturellen Wissens erschlossen werden können, zeigt sich besonders deutlich, wenn sie in einer zeitlich oder räumlich entfernten Kultur rezipiert werden. 131 Ausgehend von der Übersetzungsproblematik hat Jean Fourquet (1973) für die kulturelle Verankerung von Texten die griffige Metapher des ,Hinterlandes‘ geprägt: Die Menge der außertextlichen Elemente, deren Kenntnis - ob erfahrungsmäßig, ob buchmäßig - zum Verständnis eines Textes beiträgt, nennen wir kurz das H i n t e r l a n d des Texts. Zum Begriff “Hinterland” gehört eben eine unbestimmte Ausdehnung vom betreffenden Territorium aus. 132 128 Vgl. Schmidt-Wiegand 1986, S. 7 f. (Zitat S. 8). 129 Für das Mittelalter nahm er überdies eine Kongruenz von ,Zeitstil‘ und ,Rechtsstil‘ an (vgl. Erler 1969, S. 164). 130 Vgl. dazu (ausgehend vom Nibelungenlied ) Müller 2005 (2001). Die Erzählmuster können ihrerseits wieder kulturspezifisch sein (vgl. grundlegend Müller 2007b, S. 6-41; vgl. auch Kiening 2009, S. 11-36). 131 Wenn hier implizit die These aufgestellt wird, dass eine Annäherung an bestimmte Facetten von Texten mithilfe kulturellen Wissens möglich sei, soll das nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass Fremdheitserfahrungen bei der Lektüre von Texten völlig aufgelöst werden könnten oder dass das angestrebt sein sollte (vgl. dazu grundsätzlich Hasebrink 2012). Der Alteritätsbegriff ließe sich für die genannten Phänomene nur insofern fruchtbar machen, als er auch zur Bezeichnung von Fremdem Verwendung findet, „das vom eigenen sozio-kulturellen bzw. historischen Standpunkt weit entfernt scheint.“ (Baisch 2013, S. 187). 132 Fourquet 1973, S. 114. Fourquet differenziert zwischen dem ,Hinterland‘ und dessen Kenntnis, er verknüpft also das ,Hinterland‘ mit dem Text selbst und nicht allein mit den Kommunikationspartnern <?page no="30"?> 30 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik Inwiefern Texte auf das - prinzipiell unbegrenzte - ,Hinterland‘ so direkt referieren, dass der Rezipient auf die Aktivierung entsprechender Kenntnisse angewiesen ist, und welche Prozesse der Sinnkonstitution zu erschließen sind, wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter verschiedenen Vorzeichen (Textlinguistik, 133 Wirkungsästhetik, 134 Narratologie, 135 Fiktionalitätstheorie 136 ) verstärkt diskutiert. Alle diese Ansätze zeichnet eine übereinstimmende Herangehensweise aus: die Untersuchung des Weltbezugs von Texten unter kommunikativer Perspektive. 137 Für diesen Weltbezug von Texten hat Jan- Dirk Müller (2004) tentativ den „altmodischen Begriff der ,Welthaltigkeit‘ “ reaktiviert, mit dem er neben dem ,Faktischen‘ „gedachte Ordnungen wirklicher Welten“ umfasst wissen wollte. 138 Um den auch von Müller hervorgehobenen Referenzcharakter dieser ,Welthaltigkeit‘ zu betonen und eine Brücke zur pragmatisch ausgerichteten Fiktionalitätstheorie zu schlagen, 139 wird im Folgenden der Terminus ,Realitätsreferenz‘ verwendet, trotz der Risiken, die damit wegen der potenziell philosophischen Bedeutungsdimensionen von ,Realität‘ verbunden sind. 140 Im Hinblick auf die kommunikative Funktion von Texten kann die Frage nach dem ontologischen Status von ,Realität‘ (auch in ihrer historischen Dimension) 141 (vgl. dazu Scherner 1984, S. 175 f., der 2000, S. 192, Fourquets Thesen allerdings anders referiert). Das ,Hinterland‘ eines Textes ist deshalb von den Assoziationen eines Rezipienten zu unterscheiden, eher bestehen Ähnlichkeiten zum Kontextbegriff. 133 Innerhalb der Textlinguistik sind insbesondere die kognitiven Ansätze zu nennen (vgl. dazu einen Überblick bei Scherner 2000; zur Einordnung des bei den kognitiven Ansätzen zugrunde gelegten Textbegriffs vgl. auch Scherner 1996). 134 Stellvertretend für die Konstanzer Schule sei hier auf Isers (1994 [1984], bes. S. 114-143) Überlegungen zum ,Repertoire‘ verwiesen, die im Folgenden herangezogen werden, ohne dass damit Isers Modell der Wirkungsästhetik insgesamt übernommen wird (zu Kritik an Isers Modell vgl. zusammenfassend Vollhardt 2003, S. 194 f.; 198-204). 135 Gemeint ist die kognitiv ausgerichtete Narratologie (vgl. dazu Zerweck 2002; Jahn 2005; Herman 2011 / 2013). 136 Hier sind pragmatische Fiktionalitätstheorien (z. B. Stierle 1975) und Überlegungen zur Sinnkonstitution bei fiktionalen Texten (z. B. Blume 2004) zu nennen. S. dazu auch u. S. 35. 137 Das ist bei wissensorientierten Ansätzen in der Literaturwissenschaft nur ein Teilaspekt, den Köppe (2011, S. 2-5) in die Kategorie „›Literatur‹ und ›Wissen‹ im Modell der literarischen Kommunikation“ (S. 2) einordnet (vgl. auch das entsprechende Kapitel in Klausnitzer 2008, S. 165-209). Auch Danneberg / Spoerhase (2011, S. 33) betonen: „Das Wissen-im-Text -Problem (bzw. Wissen-in-Literatur - Problem) in seinen unterschiedlichen Dimensionen […] ist abzugrenzen vom Problem, welches Wissen für die Konstruktion […] und Interpretation […] von Texten (bzw. literarischen Texten) relevant ist.“ Insgesamt scheinen die Arbeiten in diesem Bereich mehr an der Konstituierung und Funktion von Wissen als an den Rezeptionsprozessen interessiert zu sein (so auch Gebert 2013, S. 22). 138 Vgl. Müller 2004, S. 297-299. 139 In deren Kontext ist z. B. vom ,Realitätsprinzip‘ die Rede (s. u. S. 35). 140 Auch der Weltbegriff mit seinen Ausdifferenzierungen (vgl. dazu Rentsch 2004) birgt allerdings entsprechende Abgrenzungsprobleme. 141 Zur philosophischen Diskussion um die ,objektive Realität‘ vgl. zusammenfassend Kible / Trappe 1992. Für die Beweisbarkeit der Existenz einer ,Außenwelt‘ vgl. den Überblick von Grünepütt 1992. In dem Versuch, Epochen bestimmte Wirklichkeitsbegriffe zuzuordnen, spricht Blumenberg (1969, S. 11 f.) für das Mittelalter von einer „ garantierte [n] Realität “, in der „Gott als der verantwortliche Bürge für die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis“ fungiere (wobei die Welterkenntnis insgesamt gemeint ist). In Blumenbergs großräumigem Überblick bleiben die Charakterisierungen der Epochen notwendig pauschal, und es wäre zu prüfen, ob das von Blumenberg angenommene allgemeine Lebensgefühl tatsächlich für alle Teilbereiche des menschlichen Lebens relevant ist. Tatsächlich dürfte nicht die Existenz der Außenwelt geleugnet worden sein. Zumindest die Unzuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung wurde partiell jedoch thematisiert, und zwar in so unterschiedlichen Textsorten wie Zeugentraktaten (s. dazu u. S. 235-238) und Traktaten über die Unterscheidung der Geister, z. B. der <?page no="31"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 31 jedoch ausgeklammert werden. 142 Grundlegend ist vielmehr die Produzent und Rezipienten gemeinsame Erfahrungswirklichkeit, zu der die Wahrnehmung der materiellen Welt, aber auch darüber gebildete Annahmen und die durch die Rezeption anderer Texte gewonnenen Erkenntnisse gehören. 143 So verstanden schließt ,Realitätsreferenz‘ auch den Bezug auf mentale Modelle und Vorstellungsbilder ein. 144 Eine Differenzierung zwischen ,Realität‘ und ,Wirklichkeit‘ 145 ist bei einem solchen Sprachgebrauch ebenso wenig gegeben wie die Berücksichtigung historisch variierender Realitätsauffassungen und Wirklichkeitskonzeptionen. 146 Zwar ist auch das Konzept einer gemeinsamen Erfahrungswirklichkeit als Rezeptionsgrundlage mit Problemen behaftet, weil einerseits die intersubjektiven Schnittmengen nicht genau zu bestimmen sind 147 und andererseits die Gefahr besteht, dass die Möglichkeit subjektiv unterschiedlicher sinnstiftender Lektüren nicht genügend gewichtet wird. 148 Doch lässt sich mithilfe des Konzepts der Erfahrungswirklichkeit der Weltbezug von Texten ,Probate spiritus‘-Kompilation (vgl. dazu demnächst die im Entstehen befindliche Ausgabe von Lydia Wegener). 142 Vgl. dazu Blume (2004, S. 220), der unter Verweis auf die kognitive Semantik konstatiert, „daß nicht das Verhältnis zur außermentalen Realität, sondern das zum mentalen Realitäts bild der entscheidende Faktor für die Bedeutung sprachlicher Identitäten ist.“ 143 Hoops (1979, S. 301 f.) bestimmt die „Erfahrungswirklichkeit eines bestimmten textproduzierenden oder -rezipierenden Individuums“ als „kommunikativ relevante Bezugsebene“, wenn es um den „Wirklichkeitsgehalt“ fiktionaler Texte geht. „Eine derartige Erfahrungswirklichkeit besteht nicht nur aus mehr oder weniger stark präzisierten und geordneten Vorstellungen darüber, ,was es gibt und gab‘ und welche Aussagen über das für existent Gehaltene zutreffend sind. Eine Erfahrungswirklichkeit umfaßt vielmehr auch unterschiedlichste Interessen, Wert- und Zielvorstellungen, Hinsichten, Erfahrungssätze, Verhaltens- und Reaktionsmuster usw.“ Unter Verweis auf den Begriff der ,Lebenswelt‘ bei Alfred Schütz konstatiert Hoops, dass die Erfahrungswirklichkeit „gegenüber dem Bereich des Nichtwirklichen keine distinktive Grenze, sondern eine Art ,Grauzone‘ fließender Übergänge aufweist“. 144 Vgl. Wolf 2013 (zur Referenz allgemein). Niefanger (2014, S. 37) unterscheidet allgemeine Referenz („auf Gegenstände, Wahrnehmungen, Handlungen, Kulturformationen, mentale Repräsentationen [sogenannte Frames] oder Konzepte“) von Realitätsreferenzen (nicht umsonst im Plural): „Realitätsreferenzen als zentrale Untergruppe beziehen sich auf Objekte (Räume, Orte, Geschehnisse, Personen, Dinge usw.) außerhalb des literarischen Textes, von denen innerhalb des geltenden Kulturdiskurses angenommen wird, dass sie real existieren.“ Wie Niefanger selbst darlegt (ebd., S. 38-40), evoziert aber auch die Bezeichnung von Objekten - jedenfalls nach der Frame-Theorie der kognitiven Linguistik - „einen komplexen kognitiven Vorgang“ (S. 39), referiert also auf mentale Repräsentationen. Deshalb wird die Unterscheidung Niefangers hier nicht übernommen. 145 Vgl. dazu Holz 2003, S. 200 f. Zur synonymen Verwendung von ,Realität‘ und Wirklichkeit‘ im allgemeinen Sprachgebrauch vgl. Trappe 2004, Sp. 830. Im Unterschied zu diesem Sprachgebrauch ist im Folgenden jedoch nicht „die Totalität dessen, was ‘wirklich ist’ “ (ebd.) gemeint, sondern das, was als gegeben wahrgenommen wird. Deshalb ist von ,Erfahrungswirklichkeit‘ die Rede. 146 Vgl. dazu Hasebrink (2009, S. 209 f.), der ausgehend von der Historischen Semantik von ,Wirklichkeit‘ dafür plädiert, für das Mittelalter zwischen der „Faktizität des Gegebenen“ und der Manifestation eines Wirkens zu unterscheiden. 147 Dementsprechend wird für die Rekonstruktion der Wissensbestände, die für das Verständnis eines Textes vom Interpreten für hilfreich gehalten werden, gerne mit dem Modell des ,idealen Lesers‘ (bzw. Rezipienten) gearbeitet (vgl. dazu Vollhardt 2003, S. 199; 204; Köppe 2011, S. 4 f.). 148 Zu einer entsprechenden Kritik an kognitiven Ansätzen in der Textlinguistik vgl. Scherner 2000. An der Rezeptionsästhetik, wie sie durch Hans Robert Jauß vertreten wurde, ist wiederum kritisiert worden, dass sie keine „Kriterien zur Unterscheidung adäquater von weniger adäquaten Rezeptionen“ zur Verfügung stelle (vgl. Vollhardt 2003, S. 193; zur Gefahr der Willkürlichkeit von Interpretationen vgl. auch Brenner 1998, S. 114). <?page no="32"?> 32 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik auch nach der „Relativierung von Realität“ 149 analysieren. 150 Darío Villanueva (1997 [1992]) hat auf der Grundlage rezeptionsästhetischer Überlegungen sogar ein Konzept eines ,pragmatischen Realismus‘ entwickelt, nach dem Texte den Leser zu einer realistischen Lektüre anleiten. Während Villanueva die Notwendigkeit von ,Stimuli‘ in den Texten als Voraussetzung für eine solche Lektüre betont, 151 definiert Monika Fludernik (1996) ,Realismus‘ primär als Interpretationsstrategie, bei der aus der eigenen Erfahrungswirklichkeit gewonnene Maßstäbe an die in Texten entworfenen Welten angelegt würden. 152 Dass die eigene Lebenserfahrung beim Verstehensprozess automatisch aktiviert wird, ist gerade auch bei der Interpretation kulturell fremder oder fremd gewordener Texte durch moderne Interpreten zu berücksichtigen. 153 Jedoch kann die Annahme einer solchen allgemeinen Rezeptionsvoraussetzung nicht ausreichen, um die kommunikative Funktion von Realitätsreferenz im Text zu bestimmen, sondern die Voraussetzung dafür ist tatsächlich die Fassbarkeit bestimmter Textsignale. Auch David Herman (2002) nimmt an, dass Erzähltexte selbst Indizien für die Relevanz zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit enthalten, und bezeichnet das als kontextuelle Verankerung („contextual anchoring“): Just as narratives cue interpreters to build temporal and spatial relationships between items and events in the storyworld, and just as they constrain readers, viewers, and listeners to take up perspectives on the items and events at issue, stories trigger recipients to establish a more or less direct or oblique relationship between the stories they are interpreting and the contexts in which they are interpreting them. Or rather, the format of a story can sometimes prompt interpreters to reassess the relation between the two types of mental models involved in narrative understanding. On the one hand, interpreters build models as part of the process of representing the space-timeprofile, participant roles, and overall configuration of storyworlds. On the other hand, interpreters rely on analogous, modelbased representations of the world(s) in which they are trying to make sense of a given narrative. Contextual anchoring is my name for the process whereby a narrative, 149 Ritzer 2003, S. 219 (im Zusammenhang damit, dass ,Realismus‘ als poetologische Kategorie fragwürdig geworden sei). 150 Die außersprachliche Referenz von Texten ist auch in der Nachfolge poststrukturalistischer Sprachtheorien zweifelhaft geworden. Zipfel (2001, S. 50-56) argumentiert aber zu Recht damit, dass dieses Problem zu vernachlässigen sei, wenn man Sprache als Mittel sprachlicher Handlung betrachte, denn dann erhebe sie Anspruch auf den Bezug auf Außersprachliches. 151 Vgl. Villanueva 1997, S. 146. Villanueva spricht von „reality effects“ (vgl. auch ebd., S. 134-136), meint aber anders als Roland Barthes (1968), auf den er sich jedoch u. a. bezieht (ebd., S. 125), den Effekt, dass Rezipienten ihre eigene Realität aufgrund bestimmter Textsignale wiedererkennen (vgl. ebd.). Niefanger (2014, S. 43) differenziert dagegen zwischen dem effet de reél Roland Barthes’ und weiter gefassten Realitätsreferenzen. 152 „Realism, in the reading that is given in this study […] - although related to the construct of reality - has therefore exclusively constructivist and no imitational meanings. It is an interpretational strategy of mimeticism in accordance with which textual encounters are reinterpreted as relating to a fictive reality that shares a number of qualities with the ‘real’ world. Such representational equivalences may be equivalences of a symbolic and nominal / referential rather than of an iconic kind. That is to say, in the process of narrativization texts are made to conform to real-life parameters.“ (Fludernik 1996, S. 316; vgl. auch ebd., S. 35-38). Im Folgenden (S. 316) diskutiert sie jedoch ebenfalls, welche Textsignale eine entsprechende Lektüre begünstigen. Sowohl Villanueva (1997 [1992], S. 4 und passim ) als auch Fludernik (1996, S. 45) setzen sich mit Ricœurs Konzept der „reconfiguration“ auseinander. Zur Einordnung des konstruktivistischen Realismus-Konzepts Fluderniks vgl. Herman 2013, S. 640. 153 Vgl. dazu Zerweck 2002, S. 238; zum automatischen Rekurs auf die eigene Welterfahrung bei der Textrezeption vgl. auch Stierle 1975, S. 378; Villanueva 1997 (1992), S. 77-79. <?page no="33"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 33 in a more or less explicit and reflexive way, asks interpreters to search for analogies between the representations contained within these two classes of mental models! 154 Bevor die von Herman angesprochenen Interaktionen zwischen den von ihm als ,mental models‘ bezeichneten Ebenen genauer betrachtet werden, sollen diese zunächst näher charakterisiert werden. Zurückgegriffen sei dabei auf das anscheinend wenig rezipierte Modell Benjamin Harshaws (1984), 155 weil es in seiner Abstraktheit eine große Anwendungsbreite hat. 156 Nach Harshaw lassen sich interne und externe Bezugsfelder (,internal‘ und ,external fields of reference‘) unterscheiden. 157 Literarische Texte konstruierten interne Bezugsfelder, auf die sie zugleich referierten. 158 Letztlich ist damit so etwas wie eine Textwelt gemeint, doch wählt Harshaw die Bezeichnung ,Bezugsfeld‘, um mit den Konzepten der ,fiktiven‘ oder ,möglichen Welten‘ verbundene Vorannahmen zu vermeiden und auch die sprachliche Verfasstheit des Textes mit einbeziehen zu können: 159 An IFR [sc. Internal Field of Reference] is a multidimensional semiotic object rather than a linear message. In other words, it does not present one linear unfolding of language or narrative or one logical argument, but a bundle of heterogeneous patterns: events, characters, settings, ideas, time and space, social and political situations, etc., interacting with each other as well as with other, non-semantic text-patterns (of style, parallelism, segmentation, sound-patterns, etc.). 160 Typisch für solche internen Bezugsfelder ist es nach Harshaw, dass sie für jeden Text einzigartig sind. 161 Externe Bezugsfelder definiert Harshaw folgendermaßen: External Fields of Reference (Ex FR ) are any FR s [sc. Fields of Reference] outside of a given text: the real world in time and space, history, a philosophy, ideologies, views of human nature, other texts. 162 154 Herman 2002, S. 331. 155 Es ist zustimmend von Villanueva (1997 [1992], S. 76 f.) und Ahlers (1993, S. 34-38) aufgenommen worden. Ahlers (ebd.) diskutiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Konzept des ,Bezugsfelds‘ bei Anderegg und Iser. 156 Harshaw (1984) geht es zwar auch darum, Spezifika fiktionaler Texte herauszuarbeiten (für ihn ein Definitionsmerkmal von ,Literatur‘), aber er selbst (S. 238 f.) nutzt sein Beschreibungsmodell auch für faktuale Texte, um Grenzfälle zu markieren, es ist also nicht von vornherein auf fiktionale Texte eingeschränkt. 157 Unter ,Field of Reference‘ versteht Harshaw (1984, S. 30 f.) eine zusammengehörige Gruppe von ,frames of reference‘ („any semantic continuum of two or more referents that we may speak about“). Die Definition hat etwas Beliebiges (Harshaw nennt als Beispiele für ,Fields of Reference‘ „the USA, the Napoleonic Wars, Philosophy, the “world” of Tolstoy’s War and Peace , the world today“), was auch Harshaw selbst eingesteht, wenn er sagt, dass die ‚Fields‘ vom Interpreten erst ,isoliert‘ werden. Ein derartig flexibler Ansatz bietet jedoch den Vorteil, dass für jeden Einzeltext semantische Analysekategorien entwickelt werden können. 158 Vgl. Harshaw 1984, S. 232. 159 Vgl. Harshaw 1984, S. 243. Zum Konzept der ,Possible Worlds‘ vgl. Ryan 2012 / 2013 mit weiterer Literatur. 160 Harshaw 1984, S. 236. 161 Harshaw (1984, S. 242) will deshalb z. B. Mythen davon unterschieden wissen, weil sie sich auf ein relativ festes Referenzfeld außerhalb des Textes bezögen. 162 Harshaw 1984, S. 243. Wie die Erläuterungen deutlich machen, ist das Element der Beobachtung nicht Teil von Harshaws Entwurf; insofern ist die Systematik deutlich von der Luhmann’schen Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterschieden. Harshaws ,externe Bezugsfelder‘ ähneln dem, was Iser (1994 [1984], S. 115) textbezogen ,Repertoire‘ nennt, da „das selektierte Material, durch <?page no="34"?> 34 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik Die Zweipoligkeit dieses Modells, das Gegenstände, Praktiken, Vorstellungen oder Texte unterschiedslos als externe Bezugsfelder nebeneinanderstellt, mag befremdlich erscheinen, vor allem angesichts von Versuchen in Referenztheorien und der Text-Kontext-Forschung, mehrere Ebenen zu differenzieren. 163 In der Tat bietet Harshaws Modell keinerlei Anhaltspunkte dafür, wie sich diese externen Bezugsfelder zueinander verhalten. Im Hinblick auf eine rezeptionsorientierte Analyse birgt die Entdifferenzierung jedoch gewisse Chancen, da relevante Bezugspunkte auf den verschiedensten Ebenen liegen können und so nicht von vornherein entschieden werden muss, ob etwa kulturelles Wissen vertextet vorliegt oder aus Praktiken abgeleitet werden kann. Dass im Einzelfall eine Binnendifferenzierung nötig ist, steht außer Frage. Die Ebenen des internen Bezugsfeldes und der externen Bezugsfelder existieren nach Harshaws Modell im Prinzip parallel zueinander und berühren sich nicht, interagieren aber: Die internen Bezugsfelder seien zumindest teilweise nach der ,realen‘ Welt modelliert, selbst wenn sie selektiv seien oder einen Gegenentwurf böten. Sie integrierten also Elemente der ,realen‘ Welt - von Objekten bis hin zu Interaktionsmustern und Vorstellungen -, die auch in den externen Bezugsfeldern referentialisierbar seien. 164 Diese Überlappungen ermöglichten es, dass sich bei der Rezeption semantisches Material aus der einen Ebene an der anderen anlagerte, wobei sowohl mit der Ergänzung des internen Bezugsfeldes aus dem Reservoir der externen Bezugsfelder zu rechnen sei als auch mit Rückprojektionen aus dem internen Bezugsfeld auf externe Bezugsfelder. 165 Die strenge Zweistufigkeit in Harshaws Modell schließt also nicht aus, dass es kulturelle Konstellationen gibt, die beide Ebenen durchdringen. Er impliziert hier für den Rezeptionsvorgang eine Ebene des kulturellen Wissens, die sich mit dem Imaginären einer Kultur in Verbindung bringen ließe. 166 Harshaw deutet an, dass die Überlappungen von internem Bezugsfeld und externen Bezugsfeldern im konzeptuellen Bereich liegen könnten, er erläutert die Interaktion der Bezugsfelder jedoch an ,handfesten‘ Beispielen wie Namen von Orten (Paris) oder historischen Personen (Napoleon), wie sie bis heute in der Fiktionalitätstheorie immer wieder herangezogen werden, um zu demonstrieren, dass ,reale Entitäten‘ in fiktiven Welten 167 ihren Charakter verändern. 168 Zwar fordere im Falle von ,Paris‘ und ,Napoleon‘ allein deren Bekanntheitsgrad den Rezipienten dazu auf, außertextuelles Wissen zu aktivieren, zumal die Darstellung in Texten immer ausschnitthaft sei, doch seien diese Konzepte dann anhand das der Text auf die Systeme seiner Umwelt bezogen ist“, in Isers Modell „solche[n] der sozialen Lebenswelt und solche[n] vorangegangener Literatur“ (ebd., S. 143) entnommen ist. (vgl. auch ebd., S. 136). 163 S. dazu o. S. 26-28. 164 Vgl. Harshaw 1984, S. 236. Nach Harshaw (ebd., S. 244 f.) erfolgt oft zu Beginn literarischer Texte ein „referentional grounding“, indem über scheinbar unwichtige Details ein Referenzrahmen (oft ein akzeptiertes externes Bezugsfeld) angelegt wird, der dann im Textverlauf weiter gefüllt wird. Das ist für Diu urstende und das Bezugsfeld eines ,deutschrechtlichen‘ Verfahrens tatsächlich zu beobachten (s. dazu u. S. 75-78). Zur Prozesshaftigkeit des Aufbaus einer Textwelt bei der Rezeption vgl. auch Iser 1994 (1984), S. 101-114. 165 Vgl. Harshaw 1984, S. 248-251 (mit einer schematischen Darstellung des „‘Double Decker’ Model of Reference in Literary Texts“ auf S. 250). Zum ,Realitätsbezug‘ der internen Bezugsfelder vgl. auch ebd., S. 236. 166 S. dazu o. S. 25-27. 167 Vgl. dazu Zipfel 2001, S. 90-92. 168 Vgl. Harshaw 1984, S. 245-248; Zipfel 2001, S. 90-102; Chinca 2003, S. 316 f. Zum Napoleon-Problem vgl. auch Bunia 2007, S. 150-162. <?page no="35"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 35 der Informationen im Text gegebenenfalls zu modifizieren. Harshaw setzt dabei voraus, dass bei eventuellen Divergenzen zwischen internem Bezugsfeld und externen Bezugsfeldern das interne Bezugsfeld als maßgeblich angenommen wird. 169 Wolfgang Iser (zuerst 1976) hatte die Transformation ,realweltlicher‘ Elemente in fiktionalen Texten grundsätzlicher beschrieben: Die Art, in der Konventionen, Normen und Traditionen im Repertoire fiktionaler Texte auftauchen, kann sehr verschieden sein. Pauschal wird man sagen können, daß solche Repertoire-Elemente immer im Zustand der Reduktion erscheinen. Selbst Texte, die mit Konventionen vorangegangener Literatur oder mit einer entsprechenden Dichte sozialer und historischer Normen der Lebenswelt überfrachtet sind, lassen sich schon deshalb nicht als bloße Reproduktionen solcher Bestände qualifizieren, weil diese in eine andere Umgebung eingerückt sind. […] So sind die Repertoire- Elemente im Text verschiedenes zugleich. Sie halten den Hintergrund parat, dem sie entnommen worden sind. Gleichzeitig aber setzt die neue Umgebung die Beziehungsfähigkeit der wiederkehrenden Normen bzw. der Konventionsbestände frei, die im alten Kontext durch ihre Funktion gebunden waren. Das Repertoire-Element ist daher weder mit seiner Herkunft noch mit seiner Verwendung ausschließlich identisch, […]. 170 In einer späteren Arbeit hat Iser (1991) noch deutlicher hervorgehoben, dass allein schon die in literarischen Texten vorgenommene Auswahl bestimmter außertextueller Bezugsfelder diese dem Rezipienten ins Bewusstsein rückt, da sie aus den gewohnten Systemen isoliert würden. Die anzitierten Bezugsfelder seien wiederum in den Texten nur unvollständig repräsentiert und regten so zum Abgleich mit dem Abwesenden an. 171 Dass die dargestellte (fiktive) Welt grundsätzlich unvollständig ist, wird auch in Überlegungen zum sogenannten ,Realitätsprinzip‘ betont, wonach die Verknüpfung des internen Bezugsfelds mit externen Bezugsfeldern durch den Rezipienten so beschrieben werden kann, dass dieser annimmt, die dargestellte Welt funktioniere nach den Prinzipien der eigenen Erfahrungswirklichkeit (dass eine Kutsche also von Pferden gezogen werden dürfte, auch wenn sie nicht explizit genannt sind), es sei denn, es gibt textinterne Signale für Abweichungen. 172 Wie beim oben genannten Konzept des ,Hinterlandes‘ stellt sich jedoch das Problem, wo die Grenzen für die Ergänzung der fiktiven Welt nach Maßgabe des Reali- 169 Vgl. Ahlers (1993, S. 37 f.), der unter Rückgriff auf Überlegungen von Anderegg und S. J. Schmidt Harshaw in diesem Punkt ergänzt. Zur Autonomie des internen Bezugsfeldes eines literarischen Textes (auch bei dezidierter Realitätsreferenz) vgl. Harshaw 1984, S. 236. 170 Iser 1994 (1984), S. 115 f. 171 Vgl. Iser 1991, S. 24 f. Kablitz (2013, S. 199) betont (in einem anderen Argumentationszusammenhang), dass fiktionale Texte, indem sie aus einer Fülle von Möglichkeiten eine Auswahl träfen, hermeneutische Anforderungen stellten: „Denn die Frage nach dem Grund der Selektion und Kombination tritt nicht als eine Frage nach der Ursache, sondern als diejenige nach der semantischen Funktion für den Text in Erscheinung.“ 172 Vgl. Walton 1990, S. 144-150; Zipfel 2001, S. 84-88; Bareis 2008, S. 37-40. Vgl. ähnlich Ryan (1980) zum ,Prinzip der minimalen Abweichung‘. Vgl. auch Kablitz 2013, S. 176 f., der die „Bindung der Sprache an die Wirklichkeit“ (S. 177) hervorhebt. Anders als das vor allem von Fludernik vertretene Konzept der ,Naturalisierung‘ (vgl. dazu zusammenfassend Zerweck 2002, S. 226-230) impliziert die Annahme des ,Realitätsprinzips‘ nicht, dass der Text insgesamt an die eigenen Erfahrungen angeglichen wird. - Abzugrenzen ist die Verwendung des Terminus in der Fiktionalitätstheorie vom ,Realitätsprinzip‘ im Freud’schen Sinne (vgl. dazu Marquard 1992). <?page no="36"?> 36 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik tätsprinzips liegen. 173 Die Erklärung, dass eine „Art stillschweigender Relevanzprüfung“ 174 erfolge, die von der Thematik eines Textes geleitet sei, kann wegen ihres intuitiven Charakters nicht ganz befriedigen. Letztlich ist für die Eingrenzung des ,Hinterlandes‘ aber Ähnliches anzunehmen, wobei die im Text partiell aufgerufenen Bezugsfelder Indizien dafür bieten, welche Kontexte sinnvollerweise herangezogen werden sollten. Die Diskussionen über das ,Realitätsprinzip‘ sind nicht zuletzt deshalb von heuristischem Wert, weil in ihnen Textsignale thematisiert worden sind, die anzeigen, dass in der Textwelt mit Abweichungen von der ,realen Welt‘ zu rechnen ist, z. B. sprechende Tiere, die - verbunden mit einer entsprechenden Textstruktur - das Genre der Fabel als externes Bezugsfeld aktivieren. Mit dem ,Prinzip der Genrekonvention‘ 175 sind Konsequenzen für den Rezeptionsvorgang benannt, die sich daraus ergeben, dass externe Bezugsfelder auch andere Texte sein können. 176 In der kognitiven Erzähltheorie wird dementsprechend angenommen, dass im Rezeptionsvorgang neben ,real world frames‘ auch auf ,literary frames‘ zugegriffen werde. 177 Gemeint sind damit literarische Konventionen, aber auch Stofftraditionen wären hier zu nennen. Die Differenzierung zwischen „Echtwelterfahrungen“ 178 und Leseerfahrungen hat den Preis, dass die Erfahrungswirklichkeit doch wieder in verschiedene Segmente untergliedert werden muss, deren Abgrenzung nicht ganz klar ist (gehören Texte nicht zur ,Echtwelt‘? ), 179 bietet aber ein Erklärungsmodell dafür, wie Rezipienten mit hybriden Textwelten umgehen. Die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit des Rezipienten als Bezugsrahmen wird nach fiktionalitätstheoretischen Modellen auch dann modifiziert, wenn Texte aus vergangenen Epochen rezipiert werden, in denen andere kollektive Annahmen über die Welt galten. In diesen Fällen werde bei der Rezeption das ,Prinzip der allgemeinen Überzeugung‘ wirksam, d. h., der historische Bezugsrahmen werde (soweit bekannt) aktiviert. 180 Je nach Erzählhaltung könnte ein solcher historischer Bezugsrahmen aber auch bei Erzählungen über vergangene Epochen, wie zum Beispiel dem historischen Roman, heranzuziehen sein, die in anderen Aspekten jedoch wieder den Rückgriff auf das Realitätsprinzip erfordern könnten. 181 Entsprechende Mischverhältnisse können sich auch dann ergeben, wenn frühere literarische Normen in späteren Texten präsent sind. 182 Auch wenn alle diese Schematisierungen von externen Bezugsfeldern einen stark modellhaften Charakter haben, 183 173 Köppe (2008, S. 68-70) zeigt sich unter anderem deshalb skeptisch gegenüber dem Erklärungsmodell des Realitätsprinzips für die Rezeption fiktionaler Texte. 174 Zipfel 2001, S. 87. 175 Vgl. dazu Bareis 2010. 176 Vgl. für die Berücksichtigung von Genrekonventionen im Modell des Rezeptionsvorgangs auch bereits Iser 1994 (1984), S. 132-136. 177 Vgl. dazu Zerweck 2002, S. 219-223. Vgl. außerdem eine vergleichbare Unterscheidung bei Iser (1979 [1975], S. 315): „Die selektierten Normen außertextualer Realitäten und die literarischen Anspielungen als zentrale Bestandteile des Textrepertoires sind zwei verschiedenen Systemen entnommen.“ 178 Zerweck 2002, S. 222 mit Anm. 4. 179 Das Problem besteht darin, dass literarische Texte zugleich auf das System ,Literatur‘ bezogen sind, aber auch den ,imaginären‘ Anteil der Wirklichkeit mitgestalten. Zur Differenzierung zwischen ,imaginären‘ und ‚realen‘ Anteilen der Wirklichkeit vgl. Rexroth 2009, S. 17. 180 Zum ,mutual belief principle‘ vgl. Walton 1990, S. 150-161; Zipfel 2001, S. 87 f. 181 Vgl. Bareis 2008, S. 41 f. 182 Vgl. dazu Iser 1994 (1984), S. 134-136. 183 Bareis (2008, S. 41 f.) betont zu Recht, dass die für die Rezeption eines fiktionalen Textes postulierten ,Prinzipien‘ tentative Beschreibungsversuche darstellten. <?page no="37"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 37 können sie verdeutlichen, dass die Berücksichtigung von Bezügen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit (im Sinne von ,real world frames‘) für die Sinnerschließung unabdingbar, aber keineswegs ausreichend ist. Versucht man aus den vorgetragenen allgemeinen Überlegungen eine Vorgehensweise für die Interpretation von ,Law in Literature‘ zu entwickeln, so ist dem komplexen Wechselverhältnis von internem Bezugsfeld und externen Bezugsfeldern Rechnung zu tragen. Um zu ermitteln, inwiefern ein literarischer Text auf ,Law‘ - in weitestem Sinne vom praktizierten Rechtsleben bis zu rechtsphilosophischen Fragestellungen - als externes Bezugsfeld verweist, ist zunächst die Analyse des internen Bezugsfeldes des Textes nötig, aus dem auch korrespondierende Größen in externen Bezugsfeldern abgeleitet werden können. Da das interne Bezugsfeld häufig nach dem externen modelliert ist, es aber unvollständig repräsentiert, ist eine Analyse des internen Bezugsfelds jedoch nicht ohne zumindest punktuelles Heranziehen des externen Bezugsfeldes ,Law‘ möglich. Eventuelle Uminterpretationen des externen Bezugsfelds im literarischen Text, die sinnstiftend sein können, sind wiederum erst nach einer ausführlichen Erkundung des externen Bezugsfeldes ,Law‘ zu erkennen. Für ihre Funktionalisierung im neuen Kontext des literarischen Textes sind weiterhin auch andere Bezugsfelder (z. B. Genrekonventionen, Erzähltraditionen) zu berücksichtigen. Im Prinzip ergibt sich eine - für den Bereich des Rechts nicht spezifische - zirkuläre Bewegung des Verstehens, die aber nicht auf ein hypothetisches Sinnganzes eines Textes abzielt. 184 Vor dem Hintergrund des allgemeinen Modells ließe sich der oben für das Rolandslied genannte Befund so interpretieren, dass der Text auf mehrere externe Bezugsfelder verweist: das zeitgenössische Recht auf der einen und Erzähltraditionen auf der anderen Seite, d. h., man wäre gerade nicht darauf angewiesen, entsprechende Unstimmigkeiten in der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit nachzuweisen. Die Frage, wie ein zeitgenössisches Publikum mit dem Textbefund umgegangen sein mag, lässt sich nur hypothetisch beantworten, 185 vor allem da auch Wahrnehmungsformen kulturell spezifisch sind 186 und mit einer historischen Varianz von Kohärenzerwartungen zu rechnen ist. 187 Allein das Nebeneinander verschiedener Gattungen - man denke nur an schwankhafte Mären und den höfischen Roman - deutet aber darauf hin, dass Rezipienten im Mittelalter in der Lage gewesen sein müssen, ,real world frames‘ und ,literary frames‘ in unterschiedlichster Weise aufeinander zu beziehen. Für die literaturwissenschaftliche Arbeit an mittelalterlichen Texten stellt sich das spezielle Problem, dass die genannten Rezeptionsmodelle größtenteils für fiktionale Texte entwickelt worden sind. Zwar hat die Textlinguistik gezeigt, dass bei j e d e m Text Ergänzungsmechanismen im Kopf des Rezipienten anzunehmen sind, 188 doch scheint die Akzeptanz von Textwelten, die von der eigenen Erfahrungswirklichkeit abweichen, primär an das Kriterium der Fiktionalität gebunden zu sein, dessen Übertragbarkeit auf mittelalterliche 184 Zur Kritik an entsprechenden hermeneutischen Ansätzen vgl. jüngst Kablitz 2013, S. 247-252. 185 Gewisse Anhaltspunkte dafür, dass bei den Komponenten des zeitgenössischen Rechts eine Korrespondenz mit der Erfahrungswirklichkeit von Bedeutung war, bietet im Falle des Rolandslieds die spätere Umarbeitung von Rechtsmotiven in Strickers Karl (vgl. dazu Brandt 1981, S. 138-150; Schmidt- Wiegand 1986, S. 7; 1990a, Sp. 20; Manuwald 2018a). 186 Vgl. dazu Waltenberger 2002, S. 162. 187 Vgl. dazu Schulz 2010. 188 Vgl. dazu Scherner 1996, S. 138-150. <?page no="38"?> 38 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik Texte strittig ist. 189 Eine entsprechende Fremdheit der im Text entworfenen Welt kann allerdings auch dadurch entstehen, dass von etwas Vergangenem erzählt wird, sodass man das Fiktionalitätskriterium vielleicht nicht überbewerten sollte. Das Problem kann hier nicht grundsätzlich ausdiskutiert werden; für die Untersuchung ist vielmehr zu zeigen, inwiefern ,real world frames‘ auch bei bibelepischen Texten des Mittelalters relevant sind. 1.3.3 Zur Sonderstellung der Bibelepik ,Bibelepik‘ dient als Sammelbegriff für höchst heterogene Texte. 190 Sie haben aber alle gemeinsam, dass die Bibel - gegebenenfalls zusammen mit auf die Bibel referierenden apokryphen Texten - als externes Bezugsfeld dominant ist. 191 Dieser Bezug auf die Bibel ist nicht primär als ,literary frame‘ anzusehen (wenn eine solche Betrachtungsweise überhaupt angemessen ist), jedoch sind damit neben der Festlegung auf bestimmte Erzählmuster 192 gestalterische Implikationen verbunden, die Susanne Köbele (2017) treffend als ,programmatische ästhetische Einfachheit‘ charakterisiert hat. Sie gehe jedoch nicht selten einher mit „raffinierter Artifizialität“, nicht zuletzt der kunstvollen Verknüpfung unterschiedlichster Sprechregister. 193 Für deutschsprachige bibelepische Texte des Hochmittelalters 194 sind bislang vor allem Anlehnungen an den höfischen Roman diskutiert worden. 195 Schon hinsichtlich der dichterischen Gestaltung bibelepischer Texte ist die Bibel also nicht der einzige Bezugsrahmen, sondern die Texte situieren sich auch in der literarischen Kultur ihrer Entstehungszeit. 189 Vgl. dazu zuletzt u. a. Schneider 2013a; Reuvekamp-Felber 2013; Glauch 2014 (2015); demnächst auch Manuwald 2018b, jeweils mit weiterer Literatur. 190 Sie reichen von spätantiken hexametrischen Bibelgedichten bis hin zur Rezeption des Renaissanceepos im 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Kartschoke 1997; Czapla 2005, Sp. 135-138; 2013 [jeweils mit weiterer Literatur]). Die folgenden Überlegungen nehmen zwar grundsätzliche Aspekte zum Ausgangspunkt, beanspruchen aber nur für deutschsprachige Bibelepen des Hochmittelalters Gültigkeit, für die eine Integration apokrypher Stoffe charakteristisch ist (vgl. Kartschoke ebd., S. 220). Die Beispiele sind im Hinblick auf den konkreten Untersuchungsgegenstand bibelepischen Texten entnommen, die sich auf das Neue Testament beziehen. 191 Nach Harshaw (1984, S. 242 f.) ist die Fiktionalität eines Textes ausgeschlossen, wenn das interne Bezugsfeld nicht autonom ist. 192 Da für den Handlungsverlauf Konstanten festgelegt sind (vgl. dazu z. B. Haustein 1994, S. 89; Quast 2009, S. 388; 404), können Erzählmuster nur begrenzt angelagert werden: durch Herausarbeitung bestimmter Züge im vorgegebenen Material oder durch punktuelle Ergänzung apokrypher Episoden. 193 Vgl. Köbele 2017, S. 201 (vgl. auch Köbele 2012, S. 370-373, zur Legende). Zum Spannungsverhältnis zwischen dem sermo humilis der Bibel und dem Einsatz rhetorischer Mittel vgl. auch Kartschoke 1975, S. 23-29. 194 Vgl. aber auch die Forschungsdiskussion zur spätantiken lateinischen Bibelepik in vergilischer Epentradition. Die antikisierende Form, die in der Renaissance wieder aufgenommen wurde, war für Curtius (1948, S. 457) der Grund, die Bibelepik insgesamt als „ genre faux “ zu bezeichnen, da sowohl die Heilsgeschichte als auch die Gattung des Epos verfälscht werde. Wehrli (1969, S. 51-58) hat dagegen die Kombination von Heilsgeschichte und vergilischem Epos positiv umgedeutet (vgl. dazu Prica 2010, S. 19). Zur heute überwiegenden Ablehnung der These von Curtius vgl. Pollmann 2001, S. 114 (mit Anm. 112 [S. 114 f.]). 195 Vgl. z. B. in Bezug auf die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen Ukena-Best 2002, S. 188; Schmitt 2012, S. 435. Zu Der Sälden Hort (wo zusätzlich eine explizite Auseinandersetzung mit der höfischen Literatur erfolgt) vgl. Quast 2009, S. 394-402; Köbele 2017, S. 171 f.; 177-186. Die ,Höfisierung‘ zeigt sich jeweils nicht nur in der Erzählform, sondern auch in der Ausgestaltung von Szenen. <?page no="39"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 39 Bei der Rezeption bibelepischer Texte dürften für ein christlich geprägtes mittelalterliches Publikum außerdem ,real word frames‘ auf ganz unterschiedlichen Ebenen relevant gewesen sein. Wegen seines autoritativen Charakters fundiert der Bibeltext historisches und ethisches Wissen, das bei der Rezeption herangezogen worden sein dürfte. Nicht zu trennen ist der biblische Text außerdem von der Auslegungstradition, die ebenfalls als Referenzrahmen zu berücksichtigen ist. Vor dem Hintergrund des diachronen Wiedererzählens biblischer Geschehnisse ist aber auch zu fragen, ob ,real world frames‘ im Sinne des Erfahrungswissens über die gegenständliche Welt und (historisch variierende) soziale Praktiken aufgerufen werden. Dieser Bereich ist nicht scharf von anderen der ,Realität‘ abzugrenzen, weil Praktiken (gerade im Recht) wiederum in ethischem Wissen wurzeln können, das ebenfalls aus der Bibel abgeleitet ist. Er sei hier behelfsmäßig mit ,Alltagswelt‘ 196 und ,Lebenspraxis‘ charakterisiert. Dass narrative biblische Texte auf der Ebene des sensus historicus auf historisch spezifische Alltagsgegenstände und Sozialstrukturen referieren, ist ein Befund, der vor allem in der Übersetzungswissenschaft diskutiert worden ist. 197 Unabhängig davon, ob in Übersetzungen oder narrativen Bearbeitungen aktualisierende Anpassungen vorgenommen sind, werden bei der Rezeption zur Identifikation solcher Elemente Alltagserfahrungen aktiviert, sodass sich semantisches Material aus diesem Bereich anlagern wird. Bei Elementen, die sich auf die Kultur der Entstehungszeit beziehen lassen, ist jedoch nicht eindeutig, ob sie vorrangig im Bezugsfeld der ,Alltagswelt‘ oder in der Auslegungstradition der Bibel zu interpretieren sind. 198 Scheinbar alltagsweltliche Motive sind möglicherweise typologisch oder allegorisch auszudeuten. 199 Eine solche Auslegungsebene ist nicht selten in die Erzähltexte selbst integriert. 200 Darüber hinaus sind in den mittelalterlichen bibelepischen Texten aber oft Ausgestaltungen zu finden, die primär auf die Kultur der Entstehungszeit der Texte verweisen. Das sei - in Ermangelung einer übergreifenden Untersuchung 201 - anhand von Beispielen be- 196 Zur Problematik der Definition von ,Alltag‘ vgl. Goetz 1990, S. 72-74. 197 Vgl. z. B. Bieberstedt 2002, S. 23 f.; Wiesinger 2007. 198 In den Doppelformeln des Heliand könnten vermeintlich ,germanische‘ Elemente als Bestandteil der Variationstechnik sogar auch auf die Poetologie des Textes verweisen (vgl. Sahm 2014, S. 106). Relevant wäre also dann der ,literary frame‘. 199 Das gilt ebenso für vermeintlich alltagsweltliche Motive, wie sie in die Kunst nördlich der Alpen im Spätmittelalter verstärkt Eingang gefunden haben. Oft ist deren allegorische Bedeutung entscheidend, nicht die Materialität der Dinge. Vgl. dazu Panofsky (1953, S. 131-148), der sich auf Thomas von Aquin bezieht; zustimmend Ishii 2005; zur Einordnung von Panofskys Konzept vgl. Wedekind 2005. Zu dem Problemkomplex vgl. in Bezug auf Passionsdarstellungen (in Text und Bild) außerdem Pickering 1970, S. 223-307. Dass das Alltägliche nicht mit dem ,Wirklichen‘ gleichzusetzen ist, hat (in Bezug auf Dantes Inferno ) auch Kablitz (1994, S. 170 f.) herausgestellt. Vgl. dazu Manuwald 2017, S. 203-205. 200 Vgl. eine Zusammenstellung von Beispielen aus den Driu liet von der maget des Priesters Wernher bei Schmitt 2012, S. 428-431. 201 Intensiv diskutiert worden sind Referenzen auf die Kultur zur Entstehungszeit des Textes für den Heliand (im Rahmen von Fragen nach ,Germanisierung‘ oder ,Akkommodation‘ (vgl. dazu u. a. Gantert 1998; Sahm 2014; 2017). Backes und Fleith (2011) haben in einem diachronen Durchgang „Transformations- und Aneignungsprozesse“ (S. 117) in Bearbeitungen der Samson-Geschichte untersucht und haben dafür plädiert, für die Untersuchung solcher Prozesse das Prinzip der kulturellen Übersetzung fruchtbar zu machen. Eine allgemeinere Diskussion wurde jüngst von Quast und Spreckelmeier (2017b) angestoßen, deren Überlegungen in eine ähnliche Richtung gehen: Sie haben unter dem Untersuchungsparadigma der ,Inkulturation‘ das Augenmerk darauf gelenkt, dass beim bibelepischen Wiedererzählen „Heilsgeschichte in fremde Kulturen “ hineingeschrieben wird (vgl. bes. S. 6 f.). Die Beiträge des Bandes (Quast / Spreckelmeier 2017a) liefern wichtige Anstöße, perspektivieren das Feld jedoch <?page no="40"?> 40 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik legt: 202 Im Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg heißt es etwa bei der Erzählung von der Hochzeit zu Kana (Kap. 2,8) ausdrücklich, dass Jesus zu seiner Mutter so gesprochen habe, wie es sich für einen Sohn gehöre; 203 zudem sind implizit an anderen Stellen zeitgenössische Formen des herrscherlichen Sprechens aufgenommen. 204 Eine solche partielle Annäherung des biblischen Geschehens an zeitgenössische Verhältnisse fordert den Rezipienten auf, weitere Gegenwartsbezüge herzustellen. Das schließt eine allegorische Deutung nicht aus, wie das Beispiel des Evangelienbuches (vgl. Kap. 2,9 f.) zeigt. Genetisch lässt sich der Bezug auf die zeitgenössische Lebenspraxis in etlichen Fällen als Resultat mehrfacher Rezeptionsprozesse deuten, bei denen das ,Realitätsprinzip‘ zur Anwendung gekommen ist: Bereits im Pseudo-Matthäusevangelium (18,1), 205 in dem die Flucht nach Ägypten gegenüber der Bibel durch weitere Handlungselemente ausgestaltet ist, wird in Zusammenhang mit der Rast der Heiligen Familie in einer Höhle erwähnt, dass sie von drei Knechten und einer Magd begleitet worden seien. In der unter anderem auf dem Pseudo-Matthäusevangelium fußenden Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen wird das ,Gesinde‘ folgerichtig schon beim Aufbruch zur Flucht genannt, wobei unter Berufung auf die Quelle gerechtfertigt wird, dass es nicht aus mehr Personen bestanden habe (vv. 1325-1330), 206 d. h., es wird zugleich auf zeitgenössische Vorstellungen referiert, nach denen für die Heilige Familie offenbar eine größere Zahl von Bediensteten als angemessen empfunden worden wäre. 207 In der Kindheit Jesu ist an mehreren Stellen zudem eine Argumentation nach der Logik des praktischen Alltagslebens zu beobachten, wenn erzählt wird, wie Josef die Geburtshöhle einrichtet (vv. 763-771) oder dass sich Maria mit dem Jesuskind vor die Höhle betten lässt, als diese die vielen Besucher nicht mehr fassen kann (vv. 1060-1063). 208 Auch der ,Umzug‘ Mariens geht zwar letztlich auf ein Bemühen zurück, widersprüchliche Angaben in der Erzähltradition zusammenzuführen, 209 argumentiert wird aber erneut auf einer lebenspraktischen Ebene. Sogar die ursprünglich allegorisch motivierte Präsenz von Ochs und Esel bei ganz unterschiedlich, zumal ,Inkulturation‘ von den Herausgebern ausdrücklich auch auf Erzählkulturen bezogen war (vgl. dazu u. a. Köbele 2017; Sahm 2017). Mit Bezügen zur ,Alltagswelt‘ beschäftigt sich der Beitrag der Verf. (Manuwald 2017). 202 Im Folgenden sind vor allem alltagspraktische Detailrealismen genannt, weil sich der Gegenwartsbezug da besonders gut fassen lässt (zu Detailrealismen vgl. Classen 1992, S. 195-200). Zeigen ließe sich die Referenz auf die Kultur zur Entstehungszeit bibelepischer Texte aber auch für soziale Konzepte. Vgl. Koch (2015) zu triuwe -Konzepten im Marienleben Bruder Philipps und im Marienbuch des Passionals (ihr kommt es vor allem auf den Gegensatz zwischen ,geistlich‘ und ,weltlich‘ an). 203 Vgl. Haubrichs 2001, S. 104 f. (mit Abdruck und Übersetzung der Stelle sowie einer Diskussion der Unterschiede zum Bibeltext). 204 Vgl. Haubrichs 2001. Er sieht darin Reflexe mündlicher Sprechkultur (vgl. ebd., S. 109), benennt aber selbst weiteren Forschungsbedarf. Wahrscheinlich wird man kaum über einen Nachweis von Parallelen zu anderen Beispielen verschriftlichter direkter Rede hinauskommen können; in jedem Fall sind aber kulturspezifische Redemuster als externes Bezugsfeld aktiviert. Zum Verweis auf die Gegenwartskultur durch bestimmte Sprechmuster vgl. (in Bezug auf das volkssprachige Geistliche Spiel) Greisenegger 1978, S. 56. 205 Zitiert nach der Ausgabe von Gijsel 1997. 206 Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Fromm / Grubmüller 1973. Zur Stelle vgl. Schmitt 2012, S. 432. 207 Als Ergänzung nach dem Realitätsprinzip (aufseiten des Autors) ist es auch anzusehen, dass die „Heilige Familie […] bei Konrad ganz selbstverständlich immer wieder in einen Personenverband eingebunden“ wird (Schmitt 2012, S. 432). 208 Vgl. Schmitt (2012, S. 431-433) mit weiteren Beispielen (auch zur Raumlogik). 209 Vgl. dazu im Einzelnen Masser 1969, S. 180 f. <?page no="41"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 41 Jesu Geburt in Bethlehem 210 erhält in der Kindheit Jesu eine lebenspraktische Dimension, denn es wird erklärt, Josef nehme neben dem Esel auch noch ein Rind nach Bethlehem mit, um für sich und seine Familie die Steuern zu bezahlen (vv. 722-726). 211 Später wird die andächtige Haltung von Ochs und Esel gleichwohl als Erfüllung eines Prophetenwortes interpretiert, und selbst der Unrat im Stall wird allegorisch ausgedeutet (vv. 1102-1126). Die punktuelle Profanierung des Motivs mit allegorischer Deutungstradition eröffnet jedoch auch die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit als Bezugsrahmen, in dem die erzählten Geschehnisse zu interpretieren sind. Diese Erfahrungswirklichkeit wird in der Kindheit Jesu auch dadurch aufgerufen, dass auf typische Verhaltensmuster rekurriert wird: An mehreren Stellen benennt der Erzähler Verhaltensweisen als ,kindlich‘, wobei etwa das kindliche Spiel als alterstypische Verhaltensweise erscheint. 212 Auf ein entsprechendes kulturelles Wissen wird in Priester Wernhers Driu liet von der maget referiert, wenn es in der Szene der Vorverkündigung am Brunnen heißt, der Engel habe mit Maria Verstecken gespielt, als man pfleit mit den kinden (Fassung D, v. 2355). 213 Solche expliziten Verweise auf das, was ,man‘ tue, sind kein Einzelfall. So wird im Marienleben Bruder Philipps erklärt, Maria habe den Heiligen Rock in derjenigen textilen Technik hergestellt, die ,man‘ auch für die Anfertigung von Handschuhen und Hauben benutze (vv. 3638-3653). 214 Manchmal zeigt aber auch nur die Wortwahl eindeutig an, dass die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit als Bezugsfeld zu aktivieren ist. Ebenfalls im Marienleben Bruder Philipps heißt es zum Beispiel, dass Maria (nach der Rückkehr aus Ägypten) eine Hufe Land ( eins eigens huobe , v. 3907) geerbt habe, weil ihr Vater gestorben sei; Joseph habe dieses Stück Land bebaut, um die Familie zu ernähren (vv. 3906-3911). Nicht nur das Flächenmaß verweist auf zeitgenössische ,realweltliche‘ Verhältnisse, 215 sondern auch der Erbvorgang dürfte vor diesem Hintergrund als standardisierter Vorgang wahrgenommen worden sein. 216 Diese Bezüge sind auch für den modernen Interpreten wichtig, um zu begreifen, dass die Heilige Familie an dieser Stelle des Textes als ,normale‘ Familie dargestellt ist, die eine wirtschaftliche Lebensgrundlage benötigt. 217 Allegorisch ausdeuten lässt sich das Motiv des geerbten Ackers nicht; allerdings bereitet es im Handlungsverlauf die spätere Erzählung vom Kornwunder vor, das Jesus für Joseph vollbringt (vv. 4468-4487). 218 Im Vergleich mit anderen Texten wird deutlich, dass der alltagsweltliche Bezugsrahmen kein Einzelfall ist, der mit der apokryphen Natur des Acker-Motivs zu erklären wäre. In der Erlösung beispielsweise finden sich etliche nicht-allegorische „Detail- und Genreschilderungen“, die „in erster Linie dazu dienen, die Handlung in der “faktischen Wirklichkeit” 210 Zu der aus Is 1,3 und Hab 3,2 entwickelten Motivtradition vgl. LCI, Bd. 3 (1971), Sp. 339 (mit weiterer Literatur). 211 Schon vorher war der Aufruf zur Volkszählung damit erklärt worden, dass niemand seinen Zins schuldig bleiben solle (vv. 693-699). 212 Vgl. dazu Tomasek (2016), der auch auf mittelalterliche Konzeptionen von Kindheit eingeht. 213 Der Text wird nach der Ausgabe von Wesle / Fromm 1969 zitiert. Zur Stelle vgl. Quast 2014, S. 323. 214 Zitiert nach der Ausgabe von Rückert 1853. Zur Stelle vgl. Manuwald 2017, S. 207-214. 215 Zur Hufe als Bewirtschaftungseinheit vgl. Rösener 2012. 216 Als einzige Tochter ist Maria erbberechtigt (vgl. dazu Rummel 1987, S. 162-168; Hagemann 2008, Sp. 1372-1374). 217 Sie wird im Text nochmals bei der Einladung von Maria mit dem Jesuskind durch Elisabeth thematisiert (vv. 4225-4237). Vgl. dazu Asseburg 1964, Bd. 2, S. 43-47 (auch zu möglichen Quellen Philipps). 218 Vgl. dazu Asseburg 1964, Bd. 2, S. 46 f.; Manuwald 2017, S. 218 f. <?page no="42"?> 42 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik anzusiedeln“. 219 Auch im spätmittelalterlichen Geistlichen Spiel ließen sich vergleichbare ,Realitätsüberschüsse‘ nachweisen. 220 Zum Beispiel fordert in den York Trial Plays ein Diener Pilatus auf, er solle sich die Hände waschen, solange das Wasser noch warm sei. 221 Nach den Einzeluntersuchungen zu den genannten Texten erfüllen die Realitätsreferenzen jeweils unterschiedliche Funktionen: So ist der ,Realismus‘ der York Trial Plays als Strategie angesehen worden, die Zuschauer durch die Verankerung des biblischen Geschehens in deren Erfahrungswirklichkeit emotional anzusprechen. 222 Für die Erlösung sieht Jens Haustein (1994) in den Bezügen auf die ,faktische Wirklichkeit‘ ein Indiz dafür, dass das „heilsgeschichtliche Geschehen […] gewissermaßen den Gesetzen dieser Welt“ folgt und damit als „Geschichte der Zeit, in einer Zeit, die für den Menschen erfahrbar ist“, konzipiert ist. 223 Referenzen auf die Kultur zur Entstehungszeit der Texte können jedoch auch genau den umgekehrten Effekt haben. Wenn nämlich das ,Alltägliche‘ mit dem Exzeptionellen kontrastiert wird, dienen Referenzen auf die Alltagswelt dazu, das Heilige noch deutlicher herauszustellen: 224 Bruno Quast (2014) hat für die ,profane‘ Szene der Vorverkündigung in Priester Wernhers Driu liet von der maget gezeigt, dass sie innerhalb der heilsgeschichtlichen Erzählung einen „Säkularisierungseffekt“ erzeuge. 225 Im Marienleben Bruder Philipps lassen die detaillierten Erläuterungen zur textilen Technik, derer sich Maria bei der Anfertigung des Heiligen Rocks bedient habe, das Mitwachsen des Rockes umso wunderbarer erscheinen. 226 In der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen wiederum ist mehrfach ,kindliches‘ mit ,göttlichem‘ Verhalten Jesu in Konfrontation gebracht. 227 Insgesamt sind 219 Haustein 1994, S. 84 (mit Beispielen). 220 Gemeint ist hier nicht das Phänomen, dass in Geistlichen Spielen manchmal Spiel- und Alltagsrealität ineinander übergehen (vgl. dazu Quast 2005, S. 110 f. [mit weiterer Literatur]). 221 Nr. 33: Christ before Pilate II: The Judgement , v. 443 (vgl. die Ausgaben von Beadle 2009 oder Davidson 2011; zu den York Trial Plays s. auch u. S. 269-271). Nach Davidson (1975, S. 271 f.) wird dadurch die symbolische Bedeutung der Handwaschung nicht eingeschränkt, doch ist die Wärme des Waschwassers im Hinblick auf die Symbolik ein blindes Motiv. 222 Vgl. dazu Davidson 1975, S. 274; King 1999, S. 201. 223 Vgl. Haustein 1994, S. 84 (mit Überlegungen zur Zeitstruktur des Textes von Die Erlösung ). 224 Hinsichtlich des Problems, wie Heiliges überhaupt zu erfassen und medial zu vermitteln ist, sind bibelepische Texte mit Legenden vergleichbar (vgl. zur Legende Strohschneider 2002, S. 111-115; Köbele 2012, S. 375-378 [mit weiterer Literatur]). Fludernik (1996, S. 96-99) hat für mittelenglische Heiligenlegenden die überzeugende These aufgestellt, dass Realitätselemente, gerade in der mentalen Ergänzung durch die Rezipienten, eine Kontrastfolie für die Exzeptionalität der heiligen Figuren bilden. 225 Vgl. Quast 2014, S. 325. In eine ähnliche Richtung zielt Quasts (2006) Interpretation der Passage aus der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen, in der die Untersuchung Mariens durch die Hebamme Zeloni geschildert wird. Aufgerufen ist dort das Muster der Vertikaldescriptio (vv. 844-869). Dadurch werde Maria in Bezug zu preiswürdigen Damen gesetzt, von denen sie durch das Wunder der Unversehrtheit ihres Körpers auch nach der Geburt zugleich abgesetzt werde. Quast bezieht sich für die Deutung dieser Stelle auf die „Erkenntnis- und Darstellungsfigur der dissimilis similitudo “ (S. 40), die auch zur Interpretation mancher Referenzen auf die Alltagswelt fruchtbar gemacht werden könnte. 226 Vgl. dazu Manuwald 2017, S. 218 f. 227 Z. B. wird gesagt, dass das Jesuskind, als die wilden Tiere gekommen seien, um ihren Herrn zu sehen, von der Mutter weg zu ihnen gelaufen sei, um mit ihnen zu spielen. Die Passage schließt damit, dass nur das Gebot Jesu es vermocht hätte, die Tiere zu entfernen, während Joseph sie nicht habe vertreiben können (vv. 1373-1410; vgl. dazu Tomasek 2016, S. 11 f.). Auf diese Weise ist hier die Rolle Jesu als Herr über die Schöpfung der eines spielenden Kindes entgegengesetzt. In der Episode vom Fischfang am Sabbat (vv. 2695-2808), in der Jesus zunächst als spielendes Kind agiert, bleibt es ambivalent, ob es sich bei der Tötung des jüdischen Jungen um eine kindliche Überreaktion oder um eine angemessene Strafe in göttlichem Zorn handelt. Tomasek (ebd., S. 17 f.) hebt den Referenzrahmen der kindlichen Entwicklung hervor und stützt sich unter anderem darauf, dass Maria textimmanent die Strafe als un- <?page no="43"?> 1.3 Realitätsreferenz als Forschungsproblem 43 diese Szenen im theologischen Referenzrahmen der Diskussion um die Doppelnatur Jesu zu sehen; 228 im Textverlauf wird diese Doppelnatur aber nicht zuletzt durch Referenzen auf die Praktik des Kinderspiels demonstriert, die mit den Wundern, die das spielende ,Kind‘ vollbringt, kontrastiert wird. Wie komplex Referenzrahmen ineinander verschachtelt sein können, lässt sich nicht zuletzt am Badeschaum-Wunder in der Kindheit Jesu verdeutlichen: Als die Heilige Familie das erste Mal im Hause des Schächers empfangen wird, badet die Frau des Schächers hingebungsvoll das Jesuskind (vv. 1798-1818). Die Entstehung des Schaums wird damit erklärt, dass es in ,kindlicher‘ Weise begonnen habe zu planschen. 229 Wie der Text suggeriert, entfaltet der Badeschaum seine heilende Kraft nicht zuletzt aufgrund der andächtigen Haltung der Frau des Schächers, die das Exzeptionelle des Jesuskindes wahrgenommen zu haben scheint (vv. 1811-1817; 2172-2209). 230 Die Leistung dieser Frau kann aber ebenso wie der Kontrast zwischen (vermeintlich) kindlichem Verhalten und der Wundertätigkeit Jesu nur erkannt werden, wenn der Referenzrahmen kindlichen Normalverhaltens erst einmal aufgerufen ist. Zugleich gehört das Baden des Jesuskindes zur vorbildlichen Bewirtung der Heiligen Familie, wobei dieses Verhaltensmuster höfisch konnotiert ist. 231 Die Referenzen auf ,das Höfische‘ beschränken sich nicht auf die Inhaltsebene; die rhetorische Gestaltung der Bewirtung (Schilderung des locus amoenus , indirekte Ausdrucksweise; vgl. vv. 1819-1866) verweist auf den höfischen Roman. 232 Das scheinbar alltagsweltliche Motiv des planschenden Jesuskindes ist also auch nicht unabhängig von diesem ,literary frame‘ zu deuten. Insofern ist es eine analytische Fokussierung, die Referentialität einzelner Textelemente auf die praktische Erfahrungswirklichkeit herauszugreifen. Für das Genre der Bibelepik im deutschen Hochmittelalter lässt sich auf der Grundlage der angeführten Beispiele aber festhalten, dass Elementen aus ,Alltagswelt‘ und ,Lebenspraxis‘ nicht notwendig eine allegorische Bedeutung zugeschrieben sein muss (genauso wenig wie sie von vornherein auszuschließen ist). Neben der Bibel als dominantem externen Bezugsfeld ist also auch mit literarischen Traditionen und nicht zuletzt mit der Alltagserfahrung als Referenzrahmen zu rechnen. Weil für bibelepische Texte die Orientierung an einem autoritativen Referenztext konstitutiv ist, unterscheiden sie sich in der Gewichtung der Bezugsfelder von den oben skizzierten fiktionalen Texten; sie teilen mit ihnen jedoch verhältnismäßig bezeichne (v. 2800). Auf Marias Klage, dass die Strafe zu groß gewesen sei, folgt aber eine Bitte um Erbarmen (vv. 2801 f.), die auf ihre theologisch etablierte Rolle als Fürbitterin referiert. Insofern ist Marias Funktion an dieser Stelle nicht bloß die einer Erzieherin. Tomaseks Argument, der Grund für die Tötung des jüdischen Jungen liege ganz im profanen Bereich, da die Auseinandersetzung um die ordnungsgemäße Einhaltung des Sabbats (vv. 2730-2746) bereits deeskaliert sei, kann nicht überzeugen, denn die Aggressionen des jüdischen Jungen erwachsen daraus, dass Jesus sich von der Drohung, dass ihm und seinen Spielgenossen wegen des Bruches der Sabbatruhe eine Prügelstrafe drohe, nicht beeindrucken lässt (vv. 2747-2751). Mit dem Sabbatmotiv sind auch Evangelienstellen wie die Heilung am Sabbat (Mc 3,1-6) oder die Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel (am handgreiflichsten Io 2,13-16) aufgerufen, damit also auch die Messianität Jesu. 228 Sie ist bereits im Prolog (v. 12) benannt (vgl. dazu Tomasek 2016, S. 19). 229 nu begund ez chintlîche / gegen ir spiln in dem bade, / - die hende wâren i m gerade - / unz ez schûmen began. (vv. 1806-1809). Vgl. dazu Tomasek 2016, S. 11 f.; 15 f. 230 Vgl. Quast (2017, S. 165) dazu, dass der Erzähler den Glauben der Frau an die Heilkraft des Badeschaums hervorhebt. 231 Wegen der Durchdringung von Höfischem und Religiösem spricht Quast (2017, S. 166) davon, dass es sich bei Jesu Badewasser „gewissermaßen um eine höfische Christusreliquie“ handele. 232 Vgl. dazu Ukena-Best 2002, S. 194 f. <?page no="44"?> 44 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik die grundsätzliche Eingebundenheit in verschiedene Kontexte. 233 Damit sind auch bibelepische Texte offen für Anlagerungen von semantischem Material aus der Erfahrungswirklichkeit zeitgenössischer Rezipienten bzw. mögen sogar Begründungszusammenhänge entwerfen, die erst vor diesem Hintergrund fassbar werden. Die Erschließung der inhaltlichen Implikationen von Realitätsreferenz in der Bibelepik ist damit eine Vorbedingung für die Interpretation der Texte. Die Kerntexte sind also für eine Untersuchung von ,Recht und Literatur‘ so zu behandeln, wie es in Kapitel 1.3.2 für literarische Texte skizziert wurde. 1.4 Text und Kontext: ,Recht‘ als Bezugsfeld 1.4.1 Was ist reht? Probleme der Abgrenzung In der Einleitung zu ihrer Bibliographie zu „Law and Literature in the Middle Ages“ halten John A. Alford und Dennis Seniff (1984) fest, ,Literature‘ sei für ihr Vorhaben einfacher zu definieren gewesen 234 als ,Law‘: The medieval concept of law was extremely broad. It included not only positive law (custom, royal and papal decrees, legislative acts, etc.) but also natural law and even divine law. These various kinds of law were seen not as merely analogous to one another, but rather as a manifestation of a single law in different spheres […]. 235 Das Problem liegt nicht nur darin, dass ,Law‘ bzw. ,Recht‘ neben dem objektiven und dem subjektiven Recht auch Fragen der Rechtsbegründung umfasst, wie sie heute in der Rechtsphilosophie diskutiert werden, sondern auch darin, dass ,Recht‘ sich im Mittelalter erst allmählich als eigenständiges System herauskristallisiert. Insofern können Konzepte der globalen Weltordnung bei der Betrachtung von ,Recht‘ im Mittelalter noch weniger ausgeklammert werden als in der Moderne, wobei im Einzelfall erst zu bestimmen wäre, wie das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Recht konzeptionalisiert wird. Außerdem ist angesichts der Vielfältigkeit koexistierender positiver Rechtsordnungen in besonderem Maße zu klären, welche in den zu analysierenden literarischen Texten vorrangig aufgerufen werden. 233 Im Hinblick auf die Spielräume beim ,Wiedererzählen‘ hat Jan-Dirk Müller (2005 [2001], S. 124) die Bibelepik g r a d u e l l von Texttypen wie der Heldenepik oder dem Höfischen Roman abgesetzt: „Mittelalterliches Erzählen ist ganz überwiegend Wiedererzählen. Es gibt deshalb Stoffzwänge, die es dem Erzähler verbieten, ein störendes, seinem Konzept fremdes Detail einfach zu unterdrücken. Vielmehr muß er versuchen, es diesem Konzept einzupassen, was mit mehr oder weniger Glück gelingen kann. […] Auch scheinen die Spielräume produktiver Umbildung gattungsabhängig, mithin unterschiedlich weit, geringer etwa in der Bibelepik (wo der sensus historicus feststeht), größer im höfischen Roman (wo man sich auf unzuverlässige jongleurs stützen muß). Die Heldenepik liegt offenbar dazwischen.“ Wegen des Prinzips des ,Wiedererzählens‘ ist der von Harshaw (1984, S. 242, Anm. 12) beschriebene Sonderfall, dass Charaktere in mehreren Texten auftreten (wobei Harshaw nur den Fall diskutiert, dass sie von ein und demselben Verfasser stammen), bei mittelalterlichen Erzähltexten die Regel. Insofern ist seine Abgrenzung zwischen fiktionalen Texten und ,Mythen‘ für das Mittelalter zu relativieren. 234 Sie arbeiten letztlich mit einem erweiterten Literaturbegriff, ohne ihn als solchen zu benennen (vgl. Alford / Seniff 1984, S. xi). 235 Alford / Seniff 1984, S. xii. Dass die Pluralität des Rechts im Mittelalter ein Problem darstellt, wenn es darum geht, ,Literatur‘ und ,Recht‘ zueinander in Beziehung zu setzen, konstatiert auch Schnell (2011, S. 19 f.). Zum engen Zusammenhang zwischen Recht und Theologie vgl. Evans 2002. <?page no="45"?> 1.4 Text und Kontext: ,Recht‘ als Bezugsfeld 45 Für den deutschsprachigen Raum wird für das Hochmittelalter (abgesehen von der ständischen und regionalen Differenzierung) meist eine Untergliederung in kanonisches, römisches 236 und ,deutsches‘ Recht 237 angenommen. 238 Die drei Bereiche sind jedoch eng miteinander verwoben, zumal angesichts der zunehmenden Rezeption des römischen Rechts in dieser Zeit. 239 Bereits im Sachsenspiegel als frühestem deutschen Rechtsbuch 240 lassen sich Spuren römischen und kanonischen Rechts finden. 241 Auch wenn sich ein literarischer Text in eine ,deutschrechtliche‘ Tradition einschreibt, können Prinzipien des römischen oder kanonischen Rechts als Referenzrahmen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Ein fundamentaleres Problem bei der Annäherung an ,Recht‘ im Mittelalter ist jedoch die Frage, inwiefern heutige und mittelalterliche Rechtsvorstellungen überhaupt kompatibel sind, aus der gegebenenfalls Konsequenzen für die Untersuchungskategorien zu folgen haben. 242 Für das ,deutsche‘ Recht hat die Forschung das Problem sowohl wort- 243 als auch begriffsgeschichtlich 244 in den Blick genommen. Die Ergebnisse konvergieren insofern, als für das Wort reht festgestellt wurde, dass es erst im Verlauf des Mittelalters zu einer Bezeichnung für das objektive Recht wurde. 245 Damit korrespondiert die Beobachtung 236 Zur Verbindung dieser beiden Rechte gerade bei der Rezeption des gelehrten Rechts vgl. Sellert 1998, S. 119-122. Die Verwobenheit wird im Folgenden mit der Kurzformel ,römisch-kanonisches Recht‘ angedeutet. 237 Angesichts der kontroversen Diskussion um den Begriff des Gewohnheitsrechts - sowohl in Abgrenzung von der consuetudo im römisch-kanonischen Recht als auch im Hinblick auf die Unterscheidung von Rechtsgewohnheiten (vgl. dazu Trusen 1989; Dilcher / Lück / Schulze 1992; Magin 1999, S. 41, Anm. 1; Behrends 2000; Kümper 2009, S. 49 f., und die Beiträge in der Zeitschrift Rechtsgeschichte [ Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte ] 17 [2010]: http: / / rg.rg.mpg.de/ de/ Rg17, 15. 08. 2017) - hat sich ,deutsches Recht‘ als Sammelbegriff für „die der deutschsprachigen Bevölkerung Mitteleuropas eigenen Rechtsvorstellungen und Rechtseinrichtungen“ (Weitzel 1986, Sp. 777) eingebürgert. In diesem Sinne wird auch im Folgenden von ,deutschem‘ Recht gesprochen, ohne dass damit die Existenz einer gemeindeutschen Rechtsordnung postuliert sein soll (zu den regionalen Unterschieden s. u. Kap. 1.4.2). Zur Problematik der Redeweise von ,deutschem Recht‘ im Sinne von ,einheimischem Recht‘ vgl. aber Cordes (2008), der darauf hinweist, dass in einem weiteren Sinne auch das römische und das kanonische Recht als ,deutsches Recht‘ zu betrachten sind, wenn sie im deutschen Raum gebraucht werden. 238 Zur Problematik der entsprechenden disziplinären Aufteilung der Rechtsgeschichte in einen kanonistischen, einen romanistischen und einen germanistischen Zweig vgl. Kümper 2009, S. 28 f. 239 Vgl. Sellert 1998; zur ,Transportfunktion‘ des Kirchenrechts, über das Regelungen römischen Rechts in das ,deutsche‘ Recht eindrangen, vgl. auch Kéry 2006, S. 686. 240 Zur Definition von ,Rechtsbuch‘ vgl. Magin 1999, S. 42-49; Kümper 2009, S. 16-48. 241 Vgl. Magin 1999, S. 45; Nehlsen-von Stryk 2000, S. 27; Landau 2005 (zu der von ihm maßgeblich mit angestoßenen Diskussion über die schriftlichen Quellen des Sachsenspiegels vgl. kritisch Kannowski 2011, S. 96-99; 2013). 242 Brunner (1970 [1959], S. 163) diskutiert das Problem für den mittelalterlichen Staatsbegriff und fordert eine Orientierung an der Sprache der Quellen, wobei er selbst zu bedenken gibt: „Nichts wäre falscher als zu glauben, daß historische Arbeit die modernen Begriffe entbehren könnte. Nur müssen sie selbst in ihrer geschichtlichen Bedingtheit erkannt werden.“ Zur Tendenz Brunners, den Quellen entnommene Wörter etymologisch mit Sinn aufzuladen, vgl. die Kritik Algazis 1996, S. 97-101. 243 Vgl. Köbler 1970 (zum Bedeutungswandel der deutschen Entsprechungen zu ,Richter‘, ,Richten‘, ,Gericht‘ vom Frühzum Hochmittelalter); 1971 (mit einem Schwerpunkt auf lateinischen Quellen); Schmidt-Wiegand 1987 (zu reht und ewa im Althochdeutschen; vgl. dazu Sullivan 2001, S. 31-34; Manuwald 2014, S. 667 f.); 1993, S. 152-156 (zum Bedeutungswandel von reht ). 244 Vgl. Schmidt-Wiegand 1993, S. 147-156, sowie grundlegend den Forschungsüberblick von Kannowski 2002. 245 Vgl. Schmidt-Wiegand 1987, bes. S. 956; 1993, S. 154 f. Die mittelhochdeutschen Wörterbücher führen Belege für die subjektive und die objektive Bedeutung von reht auf (vgl. bes. L exer ; DRW; WMU, s. v.). <?page no="46"?> 46 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik in der begriffsgeschichtlichen Forschung, dass das ,deutsche‘ Recht im Mittelalter nicht primär als abstraktes Normensystem, sondern als an Personen in konkreten Situationen gebunden gedacht wird. 246 ,Recht‘ konstituiert sich weiterhin vor allem durch die Rechtsförmigkeit des Verfahrens, weniger durch die Normen, auf die dabei eventuell zurückgegriffen wird. 247 Dementsprechend kann mittelhochdeutsch reht auch das Gerichtsverfahren bezeichnen. 248 Zu dem breiten Bedeutungsspektrum von reht , das außerdem Aspekte umfasst, die von den subjektiven Rechten und Pflichten einzelner oder bestimmter Personengruppen über die Gerichtsbarkeit bis hin zu der gesamten Rechtsordnung und ihrer Begründung reichen, 249 gehört auch die Grundbedeutung: ,das, was richtig ist‘. 250 Es ist nicht untypisch für den sich im Mittelhochdeutschen erst allmählich herausbildenden Rechtswortschatz, 251 dass die Bedeutungen nicht auf den Spezialbereich des Rechts eingeengt sind. Zwar wird bei der konkreten Verwendung des Wortes immer nur eine Bedeutung aktiviert, doch stehen die Einzelbedeutungen in einem inhaltlichen Zusammenhang, 252 sodass Rückschlüsse auf konzeptionelle Vernetzungen möglich sind. Die semantische Offenheit von reht kann so auch als Chance gesehen werden, einen Zugang zu Zusammenordnungen von Aspekten zu finden, die von den heutigen abweichen. 253 Ebenso legt das Bedeutungsspektrum von ê in mittelhochdeutscher Zeit Querverbindungen zwischen Konzepten langer Dauer, althergebrachtem Recht, dem mosaischen Gesetz bzw. auch weiteren erlassenen Gesetzen und dem Buch bzw. Gesetz der jüdischen bzw. christlichen Religionsgemeinschaft offen. 254 Hier wird auf der Wortebene die eingangs angesprochene Eingebundenheit von ,Recht‘ in die religiöse Ordnung fassbar. Für eine rezeptionsorientierte Untersuchung, die an intersubjektiven Verstehensvoraussetzungen zur Entstehungszeit der zu analysierenden Texte interessiert ist, ist eine Berück- 246 Vgl. Kannowski (2002, S. 13-19), der Kritik an der Extremposition referiert, es habe im deutschen Frühmittelalter keine objektive Rechtsordnung gegeben, aber auch das methodologische Dilemma aufzeigt, wie eine solche nachgewiesen werden könnte, wenn die Quellen dazu schweigen. Vgl. auch die von Pilchs normentheoretischer Studie (2009) ausgelöste erneute Diskussion über Rechtsgewohnheiten, besonders die Beiträge in der Zeitschrift Rechtsgeschichte ( Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte ) 17 (2010): http: / / rg.rg.mpg.de/ de/ Rg17, 15. 08. 2017. Vgl dazu auch Kalb 2014, S. 11 f. 247 „ Mittelalterliches Recht ist im Kern Verfahrensrecht. “ (Kannowski 2002, S. 5). 248 Vgl. BMZ; L exer ; DRW; WMU, s. v. 249 Vgl. die Aufschlüsselung der Einzelbedeutungen im DRW, s. v. 250 In diesen Rahmen ist auch Bruder Bertholds Konzept zu stellen, in seinem in der Forschung als Rechtssumme bezeichneten Werk „das Recht und das Rechte in eins zu denken und gemeinsam darzustellen“ (Störmer-Caysa 1998, S. 179; sie hebt den Aspekt des Gewissens als Verknüpfungselement heraus). Obwohl als Beichtsumme angelegt, wurde die Rechtssumme mit ihrer deutschsprachigen Darstellung von Grundsätzen des kanonischen Rechts auch als Rechtsbuch breit rezipiert (vgl. Johanek 1987, S. 430 f.; Magin 1999, S. 95). 251 Vgl. Widmaier 1993, S. 18 f.; Schmidt-Wiegand 1998a; 1998b. 252 Es liegt also mehr vor als eine bloße Äquivozität von Bezeichnungen, auch wenn durchaus mit einer ,Verselbstständigung‘ von Einzelbedeutungen zu rechnen ist. 253 Vgl. Dicke / Eikelmann / Hasebrink 2006, S. 4 f. (zur Aussagekraft der ,Unschärfe‘ mittelhochdeutscher Werk- und Gattungsbezeichnungen). Vgl. auch Kiening (2006, S. 22) zur Historischen Semantik als „ein Mittel zur kontrollierten und reflektierten Entfaltung der Alterität ihres Gegenstandes“. 254 Vgl. BMZ; L exer ; MWB; WMU, s. v. êwe ; s. v. ê ; Seebold 1981, S. 89-91 (auch zur Einengung auf die Bedeutung ,Ehe‘ in diachroner Perspektive). <?page no="47"?> 1.4 Text und Kontext: ,Recht‘ als Bezugsfeld 47 sichtigung von Aspekten der Historischen Semantik unabdingbar. 255 Eine semasiologische Betrachtungsweise ist zwar zur Erschließung von Konzepten nicht ausreichend, 256 kann aber helfen, bestimmte Themensegmente zu identifizieren. So wurde zur Vorbereitung der thematisch orientierten Lektüren der Kerntexte auch der Verwendung von Schlüsselwörtern wie reht und ê nachgespürt. Zwar war für die Wahl der thematischen Felder des Gerichtsverfahrens ( geriht ), der Wahrheit ( wârheit ) und der Rechtsordnung ( reht und ê ) der Befund in den Kerntexten maßgeblich (d. h. auch deren Motivebene), nicht primär das Wort reht oder der oben skizzierte Rechtsbegriff, aber mit dem Fokus auf das Gerichtsverfahren und dem Einbezug religiöser Aspekte bei der Betrachtung der Rechtsordnung sind gleichzeitig zentrale Aspekte von ,Recht‘ bzw. reht berührt. Als Konsequenz daraus, dass reht nicht allein den juristischen Bereich im engeren Sinne betrifft, wurde die Untersuchung entsprechend offengehalten und für den in den Kerntexten zentralen Aspekt der Zeugenschaft mit wârheit sogar eine nicht spezifisch rechtliche Kategorie gewählt. Was die Bereiche des kanonischen, römischen und ,deutschen‘ Rechts angeht, so deuten Details des Gerichtsverfahrens in den Kerntexten jeweils auf das ,deutsche‘ Recht als vorrangiges Bezugsfeld hin. 257 Sobald man jedoch die konzeptionellen Kontexte dieser verfahrensrechtlichen Details erkundet, werden auch Aspekte des römisch-kanonischen Rechts relevant. 258 1.4.2 Rechtstexte als Kontexte: Eine heuristische Setzung In welchem Verhältnis stehen literarische Texte zu Normativität beanspruchenden Rechtstexten? In der Rechtsgeschichte hat man ihnen den Status sekundärer Rechtsquellen zuerkannt, deren Aussagewert zwar begrenzt sei, weil sich die Darstellung von Rechtsnormen der Gesamtkonzeption unterwerfen müsse, die aber einen Zugang zu Bereichen eröffnen könnten, für die es sonst keine Quellen gibt (wie Rechtsnormen zu Zeiten, in denen das Recht noch nicht schriftlich kodifiziert war, oder ,gelebtes Recht‘). 259 In Bezug auf Rechtskonzepte oder Einstellungen zur Rechtspraxis 260 kann man ihnen sogar den Status primärer Rechtsquellen zusprechen. 261 Umgekehrt ist aus Rechtstexten als unumstritten primären Rechtsquellen nicht unbedingt Aufschluss über die Rechtspraxis zu gewinnen: Das Auseinanderklaffen von „Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit“ 262 kann etwa bei Rechtsbüchern darin begründet sein, dass der Geltungsanspruch nicht unbedingt eingelöst wird 263 oder dass anachronistische Rechtsnormen in der schriftlichen Tradition weiter tradiert 255 Zum Zusammenhang von Rezeptionsästhetik und Historischer Semantik vgl. Vollhardt 2003, bes. S. 204-209. Vgl. zustimmend Kiening 2006, S. 21. 256 Zur Historischen Onomasiologie vgl. Schmidt-Wiegand 1975, S. 149-155; zur Ideengeschichte (im Verhältnis zur Historischen Semantik) vgl. Konersmann 1995, Sp. 596. 257 S. dazu u. Kap. 3. 258 S. dazu u. Kap. 5. 259 Vgl. den präzisen Forschungsüberblick bei Widmaier 1993, S. 6-10 (mit weiterer Literatur). Zu „ Literatur als Rechtsquelle “ vgl. auch Greiner 2010, S. 14 f. 260 Zur Bedeutung fiktionaler Quellen für diesen Punkt vgl. Sprandel 1999, S. 185 f. 261 Zur Gleichrangigkeit ,historischer‘ und ,literarischer‘ Quellen vgl. Müller 2007a, S. VII f. 262 So der programmatische Titel eines Aufsatzes von Kroeschell 1977. Auch bei bildlichen ,Quellen‘ ist Vorsicht angebracht, wie Caviness (2013, bes. S. 175-178) für mittelalterliche Bilder von Kapitalstrafen deutlich macht. 263 Vgl. dazu Kümper (2009, S. 41-44), der ,Rechtsbücher‘ deshalb als „autoritative Lehrbücher“ deuten will (ebd., S. 44-48, Zitat S. 44). Vgl. auch Widmaier 1993, S. 9 f. Ein instruktives Beispiel stellt der <?page no="48"?> 48 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik werden. 264 Bei Rechtstexten wie Schöffensprüchen oder Weistümern, die sich als Aufzeichnungen mündlich getroffener Aussagen geben, ist wiederum mit Stilisierungen bzw. der Orientierung an schriftlichen Vorlagen zu rechnen, von ihrem ausschnitthaften Charakter einmal abgesehen. 265 Die Grenzen zwischen literarischen Texten und Rechtstexten sind auch insofern fließend, als etwa in Rechtsbücher narrative Elemente integriert sein können. 266 Wenn im Folgenden die narrativen Kerntexte Rechtstexten gegenübergestellt und Letztere als Kontexte betrachtet werden, sind das also vor allen Dingen heuristische Operationen. 267 Dass die Rechtstexte nicht notwendig die Rechtspraxis widerspiegeln, kann insofern ausgeklammert werden, als sie auch als Dokumente bestimmter Denkweisen über das Recht mit zum ,real world frame‘ gehören, der die Rezeption der narrativen Texte zu deren Entstehungszeit mit bestimmt hat. Allerdings wären manche Sinndimensionen der Kerntexte auch wieder nur aus ihrer Übereinstimmung mit oder Abweichung von der Rechtspraxis zu bestimmen. 268 Trotz der oben genannten Vorbehalte, die bei den folgenden Verweisen auf Rechtstexte immer mitzudenken sind, werden deshalb bei den Lektüren der Kerntexte mit aller Vorsicht Rechtstexte auch zur Rekonstruktion typischer Abläufe herangezogen (z. B. der Vorgänge bei der Eröffnung einer Gerichtsverhandlung). Dahinter steht die Überlegung, dass sich Rechtsbücher oder gar Rechtsgangbücher, wenn sie den Anspruch erheben, die bestehenden Verhältnisse zu beschreiben oder Normen dafür festzuhalten, bei solchen Routinevorgängen nicht zu weit von der Praxis entfernt haben dürften, wenn sie plausibel bleiben sollten. Die Unsicherheit im Verhältnis von Rechtstexten zur Rechtspraxis stellt jedoch nicht das einzige methodologische Problem dar, das sich beim Umgang mit Rechtstexten als Kontexten ergibt: Sollen sie dazu dienen, Verstehensvoraussetzungen eines idealen Rezipienten zur Entstehungszeit eines literarischen Textes zu erschließen, müssten sie nach Möglichkeit zeitlich und regional aus dem entsprechenden Entstehungsumfeld stammen. Voraussetzung für solche Zuordnungen wären zuallererst gesicherte Erkenntnisse über Entstehungsort und -zeit der literarischen Texte. Für die Kerntexte kommt man jedoch in vielen Punkten über plausible Vermutungen nicht hinaus. 269 So lässt sich zum Beispiel nicht ermitteln, ob Gundacker von Judenburg in der Steiermark oder gar in Judenburg selbst gewirkt hat, sodass die Rechtsquellen, die mit der Stadt Judenburg verbunden sind, 270 nicht ohne Weiteres Sachsenspiegel dar, der erst im Rahmen seiner Rezeption Verbindlichkeit erlangte (vgl. Kroeschel 1998; Kümper ebd., S. 44; 207-267). 264 Vgl. Kümper 2009, S. 51 f. 265 Vgl. Teuscher 2007, S. 206-255; Kümper 2009, S. 50 f. 266 Zur Integration von „Bispel und Mären“ in Rechtsspiegel vgl. Ott 1988 (s. dazu auch u. S. 231, Anm. 161); auch die historische Herleitung des Rechts kann narrative Formen annehmen (zur Ursprungs- und Landnahmesage im Sachsenspiegel vgl. Dilcher 1994, S. 152-155). 267 Aus pragmatischen Gründen wurden vor allem Rechtstexte als synchrone Kontexte gewählt, nicht weitere literarische Texte trotz deren prinzipiell möglicher Aussagekraft für Rechtskonzepte. 268 Vgl. (in Bezug auf den Ruodlieb ) Vollmann 1979, S. 197. Zu dem Problem, ,realistische‘ Züge in literarischen Texten des Mittelalters zu bestimmen, vgl. auch Grosse 1972, S. 77: „Die große zeitliche Distanz zum Mittelalter bringt es mit sich, daß der heutige Betrachter dieser Dichtungen nicht mehr Mitglied der damaligen Sprechgemeinschaft ist und so die Wirklichkeitsauffassung ihrer Entstehungszeit nur punktweise aus Überlieferungsspuren erschließen kann, die zum großen Teil schriftlich fixiert, also wieder literarisch sind. Daher ist es schwer, den Zirkelschluß zu vermeiden und die sprachliche Darstellung von Wirklichkeit zu beurteilen.“ 269 Vgl. die Dokumentation des Forschungsstandes in Kap. 3.2.1, 3.3.1 und 3.4.1. 270 Vgl. Andritsch 2003. <?page no="49"?> 1.4 Text und Kontext: ,Recht‘ als Bezugsfeld 49 herangezogen werden können. Bei Diu urstende reichen die Erkenntnisse dazu, dass das Werk wohl im frühen 13. Jahrhundert im Eichstätter Raum entstanden ist, immerhin aus, um Probleme bei der Kontextualisierung manifest werden zu lassen: Deutschsprachige Quellen fehlen für diesen Zeitraum weitgehend. Zwar kann man davon ausgehen, dass etwa die ab 1225 im Sachsenspiegel formulierten Rechtssätze auch Rechtsgewohnheiten älteren Ursprungs festhalten (soweit der Sachsenspiegel tatsächlich ,Rechtsaufzeichnung‘ ist), 271 doch ist mit dieser Überbrückung der chronologischen Lücke noch nicht die regionale Differenz 272 überwunden. Für das vermutlich im sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis 273 verfasste Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler stellt sich das Auffinden möglicherweise korrespondierender Rechtsquellen weniger prekär dar, ebenso für Christi Hort mit dem anzunehmenden bayerisch-österreichischen Entstehungskontext. 274 Allerdings ergibt sich bei einer besseren Quellenlage sogleich das nächste Problem, nämlich das der Auswahl: Sind zum Beispiel land- oder eher stadtrechtliche Quellen als relevante Kontexte anzusetzen? In den Kerntexten ist nur in Diu urstende ausdrücklich von lantreht (v. 705) die Rede. Angesichts der komplexen Problemlage wurde für die Untersuchung der Kerntexte so verfahren, dass geprüft wurde, wie gravierend die Unterschiede zwischen den Rechtstexten im Hinblick auf die in den Kerntexten relevanten Rechtsmotive überhaupt sind. Dazu wurden zunächst in allen drei Texten rechtliche Aspekte identifiziert. Wenig überraschend für den Gegenstand, den Prozess gegen Jesus, ergab sich dabei ein Schwerpunkt auf dem Ablauf des Gerichtsverfahrens und dem Verhalten der einzelnen Beteiligten (Richter, Ankläger, Angeklagter, Zeugen, Urteiler, Umstand). Außerdem war ein Interesse an der Herkunft der Gerichtsgewalt festzustellen. Schließlich legte die sich deutlich manifestierende Abgrenzung gegenüber ,den Juden‘ zur Zeit Jesu nahe, dass das Judenrecht 275 zur Entstehungszeit der Kerntexte als Kontext relevant sein könnte, zumal dieses Recht im Schlussexkurs des Evangelium Nicodemi ausdrücklich thematisiert ist. Eine stichprobenartige Sichtung von Rechtsbüchern zum Landrecht 276 führte deutlich vor Augen, dass die Rechtsbücher lediglich einen ausschnitthaften Eindruck vom Gerichtsverfahren vermitteln und dass manche Details jeweils nur in einer der Quellen genannt sind, zum Beispiel die erforderliche Nüchternheit des Richters, die in den hochmittelalterlichen Rechtsbüchern ausschließlich im Schwabenspiegel (Ldr. 145) zur Sprache kommt. 277 Das könnte bedeuten, dass sie sonst nicht üblich war. Es könnte aber auch sein, dass Selbstver- 271 So Widmaier (1993, S. 20) und Weigand (2002, S. 832 mit Anm. 8), die das Problem der fehlenden deutschsprachigen Rechtsquellen für ihre Analyse des Reinhart Fuchs bzw. des Iwein diskutieren. 272 Wenn hier von einer regionalen Differenzierung des Rechts die Rede ist, soll damit nicht die Geltung des Territorialitätsprinzips impliziert sein, sondern es sind die Unterschiede gemeint, die sich auch beim in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts noch vorherrschenden Personalitätsprinzip (vgl. Lieberwirth 1991) ergeben. 273 Zum Sachsenspiegel und Rechtsbüchern, die ihn rezipieren, vgl. Kümper 2009, S. 68-206; 335-482. 274 Vgl. z. B. das Österreichische Landrecht aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (zur Datierung vgl. Weltin 1989). Zur Rezeption des gelehrten Rechts in Österreich vgl. Stelzer 1982. 275 Zu der von Guido Kisch geprägten terminologischen Unterscheidung von jüdischem Recht und Judenrecht vgl. Magin 1999, S. 11; Battenberg 2012. 276 Folgende Texte wurden herangezogen: Sachsenspiegel (mit der Rezeption in der Buch’schen Glosse und in Richtsteig Landrechts ), Deutschenspiegel , Schwabenspiegel , Österreichisches Landrecht . 277 Die Zählung des Schwabenspiegels folgt von Laßberg 1840 (s. dazu u. S. 254, Anm. 278). Erler (1984, Sp. 103) bezieht die Stelle lediglich auf die Urteiler, die Nüchternheit ist aber nicht nur für das Finden, sondern auch für das Verkünden des Urteils gefordert. Deshalb dürften Richter mit eingeschlossen <?page no="50"?> 50 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik ständlichkeiten nur selten festgehalten wurden, wie es zum Beispiel auch bei der Hegung des Gerichts der Fall ist. 278 Angesichts dieser Alternative ist eine Quellenmischung zur Rekonstruktion eines typischen Verfahrensablaufs, wie sie die älteren Handbücher vornehmen, nicht unproblematisch. Jedoch ist sie die einzige Möglichkeit, überhaupt ein umfassenderes Bild eines prototypischen Verfahrensablaufes zu entwickeln. Die Annahme eines solchen Ablaufes ist insofern gerechtfertigt, als die - größtenteils aufeinander aufbauenden - Quellen in den Grundzügen (wie zum Beispiel den Aufgaben des Richters 279 und der Urteiler) große Übereinstimmungen zeigen. Und auf solche, im Folgenden als ,deutschrechtlich‘ bezeichnete Grundmuster 280 scheinen sich die Kerntexte vor allem zu beziehen. Eine Kontextualisierung einzelner Motive bleibt jedoch schwierig. Letztlich kann zum Beispiel für das Motiv im Evangelium Nicodemi , dass Pilatus als Richter nüchtern zur Verhandlung erscheinen soll, allein auf die Schwabenspiegel -Stelle und damit auf ein Rechtsbuch aus einem anderen Rechtskreis verwiesen werden. 281 Entsprechend lassen sich manchmal nur mit zeitlichem Abstand Analogien zu rechtlichen Elementen in den Kerntexten aufzeigen. 282 Auf solche weit auseinanderliegenden Parallelen wird im Folgenden hingewiesen, weil sie - wenn man eine weitere Verbreitung der Phänomene annimmt - Indizien dafür bieten könnten, ob in den Kerntexten ein regelhafter oder ein ungewöhnlicher Vorgang dargestellt ist. Letztlich werden bei einer solchen Betrachtungsweise die literarischen Texte aber selbst zu Rechtsquellen, weil sie die in ihnen eventuell verarbeiteten ,Realitätssplitter‘ zugleich dokumentieren. 283 1.5 Vorgehensweise und Zielsetzung Der bei Thomas von Aquin formulierte Grundsatz, dass alles, was rezipiert wird, nach der Art und Weise des Aufnehmenden rezipiert werde, 284 ist dort auf die immaterielle Seele bezogen, lässt sich aber auch als hermeneutisches Prinzip lesen. 285 Losgelöst von ihrem argumentativen Kontext kann die Formel die Standortgebundenheit des Interpreten beschreiben, der seine eigenen Voraussetzungen bei der Rezeption eines Werkes nicht aussein. Für entsprechende frühmittelalterliche Rechtsquellen vgl. Erler ebd. Zur Nüchternheit vgl. auch Lück 2017, mit weiterer Literatur. 278 Sie findet nach Drüppel (1981, S. 284) in den von ihm untersuchten stadtrechtlichen Quellen nur selten Erwähnung. 279 Zur Richterethik, die von christlichen Denkmustern geprägt ist und sich relativ unabhängig vom konkreten Rechtssystem in den Quellen findet, s. u. Kap. 5.1. 280 Damit soll nicht die Prämisse der Existenz eines ,gemein-deutschen Privatrechts‘ reaktiviert werden (vgl. kritisch zur Annahme einer solchen Prämisse in der älteren Forschung Weitzel 2000a, S. 56). 281 So war auch schon Klibansky (1925, S. 17 f.) vorgegangen. Die Rezeption des Schwabenspiegels im Kerngebiet des Sachsenspiegels setzt erst im 14. Jahrhundert ein (vgl. Grosse 2000). 282 S. z. B. u. S. 86 zur Relevanz des Nennens der Namen von Zeugen. 283 Zur Gefahr von Zirkelschlüssen bei einer rechtshistorischen Auswertung literarischer Texte und den Möglichkeiten, durch ein reflektiertes Vorgehen zu gesicherten Ergebnissen zu kommen, vgl. Vollmann 1979, S. 197. 284 Vgl. z. B. Summa Theologiae , Iª q. 75 a. 5 co. (zitiert nach der Editio Leonina ): Manifestum est enim quod omne quod recipitur in aliquo, recipitur in eo per modum recipientis ; vgl. auch ebd., Iª q. 75 a. 6 co. Zu den Quellen des Thomas von Aquin vgl. Jauß 1987, S. 10 f. 285 Vgl. zur „Vorgeschichte“ der literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorie Jauß 1987; Pfeiffer 2003a, S. 283. <?page no="51"?> 1.5 Vorgehensweise und Zielsetzung 51 schalten kann. 286 Der Standortgebundenheit des Rezipienten steht eine gewisse ,Standortgebundenheit‘ literarischer Texte gegenüber: Zwar können sie in individuellen Lektüren immer neuen Sinn entfalten, doch gibt es auch Sinndimensionen, die von den externen Bezugsfeldern ihres ursprünglichen Entstehungsumfelds abhängig sind - das haben die Überlegungen zur Realitätsreferenz von Erzähltexten noch einmal vor Augen geführt. Gerade für den Bereich des Rechts ist eine solche kulturelle Verankerung besonders relevant, weil er nicht nur Vorstellungen von Recht und Unrecht umfasst, die einen tendenziell überzeitlichen Charakter haben, sondern auch Verfahrensweisen, die einem starken historischen Wandel unterliegen. In den Kerntexten sind wegen der Verwobenheit heilsgeschichtlicher und verfahrensrechtlicher Aspekte auch die Heilsgeschichte betreffende Sinndimensionen nicht losgelöst vom historischen Entstehungskontext zu erschließen. Um der Beantwortung der eingangs gestellten Frage nach dem Verhältnis von ,Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ näherzukommen, ist es also trotz der begrenzten Erkenntnismöglichkeiten des modernen Rezipienten nötig, die Bezugsfelder der Texte zu ihrer Entstehungszeit und ihr ,Hinterland‘, soweit das machbar ist, zu rekonstruieren. In der vorliegenden Studie geschieht das in mehreren Schritten: Zunächst werden die Kerntexte (nach ihrer Situierung in ihrem historischen Umfeld und der Klärung philologischer Fragen zur Interpretationsgrundlage) thematischen Lektüren unterzogen, um die internen Bezugsfelder zu ergründen, d. h., es soll um thematische Netze gehen, die jeweils über den g e s a m t e n Text gespannt sind (s. Kap. 3). Die Lektüren sind nach den Aspekten des Gerichtsverfahrens ( geriht ), der Wahrheit ( wârheit ) und der Rechtsordnung ( reht und ê ) gegliedert, die in allen drei Texten - in je unterschiedlicher Gewichtung - sinntragend sind. Die Kategorien sind relativ weit gefasst, weil zum Beispiel ein Konzept juristischer Wahrheit erst in Relation zu anderen Formen der Wahrheit in den Texten an Kontur gewinnt. Die Wahl mittelhochdeutscher Schlagwörter resultiert aus der Überlegung, dass sich die Analyse der Vorstellungswelt der Texte möglichst von ihren inhärenten Systematisierungen leiten lassen sollte. Obwohl bei den thematisch orientierten Lektüren die Sinnbezüge innerhalb der Textwelt im Mittelpunkt stehen, wird bereits bei diesem Arbeitsschritt punktuell kontextuelles Wissen herangezogen, weil auch ein Erstverständnis der Textwelt auf bestimmten Wiedererkennungseffekten (z. B. Modalitäten eines Gerichtsverfahrens) aufbaut, die für einen modernen Rezipienten nicht automatisch gegeben sind. Die Textanalysen konzentrieren sich auf den Bereich des Rechts, nehmen die ,Standortgebundenheit‘ der Texte also nicht insgesamt in den Blick. Allerdings lassen sich bestimmte Wertstrukturen nicht aussparen. Das betrifft insbesondere die ausgeprägte Judenfeindlichkeit der Texte, da die Erzählung von der Passion Christi mehr oder weniger explizit auf den ,Gottesmörder‘-Vorwurf referiert. 287 Neben expliziten abwertenden Aussagen zeigt sich eine antijüdische Haltung in den Kerntexten darin, dass kollektivierend und häufig diffamierend von ‚den Juden‘ als Gruppe die Rede ist. 288 Auch die Bezeichnung einzelner Figuren verrät 286 Vgl. dazu Lau 1999, S. 31-33 und passim . Zur Aufnahme dieses Gedankens der philosophischen Hermeneutik in der Literaturwissenschaft vgl. zusammenfassend Rusterholz 1996, S. 121-131 (mit einem Schwerpunkt auf den Modellen Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers). 287 Vgl. dazu z. B. Rommel 2002, S. 185 f.; Goetz 2013, Bd. 2, S. 468-470. 288 Die kollektivierende Bezeichnung begegnet schon im Johannesevangelium (zu dessen ambivalentem Judenbild vgl. Rommel 2002, S. 187 f.; Frey 2004) und ist im Nikodemusevangelium aufgenommen. Wenn im Folgenden von Antijudaismus die Rede ist, soll damit nicht impliziert sein, dass der Judenhass allein religiös fundiert sei; im Evangelium Nicodemi spielen mit der Kammerknechtschaft (s. dazu u. S. 169) wirtschaftliche Gründe ausdrücklich eine Rolle. Zur umstrittenen Abgrenzung von Anti- <?page no="52"?> 52 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik zumindest eine abgrenzende Haltung gegenüber Juden, wenn aus christlicher Perspektive bestimmte Figuren als , Juden‘ eingeführt werden, aber ausgeklammert ist, dass Jesus und seine Anhänger selbst Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft waren. 289 Zur besseren Identifizierbarkeit sind im Folgenden in der Beschreibungssprache die Benennungen der Figuren in den Primärtexten beibehalten worden. Bei dem kollektivierenden Ausdruck ,die Juden‘ sollen halbe Anführungszeichen in Kurzform anzeigen, dass die in den Primärtexten so bezeichnete Gruppe gemeint ist, nicht allgemein die ethnisch-religiöse Gruppe der Juden. Wie die Referenzen auf externe Bezugsfelder aus der Entstehungszeit der Texte genau funktionieren, wird im Anschluss an die thematische Analyse der Kerntexte aus produktions- und rezeptionsorientierter Perspektive untersucht, und zwar für den Bereich der kulturellen Aneignung, weil sich bei dezidierten Anpassungen an die Gegenwartskultur solche Bezüge besonders gut fassen lassen (Kap. 4). Die Überlegungen zu den Verfahren, mit denen die Texte auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit referieren, dienen auch als Vorbereitung der Rekonstruktion immaterieller externer Bezugsfelder, die wahrscheinlich für die Produktion und Rezeption der Kerntexte relevant gewesen sein werden. Auf der Grundlage kontextuellen Materials werden für die Aspekte geriht , wârheit sowie reht und ê jeweils vertiefte Interpretationen der Kerntexte erarbeitet, sodass deren Positionierung zu außertextuellen Problemkreisen 290 deutlich hervortritt (Kap. 5). Auf der Grundlage der Ergebnisse wird zu prüfen sein, ob sich die innere Logik der Kerntexte auch durch den Bezug auf die aufgezeigten Diskursfelder speist, sie also nicht nur das Passionsgeschehen erzählen, sondern auch das Verhältnis von , Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ verhandeln und von zeitgenössischen Rezipienten auf damit verbundene Fragen hin gelesen worden sein dürften. Zwar ist wegen der methodologischen Probleme die Rekonstruktion eines konkreten Erwartungshorizonts eines historischen Rezipienten nicht möglich, das Vorgehen ist aber insgesamt rezeptionsästhetischen Ansätzen verhaftet, da angenommen wird, dass die Textwelt auf eine Komplettierung durch den Rezipienten angewiesen ist, und deshalb für die Entstehungszeit der Texte wahrscheinliche Assoziationsräume aufgewiesen werden. 291 Ergänzt wird die in diesem Sinne rezeptionsästhetische Betrachtungsweise durch rezeptijudaismus und Antisemitismus vgl. zusammenfassend Wenzel 1992, S. 22-30. Vgl. auch Goetz 2013, Bd. 2, S. 416, Anm. 19, mit weiterer Literatur. 289 Die Grenzen zwischen der Rückprojektion der bloßen Unterscheidung zwischen Juden und Christen zur Entstehungszeit der Texte und einem ausgrenzenden Wortgebrauch sind fließend. In Diu urstende ist z. B. Enêas , dem eine zentrale Rolle in der Textentstehungsgeschichte zugeschrieben wird, als jude bezeichnet (v. 54, zitiert nach Gärtner / Hoffmann 1989). Ebenso wird der Lahme, der von Jesus geheilt worden ist, als jude eingeführt (v. 529). Hier könnte aber mitschwingen, dass es als eine besondere Leistung angesehen wird, dass er als Jude vor Gericht öffentlich für Jesus eintritt. 290 Der hier verfolgte Ansatz steht damit im Kontext der ,neuen‘ literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, die sich nicht auf die Analyse überzeitlicher elementarer Menschheitsprobleme beschränkt, sondern historisch spezifische Problemkonstellationen in den Blick nimmt (vgl. Spoerhase 2010, S. 120). Sie werden in dieser Untersuchung aus der thematischen Lektüre der Kerntexte abgeleitet (zum Verhältnis von Thematologie und Problemgeschichte vgl. Spoerhase ebd., S. 119). 291 Anders als bei neohermeneutischen Ansätzen (vgl. dazu Köppe / Winko 2013, S. 133-148) steht bei der Textanalyse nicht die Frage nach einer Autorintention im Vordergrund. Doch werden die Texte als kommunikative Äußerungen (mit Inferenzprozessen) interpretiert, was die Unterstellung einer Sprecherintention unvermeidlich macht (vgl. dazu Jannidis 2003, S. 29-34). <?page no="53"?> 1.5 Vorgehensweise und Zielsetzung 53 onsgeschichtliche Untersuchungen: 292 Die Kerntexte stellen eine dokumentierte Rezeption des lateinischen Nikodemusevangeliums und der kanonischen Evangelien 293 dar und sind ihrerseits in späteren Texten rezipiert worden. Der Zugriff auf die Rechtsthematik in den Kerntexten gewinnt daher vor der Folie das lateinischen Ausgangstextes und der Rezeptionszeugnisse Kontur. Deshalb ist den Lektüren der Kerntexte ein Abriss der Rechtsproblematik im lateinischen Nikodemusevangelium vorgeschaltet (Kap. 2), zumal die Forschungsdiskussion paradigmatisch zeigt, welche Aspekte auch bei der Analyse von ,Literatur und Recht‘ in den Kerntexten zu berücksichtigen sind. Dass die in der eigenen Interpretation der Kerntexte herausgehobenen Themenfelder auch von Rezipienten in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum hin als so relevant empfunden wurden, dass sie sich damit auseinandergesetzt haben, soll die Analyse einer diachronen Reihe von Rezeptionszeugnissen demonstrieren (Kap. 6). 294 Außerdem decken die Rezeptionszeugnisse verschiedene Textsorten ab, sodass sich im Vergleich damit (zumindest in einer diachronen Perspektive) auch die Poetologie der Kerntexte besser fassen lässt. Wie bei den Kerntexten werden bei den Rezeptionszeugnissen ebenfalls die genannten thematischen Linien herausgearbeitet, d. h., eine Gesamtinterpretation ist in keinem der Fälle angestrebt, sondern es geht um die Erschließung bestimmter Sinnschichten. Gleichwohl ist das Erkenntnisinteresse der Arbeit auf die Interpretation 295 der Kerntexte gerichtet, 296 und zwar darauf, welche inhaltlichen und poetologischen Implikationen Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit haben. 297 Ziel ist die Bestimmung des Verhältnisses von , Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ in dem eingangs beschriebenen Doppelsinn. Während die inhaltlichen Ergebnisse auf das schmale Corpus von Kerntexten beschränkt bleiben, das allerdings über die Weltchronik Heinrichs von München eine breite Wirkungsgeschichte entfaltet hat, haben die Analysen auch den Charakter von Fallstudien zum 292 Zu den beiden Aspekten rezeptionsorientierter Forschung vgl. Jauß 1992, S. 998; Pfeiffer 2003a, S. 282. S. dazu auch die Einleitungspassage von Kap. 6. 293 Zu weiteren Vorlagentexten s. Kap. 3.2.1, 3.3.1 und 3.4.1. 294 Vgl. Kablitz (1985, S. 49) zu dem leicht anders gelagerten Fall der Analyse zeitgenössischer Rezipientenurteile: „Sie bieten ein Repertoire von Sinnsystemen an, die auf die Texte bezogen werden können, genauer gesagt leisten sie für den Interpreten eine vorläufige Selektion aus der Menge der insgesamt verfügbaren Systemreferenzen. Sie bieten Hinweise dafür, welche Sinnsysteme zeitgenössisch vorrangig als relevant erachtet werden. Sich auf diese Auswahl zu verlassen, hieße u. U. sich einer unnötigen Beschränkung anheimzugeben, da nicht notwendig alle relevanten Sinnsysteme auch erkannt sein müssen, aber diese Selektion stellt doch ein seinerseits interpretierbares Faktum dar.“ 295 ,Interpretation‘ kann nach den Diskussionen der letzten Jahrzehnte keineswegs mehr als selbstverständliche Aufgabe der Literaturwissenschaft gelten (aus der breiten Diskussion sei hier nur auf Brenner 1998 [mit weiterer Literatur] verwiesen, für die germanistische Mediävistik vgl. z. B. Kiening 2003, S. 27 f.; Becker 2012, S. 77-82). Vgl. jedoch jüngst das dezidierte Plädoyer von Kablitz (2013) für die Interpretation. Mit Kablitz (ebd., S. 247-257) wird als Ziel der Interpretation nicht die Rekonstruktion eines hypothetischen Sinnganzen eines Textes begriffen, sondern das Aufspüren von Aspekten seiner ,impliziten Bedeutungsproduktion‘. 296 D.h., die Texte sollen nicht als bloße Dokumente für kulturgeschichtliche Phänomene betrachtet werden (zu einer derartigen Betrachtungsweise, die narrative Aspekte vernachlässigte, vgl. Erll / Roggendorf 2002, S. 79). 297 Die ,Welthaltigkeit‘ der Texte wird bei dem hier verfolgten Ansatz also ausdrücklich nicht marginalisiert („Es gehört zu den Meisterplänen literaturwissenschaftlicher Analyse, diese ,Welthaltigkeit‘ zu marginalisieren und zu beweisen, daß der literarische Text letztlich nur auf sich selbst und auf andere literarische Texte verweise und metapoetisch seine eigenen Verfahren ausstelle.“, Müller 2004, S. 298, Anm. 33). Die hier praktizierte Konzentration auf den Aspekt der ,Welthaltigkeit‘ geht umgekehrt allerdings auf Kosten der Berücksichtigung der ästhetischen Dimension der Texte. <?page no="54"?> 54 1 Perspektiven auf reht in der Bibelepik Weltbezug von Bibelepik und könnten in diesem Sinn als Ausgangspunkt für allgemeinere Überlegungen zur Poetologie bibelepischer Texte dienen (Kap. 7). <?page no="55"?> 2.1 Charakteristika des Werks 55 2 Das lateinische Nikodemusevangelium: Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext 2.1 Charakteristika des Werks Das heute in der Regel als Nikodemusevangelium oder Evangelium Nicodemi 1 bezeichnete Werk ist in so vielen Fassungen überliefert, dass der Titel als ein Sammelbegriff zu gelten hat. 2 Konkurrierende Titel (wie etwa Acta Pilati ), die sich oft nur auf einen Teil des Werks beziehen, verweisen darauf, dass es aus unterschiedlichen Teilen zusammengewachsen ist. 3 Die komplizierte Textgeschichte ist für die Interpretation der deutschen Versdichtungen, die lateinische Fassungen des Nikodemusevangeliums als Vorlage benutzen, insofern von Bedeutung, als trotz der narrativen Verknüpfung der Teile 4 und eines einheitlich ,dramatischen‘ Charakters, 5 Erzählblöcke mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen erkennbar geblieben sind, mit denen die Verfasser der deutschen Texte umzugehen hatten. Daher sei das Nikodemusevangelium hier in seiner Entstehungsgeschichte skizziert und in seinen einzelnen Teilen kurz charakterisiert. Als Grundlage für die Textarbeit dient - auch im Hinblick auf ihre Relevanz für die deutschen Texte - die im Mittelalter am weitesten verbreitete Rezension Lateinisch A. 6 Der einheitlichen Forschungsmeinung folgend lässt sich das Nikodemusevangelium genetisch in zwei Teile gliedern: einen Abschnitt über Jesu Passion, seine Auferstehung und Himmelfahrt sowie die Geschichte Josephs von Arimathia ( Gesta Pilati , cap. I- XVI ) und den Bericht von Christi Höllenfahrt ( Descensus Christi ad Inferos , cap. XVII - XXVII ). 7 Nach 1 In dieser Studie wird durchgehend die deutsche Titelform verwendet, um Verwechslungen mit dem Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler zu vermeiden. 2 Dementsprechend groß sind die editorischen Herausforderungen. Die Ausgabe von Tischendorfs (1876 [1853], S. 210-332 [griech.]; 333-434 [lat.]), die als Referenzausgabe noch nicht abgelöst ist (auch für Teilübersetzungen ins Deutsche, vgl. Scheidweiler 1999; Schärtl 2011, S. 323-340; 2012), entspricht nicht mehr den derzeitigen editorischen Standards (vgl. z. B. Röder 2010), vor allem nicht für die lateinische Version der Gesta Pilati , da von Tischendorf hier aus verschiedenen lateinischen Handschriften eine Fassung ,rekonstruierte‘, die eine möglichst große Nähe zum Griechischen aufweist (vgl. Izydorczyk 1989, S. 173-176). Für eine Übersicht über die Editionslage vgl. Geerard 1992, S. 43-46; dazu Gounelle / Izydorczyk 1997b, S. 429-432; 2000, S. 260 f.; Schärtl 2011, S. 13 f.; 2012, S. 231 f. 3 Vgl. Izydorczyk 1997b, S. 1-3; Röder 2010. 4 Vgl. dazu Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 73-75. 5 Vgl. Izydorczyk 1997b, S. 6; zum Passionsteil vgl. auch Furrer 2000, S. 318; 2010, S. 72; zum Descensus - Teil vgl. auch Tamburr 2007, S. 106-110. 6 Sie ist zwischen dem 5. und dem 9. Jahrhundert entstanden (vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 99). Zur Verbreitung vgl. Izydorczyk 1997b, S. 4. Er bietet dort auch eine Inhaltsangabe dieser Fassung (S. 4-6). Für eine allgemeine Übersicht über den Inhalt des Nikodemusevangeliums vgl. Röder 2010. Für die Edition eines A-Textes vgl. Kim 1973. Kims Text, der die Zählung von Tischendorfs beibehalten hat, ist (mit leichten Modifikationen) von Gounelle / Izydorczyk (1997a) ins Französische übersetzt und mit einer neuen Zählung versehen worden. Vgl. dazu ebd., S. 219-221, die Konkordanz zur Zählung von Tischendorfs (1876 [1853]). Auch Daguet-Gagey (2005) hat die neue Zählung übernommen. - Der Text wird hier nach der Ausgabe von Kim zitiert; an den Stellen, an denen die neue Zählung von Gounelle / Izydorczyk abweicht, wird diese mit der Sigle G / I hinzugefügt. 7 Die Benennung der beiden Teile folgt Izydorczyk 1997b, S. 2. Zur Zweiteilung vgl. von Tischendorf 1876 (1853), S. LIV-LXVIII. <?page no="56"?> 56 2 Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext den Erkenntnissen von Gounelle / Izydorczyk sind für die beiden Teile unterschiedliche Entstehungszeiten anzunehmen: Der erste sei (möglicherweise auf älteren Traditionen aufbauend) innerhalb der ersten drei Viertel des 4. Jahrhunderts auf Griechisch, der zweite, so wie er in der Version A erscheine, nach der Mitte des 4. Jahrhunderts, vielleicht im 6. Jahrhundert, verfasst worden, und zwar zunächst auf Lateinisch. 8 Es gibt allerdings gute Gründe 9 für die Hypothese, dass auch die Geschichte Josephs von Arimathia im Rahmen einer Redaktion des Textes der Prozesshandlung erst nachträglich hinzugefügt worden ist. 10 Monika Schärtl nimmt an, dass die ältere Textschicht der Gesta Pilati in den sechziger Jahren des 4. Jahrhunderts entstanden und vor allem an ein heidnisches (aber auch ein christliches) Publikum adressiert sei, während die jüngere Schicht, die zeitlich nicht vor dem Ende des 4. Jahrhunderts anzusetzen sei, sich an ein jüdisches Publikum wende. 11 Unumstritten ist, dass im Text nach der Grablegung Jesu ein thematischer Einschnitt erfolgt. 12 Der erste Teil des ersten Abschnitts des Nikodemusevangeliums (cap. I-XI [11,3,1 (G / I)]) 13 ist durch die Prozesshandlung strukturiert. Nicht umsonst wird in einem ,Vorwort‘, das einigen Rezensionen vorangestellt ist, 14 behauptet, dass der folgende Text unter der Herrschaft des Kaisers Theodosius am Gerichtsort, dem Prätorium des Pontius Pilatus, unter den staatlichen Akten gefunden worden sei, also als offizielle Dokumentation des Prozesses 8 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 101-119. Röder (2010) hält es auf der Grundlage der vorhandenen Überlieferung nicht für definitiv zu klären, ob die beiden Textteile tatsächlich unterschiedlichen Traditionen angehören. - Gounelle / Izydorczyk (ebd., S. 110) werten unter anderem die Anrufung der Sonne durch Pilatus als Datierungskriterium für den Abschnitt über den Prozess. Nach Daguet-Gagey (2005, S. 31) hingegen ist dieses Detail nicht für die Datierung belastbar, da es auf literarische Traditionen (Vergil) zurückgehen könnte. Aufgrund terminologischer Untersuchungen kommt sie jedoch zu einer ähnlichen Datierung wie Gounelle / Izydorczyk, indem sie den Abschnitt über den Prozess nicht vor dem Ende des 3., wahrscheinlicher im ersten oder zweiten Drittel des 4. Jahrhunderts ansetzt. Dafür sprächen auch der Stellenwert, den die Magie-Anklagen und der Proselytismus einnähmen (vgl. Daguet-Gagey ebd., S. 33). 9 Zum wechselnden Gebrauch des Terminus Ἰουδαῖοι in der Prozesshandlung und in der Geschichte von Joseph von Arimathia vgl. Lowe 1981, S. 86-89. 10 So zuletzt Schärtl 2011, S. 167-175 (mit einem Überblick über die ältere Forschung): „Es ist daher zu vermuten, dass die ursprünglichen Pilatusakten aus den Kapiteln I-XI ohne Vers IV,2 und Kapitel V aber mit den Versen XIII,1 und 3 bestanden, während der Bericht über die wundersame Befreiung des Joseph und die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu mit Kapitel XII begann und vermutlich ausschließlich der Verse XIII,1 und 3 mit der Doxologie in Kapitel XVI endete.“ (ebd., S. 170; Schärtl bezieht sich auf die Zählung von Tischendorfs 1876 [1853]). 11 Vgl. Schärtl 2011, S. 19-28; 171-175. Für die jüngere Textschicht erwägt Schärtl (2012, S. 328) sogar einen Zusammenhang mit der Auffindung des Grabes des Nikodemus um 415. Schärtl geht allerdings bei ihren Überlegungen nicht auf die Thesen zur Datierung von Gounelle / Izydorczyk (1997a) ein; auch eine Auseinandersetzung mit der von ihr (2011, S. 171) referierten früheren Datierung durch Daguet-Gagey (s. o. Anm. 8) erfolgt nicht. Kritisch zu den Datierungshypothesen Schärtls äußert sich Brendel (2011), der den Datierungsvorschlag von Gounelle / Izydorczyk (1997a) ebenfalls nicht diskutiert, obwohl er sich in seinen Ausführungen zum Asklepioskult auf die von Gounelle / Izydorczyk (ebd., S. 110) als Datierungskriterium herangezogene Anrufung der Sonne durch Pilatus bezieht. 12 Vgl. auch die Gliederung bei Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 49 f.: „le procès et la mort de Jésus (ch. 1 à 11), les aventures de Joseph d’Arimathée (ch. 12 à 16), et la descente du Christ dans le monde infernal (ch. 17 à 27)“. Gounelle / Izydorczyk bieten im Anschluss (ebd., S. 50-86) eine Analyse der Erzählstruktur, die für die folgenden Überlegungen herangezogen wurde. 13 Vgl. von Dobschütz 1902, S. 90. 14 Es ist in einigen Handschriften der Rezension Griechisch A überliefert, außerdem im Wiener Palimpsest (Wien, ÖNB, Cod. 563) und in der Rezension Lateinisch B (vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 86-98). <?page no="57"?> 2.1 Charakteristika des Werks 57 zu gelten habe. 15 Handlungsträger in diesem Teil sind vor allem Pilatus und ,die Juden‘. Während Pilatus in positivem Licht erscheint, ist das Bild ,der Juden‘ ambivalent: Ihre Anführer werden sehr negativ gekennzeichnet; auch fordert die Volksmenge, nicht Jesus, sondern Barrabas freizulassen. Andererseits weint ein Teil der jüdischen Menge angesichts der von den Anklägern vorgebrachten Forderung, dass Jesus gekreuzigt werden solle; außerdem treten Juden als Zeugen auf, die sich für Jesus verwenden. In diesen Zeugenaussagen gewinnt das Wirken Jesu Kontur; seine göttliche Macht wird darüber hinaus durch das einleitend (cap. I 5 f.) geschilderte Wunder der sich vor ihm verneigenden ,Zeichen‘ des Pilatus deutlich gemacht. Ob mit diesen Zeichen die in der Spätantike als Feldzeichen üblichen reich dekorierten Lanzen oder auch Standarten, die jeweils das Porträt des Kaisers tragen konnten, gemeint sind, ist nicht erkennbar. Jedenfalls erweisen die römischen Hoheitszeichen in dieser als Standartenepisode oder Fahnenwunder bezeichneten Szene der göttlichen Macht Jesu ihre Reverenz. Der aktive Anteil Jesu an der Prozesshandlung ist hingegen (wie in den kanonischen Evangelien) gering. 16 Die auf die Prozesshandlung folgenden Kapitel (cap. XII [11,3,2 (G / I)]- XVI ) können als eine sich steigernde Reihe von Bezeugungen dafür verstanden werden, was nach dem Tod Jesu geschehen ist. 17 Die anfänglichen Versuche ,der Juden‘, das ,Verschwinden‘ Jesu aus dem Grab zu vertuschen, münden in aktive Bemühungen um Wahrheitsfindung durch Zeugenbefragung. Ihren eigenen Prinzipien folgend müssen die Hohepriester schließlich das Faktum der Auferstehung anerkennen. Mit Joseph von Arimathia, der wegen seines Einsatzes für Jesus von ,den Juden‘ gefangen gesetzt, aber von Jesus befreit wird und das bezeugt, ist die Vorbildfigur eines gläubigen Judenchristen gegeben. 18 15 Der Bezug auf das im Prätorium befindliche Archiv könnte aus der Bemerkung in cap. XXVII 5 heraus entwickelt worden sein, wonach Pilatus selbst eine Dokumentation über das, was von den Juden in Bezug auf Jesus getan und gesagt worden war, angefertigt und im Archiv deponiert hat. Im ,Prolog‘ wird dagegen Nikodemus als Quelle angegeben, der nach der Passion Jesu das, was die Juden getan hätten, auf Hebräisch aufgezeichnet habe. Die verschiedenen Legitimierungsansätze sind in anderen Versionen des Prologs (etwa Rezension Griechisch A) durch ausführlichere Angaben untermauert: Ein christlicher Leibgardist zur Zeit des Theodosius, der sich als Ananias vorstellt (vgl. dazu Schärtl 2011, S. 35-37), schreibt, dass er nach Prozessakten gesucht habe, die die Juden angelegt hätten, und diesen Text gefunden und ins Griechische übersetzt habe. Danach folgt eine Datierung der Ereignisse und der auch in der Rezension Lateinisch A gegebene Hinweis auf Nikodemus als Verfasser des hebräischen Texts. Schärtl (2011, S. 167), die allerdings den Text so versteht, dass Nikodemus nur als Quelle für die Ereignisse nach der Passion benannt werde, bezieht die verschiedenen Quellenangaben (in der Rezension Griechisch A) auf die verschiedenen Textteile und liest ,Vorwort‘ und ,Prolog‘ als von einem Redaktor hergestellte Einheit (vgl. ebd., S. 29-35). In der Textgeschichte scheinen die beiden Legitimationsstrategien miteinander konkurriert zu haben: Die Rezensionen Griechisch B und Lateinisch B enthalten jedenfalls nur das ,Vorwort‘ (mit der Berufung auf Ananias bzw. Ainea; vgl. dazu Izydorczyk1997c, S. 51; Schärtl ebd., S. 35, Anm. 123). - Die Unterscheidung zwischen ,Vorwort‘ („Préface“) und ,Prolog‘ („Prologue“) stammt von Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 220. Traditionellerweise werden beide Textabschnitte als Prologteile aufgefasst. 16 Zur Figurenzeichnung vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 50-54; Daguet-Gagey 2005, S. 14 (sie untersucht für cap. I-XI die Rezensionen Griechisch A und Lateinisch A vergleichend); Schärtl 2011, S. 318 (hier und im Folgenden auf der Grundlage der Rezension Griechisch A). 17 „La deuxième partie du récit se présente comme une accumulation progressive de témoignages sur ce qui s’est passé après la mort du Christ.“ (Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 66). 18 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 66-68; Furrer 2010, S. 74-76. Schärtl (2011, S. 319) betont Parallelen des ,jüdischen Katechumenen‘ Joseph zum ,heidnischen Katechumenen‘ Pilatus. <?page no="58"?> 58 2 Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext Über die Joseph-Figur erfolgt eine Verknüpfung mit dem Descensus -Teil des Werks (cap. XVII - XXVII ), 19 der zugleich als krönender Abschluss der Zeugenaussagen fungiert: Es ist Joseph, der den Hohepriestern von Leucius und Karinus berichtet, die Jesus auferweckt habe. Sie werden herbeigeholt und geben unabhängig voneinander einen identischen schriftlichen Bericht von der Höllenfahrt Jesu. Die darin geschilderten Geschehnisse haben einen klaren Fokus auf das Transzendente; 20 auf der diskursiven Ebene gibt es jedoch Bezüge zur vorangehenden innerweltlichen Handlung, indem zum Beispiel Propheten als ‚Zeugen‘ für die Messianität Jesu auftreten. Das Königtum Jesu, das Gegenstand des Prozesses gewesen war, wird performativ vorgeführt, indem er als ‚König der Ehren‘ die Höllenpforte sprengt. Der Descensus -Teil endet damit, dass ,die Juden‘ dem Zeugnis des Leucius und Karinus nichts entgegensetzen können und verstört auseinandergehen; Joseph und Nikodemus erstatten Pilatus über die Geschehnisse Bericht; dieser lässt alles aufzeichnen und im Prätorium deponieren. Mit dem erneuten Eintreten der Pilatus-Figur in die Handlung ist zugleich eine inhaltliche Klammer zum ersten Teil des Textes hergestellt, während die römische Obrigkeit (abgesehen von der Grabwachen-Episode im zweiten Teil) sonst in den Hintergrund gerückt war. Dass der von Rémi Gounelle und Zbigniew Izydorczyk (1997a) übersetzte Text der Rezension Lateinisch A abschließend (cap. XXVIII ) 21 einen Brief des Pilatus an den Kaiser Claudius enthält, ist symptomatisch dafür, dass sich in der Überlieferung oft Texte des sogenannten ,Pilatus‘-Zyklus anschließen. 22 Neben der Epistola Pilati ad Claudium war eine häufige Ergänzung die Cura sanitatis Tiberii , in der davon berichtet wird, wie der erkrankte römische Kaiser Tiberius Boten nach dem Wunderheiler Jesus ausschickt und schließlich durch seine Verehrung des Bildes der Veronika geheilt wird. Pilatus wird als Verantwortlicher für den Tod Jesu in diesem Text negativ gezeichnet und erfährt eine weltliche Bestrafung. Trotz der Divergenzen zu den Gesta Pilati findet sich die Cura mit dem Nikodemusevangelium nicht nur im Verbund überliefert, sondern die beiden Texte erscheinen in den Handschriften teilweise als zu einem verschmolzen 23 - ein weiterer Beleg für den oben angesprochenen offenen Charakter des Werks. Die große Varianz in der Überlieferung ist typisch für apokryphe Schriften. 24 Unter ihnen kommt dem Nikodemusevangelium eine besondere Autorität zu. 25 Nicht nur aus heutiger Perspektive erscheint der Text eher als Interpretation der kanonischen Evangelien denn als konkurrierender Text; 26 es gibt auch aus dem 13. Jahrhundert Belege dafür, dass 19 Zu dieser und weiteren Verbindungen zwischen den Textteilen vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 74 f. 20 Zum theologischen Gehalt des Descensus -Abschnittes vgl. Gounelle 2007. 21 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 209-213. Dort ist dem Brief keine Kapitelnummer zugeordnet. Zur Frage der Kapitelnummerierung vgl. ebd., S. 209, Anm. 217. 22 Vgl. dazu Izydorczyk 1997b, S. 6-9; zu den ,Appendizes‘ des Nikodemusevangeliums vgl. ausführlicher dens. 1997c, S. 55-68. 23 Vgl. dazu Izydorczyk 1997c, S. 59. 24 Vgl. Masser / Siller 1987, S. 18. 25 Im Dekret des Gelasianus ist keiner der bekannten Titel für das Nikodemusevangelium oder für Teile davon genannt (vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 28). Für das Spätmittelalter lässt sich aus der Überlieferung erschließen, dass das Nikodemusevangelium beinahe den Status eines kanonischen Evangeliums erreicht hat (vgl. ebd., S. 29). 26 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 18-20. Furrer (2000), die die intertextuellen Bezüge des ersten Teils des Nikodemusevangeliums untersucht, klassifiziert die kanonischen Evangelien als Hypotext <?page no="59"?> 2.2 Zur Forschungslage 59 der Text zur Exegese benutzt wurde. 27 Außerdem deuten Kürzungen in der Mehrheit der Handschriften der Rezension Lateinisch B darauf hin, dass das Nikodemusevangelium als Ergänzung der kanonischen Evangelien verstanden werden konnte: Ein Teil der Verhandlung vor Pilatus (cap. II 3- IV 5) ist dort durch den Satz ersetzt Quid multa? iam omnia nota sunt uobis a sancto euuangelio. 28 („Wozu noch Weiteres? Alles ist euch bereits bekannt aus dem heiligen Evangelium.“). Mit auschlaggebend für die Wertschätzung des Textes dürfte die im ,Prolog‘ vorgenommene Verbindung mit der Person des Nikodemus gewesen sein, die der Erzählung Authentizität verlieh. Ab dem 13. Jahrhundert wurde der Text sogar als ,Evangelium‘ bezeichnet, auch wenn diese Klassifikation die Textsorte nicht genau trifft. 29 Der ,Kanonisierung‘ des apokryphen Textes steht seine narrative Fortentwicklung gegenüber. Für die reiche literarische Rezeption, vor allem des Descensus -Teils, 30 dürfte nicht zuletzt die effektive dramatische Gestaltung von Bedeutung gewesen sein. In der Rezeption ist also die Doppelnatur des Nikodemusevangeliums aufgenommen worden: der heilsgeschichtliche Wahrheitsanspruch und die Orientierung am kanonischen Vorlagentext auf der einen Seite und die Eigenständigkeit der Narration auf der anderen. Insofern auch Rechtsmotive narrativ verarbeitet sind, scheint es gerechtfertigt, den Text unter der Perspektive von , L i t e r a t u r und Recht‘ zu betrachten, 31 auch wenn die diffizile Frage, inwieweit das Nikodemusevangelium als literarischer Text gelten kann, an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden kann. 32 2.2 Zur Forschungslage Der im ,Vorwort‘ des Nikodemusevangeliums erhobene Anspruch, dass der nachfolgende Text aus dem Aktenbestand im Archiv des Pilatus stamme, fordert eine rechtshistorische Betrachtungsweise des Textes geradezu heraus. In der Tat hat Ernst von Dobschütz 1902 die These aufgestellt, dass sich der Abschnitt über den Prozess nur dadurch angemessen verstehen ließe, dass man „ihn fasse als Ve r s u c h , d e n P r o c e s s J e s u a l s i n a l l e n F o r m e n d e s r ö m i s c h e n S t r a f p r o c e s s e s , w i e e r d e m Ve r f a s s e r g e l ä u f i g w a r , v e r l a u f e n d a r z u s t e l l e n .“ 33 Unter dieser Prämisse analysierte von Dobschütz die Prozesshandlung und kam zu dem Ergebnis, dass die Anlehnung an Prozessakten eine Fiktion sei, dass es sich aber durchaus um ein specimen iuridicum handele: Es sei von einem vermutlich juristisch gebildeten Verfasser versucht worden, den Prozess als (vgl. ebd., S. 312 f.). Für eine Aufschlüsselung der Verarbeitung der einzelnen kanonischen Evangelien vgl. Furrer 2010. 27 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 35 f. 28 Zur Stelle vgl. Izydorczyk 1997c, S. 51; Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 95 f. 29 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 21-27. Zur Definition von ,Evangelium‘ vgl. auch Kelhoffer 2010. 30 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 41-44; Henkel 2006; Tamburr 2007, S. 102-147. Ein Überblick über die einzelnen nationalen Rezeptionsstränge findet sich bei Izydorczyk 1997a. 31 Entscheidendes Kriterium ist hier, dass es sich beim Nikodemusevangelium nicht um einen rechtspragmatischen Text handelt. Ein grundsätzlicher Konnex zwischen Narrativität und Literariziät soll damit nicht postuliert werden. 32 Wiederum käme es darauf an, welchen Literaturbegriff man zugrunde legt (s. dazu o. S. 23 f.). Verwiesen sei nur darauf, dass auch biblischen Texten ein literarischer Charakter zuerkannt werden kann (vgl. dazu einführend Jack 2012; vgl. auch Mauz 2009, S. 214-216 [mit weiterer Literatur]). 33 Von Dobschütz 1902, S. 91 (Sperrungen im Original). <?page no="60"?> 60 2 Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext Akkusationsverfahren darzustellen, wie es im 4. Jahrhundert üblich gewesen sei. 34 Dem hat Theodor Mommsen, auf dessen rechtshistorische Arbeiten sich von Dobschütz bei seinen Ausführungen maßgeblich stützt, noch in demselben Jahr heftig widersprochen: „Die Pilatusakten […] rühren […] her von einem Verfasser, der vom römischen Recht gar nichts verstand und dessen juristische Unwissenheit vor allem da hervortritt, wo er Rechtsausdrücke wie praetorium , praeco , velum in den Mund nimmt, während er überdies an Albernheit seines Gleichen sucht.“ 35 Die (sich auf die Rezension Griechisch A konzentrierende) Kontroverse zwischen Mommsen und von Dobschütz, auf die bereits Erich Klibansky (1925) einleitend zu seiner Analyse der Prozesshandlung in mittelhochdeutschen Versdichtungen über die Passion verwies, 36 verdient immer noch Aufmerksamkeit, weil sie zusammen mit der darauf aufbauenden Forschung grundlegende methodologische Fragen offenlegt. 37 Klibanskys Kritik, dass das Nikodemusevangelium unreflektiert als rechtshistorische Quelle genutzt worden sei, 38 trifft dabei nicht den Kern der Sache, denn von Dobschütz fragt nach dem „Motiv“ für die Abfassung der Schrift 39 und interpretiert den Abschnitt über den Prozess als einen Versuch der kulturellen Aneignung, die das Geschehen einem zeitgenössischen Publikum näherbringen sollte. 40 Dass von Dobschütz ein übergeordnetes Erzählziel annimmt, mag der Grund dafür sein, dass er bei Abweichungen vom Prozessrecht des 4. Jahrhunderts zumindest erwägt, dass sie sinnstiftend gewesen sein bzw. auf die Gegebenheiten der Vorlage zurückgehen könnten. 41 Mommsen, der wesentlich mehr Irregularitäten des Prozessablaufs konstatiert als von Dobschütz, schließt daraus dagegen auf die Inkompetenz des Verfassers in Rechtsdingen. Dabei gesteht Mommsen dem Verfasser durchaus zu, dass er die (mögliche) Form des Akkusationsverfahrens habe wählen wollen, „weil es dem Verfasser sicher als Blasphemie erschienen wäre, den Heiland im Bagatellprocess verurteilen zu lassen“. 42 Selbst innerhalb von Mommsens Beitrag wird so erkennbar, wie stark die Interpretation rechtlicher Motive 34 Vgl. von Dobschütz 1902, S. 110-113. 35 Mommsen 1902, S. 205. Dabei war sich Mommsen (vgl. ebd., S. 199; 205) bewusst, dass auch die Kapitel I-XI des Nikodemusevangeliums mehrfach redigiert wurden. Selbst wenn bei ihm von ,dem Verfasser‘ dieses Textabschnitts die Rede ist, steht die personale Chiffre für die Grundkonzeption des Textes und nicht für einen konkreten Autor. 36 Vgl. auch Klibansky 1925, S. 8. 37 Dass von Dobschütz aus der Perspektive der „Theologie“ und Mommsen aus der der „Rechtswissenschaft“ spreche (so Schärtl 2011, S. 13), ist eine zu sehr vereinfachende Betrachtungsweise. 38 Vgl. Klibansky 1925, S. 8: „Es darf eben nie der methodische Gesichtspunkt vergessen werden, daß literarische Denkmale im allgemeinen weder Gesetzbücher noch Urkunden im juristischen Sinne vorstellen, vielmehr erst nach kritischer Prüfung aller ihrer Entstehungsbedingungen der historischen Erkenntnis dienen können.“ 39 Von Dobschütz 1902, S. 89. 40 Von Dobschütz 1902, S. 113: „Sie [sc. die Schrift] lässt sich einreihen jenen Versuchen, das Evangelium durch Einkleidung in nationale Formen dem Verständnis näher zu bringen. Man denke nur an den altsächsischen Heliand.“ 41 Er diskutiert die Möglichkeit, dass die Tatsache, dass das Urteil nicht regelgemäß verlesen wird, auf dessen Unrechtmäßigkeit hindeuten könnte, warnt aber zugleich vor der Gefahr der Überinterpretation (vgl. von Dobschütz 1902, S. 105). Die alternative Erklärung, dass der Verfasser des Nikodemusevangeliums die Kreuzinschrift als schriftliche Formulierung angesehen habe (vgl. ebd.), impliziert, dass neben der Realitätsreferenz auch eine Orientierung an der Vorlage bei der Interpretation in Betracht zu ziehen ist. 42 Mommsen 1902, S. 200. <?page no="61"?> 2.2 Zur Forschungslage 61 von den Prämissen abhängig ist, die der Interpret über die Kohärenz des Textes und den Gestaltungswillen seines Verfassers aufgestellt hat. Das lässt sich auch am Kapitel Chaim Cohns (1997 [1977]) über das Nikodemusevangelium zeigen. Er wendet sich mit Bezug auf die Kontroverse zwischen von Dobschütz und Mommsen dagegen, dass das Erkenntnisinteresse in erster Linie auf den Kompetenzen des Verfassers liegen sollte. 43 Grundlage für Cohns eigene Interpretation ist die Annahme, dass der Verfasser einige Unstimmigkeiten der kanonischen Evangelien habe ,wegerklären‘ und das Geschehen mit seinem Wissen über die römische Gesetzgebung und das römische Verfahrensrecht habe in Einklang bringen wollen. 44 Um die narrative Bearbeitung durch den Verfasser als sinnstiftend zu erweisen, muss Cohn dann jedoch mit den beim Verfasser und dessen zeitgenössischen Rezipienten vorhandenen oder nicht vorhandenen Kenntnissen über das römische und das jüdische Recht argumentieren. 45 Dass von Dobschütz und Mommsen zu abweichenden Ergebnissen kommen, was die Korrespondenzen zwischen dem im Nikodemusevangelium geschilderten Prozess und einem ,korrekten‘ Akkusationsverfahren angeht, ist nur zu einem geringen Grad darauf zurückzuführen, dass sie das Nikodemusevangelium unterschiedlich datieren. 46 Ihre divergierenden Annahmen über die Entstehungszeit des Textes verweisen aber auf ein zusätzliches Problem der Forschung zum Komplex ,Literatur und Recht‘, insbesondere bei vormodernen Texten: Kann überhaupt davon ausgegangen werden, dass sich Referenzen auf das Rechtswesen auf die Verhältnisse zur Entstehungszeit des Textes beziehen? Das scheint beispielsweise Anne Daguet-Gagey (2005) vorauszusetzen, wenn sie aus den rechtlichen ,Realien‘ im Nikodemusevangelium eine Datierung des Textes ableitet. Ihre These stützt sich allerdings nicht auf die ,Realien‘ allein, sondern vor allem auf die verwendeten termini technici . 47 Die Datierung über termini post quem für bestimmte Ausdrücke ist überzeugend; die Frage, wie sich aktualisierende Bezeichnungen zur dargestellten Sache verhalten, stellt Daguet-Gagey jedoch nicht. Dabei zeigen sich ihren Erkenntnissen zufolge sowohl bei der Lokalisierung des ,Tribunals‘ als auch bei der Episode mit den sich verneigenden ‚Zeichen‘ Wissenslücken des Verfassers über römische Gepflogenheiten. 48 Daraus wäre aber doch dann zu schließen, dass der Verfasser eben nicht die zu seiner Zeit gegenwärtige Rechtspraxis darstellt, vielmehr das, was für ihn und die Rezipienten als ,römisch‘ plausibel ist. Dass durch den Versuch der Darstellung eines ‚römischen‘ Kontexts ein hybrides Bild eines 43 Vgl. Cohn 1997 (1977), S. 342-365 (mit Anm. auf S. 469), bes. S. 343: „Uns interessieren nicht so sehr die juristischen oder anderweitigen Qualifikationen des Autors, sondern seine Bemühungen, der Geschichte über die Haltung des Pilatus gegenüber Jesus einen Sinn zu verleihen.“ 44 Vgl. Cohn 1997 (1977). 45 Vgl. z. B. Cohn 1997 (1977), S. 347. 46 Vgl. Mommsen 1902, S. 198 f.; 205. 47 Vgl. Daguet-Gagey 2005, bes. S. 33. Sie zitiert die Beiträge von Mommsen (vgl. ebd., S. 19, Anm. 23) und von Dobschütz (vgl. ebd., S. 25, Anm. 48), setzt sich jedoch weder mit deren Ansätzen noch den einzelnen Argumenten auseinander. So charakterisiert sie - ohne Bezug auf Sekundärliteratur - das geschilderte Verfahren als cognitio (vgl. ebd., S. 14). Zu den divergierenden Thesen zur Form des Prozesses vgl. auch Schärtl 2011, S. 194 f. 48 Vgl. Daguet-Gagey 2005, S. 19; 23-29. Vgl. zu beiden Aspekten den gegenwärtigen Forschungsstand bei Schärtl 2011, S. 200-202; 204 f. - Zum Ort der Gerichtsverhandlung s. auch u. S. 63. <?page no="62"?> 62 2 Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext Rechtswesens entsteht, wäre beim Untersuchungsziel Daguet-Gageys, versteckte Realien im Prozessteil des Nikodemusevangeliums aufzuspüren, 49 zu bedenken. Wie Daguet-Gagey will auch Schärtl (2011) die Gesta Pilati als historische Quelle auswerten. Ihr geht es jedoch nicht um die Realien, sondern um kulturelle und gesellschaftliche Strömungen, aus denen die Motivation für die Abfassung des Textes erwachsen sein könnte. 50 Um ihrem Ziel näherzukommen, analysiert Schärtl die Erzählstrategien, zieht daraus Schlüsse über mögliche Adressatengruppen und arbeitet dem Text inhärente Einstellungen zu Heidentum, Christentum und Judentum heraus. Ihre Analyse der rechtshistorischen Bezüge steht im Einzelnen dem Vorgehen bei von Dobschütz und Mommsen sehr nahe, verfolgt aber dezidiert das Ziel, die Funktion der Prozessgestaltung zu bestimmen. 51 Das betrifft sowohl die Darstellung der Prozessparteien als auch die Tatsache, dass der Prozess überhaupt formal durchgestaltet wurde. 52 Aspekte wie die Vorlagengebundenheit, die etwa bei von Dobschütz nur andeutungsweise zur Sprache kamen, werden von Schärtl explizit formuliert: „Für den Verfasser liegt die weitestreichende Beschränkung darin, dass seine Darstellung dem beim Leser bekannten Prozessverfahren mehr oder weniger folgen muss und dies unter der Bedingung, dass die ebenfalls bekannten ,Fakten‘ aus den kanonischen Evangelien enthalten sein müssen. Ein dritter wesentlicher Punkt, der die Darstellung dabei nachhaltig beeinflusst, ist die vom Verfasser vorgesehene Aussage, also seine Intention.“ 53 Historisch ,inkorrekte‘ Details führt Schärtl dementsprechend auf die Intention des Verfassers zurück, wenn sie auch Unkenntnis seinerseits keineswegs ausschließen will. 54 Zwar wäre aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu fragen, ob die von Schärtl skizzierten Rahmenbedingungen des Erzählens tatsächlich notwendige Reaktionen herausgefordert haben und inwieweit sicher auf eine Intention des Verfassers zu schließen ist, dennoch ist ihre Berücksichtigung der verschiedensten Aspekte weiterführend. Unbeachtet lässt Schärtl dagegen mögliche Motivtraditionen 55 oder die Orientierung an vorgeprägten Erzählmustern. 56 Grundsätzlichere Aspekte der ,Historizität‘ des im Nikodemusevangelium dargestellten Geschehens sind bisher nicht erörtert worden. Ansatzpunkte dafür könnte neben dem Komplex ,Literatur und Recht‘ die theologische Forschung zu den kanonischen Evangelien 49 Vgl. Daguet-Gagey 2005, S. 10: „Nous nous proposons de traiter, dans le cadre de cette étude, des réalités qui se cachent dans les Acta Pilati et qui concernent principalement les structures administratives et juridiques de la Judée, au temps des débuts de christianisme.“ 50 Vgl. Schärtl 2011, S. 11. 51 Das berücksichtigt Brendel (2011) bei seiner Kritik, die Ergebnisse im Kommentarteil der Arbeit (Schärtl 2011, S. 65-157) gingen kaum über den bisherigen Forschungsstand heraus, nicht. Brendels Kritik ist allerdings insofern berechtigt, als etwa Mommsens Forschungsleistung, anders z. B. als bei Omerzu (2002, S. 3 f.), nicht historisch verortet wird. 52 Vgl. zu diesem Aspekt Schärtl 2011, S. 16: „Durch die Ausführlichkeit ihrer Darstellung vermitteln die Pilatusakten den Eindruck eines korrekt geführten Prozesses, auch wenn das Urteil wie in den kanonischen Evangelien letztlich unbegründet bleibt. Die starke Ausprägung der formalen Abläufe des Prozesses ist ein Indiz für die dem Text innewohnende Verhältnisbestimmung und Legitimation von römischem Reich und Christentum, dem es nachzugehen gilt.“ 53 Schärtl 2011, S. 189. 54 Vgl. Schärtl 2011, S. 241. 55 Vgl. Daguet-Gagey (2005, S. 33 f.), die unter anderem die Episode mit den sich verneigenden ‚Zeichen‘ mit der Tradition der prodigia in Verbindung bringt. 56 Ehlen (2004, S. 180-288) will für die Rezension Griechisch B des Nikodemusevangeliums strukturelle Parallelen zur antiken Literatur, insbesondere dem antiken Roman, herausarbeiten, die Ausführungen zur Prozesshandlung (S. 229-234) sind jedoch bewusst knapp gehalten (S. 229). <?page no="63"?> 2.3 Ausgestaltung der Prozesshandlung 63 bieten. Ausgehend von Jörg Freys (2009) Differenzierung zwischen ,Historizität‘ und ,Geschichtsbezug‘ 57 lässt sich festhalten, dass bei der Prozessdarstellung im Nikodemusevangelium vor allem ein Geschichtsbezug zu konstatieren ist (ohne dass - wie bei Frey impliziert - dieser Bezug einen heilsgeschichtlichen Charakter hat). Um zu ergründen, wie der Eindruck eines plausiblen Prozessgeschehens erzeugt wird und welche Implikationen die einzelnen Elemente haben, ist jedoch historisch-kritische Forschung nötig. Als Ergebnis der bisherigen Forschung zum Nikodemusevangelium hat sich - gleichsam paradigmatisch für das Verhältnis von ,Literatur und Recht‘ in Texten, die etwas Vergangenes schildern - als grundlegende Frage ergeben, ob die aktualisierenden Züge primär dazu dienen, das vergangene Geschehen plausibel zu machen, oder ob eine Transposition des Geschehens in die Entstehungszeit des Textes vorgenommen ist, bei der der Gegenwartsbezug konstitutiv für bestimmte Sinndimensionen ist. 2.3 Ausgestaltung der Prozesshandlung Hier ist nicht der Ort, um die Bezüge der Prozesshandlung im Nikodemusevangelium zum Rechtswesen der Entstehungszeit im Einzelnen zu diskutieren. 58 Im Hinblick auf die Fortsetzung der ,Apokryphisierung‘ in den deutschen Versdichtungen soll aber festgehalten werden, welche rechtlichen Aspekte bei der Apokryphisierung der kanonischen Evangelien im Nikodemusevangelium herausgearbeitet wurden. Ausgangspunkt für die Darstellung des Prozesses gegen Jesus im Nikodemusevangelium war das äußerst diffuse Bild, das die kanonischen Evangelien in ihrer Gesamtheit bieten: In welchem Verhältnis die Verhandlungen vor dem Sanhedrin und vor Pilatus stehen, 59 bleibt dort ebenso unklar wie die genauen Anklagepunkte 60 und die Art des Prozessendes (mit formellem Urteil oder nicht? ). 61 Im Nikodemusevangelium liegt die gerichtliche Zuständigkeit klar bei Pilatus (cap. I 1 f.), der als selbsturteilender Richter die Verhandlung führt. 62 Auch wenn im ersten Teil des Nikodemusevangeliums keine Verhandlung vor dem Sanhedrin geschildert wird, ist das jüdische Recht präsent, und zwar auf der diskursiven Ebene, weil Pilatus das Verfahren mehrfach an die jüdische Gerichtsbarkeit überweisen will (cap. III 1; IV 4) und sich ,die Juden‘ auf ihr Gesetz berufen (cap. II 5; III 1; IV 3; VII [6,3 (G / I)]). Rechtsordnungen werden auch thematisiert, wenn sich Pilatus auf die Sitte bezieht, dass ,den Juden‘ am Passahfest immer ein Gefangener freigegeben werde, und diese Sitte als consuetudo bezeichnet (cap. IX 1 [7,1 (G / I)], Zitat Z. 6). Die von Pilatus geleitete Verhandlung erfährt eine genaue Lokalisierung: In Anlehnung an das Johannesevangelium (18,28-19,15) spielt sich die Pilatus-Handlung im Prätorium und davor ab, wobei im Nikodemusevangelium das Tribunal im Prätorium angesiedelt ist. 63 57 S. dazu o. S. 11. 58 Vgl. dafür den Überblick bei Schärtl 2011, bes. S. 65-157; 180-206. Zum Ort der Gerichtsverhandlung vgl. auch Färber 2014, S. 295-297; 303 f. 59 Vgl. Bammel 1984, S. 415-419. 60 Vgl. Burnside 2011, S. 431. 61 Rosen (1990, S. 56) verneint das, während nach Knothe (2005, S. 96) Indizien dafür sprechen. 62 Vgl. Lampe 1984, S. 176 f. Darüber hinaus hält Pilatus auch eine Scheltrede an ,die Juden‘ (cap. IX 2 [7,2 (G / I)]). Vgl. dazu auch Schärtl 2011, S. 180. 63 Vgl. Schärtl 2011, S. 200-202. Zur Lokalisierung des Tribunals bzw. Bemas in der Spätantike vgl. auch Dinkler 1967 (1944), S. 122; Omerzu 2002, S. 245 f. Nach dem Matthäusevangelium (27,27) und dem <?page no="64"?> 64 2 Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext Trotzdem ist die Verhandlungsführung dort öffentlich. 64 Für alle Phasen der Verhandlung wird in der Erzählung sorgfältig differenziert, ob sie in der Öffentlichkeit stattfindet oder nicht. 65 Die ,Menge‘ spielt schon in den kanonischen Evangelien eine wichtige Rolle, insofern eine Tendenz besteht, ,den Juden‘ Schuld zuzuweisen. 66 Im Nikodemusevangelium ist die rechtsrelevante Rolle der Menge um einen weiteren Aspekt erweitert, da erzählt wird, dass Pilatus das Weinen eines Teils der Menge bei seinen Entscheidungen berücksichtigt (cap. IV 5). Mit der Öffentlichkeit der Verhandlung ist das Gebiet des Verfahrensrechts berührt. Auch in seinem zeitlichen Ablauf ist der Prozess als geregeltes Verfahren erkennbar, das auf der Figurenebene als solches thematisiert wird, wenn ,die Juden‘ die Art der Vorladung Jesu durch Pilatus kritisieren (cap. I 2) oder das Zeugnisrecht bestimmter Personengruppen (Proselyten, Frauen) anzweifeln (cap. II 4; VII [6,3 (G / I)]). Dass die Intention des Pilatus, vom Richterstuhl aufzustehen (cap. II 1; IX 3 [8,1 (G / I)]), oder sein Verlassen des Prätoriums (cap. III 1; IV 1) immer auch implizieren, dass das Verfahren dadurch abgebrochen werden könnte, verdeutlicht weiterhin dessen formellen Charakter. Der Ablauf des Verfahrens ist - nach der Klageerhebung durch eine Gruppe von ,Juden‘ (cap. I 1) - zunächst durch die respektvolle Vorladung Jesu durch Pilatus geprägt, die in der Erzählung mit dem Wunder der sich verneigenden ‚Zeichen‘ verbunden wird (cap. I 2-6). Dass mit der Ausgestaltung der Vorladung, die einen noch in Freiheit befindlichen Angeklagten impliziert, deutlich von den kanonischen Evangelien abgewichen wurde, 67 zeigt, welch hoher Stellenwert dem prozessualen Verfahren zukommt. Bei der Vorladung sind mit der Art der Durchführung zugleich bestimmte inhaltliche Implikationen verbunden. Allerdings ist die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Prozesses dann auch wieder anderen Erzählzielen untergeordnet, wenn sich etwa Pilatus mit den für Jesus eintretenden Zeugen berät (cap. II 6; IX 1 [7,1 (G / I)]) und so die schlechten Absichten der Jesus feindlich gesonnenen ,Juden‘ diskutiert werden. 68 Im Verlauf des Prozesses wird - nach der Darstellung im Text - von Anklägern eine Reihe von Anklagepunkten vorgebracht, die jeweils durch Aussagen anderer widerlegt werden. Markusevangelium (15,16) befand sich das Bema wohl außerhalb des Prätoriums, im Johannesevangelium (19,13) ist das eindeutig der Fall (vgl. Dinkler 1967 [1944], S. 125). 64 Jedenfalls fordert Pilatus die Volksmenge auf hinauszugehen, als er allein mit den zwölf Juden sprechen will, die für Jesus eintreten: Iubens ergo Pilatus omnem populum exire foras absque XII uiris qui dixerunt quoniam non est natus ex fornicatione, et Iesum iussit segregari semotim et dixit eis Pilatus: […] (cap. II 6, Z. 1-4; „Pilatus befahl also, das ganze Volk solle nach draußen gehen, ausgenommen die zwölf Männer, die gesagt haben, dass er nicht aus Hurerei geboren sei, und befahl, dass Jesus separat entfernt werde, und Pilatus sagte zu ihnen: […]“). 65 Allerdings gibt es in cap. IV 3 eine Inkohärenz, weil ,die Juden‘ darauf reagieren, was Jesus im Prätorium zu Pilatus gesagt hat, als sie beide alleine sind. Vgl. dazu Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 141, Anm. 47. Auch die Lokalität des Geschehens ist ab dieser Stelle unklar. Dass Pilatus die gesamte jüdische Menge zusammenrufen lässt (cap. IX 1 [7,1 (G / I)]), spricht dagegen, dass sich die Handlung im Prätorium abspielt. Nach cap. VIII 1 muss das aber der Fall sein. 66 Vgl. Rosen 1990, S. 48 f. Dazu, dass die judenfeindlichen Elemente in den jüngeren Evangelien zunehmen, vgl. auch Knothe 2005, S. 91. 67 Wenn erzählt wird, dass Pilatus am Ende des Prozesses zu Jesus gesagt habe, er solle dort gekreuzigt werden, wo er gefangen genommen worden sei (cap. IX 5 [9 (G / I)]), wird allerdings die in den kanonischen Evangelien geschilderte Gefangennahme vorausgesetzt. Zu diesem Bruch im Nikodemusevangelium vgl. (in Bezug auf die Rezension Griechisch A) Lampe 1984, S. 177. 68 Schärtl (2011, S. 185) hält es aus rechtshistorischer Sicht für unmöglich, dass Zeugen zugleich als consilium fungieren, und führt dieses Motiv auf die theologische Konzeption des Textes zurück. <?page no="65"?> 2.3 Ausgestaltung der Prozesshandlung 65 Auch wenn es sich dabei inhaltlich um Reden zur Anklage und zur Verteidigung handelt, wäre es nicht ganz zutreffend, von Parteienreden zu sprechen, denn die Verteidigung Jesu ist jeweils Zeugen in den Mund gelegt. Sie berichten teilweise von eigenen Erfahrungen (cap. VI - VIII [6 (G / I)]). Dass die Ankläger mit der vita anteacta 69 argumentieren (cap. II 3), ruft aber auch ein ,Charakterzeugnis‘ der Jesus wohlgesonnenen , Juden‘ hervor, die als laudatores auftreten (cap. II 4). 70 Pilatus will sich den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen durch einen Eid bestätigen lassen, den sie aber wegen der Vorschriften in ihrer Religion verweigern (cap. II 5). Durch die Eidforderung wird jedoch der Augenzeugenschaft noch eine Facette der Wahrheitsfindung hinzugefügt. Auch performativ werden Methoden der Wahrheitsfindung vorgeführt, wenn Pilatus die römischen Träger der ‚Zeichen‘ durch jüdische austauschen lässt, nachdem sich die signa das erste Mal vor Jesus verneigt haben, um beim zweiten Mal sicherzustellen, dass sich wirklich die signa verneigen und nicht deren Träger (cap. I 5 f.). Bei der Wahrheitsfindung scheint es sich also um einen Aspekt zu handeln, der mit der Rechtshandlung verbunden, aber nicht darauf beschränkt ist. Auch auf der diskursiven Ebene des Textes ist die Wahrheitsthematik im Nikodemusevangelium gegenüber den kanonischen Evangelien weiterentwickelt, indem der Frage des Pilatus, was Wahrheit sei (Io 18,38), eine Antwort Jesu hinzugefügt ist, dass sie nämlich vom Himmel käme. Auf die erneute Nachfrage des Pilatus, ob es denn auf Erden keine Wahrheit gebe, sagt Jesus: ‘Intende ueritatem dicentis in terra, quomodo iudicantur ab his qui habent potestatem in terris.’ (cap. III 2, Z. 17 f.; „ ,Sieh dir an, wie diejenigen, die auf Erden die Wahrheit sagen, von denen gerichtet werden, die auf Erden die Macht haben.‘ “). Durch diese Antwort Jesu wird ein Bezug zwischen der grundsätzlichen Frage nach Wahrheit, ihrer göttlichen Herkunft und der Unangemessenheit der irdischen Rechtspraxis hergestellt. Die verfahrensrechtlichen Elemente im Nikodemusevangelium sind auf diese Weise eingebunden in Reflexionen über konkurrierende Rechtsordnungen und die Rechtspraxis auf Erden überhaupt. Auf der Ebene übergreifender Rechtsfragen sind thematische Vernetzungen mit Textteilen zu beobachten, die an die Prozesshandlung anschließen. Wie es Personen ergeht, die die Wahrheit sagen, wird im Abschnitt über Joseph von Arimathia (cap. XII - XVI ) thematisiert, wobei sich hier zunächst der pessimistische Blick Jesu auf den Umgang mit der Wahrheit auf Erden zu bestätigen scheint, bevor sich die Wahrheit dann doch durchsetzt, und zwar aufgrund eines von jüdischen Autoritäten durchgeführten formalisierten Verfahrens der Wahrheitsfindung. Dass sich die Hohepriester dabei Methoden wie der getrennten Befragung von Zeugen (cap. XVI 3 [16,3,1 (G / I)]) bedienen, spiegelt in gewisser Weise das Prozessgeschehen in den Gesta Pilati . 71 Auch die Erzählung von der Höllenfahrt ist Teil einer Zeugenaussage (vgl. cap. XVII 3; XXVII 3). Innerhalb dieses Berichts der Augenzeugen Leucius und Karinus wird wiederum - wie im Prozess - die Rechtmäßigkeit der Verurteilung Jesu diskutiert, diesmal zwischen ,der Hölle‘ (dem Höllenvolk) und Satan (cap. XXIII 1). 72 Wenn man den Blick vom Prozessrecht im engeren Sinne auf den gesamten Themenkomplex ,Recht‘ erweitert - und das erscheint gerade angesichts der Verknüpfung der Ebenen in der Aussage Jesu zur Wahrheit auf Erden gerecht- 69 Zu der auch literarisch produktiven rhetorischen Tradition der Diskussion der vita anteacta in Gerichtsprozessen vgl. Ehlen 2004, S. 232. 70 Vgl. dazu von Dobschütz 1902, S. 97; Schärtl 2011, S. 185. 71 Vgl. dazu Schärtl 2011, S. 319. 72 Vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 75. <?page no="66"?> 66 2 Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext fertigt -, dann wird deutlich, dass Rechtsfragen, eingebettet in den Erzählkontext, das gesamte Nikodemusevangelium durchziehen, wenn sie auch in den einzelnen Textteilen in unterschiedlicher Intensität behandelt werden. <?page no="67"?> 3.1 Das Nikodemusevangelium aus der Sicht des ,deutschen‘ Rechts: Anknüpfungspunkte und Irritationsmomente6 7 3 Variationen der Rechtsthematik in Diu urstende, Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi 3.1 Das Nikodemusevangelium aus der Sicht des ,deutschen‘ Rechts: Anknüpfungspunkte und Irritationsmomente Die konkretisierende Ausgestaltung der Prozesshandlung im spätantiken Nikodemusevangelium 1 bedeutete für Bearbeiter des Textes im Hochmittelalter, dass sie sich in Bezug auf das Rechtswesen mit mehr Sachfragen und ihrer eigenen Vorstellungswelt womöglich ,fremden‘ Elementen auseinanderzusetzen hatten, als dies bei den Berichten in den kanonischen Evangelien der Fall war. Auf mögliche Anknüpfungspunkte oder Irritationsmomente deuten heute allerdings allein die Modifikationen in den ,Wiedererzählungen‘ des Nikodemusevangeliums hin, wobei die jeweilige Motivation der Autoren dafür nicht zu ermitteln ist, sodass produktionsästhetische Rückschlüsse hypothetisch bleiben müssen. 2 Bei den drei deutschen Versdichtungen, die (für die Darstellung des Prozessgeschehens) überwiegend auf dem Nikodemusevangelium beruhen, wird sich zeigen lassen, dass sie an ähnlichen Punkten gegenüber dem Nikodemusevangelium Übereinstimmungen bzw. Veränderungen aufweisen. Da Christi Hort in Kenntnis von Diu urstende verfasst wurde und produktionsseitige intertextuelle Bezüge zwischen Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi zumindest nicht auszuschließen sind, 3 kann man nicht alle Gemeinsamkeiten auf eine Auseinandersetzung mit dem Prätext zurückzuführen. Trotzdem sei der Analyse der Einzeltexte eine von der mittelalterlichen Rechtswelt der Verfasser ausgehende Betrachtung des Nikodemusevangeliums vorangestellt, weil so vorweg der rechtshistorische Rahmen grob umrissen werden kann, innerhalb dessen die einzelnen Texte entstanden sein dürften. 4 Angesichts der Koexistenz verschiedener Rechts- und Prozessordnungen im 13. Jahrhundert wären für die Rezeption der Prozesshandlung im Nikodemusevangelium unterschiedliche zeitgenössische Referenzrahmen denkbar. Für Pilatus als weltliche Autorität erscheint für den deutschen Raum im 13. Jahrhundert die Folie eines Prozesses nach ,deutschem‘ Recht, bei dem das Urteil von einem Urteilergremium gefunden wird, plausibler als die 1 Der Ausbau der Prozesshandlung gegenüber den kanonischen Evangelien bedeutet nicht, dass ein ,vollständiges‘ Verfahren geschildert würde, sondern es wird - im Rahmen der Darstellung der Heilsgeschichte - über einzelne ausgestaltete Motive die Vorstellung einer Gerichtsverhandlung verstärkt. 2 Systematisch wäre bei Aktualisierungen von Rechtsmotiven denkbar, dass sich die Verfasser selbst die Geschehnisse durch Umsetzungen in die eigene Kultur aneignen oder dass sie den Rezipienten den Zugang erleichtern wollten. Möglich erscheint auch, dass über das mit bestimmten Aktualisierungen verbundene Assoziationspotenzial das Geschehen neu perspektiviert werden sollte. Unter Ausklammerung der Frage der Intentionalität werden solche Assoziationspotenziale in Kap. 5 ausgelotet. 3 S. u. S. 99; 110; 141. 4 Dem Überblickscharakter des Kapitels gemäß wird im Folgenden vor allem auf Artikel aus dem Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte zurückgegriffen (zum Nichtvorhandensein eines einheitlichen ,deutschen‘ Rechts s. o. S. 45). Partiell wird auch der Sachsenspiegel als ältestes deutsches Rechtsbuch herangezogen; eine besondere Relevanz für die Kerntexte soll damit nicht postuliert werden. <?page no="68"?> 68 3 Variationen der Rechtsthematik eines Prozesses nach gelehrtem Recht mit selbsturteilendem Richter. 5 Zwar wären Assoziationsräume nicht an institutionelle Grenzen wie die zwischen weltlicher oder geistlicher Gerichtsbarkeit gebunden, es gibt aber auch in der Handlung des Nikodemusevangeliums Elemente, die Ähnlichkeiten zu einem Verfahren nach ,deutschem‘ Recht aufweisen . 6 Zu nennen ist insbesondere die aktive Beteiligung der Menge, die bereits in den kanonischen Evangelien angelegt ist. Während heutige Historiker in der Einbeziehung der Menge in den Evangelien eine tendenziöse Abweichung vom Verfahren nach römischem Recht sehen, 7 dürfte die Beteiligung einer solchen Menge vor dem Hintergrund des ,deutschen‘ Rechts im 13. Jahrhundert unproblematisch erschienen sein, denn sie kann mit dem ,Umstand‘ 8 in Beziehung gesetzt werden. Die angesichts der geforderten Freilassung des Barrabas an die Menge gerichtete Frage des Pilatus (cap. IX 1 [7,1 (G / I)]), was ,wir‘ mit Jesus anfangen sollten, lässt sich dann als Urteilsfrage lesen. 9 Als Irritationsmoment erscheint - von den Abläufen nach ,deutschem‘ Recht aus gedacht - dann aber, dass die Rolle des Richters im weiteren Verlauf nicht in der formellen Verkündung des Urteils ausgestaltet ist (vgl. cap. IX 5 [9 (G / I)]): Einerseits geht Pilatus mit der Anordnung, dass Jesus (vor der Kreuzigung) gegeißelt werden solle, über das von ,den Juden‘ Geforderte hinaus und wird so als selbsturteilender Richter erkennbar. Andererseits scheint das Urteil nicht formell öffentlich verkündet zu werden, sondern es wird nur gesagt, dass Jesus die Geißelung mitgeteilt wird und Pilatus die Kreuzigung anordnet. 10 Andere Aufgaben, die Pilatus wahrnimmt, dürften aber mit den Zuständigkeiten eines Richters in einem Verfahren nach ,deutschem‘ Recht im Einklang gestanden haben, so beispielsweise, dass er den Prozessbeteiligten das Wort erteilt und die Verhandlung öffnet und schließt . 11 Die Parallelen liegen auf einer sehr allgemeinen Ebene, da die für ein Verfahren nach ,deutschem‘ Recht charakteristische (aus Rechts- und vor allem Rechtsgangbüchern bekannte) sprachliche Formelhaftigkeit des Verfahrens 12 im Nikodemusevangelium selbstverständlich nicht zu finden ist. Allerdings fehlen entsprechende Formeln - wegen des grundsätzlich selektiven Charakters narrativer Texte - auch in Prozesserzählungen, die sich eindeutig auf ein Verfahren nach ,deutschem‘ Recht beziehen, 13 sodass trotz des Reduktionismus der 5 Zur jeweiligen Richterrolle s. u. Kap. 5.1. Der weltliche Charakter des Prozesses vor Pilatus wird im 15. Jahrhundert auch in den York Trial Plays unterstrichen: Die Verhandlung vor Pilatus hat darin deutliche Anklänge an das zeitgenössische lokale weltliche Recht, während die Verhandlung vor den Hohepriestern Anspielungen auf das zeitgenössische kanonische Recht aufweist. 6 Tatsächlich wurden in den zu untersuchenden bibelepischen Texten einzelne Elemente des Prozesses nach Maßgabe des ,deutschen‘ Rechts umgestaltet (s. u. Kap. 3.2-3.4). 7 S. o. S. 63 f. 8 Vgl. dazu Weitzel 1998. Im 13. Jahrhundert war „die Einführung eines ständigen Ersturteilerkreises im Schöffentum“ (Sp. 441) zwar schon teilweise erfolgt, hatte sich aber noch nicht allgemein durchgesetzt (vgl. Sp. 442). 9 Vgl. dazu Landwehr 1979. 10 Zur entsprechenden Passage in der Rezension Griechisch A vgl. Schärtl 2011, S. 115-121; 200-202. Die dort geschilderten Abläufe weichen von denen in der Rezension Lateinisch A ab; gemeinsam ist beiden Rezensionen jedoch, dass nicht von einer offiziellen Urteilsverkündung die Rede ist. 11 Zu den Aufgaben eines Richters vgl. von Planck 1879, S. 88; Drüppel 1981, S. 270-316. 12 Gemeint sind ritualisierte Fragen, wie sie etwa bei der Hegung des Gerichts gestellt wurden (vgl. Schmidt 2006, S. 233-239), nicht eine übertriebene Formstrenge, deren Existenz in letzter Zeit in der rechtshistorischen Forschung in Zweifel gezogen worden ist (vgl. Oestmann 2008a; Meyer 2009, bes. S. 1-9; 263-271). 13 Vgl. z. B. die von Klibansky (1925) untersuchten Beispiele. <?page no="69"?> 3.1 Das Nikodemusevangelium aus der Sicht des ,deutschen‘ Rechts 69 Prozessschilderung im Nikodemusevangelium ein Prozess nach ,deutschem‘ Recht als Bezugsrahmen aufgerufen worden sein könnte. Dass die Gerichtsverhandlung im Nikodemusevangelium überhaupt ein öffentliches Ereignis ist, lässt sich ohne Weiteres mit den Gepflogenheiten des ,deutschen‘ Rechts in Übereinstimmung bringen. 14 Problematisch dürfte dagegen die dem Nikodemusevangelium zu entnehmende Information erschienen sein, dass Pilatus in einem Gebäude zu Gericht sitzt (vgl. z. B. cap. III 1 f.), 15 denn bis in die Frühe Neuzeit hatten die Verhandlungen unter freiem Himmel oder wenigstens in Lauben als geöffneten Räumen stattzufinden . 16 Übereinstimmungen zwischen dem Nikodemusevangelium und einem Verfahren nach ,deutschem‘ Recht gibt es wiederum, was das rituelle Sitzen bzw. Aufstehen des Richters betrifft, das im Nikodemusevangelium mehrfach herausgehoben thematisiert ist (vgl. z. B. cap. IX 5 [9 (G / I)]; II ,1). 17 Der Vorwurf ,der Juden‘, dass Pilatus Jesus nicht von seinem Läufer, sondern durch einen Herold hätte vorladen lassen sollen (vgl. cap. I 2), ist ebenfalls vor dem Hintergrund des deutschen Rechtswesens verständlich, nach dessen Regeln Vorladungen durch einen Fronboten oder Büttel vorgenommen werden. 18 Auch dass die Art der Vorladung bzw. die Tatsache, ob jemand gefangen vor Gericht gebracht wird oder nicht, rechtlich relevant ist, stellt einen Punkt dar, der auf das ,deutsche‘ Recht bezogen eine Sinndimension entfaltet. 19 Mit der sich aus der Vorladung ergebenden Chance des Angeklagten, sich von Vorwürfen zu befreien, war allerdings auch seine Verpflichtung verbunden, dem Richter zu antworten. 20 Dass Jesus als Angeklagter im Nikodemusevangelium (cap. II 2) zunächst nicht auf die Vorwürfe reagiert und auf Nachfrage des Richters (in einem juristischen Sinne) ausweichend antwortet, ist auch im Rahmen des ,deutschen‘ Rechts erklärungsbedürftig. 21 Noch bevor im Nikodemusevangelium Zeugen auftreten, kommt es im Kontext der Vorladungsszene zu einer Befragung des Läufers, die den Charakter einer Beweisaufnahme hat (cap. I 3 f.): Aufgrund einer Beschwerde ‚der Juden‘ fordert Pilatus von ihm Auskunft über die Huldigungen, die er Jesus entgegengebracht habe. Als sich der Läufer auf das Verhalten ,der Juden‘ beim Einzug Jesu in Jerusalem als Grund beruft, greifen ‚die Juden‘ ein und wollen von ihm wissen, wie es sein könne, dass er verstanden habe, was auf Hebräisch gerufen worden sei, und er erklärt, er habe es sich übersetzen lassen. Dass genau aufgeschlüsselt wird, woher der Läufer sein Wissen hat, entspricht Prinzipien der (dem Richter obliegenden) Beweisaufnahme, wie sie im Spätmittelalter im gelehrten Recht formuliert 14 Vgl. (in Bezug auf Stadtrechte) Drüppel 1981, S. 38 f. Dem Öffentlichkeitsprinzip des ,deutschen‘ Rechts zuwiderlaufend ist es hingegen, dass sich Pilatus nach dem Nikodemusevangelium zeitweise allein mit Jesus (cap. III 2) oder den ihm wohlgesonnenen Juden (cap. II 6) bespricht (vgl. dazu Klibansky 1925, S. 20 f.). 15 S. dazu o. S. 63. 16 Vgl. Lück 2008d; 2012a. 17 Zur Bedeutung des richterlichen Sitzens im Mittelalter vgl. Schott 2006. 18 Vgl. Deutsch 2008; Lück 2008e. 19 S. dazu u. S. 196-198. 20 Vgl. z. B. Sachsenspiegel , Ldr. III 39,3. Danach gilt als schuldig, wer dreimal auf einen Anklagepunkt nicht ,antwortet‘. Eine Anwesenheits- und Antwortspflicht bestand auch nach dem gelehrten Recht (vgl. Evans 2002, S. 116). 21 Zum Schweigen Jesu in den kanonischen Evangelien als contumacia nach römischem Recht vgl. insbesondere Rosen (1990, S. 55-58), der darin sogar den Hinrichtungsgrund sieht. Vgl. aber auch Bammel (1984, S. 422), der dem Schweigen keine rechtliche Bedeutung beimisst. <?page no="70"?> 70 3 Variationen der Rechtsthematik worden sind. 22 Zwar sind Wahrnehmungszeugen auch im ,deutschen‘ Recht (gerade in den Stadtrechten) nicht ganz unbekannt, jedoch dürfte vor allem zu Beginn des 13. Jahrhunderts das Konzept der sogenannten Eideshelfer dominant gewesen sein: Sie bestätigen bei der Eidesleistung die Glaubwürdigkeit des Schwörenden . 23 In dieser Funktion ähneln sie den im Nikodemusevangelium auftretenden laudatores (cap. II 4), obwohl die Konstellation dort anders gelagert ist, da sie den guten Leumund des Angeklagten bezeugen, der an diesem Punkt der Handlung selbst keine Aussage macht. Außerdem sollen die laudatores selbst einen Eid leisten (cap. II 5). Eide waren ein so zentraler Bestandteil des ,deutschen‘ Gerichtsverfahrens, dass diese Forderung einem Rezipienten im 13. Jahrhundert selbstverständlich vorgekommen sein dürfte. Irritierend kann dagegen die von Pilatus vorgegebene Eidesformel (cap. II 5) gewirkt haben, die vom spätantiken Kaiserkult geprägt ist. 24 Dass die zwölf Juden unter Berufung auf ihr Gesetz einen Eid generell verweigern, könnte wiederum Anknüpfungspunkte geboten haben: Auch das ‚deutsche‘ Recht kannte Sonderregelungen für Juden, allerdings wurde die Eidproblematik meist durch einen Judeneid gelöst. 25 Divergenzen zwischen dem jüdischen und dem römischen Recht werden im Nikodemusevangelium in der Verhandlung vor Pilatus mehrfach thematisiert, insbesondere weil ‚die Juden‘ nach eigener Aussage die gewünschte Verurteilung Jesu und die Kreuzigung nicht selbst vollziehen dürfen (cap. III 1). 26 Während die Existenz eines jüdischen Sonderrechts (als ,jüdisches Recht‘ oder als , Judenrecht‘) für einen mittelalterlichen Rezipienten strukturell plausibel gewesen sein dürfte, könnte es überraschend gewirkt haben, dass die Zeugnisunfähigkeit von Frauen im Text als speziell jüdisches Recht eingeführt wird (cap. VII [6.3 (G / I)]). 27 Denn im Mittelalter wurde Frauen generell keine oder nur eine sehr eingeschränkte Zeugnisfähigkeit zugestanden. 28 Insgesamt erweisen sich die rechtlichen Elemente in der Prozessschilderung des Nikodemusevangeliums nicht als so detailliert, dass sie nur einer bestimmten, unter Umständen nicht mit dem ,deutschen‘ Recht kommensurablen Rechtsordnung eindeutig zuzurechnen wären. Neben einigen wenigen ,fremden‘ Elementen (wie der Verortung des Richterstuhls in einem Innenraum) dürfte es sogar Anknüpfungspunkte gegeben haben, die es ermög- 22 S. dazu u. S. 238. 23 Zu Wahrnehmungszeugen und Eideshelfern s. u. S. 236-240. 24 Für die Eidaufforderung an die jüdischen Männer ist nach Lampe (1984, S. 178), der sich auf die Rezension Griechisch A bezieht, eine zeittypische Eidesformel verwendet worden, die für Christen akzeptabel gewesen wäre. Das trifft ebenso auf die Eidesformel in Nikodemusevangelium Lateinisch A ( per salutem Caesaris , cap. II 5, Z. 2) zu (vgl. Tertullian, Apologeticum 32,2 in der Ausgabe Beckers 1961). Doch dürfte nicht jedem mittelalterlichen Rezipienten diese Differenzierung bewusst gewesen sein. 25 Zum Eid im jüdischen Recht vgl. Cohn 1928. Zu den Judeneiden vgl. Magin 1999, S. 275-332; Wolf 2003 (jeweils mit weiterer Literatur). 26 Pilatus bezieht diese Aussage der Juden nicht auf deren rechtliche Stellung, sondern auf religiöse Vorschriften, wenn er fragt, ob das göttliche Tötungsverbot für ihn nicht gelte (cap. III 1). 27 Zu entsprechenden jüdischen Auslegungstraditionen des Alten Testaments vgl. den Kommentar von Gounelle / Izydorzcyk 1997a, S. 146 f., Anm. 67. 28 S. dazu u. S. 239; 246, Anm. 237. Nach antikem und spätantikem römischen Recht dagegen konnten Frauen vermutlich durchaus als Zeuginnen befragt werden, wie für die Kaiserzeit u. a. aus der Regelung in den Ehegesetzen des Augustus ( Lex Iulia de adulteriis coercendis ) zu erschließen ist, wonach einer Ehebrecherin ausdrücklich das Zeugnisrecht vor Gericht abgesprochen wird (vgl. Mette-Dittmann 1991, S. 39). Daraus ist zu schließen, dass an dieser Stelle im Nikodemusevangelium gezeigt werden soll, dass ,die Juden‘ das Zeugnis der Frau um jeden Preis verhindern wollen. <?page no="71"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 71 lichten, für die Darstellung in den drei Bibelepen das Geschehen auch vor der Folie des ,deutschen‘ Rechts mit Sinn zu erfüllen. 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 3.2.1. Entstehungsumfeld und Textgrundlage Die literarische Tätigkeit Konrads von Heimesfurt, dessen Beiname auf den heutigen Ort Heinsfarth (bei Oettingen) verweist, 29 lässt sich relativ sicher in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datieren: Aus Anlehnungen an Werke Hartmanns (auch den Iwein ) ist ein terminus post quem zu erschließen, aus der Erwähnung im Autorenkatalog des Alexander Rudolfs von Ems ein terminus ante quem . 30 Innerhalb dieses Zeitraums spricht die stilistische Nähe zu Konrad von Fußesbrunnen dafür, dass das Wirken Konrads von Heimesfurt 31 eher zum Jahrhundertanfang hin anzusiedeln ist; 32 allerdings ist die allgemein angenommene Abfolge, dass er von seinen beiden überlieferten Werken (mit namentlicher Kennzeichnung) 33 zunächst Unser vrouwen hinvart und dann Diu urstende abgefasst habe, nicht zu sichern. 34 Dazu, dass der Autor am Anfang des 13. Jahrhunderts tätig gewesen sein 29 Zum Verfasser vgl. Fechter 1985a; Gärtner / Hoffmann 1989, S. I-XVI; Hoffmann 2000, S. 1-12; Foidl 2011. Die Werke Konrads von Heimesfurt werden nach der Ausgabe von Gärtner / Hoffmann 1989 zitiert (in der Studienausgabe [Gärtner / Hoffmann 1991] von Diu urstende sind die Inhalte aus Gärtner / Hoffmann 1989 übernommen). 30 von Heimesvurt her Kuonrât / von Gote wol getihtet hât, / den darf riuwen niht sîn werc (vv. 3189-3191, zitiert nach Junk 1928). Vgl. dazu Gärtner / Hoffmann 1989, S. XIV f.; Hoffmann 2000, S. 8-11, die den Alexander nach 1230 ansetzen. Für die Werke Rudolfs von Ems lässt sich ingesamt nur eine relative Chronologie ermitteln; der erste Teil des Alexander , aus dem die zitierten Verse stammen, ist dem wohl ab 1220 entstandenen Frühwerk zuzuordnen (vgl. Walliczek 1992, Sp. 322-326; 332-334); er ist aber wohl später überarbeitet worden (vgl. Lienert 2001, S. 50). Mit Schröder (1930, S. 232) ist anzunehmen, dass sich die vv. 3189 f. unspezifisch auf Konrads geistliche Dichtungen beziehen. Dass es sich in v. 3191 um eine Anspielung auf den Prolog von Diu urstende handelt (so Fechter 1985a, Sp. 201; Hoffmann 2000, S. 3), scheint möglich, wenn man annimmt, dass aus der Angst vor besserwisserischer Kritik (vielleicht in Kombination mit den ausgeprägten Bescheidenheitstopoi auch im Akrostichon [vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. IX f.]) auf ein riuwen geschlossen worden ist. Dann wäre es aber eine Aufnahme der Prologmotivik (wie etwa das stiuren [v. 3136] als Parzival -Anspielung in Bezug auf Wolfram) und nicht eine ,Aufmunterung‘ Konrads (so aber Fechter ebd., zustimmend Hoffmann ebd.), die voraussetzen würde, dass Konrad noch lebt. 31 Auch das Fehlen von Wolfram-Referenzen könnte darauf hindeuten (vgl. dazu Gärtner / Hoffmann 1989, S. XV). Allerdings wird man aus der Wolfram-Rezeption bei Reinbot von Durne wohl kaum schließen können, dass Konrad vor ihm gedichtet haben müsse (so aber Gärtner / Hoffmann ebd.). 32 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XV; zustimmend Henkel 1996, S. 12; zum Stil vgl. Gärtner / Hoffmann ebd., S. XIV f.; LXIX-LXXIV; Hoffmann 2000, S. 8-12. 33 Zum Werkumfang vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XII-XIV. Unser vrouwen hinvart enthält eine Namensnennung (vv. 20 f.); in Diu urstende ist der Autorname durch das Akrostichon gesichert (vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. IX f.). 34 Die Chronologie wird daraus abgeleitet, dass sich das Prolog-Ich in Diu urstende darauf bezieht, dass es früher schon unangemessene Eingriffe in sein Werk erfahren und deshalb lange nichts geschrieben habe (vv. 19-43). Ob die Passage neben einem topischen auch einen faktischen Gehalt hat, ist schwer zu sagen (vgl. zur Forschungsdiskussion den Kommentar von Gärtner / Hoffmann 1989, S. 139). Falls die Bemerkungen einen Anhalt in der Sache haben sollten, wären sie nur dann zweifelsfrei auf Unser vrouwen hinvart zu beziehen, wenn man ausschließen könnte, dass Konrad von Heimesfurt noch weitere Werke verfasst hat (vgl. dazu auch Hoffmann 2000, S. 1 f., der eine Entstehung von Unser vrouwen hinvart vor Diu urstende zumindest für wahrscheinlich hält). Die größere Freiheit der Quellenbehand- <?page no="72"?> 72 3 Variationen der Rechtsthematik könnte, passt die vierfache urkundliche Überlieferung eines Konrad von Heimesfurt aus den Jahren 1198 bis 1212, wobei er in den Urkunden Bischof Hartwigs (1196-1223) aus den Jahren 1198 (zweimal) und 1204 als Ministeriale des Eichstätter Bischofs ausgewiesen ist. 35 Die Zuordnung des Autors zu dem urkundlich überlieferten Namen wäre nicht nur für die Datierung von Bedeutung, sondern auch für die Bestimmung seines Bildungsgrads und seines möglichen Publikums im Umkreis des Eichstätter Bischofshofs. Nicht zuletzt ließe sich aus den Urkunden auch eine Kenntnis bestimmter Vorgänge des ,Verwaltungsrechts‘ (Gütertrennung, Schenkung, Belehnung) ableiten. Da im fraglichen Zeitraum keine weitere Person namens Konrad von Heimesfurt überliefert ist, 36 spricht nichts dagegen, dass der in den Urkunden genannte Konrad tatsächlich mit dem Autor identisch ist. 37 Kontrovers ist diskutiert worden, wie sich dann sein Ministerialienstatus zur Selbstbezeichnung als phaffe (v. 20) in Unser vrouwen hinvart 38 verhält. Bekanntlich muss phaffe jedoch nicht einen geistlichen Stand implizieren, sondern kann wie lat. clericus auch jemanden bezeichnen, der (wie ein Geistlicher) gelehrte Kenntnisse hat. 39 Dass es sich bei Konrad von Heimesfurt um einen in der Schriftkultur versierten Autor handelt, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sich das Akrostichon in Diu urstende über das gesamte Werk erstreckt. 40 Lateinkenntnisse Konrads von Heimesfurt lassen sich daraus ableiten, dass er für die zwei überlieferten Werke lateinische Quellen benutzt hat. 41 In beiden Fällen hat er neben apokryphen Vorlagentexten Bibelstellen verarbeitet, die er offenbar vor allem aus der Liturgie kannte. 42 Die Liturgie ist auch in seinen - primär an ein nicht lateinkundiges Publikum gerichteten 43 - Werken präsent, insofern an einigen Stellen aus liturgischen Zusammenhängen besonders bekannte Bibelverse lateinisch zitiert und lung in Diu urstende gegenüber Unser vrouwen hinvart ist wohl eher auf die Art der Vorlage als auf „künstlerischen Fortschritt“ zurückzuführen (vgl. Gärtner / Hoffmann ebd., S. XLVII f.). 35 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XI; Hoffmann 2000, S. 3 f. In der Urkunde von 1212 ist Konrad unter den laici aufgeführt. Diese Bezeichnung hatte jedoch ab 1208 allmählich die der ministeriales ersetzt (vgl. Gärtner / Hoffmann ebd.; Hoffmann ebd.). Die Urkunden sind verzeichnet bei Heidingsfelder 1938 (1917), Nr. 511; 513; 534; 562. 36 Vgl. Schröder 1930, S. 233. 37 Das vermutet auch Gärtner (1991), anders Foidl 2011, Sp. 636. Hoffmann (2000, S. 4 f.) hält die Frage für „kaum zu entscheiden“, weist aber zu Recht darauf hin, dass eine Zugehörigkeit Konrads zu einem Eichstätter Ministerialengeschlecht so gut wie sicher sei (zu inhaltlichen Bezügen der Werke Konrads zu Eichstätt vgl. ebd., S. 5 f.). Dass die Schreibweise in der ältesten Urkunde (bis auf das übergeschriebene o bei Chůnrat ) mit der im Akrostichon in Diu urstende übereinstimmt (vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XI), hat angesichts der abweichenden Schreibweisen in den späteren Urkunden nur einen begrenzten Aussagewert. 38 Der Text wird nach Gärtner / Hoffmann 1989 zitiert. 39 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989 mit Verweis auf Bumke 1979, S. 64 (mit Anm. 123 [S. 322]) und BMZ, s. v.; Hoffmann 2000, S. 4. 40 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. LXIX. 41 Zu den Quellen im Einzelnen vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XX-XII; XLII-XLV; Hoffmann 2000, S. 23-39; 93-121. Mit Gärtner / Hoffmann (ebd., S. XLVII f.; LXVII f.; vgl. auch Hoffmann ebd., S. 283-291) wird hier davon ausgegangen, dass Konrad seine Quellen selbst bearbeitet und nicht bereits auf eine mittelhochdeutsche Versfassung des Nikodemusevangeliums zugegriffen hat. Zur Diskussion um die Vorlage der deutschen Prosafassung E des Nikodemusevangeliums s. u. Kap. 6.4.1. 42 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XXI; XLVII: „Vermutlich bilden die Lesungen des Offiziums mit ihren Antiphonen und Responsorien eine wichtige Quelle für Konrad“. Daneben scheint Konrad für die Passionsgeschichte auch eine Evangelienharmonie benutzt zu haben (vgl. Hoffmann 2000, S. 122 f.). 43 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XII. <?page no="73"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 73 dann übersetzt werden. 44 Konrads Bildung lässt sich weiterhin aus seinem Wortschatz erschließen: Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann (1989) weisen darauf hin, dass sich in den Übersetzungen von Bibelzitaten viele selten belegte Wörter finden und „[m]ehrere aus Bibel und geistlichen Texten stammende Lehnwörter“ verwendet sind. 45 Allerdings ist in Bezug auf den Wortschatz Konrads das Erkenntnispotenzial noch nicht vollständig ausgeschöpft. Für die folgenden Überlegungen ist vor allem relevant, dass ihm auch in Rechtsfragen eine präzise Ausdrucksweise zuerkannt wird. 46 Wenn von ,Konrads Sprache‘ die Rede ist, hat man selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die Überlieferung erst um 1300 mit der Handschrift V einsetzt, die das einzige Zeugnis für den gesamten Text bildet. 47 Die textkritische Qualität der Handschrift gilt als hervorragend; 48 ob darin aber „der ursprüngliche Text […] ausgezeichnet erhalten“ ist, 49 wird sich - vom Akrostichon abgesehen - nicht mehr sichern lassen. Zwar ist ein Drittel des Textes auch in einigen Handschriften der Weltchronik Heinrichs von München (W+) belegt, 50 und die Exzerpte sind so gestaltet, dass sie textkritischen Wert haben; 51 mit den Mitteln der klassischen Textkritik haben Gärtner und Hoffmann (1989) jedoch auf einen gemeinsamen Archetypus von V und W+ geschlossen, sodass auch die Weltchronik -Exzerpte nicht hinter V zurückführen. 52 Insgesamt zeugt die Überlieferung - ganz im Sinne des Prologs von Diu urstende (vv. 14-18) - nicht von einem unfesten Text. Mit der Ausgabe von Gärtner und Hoffmann (1989) liegt überdies eine verlässliche Zitiergrundlage vor. Die in V überlieferte Rubrik Daz bůch heizzet deu vrstende 53 gibt keinen Aufschluss darüber, dass zunächst vom Passionsgeschehen erzählt wird, bevor Ereignisse nach Jesu Tod geschildert werden (die Erlebnisse Josephs von Arimathia und die Höllenfahrt Christi). 54 44 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. LXX. Neben dem Zitieren ganzer Verse auf Lateinisch ist die Integration lateinischer Namen und Wörter in lateinisch flektierten Formen in den Text zu beobachten (vgl. ebd.). 45 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. LXX. 46 „An Erbwörtern bietet Konrad eine beachtliche Anzahl in seinen Werken zuerst belegter, meist seltener Wörter und Wortbildungskonstruktionen, die seine genaue und detaillierte Ausdrucksweise und Beschreibungssprache, vor allem im Bereich des Rechtslebens, auszeichnen.“ (Gärtner / Hoffmann 1989, S. LXX f.). 47 Wien, ÖNB, Cod. 2696. Vgl. dazu zuletzt Hoffmann 2000, S. 200-204, und den Eintrag im Handschriftencensus . Die Schreibsprache ist bairisch-österreichisch (vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. LXII). Zur Datierung vgl. Neuser 1973, S. 15-32; Schneider 1987, S. 228-230. Zum Fragment M (München, BSB, Cgm 5249 / 61b) des Textes, das erst nach Publikation der Textausgabe bekannt wurde, vgl. Hoffmann ebd., S. 204-207; 2003; zu Konsequenzen für den Ausgabentext vgl. ebd., S. 265-268; 2003, S. 119-123. 48 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. LXI f.; Hoffmann 2000, S. 254 f. mit weiterer Literatur. Zur philologischen Arbeitsweise des Schreibers, von dessen Hand sämtliche Texte stammen, vgl. auch Neuser 1973, S. 26. 49 So Gärtner / Hoffmann 1989, S. LXI. Im Stemma auf S. LIX wird vorsichtiger von einem ,autornahen Text‘ gesprochen, auf den V über Zwischenstufen zurückgeht. 50 Zu den Handschriften im Einzelnen vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XLVIII-LIV; Hoffmann 2000, S. 208-253. 51 Gärtner / Hoffmann (1989, S. LVI) und Hoffmann (2000, S. 262) rechnen sie zur Primärüberlieferung; allerdings ist mit Umgestaltungen auch im Kleinen zu rechnen. S. dazu u. Kap. 6.1. 52 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. LVI-LXI; zu den Handschriftenverhältnissen vgl. auch Hoffmann 2000, S. 254-265. 53 Alle zehn Werke, die die Handschrift heute enthält, waren einmal mit analog gebauten Rubriken (von einer anderen als der Haupthand) bezeichnet; die erhaltenen acht sind abgedruckt bei Neuser 1973, S. 14. 54 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XIII. <?page no="74"?> 74 3 Variationen der Rechtsthematik Hauptquelle für die Erzählung vom Prozess vor Pilatus und von den Erlebnissen Josephs von Arimathia muss ein Text gewesen sein, der zur Rezension Lateinisch B des Nikodemusevangeliums gehörte. 55 Offensichtliches Anzeichen dafür ist, dass im Prolog von Diu urstende als Quelle ein Augenzeugenbericht eines Juden namens Enêas genannt wird (vv. 53-68) 56 - eine Referenz auf das in der Rezension Lateinisch B bewahrte ,Vorwort‘, in dem der folgende Text als auf Prozessakten beruhend gekennzeichnet wird. Dem Abschnitt über die Höllenfahrt liegt dann offensichtlich die Rezension Lateinisch A zugrunde. Hoffmann (2000) hat plausibel machen können, dass eine Handschrift, die die Gesta Pilati B (in einer Fassung ohne Kürzungen) 57 mit dem Descensus A kombiniert, aller Wahrscheinlichkeit die konkrete Vorlage für Konrad von Heimesfurt gewesen ist. 58 Neben dem Nikodemusevangelium verwendete er (wohl liturgisch vermittelte) Bibelstellen, sowohl bei der Ausgestaltung von bereits im lateinischen Nikodemusevangelium vorhandenen Szenen (vor allem Kreuzigung und Grablegung, vv. 743-822) als auch zur Ergänzung der darin geschilderten Handlung (Passionsgeschehen vor dem Prozess, vv. 69-258; Himmelfahrt und Pfingsten, vv. 1111-1224). 59 55 Zu dieser Rezension, in der unter anderem die Erzählungen Josephs von Arimathia und der drei Rabbis ausführlicher gestaltet sind als in A, vgl. Izydorczyk 1997c, S. 51 (dort auch zur Editionslage); Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 95 f.; Hoffmann 2000, S. 96-101. 56 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XLII f.; Hoffmann 2000, S. 102. 57 „Sa überliefert den ‘Gesta’-Teil vollständig, hat also nicht, wie die meisten B-Hss., die Kapitel II,4-IV,5 und IX,1-XI,1 ausgelassen. Bei der ersten der beiden Kapitelgruppen folgt Sa der B-Fassung, im Bereich der zweiten jedoch beginnt ein Textstück, das […] der A-Fassung entnommen ist.“ (Hoffmann 2000, S. 104). 58 Salzburg, Erzabtei St. Peter, Cod. a V 27, foll. 111r-139v. Vgl. Hoffmann 2000, S. 102-121; Referenzen auf die Handschrift auch schon in Gärtner / Hoffmann 1989, S. XLIV und Hoffmann 1997a, S. 288 f. Die Argumentation Hoffmanns ist überzeugend, weil er (unter Berücksichtigung der freien Quellenbearbeitung durch Konrad von Heimesfurt) nachweisen kann, dass die Salzburger Handschrift „einige individuelle, in der restlichen E. N.-Überlieferung bisher nicht belegte Lesarten bietet, zu denen es in der ‘Urstende’ Entsprechungen gibt“ (Hoffmann 2000, S. 121). Angesichts möglicher Überlieferungsverluste ist festzuhalten, dass durch die Salzburger Handschrift die Text f a s s u n g , die als Vorlage gedient haben dürfte, repräsentiert ist, nicht unbedingt die konkrete Vorlage. Allerdings ist die Handschrift selbst insofern von Bedeutung, als sie zeigt, dass diese Textfassung „in ungefährer zeitlicher und räumlicher Nähe“ (ebd.) zu Konrads Wirken kursierte. Für die im Folgenden analysierte Prozesshandlung weichen die Fassungen Lateinisch A und B des Nikodemusevangeliums „zwar im Wortlaut durchgehend voneinander ab, nicht jedoch in ihrem Inhalt“ (Hoffmann ebd., S. 107). Obwohl die Salzburger Handschrift in diesem Abschnitt überwiegend B folgt, erschien es gerechtfertigt, für bestimmte Motive im Nikodemusevangelium auf den besser zugänglichen Text der A-Fassung zu verweisen; ergänzend werden jeweils die Erkenntnisse Hoffmanns herangezogen, der einen detaillierten Vergleich mit dem Text der Salzburger Handschrift durchgeführt hat (vgl. ebd., S. 121-184). 59 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XLV-XLVII. Zum lateinischen Zitat aus dem Canticum triumphale Cum rex gloriae in v. 1698 vgl. Hoffmann (2000, S. 164 f.), der damit auch die Lokalisierung von Diu urstende stützen will, da diese Antiphon in zahlreichen Osterfeiern aus dem Bistum Eichstätt überliefert sei. Der erste Beleg stammt erst aus dem Jahr 1326, doch mag die Tradition weiter zurückreichen. Fechter (1985a, Sp. 200) erwägt, dass „[f]ür die breit ausgeführten und stark dialogisierten Wächter- Szenen […] ein Osterspiel Vorbild gewesen sein“ könnte; allerdings muss eine solche Vorlage nicht zwingend postuliert werden, da der Text von Diu urstende insgesamt dialogisch durchgestaltet ist. Vgl. dazu Hoffmann (ebd., S. 185), der sich auch kritisch zur Osterspiel-Hypothese Fechters äußert (vgl. ebd., S. 145). <?page no="75"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 75 Der gesamte Text von Diu urstende lässt sich folgendermaßen gliedern: 60 Prolog (vv. 1-68) Passionsgeschehen vor dem Prozess (vv. 69-258) Prozess (vv. 259-742) Kreuzigung und Grablegung (vv. 743-822) Auferstehung Jesu und Befreiung Josephs von Arimathia (vv. 823-1110) Himmelfahrt und Pfingsten (vv. 1111-1224) Befragungsszenen: Joseph; drei Rabbis; Simeonsöhne (vv. 1225-2162 [Bericht von der Höllenfahrt Jesu: vv. 1693-2116]) Die einzelnen Teile sind sorgfältig ineinander gearbeitet. 61 Bei einer genetischen Betrachtung wird klar, dass die jeweiligen Quellentexte für den Verfasser offenbar eine unterschiedliche Autorität hatten: Während er der Bibel genau folgt, ist der Umgang mit dem Nikodemusevangelium recht frei. 62 Eine eigenständige Gestaltung der Handlung ist also gerade auch im Prozessteil von Diu urstende zu beobachten. 63 3.2.2 geriht Symptomatisch für den kreativen Umgang mit den Motiven aus dem Nikodemusevangelium ist es, dass für die Prozesshandlung in Diu urstende nur ein Drittel des Vorlagentextes verarbeitet ist. 64 Die inhaltlichen Unterschiede werden gleich schon zu Beginn manifest, da - den kanonischen Evangelien folgend 65 - vom Verrat des Judas und der Gefangennahme Jesu erzählt wird (vv. 129-217). Nach der nächtlichen Verspottung Jesu (vv. 237-258) bitten ,die Juden‘, noch bevor der Tag angebrochen ist, Pilatus, dass er früh am nächsten Morgen Gericht halten möge (vv. 259-270; daz er fruo bereit wære, / zuo der schrangen quæme / und ir rede vernæme , vv. 264-266). Pilatus entspricht dieser Bitte (vv. 271-275), und ,die Juden‘ führen Jesus gefangen vor (vv. 276-278). Das Wunder der sich senkenden Fahnen (vv. 279-305; van , v. 300), d. h. schefte , an denen zeichen hängen (vv. 280 f.), interpretieren sie als Zauberei, mit der Jesus das Verfahren in die Länge ziehen wolle ( ir geriht e lengen , v. 311), um sein Leben zu retten (vv. 306-312). Sie drohen Pilatus mit dem Kaiser, wenn Jesus, der behaupte, König zu sein, keine Strafe erleide (vv. 313-318; ob er genist , 66 v. 315). Pilatus schließt aus der starchen rüege , 67 dass Jesus schuldig sein müsse, lässt ihn geißeln und will ihn dann freilassen (vv. 319-329). Die ,Verfluchten‘ fordern jedoch die Todesstrafe (vv. 330 f.). Daraufhin ziehen sich einige Juden und Heiden vom Gericht zurück (vv. 332-335; 60 Die Gliederung folgt im Wesentlichen der detaillierten tabellarischen Aufstellung bei Gärtner / Hoffmann 1989, S. XLV f. Für eine Handlungsübersicht vgl. Hoffmann 1997a, S. 289-291. 61 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XLV. 62 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. XLVII f.; Hoffmann 2000, S. 121-184, zusammenfassend S. 184-187. 63 Vgl. dazu Klibansky 1925, S. 9-15; Fechter 1985a, Sp. 200 f.; Hoffmann 2000, S. 127-141; 184-187. 64 Vgl. Hoffmann 2000, S. 139 f. 65 Vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. 139 f., für die biblischen Parallelstellen. 66 Zu geniezen (,keine Strafe wofür leiden‘) als Gegensatz zu engëlten (,Strafe wofür leiden‘) vgl. BMZ; L exer , s. v. Vgl. auch die für geniezen angegebene Bedeutung ,straffrei ausgehen‘ im MWB; WMU, s. v. Wegen der Rechtsrelevanz der Belege wird das WMU hier und im Folgenden herangezogen, obwohl es „im wesentlichen den Sprachzustand der letzten beiden Jahrzehnte des 13. Jh.s“ (ebd., Bd. 1, S. 3) erfasst, damit also einen Zeitraum nach der Entstehung von Diu urstende . 67 Von dirre starchen rüege, / daz si in sô ungefüege / und sô vîentlîch ane lugen, / sô vil unbildes ûf in zugen, / sô wânde der rihtære / daz er schuldig wære. (vv. 319-324). <?page no="76"?> 76 3 Variationen der Rechtsthematik ir begunden sich scheiden / sumelîche von der phlihte , vv. 334 f.). 68 Ein Mann aber erhebt das Wort und macht - zugunsten von Jesus - eine Aussage ( nû stuont dâ vor gerihte / ein man, der offenlîche 69 sprach , vv. 336 f.). Wie in der Forschung schon früh erkannt wurde, ist gerade diese Eingangssequenz mit Termini und inhaltlichen Elementen aufgeladen, die ein Verfahren nach ,deutschem‘ Recht evozieren. 70 Ein entsprechendes Setting wird zuallererst durch den Ausdruck zuo der schrangen (vv. 265; 272) aufgerufen, womit der Ort des Gerichts bezeichnet ist, der hier als ein durch Bänke abgeschrankter Raum vorgestellt ist. 71 Zugleich mit dem Gerichtsort wird die Gerichtszeit benannt, denn aus den tadelnden Worten des Erzählers, dass ,die Juden‘ die richtige Zeit nicht hätten abwarten können und Pilatus schon vor Tagesanbruch aufgesucht hätten (vv. 259-261), ist zu schließen, dass Tagesanbruch die richtige Zeit gewesen wäre. 72 Die Zeitangabe ist eine Präzisierung gegenüber den kanonischen Evangelien (nach denen der Prozess am frühen Morgen beginnt), die im Einklang mit Gepflogenheiten des deutschen Rechts steht. 73 Dass Pilatus gleich sechs baniere (v. 275) vor sich hertragen lässt, dürfte zwar keine direkte Entsprechung in der Erfahrungswelt des Verfassers und der zeitgenössischen Rezipienten gehabt haben, 74 immerhin wird das Banner als Herrschaftszeichen und auch als Zeichen der Gerichtsgewalt nicht unplausibel gewirkt haben. 75 Versucht man, ausgehend von den konkreten Benennungen von Ort und Zeit des Gerichts, die damit im 13. Jahrhundert wahrscheinlich verbundenen Assoziationen zu rekonstruieren, werden weitere Bezüge zum ,deutschen‘ Rechtswesen deutlich. Die Bezeichnung 68 Zur Lesart si statt ir in V vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. LVII; Hoffmann 2000, S. 256 f. 69 Hier dürfte die Bedeutung ,öffentlich, offen‘ (im Gegensatz zu ,heimlich‘) relevant sein (vgl. BMZ; L exer ; WMU, s. v.). 70 Vgl. Wülcker 1872, S. 37; Klibansky 1925, S. 9 f. 71 Vgl. Hoffmann 2000, S. 127 f. Zur Bedeutung von schrange oder schranne vgl. BMZ, s. v.: „bank, besonders die eingehegte und dadurch ausgezeichnete bank des richters und der rechtsprecher, dann in weiterer bedeutung sitzungsplatz für ein versammeltes gericht, das gericht selbst; ursprünglich das was einhegt, absperrt, eingehegt ist“. Vgl. auch L exer ; DRW, s. v. (mit zahlreichen Belegen für die singularische Verwendung wie in Diu urstende ). Das Wort ist besonders im Bairisch-Österreichischen verbreitet (vgl. Drüppel 1981, S. 39 f.). Zur Abschrankung des Gerichtsraumes vgl. von Planck 1879, Bd. 1, S. 128; Grimm 1899, Bd. 2, S. 435-438; Drüppel ebd.; Schmidt 2006, S. 228-232. 72 Bei der Interpretation der Zeitangaben ist zu beachten, dass zwischen der Bitte ,der Juden‘ an Pilatus, Gericht zu halten, und dem Verhandlungsbeginn eine Zeitspanne liegt; aber nach den folgenden Versen (vv. 262-266) geht es ,den Juden‘, die der Erzähler in diesem Zusammenhang als mordgierig tituliert, auch um einen möglichst frühen Verfahrensbeginn. 73 Vgl. dazu Hoffmann 2000, S. 127 mit Verweis auf von Planck 1879, Bd. 1, S. 121; Grimm 1899, Bd. 2, S. 438-443; vgl. auch Drüppel 1981, S. 277 f. Die Konkretisierung lässt auf einen deutschrechtlichen Kontext schließen, obwohl es auch schon ein römischer Grundsatz war, dass Verhandlungen nicht vor Sonnenaufgang beginnen sollten (vgl. Grimm ebd., S. 438). 74 Zur Sechszahl der Banner bzw. Fahnen (und Fahnenträger, vgl. vv. 299-301) ist es wohl durch ein Missverständnis der Vorlage (vgl. Nikodemusevangelium , cap. I 6) gekommen, nach der ‚die Juden‘ zwölf Männer, in zwei Gruppen zu je sechs, die signa des Pilatus halten lassen (vgl. Wülcker 1872, S. 37; Klibansky 1925, S. 10; Hoffmann 2000, S. 128, Anm. 84). 75 Vgl. dazu Lück 2008a, Sp. 437; 2012b. Ob mit baniere tatsächlich Banner mit Querstange bezeichnet sein sollen, bleibt unklar; benannt werden zwar die handlungsrelevanten Schäfte, nicht aber die Befestigungsart der zeichen ( die schefte sich zuo der erde bugen / dâ die zeichen ane hiengen , vv. 280 f.). Unter Verweis auf Bruckaufs (1907) Studien zum Fahnlehen hat Klibansky (1925, S. 10) die These aufgestellt, dass die Vielzahl der Fahnen „durchaus dem Vorstellungskreis eines Laienpublikums im 13. Jahrhundert“ entsprochen hätte. In der Tat bringt Bruckauf (ebd., S. 29-38) Belege für die Verwendung mehrerer Fahnen bei der Investitur (vgl. dazu Weber 2011, S. 144-146), jedoch geht daraus nicht hervor, dass der Belehnte sie in der Folgezeit als Herrschaftszeichen mit sich führte. <?page no="77"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 77 des Gerichtsorts impliziert nach modernen Erkenntnissen, dass die Verhandlung im öffentlichen Raum unter freiem Himmel stattfindet, dass auf den Bänken Urteiler sitzen und außerhalb des abgeschrankten Bezirks weitere Beteiligte stehen. 76 Dass diese Vorstellung tatsächlich für Diu urstende relevant ist, belegt die Formulierung, dass der Mann, der das Wort ergriffen habe, zu Gericht ,gestanden‘ habe (v. 336; vgl. auch v. 496). Eine aktive Beteiligung der Gerichtsgemeinde wird auch durch das Wort phlihte (v. 335) signalisiert, das hier offenbar die ,Dingpflicht‘ bezeichnet: Juden und Heiden, die zu dem von Pilatus - so ist anzunehmen - gebotenen Ding erschienen sind, wollen nicht bei dem von den Anklägern geforderten Todesurteil gegen Jesus mitwirken. Der juristisch präzise Sprachgebrauch 77 lässt es möglich erscheinen, dass mit der starchen rüege (v. 319), die Pilatus dazu veranlasst, Jesu Schuld anzunehmen, die Art der Anklage spezifiziert ist: Kennzeichnend für das Rügeverfahren ist, dass nicht von einem unmittelbar Geschädigten Klage erhoben wird, sondern dass Vertreter einer Gemeinschaft aktiv werden, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. 78 Sie würde durch einen (politischen) Königsanspruch Jesu unterminiert; auch der zuerst vorgebrachte Vorwurf, dass Jesus reht und ê verdrehe (v. 269), hatte auf die Störung der öffentlichen Ordnung abgezielt, dort allerdings eingeschränkt auf die jüdische Gesetzesordnung (v. 268). Die Handlungsweisen, die den Figuren in Diu urstende zugeordnet sind, gewinnen vor dem Hintergrund des ,deutschen‘ Rechts ebenfalls weitere Sinndimensionen. Dass Pilatus die Geißelung als alternative Bestrafung zur Kreuzigung einsetzt, ist zunächst einmal eine Anlehnung an die Evangelien von Johannes und Lukas (Io 19,1 und 4-6; Lc 23,22 f.). 79 Aber wie hat man es einzuschätzen, dass Pilatus Jesus aufgrund der Schwere der Anklage und des feindseligen Verhaltens ,der Juden‘ (vv. 319-324) für so schuldig hält, dass er den Angeklagten geißeln lässt, ohne ihn überhaupt zu befragen? Nach ,deutschem‘ Recht ist das nicht unbedingt ein Zeichen für ungerechtes Richten, denn die Art der Vorführung Jesu weist Parallelen zu sogenannten Handhaftverfahren auf: Dass ein ,gebotenes Ding‘ einberufen werden muss, deutet - ebenso wie die Fesselung des Angeklagten (vv. 182; 267 f.; 278) - darauf hin, dass er auf frischer Tat ertappt worden ist, seine Schuld mithin feststeht. 80 In 76 Nach Drüppel (1981, S. 39 f.; 296 f.), der sich auf stadtrechtliche Verhältnisse bezieht, stehen die Parteien und auch die Dingleute außerhalb der Schranken und werden vom Richter, der auch das Wort erteilt, in die Schranken gebeten. Von Planck (1879, Bd. 1, S. 127) hält für das sächsische Recht fest, dass außer dem Richter unter Königsbann nur die Schöffen eine sitzende Position eingenommen hätten. „Doch scheint es üblich, dass auch, wo man nicht unter Königsbann dingt, ausser dem Richter eine zunächst zum Urtheilfinden bestimmte Anzahl von Dingleuten sitzt.“ (ebd.). 77 Ein solcher Sprachgebrauch lässt sich auch außerhalb der Prozessszenen nachweisen: Zum Beispiel ist die Abmachung zwischen Judas und ,den Juden‘ (v. 140) ebenso wie die zwischen ,den Juden‘ und den Grabwächtern (v. 852) durch das Wort gedinge als rechtliche Übereinkunft spezifiziert (vgl. DRW, s. v. [1], III; MWB, s. v. 2). 78 Zum Rügeverfahren im Hochmittelalter vgl. Sellert 1990, Sp. 1204; Saar 2003, S. 429; zum komplexen Verhältnis von ,Rügen‘ und ,Klagen‘ vgl. (in Bezug auf fränkische Quellen des Spätmittelalters) Willoweit 1996, S. 211-223. 79 So auch Gärtner / Hoffmann 1989, S. 141. 80 So versteht auch Wülcker (1872, S. 38) die Stelle. Dass die Fesselung des Angeklagten in der Regel eine präjudizierende Wirkung hat, ist auch im Rolandslied relevant, wenn die Franzosen bei der Gerichtsverhandlung gegen Genelun erklären, ihres Erachtens sei er noch nicht überführt, obwohl er gefesselt sei (vv. 8729-8736, zitiert nach Kartschoke 2011, vgl. auch die Kommentarbemerkung ebd., S. 744, und Klibansky 1925, S. 60 f.). Ob die Fesselung eines Angeklagten berechtigt ist und welche Implikationen sie hat, wird noch in Die Mörin diskutiert (vv. 1177-1379; zitiert nach der Ausgabe von Schlosser 1974), wo der Vorsprecher des Angeklagten, der auf Anwendung des schwäbischen Rechts beharrt (vgl. dazu <?page no="78"?> 78 3 Variationen der Rechtsthematik diesen Fällen war es den Angeklagten verwehrt, sich durch einen Unschuldsbeweis von den Vorwürfen zu reinigen. 81 Häufig ist das Verfahren für Diebstahl belegt, ein Delikt, das in der Regel mit Erhängen bestraft wurde. Die (nach der Geißelung) vorgebrachte Forderung, man solle Jesus hâhen (v. 331), 82 fügt sich in den Kontext des Umgangs mit einem offenkundigen Verbrecher ein, denn das Wort begegnet zwar in der Wendung ,ans Kreuz hängen‘, bedeutet aber in Bezug auf Hinrichtungen in erster Linie ,einen Menschen durch Erhängen töten‘. 83 Vor dieser Folie könnte eine Befragung Jesu als unnötig erschienen sein. Alle diese tentativ aufgezeigten Bezüge zum ,deutschen‘ Recht sind punktuell: Es wird weder ein ordentliches Rügenoch ein Handhaftverfahren 84 geschildert, noch lässt sich das Verhalten des Pilatus mit solchen Bezügen allein klären, denn schließlich wird der Prozess fortgesetzt, 85 und die Schuldfrage wird darin noch einmal von Grund auf diskutiert. In einer Erzählwelt ist aber durchaus mit der Darstellung eines hybriden Verfahrens zu rechnen. Wie zu zeigen sein wird, sind auch in der Erzählung vom weiteren Prozessverlauf verfahrensrechtliche Elemente punktuell sinnstiftend funktionalisiert, ohne dass das Verfahren insgesamt einen modellhaft deutschrechtlichen Charakter hätte. 86 In der Narration wird der folgende äußere Ablauf des Verfahrens entworfen: 87 Nachdem die Aussage des heidnischen Mannes (vv. 338-367) von ,den Juden‘ hinterfragt (vv. 368-370) und nach der direkten Antwort des Mannes darauf (vv. 371-388) schließlich als irrelevant erklärt worden ist (vv. 389-391), bringen sie eine ganze Serie von Vorwürfen und Anklagepunkten vor - von der unehelichen Geburt Jesu über die Schuld am Kindermord bis hin zur Zauberei (vv. 392-424). Daraufhin ergreift Nikodemus das Wort (vv. 425-427), der vom Erzähler hier unter Berufung auf die schrift vorgestellt wird (vv. 428-448). 88 Nikodemus will den Vorwurf der unehelichen Geburt Jesu widerlegen und beruft sich Strohschneider 1986, S. 213-216), argumentiert, bei dem Angeklagten handele es sich nicht um einen ertappten Dieb, er dürfe deshalb nicht gefesselt werden (vgl. dazu Strothmann 1930, S. 22). 81 Nach Schild (2012) hatte der wegen einer handhaften Tat Beklagte durchaus die Möglichkeit, die Voraussetzungen anzuzweifeln; die im Sachsenspiegel erfolgte Charakterisierung des Prozedere bei einer handhaften Tat als Klageverfahren mit entsprechenden prozessualen Formen habe eine gewisse Repräsentativität. Er wendet sich gegen Huck (2002, S. 194 f.), nach dem, sobald der Urheber der Festnahme die handhafte Tat mit Eideshelfern beschworen hatte, die Entscheidung über den Gebundenen und damit auch die Anordnung des Strafvollzugs allein beim Richter gelegen habe. Huck beschreibt damit (für die fränkische Zeit) eine Konstellation, wie sie ähnlich in Diu urstende auserzählt ist, wenn Pilatus die Geißelung Jesu anordnet; allerdings folgt dann noch ein Gerichtsverfahren. Bei diesem Verfahren ist Jesus nicht gefesselt, so muss man schließen, denn er wird zur Kreuzigung erneut von ,den Juden‘ gefangen genommen (vv. 750 f.). 82 Vgl. aber bereits hengen in v. 313. 83 Vgl. BMZ; L exer ; MWB; DRW; WMU, s. v. - Zu den Implikationen der Diebesmotivik und der Fesselung s. ausführlicher u. S. 195-198. 84 Nur bestimmte Delikte (wie Diebstahl oder Raub) konnten als handhafte Tat behandelt werden (vgl. Schild 2012). 85 Wülcker (1872, S. 38) will die erneute Kreuzigungsforderung ,der Juden‘ (vv. 330 f.), die zur Gerichtsverhandlung führt, und die damit zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit mit der Geißelungsstrafe als Urteilsschelte interpretieren. Vgl. dazu die Kritik Klibanskys (1925, S. 15), der zu Recht darauf hinweist, dass auf eine Schelte ein Rechtszug hätte folgen müssen (zur kontroversen Diskussion über die Urteilsschelte vgl. Kaufmann 1998b mit weiterer Literatur). 86 Das hat bereits Klibansky (1925, S. 14) bestritten unter Verweis darauf, dass Pilatus als selbsturteilender Richter dargestellt sei. 87 Vgl. auch die stichpunktartige Übersicht (mit Vorlagenvergleich) bei Hoffmann 2000, S. 139. 88 Die ständische Einordnung von Nikodemus als ein fürste (v. 429) verleiht ihm zusätzlich Autorität (vgl. Strohschneider 2014, S. 94 f., Anm. 8). <?page no="79"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 79 dazu auf zwölf rechtschaffene Männer (vv. 449-476). ,Die Juden‘ reagieren mit Drohungen gegen Nikodemus (vv. 477-492). Das veranlasst Pilatus zu einer Grundsatzrede über das angemessene Verhalten vor Gericht, in der er auch die bisherigen Anklagepunkte für nicht ausreichend erklärt (vv. 493-519). ,Die Juden‘ insistieren darauf, dass Jesus ein ,Übeltäter‘ sei, und fügen als weiteren Anklagepunkt hinzu, dass Jesus die Sabbatruhe und die ê insgesamt nicht achte (vv. 520-528). Als nächstes tritt ein Jude vor, der Pilatus darum bittet, Ruhe herzustellen und ihm das Rederecht zu erteilen (vv. 529-532). 89 Pilatus kommt der Bitte nach, wobei er einen schergen 90 für Ruhe sorgen lässt (vv. 533-546). Auf die Aussage des Juden, der von seiner Heilung durch Jesus berichtet (vv. 547-569), folgen ohne weitere verfahrenstechnische Zwischenspiele Aussagen weiterer Geheilter, abschließend die eines ehemals Blinden (vv. 570-610). ,Die Juden‘ erfragen von ihm direkt die näheren Umstände seiner Heilung, die an einem Samstag stattfand (vv. 611-619), und wiederholen den Vorwurf des Bruches der Sabbatruhe (vv. 620-628). Daran anknüpfend erheben sie allgemeinere Anklagen der Missachtung der ê und der Irreführung sogar gelehrter Leute wie Nikodemus und fordern diesen auf, seine zwölf Gewährsleute zu präsentieren (vv. 629-649). Nikodemus führt sie namentlich ein (vv. 650-663). Von Pilatus befragt (vv. 664 f.) bestätigen und ergänzen die zwölf die Aussage des Nikodemus (vv. 666-701). ,Die Juden‘ versuchen in einer direkten Konfrontation die Gerichtsfähigkeit der zwölf zu bestreiten (vv. 702-713), diese können jedoch den vorgebrachten Proselyten-Vorwurf entkräften (vv. 714-723). ,Die Juden‘ dringen daraufhin zornig in den abgeschrankten Bereich ein (vv. 724-742). Angesichts dieses Tumults überlässt Pilatus ihnen Jesus (vv. 743-749). Abgesehen von der Einführung des Nikodemus durch den Erzähler (vv. 428-448), seiner Beurteilung der wütenden Menge (vv. 729-735) und seiner Quellenangabe für die Entscheidung des Pilatus (vv. 743-747) ist die Erzählung im Wesentlichen von wörtlichen Reden geprägt, die im Wechsel von Gegnern und Unterstützern Jesu vorgebracht werden. 91 Dieser Textgestaltung mag die Struktur von „Klage und Klageabwehr“ 92 zugrunde liegen, die als kennzeichnend für ein ,deutsches‘ Gerichtsverfahren gelten kann, doch wird sie allenfalls anzitiert. Denn typisch für ein solches Gerichtsverfahren wäre eine Wechselrede zwischen Parteien, die dann jeweils mit einem Zwischenurteil abgeschlossen würde. 93 Als Prozesspartei sind in Diu urstende aber nur die Ankläger klar identifizierbar. Die Personen, die für Jesus eintreten, scheinen Zeugenstatus zu haben, ja in der Abfolge von pro und contra ist sogar der Richter Pilatus zu ihnen zu zählen. Der Angeklagte bleibt das ganze Verfahren über stumm. Man hat diese signifikante Änderung gegenüber den Vorlagen mit einer Anpassung an das ,deutsche‘ Recht erklären wollen, nach dem sich die Parteien 89 Das Motiv, dass Redner vor Gericht um Ruhe bitten, findet sich auch im Rolandslied des Pfaffen Konrad (vv. 8739; 8821 f.; zitiert nach Kartschoke 2011), nicht aber an den entsprechenden Stellen der Chanson de Roland . Klibansky (1925, S. 61) schließt daraus, dass es sich um ein Element der „Deutschen prozeßform“ handeln müsse und verweist auf die Parallele in Diu urstende (vgl. zustimmend Schmidt- Wiegand 1986, S. 5). 90 Zu den verschiedenen Bezeichnungen für den Fronboten vgl. Lück 2008e (mit weiterer Literatur). 91 Vgl. Klibansky 1925, S. 13. Generell zur „dialogisierte[n] Erzählweise“ in Diu urstende vgl. auch Ukena- Best 2012, hier S. 307. 92 Vgl. Hoffmann (2000, S. 141), der seinerseits Vollmann 1979, S. 209, zitiert (Vollmann geht es an dieser Stelle allerdings nicht um den Ablauf, sondern um den „Kern des Streitverfahrens“). 93 Vgl. Landwehr 1979, S. 1-8, zum Status der Parteienrede auch S. 20-24 (in Bezug auf sächsische Rechtsquellen); Drüppel 1981, S. 299 (in Bezug auf stadtrechtliche Quellen). Zu Urteilen innerhalb eines Verfahrens vgl. auch von Planck 1879, Bd. 1, S. 303-308. <?page no="80"?> 80 3 Variationen der Rechtsthematik durch Vorsprecher vertreten lassen konnten, 94 und hat Nikodemus eine Vorsprecherfunktion zuerkannt. 95 Zwar gerät Nikodemus selbst in eine Rechtfertigungsposition, 96 doch gibt es keine Anzeichen dafür, dass er von Jesus autorisiert spricht. Wahrscheinlicher als die Anpassung an die Rechtspraxis ist daher, dass Jesus in Anlehnung an Is 53,7 schweigend dargestellt wird, zumal die alttestamentarische Prophezeiung vom Lamm, das schweigend zur Schlachtbank geführt wird, vom heidnischen Zeugen gleich zu Beginn des Prozesses referiert wird (vv. 374-388). 97 Selbst wenn man die Unterstützer und Gegner Jesu als Äquivalente der Prozessparteien betrachtet, würde ihre direkte Auseinandersetzung im Kontrast zu dem streng formalisierten Ablauf eines deutschrechtlichen Prozesses stehen, in dem die Parteien nur über den Richter miteinander in Kontakt treten. 98 Gerade das Beispiel der weithin fehlenden Verhandlungsführung durch den Richter zeigt aber, dass der Vergleich mit einem idealen deutschrechtlichen Prozess nur Mittel zum Zweck sein kann, um die Funktion verfahrensrechtlicher Motive näher zu bestimmen. Dass in einem narrativen Text ein Prozess von den formalisierten Eröffnungsfragen und dem Friedensgebot 99 bis hin zur Urteilsverkündung in allen Schritten entworfen würde, ist ohnehin nicht zu erwarten. Wenn aber wie bei Diu urstende zu Beginn ein bestimmtes Setting aufgerufen wird, stellt sich die Frage, ob Abweichungen von den dann zu erwartenden Abläufen 100 erzähltechnische Gründe haben oder ob etwa die Regelwidrigkeit eines Verfahrens herausgestellt werden soll. In Diu urstende ist das eindeutig nicht der Fall, denn an einzelnen Stellen, an denen von einer Verhandlungsführung durch Pilatus erzählt wird, erweist sie sich als korrekt bzw. mit Rechtsquellen übereinstimmend, sodass man für die direkte Konfrontation der ,Parteien‘ eher dramaturgische Gründe annehmen kann. Wenn Pilatus seinen schergen Ruhe gebieten lässt und dem aussagewilligen Juden das Wort erteilt (vv. 529-547), wird punktuell eine deutschrechtliche Prozesspraxis fassbar. Die Ausgestaltung der Szene verleiht der Handlung nicht nur ein entsprechendes Kolorit, 101 sondern charakterisiert den Zeugen als jemanden, der die Autorität des Gerichts anerkennt und mit zuht 102 handelt, der aber von Pilatus auch den von ihm vorher propagierten Gerichtsfrieden einfordert. Das Verhalten des Zeugen steht in krassem Gegensatz zum Bruch des Gerichtsfriedens durch die wütende Menge am Ende des Prozesses, ein Verhalten, das vom Erzähler auch entsprechend bewertet wird ( si vergâzen êre und zuht , v. 728). Systematisch betrachtet bildet die Einstellung des jüdischen Zeugen zwar auch eine Kontrastfolie für den Auftritt des heidnischen Zeugen zu Beginn des Prozesses, der einfach das Wort ergreift (vv. 336 f.), doch wird an jener Textstelle dessen beherztes Eintreten für Jesus von der Haltung derjenigen abgesetzt, die sich der phlihte (v. 335) entziehen. Es sind - abhängig 94 Zum Vor- oder Fürsprecher vgl. von Planck 1879, Bd. 1, S. 194-217; Oestmann 2008b. 95 Vgl. Wülcker 1872, S. 38 f.; Klibansky 1925, S. 15; Hoffmann 2000, S. 140. 96 Nach Klibansky (1925, S. 15) macht Konrad von Heimesfurt ihn zum „Hauptmann beim Zwölfereid“. 97 Vgl. Fechter 1985a, Sp. 200 f.; Hoffmann 2000, S. 140 f. Die Worte werden - wie in der Kaiserchronik - in Diu urstende Jeremias zugeordnet (vgl. dazu Hoffmann ebd., S. 130; 195). 98 Vgl. Drüppel 1981, S. 299 f. 99 Zur Hegung des Gerichts vgl. Drüppel 1981, S. 283-287 (auch dazu, dass die Hegung in den Quellen oft unerwähnt bleibt); Schmidt 2006, S. 228-239 (mit weiterer Literatur). 100 Zu ,Scripts‘ s. u. S. 191, Anm. 76. 101 So Hoffmann 2000, S. 186 f. 102 Ein solches Verhalten gebietet der Gerichtsfrieden (vgl. dazu von Planck 1879, Bd. 1, S. 129-133; Drüppel 1981, S. 284 f.). <?page no="81"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 81 vom Kontext - also jeweils nur bestimmte Assoziationen zu aktivieren. Dass Zeugen, die aus eigenem Antrieb aussagen, vielleicht nicht unbedingt vertrauenswürdig sind, 103 soll in Bezug auf den aussagewilligen Juden wohl nicht nahegelegt werden. Der Unterschied zwischen einem deutschrechtlichen Bezugsrahmen und der Schilderung einer kompletten Gerichtsverhandlung nach deutschem Recht lässt sich gut anhand der Stelle verdeutlichen, an der das Verfahren ausdrücklich thematisiert wird: Wenn ,die Juden‘ den zwölf Gewährsleuten des Nikodemus den Zeugenstatus aberkennen wollen, weil sie Proselyten seien und deshalb ihr Landrecht bei diesem Prozess nichts gelte (vv. 702-713), dann wird damit das Personalitätsprinzip anzitiert, außerdem die Vorstellung, dass nicht alle gleichermaßen gerichtsfähig sind (v. 713). Diese Prinzipien werden von den zwölfen grundsätzlich akzeptiert, denn sie widerlegen den Vorwurf inhaltlich und erheben keine verfahrenstechnischen Einwände. Zugleich ist es aber an dieser Stelle offenbar vollkommen irrelevant, dass Pilatus einem Gericht vorsteht, bei dem Juden gleichermaßen wie Heiden dingpflichtig sind und vor dem zuvor bereits ein Heide ausgesagt hat. Auch das Problem der Zeugnisfähigkeit war vorher nicht thematisiert worden, obwohl die Aussage der weiblichen Zeugin (vv. 570-582) dazu eine Steilvorlage geboten hätte. Wichtig war dem Erzähler hier wohl allein die effektvoll am Ende des Prozesses platzierte juristische Niederlage, die die Ankläger vor Zorn rasen lässt. Obwohl in Diu urstende weder ein vollständiges noch ein in allen Punkten kohärentes deutschrechtliches Verfahren dargestellt ist, so verweisen doch alle Stellen, an denen das Verfahren überhaupt angesprochen wird, auf das ,deutsche‘ Recht, sodass auch das Verhalten des Richters vor dieser Folie zu interpretieren ist. Als deutschrechtliches Element kann gelten, dass Pilatus in seiner Rede den Gerichtsfrieden propagiert. 104 Vom musterhaften Ablauf eines Prozesses her gesehen würde der Richter den Gerichtsfrieden nach der Hegung des Gerichts gebieten und dabei das angemessene Verhalten vor Gericht thematisieren; 105 in Diu urstende sind jedoch die grundsätzlichen Ausführungen des Pilatus in die Verteidigung des Nikodemus eingebunden und damit funktional im Prozessablauf platziert, wodurch ihnen eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. Angesichts der Drohungen, denen Nikodemus ausgesetzt ist, fordert Pilatus eine Konzentration auf die Rechtsfindung ein (vv. 496 f.). Niemand solle sich zuchtlos verhalten oder Drohungen aussprechen (vv. 496-500). Nach den Rechtsbüchern wurden Ordnungsverstöße vor Gericht mit empfindlichen Strafen geahndet, 106 sodass die subjektive Einschätzung des Pilatus, dass ,die Juden‘ mit ihren Todesdrohungen gegen Nikodemus ein grôziu missetât (v. 495) begehen, vor diesem Hintergrund umso gerechtfertigter erscheint. Pilatus wendet sich auch deshalb gegen ,die Juden‘, weil noch erst abzuwarten bleibt, ob Nikodemus die Zeugen, von denen er gesprochen hat, nicht tatsächlich beibringen kann (vv. 501-505), d. h., Pilatus beharrt indirekt auf einem ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens. Das suchen ,die Juden‘ seiner Auffassung nach mit übeler urteil zu verhindern (vv. 506-509). 103 Zur kritischen Einstellung gegenüber ,privaten Zufallszeugen‘ z. B. im Sachsenspiegel vgl. Nehlsen-von Stryck 2000, S. 27. 104 Vgl. dazu Hoffmann 2000, S. 133. 105 Vgl. dazu Grimm 1899, Bd. 2, S. 486 f.; Drüppel 1981, S. 284-287; Schmidt 2006, S. 237-239. 106 Zu ungebührlichem Auftreten oder Drohungen als Bruch des Gerichtsfriedens vgl. (auf der Grundlage stadtrechtlicher Quellen) Drüppel 1981, S. 285 f. <?page no="82"?> 82 3 Variationen der Rechtsthematik Indem die Äußerungen ,der Juden‘ als urteil bezeichnet werden, wird eine personelle Trennung von Urteilsfindung und -verkündung zumindest angedeutet, 107 wenn auch ,die Juden‘ als Ankläger nicht gleichzeitig Urteiler im formellen Sinne sein können. Im Folgenden scheint Pilatus jedoch als selbsturteilender Richter zu sprechen - als solcher hatte er bei der Geißelung auch schon agiert -, wenn er unter Berufung auf die Grundsätze gerechten Richtens 108 ankündigt, Jesus wegen guter Werke nicht verurteilen zu wollen (vv. 510-519). Dabei beruft er sich zwar auf die Aussage der Menge (vv. 518 f.), aber er bezieht sich auf die ihm vermittelten Fakten (dass Jesus gute Werke getan habe) und nicht auf ein Urteil der Menge. Allerdings sind die Aussagen des Pilatus nicht inkompatibel mit den Aufgaben eines Richters in einem deutschrechtlichen Verfahren, denn rechtskräftig wurde ein Urteil erst, wenn es vom Richter ausgegeben wurde und die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, gehörte zu dem an Richter gestellten Anforderungsprofil. 109 Dass Pilatus den Gerichtsfrieden im Folgenden mithilfe eines Schergen durchsetzt, verstärkt den Eindruck eines nach Maßgabe des ,deutschen‘ Rechts handelnden Richters. Die Tatsache, dass er an dieser Stelle erst auf die Aufforderung des Juden hin, der aussagen möchte, aktiv wird, tritt gegenüber dem Erfolg der Handlung (v. 544), die die Autorität des Gerichts offenbar werden lässt, in den Hintergrund. Die Darstellung des Pilatus als Richter, der das Gericht jedenfalls punktuell zu einer funktionierenden Institution der Rechtsfindung macht und nach eigenem Ermessen Jesus nicht mit dem Tod bestraft hätte, steht in einem Spannungsverhältnis zu dem durch die Autorität der Quellen vorgegebenen Ergebnis des Prozesses. Dessen Ende wird in Diu urstende dadurch herbeigeführt, dass die wütenden Ankläger, die der Erzähler diffamierend mit zornigen Hunden (im Kampf mit Schweinen) vergleicht, 110 in die Schranken eindringen (vv. 724-742), also den Gerichtsfrieden brechen. 111 Dass Pilatus daraufhin nachgibt, ist angesichts seines bisher geschilderten Verhaltens in hohem Maße erklärungsbedürftig. 112 Der Erzähler sichert sich durch eine (fiktive) Quellenberufung auf daz buoch ab (v. 743) und erläutert dann, dass Pilatus Angst um sein Leben gehabt habe (vv. 744-747). Pilatus erscheint auf diese Weise als schwacher Richter, dem die fortitudo fehlt, die zur Verteidigung des Gerichtsfriedens nötig ist, 113 und er verstößt gegen die Richterethik, die es verbietet, sich von Angst leiten zu lassen. Verfahrenstechnisch kommt der Prozess zu keinem ordentlichen Abschluss, denn Pilatus überlässt zwar Jesus ,den Juden‘, damit sie nach ihrem Gutdünken mit ihm umgehen (vv. 748 f.), aber es wird kein formelles Urteil 107 Zur Kleinschrittigkeit von Urteilen vgl. Landwehr 1979, S. 4 f.; Kannowski 2007, S. 109. 108 ‘daz gerihte nieman tœten sol / der niht übeles entuot’ (vv. 516 f.). 109 Zur Richterethik s. ausführlicher u. S. 209 f. 110 Zum Aberkennen der Menschlichkeit als Ausgrenzungsstrategie vgl. (in Bezug auf Ketzer) Ernst 2000, S. 23. Die Ankläger sind an dieser Stelle als Feinde Gottes bezeichnet (v. 725). Aus dem Kontext geht aber hervor, dass die Gruppe der Jesus gegenüber feindseligen Juden gemeint ist. Der Vergleich mit Hunden hat in judenfeindlichen Äußerungen eine lange Tradition (vgl. Mikosch 2010, S. 114-132). 111 Anders als im Nikodemusevangelium (cap. III 1; IV 1), nach dem Pilatus mehrmals seinen Richterstuhl verlässt und aus dem Prätorium hinausgeht, muss man sich Pilatus in Diu urstende bis zum gewaltsamen Abbruch der Gerichtsverhandlung als auf seinem Stuhl sitzend vorstellen (vgl. dazu auch Klibansky 1925, S. 15). 112 Dafür, dass Pilatus Jesus am Ende der Verhandlung für schuldig hielte und deshalb auch die Handwaschung unterbliebe (so Masser 1976, S. 118), gibt es keine Indizien im Text. 113 Vgl. dazu Drüppel 1981, S. 87 f. <?page no="83"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 83 gefällt. 114 Das könnte durch eine Anlehnung an die kanonischen Evangelien zu erklären sein, 115 hat aber auch Konsequenzen für das Bild von der Gerichtsbarkeit, das in Diu urstende entsteht: Da sich das Gericht am Ende in Auflösung befindet - der Gerichtsfrieden ist gebrochen, der Richter versagt angesichts dieser Situation -, fällt kein Schatten auf das vorher durchgeführte Gerichtsverfahren, das bei ordnungsgemäßer Fortsetzung zu einem Freispruch geführt hätte. Weil ohnehin nicht mehr von einem ordnungsgemäßen Verfahren gesprochen werden kann, sind auch keine konkretisierenden Details geschildert, die eine Deutung unter deutschrechtlichen Vorzeichen unmöglich machten. Vielmehr wird mit dem Eindringen der Ankläger in die Schranken ein deutschrechtlicher Bezugsrahmen bis zum Schluss präsent gehalten. 3.2.3 wârheit Zu den Kürzungen, die in Diu urstende gegenüber dem Nikodemusevangelium zu beobachten sind, gehört auch, dass der Dialog zwischen Jesus und Pilatus über die Wahrheit (cap. III 2) entfallen ist. Ein Faktor dabei mag gewesen sein, dass im Zuge der Umgestaltung der Prozesshandlung keine der Unterredungen des Pilatus mit einzelnen Prozessbeteiligten beibehalten wurde. 116 Zu bedenken ist jedoch auch, dass Jesus - nach dem Nikodemusevangelium - abschließend andeutet, dass diejenigen, die die Wahrheit sagen, von denen, die auf Erden die Macht haben, verurteilt werden. Zwar ist diese Aussage in erster Linie auf ihn selbst gemünzt, doch ist eine verallgemeinernde Form gewählt. In Diu urstende springt Pilatus als Vertreter der weltlichen Macht jedoch gerade dem bei, der die Wahrheit sagt, nämlich Nikodemus. Offenbar hat hier die Wahrheit auch auf Erden einen hohen Stellenwert. Ausschließen kann man, dass das Gespräch zwischen Jesus und Pilatus weggelassen wurde, weil die Wahrheitsthematik nicht zentral gewesen wäre, denn wârheit ist in Diu urstende geradezu ein Leitwort, 117 und die Handlung ist geprägt von Versuchen, herauszufinden, was wahr ist, es mitzuteilen oder zu verschleiern. Auch auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung erhebt der Text den Anspruch, mære weiterzugeben, die wâr sind (vv. 69-73). Dass die Erzählung inhaltlich um Wahrheit kreist, wird vom Erzähler einleitend zur Schilderung der Ereignisse nach Jesu Auferstehung explizit gesagt (vv. 1111-1113). Wenn es dort heißt, dass erzählt werden solle, wie sich die Wahrheit ganz und gar durchgesetzt habe, so ist damit eine Wahrheit gemeint, die über den Ablauf äußerer Ereignisse hinausgeht, nämlich die menschliche Natur Jesu nach seiner Auferstehung. Auch diese heilsgeschichtliche Wahrheit, die von Patriarchen und Propheten schon im Vorhinein ,bezeugt‘ ist, 118 will jedoch aus Beobachtungen äußerer Fakten abgeleitet werden: 114 Später spricht der gute Schächer allerdings davon, dass er und sein Gefährte mit Jesus zum Tode verurteilt worden seien (vv. 2081-2083). 115 Dazu, dass dort kein Urteilsspruch formuliert ist, vgl. Berliner 2003 (1933 / 34), S. 43. Das Nikodemusevangelium (cap. IX 5 [9 (G / I)]) hatte jedoch mit einem Erzählerbericht die Lücke gefüllt. Zwar hätte die Bestimmung, dass Jesus vor der Kreuzigung gegeißelt werden solle, wegen der vorgezogenen Geißelung in Diu urstende nicht unverändert übernommen werden können, aber der Verzicht auf eine Urteilsverkündung dürfte nicht allein damit zusammenhängen. 116 Vgl. dazu Hoffmann 2000, S. 139 f. 117 Zum häufigen Gebrauch von wârheit vgl. Hoffmann 2000, S. 190. 118 Patriarchen und Propheten werden in der Binnenerzählung von Leucius und Carinus als der wârheit geziuge (v. 1864) bezeichnet. Nach der Interpunktion von Gärtner / Hoffmann 1989 ist v. 1864 auf v. <?page no="84"?> 84 3 Variationen der Rechtsthematik Nû lâze wir daz strâfen hie 119 - sîn ist genuoc - und sprechen wie diu wârheit allez für brach und manic sælic ouge sach daz Christ die wâren menscheit nâch tôde hæte an geleit und erscheinte ez dâ mite, daz er nâch menschen site menschlîche spîse nôz unz an den tac daz sich entslôz der himel und in dar in enphie. (vv. 1111-1121) Erzählt werden soll, wie gesehen worden ist, dass Christus nach dem Tod die menschliche Natur angenommen hatte. Gesehen werden aber nur Zeichen (dass Christus wie ein Mensch Nahrung zu sich nimmt), die eine Interpretation erfordern. Der zur Wahrheitsfindung nötige Zweischritt aus Wahrnehmung und Interpretation wird auch auf der Figurenebene immer wieder diskutiert. Sobald die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung nicht mehr gegeben ist, wird weiterhin die Übermittlung durch einen vertrauenswürdigen Gewährsmann wichtig. Das ist bereits bei der Quellenberufung zu Anfang des Textes deutlich, wenn der Erzähler hervorhebt, dass die folgenden wahren Geschichten uns (also dem Erzähler und den von ihm angesprochenen Rezipienten) von einem guoten man (v. 71) übermittelt worden seien. 120 Vorher wird eine Aufschlüsselung gegeben, woher dieser ,gute Mann‘ seine Informationen hatte (vv. 53-68): Dieser Eneas habe ,wahrgenommen‘, 121 was passiert sei, als ,man‘ die Kreuzigung gesehen habe, d. h., er war dabei (vv. 54-61). Und er habe aufgeschrieben, was ihm von der Auferstehung Jesu erzählt worden sei (vv. 62-68). Die mögliche Legitimationslücke, dass nämlich die Berichte über die Auferstehung nicht vertrauenswürdig gewesen sein könnten, wird durch die Erzählung selbst geschlossen, in der selbst die wîsen unter ,den Juden‘ die Glaubwürdigkeit der Auferstehungszeugen anerkennen müssen (vv. 2126-2130). Im Prolog heißt es wiederum, dass Eneas auch aufgeschrieben habe, wie ouch di z [sc. die Ereignisse bis zur Himmelfahrt] bewæret wart (v. 66). Das Autor-Ich erweist sich durch die Anrufung des Heiligen Geistes (vv. 1-18) performativ als gläubig, womit seine gewissenhafte Übermittlung des religiösen Gegenstandes ( geistlîchiu mære , v. 49) als gesichert gelten kann. 122 1865 ( patricharchen und prophêten ) zu beziehen und nicht auf den vorher genannten Christus. Die Interpunktion ist überzeugend, weil mit v. 1863 das vorherige Psalmzitat endet (Psalm 23[24],7-10; vv. 1859-1863) und weil wahrscheinlich ein unbestimmter Artikel eingefügt worden wäre, wenn Jesus hätte gemeint sein sollen (vgl. Gundacker von Judenburg, Christi Hort , v. 1775: der warhait ich ein gezeug pin ). 119 Unmittelbar vorangegangen war ein Scheltexkurs gegen ,die Juden‘ (vv. 1075-1110). 120 Die Information über den guoten man hat der Erzähler wiederum einer schriftlichen Quelle entnommen ( sô mir daz buoch verjehen hât , v. 73). 121 merken umfasst auch das Verstehen und Festhalten des Wahrgenommenen. - ma r hte (v. 55) im Ausgabentext ist handschriftlich nicht gesichert, denn V (als einzig erhaltener Überlieferungszeuge für diese Stelle) liest machte . Gärtner / Hoffmann (1989) haben sich Leitzmanns überzeugender Vermutung („vielleicht marcte “; 1930, S. 282) angeschlossen. Fechters (1977, S. 92) Konjektur suochte hat keinen Anhalt im Handschriftentext, sondern ist an eine Lesart der Gesta Pilati (vgl. von Tischendorf 1876, S. 334 f.) angelehnt. Angesichts der Transformationen des Prätextes in Diu urstende ist bei solchen Schlüssen aber Vorsicht geboten. 122 Zur Deutung der Werkentstehungsgeschichte, insbes. zur Rolle des Eneas, s. u. S. 252, Anm. 268. <?page no="85"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 85 Die Handlung ist geprägt von zwei großen Befragungskomplexen, in denen jeweils eine formalisierte Wahrheitsfindung stattfindet: dem Prozess gegen Jesus, in dem - trotz anderer Intention der Ankläger - Wahrheit bezeugt wird, und den von den Hohepriestern eingeleiteten Untersuchungen nach Jesu Auferstehung, die das Aufdecken der wârheit zum Ziel haben. 123 Dabei steht als Kriterium, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu prüfen, das Prinzip der Augenzeugenschaft neben dem Prinzip der Glaubwürdigkeit des Aussagenden. Beide Prinzipien sind eng verknüpft; 124 es sind aber im Textverlauf unterschiedliche Gewichtungen des einen oder des anderen Aspekts zu beobachten: Im Prozess gegen Jesus ist zunächst die Augenzeugenschaft relevant: Der (heidnische) Mann, der offenlîche spricht (v. 337), 125 beruft sich bei seiner Aussage über Jesu Werke und dessen Empfang in Jerusalem (vv. 338-367) auf das, was er gesehen hat (vv. 338; 358), und gibt wieder, was er gehört hat (vv. 363-367). Er wirft ,den Juden‘ vor, dass sie - trotz einer größeren ,Datenmenge‘, die ihnen zur Verfügung steht ( si hânt sîn selbe mêr gesehen , v. 339) - nicht die Wahrheit sagen wollen (v. 340), und führt so den im Weiteren wichtigen Gegensatz zwischen Wahrheit und Lüge ein. 126 Der Gegensatz steckt zugleich den Rahmen für die folgenden Diskussionen ab, denn er macht deutlich, dass es zunächst einmal um die Wahrheit der äußeren Fakten geht. In diesem Sinne fassen jedenfalls die Ankläger die Aussage des Mannes auf. Sie gehen nicht auf seine Charakteristik von Jesu Wesen ein, sondern hinterfragen nur, woher der Mann seine Informationen habe, indem sie wissen wollen, wie er den Gesang bei Jesu Einzug in Jerusalem habe verstehen können, da er doch kein Hebräisch beherrsche (vv. 368-370). In seiner Antwort gibt der Mann dafür nicht nur eine plausible Erklärung, sondern konfrontiert ,die Juden‘ zugleich mit der ,Wahrheit‘ einer alttestamentarischen Prophezeiung (vv. 374-388). 127 Die Ankläger deklarieren seine Aussage insgesamt als irrelevant für ihre Anklagepunkte (vv. 389-391). Dass sie aber die referierten Fakten nicht weiter auf den Prüfstand stellen, lässt erkennen, dass sie durch die Quellenangabe als gesichert gelten müssen. Auch die Aussagen der von Jesus Geheilten (vv. 547-610) werden von ,den Juden‘ nicht hinterfragt, obwohl nur der Zustand der Heilung unmittelbar evident ist (vgl. z. B. vv. 610 f.), 128 nicht aber der der vorangegangenen Krankheit. Mit dem Schwur, den der erste der Geheilten vor seiner Aussage leistet (v. 547), wird zwar der Eid als formelles Verfahren zur Sicherung der Glaubwürdigkeit aufgerufen, er steht aber nicht im Zentrum. Wie die 123 Zwar wollen die Oberen ,der Juden‘ die unliebsame Wahrheit schließlich unterdrücken (vv. 2128-2130), doch wurde der Beschluss, die Simeonsöhne herbeizuholen, damit begründet, dass - unter Vermeidung von Botenberichten, die Anzweiflungen ausgesetzt sein könnten (vv. 1555-1558) - vor Ort jeder dem beiwohnen können sollte, dass die Simeonsöhne die Wahrheit ausfindig machen (vv. 1559-1561; zugrunde gelegt ist hier der Text ohne die Konjektur ,en finden ‘ [ daz des hie ieman enber / sie erfinden die wârheit , vv. 1560 f.]; zur Konstruktion von enbërn mit konjunktionslosem konjunktivischen Satz ohne Negation vgl. MWB, s. v. 3.2.3). 124 Darin kommt ein Konzept von Zeugenschaft zum Ausdruck, das sich auch im zeitgenössischen Rechtsdiskurs nachweisen lässt (s. dazu u. S. 238-240). 125 Ihm sind die Worte des Läufers im Nikodemusevangelium (cap. I 3) in den Mund gelegt (vgl. dazu Hoffmann 2000, S. 128). 126 Der Gegensatz ist in v. 340 schon angelegt, sodass die Interpretation nicht von der Konjektur lüge in v. 341 abhängig ist. 127 S. dazu o. S. 79 f. Dass Personen, die für Jesus aussagen, aus eigenem Antrieb noch mehr hinzufügen, als gefragt war, ist ein Motiv, das bei den zwölf Männern wiederkehrt (vv. 669-701). 128 Körperliche Evidenz konnte in Gerichtsverfahren durchaus eine Rolle spielen, aber meist ging es darum, Wunden vorzuweisen (z. B. beim Verfahren der Kampfklage nach dem Sachsenspiegel , Ldr. I 63,1). Zur ,leiblichen Beweisung‘ vgl. von Planck 1879, Bd. 2, S. 148-157; s. dazu auch u. S. 250 f. <?page no="86"?> 86 3 Variationen der Rechtsthematik Heilungen zu interpretieren sind, wird nicht diskutiert, da ,die Juden‘ an dieser Stelle nicht den Zaubereivorwurf erheben, sondern sich auf den formalen Aspekt beschränken, dass die Heilung des Blinden an einem Sabbat stattgefunden habe (vv. 611-628). Es dürfte kein Zufall sein, dass die Frage der Glaubwürdigkeit vor allem mit der Nikodemus-Figur verknüpft ist, denn seine Aussage scheint - anders als die der (geheilten) Zeugen, die aus ihrer Erfahrung berichten - nicht auf eigener Augenzeugenschaft zu beruhen. Vielmehr steht die Konkurrenz verschiedener mære im Zentrum seiner Argumentation: Bei ihrem Vorwurf der unehelichen Geburt folgten die Ankläger Lügengeschichten ( die lügelîchen mære , v. 455). Er hingegen sage ihnen jetzt, wie es gewesen sei (v. 458): Joseph sei durch das Wunder des grünenden Zweiges ausgewählt worden. 129 Wollten sie das nicht glauben, so könnten zwölf rechtschaffene und glaubwürdige Männer die Rechtmäßigkeit der Ehe zwischen Maria und Josef bestätigen (vv. 462-476). Diese Männer zeichneten sich besonders durch zuht und alter aus, außerdem dadurch, dass sie zu der Zeit der Eheschließung hohe geistliche Ämter eingenommen hätten und in Lehre und Rechtsprechung tätig gewesen seien. Aus dem Hinweis auf ihre Ämter ist vermutlich abzuleiten, dass sie beim Wunder des belaubten Zweiges, das sich im Tempelkontext abspielt, zugegen gewesen sein müssen. Dieser Aspekt wird jedoch nicht explizit gemacht. Stattdessen wird gesagt, dass die Männer bestätigen können, dass es eine rechtmäßige Eheschließung zwischen Maria und Joseph gegeben habe und dass das von vielen gesehen worden sei, d. h., sie können sich ihrerseits auf Augenzeugen berufen. Ausschlaggebend für die Glaubwürdigkeit der Männer ist ihre Würde, die ihrer Version der Geschehnisse ( geschiht , v. 474) Autorität verleiht. Die Ankläger werfen Nikodemus zunächst einen Treuebruch ihnen gegenüber vor (vv. 477-492) und versuchen dann, sein Verhalten als Beleg dafür zu deuten, dass Jesus selbst gelehrte Männer 130 in die Irre führen könne (vv. 634-646). Sie interpretieren also die Aussage des Nikodemus insgesamt als sinntragendes Zeichen und unterstellen ihm, dass er nicht mehr zu objektiven Aussagen in der Lage ist. Aufschluss über seine Glaubwürdigkeit soll, wie schon von Pilatus vorgesehen (vv. 501-503), die Aussage der zwölf bieten, die von den Anklägern als Augenzeugen betrachtet werden (vv. 647-649). Im Folgenden ist jedoch nicht wichtig, was sie gesehen haben, sondern ihre Aussage, dass Nikodemus die Wahrheit gesagt habe (vv. 667-670). Diese Aussage ist mehrfach formell gerahmt. Nikodemus kündigt nämlich nicht nur an, dass die zwölf sich durch keine Drohung von der Wahrheit abbringen lassen werden (vv. 662 f.), er führt sie zuvor auch namentlich ein und fragt, ob sich die anderen die Namen gemerkt hätten (vv. 650-660). Die Namensnennung ist umso auffälliger, als in Diu urstende zahlreiche Namen aus der Vorlage weggelassen worden sind. 131 Hier scheint der Formalismus eines deutschrechtlichen Verfahrens durch: War eine bestimmte Anzahl von Zeugen namentlich angekündigt, galt das Zeugnis nur, wenn tatsächlich auch alle der Angekündigten erschienen waren. 132 Nikodemus nennt die Namen erst, als die zwölf schon 129 Die Worte des Nikodemus beziehen sich auf das Wunder des grünenden Stabes, das im apokryphen Kindheitsevangelium des Pseudo-Matthäus überliefert ist (vgl. Gärtner / Hoffmann 1989, S. 141). In der Argumentation des Nikodemus wird dieser Überlieferungstradition Wahrheitscharakter zugesprochen. 130 Nikodemus und Joseph werden ähnliche Qualitäten ( zuht , rât , lêre ) zugeordnet wie den zwölf Männern (vv. 640-642). 131 Vgl. dazu Hoffmann 2000, S. 127; 185; 188. Zu den Namensformen vgl. ebd., S. 115-117. 132 Vgl. Meyer 2009, S. 176-199 (mit Belegen aus späterer Zeit); 265. <?page no="87"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 87 da sind, und ihre Identität wird dann nicht weiter überprüft, doch wird ihr offizieller Status als Zeugen dadurch bewusst gehalten, dass erzählt wird, dass sie von Pilatus befragt werden (vv. 664 f.). Schließlich ist die Übereinstimmung ihrer Aussagen (v. 666) eine formaljuristische Bestätigung des Gesagten. 133 Dementsprechend versuchen die Ankläger auch nicht die Glaubwürdigkeit der zwölf, sondern deren Zeugnisfähigkeit zu erschüttern (vv. 702-713), wobei sie sich dann wiederum auf das Wort der zwölf verlassen (vv. 714-728). 134 In den Befragungsszenen im zweiten Teil sind die Kriterien der Glaubwürdigkeit der Person und der Authentisierung durch Augenzeugenschaft bzw. eigene Erfahrung mehrfach miteinander kombiniert. Für die Himmelfahrt, die Joseph von Arimathia nicht mit eigenen Augen gesehen hat (vv. 1479-1482), beruft er sich auf drei zuverlässige ( gewisse , v. 1484) Männer, deren Identität durch die Nennung ihrer Namen gesichert wird (vv. 1485 f.). Joseph führt weiterhin aus, dass diese Männer dabei gewesen seien 135 und dass sie nicht lögen; außerdem deutet er an, dass sie übereinstimmende Aussagen machen würden (vv. 1487-1492). Wie die zwölf in der Prozessszene äußern sich die drei daraufhin herbeigeholten Männer nicht inhaltlich zu dem, was sie gesehen haben, sondern bestätigen die Integrität Josephs und den Wahrheitsgehalt von allem, was er gesagt hat (vv. 1511-1515). 136 Sie berufen sich wiederum auf zwei weitere, durch Herkunft und Namen identifizierte Zeugen, die gewissez urchünde 137 geben könnten (vv. 1516-1523). Wie bei dem geheilten Blinden im Prozess ist die Befindlichkeit der vom Tode auferweckten Simeonsöhne ein starkes Anzeichen für ihre Glaubwürdigkeit als Erfahrungszeugen. In ihrer schriftlich niedergelegten Aussage bildet die ,leibliche Beweisung‘ jedoch nur einen Teil ihrer Legitimationsstrategie (vv. 2098-2102), sie berufen sich auch darauf, dass sie die wârheit von ihrem Vater geerbt hätten (vv. 2103-2116). 138 133 S. dazu auch u. S. 238. 134 Zum Status der zwölf zwischen Zeugen und Eideshelfern s. u. S. 245. 135 Ihr Status ( ‘die wâren dâ, dâ ez geschach / und ez manic ouge sach’ , vv. 1487 f.) ähnelt dem des Eneas (s. dazu o. S. 84). 136 Dass in der Aussage der drei auf das bereits Gesagte verwiesen wird, könnte erzählökonomische Gründe haben, da die Aussage Josephs vorher von Pilatus noch einmal paraphrasiert wurde (vv. 1498-1510). Strohschneider (2005, S. 317) sieht in der Bestätigung der Aussage Josephs durch die drei eine auf Grundprobleme der Augenzeugenschaft verweisende Tautologie, weil die Autopsie der drei wiederum nur durch die Aussage Josephs gesichert sei. Dieser „Rechtfertigungszirkel“ (vgl. Strohschneider 2014, S. 95-97) funktioniere intern zwischen Joseph und den drei Männern, weil unter ihnen ein Vertrauensverhältnis bestehe, vermöge „im Rahmen des Untersuchungsverfahrens der Hohepriester“ aber „wenig zu besagen“ (S. 97). Für Letzteres bietet der Text keine Anhaltspunkte: Die Versicherung Josephs, dass die drei nicht lügen würden (vv. 1486-1492), ist mehr als ein persönlicher Vertrauenserweis, denn er bildet mit die Voraussetzung dafür, dass man sie zur Befragung herbeiholt (vv. 1493-1496). ,Die Juden‘ nehmen das zusätzliche Beweisangebot der drei ( wir zeigen iu n o c h zwêne man , v. 1516, Hervorhebung H. M.) dann an, ohne deren Zeugnis anzuzweifeln (vv. 1545-1564). Aus juristischer Perspektive (vgl. dazu Meyer 2009, S. 146 f.) löst die summarische Bestätigung der Aussage Josephs durch die drei Josephs Beweisangebot vollständig ein; durch Hinzufügungen, wie sie die drei vornehmen, dürfte der Beweiswert der Aussage nicht tangiert worden sein (vgl. dazu Meyer ebd., S. 142 f. [in Bezug auf das Freiberger Stadtrecht von 1300]). Im juristischen Diskurs erscheinen außerdem die Aspekte der „Wahrheit des Zeugnisses“ (auf der Grundlage sinnlich begründeter Augenzeugenschaft) und der „Glaubwürdigkeit des Zeugen“, die Strohschneider (ebd.) streng systematisch trennt, eng verflochten (s. dazu u. S. 238-240; zum engen Zusammenhang zwischen der Wahrheit der Rede und der Wahrhaftigkeit des Sprechers vgl. auch Strohschneider 2005, S. 317, Anm. 25). 137 „ dasjenige, wodurch die wahrheit einer sache kund gethan wird; kennzeichen, zeugnis“ (BMZ, s. v.), auch ,Beweis‘ (vgl. L exer ; WMU, s. v.). Zu urkünde als mündlicher Nachricht vgl. Kellner 1997, S. 164. 138 Vgl. dazu Strohschneider 2005, S. 326. Zum „heilsgeschichtlichen Inversions-, also Korrespondenzzusammenhang“ zwischen Vater und Söhnen, die jeweils die Messianität Christi bezeugen, vgl. Strohschneider 2014, S. 98. <?page no="88"?> 88 3 Variationen der Rechtsthematik Bei Carinus und Leucius kommt nicht nur zusammen, dass sie integre Persönlichkeiten sind und dass sie aufgrund eigener Erfahrungen aussagen; ihr Bericht gewinnt zusätzliche Autorität auch dadurch, dass er im Tempel, einem für ,die Juden‘ hoheitlichen Ort, in deren Beisein (vv. 1683-1685) niedergeschrieben wird und Zweifel an der wahrheitsgemäßen Übermittlung durch einen Boten so ausgeschlossen sind (vv. 1545-1561). Das Wunder, dass die Schriftstücke bis auf Punkt und Komma übereinstimmen und daher keinen Zweifel an der wârheit des jeweils anderen lassen, 139 ist auch für die skeptischen Oberen ,der Juden‘ so überzeugend, 140 dass es bei der anschließenden Beratung nicht um den Wahrheitsgehalt des Gesagten geht, sondern nur darum, wie die schînigiu wârheit durch Lügen verborgen werden kann (vv. 2126-2131). Der Sache nach wird hier wieder das von dem heidnischen Zeugen zu Beginn des Prozesses formulierte Problem angesprochen, dass ,die Juden‘ nicht die Wahrheit sagen wollen (vv. 339-342), doch deuten schon Unterschiede in der Formulierung an den beiden Stellen 141 darauf hin, dass die schînigiu wârheit eine Größe ist, die den bloßen Ablauf äußerer Geschehnisse übersteigt. Vielmehr scheint es sich um die Offenbarungswahrheit zu handeln (wie sie vom Erzähler in v. 1113 schon angekündigt worden war). Dafür spricht auch die Art, wie die Berufung der Simeonsöhne auf ihren Vater angelegt ist: Zunächst führen sie seine Rechtschaffenheit und sein Alter als Autoritätssignale an (vv. 2106 f.), dann jedoch, dass er bei der Darbringung Jesu im Tempel vom Heiligen Geist die Weisheit empfangen habe, die ihn bewegte, einen Lobgesang (vgl. Lc 2,29) anzustimmen (vv. 2108-2116). Wenn seine Söhne sich darauf berufen, dass sie die wârheit ererbt hätten, so dürfte sich das sowohl auf die moralische Kategorie des Nicht-Lügens beziehen als auch auf das Erkennen und die Weitergabe der Offenbarungswahrheit. Tatsächlich sind sie dem Handlungsverlauf nach von Nikodemus dazu aufgefordert zu sagen, wer sie dem Tode entrissen habe (vv. 1650-1658), darüber hinaus aber (v. 1659), ob es sich bei Jesus von Nazareth um Christus handele (vv. 1660-1667). 142 Ein entsprechender Zweischritt ist auch in der Aussage Josephs zu beobachten, der seinen Befreier erst als Jesus identifiziert, den ,die Juden‘ gefangen genommen hätten (vv. 1464-1466), bevor er von dessen Auferstehung und Himmelfahrt berichtet (vv. 1467-1469) und ihn als zukünftigen Weltenrichter charakterisiert (vv. 1470 f.). Die Differenzierungen machen deutlich, dass die faktische Ebene des Geschehens erst noch mit der heilsgeschichtlichen Wahrheit verknüpft werden muss. Zwar sind die Geschehnisse Zeichen für die Offenbarungswahrheit, aber eine alternative Interpretation des Faktenbefundes wäre möglich, etwa, dass es zwar Jesus war, der Joseph befreit hat, dass ihm das aber aufgrund teuflischer Kräfte möglich war. Dieser Vorwurf wird so im Text nicht formuliert; als jedoch ,die Juden‘ das Gefängnis Josephs leer vorfinden, ist ihr Erklärungsmuster für das wunder (v. 1031) - ebenso wie für 139 Zum Schriftwunder vgl. Strohschneider (2005, bes. S. 323-326; 2014, S. 103-106), der zu Recht darauf hinweist, dass der Wahrheitsanspruch des Berichts der Simeonsöhne vor allem an diesem Wunder festzumachen sei, weil Transzendentes in der Immanenz fassbar werde. Die juristischen Verfahren der Wahrheitsfindung sind dadurch aber nicht entwertet, da das Prinzip der Zeugenschaft nicht aufgegeben ist, sondern sich nur die Autorisierung der Zeugen ins Transzendente verlagert (s. dazu u. S. 251 f.). 140 Auch wenn sie nicht explizit genannt ist, dürfte hier die alttestamentarische Regelung, dass zwei (oder mehr) Zeugen nötig seien, im Hintergrund stehen. 141 der wârheit […] jehen (v. 340) vs. si trahten und rieten wie / diu schînigiu wârheit / mit lügen würde hin geleit (vv. 2128-2130). 142 Vgl. dazu Strohschneider 2005, S. 320; 2014, S. 99 f. <?page no="89"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 89 das leere Grab -, dass das auf Zauberei der Christen zurückzuführen sei (vv. 1031-1039). 143 Dementsprechend stehen bei den Befragungsszenen im zweiten Teil von Diu urstende nicht die ohnehin evidenten äußeren Fakten im Mittelpunkt, sondern deren Interpretation. So dürfte auch zu erklären sein, dass der Beglaubigungsaufwand für die Zeugen sich immer mehr steigert; denn wenn ein Augenzeuge auch Erklärungen liefern soll, ist dessen Person umso wichtiger. 144 Demgegenüber geht es im Prozess vor Pilatus im Wesentlichen um eine Faktenwahrheit. Das grundsätzliche epistemologische Problem, dass Handlungen oder Abläufe von Geschehnissen keinen Rückschluss darauf zulassen, wie sie motiviert sind, wird in Diu urstende (in Übereinstimmung mit der Vorlage) jedoch schon bei der Schilderung des Fahnenwunders vor Augen geführt und exemplarisch gelöst: Der Erzähler gibt sofort die Interpretation, dass sich die Fahnen ohne Zutun der Träger verneigen, um den Schöpfer zu ehren (vv. 279-283). Dass eine alternative Interpretation der Zeichen möglich ist, zeigt der Vorwurf ,der Juden‘, die das Senken der Fahnen auf eine absichtsvolle Handlung ( schult ) der Träger zurückführen (vv. 284-287). 145 Diese Interpretation kann durch das von den Trägern zu ihrer Verteidigung vorgeschlagene Experiment 146 ausgeschlossen werden, dass sie als Fahnenträger gegen Jesus nicht wohlgesonnene Personen ausgetauscht werden (vv. 289-298). Die Träger wollen ausdrücklich sichtbar machen (v. 298), dass sie nicht intentional gehandelt haben. 147 Durch die Wiederholung des Phänomens wird unzweifelhaft erwiesen, dass es die Fahnen selbst sind, die sich vor Jesus verneigen, jedoch bringen ,die Juden‘ wiederum eine konkurrierende Interpretation vor, nämlich dass Jesus Zauberei angewandt habe (vv. 299-312). Beim Auferstehungsgeschehen sind die epistemologischen Probleme zugespitzt, da eine Wiederholbarkeit - so wie beim Fahnenwunder - nicht gegeben ist. Eine Schlüsselstelle für die Wahrheitsproblematik im zweiten Teil von Diu urstende bildet die Wächterszene, in der die Auferstehung erstmalig diskutiert wird. Für alle evident ist, dass das Grab Jesu leer 143 Bei der Befreiung Josephs von Arimathia müssen auf jeden Fall übernatürliche Kräfte irgendwelcher Art am Werk gewesen sein, weil das Siegel an der Tür seines Gefängnisses (vv. 886 f.) unversehrt ist (vv. 1003 f.; 1028 f.). Zum Problem der Glaubwürdigkeit göttlicher Wunder und ihrer phänomenologischen Ähnlichkeit zur Zauberei vgl. Köbele 2012, S. 383. 144 In diesem Sinne argumentieren auch die Auferstehungszeugen, wenn sie ,den Juden‘ sagen, Leucius und Carinus seien vollkommen zuverlässig in ihren Aussagen und deshalb sollten sie deren Bekundungen für die wârheit hân (vv. 1542-1544). Zum Problem der Authentifizierung von Zeugenrede „unter […] Bedingungen transzendenter Abwesenheit“ vgl. Strohschneider 2005, S. 318 (Zitat); 2014, S. 97. 145 Dass Zeichen trügerisch sein können, wird im Text auch im Hinblick auf den Verrat des Judas erörtert, der den Friedenskuss zweckentfremdet (vv. 149-170). Bei der Josephsepisode wird jedoch auf Figurenebene damit argumentiert, dass Verhaltensweisen und Gesten Aufschluss über Intentionen geben können, denn zunächst werden die Boten instruiert, wie sie Josephs mögliche Verhaltensweisen zu deuten haben (vv. 1240-1252), und dann wird versucht, durch Weinen, Niederknien und Küssen die Authentizität der respektvollen Annäherung an Joseph zu garantieren (vv. 1375-1380). Auch wenn die Lösungen unterschiedlich ausfallen, ist erkennbar, dass über das Problem, ob das Verhalten einer Person Rückschlüsse auf deren wahre Intentionen zulässt, reflektiert wird. 146 Hier ist im Ansatz eine Wiederholbarkeit gegeben, die Strohschneider (2005, S. 317) erst durch das naturwissenschaftliche Experiment verwirklicht sieht. 147 Das Experiment ist hier deutlicher auf die Träger bezogen als im Nikodemusevangelium (cap. I 5 f.), wo Pilatus den Austausch der Träger anordnet. <?page no="90"?> 90 3 Variationen der Rechtsthematik ist, doch wie ist dieser Befund zu erklären (vv. 894-896)? 148 Die Wächter lehnen die ihnen Mitschuld zuweisende (vv. 906 f.) Hypothese ab, dass der Leichnam gestohlen worden sei (v. 899); 149 es seien Engel gekommen, und dann seien sie von einem hellen Licht so geblendet gewesen, dass sie angstvoll wie tot dagelegen hätten (vv. 908-915). Für die Wächter ist die einzig wahre Interpretation dieses Vorgangs, dass Jesus auferstanden ist (vv. 916-920). ,Die Juden‘ unterstellen den Wächtern deshalb Einfältigkeit (vv. 921-923) - so wie sie Nikodemus als irregeleitet klassifiziert hatten -, die Wächter beteuern jedoch, dass sie die Wahrheit sagen, und geben einen mündlichen Beweis ( wortzeichen , v. 925), 150 dass nämlich kein Mensch außer ‚armen‘ Frauen und zwei unbewaffneten Männern gekommen sei, die das Grab schon leer gefunden hätten (vv. 924-940). 151 ,Die Juden‘ argumentieren daraufhin mit mangelnder Wahrscheinlichkeit: ‘Ez ist ungelouplîch, der wârheit niender gelîch, daz immer mensche erstê dar an der tôt sîn reht begê. […] ’ (vv. 951-954) Dem Analogie-Argument der Wächter, dass jemand, der in der Lage gewesen sei, Lazarus aufzuwecken, sich doch vom Tod befreien könnte (vv. 974-982), haben ,die Juden‘ jedoch inhaltlich nichts entgegenzusetzen, sondern erneuern das Angebot von Bestechungsgeld, das die Wächter veranlassen soll, in ihrem Sinne auszusagen (vv. 983-987; vgl. vv. 955-966). In der Wächterszene wird das einzige Mal im Text Plausibilität zum Wahrheitskriterium. 152 Ob es aber nun rationale Argumente 153 sind oder die durch bestimmte Mechanismen abgesicherte Vertrauenswürdigkeit von Zeugen, immer wieder wird deutlich, dass die Prinzipien der Wahrheitsfindung nicht zur Debatte stehen und ,die Juden‘ aufgrund dieser Prinzipien schließlich den Wahrheitsgehalt des Gesagten zugeben müssen, selbst wenn es um die Offenbarungswahrheit geht. Insofern trifft der vom Erzähler referierte biblische Vorwurf der Blindheit und Taubheit ‚der Juden‘ (vv. 1075-1081) 154 den Kern des von ihm Erzählten nur, wenn man ihn so versteht, dass ,den Juden‘ das volle Verständnis des Wahrgenommenen fehlt. Tatsächlich spezifiziert der Erzähler den Vorwurf dahingehend, dass sie die Wahrheit gesehen, aber nicht eingestanden bzw. das Gehörte ins herze hätten vordringen lassen (vv. 1082-1090). Sein Hauptvorwurf lautet aber, dass sie nach nichts anderem 148 Vgl. zu dieser Stelle auch Strohschneider (2005, S. 318 [Zitat]; 2014, S. 97), der auf die begrenzte Aussagekraft „faktischer Gegebenheiten“ insbesondere unter „Bedingungen transzendenter Abwesenheit“ verweist. 149 Auch bei der Interpretation der zeichen nach Jesu Tod, die Pilatus als Beweis der Unschuld Jesu deutet, hatten ,die Juden‘ mit dem Verweis auf eine Sonnenfinsternis eine rationalistische Erklärung vorgebracht (vv. 765-805). 150 Zum Bedeutungsspektrum von wortzeichen vgl. den Überblick bei Kellner 1997, S. 161-168. 151 Dass die Jünger nicht als solche identifiziert werden, ist für den wissenden Leser ein Signal, dass die Aussage der Wächter auf dem von ihnen selbst Wahrgenommenen und ihrem Kenntnisstand beruht. 152 Dass nur die wîsen (v. 1574) das Zeugnis der Simeonsöhne hören sollen, könnte so zu interpretieren sein, dass eine intellektuelle Evaluation des Gehörten für nötig befunden wird. Im Handlungsverlauf wird dann aber nur der strategische Umgang der wîsen mit der Wahrheit relevant (vv. 2126-2148). 153 Zum Kriterium der ,Rationalität‘ von Beweisverfahren s. u. S. 234 f. 154 Vgl. dazu Gärtner / Hoffmann 1989, S. 144. <?page no="91"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 91 strebten, als die wârheit mit schlimmen Lügen zu ,verhindern‘ ( verlegen ) 155 (vv. 1091-1098). Wie zum Beweis des Gesagten endet der Bericht im Text damit, dass die Hohepriester ein Zeugnis ,verhindern‘ bzw. es den tumben vor dem Tempel (v. 1575) vorenthalten wollen, indem sie nach der Befragung der Simeonsöhne verkünden, es sei alles ein Versuch der Christen gewesen, sie mit Zauberei in die Irre zu führen (vv. 2128-2148). 156 Wenn man, mit Blick auf den gesamten Text, das Verhältnis zwischen Wahrheitsfindung und Rechtsthematik bestimmen will, so fällt auf, dass die Konzentration auf die Wahrheit der äußeren Fakten in der Erzählung vom Prozess nicht bedeutet, dass mit den dort eingeführten Techniken der Zeugenbefragung und Legitimierung nur eine Annäherung an diese Art von Wahrheit gesucht würde, denn auch der Teil des Textes, der das Auferstehungswunder in den Mittelpunkt stellt, ist von juristischen Frage- und Argumentationstechniken bestimmt. Abzulesen ist das auch an der Verwendung eines entsprechenden Vokabulars ( wortzeichen , verlegen ). Dass die heilsgeschichtliche Wahrheit erst bei den Befragungen durch ,die Juden‘ in den Mittelpunkt rückt, hat vielmehr mit der Dramaturgie des Textes zu tun. Sie steuert darauf zu, dass ,die Juden‘ die Wahrheit anerkennen müssen. Zwar bedarf der ,Beweis‘ der Heilswahrheit göttlicher Unterstützung, doch geben sich ,die Juden‘ letztlich geschlagen, weil die Schriftstücke identisch sind, weil also die Wahrhaftigkeit der Aussagen der Simeonsöhne nach irdischen Kriterien authentifiziert ist. 157 Eine Distanzierung von diesem Wahrheitskriterium lässt der Text nicht erkennen, 158 sodass effektvoll die Wirksamkeit juristisch anmutender Techniken zur Wahrheitsfindung inszeniert wird. 3.2.4 reht und ê Die Rechtsordnung, die Pilatus vertritt, ist als eine inklusive Ordnung gedacht: Juden und Heiden sind gleichermaßen dingpflichtig (vv. 332-335); sie werden als bei der Gerichtsverhandlung Anwesende aufgeführt, ebenso ,Eigene‘ und ,Freie‘ (vv. 538 f.). 159 ‚Die Juden‘ scheinen diese Rechtsordnung anzuerkennen, denn es ist ihnen wichtig, dass sie Jesu Tod vor Gericht erwirken (vv. 126-128). 160 Die Frage, inwieweit die jüdische Gerichtsbarkeit für die ,Vergehen‘ Jesu zuständig sein könnte, wird in Diu urstende vollständig ausgespart, 155 Das Wort begegnet oft in rechtlichen Kontexten, in denen es um das Verhindern eines Zeugenbeweises geht (vgl. L exer ; WMU, s. v.). 156 Es bleibt offen, ob sie sich dabei nur auf die Aussage der Simeonsöhne oder auch auf die vorangegangenen Geschehnisse beziehen. Der Handlungslogik nach müssen aber alle wunderbaren Geschehnisse nach Jesu Tod gemeint sein. 157 Das von Strohschneider (2005, S. 318) hervorgehobene Problem, dass bei der „diesseitigen Rede über Transzendentes“ juristische Verfahren der Authentifizierung grundsätzlich versagten, ist durch die , Jenseitigkeit‘ der Rede der Simeonsöhne aufgehoben (vgl. Strohschneider ebd., S. 318-322; 2014, S. 97-102). Damit wird jedoch auch das Verfahren der Authentifizierung wieder funktionsfähig (s. dazu auch u. S. 251 f.). 158 Ein Abqualifizieren des von ,den Juden‘ praktizierten Verfahrens wäre auch deshalb kontraproduktiv, weil die Identität der Schriftstücke integraler Bestandteil des Wunders ist, das auch dazu dient, dem Descensus -Bericht für die Rezipienten Geltung zu verleihen (vgl. dazu Strohschneider 2005, S. 322; 2014, S. 102). 159 An dieser Stelle werden nochmals juden unde heiden (v. 539) genannt. Dass Unfreie am ,Ding‘ partizipierten, ist für Dingversammlungen in Grundherrschaften schon für das 9. und 10. Jahrhundert belegt (vgl. Weitzel 1985, S. 716-723; Holenstein 1991, S. 189). 160 Vgl. auch die Forderung am Ende der großen Anklagerede: ‘ […] dar umbe muoz er den lîp / mit rehter urteil verliesen, / den tôt mit schanden chiesen . ’ (vv. 422-424). <?page no="92"?> 92 3 Variationen der Rechtsthematik obwohl sie in den kanonischen Evangelien (Io 18,31) wie auch im Nikodemusevangelium (cap. III 1) präsent ist. 161 Da auch der Versuch des Pilatus, das Verfahren an Herodes abzugeben, nicht in Diu urstende aufgenommen ist, erfolgt so eine Zuspitzung auf Pilatus als einzigen Richter, die dessen (Fehl-)verhalten besonderes Gewicht verleiht. Dass die Juden jedoch eine eigene Rechtsordnung besitzen, wird an zahlreichen Stellen des Textes zur Sprache gebracht. Gleich zu Beginn des Textes wird Kaiphas als Hüter der ê eingeführt, eine Aufgabe, die mit seinem geistlichen Amt verbunden ist, das der Erzähler aus christlicher Sicht als Bischofsamt bezeichnet (vv. 93-97). 162 Im Folgenden begegnet das Wort ê ausschließlich in der wörtlichen Rede jüdischer Figuren. Als ,die Juden‘ Pilatus bitten, Gericht zu halten, lautet ihr erster Vorwurf gegen Jesus, er habe ihnen reht und ê verdreht und ihnen Irrlehren verkündet (vv. 267-270). Im Prozess selbst wird der Vorwurf in modifizierter Form wiederholt: Jesus schwäche ohne den gebotenen Respekt ( unervorht ) unser ê und ir gebot (vv. 396 f.). Auch die Missachtung der Sabbatruhe wird als Angriff auf die ê ausgelegt (vv. 522-528). An dieser Stelle scheint die Kultgesetzgebung des Alten Testaments gemeint zu sein, und auch an den anderen Textstellen bezieht sich das Wort ê auf das Alte Testament, einmal ganz deutlich auf die Bücher Mose. 163 Die ê scheint jedoch nicht völlig identisch mit der ,Schrift‘ zu sein, wie der Vorwurf, Jesus sinne darauf, unser ê und unser schrift zu verhöhnen (vv. 629-632), nahelegt. Aber allzu feine semantische Differenzierungen wird man nicht vornehmen können, da die und-Verbindungen nicht unbedingt zwei kategorial unterschiedliche Dinge miteinander kombinieren, sondern eher dazu dienen, mit der ê verbundene Aspekte ( reht , gebot , schrift ) 164 hervorzuheben. 165 Das Possessivpronomen ,unser‘ an den genannten Textstellen zeigt schon an, dass die ê als wichtiges Bindeelement für die jüdische Gruppenidentität angesehen wird. 166 Dementsprechend wird die Auseinandersetzung zwischen den ,Christen‘ (vgl. z. B. vv. 1037; 2135) und ,den Juden‘ an der ê festgemacht: ,Die Juden‘ wollen sie retten (v. 1048), auch um sich selbst zu retten (v. 1045); und die ,Christen‘ verkünden ihre Lehre ausgerechnet dort, wo ,die Juden‘ Ratsversammlungen abhalten oder zu Gericht sitzen (vv. 1199-1207). 167 Für die Prozesshandlung ist entscheidend, dass Pilatus zwar aufgrund der ersten Vorwürfe an Jesus, die sich auf seinen Umgang mit der ê beziehen, das Verfahren eröffnet, dass er aber prinzipiell nur moralische Maßstäbe für eine Verurteilung gelten lassen will. Ver- 161 Aus den Worten des Nikodemus wird deutlich, dass er die Gerichtsbarkeit grundsätzlich als zu den Aufgaben jüdischer Würdenträger gehörend ansieht (vv. 469-471). 162 Der Sache nach fungiert Kaiphas also im Wortsinn als êwart , auch wenn er nicht so tituliert wird. In einer Äußerung von Nikodemus werden später bischofe neben êwarten genannt (v. 469). 163 ‘und diu buoch von der ê / diu wir haben von Moysê’ (vv. 1549 f.). 164 Die schrift kann im Mund ‚der Juden‘ jedenfalls auch das Alte Testament meinen (v. 623). Der Erzähler beruft sich mehrfach auf die schrift , wenn es um das Neue Testament geht (vgl. z. B. vv. 428; 765). 165 Zum Bedeutungsspektrum von ê insgesamt s. o. S. 46. 166 Nikodemus und Joseph wird jeweils vorgeworfen, sich von der Gruppe abgekehrt und deren Ansehen gemindert zu haben: Bei Nikodemus ist von einem Treuebruch die Rede (vv. 484-486), bei Joseph davon, dass er ,seine‘ ( iuwer ) ê ins Unrechte verkehrt und uns alle wegen Jesus verlurt habe (vv. 1011 f.). 167 Dass ,die Christen‘ ,die Juden‘ dort unter deren Augen strâfen (v. 1207), ist wohl so zu verstehen, dass sie die Lehre ,der Juden‘ nicht gelten lassen und zugleich die Vertreter dieser Lehre tadeln (so auch v. 451; zum Bedeutungsspektrum von strâfen vgl. BMZ; L exer , s. v.). Nach Gärtner / Hoffmann (1989, S. 145) bezieht sich die Textstelle auf Act 3-5. Während nach der Apostelgeschichte die Apostel von den Hohepriestern befragt werden, suchen ,die Christen‘ nach der in Diu urstende angegebenen Konstellation provokativ die Nähe zu den jüdischen Gremien. Kompositorisch mündet diese Engführung darin, dass mit dem Zeugnis der Simeonsöhne sich die neue, christliche Ordnung im jüdischen Tempel durchsetzt (vgl. dazu Strohschneider 2014, S. 107). <?page no="93"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 93 urteilen soll das Gericht nach den Worten des Pilatus nur jemanden, der Böses tut, was er bei dem heilenden Jesus nicht gegeben sieht (vv. 510-519). Im Text wird eine Reaktion des Pilatus auf den späteren Vorwurf ,der Juden‘, Jesus habe durch die Heilung des Blinden an einem Sabbat Kultgesetze gebrochen (vv. 620-628), nicht geschildert, aber für den Rezipienten wird gerade durch den Gegensatz zur grundsätzlich moralischen Betrachtungsweise des Pilatus das Klischee der auf dem Buchstaben des Gesetzes beharrenden Juden vermittelt. 168 Woher Pilatus seine Gerichtsgewalt hat, wird in Diu urstende nicht thematisiert. Allerdings drohen ,die Juden‘ Pilatus, falls er ihnen nicht nachgibt, (wie in den Vorlagetexten) mit dem Kaiser (vv. 313-318), sodass eine übergeordnete Instanz erkennbar wird. Vor diesem Hintergrund könnten die Fahnen, die Pilatus nâch sînem rehte (v. 274) vor sich her tragen lässt, auf den ihm verliehenen Gerichtsbann bezogen worden sein. 169 Wenn es heißt, dass Pilatus nâch sînem rehte (v. 274) Fahnen mit sich führt, so ist damit sein subjektives Recht bezeichnet. 170 In einem subjektiven Sinn wird in Figurenreden auch dem Tod sîn reht (v. 954; des tôdes reht , v. 1650) zugestanden. Handelt es sich dabei um eine bildhafte Sprechweise, oder wird hier das Sterben des Menschen in einen größeren rechtlichen Zusammenhang gestellt? Die damals weit verbreitete Vorstellung, dass der Teufel sich mit dem Sündenfall ein Recht auf die Menschheit erworben habe, 171 wird in Diu urstende nicht explizit formuliert. Wenn das Höllenvolk den Teufel warnt, auf ewig die Herrschaft ( des gewaltes , v. 1796) zu verlieren , geht daraus nicht hervor, ob die Herrschaft rechtmäßig erworben wurde. Allerdings setzt das Argument, der Teufel könne von Jesus, von dessen menschlicher Natur der Teufel überzeugt ist (vv. 1769-1787), betrogen worden sein (vv. 1788-1793), voraus, dass ein solcher Betrug notwendig ist, der Teufel also ein Recht auf die Menschheit hat. 172 Deshalb wird man die Aussage der Simeonsöhne, dass Jesus für die Seelen in der Vorhölle die Pfänder ausgelöst habe ( er lôste uns elliu unsriu phant , v. 2051), auch als Hinweis auf einen umfassenderen rechtlichen Rahmen der Heilsgeschichte deuten dürfen. Die rechtliche Auffassung der Heilsgeschichte ist für die Erzählung von der Höllenfahrt jedoch nicht prägend, sondern nur punktuell über Rechtswörter fassbar. So ist in der Rede Johannes des Täufers, die die Simeonsöhne wiedergeben, vom ,Folgen eines Urteils‘ die 168 Vgl. zu diesem Klischee z. B. Niesner 2005, S. 279-286. Zu Parallelen für weitere judenfeindliche Klischees, die in Diu urstende Verwendung gefunden haben (z. B. das der Verstocktheit), vgl. Hoffmann 2000, S. 190-197. 169 Indirekt könnte das Konzept des Fahnlehens also doch eine Rolle gespielt haben (s. dazu o. S. 76, Anm. 75). Auf jeden Fall ist Pilatus seinerseits in der Lage, einen Teil seiner Kompetenzen (vgl. dazu Bruckauf 1907, S. 43), nämlich gewalt (im Sinne von Verfügungsgewalt) über Jesus, an ,die Juden‘ weiterzugeben (v. 841). Eine göttliche Bevollmächtigung des Pilatus kommt in Diu urstende nicht zur Sprache, weil der entsprechende Dialog zwischen Pilatus und Jesus (Io 19,10 f.) nicht aufgenommen ist (vgl. aber vv. 1133 f. [die Jünger bekommen gewalt , Wunder zu tun]; vv. 1669-1674 [die Simeonsöhne haben nicht gewalt , einen mündlichen Bericht über ihre Erlebnisse zu geben]). 170 Anders gelagert ist dagegen die Aussage des Kaiphas, sie (,die Juden‘) glaubten nicht, dass jemand auferstehen könne, dem sîn reht so wie ihm ( Jesus) geschehe. Gemeint ist hier, dass Jesus, so wie es ihm zukam, rechtmäßig hingerichtet wurde (vv. 1504-1510). 171 Zu dem (bes. nach der Kritik Anselms von Canterbury) theologisch umstrittenen, aber literarisch sehr produktiven Konzept vgl. Ashley 1982; Marx 1995, S. 7-27; McGrath 2005, S. 82 f. 172 Zum Betrugsmotiv vgl. Hoffmann 2000, S. 64 f.; 166 f.; Ukena-Best 2012, S. 318; grundsätzlich Ashley 1982. <?page no="94"?> 94 3 Variationen der Rechtsthematik Rede, womit in rechtlichen Kontexten häufig die Zustimmung zu einem Ersturteil bezeichnet wird: 173 ‘ […] und wizzet daz er [sc. Jesus] iuch hie holt mit gewalt in churzer zît. unz unser vîent gelît in sînem pfuole gesolget, der urteil ist gevolget die der wîssage über in gap. er sprach: ‘er muoz in sîn grap vallen dâ er ez bereitet hât; sîn grap im selben offen stât.’ (vv. 1836-1844) Johannes zitiert hier Psalm 7,15 f., wonach der, der Böses im Sinn hat, zu Fall kommen wird. Nach dem Kontext des Psalms (7,12-14) ist das als Strafe Gottes zu verstehen, der ein gerechter Richter ist. In der Rede des Johannes ist dagegen die Aussage des Psalmisten zu einem urteil umgedeutet worden, wobei er als wîssage wohl als Sprachrohr Gottes gelten darf. Dass die Konsequenzen des eigenen Handelns einen einholen werden, wird auch im Hinblick auf die Menschen formuliert, und zwar von Joseph, wenn er ankündigt, dass Jesus gewaltic an gerihte wiederkehren wird (vv. 1470-1478). Alle, die Gottes Namen auf Erden verleugnet ( verlougent , v. 1475) hätten, müssten sich der phlihte schämen; sie stünden dann zur Linken Gottes. Die Bedeutung von phlihte an dieser Stelle ist schwer zu bestimmen. Angesichts des Bedeutungsspektrums von phlihte 174 scheint es nicht das Negativum zu bezeichnen, das den Grund der Scham bildet, sondern die Sache, in Bezug auf die sich geschämt wird, wahrscheinlich die (nicht erfüllte) Pflicht Gott gegenüber, die Wahrheit zu sagen. 175 Sowohl inhaltlich als auch über das Wort phlihte wird ein rechtlicher Kontext aufgerufen, der anklingen lässt, dass es Wertmaßstäbe gibt, die für Gerichtsverfahren auf Erden wie auch für das Jüngste Gericht gelten. Die prekäre Situation, dass mit Jesus zugleich die Verkörperung göttlicher Gerechtigkeit vor einem Gericht steht, wird in Diu urstende nicht thematisiert. Zwar veranlassen die Wunderzeichen nach seinem Tod die arbeitende Bevölkerung Jerusalems 176 zu dem Ausspruch ‘hic homo iustus erat’ (v. 783), den der Erzähler mit ‘dirre mensche was reht’ (v. 173 Zu volgen im Sinne von „ rechtl. beistimmen “ vgl. L exer , s. v. Zum Prozedere beim Folgen des Urteils vgl. von Planck 1879, Bd. 1, S. 262-268. 174 Vgl. insbesondere Bedeutung I im DRW, s. v.: „Rechtspflicht, Verpflichtung, Schuldigkeit, die auf unterschiedlichen Rechtsgründen beruhen kann“. 175 Von einer Verpflichtung gegenüber Gott ist in Diu urstende auch im Hinblick auf die Taufe die Rede: Nachdem der Erzähler bei der Einführung des Nikodemus (in Anlehnung an Io 3,1-21) zunächst Jesu Worte, dass die Taufe Wiedergeburt bedeute, in indirekter Rede referiert hat (vv. 432-435), folgt eine direkte Rede: ‘swer die geburt niht hât verchorn / und hât ôt zuo der phliht, / der enchumt ze gotes rîche niht , / des nieman teil n ümftic wirt / wan er, den anderstunt gebirt / wa zz er und der heilige geist. […] ’ (vv. 436-441). Für den in v. 437 offensichtlich verderbten Text hat es verschiedene Besserungsversuche gegeben (vgl. Fechter 1977, S. 87 f.; Gärtner / Hoffmann 1989, S. 141, jeweils auch zu den Varianten in den Weltchronik -Handschriften); hât ôt ist aus habet in V konjiziert. Wenn man der V-Lesart zuo der phliht folgt, scheint mit der die Wiedergeburt durch die Geisttaufe gemeint zu sein. 176 Der Text schildert detailrealistisch, sie hätten während der Kreuzigung noch auf den Feldern gearbeitet (vv. 778 f.) und seien dann in die Stadt gegangen (v. 784). <?page no="95"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 95 785) übersetzt, 177 doch geht es an dieser Stelle nicht um die göttliche Gerechtigkeit, sondern darum, dass mit Jesus ein rechtschaffener Mensch unschuldig hingerichtet worden ist. 3.2.5 Interdependenz von Zeugenschaft und Heilswahrheit Wie die Textanalyse gezeigt hat, ist die Rechtsthematik in Diu urstende eng mit dem Komplex der Wahrheitsfindung verknüpft. Dabei stehen die juristischen Fragetechniken gleichsam im Dienst der Wahrheit und dienen mit dazu, die Messianität Christi zu erweisen, die sich im Schriftwunder manifestiert. 178 Darin erschöpft sich aber die Funktion der Rechtsmotivik noch nicht, denn es ist ein Bemühen zu beobachten, dass ein positives Bild der Institution ,Gericht‘ vermittelt werden soll - angesichts des Stoffs ein bemerkenswertes Unterfangen. Besonders deutlich wird dieses Bemühen bei der Rede des Pilatus. 179 Zwar ist es im Nikodemusevangelium (cap. IX 2 [7,2 (G / I)]) durchaus angelegt, dass Pilatus ,die Juden‘ schilt; doch dass er skizziert, wie es idealerweise vor Gericht zugehen sollte, ist spezifisch für Diu urstende . 180 Diese Ausgestaltung ist umso auffälliger, als sie den Umschwung im Vorgehen des Pilatus am Ende des Prozesses noch erklärungsbedürftiger werden lässt. Auch dann erweist sich aber nicht das Gerichtsverfahren als ungerecht, sondern nur der Richter als fehlbar, sodass die Autorität des Gerichts nicht in Zweifel gezogen wird. Die didaktische Rede des Pilatus fügt sich ein in andere Erzählstrategien, mit denen moralische Maßstäbe für den Umgang mit der Wahrheit vermittelt werden. Wenn zum Beispiel der Mann, der offenlîche für Jesus aussagt, neben diejenigen gestellt wird, die sich der phlihte entziehen wollen, wird eine Wertung des Verhaltens vorgenommen. Die Verpflichtung, an der Wahrheitsfindung mitzuwirken und offen für die Wahrheit einzutreten, wird zunächst einmal im Kontext des weltlichen Prozesses thematisiert. Der größere und bedeutsamere Kontext wird in den Worten Josephs deutlich, der für diejenigen, die Gottes Namen wissentlich verleugnet haben, negative Konsequenzen beim Jüngsten Gericht ankündigt (vv. 1470-1478). Aus dem Textverlauf ergibt sich, dass die Oberen ,der Juden‘ zu dieser Gruppe zu zählen sind, denn sie verdrehen wider besseres Wissen diu mære (vv. 2132-2148). Aber am Beispiel von Petrus, dessen martialisches Eintreten für Jesus bei dessen Gefangennahme und seine spätere Beteuerung, Jesus nicht zu kennen, ausführlich berichtet werden (vv. 190-236), war gleich zu Beginn der Erzählung demonstriert worden, dass auch Anhänger Jesu der Gefahr des Verleugnens ausgesetzt sind. Die hier parallel gesetzten Fälle des Verleugnens liegen zwar auf unterschiedlichen Ebenen, aber die Rechtsmotive scheinen dazu genutzt zu werden, Problemkomplexe explizit zu 177 Die Worte des guten Hauptmanns (Lc 23,47) sind hier den Leuten auf dem Feld in den Mund gelegt; Centurio (v. 797) ist als Personenname aufgefasst (vgl. Hoffmann 2000, S. 142, mit Parallelen; Bieberstedt 2004, S. 445). 178 Vgl. dazu auch Hoffmann 2000, S. 187-190. 179 „Konrad von Heimesfurt lässt hier Pilatus als auffällig gerechten Richter sprechen, der genau das Gegenteil eines iudex iniustus zu verkörpern scheint“ (Mattig-Krampe 2001, S. 111). 180 Vgl. dazu auch Hoffmann (2000, S. 133), der die Vorlage (die Salzburger Handschrift [s. o. S. 74, Anm. 58] nach der Zählung von Tischendorfs, vgl. ebd., S. 122) zitiert: Hec audientes iudei comminantes et stridentes dentibus suis aduersus Nichodemum. Dicit eis Pilatus: ‘Vt quid utique dentibus fremitis aduersus eum qui loquitur ueritatem? ’ (cap. V 2; „Als die Juden das hörten, stießen sie Drohungen aus und knirschten mit ihren Zähnen gegen Nikodemus. Pilatus sagte zu ihnen: ,Warum knirscht ihr einfach so mit den Zähnen gegen den, der die Wahrheit sagt? ‘ “). Der Text befindet sich in der Salzburger Handschrift auf fol. 116r-v. <?page no="96"?> 96 3 Variationen der Rechtsthematik machen, die für die Handlung insgesamt relevant sind - das hatte sich auch für die Methoden zur Wahrheitsfindung nachweisen lassen. Innerhalb des Prozesses wird beispielsweise auch das Nicht-Verleugnen-Können zur Sprache gebracht, wenn Nikodemus den Anspruch erhebt, den Anklägern nachweisen zu können, dass sie sich geirrt haben. 181 Tatsächlich wird offenbar, dass ihre Anschuldigungen falsch waren, und die Wahrheit kommt ans Licht. Vor dem Öffentlich-Werden begangenen Unrechts und den daraus folgenden sozialen Konsequenzen fürchten sich wiederum die Wächter, weshalb sie sich zunächst weigern, Bestechungsgeld anzunehmen. 182 Dass durchaus damit zu rechnen ist, dass sich Lügen nicht aufrechterhalten lassen, war in der Prozessszene demonstriert worden. Insofern kann der Leser am Ende des Berichts auch die Gewissheit haben, dass die Lügen der Oberen ‚der Juden‘ (vv. 2128-2148) ineffektiv bleiben werden. Der Zusammenhang von Wahrheit, Zeugenschaft und Öffentlichkeit, der in Diu urstende rechtlich aufgefasst ist, steht auch in einem theologischen Kontext, der allerdings im Text über die Figur des Nikodemus nur indirekt angesprochen wird. Der Erzähler übernimmt aus dem dritten Kapitel des Johannesevangeliums , in dem Jesus zum biblischen Nikodemus spricht, nur die Passagen zur Taufe (vv. 432-443). Im Johannesevangelium sagt Jesus angesichts von dessen Unverständnis zu Nikodemus: amen amen dico tibi, quia quod scimus loquimur / et quod vidimus testamur / et testimonium nostrum non accipitis (Io 3,11; 183 „Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, das sagen wir, und, was wir gesehen haben, das bezeugen wir, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an.“). testare ist in der Vulgata gewiss nicht in einem verfahrensrechtlichen Sinn gebraucht, und es ist dort Jesus selbst, der als ,Zeuge‘ fungiert, aber in diesem Bibelvers ist das für Diu urstende zentrale (aber dort nicht auf Nikodemus zutreffende) Grundproblem formuliert, dass Zeugnisse für die Heilswahrheit nicht akzeptiert werden. Auch das Verhältnis der Menschen zur Wahrheit beschreibt Jesus in seiner Rede: omnis enim qui mala agit odit lucem / et non venit ad lucem ut non arguantur opera ejus / / qui autem facit veritatem venit ad lucem / ut manifestentur opera ejus quia in Deo sunt facta (Io 3,20 f.; „Denn jeder, der Übeltaten begeht, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit seine Taten offenbar werden, weil sie in Gott getan sind.“). Es ist das venire ad lucem , das in Diu urstende positiv beurteilt wird. Das Werk insgesamt soll ebenso dazu beitragen, dass die (heilsgeschichtliche) Wahrheit ans Licht kommt, wenn auch der metaphorische Ausdruck, dass das Prolog-Ich sein Werk ans Licht bringe ( swenne ich daz werc ze liehte trage , v. 10), nicht primär als Referenz auf die Johannes-Stelle zu verstehen ist. 184 In Diu urstende wird durch eine Betonung des rechtlichen Kontexts der Geschehnisse die Bedeutung der Wahrheitsfindung und der Akzeptanz des Erkannten exemplarisch herausgearbeitet. Die Relevanz des Erzählten für die Gegenwart wird explizit nur in Bezug auf die Judas-Figur formuliert: Nachdem der Erzähler das Verhalten des Judas als treulos ( jâ 181 ‘nûne muget ir niht verlougen , / ir habet iuch sêre überdâht’ (vv. 452 f.). Die Formel des Nicht-Verleugnen-Könnens wird auch vom Erzähler verwendet, um etwas Evidentes zu bezeichnen, wenn es heißt, dass nach dem Tod Jesu ,die Juden‘ alle die verfolgt hätten, die niht verlougen chunden / sine wæren mit Jêsû gewesen (vv. 870 f.). 182 ‘ei, wie stüende uns daz an , / swanne uns wîp unde man / an der unrede funden, / und wir niht gelou g en chunden / wirn missetæten umbe guot? ’ (vv. 967-971). 183 Hier und im Folgenden wird der Vulgata -Text nach der Ausgabe von Gryson / Weber 2007 zitiert. 184 Im Kontext des Prologs (vv. 1-18) geht es darum, dass das Werk in der Gestalt, die ihm der Verfasser gegeben hat, im Licht der Öffentlichkeit bestehen soll (vgl. dazu Becker 2015, S. 37 f.). <?page no="97"?> 3.2 Konrad von Heimesfurt, Diu urstende 97 hâstuo / der triuwen in dem herzen niht , vv. 152 f.) gekennzeichnet hat (vv. 149-158), beklagt er, dass es noch Leute gebe, deren Verhalten nicht mit ihren Intentionen übereinstimme, und sagt ihnen dasselbe Ende wie Judas voraus (vv. 159-170). Dass ausgerechnet bei Judas eine Übertragung in die Gegenwart stattfindet, dürfte mit der Tradition des Judas-Fluchs zusammenhängen. 185 Der Erzähler betrachtet auch nicht Judas selbst als Exempel, sondern sagt, dass einige ihre Falschheit von Judas gelernt hätten (vv. 159-161). Wenn ein solches Lernen im Negativen möglich ist, erscheint es denkbar, dass der Text zu entsprechenden Übertragungsprozessen bei positiven Figuren anregen will. Die aktualisierende Ausgestaltung des Prozesses macht jedenfalls das Geschehen für zeitgenössische Rezipienten nicht nur besser nachvollziehbar, vielmehr erleichtert sie auch eine Übertragbarkeit, zumal in Kombination mit den generalisierenden Ausführungen des Pilatus. Der zeitgenössische Rezipient ist ebenfalls dazu aufgerufen, seiner phlihte nachzukommen. Allerdings ist dieser didaktisierende Aspekt in Diu urstende gegenüber der darin thematischen Vermittlung des Heilsgeschehens nicht dominant. Auch für die Aufnahme des Textes in die Sammelhandschrift V scheint eher ausschlaggebend gewesen zu sein, dass er einen Abschnitt des Lebens Jesu erzählt, denn er folgt auf die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen. 186 Insgesamt sind in der, wahrscheinlich für einen Laien, planmäßig zusammengestellten Textsammlung 187 zahlreiche thematische Korrespondenzen zwischen den einzelnen Texten der Handschrift festzustellen: So lässt die Konversion ,der Juden‘ in Das Jüdel die nicht stattfindende Konversion in Diu urstende umso deutlicher hervortreten; 188 Das Anegenge ergänzt stofflich die apokryphen Texte zu Beginn der Handschrift 189 und fügt mit dem Motiv des Streites der vier Töchter Gottes 190 zugleich der Rechtsthematik weitere Aspekte hinzu. Sicherlich wäre es verfehlt, wegen der Überlieferungsgemeinschaft unbedingt Bezüge zwischen den Texten herstellen zu wollen, doch mögen die Texte der Handschrift, die auf die richtige Lebensführung bezogen sind (wie etwa Die Warnung ), die Aufmerksamkeit auf entsprechende Aspekte in den narrativen Texten gelenkt haben: Wenn in Die Warnung propagiert wird, dass es Untugenden (wie Falschheit oder Hass) gibt, die Gott und der Welt missfallen, 191 dann lässt sich diese Entsprechung - jedenfalls auf einer allgemeinen Ebene - auf Diu urstende zurückbeziehen. Dort legen Gott und die Welt im Hinblick auf die Wahrheitstreue (idealerweise) ebenfalls gleiche Maßstäbe an, wie anhand der Gerichtsthematik exemplifiziert wird. 185 Vgl. dazu Hoffmann 2000, S. 124. 186 Zum „zusammengehörigen Erzählkomplex“, den die beiden Texte bilden, vgl. Henkel 1996, S. 17. 187 Vgl. dazu Fechter 1968; Henkel 1996, S. 16; Hoffmann 2000, S. 204. Hoffmann (ebd.) ist zuzustimmen, dass angesichts der Stoßrichtung der Reimpredigten, der von Neuser (1973, S. 27) erwogene Zusammenhang mit der benediktinischen Lectio nicht anzunehmen ist. 188 Vgl. Hoffmann 2000, S. 202 f. 189 Vgl. Fechter 1968, S. 255. 190 Vgl. Ohly 1994, S. 275. 191 Vgl. Fechter 1968, S. 257. <?page no="98"?> 98 3 Variationen der Rechtsthematik 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 3.3.1 Entstehungsumfeld und Textgrundlage Für das heutige Wissen über Gundacker von Judenburg und sein Werk ist Cod. 15 225 der Österreichischen Nationalbibliothek 192 von unschätzbarer Bedeutung: Diese Handschrift überliefert als einzige einen Text nahezu vollständig, in dem sich ein Gundacker von Judenburg als Verfasser nennt. 193 Überschrieben ist der Text dort mit daz pu ͦ ch haizt Christz hort , 194 woraus der moderne Titel Christi Hort abgeleitet ist. 195 Ob diese Überschrift und die Zwischenüberschriften innerhalb des Werks auf den Verfasser oder auf eine spätere redaktionelle Bearbeitung zurückgehen, ist unklar. 196 Hinsichtlich der Datierung des Werks liefert die Handschrift einen terminus ante quem . Für sie wurde eine Entstehungszeit um 1300 diskutiert. Aufgrund paläographischer Kriterien ist aber zuletzt vermutet worden, dass der Text der Handschrift im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts eingetragen wurde. 197 Weiteren Aufschluss über die Datierung des 192 Vgl. den Eintrag im Handschriftencensus mit weiterer Literatur, für bibliographische Angaben s. auch http: / / www.ksbm.oeaw.ac.at/ lit/ l_8500_2.htm, 15. 08. 2017. Die kleinformatige Handschrift (14,5 x 11 cm) enthält folgende Texte: foll. 1r-33r: Maria Magdalena (Verslegende I nach 2 VL) / Magdalenenklage (diplomatischer Abdruck in Boxler 1996, S. 545-555); foll. 33v-195v: Gundacker von Judenburg: Christi Hort (ediert von Jaksche 1910); foll. 195v-196v: das erste der Schlussgebete aus Freidanks Bescheidenheit (vv. 180,8-181,9 in der Ausgabe von Bezzenberger 1872; vgl. http: / / www.mrfreidank. de/ 231, 15. 08. 2017). Während Jaksche (1910) dieses Gebet als zu Christi Hort gehörig erachtete, hat Leitzmann (1919, S. 544) es als Freidank-Text identifiziert, den der Schreiber als Epilog angefügt habe. Für diese These könnte die Überschrift von Got ein gût gepet sprechen. 193 Vgl. Fechter 1981; Huber 2009. Jahn (2011, Sp. 988) bezeichnet Gundacker als „Verfasser oder Redaktor“ (zur Frage der Verfasserschaft s. u. S. 107). Sämtliche Versuche, vom Verfassernamen aus Bezüge zu außerliterarischen Quellen herzustellen, müssen spekulativ bleiben (vgl. dazu Bushey 1988, S. 49 f., mit einem Überblick über die Forschungsgeschichte). 194 Soweit nicht anders angegeben, folgen die Zitate aus Christi Hort der Ausgabe von Jaksche 1910. Für eine Übersicht über Rezensionen zu dieser Ausgabe vgl. Stübinger 1922, S. 3. Textkritische Kommentare zum Ausgabentext bietet Leitzmann 1919. 195 Bei Christz handelt es sich um eine e -lose Genitivbildung (vgl. dazu PKSW § M 5,3). Dass der Schreiber z und s unterschiedslos verwendet, kommt öfter vor (vgl. Jaksche 1910, S. XV; Stübinger 1922, S. 31). Zur Konstruktion von hort mit Genitiv vgl. Bushey 1988, S. 50 mit Anm. 10 (S. 73); BMZ; L exer , s. v. Zur Deutung des Titels s. u. S. 109. 196 Vgl. Bushey 1988, S. 50; Knapp 1999, S. 344. Ein Indiz dafür, dass die Zwischenüberschriften nicht von derselben Person wie der Verstext stammen, könnte sein, dass sie e -lose Genitiv-Formen aufweisen: vgl. Christz (vor v. 1); seins (vor v. 2065); chints (vor v. 2081) vs. Christes (z. B. vv. 1369; 1372; 2088). Vielleicht hat sich der Schreiber aber auch nur bei Prosaüberschriften größere Freiheiten erlaubt. Dass die Prosa-Rubriken von derselben Hand geschrieben wurden wie der Verstext, ist besonders deutlich an der Überschrift auf fol. 34v (vgl. hie schu ͤ f er Evam. , im Ausgabentext nach v. 42), für die zunächst - wie für den umgebenden Text - braune Tinte verwendet wurde, bevor sie rot überschrieben wurde. Das hier zu erschließende Versehen des Schreibers deutet darauf hin, dass er die Zwischenüberschriften aus einer Vorlage kopierte. Dafür, dass der Gebrauch von Zwischenüberschriften werkgebunden ist, spricht auch die Tatsache, dass die vorangehende Magdalenenklage keine solchen Rubrizierungen aufweist, denn Christi Hort wurde von demselben Schreiber in die Handschrift eingetragen wie der überwiegende Anteil der Magdalenenklage . Entgegen der Annahme Jaksches (1910, S. VII) liegt ein Handwechsel nicht zwischen den beiden Werken, sondern nur auf fol. 2v vor (vgl. Menhardt 1961, S. 1389 f.; Schneider 1987, Bd. I, S. 214). 197 Vgl. Schneider 2009, Bd. II, S. 26, Anm. 90, in Abgrenzung von der Angabe in dies. 1987, Bd. I, S. 214 f. Nach Schneider ist der Befund schwierig einzuschätzen, weil das Schriftbild, vor allem wegen der nicht abgesetzten Verse, einen altertümlichen Eindruck mache. Ausschlaggebend für die Datierung <?page no="99"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 99 Werks können Überlieferungszeugen der Passionskompilation geben, für die Christi Hort eine maßgebliche Grundlage gebildet hat. 198 Das Wiener Fragment wird in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert, 199 das Budapester Fragment in dessen erstes Viertel; jedoch ist dafür - wie für Cod. 15 225 - auch eine Entstehungszeit um 1300 erwogen worden. 200 Die zeitnahe Rezeption bestätigt das auf der Basis von Cod. 15 225 angenommene Zeitfenster. 201 Kurt Stübinger (1922) glaubte, aufgrund sprachlicher Kriterien die Entstehungszeit von Christi Hort auf 1290-1300 eingrenzen zu können. 202 Auch bei einer weniger zuversichtlichen Deutung des Befundes lässt sich eine Datierung gegen Ende des 13. Jahrhunderts sichern, und zwar aufgrund literarhistorischer Kriterien: Neben der Benutzung von Diu urstende 203 ist in Christi Hort eine intensive Rezeption von Mai und Beaflor erkennbar. 204 Aus der Rezeption des Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein in Mai und Beaflor ist wiederum zu erschließen, dass dieses Werk nach der Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben worden ist. 205 Die Kombination aller Indizien lässt eine Entstehung von Christi Hort gegen Ende des 13. Jahrhunderts am plausibelsten erscheinen; möglich wäre auch ein Zeitansatz „um 1300“. 206 Dass der Verfasser von Christi Hort nach eigenen Angaben aus Judenburg stammt, hat dazu geführt, dass man das Werk (wie Mai und Beaflor ) 207 in der Steiermark verortet hat. 208 Zwar können solche Herkunftsangaben irreführend sein - man denke nur an Hawich ,den seien jedoch moderne Verzierungsformen und die erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts vereinzelt aufkommenden diakritischen Schreibungen a ͤ und e ͣ . Knapp (1999, S. 348) setzt die Handschrift vor oder um 1300 an, Hoffmann (2000, S. 303) gegen Ende des 13. Jahrhunderts. 198 Vgl. Hoffmann 2000, S. 229-252. Zu den Konsequenzen für die Datierung von Christi Hort vgl. Bushey 1988, S. 54 mit Anm. 16 (S. 73 f.). 199 Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 4818 (vgl. den Eintrag im Handschriftencensus ). Zur Datierung vgl. Mazal / Hilmar 1997, S. 28. Für einen Abdruck des Textes vgl. Schröder 1908. 200 Budapest, Széchényi-Nationalbibl., Cod. Germ. 54 (vgl. den Eintrag im Handschriftencensus ). Zur Datierung vgl. Vizkelety 1969, S. 129 (1. H. 14. Jh.) und Kleinmayr 1925, S. 242. Kleinmayr (1925) bietet auch einen Abdruck des Textes. 201 Ohne den handschriftlichen Befund zu berücksichtigen, erwägen Masser / Siller (1987, S. 35 f.), Christi Hort könne nach dem spätestens 1330 abgeschlossenen ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk entstanden sein (zu dessen Datierung s. u. S. 326). Das müsse man annehmen, wenn man die Pilatus-Veronika- Legende in der Fassung H des ( Klosterneuburger ) Evangelienwerks als Quelle für Gundacker ansehe und nicht umgekehrt die Passage im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk als Prosaauflösung von Christi Hort erachte (vgl. ebd.; zum Verhältnis der beiden Texte s. u. Kap. 6.3.1). Geith (2000, S. 250 f.), der vehement eine Abhängigkeit des ( Klosterneuburger ) Evangelienwerks von Christi Hort bestreitet, sieht die chronologischen Probleme, die sich bei einer umgekehrten Einflussrichtung ergäben, und nimmt deshalb einen deutschsprachigen Pilatus-Veronika-Text als gemeinsame Vorlage an. 202 Vgl. Stübinger 1922, S. 58. Der Problematik schreibsprachlicher Veränderungen versuchte er dadurch zu begegnen, dass er Belege aus dem Versinnern nicht berücksichtigte (vgl. ebd., S. 1). 203 Vgl. dazu Stübinger 1922, S. 128-130; Hoffmann 2000, S. 303-311. 204 Vgl. Fechter 1974. Zu Mai und Beaflor vgl. Fechter 1985b; Knapp 1999, S. 332-341, und die Ausgabe von Kiening / Mertens-Fleury 2008. 205 Vgl. Kiening / Mertens-Fleury 2008, S. V. Der Frauendienst ist vermutlich in den frühen 1250er Jahren entstanden (vgl. Linden 2010, S. 59-61). Fechter datiert Mai und Beaflor (unter Verweis auf die Literaturgeschichte von de Boor 1962, S. 103) auf 1270 / 80; auch Knapp (1999, S. 332) hält de Boors Datierung für möglich. 206 So Huber 2009; Malm 2011. 207 Für Mai und Beaflor wird zwar auch Kärnten als Entstehungsgebiet in Betracht gezogen (vgl. Fechter 1985b), wegen der Rezeption in Christi Hort und im Grazer Marienleben jedoch eine Entstehung in der Steiermark vermutet (vgl. Knapp 1999, S. 332), wobei die Gefahr eines Zirkelschlusses besteht. 208 Vgl. bereits Weinhold 1860, S. 210 f. Auch Busheys Aufsatz (1988) erschien in einem Band mit dem Titel Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark . Kindig (1976, S. 14-16) behandelt Christi Hort in seiner <?page no="100"?> 100 3 Variationen der Rechtsthematik Kölner‘, der vermutlich in Passau gewirkt hat 209 -, aber im Falle von Christi Hort ist über die Reimsprache 210 und die Überlieferung zumindest der bayerisch-österreichische Raum wahrscheinlich zu machen: Neben der bairisch-österreichischen Schreibsprache des Cod. 15 225 211 sind hier wiederum die Fragmente der Passionskompilation als frühe Rezeptionszeugen von Bedeutung, deren Schreibsprache ebenfalls als bairisch-österreichisch bestimmt worden ist. 212 So zentral Cod. 15 225 als Überlieferungsträger auch ist, man hat bei der Verlässlichkeit der Überlieferung von Christi Hort Einschränkungen zu machen, denn der Text weist offensichtliche Fehler und Lücken auf. 213 Doch beruht J. Jaksches Edition (1910) allein auf dieser Wiener Handschrift. Der textkritische Wert, den die Fragmente der Passionskompilation und die auf die Passionskompilation zurückgreifenden Texte einiger Handschriften der Weltchronik Heinrichs von München haben, ist zwar erkannt, 214 die Überlieferungszeugen sind jedoch noch nicht systematisch ausgewertet worden. 215 Das könnte nur in einer Neuedition angemessen geschehen; im Folgenden wird jedoch die Parallelüberlieferung punktuell mit einbezogen, um einzelne Lesarten zu sichern. 216 Für die Interpretation von Christi Hort ist die Frage nach der Werkeinheit von höchster Relevanz. Sie wird kontrovers diskutiert, seit Anton E. Schönbach (1876) andeutete, die heterogenen Teile der Dichtung könnten zu unterschiedlichen Zeiten verfasst sein. 217 Verknüpft mit der Frage nach der Einheitlichkeit des Werks ist die der Autorschaft; so schreibt Christoph Huber (2009): Studie Das literarische Judenburg , vermutet im Verfasser jedoch wegen des Bescheidenheitstopos in vv. 1314 f. (s. dazu u. S. 109) einen „gelehrten wandernden Literaten“. 209 S. dazu u. S. 353, Anm. 405. Zur dürftigen Grundlage für die Annahme, dass Gundacker von Judenburg in Österreich tätig gewesen sei, vgl. auch Wyss 1986, S. 395. 210 Vgl. dazu Stübinger 1922, S. 57 f. Jedoch: „Grobmundartliche Reime werden von G. gemieden.“ (ebd., S. 58). 211 Nach Schneider (1987, Bd. I, S. 215) schließt der Sprachstand auch eine Entstehung der Handschrift in der Steiermark nicht aus. 212 Vgl. Vizkelety 1969, S. 129; Mazal / Hilmar 1997, S. 28. 213 Vgl. Jaksche 1910, S. IX. 214 Vgl. Gichtel 1937, S. 164; 174-179; Hoffmann 2000, S. 237, Anm. 57. Eine Parallelüberlieferung gibt es für Verse aus dem „Bereich etwa von V.1655 bis zu V.4044“ (ebd.). Während Leitzmann (1919, S. 540) Schröder (1908) dafür kritisierte, dass er das Wiener Fragment Cod. Ser. nova 4818 der Gundacker- Überlieferung zugeordnet habe, denn es enthalte eine „ganz freie verarbeitung“, stimmt die Einschätzung Hoffmanns (ebd., S. 237) mit der Schröders überein: „[ü]ber weite Strecken bietet der Kompilator einen reinen, unvermischten Gundacker-Text“. 215 Für einen Überblick über die in H9 (zur Handschrift s. u. S. 279, Anm. 29) überlieferten Gundacker- Partien vgl. Gichtel (1937, S. 174-179), der dort auch für die Fehlstelle nach v. 2728 den Text von H9 bietet. Bei seinem systematischen Vergleich des Textes dieser Handschrift mit Christi Hort kam er zu folgendem Ergebnis: „Beibehaltung der Fassung im Allgemeinen, jedoch viele kleine Varianten durch Einschiebung, Auslassung und Umstellung einzelner Wörter innerhalb einer Zeile und durch gelegentliche Umformung mehrerer Zeilen“ (ebd., S. 175). Trotzdem seien einige textkritische Erkenntnisse möglich. 216 Wie bei den Exzerpten aus Diu urstende ist allerdings bei den Versen aus Christi Hort in der Weltchronik mit redaktionellen Bearbeitungen zu rechnen. Zitiert wird der Weltchronik -Text nach Shaw / Fournier / Gärtner 2008. Zur Editionslage und zum Umgang mit den Quellentexten in der Weltchronik s. u. Kap. 6.1. 217 Vgl. Schönbach 1876, S. 204 f. (er sah den auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Abschnitt [ab v. 1304] als zweiten, die Pilatus-Veronika-Legende als dritten Teil an). Auch de Boor (1962, S. 504-506, vgl. auch de Boor / Janota 1997, S. 433-435) zweifelte an der Verfassereinheit (er erwog, vv. 1-170, vielleicht auch vv. 171-1304, könnten später hinzugedichtet sein). Vgl. ähnlich Kindig 1976, S. 16. <?page no="101"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 101 Es ist fraglich, ob die verschiedenen Abschnitte alle von einem Verfasser stammen u. G. nur Einzelteile (sicher 2.) bzw. die Endredaktion des Ganzen, das als überlieferte Einheit interpretiert werden muss, zuzuschreiben sind. 218 Huber ist insofern zuzustimmen, als für die Interpretation des Handschriftentextes dessen Genese letztlich zu vernachlässigen ist. Aber auch der Nachweis, dass die Textteile überhaupt als ,Einheit‘ zu interpretieren sind, muss erst erbracht werden, vor allem wenn, wie es im Folgenden für die Rechtsthematik geschieht, sinnstiftende Bezüge zwischen den Teilen geltend gemacht werden. Deshalb sei hier ausgehend vom Aufbau die Werkeinheit diskutiert. 219 Christi Hort beginnt mit einer Einführung in den Zusammenhang der Heilsgeschichte (vv. 1-170): Nachdem von der Schöpfung und vom Sündenfall erzählt worden ist (vv. 1-136), werden die Auswirkungen auf die Menschheit skizziert (vv. 137-157) und das Motiv des Erlösungsrats 220 anzitiert, indem gesagt wird, dass die minne Gott zur Inkarnation gebracht habe (vv. 158-170). 221 Auf diese Exposition folgt ein Gebetsprolog (vv. 171-250), in dem der Verfasser in einer Bescheidenheitsformel seinen Namen nennt 222 und Gott bittet, ihm genügend sin zu verleihen, um ihn zu loben. Daran schließt sich eine Folge von mit ich man dich eingeleiteten gebetsartigen Kleinabschnitten an (vv. 251-1304), in denen - in direkter Anrede Jesu - dessen Leben bis zum Verrat des Judas in Erinnerung gerufen wird. 223 Mit v. 1305 wird eine kurze Textpassage (vv. 1305-1326) eingeleitet, die eine Prologfunktion für den anschließenden narrativen Textteil über die Passion erfüllt. 224 Erneut beklagt der Verfasser seine Unfähigkeit und betont die Notwendigkeit göttlichen Beistandes, damit er ein Gott ehrendes Werk vollbringen könne. Die Erzählung über die Passion Jesu und die Ereignisse nach seiner Auferstehung (vv. 1327-5294) verlagert ihren Schwerpunkt in v. 4045 auf Pilatus: Es folgt die Pilatus-Veronika-Legende. Vorangegangen war ein Abschnitt über die Sieben Vorzeichen der Zerstörung Jerusalems (vv. 3943-4044), der sich im Duktus deutlich von den narrativen Partien unterscheidet, aber darin eingebettet ist. Manche der Einschnitte sind damit in Verbindung zu bringen, dass unterschiedliche Vorlagentexte verwendet worden sind. So ist die Hauptquelle für die in v. 1327 beginnende 218 Huber 2009, S. 520. Er gliedert Christi Hort in vier Teile; danach umfasst Abschnitt 2 (vv. 171-1304) den Prolog mit Namensnennung sowie eine Serie von Erzählgebeten. Wenn man aber - so wie Huber - die Namenssignatur als Verfasserangabe allein für den Gebetsteil versteht, dann wäre es unwahrscheinlich, dass ‚Gundacker‘ auch als Name für den Redaktor anzusehen wäre. 219 Um die Argumentation nicht unnötig zu verkomplizieren, wird von vornherein von Christi Hort als einem Werk gesprochen, nicht als einer Ansammlung unterschiedlicher Texte. Für einen knappen Überblick über den Inhalt vgl. Hoffmann 1997a, S. 291-295. 220 Vgl. Stübinger 1922, S. 81; Bushey 1988, S. 55 mit Anm. 20 (S. 74). Zum Motiv des Erlösungsrates vgl. auch Ohly 1994. In dem letztlich aus Psalm 84[85],11 entwickelten Motiv des Streites der ,vier Töchter Gottes‘ sind es misericordia und pax , die für die Erlösung des Menschen eintreten. 221 Zum argumentativen Charakter der Textpassage vgl. Wyss 1986, S. 300 f. Er weist auch auf das Problem hin, dass die „Kasuistik personifizierter Abstraktionsbegriffe mit der Einheit und Einzigartigkeit Gottes in Widerstreit gerät“. 222 unt la mich dir erbarmen, / mich Gundachern vil armen. / von Judenburch pin ich geborn (vv. 187-189). 223 Sie bestehen in der Regel aus einem narrativen Teil mit einer anschließenden Bitte. Zur Einordnung der Gebetsform der manunge vgl. Bushey 1988; Knapp 1999, S. 343 f. Mit den Konfessionsgebeten aus der Epik, die Quast (2009, S. 91, Anm. 11) unter Berufung auf Lutz (1984, S. 144-149) als Vergleichspunkt benennt, teilen die Gebete in Christi Hort nur den Zug, dass einzelne Stationen biblischen Geschehens rekapituliert werden. 224 aller erste wil ich tichten / unt die leut berichten / von diner marter, su ̊ zer Christ (vv. 1305-1307). <?page no="102"?> 102 3 Variationen der Rechtsthematik Erzählung von Passion und Auferstehung einschließlich des Geschehens um Joseph von Arimathia und die Simeonsöhne eine Version des Nikodemusevangeliums , die der Rezension Lateinisch A zuzuordnen ist. 225 Die folgenden Verse lassen sich als Kurzfassungen von Addenda zum Nikodemusevangelium verstehen, der Epistola Pilati ad Claudium (vv. 3903-3905), 226 dem Somnium Neronis (vv. 3906-3942) und den Signa in eversione Iherusalem (vv. 3943-4044). 227 Die Pilatus-Veronika-Legende in Christi Hort (vv. 4045-5294) beruht auf der sogenannten Historia apocrypha der Legenda aurea . 228 Einige inhaltliche Widersprüche, die den politischen Kontext der Handlung betreffen, wurden nicht getilgt: So schickt Pilatus die Aufzeichnungen von Karicius und Leucius an ,König Claudius‘ in Rom (vv. 3903-3905); im Rahmen des Textabschnitts zur Pilatus-Veronika-Legende ist es dann aber ,Kaiser Tiberius‘, der in Rom herrscht (v. 4365). 229 Andererseits sind am Ende des Nikodemusevangelium -Teils deutliche redaktionelle Bemühungen zu erkennen, indem durch das Weiterreichen der prieve von Karicius und Leucius eine Verbindung von Pilatus über Claudius zu Nero geschaffen worden ist, wobei dessen Position im Unbestimmten gelassen wird (vv. 3885-3908). 230 Indem Nero das ihm im Traum übermittelte Rachebegehren Jesu an Vespasian weiterleitet und dieser die Rache an ,den Juden‘ für 40 Jahre später ankündigt (vv. 3909-3942), erscheinen die ‚Signa‘ als Zwischenzeitphänomene (vv. 3943-4044). Erst 225 Vgl. Hoffmann 1997a, S. 292. Der wichtigste Anhaltspunkt für die Identifikation einer A-Fassung als Quelle ist die Datierung der Passion in Christi Hort (vv. 1381-1395). Mit der Angabe nah Christes marter am vierden tage (v. 1372) folgt Christi Hort einer Lesart ( quarta die [nicht quanta ] post crucem ), die nur in einer Gießener Handschrift belegt zu sein scheint (vgl. von Tischendorf 1876, S. LXXV, Anm. 1; zur Stelle in Christi Hort vgl. Stübinger 1922, S. 95). Gemeint ist vermutlich Cod. 777 der UB Gießen, zu dessen Datierung es unterschiedliche Thesen gibt (12. und 13. bzw. 13. und 14. Jh., vgl. Izydorczyk 1993, Nr. 92 [S. 55]). Mit dieser Handschrift teilt Christi Hort auch die Angabe, dass die Passion Jesu im 19. Jahr der Regierungszeit des Tiberius stattgefunden habe (nach den meisten Handschriften ist es das 18. Jahr; vgl. Nikodemusevangelium , Prolog, Z. 5 [Prologue (G / I)]). Zum Missverständnis von viii Kal. Aprilis (Z. 7 f.) als 8. April in Christi Hort (v. 1393) vgl. Stübinger ebd. 226 Vgl. zu diesem Text Izydorczyk 1997c, S. 55-57. Die Referenz darauf geht in Christi Hort nicht über eine Anspielung hinaus und ist wahrscheinlich deshalb bisher nicht diskutiert worden. 227 Vgl. Hoffmann 1997a, S. 292. Zum Somnium Neronis vgl. Izydorczyk 1997c, S. 61 f. 228 Vgl. Hoffmann 1997a, S. 293, mit weiterer Literatur. Zur Textfassung vgl. Knape 1989, Sp. 673 f. Die Historia apocrypha benannte Version stellt nur eine Schicht aus einem ganzen Pilatus-Veronika-Judas- Überlieferungskomplex dar (vgl. Knape 1985, S. 114), sodass die exakte Gestalt der Vorlage von Christi Hort schwer zu bestimmen ist. Als (einzige) Vorlage ausgeschlossen werden kann die Legenda aurea , die in verschiedenen Legenden Teile dieses Komplexes bietet (vgl. dazu Häuptli 2014, Bd. 1, S. 33; Hammer 2015, S. 334-339), denn dort ist die Heilung Vespasians nicht enthalten (zu diesem Motiv in der Historia vgl. Knape ebd., S. 119 f.; für die Pilatus-Veronika-Legende mit dem Tod des Pilatus in der Legenda aurea vgl. cap. 53,231-235 [Häuptli ebd., S. 722-735] = M., 51,183-262; der Text der Legenda aurea wird hier und im Folgenden nach Häuptli 2014 zitiert, die alternative Zählung der Ausgabe von Maggioni 2007 [,M.‘] wird zur Orientierung jedoch mitgeführt). Als zusammenhängender Text liegt die Historia in zwei Redaktionen vor (vgl. ebd., S. 134-138). Knape (ebd., S. 146-165) bietet in Ermangelung einer kritischen Ausgabe (vgl. ebd., S. 116 f.) für Redaktion I einen Abdruck der Handschrift M 1 (München, BSB, Clm 23 390), ergänzt durch Gr (Graz, UB, Ms. 1314 [früher 37 / 45-4º]) (ebd., S. 143 f.). Die Pilatus-Passagen, die für Christi Hort relevant sind, folgen durchgehend M 1 . Diese Handschrift mit der Sonderform Adanus für den ersten Boten (vgl. dazu ebd., S. 138) war mit Sicherheit nicht direkte Vorlage Gundackers. Zum Pilatusbild in der Historia apocrypha vgl. Scheidgen 2002, S. 97-109. 229 Neben eingeschränkten Kenntnissen der römischen Geschichte (vgl. dazu Knapp 1999, S. 347) könnte für die Beibehaltung der Herrschernamen auch eine Ehrfurcht vor der Autorität der Quellen eine Rolle gespielt haben. Vgl. dazu auch Knape 1985, S. 122: „Die Reihenfolge der Kaiser war den Geschichtsschreibern des Mittelalters durchaus bekannt, dennoch aber finden sich immer wieder Unschärfen oder bewußte Veränderungen.“ 230 Nero zeRome ouch gewaltic was (v. 3908). <?page no="103"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 103 beim Übergang zur Pilatus-Veronika-Legende ist auch ein inhaltlicher Einschnitt deutlich markiert. 231 Die Unterschiede im Umgang mit den Quellen könnten mit dadurch bedingt sein, welche Quellentexte in der Vorlagenhandschrift dem Verfasser als Einheit zusammengehörig erschienen; 232 für die Gliederung von Christi Hort sollten jedoch auf jeden Fall die im deutschen Text selbst markierten Abschnitte ausschlaggebend sein. 233 Wenn man sich für die Gliederung am Wechsel der Sprechhaltung bzw. an explizit markierten Einschnitten orientiert, ist damit noch nicht das Problem gelöst, welche Textteile als zusammenhängend zu betrachten sind. Die Vorschläge für eine Gliederung von Christi Hort in größere Abschnitte reichen von einer Zweiteilung (vv. 1-1304; 1305-5294) 234 über eine Dreiteilung in verschiedenen Varianten bis hin zu einer Vierteilung, bei der Exposition (vv. 1-170) und ein Gebetsteil (vv. 171-1304) voneinander abgesetzt werden sowie zusätzlich ein Einschnitt vor der Pilatus-Veronika-Legende gemacht wird. 235 Bei einer Dreiteilung wird entweder der Abschnitt bis v. 1304 als eine Einheit gesehen und ein weiterer Neuansatz zu Beginn der Pilatus-Veronika-Legende angenommen (v. 4045) oder der Abschnitt ab v. 1305 wird als Einheit betrachtet, dafür wird die Exposition (vv. 1-170) von einem als Einheit zusammengezogenen Gebetsteil (vv. 171-1304) abgegrenzt. 236 Selbst der von allen Interpreten übereinstimmend markierte Einschnitt in v. 1305 ist allerdings weniger eindeutig als allgemein suggeriert: Mit der Ankündigung, zuerst von der Passion erzählen zu wollen (vv. 1305-1308), und der Quellenangabe dafür (vv. 1309-1313) weist diese prologartige Passage zwar auf die Erzählung ab v. 1327 voraus, und eine separate Überlieferung des ,zweiten Hauptteils‘ mit vv. 1305-1326 als Prolog scheint durchaus vorstellbar, 237 aber die Passage bezieht sich auch auf vorhergehende Textteile zurück: Zum einen wird die Du-Anrede Jesu aus den vorhergehenden Gebeten (in veränderter Form) weitergeführt (v. 1307), zum anderen wird mit der Sorge, ob die eigenen Fähigkeiten der materie (v. 1317) gerecht werden können, neben der Bescheidenheitstopik ein Gedanke aus dem Gebetsprolog (vv. 171-250) aufgenommen, in dem die Anforderungen, die vom ,tiefgründigen Stoff‘ ( tı ͤ ffer materi , v. 197) gestellt werden, erläutert worden waren (vv. 197-209). 238 Auch die spot -Problematik (vgl. v. 1326) war dort ausführlicher diskutiert 231 nu laze wir die rede hie / unt ho ͤ rt wie ez Pilato ergie (vv. 4045 f.). 232 Die Handschrift hat wahrscheinlich die genannten Addenda zum Nikodemusevangelium enthalten (vgl. Hoffmann 1997a, S. 294), die von mittelalterlichen Rezipienten oft als Bestandteile des Werks empfunden wurden (vgl. Izydorczyk 1997c, S. 55). Das gilt aber auch für die Cura sanitatis Tiberii , also für die Pilatus-Veronika-Legende (vgl. ebd., S. 57-59), von der eine Version ebenfalls bereits in der Vorlagenhandschrift überliefert worden sein könnte. 233 Dagegen setzen Wyss (1986, S. 301), Knapp (1999, S. 345), Quast (2009, S. 389) und Malm (2011, Sp. 988), offenbar quellenbedingt, bei v. 3885 einen Abschnittswechsel an. 234 Vgl. Hoffmann (2000, S. 303), der es für wahrscheinlich hält, dass beide Textteile als eigenständige Dichtungen anzusehen seien, die aber von einem Verfasser stammten. Bushey (1988, S. 50) spricht von „zwei deutlich verschiedene[n] Hauptteile[n]“. 235 Vgl. Wyss 1986, S. 301; Hoffmann 1997a, S. 292; Knapp 1999, S. 343-346; Malm 2011, Sp. 988. Auch Bushey (1988, S. 51) nimmt eine Feingliederung in vier Teile an. 236 Für eine Zuordnung der einzelnen Forschungspositionen vgl. Bushey 1988, S. 51 f. 237 Bushey (1988, S. 53) erwägt eine solche separate Überlieferung, weil nur aus diesem Teil Exzerpte belegt seien. Das kann aber auch damit zusammenhängen, dass nur die narrativen Passagen in die Passionskompilation übernommen wurden. 238 Zu den poetologischen Implikationen dieser Stelle vgl. Köbele 2017, S. 168, Anm. 3. <?page no="104"?> 104 3 Variationen der Rechtsthematik worden (vv. 179-226). 239 Gemeinsam ist beiden Textabschnitten außerdem die topische Bitte um göttlichen Beistand, die den gesamten Gebetsprolog prägt und in vv. 1320-1326 indirekt ausgedrückt ist, und der Wunsch, dass das Dichten Gottes Ansehen angemessen sein möge bzw. ihn ehre (vv. 249 f.; 1325). Es ist nicht auszuschließen, dass vv. 1305-1325 nach dem Modell des Gebetsprologs von einer anderen Person verfasst worden sind, aber die Verse lassen sich auch als Fortsetzung des Gebetsprologs lesen. In der Handschrift haben die Verse eine eigene Überschrift bekommen ( hie sagt Nichodemus wie Got wart gemartert ), sind aber wie einige der vorhergehenden manunge mit amen abgeschlossen (nach v. 1326), und dann folgt die Überschrift diu materie hebt sih an . 240 Offenbar sind die Verse als Übergangspassage aufgefasst worden. Wenn die vv. 1305-1326 als Wiederaufnahme des Gebetsprologs zu verstehen wären, wäre dieser nicht allein auf die anschließenden Abschnitte in Gebetsform (vv. 251-1304) zu beziehen, sondern auf das gesamte Werk. Auf jeden Fall gilt das für den Anfangsabschnitt (vv. 1-170), da der dort skizzierte heilsgeschichtliche Rahmen von Fall und Erlösung durch die Menschwerdung Gottes bis v. 1304 nicht eingelöst ist. Vermutet worden ist, dass der Gebetsteil ein Torso sei 241 oder dass vv. 1-170 später hinzugefügt seien. 242 Notwendig erscheinen solche Annahmen nicht; warum sollte ein Gebetsprolog nicht nachgestellt sein, zumal als Überleitung zu weiteren Abschnitten in Gebetsform? 243 Zwar unterscheidet sich der Schöpfungseingang bei Gundacker typologisch deutlich vom häufiger belegten Schöpfungspreis, 244 aber strukturell könnte ein Schöpfungspreis zu Beginn mit nachgeschobenen Überlegungen zum Dichten durchaus Modell gestanden haben. 245 Dann könnte man sogar vv. 1-170 und 171-250 zu einem (zweigeteilten) Werkeingang zusammenziehen, 246 und die vv. 1-1326 könnten dann als lange Werkeinleitung mit eingeschobenem Gebetsteil angesehen werden. Letztlich sind weitere Gliederungsvorschläge müßig, weil sie immer von den jeweils angelegten Kriterien abhängig sind, aber dass unterschiedliche Einteilungen überhaupt möglich sind, deutet auf eine Vernetzung der einzelnen Teile hin. Für die Zusammengehörigkeit des Werkeingangs (vv. 1-170) und des Gebetsteils (vv. 251-1304) sind bereits überzeugende inhaltliche Argumente vorgebracht worden, und zwar wird das Motiv, dass das Wirken der Minne Gott zur Erlösung ,gezwungen‘ habe (vv. 239 „Obgleich G. demütig sein Unvermögen bekennt, weist er Spötter scharf zurück; wer tadeln will, soll erst selbst Besseres schaffen.“ (Stübinger 1922, S. 82). Stübinger verweist auch auf argumentative Parallelen bei Thomasin von Zerklære und Jans Enikel ( Jans von Wien). 240 Zu Struktur und Verteilung der Zwischenüberschriften vgl. Bushey 1988, S. 52 f. 241 Vgl. Masser 1976, S. 120; Bushey 1988, S. 70. 242 Vgl. de Boor 1962, S. 506; Masser 1976, S. 120. 243 Vgl. dazu Bushey 1988, S. 56 f.; Thelen 1989, S. 332 f. Thelen, der auf das Problem der Werkeinheit nicht eingeht, nennt als Parallele für einen ,verzögerten‘ Gebetsprolog das Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler, bei dem der Gebetsprolog wie bei Gundacker eine Scharnierstellung zwischen dem auf dem Alten und dem auf dem Neuen Testament beruhenden Teil habe. 244 Vgl. dazu Jaeger 1978. 245 Auch bei Christi Hort ist zumindest auf der Wortebene eine Parallele zwischen dem tichten Gottes (v. 1) und dem des Verfassers (vv. 190; 239; 1305) vorhanden (zum tihten in Schöpfungseingängen vgl. Jaeger 1978, S. 14). Stübinger (1922, S. 79) verweist auf ältere bibelepische Werke ( Wiener Genesis , Vorauer Genesis , Anegenge ) als Parallelen für den Schöpfungseingang in Christi Hort . Dort hat aber das Schöpfungsmotiv insgesamt einen anderen Stellenwert als in Christi Hort . 246 Auch Jaeger (1978, S. 9; ohne Bezug auf die Forschung zu Christi Hort ) sieht die Schöpfungsbeschreibung als Teil des Prologs, ohne Versgrenzen abzustecken. <?page no="105"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 105 158-170), in der ersten manunge wieder aufgenommen (vv. 251-268; 324-326). 247 Nicht nur bei der Inkarnation heißt es, dass sie von der minne gebot geschieht bzw. von der minne unt von Got (v. 269), sondern diese Erklärung begegnet auch in dem auf dem Nikodemusevangelium basierenden Textteil in Bezug auf die Passion. 248 Das Motiv, dass der Umgang mit dem heiligen Stoff ohne spot erfolgen soll (vv. 207-209; 2037), verbindet wiederum den Gebetsprolog mit dem auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Textteil. Aus diesem Abschnitt ist in die Anfangspassage der Pilatus-Veronika-Legende (vv. 4093-4097) das spezifische Motiv aufgenommen, dass die Frau des Pilatus ihn davor gewarnt hat, über Jesus Gericht zu halten (vv. 1570-1576). 249 Aus solchen inhaltlichen Vernetzungen lässt sich zwar nicht zwingend schließen, dass die Textteile gemeinsam konzipiert sein müssten, aber es sind so intensive redaktionelle Aktivitäten vorauszusetzen, dass eine Werkeinheit gesichert ist, vor allem wenn man die Ergebnisse der Untersuchungen zu Sprachgebrauch und Stil mit einbezieht: Kurt Stübinger (1922) konnte bei seiner Analyse der Reimtechnik und der Reimgrammatik keine Unterschiede zwischen den einzelnen Teilen ausmachen, die auf unterschiedliche Verfasser schließen ließen. 250 In Übereinstimmung mit diesem Ergebnis hat Werner Fechter (1974) einen d u r c h g e h e n d e n Rückgriff auf Mai und Beaflor festgestellt; die zu konstatierenden Schwankungen seien darauf zurückzuführen, dass bei bestimmten Motiven (Schiffsreise, höfisches Empfangszeremoniell) die Dichte der Bezüge zunehme. 251 Unterstützend lässt sich für die Werkeinheit anführen, dass in unterschiedlichen Werkteilen die rede thematisiert wird: Zum ersten Mal ist eine selbstreflexive Bemerkung in den narrativen Teil der manunge über die Heilungswunder Jesu (vv. 983-1012) eingeschoben. 252 Nach Ausführungen des Erzählers zum Verhältnis von Pilatus und Herodes zu Beginn des auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Textteils (vv. 1327-1366) heißt es dann: nu leg wir die rede nider / unt grîffen an die materi wider (vv. 1367 f.). 253 Hier deutet sich eine 247 Vgl. Bushey 1988, S. 56 f. 248 da er lait der marter nôt, / als im diu minne gebôt (vv. 1931 f.). Weitere inhaltliche Bezüge ließen sich aufzeigen, z. B. bittet das Ich im letzten der gebetsartigen Abschnitte darum, dass Gottes Minne es ,binden‘ möge (vv. 1302-1304); später sagt Nikodemus zu den Simeonsöhnen, dass sie mit der wære n minne bant an Gott gebunden seien (vv. 3585-3592). Für die Vorstellung des Heilsfriedens hat Hagenlocher (1992, S. 129 f.) für den Gebetsteil und die Szenen mit dem auferstandenen Christus eine übergreifende Konzeption aufgezeigt. 249 Soweit man es aufgrund der Editionslage nachvollziehen kann, waren die Überlegungen des Pilatus, in deren Rahmen der Rückbezug erfolgt, in der Historia apocrypha nicht ausführlich ausgestaltet. In der von Knape (1985) edierten Version heißt es lediglich : Sciens autem per inuidiam traditum esse Ihesum et timens offensam Tiberii cesaris, quia sanguinem innocentem condempnauerat, […] (Z. 67 f.; „Im Bewusstsein aber, dass (ihm) Jesus aus Missgunst übergeben worden war, und aus Furcht vor der Ungnade des Kaisers Tiberius, weil er unschuldiges Blut verurteilt hatte, […]“). - Umgekehrt sind in dem auf dem Nikodemusevangelium basierenden Textteil inhaltliche Elemente verarbeitet, die aus der Historia apocrypha stammen könnten: so die Feindschaft zwischen Pilatus und Herodes (vv. 1327-1366; vgl. Historia apocrypha , Z. 52-64; s. dazu u. S. 129) und das Motiv, dass Pilatus Jesus in einem Purpurgewand zu Herodes schickt (vv. 1734 f.; vgl. Historia apocrypha , Z. 61). 250 Vgl. Stübinger 1922, S. 77 f. 251 Vgl. Fechter 1974. Fechter (ebd., S. 197) räumt selbst ein, dass nicht alle der von ihm aufgeführten Parallelstellen „den gleichen Argumentationswert“ hätten, aber er bietet genügend Beispiele, die seine These überzeugend erscheinen lassen. Auch Quast (2009, S. 389) hat aus der Rezeption von Mai und Beaflor in allen Werkteilen auf die Werkeinheit geschlossen. 252 du hast getan hie zaichen vil, / von den ich nîmer sprechen wil, / want diu rede wurd zelanc (vv. 997-999). 253 Vgl. dazu eine Parallelstelle in Mai und Beaflor (vv. 1960 f. in der Ausgabe von Kiening / Mertens-Fleury 2008; vgl. dazu Fechter 1974, S. 200). <?page no="106"?> 106 3 Variationen der Rechtsthematik Differenzierung zwischen rede als etwas Erläuterndem mit moraldidaktischer Komponente und materi als dem Erzählgegenstand an. Mit entsprechender Nuancierung wird rede in vv. 2583 f. nach einer Auslassung des Erzählers über unrecht erworbenes Gut verwendet. 254 Schließlich wird in vv. 4045 f. die bisherige rede von dem nun Folgenden abgesetzt. 255 Zwar ist die Semantisierung von rede (als etwas Erläuterndem) nicht einheitlich, aber es ist bemerkenswert, dass sich selbstreflexive Bemerkungen überhaupt in verschiedenen Werkteilen finden, insbesondere in dem Gebetsteil, der sich an einer „rituellen Vollzugsform“ orientiert. 256 Als Begründung dafür, dass nicht alle Wunder Jesu erzählt werden, wird neben einer dann zu großen Länge der rede angegeben, dass der sin des Sprecher-Ich zu schwach sei, um die ‚Zeichen‘ den leuten erklären zu können (vv. 1000-1002); deswegen müsse es sich mit seiner rede beschränken ( unt mich der rede mazen , v. 1004). An dieser Stelle wird der Adressatenbezug der manunge explizit. 257 Die auf die Du-Erzählungen vom Leben Jesu jeweils vorgebrachten Bitten gewinnen trotz der Ich-Form 258 stellvertretenden Charakter. 259 Die Betonung der eigenen Sündenhaftigkeit und Bußfertigkeit lädt den Rezipienten dazu ein, über die Gefährdung der eigenen Seele nachzudenken. 260 Der Bezug auf die eigene Lebensführung ist ebenfalls ein Charakteristikum, das alle Werkteile durchzieht, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Am deutlichsten ist er im Gebetsteil, aber bereits in die Schöpfungserzählung ist eine Sentenz eingeschoben, die eine Übertragbarkeit der Eheschließung zwischen Adam und Eva auf das eigene Leben möglich macht. 261 In dem auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Textteil schließt sich an die Ausführungen zu Feindschaft und Versöhnung von Herodes und Pilatus eine ausdrückliche Lehre an, dass, wer heute noch verfeindet sei, böser sei als die beiden, die sich dadurch, dass sie Jesus zu dem anderen schickten, versöhnten (vv. 1360-1366). 262 Anlässlich der Bestechung der Wächter setzt der Erzähler dann zu einer Art Predigt über unrecht erworbenes Gut an (vv. 2568-2582). Die Pilatus-Veronika-Legende ist weitgehend frei von moraldidaktischen Passagen, aber zum Schluss folgt ein Gebet, das ein wir in Bezug zu Pilatus setzt, sodass der Adressatenbezug in allen Textteilen zumindest punktuell explizit gemacht wird: 254 nu leg wir nu die rede hin / unt griffen an den ersten sin […] (vv. 2583 f.). Die Verse leiten über von der Wächterepisode zu den Erscheinungen des Auferstandenen, deren bei den Evangelisten angegebene Zahl einer Quellenkritik unterzogen wird (vv. 2585-2590). - Zu der Stelle am Ende der Erzählung vom Prozess gegen Jesus ( da beginnet diu rede sich spreucen , v. 1880) s. u. S. 117. 255 Ein letztes Mal wird die rede bei der Einleitung zur Pilatus-Veronika-Legende erwähnt: nu laze wir die rede hie / unt ho ͤ rt wie ez Pilato ergie (vv. 4045 f.). 256 Vgl. Quast 2009, S. 293. 257 Vgl. Quast (2009, S. 292), der aber trotz dieser Beobachtung den Gebetsteil dem ,Kult‘ und nicht der ,Kunst‘ zuordnet (vgl. ebd., S. 393). 258 Bushey (1988, S. 59; 61) betont den privaten Charakter der Bitten. 259 Vgl. dagegen Wyss 1986, S. 301: „Oft wendet sich Gundacker am Ende eines Initialenabschnitts zu sich selbst zurück und bittet für sich.“ Das Ich der Bittgebete muss aber nicht mit dem Autor-Ich identisch sein. Zum Changieren von Ich-Rollen vgl. Kiening (1991, S. 52 f.; 56 f.) zum Willehalm -Prolog. 260 Vgl. dazu Bushey 1988, S. 60 f. Dass die Thematik von Sündenhaftigkeit und Gnade zentral ist, wird auch an der großen Ausführlichkeit der manunge zu Maria Magdalena (vv. 681-786) deutlich (vgl. Bushey, ebd., S. 59, die daraus allerdings auf ein besonderes Verhältnis des ,Dichters‘ zur Sünderin schließt). 261 swer die minne vercheret / unt sich selben uneret / daz er schande sûchet, / den hat Got verfluchet (vv. 67-70). Vgl. dazu Stübinger 1922, S. 80; 133. 262 […] nu nemt war: / swer noch hiute veintschaft hat […] (vv. 1360 f.). <?page no="107"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 107 Got muz uns da vor bewaren daz wir die sele icht senchen sus als der valant Pilatus. am en. (vv. 5292-5294) In der Wiener Handschrift schließt sich das Freidank-Gebet an, das inhaltlich hervorragend zu den vorherigen Stellen mit moraldidaktischem Anwendungsbezug passt. 263 Auf wen diese Kompilation zurückgeht, lässt sich nicht mehr entscheiden; 264 auf jeden Fall zeigt die Anschlussfähigkeit des Freidank-Gebetes, dass Kohärenz auch nachträglich hergestellt werden kann. Es sind jedoch konzeptionelle Unterschiede zum vorhergehenden Text erkennbar: So beruft sich das betende Ich bei Freidank auf Gottes triwe (v. 5300) und genade (v. 5317), nicht auf dessen minne . Daher werden die hier vorgebrachten Überlegungen zur Werkeinheit durch eine derartige Kohärenz auf allgemeinerer Ebene nicht gegenstandslos. Die Summe der Indizien spricht dafür, Christi Hort einem einzigen Verfasser zuzuschreiben, der im Folgenden mit ,Gundacker‘ bezeichnet sei. 265 Zu klären bleibt die Funktion der Zusammenstellung heterogener Textabschnitte. Bereits Betty C. Bushey (1988) hatte darauf hingewiesen, dass der Gebetsteil zeitlich in einer Reihe von Werken der Erbauungsliteratur steht, die den Rezipienten zur Andacht anleiten wollen, wie zum Beispiel die Meditationes vitae Christi . 266 Dass andaht nicht nur performativ (im Gebetsteil), sondern auch narrativ (ab v. 1305) inszeniert wird, hat Bruno Quast (2009) überzeugend herausgearbeitet. 267 Unabhängig von Bushey hatte auch Ulrich Wyss (1986) die Modernität des Werks in seiner Gesamtheit betont, das eine Reaktion darauf darstelle, dass sich manche religiösen Erfahrungen episch nicht ausdrücken ließen. 268 Da „kein entschiedener ästhetischer Wille am Werk“ gewesen sei, hätten sich „in dem Text, wie in einem Brennspiegel, die diskursiven Möglichkeiten der Epoche“ gesammelt. 269 Wyss sieht in der Pluralität der Darstellungsmittel ein „Stilisationsprinzip“ und bezieht die Aussageformen auf die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Textteile: Die Vorgeschichte hat das Problem der Erbsünde so prägnant wie möglich exponiert; im christologischen Teil kommt das konkrete Subjekt, der erlösungsbedürftige Christenmensch, zu Wort; im Nikodemusbericht liegt der Akzent auf der historischen Faktizität, die uns treu überliefert wurde; im Pilatusteil schließlich geht es um Beispiele für die Wirklichkeit der Erlösung in der Geschichte, die sich in wunderbaren Ereignissen wie der Heilung des römischen Kaisers vom Aus- 263 Auch die vorangestellte Magdalenenklage , die inhaltlich mit Passagen in Christi Hort korrespondiert (vv. 681-786; 2325-2374), fügt sich in dieses Programm ein, wenn Maria Magdalena als Exempelfigur dafür eingeführt wird, wie man got gaenztlichen minnen soll (vgl. den diplomatischen Abdruck bei Boxler 1996, S. 545). 264 Geith (1968a, S. 57) weist sie dem Schreiber zu. 265 Die Zweifel an der Verfasserschaft einer Person dürften auch mit unangemessenen Kohärenzerwartungen zusammenhängen (vgl. dazu Wyss 1986, S. 301; Quast 2009, S. 389; auch Bushey 1988, S. 56). Wyss (ebd.) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass bereits vv. 1-170 nicht den Gesetzen narrativer Kohärenz folgen, sondern dass dort ein logischer Zusammenhang entscheidend ist. 266 Vgl. Bushey 1988, S. 61-76. Sie zeigt sich jedoch irritiert über die Zusammenstellung des Gebetsteils mit dem narrativen Teil ab v. 1305 (vgl. ebd., S. 70). Vgl. zum Charakter des Gebetsteils auch Masser 1976, S. 119 f. 267 Vgl. Quast (2009, S. 392 f.), der auch auf v. 1378 hinweist, wo der Verfasser angibt, seine auf Nikodemus zurückgehende lateinische Quelle zetiusche in die andaht gebracht zu haben. 268 Vgl. Wyss 1986, S. 300 f. 269 Vgl. Wyss 1986, S. 302. <?page no="108"?> 108 3 Variationen der Rechtsthematik satz dokumentiert. 270 Das sind legitime Aussagemöglichkeiten; außergewöhnlich nur, daß Gundacker sie in den Rahmen einer einzigen epischen Form zwängt. Sie finden sich sonst in getrennten Gattungen: Dem abstrahierenden Beginn entspräche wohl die spekulative Verknappung theologischer Zusammenhänge in lyrisch-didaktischen Formen wie in der Goldenen Schmiede oder den geistlichen Leichen Frauenlobs; die Folge der 25 Gebete erinnert an den Redetypus der Litanei; der Pilatusbericht zehrt von der Dialogkunst des höfischen Romans ebenso wie von der Notwendigkeit direkter Rede auf dem Theater, und im Nikodemusteil finden sich Strategien der Historiographie. Lyrisches, Episches, Dramatisches - die Grundbegriffe der Poetik haben gleichermaßen Anteil an der Gestalt des Werkes. 271 Die These, dass die Ausdrucksformen zweckgebunden sind, überzeugt, da flankierend Selbstaussagen des Autor-Ich herangezogen werden können, in denen hinsichtlich des kommunikativen Ziels unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt sind: In den Versen, die dem Gebetsteil direkt vorausgehen, bittet das Autor-Ich um göttlichen Beistand dafür, Gott so zu loben, dass es dessen Ansehen gemäß sei (vv. 248-250). Das übergeordnete Ziel der Ehrung Gottes bleibt in den Versen, die die Scharnierstelle zwischen dem Gebetsteil und dem narrativen Passionsteil bilden (vv. 1305-1326), zwar bestehen (vv. 1320-1326), aber hier soll das tichten dem berichten von der Passion Jesu dienen (vv. 1305-1319). 272 Dafür, dass eine Ausdrucksform gegenüber der anderen privilegiert werde, die Ablösung des Gebets (,Kult‘) von der Erzählung (,Kunst‘) gleichsam inszeniert werde, wie Quast (2009) meint, 273 gibt es im Text keine ausdrücklichen Signale. Die im Text formulierten Reflexionen über das eigene poetische Tun sprechen aber in jedem Fall gegen die zitierte Annahme von Wyss, die verschiedenen Ausdrucksformen hätten sich in Christi Hort ohne einen ästhetischen Gestaltungswillen angesammelt. Vielmehr ist Susanne Köbele (2017) zuzustimmen, dass 270 Diese Charakterisierung des dritten und des vierten Teils scheint plausibler als die Quasts (2009, S. 394), der Wyss nicht rezipiert hat: „Diese beiden Erzählungen, die Gundackers Evangeliendichtung abschließen, lenken auf die poetische Leitvorstellung Gundackers: die Identität von Urbild (Evangelien) und Abbild (Dichtung) im Modus ,literarischer‘ Kommunikation.“ 271 Wyss 1986, S. 301 f. 272 Vv. 1305-1310: aller erste wil ich tihten / unt die leut berichten / von diner marter, su ͤ zer Christ, / wie ez alles dort ergangen ist, / also schreipt uns Nichodemus, / der berichtet uns da von sus […] (es folgt ein Verweis auf die Augenzeugenschaft des Nikodemus). An dieser Stelle ist berichten - eine poetische Leitvokabel im Text (vgl. Quast 2009, S. 389-394) - tatsächlich als authentisches Erzählen aufzufassen (vgl. dazu Quast ebd., S. 393). berichten und Loben sind allerdings nicht als Gegensatz konzipiert, denn der Verfasser will durch seine Übertragung des Nikodemusevangeliums vom Lateinischen ins Deutsche dazu beitragen, dass Gott auf der Erde gelobt werde (vv. 1377-1380). Das ist ein weiteres Argument dafür, dass der Gebetsprolog (vv. 171-250) auch auf das ganze Werk bezogen werden kann. berichten ist dort mit dem Loben enggeführt: sterche mir mein gemu ͤ te / daz ich an disem getihte / dein lob mit lob berichte (vv. 238-240). Zwar ist hier eine andere Bedeutungsnuance von berichten aufgerufen (die der dichterischen Gestaltung) als in v. 1306, aber insgesamt entsteht ein semantisches Netz, das eine Wechselwirkung von berichten und Loben (mit je unterschiedlicher Gewichtung) nahelegt. Zum Bedeutungsspektrum von berichten in Christi Hort s. auch u. S. 391, Anm. 96. 273 Vgl. Quast (2009, S. 391-394). Quast stützt seine Argumentation vor allem auf den selbstreflexiven Einschub im Gebetsteil, in dem es heißt: ouch ist mı ͤ n sin gar cechranch / daz ich ez wol den leuten / gar mu ͤ ge pedeuten; / da von muz ich ez lazen / unt mich der rede mazen (vv. 1000-1004). Im Kontext scheint rede (im Einklang mit dem Wortgebrauch in vv. 1367 f.; 2583 f.) eine Auslegung (hier theologischer Art) zu bedeuten. Dafür, dass die Gebetsform problematisiert würde (so Quast), sind keine Anzeichen zu finden. Dementsprechend ist das berihten der sinne (v. 1323) nicht als Korrektur der Ausdrucksform zu verstehen, sondern so, dass die schwachen geistigen und moralischen Kräfte des Verfassers (vv. 175; 1000) trotz seines Unvermögens (v. 1319) auf den rechten Weg gebracht werden. <?page no="109"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 109 Registerwechsel geradezu konstitutiv für bibelepische Texte ist. 274 Damit ergibt sich eine völlig neue Perspektive auf die Frage der Werkeinheit, da der unterschiedliche Charakter der einzelnen Textteile dann als Resultat eines Bemühens erklärt werden kann, für den Stoff angemessene Ausdrucksformen zu finden. Die handschriftliche Benennung des Textes als hort könnte ebenfalls darauf hindeuten, dass er als ein gesammelter Schatz (dessen, was mit Christus zu tun hat) verstanden wurde. 275 Dass der gesammelte ,Schatz‘ den Rückgriff auf verschiedene Texttypen mit ihren jeweiligen Registern nicht verleugnet, lässt - die Werkeinheit vorausgesetzt - Rückschlüsse auf den Bildungsstand des Verfassers zu, der mit Erzähltraditionen offensichtlich ebenso vertraut war wie mit Formen des predigt- und gebetshaften 276 und klagenden Sprechens. 277 Dass das Autor-Ich beklagt, dass es sich seinem maister so früh entzogen habe (vv. 1314 f.), dürfte wohl als Bescheidenheitstopos anzusehen sein. 278 Im Werk selbst werden Lateinkenntnisse postuliert (vv. 1377 f.) und demonstriert, wenn lateinische Einsprengsel für ein Publikum, das offensichtlich als nicht lateinkundig angesehen wird, ins Deutsche übersetzt werden. 279 Angesichts der Lateinkenntnisse kann es nicht überraschen, dass Gundacker die Psalmen kannte. 280 Weiterhin wird deutlich, dass er neben den bereits genannten Quellen auch die kanonischen Evangelien verarbeitete und mit liturgischen Gesängen vertraut war. 281 Theologische Ausdeutungen des Erzählten erfolgen (in Übereinstimmung mit dem werkinternen Unfähigkeitstopos [vv. 1000-1004]! ) nur selten und können oft als Allgemeingut gelten, 282 sodass es schwer fällt, einzelne Quellen zu identifizieren. 283 Deshalb lässt sich auch nicht nachweisen, dass Gundacker ein Geistlicher gewesen sein muss. 284 Neben der (möglicherweise begrenzten) lateinischen Bildung verrät das Werk auf jeden Fall eine volkssprachliche 274 Die Implikationen dieser These hat Köbele (2017, S. 168, Anm. 3) für Christi Hort folgendermaßen skizziert: Zwar sei im Werk nicht explizit ausgeführt, wie die angemessene Form für die tiefgründige materia (vv. 197-200) aussehen könnte, „[d]och ließe sich […] zeigen, dass die Form ineinander umschlagende Stilhöhen ( elocutio -Funktionen) ebenso umfasst wie flexible Chronologien und Strukturen des Erzählens, szenische Detailgestaltung oder großräumige amplificatio durch kanonisches, apokryphes, legendarisches, exegetisches, hymnisches und eben auch höfisch-literatursprachliches Material.“ Köbele hat hier also auch Registerwechsel innerhalb der einzelnen Textteile im Blick. 275 Zur Bedeutung von hort vgl. BMZ; L exer , s. v. Vgl. dazu auch Bushey 1988, S. 50. Ihr Hinweis darauf, dass hort um 1460 in der Kolmarer Liederhandschrift (München, BSB, Cgm 4997) als Überschrift für lose verbundene Strophen fungiert, ist bedenkenswert, doch - wie sie selbst sagt - bleibt der Aussagewert dieser Wortverwendung für Christi Hort mangels früherer Belegstellen begrenzt. 276 Zum Vorbild der Predigt für die manunge vgl. Stübinger 1922, S. 83-85. Seine These, dass die manunge einer Perikopenordnung folgten (vgl. ebd.), ließ sich jedoch nicht sichern (vgl. Bushey 1988, S. 79-85). 277 Zur Marienklage (vv. 2081-2144) vgl. Stübinger 1922, S. 99; Hoffmann 1997a, S. 292. Zur Magdalenenklage (vv. 2329-2333) vgl. de Boor 1971, S. 17-21. 278 Vgl. Bushey 1988, S. 49 f. mit Anm. 6 (S. 71 f.); Knapp 1999, S. 342 f. Geith (1968a, S. 67 f.) nimmt die Stelle dagegen wörtlich. 279 Vgl. z. B. die Namenserklärung zu Lucifer gleich zu Beginn (vv. 17 f.). Weitere Stellen bei Stübinger 1922, S. 69. 280 Das Prologgebet (ab v. 171) ist nach Psalm 50[51],10-12 gearbeitet (vgl. Stübinger 1922, S. 81). 281 Vgl. Knapp 1999, S. 343, mit Belegen. De Boor (1971) hat außerdem plausibel gemacht, dass Gundacker eine Osterfeier kannte. 282 Z. B. die Auslegung der Gaben der Heiligen Drei Könige (vv. 399-432). Vgl. dazu Stübinger 1922, S. 86 f. 283 Vgl. zu dieser Problematik Stübinger (1922, S. 79, 126), der in seinem Kommentar (ebd., S. 79-123) auf Parallelstellen aufmerksam macht und meint, nachweisen zu können, dass Gundacker Honorius Augustodunensis gekannt habe (ebd., S. 126). Außerdem finden sich Parallelen z. B. bei Paschasius Radbertus, etwa in Bezug auf die Auslegung von Nazareth als Blumenstadt (vv. 485-492). Vgl. dazu Stübinger ebd., S. 89; 125. 284 Vgl. Bushey 1988, S. 49. <?page no="110"?> 110 3 Variationen der Rechtsthematik literarische Bildung. Nicht nur, dass Gundacker epische Dichtwerke ( Diu urstende , Mai und Beaflor ) verarbeitet, er zitiert auch Verse Walthers von der Vogelweide. 285 Die Quellenanalyse für Christi Hort lässt den Schluss zu, dass Gundacker mit den ihm vorliegenden Texten behutsam kompilierend verfuhr, d. h. abschnittsweise einer Quelle folgte, sie kürzte und Szenen ausgestaltete, aber nur selten strukturelle Änderungen vornahm. Verdeutlichen lässt sich das an der Passage zu Begräbnis und Auferstehung Jesu (vv. 2145-2582), die im Wesentlichen dem Nikodemusevangelium (Rezension Lateinisch A) entspricht, aber mit Details aus den kanonischen Evangelien angereichert ist. 286 So ist aus dem Nikodemusevangelium (cap. XIII 2 [13,3 (G / I)]) nur indirekt abzuleiten, dass das Grab Jesu bewacht wird. Dagegen wird in Christi Hort - in Übereinstimmung mit Mt 27,62-66 - erzählt, wie ,die Juden‘ zu Pilatus gehen, um die Bewachung des Grabes zu veranlassen (vv. 2207-2241). Die Ausgestaltung, dass ,die Juden‘ die Wächter bezahlen (vv. 2235-2240), ist an Diu urstende (vv. 849-867) angelehnt. 287 Eingefügt ist die Beauftragung der Wächter an chronologisch ,richtiger‘ Stelle nach der Grablegung (vv. 2145-2168). Der Beauftragung der Wächter geht außerdem die Gefangensetzung Josephs voraus (vv. 2169-2206), die wie im Nikodemusevangelium (cap. XII 1 [12,1-3 (G / I)]) als direkte Konsequenz der Grablegung dargestellt ist, d. h., die veränderte Reihenfolge in Diu urstende , wonach zunächst die Wächter beauftragt werden (vv. 823-867) und dann erst Joseph (im Zuge einer allgemeinen Verfolgung der Anhänger Jesu) gefangen gesetzt wird, ist nicht übernommen worden (vv. 868-888). Dass bei einem entsprechenden Gestaltungswillen jedoch auch Erzählelemente aus dem Nikodemusevangelium umorganisiert wurden, zeigen die kurzen Abschnitte zur Höllenfahrt Jesu (vv. 2247-2264) und der Befreiung Josephs (vv. 2265-2292), die in Christi Hort dem ordo naturalis folgend platziert sind. 288 In den Quellen werden die Szenen nur im Descensus -Teil erzählt, in Christi Hort dort dann ausführlicher wieder aufgenommen (vv. 3319-3384; 3613-3864). Für die Untersuchung der Rechtsmotivik ist die Art des Umgangs mit den Quellen insofern von Belang, als auch bei der Prozessschilderung (vv. 1381-1914) ein selektiver Umgang mit dem vorliegenden Material erfolgte, die radikale Umorganisation des Stoffes in Diu urstende aber nicht nachvollzogen wurde. Stattdessen orientiert sich der Handlungsablauf bis zu der Stelle, als Pilatus bewusst wird, dass Herodes um Jesu willen den Kindermord anordnete (v. 1704), am Nikodemusevangelium , allerdings mit signifikanten Kürzungen: 289 Abgesehen von Straffungen sind einige Handlungselemente ganz weggelassen, zum Beispiel die zwei gesonderten Unterredungen des Pilatus mit den zwölf für Jesus eintretenden Juden (cap. II 6; IX ,1 [7,1 (G / I)]). 290 Andere Handlungselemente, wie die Frage des Pilatus nach 285 Vgl. Stübinger (1922, S. 90) zum intertextuellen Bezug von vv. 661 f. zu Walthers Versen L 8,32 f. (vgl. Bein 2013). Stübinger (ebd., S. 59) interpretierte außerdem die Reinheit der Reime als stilistische Orientierung an der deutschen Dichtung der „Blütezeit“. 286 Vgl. Stübinger 1922, S. 90. Mit v. 2583 setzt ein Abschnitt über die Erscheinungen des auferstandenen Jesus ein, in dem sich eine Berufung auf die Evangelisten findet (vv. 2587 f.), der aber die Legenda aurea als Basis hat (vgl. dazu Stübinger ebd., S. 101 f.). 287 Auch in die Befragung der Wächter (vv. 2455-2582), die dem Nikodemusevangelium folgt (cap. XIII 2 f. [13,3 f. (G / I)]), sind Details aus Diu urstende übernommen worden (vgl. Hoffmann 2000, S. 311). 288 Vgl. dazu Manuwald 2015, S. 376 f. 289 Vgl. Stübinger 1922, S. 95-97; Hoffmann 1997a, S. 293. 290 Die Szene, in der die zwölf im Nikodemusevangelium das erste Mal auftreten (cap. II 4 f.), ist in Christi Hort deutlich gestrafft: Die Zwölfzahl und der Proselytenvorwurf kommen gar nicht vor, sondern es ist nur davon die Rede, dass einige Juden gegen den Vorwurf, dass Jesus unehelich geboren sei, Widerspruch einlegen (vv. 1603-1605). <?page no="111"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 111 der Wahrheit (cap. III 2) und sein Versuch, Jesus freizugeben (cap. IX 1 [7,1 (G / I)]), sind in Christi Hort in den Teil der Prozessschilderung (ab v. 1705) verschoben, in dem verschiedene Abschnitte aus den kanonischen Evangelien kompiliert sind. 291 Während im Nikodemusevangelium die Erwähnung des Herodes Pilatus veranlasst, ,den Juden‘ nachzugeben, und auf Handwaschung des Pilatus und Blutruf ,der Juden‘ die Verkündung des Urteils an Jesus erfolgt (cap. IX 3-5 [8,1 f.; 9 (G / I)]), fordern in Christi Hort ,die Juden‘ Pilatus auf, Jesus kreuzigen zu lassen, und dann werden verschiedene Aktivitäten des Pilatus geschildert, die man alle als Versuche seinerseits lesen kann, eine Verurteilung zu vermeiden: ,Die Juden‘ sollen Jesus nach ihrer ê richten (vv. 1714-1716), Pilatus schickt Jesus zu Herodes (vv. 1731-1750), Pilatus will Jesus züchtigen lassen und dann freigeben (vv. 1779-1786), Pilatus will Jesus im Rahmen der Passah-Amnestie freilassen (vv. 1851-1875). 292 Dann fügt sich Pilatus den Forderungen ,der Juden‘, obwohl er sie für unangemessen hält (vv. 1876-1883). Der Quellenwechsel bei v. 1705 ist im Text nicht markiert, dürfte aber für die Gestaltung des Verfahrensablaufs mit bestimmend gewesen sein. 3.3.2 geriht Die Darstellung des Prozesses gegen Jesus in Christi Hort orientiert sich nach Erich Klibansky (1925) - im Vergleich zu Diu urstende Konrads von Heimesfurt und dem Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler - am stärksten an „der deutschen Prozeßform“. 293 Das gilt, wie noch zu zeigen sein wird, für einige Aspekte, insbesondere für die nach Urteilen fragenden Richterfiguren und die Berücksichtigung des Willens der Menge. Vom Formalismus eines deutschen Verfahrens ist jedoch nichts zu spüren; Zeugenaussagen erfolgen ohne verfahrenstechnische Einbettung, abgesehen davon, dass die Zeugen (wie an mehreren Stellen im Nikodemusevangelium impliziert) 294 jeweils aufstehen, um ihre Aussagen zu machen (vv. 1639; 1646). 295 Es dürfte zwar ohnehin nicht angemessen sein anzunehmen, dass ein 291 Vgl. Stübinger 1922, S. 96-98. Für die eingeschobene Misshandlung Jesu durch ,die Juden‘ (vv. 1723-1730) ließ sich keine Quelle sichern (vgl. Stübinger ebd., S. 95); es könnte sich um einen Reflex der Verspottung Jesu im Haus des Hohepriesters handeln (vgl. Mt 26,67; Mc 14,65; Lc 22,63), in deren Rahmen Jesus - nach Matthäus und Markus wie in Christi Hort (v. 1725) - bespuckt wird. - Dass Gundacker Apokryphes von Kanonischem strikt trennt (so Hoffmann 1997a, S. 293), stimmt nur insofern, als die Kapitel des Nikodemusevangeliums , die mit den kanonischen Evangelien übereinstimmen, im ,apokryphen Teil‘ der Prozessschilderung ignoriert werden (vgl. Hoffmann ebd.); es sind darin aber durchaus Elemente aus den kanonischen Evangelien eingearbeitet (z. B. v. 1625; vgl. Mt 26,65). 292 Wie Wyss (1986, S. 301) es für die Exposition beobachtet hat, scheint das Ordnungsprinzip auch hier systematischen Kriterien zu folgen. Vgl. Stübinger (1922, S. 97 f.) zu der gegenüber den kanonischen Evangelien veränderten Chronologie und zu den Parallelstellen im Einzelnen. 293 Vgl. Klibansky 1925, S. 27; vgl. auch ebd., S. 23. 294 Nichodemus autem quidam uir Iudaicus stetit ante presidem et dicit, […] (cap. V 1, Z. 1 f.; „Nikodemus, ein Jude, hat sich vor den Statthalter gestellt und sagt: […]“); Ex Iudeis autem alius quidam exiliens rogat presidem ut uerbum diceret. (cap. VI 1, Z. 1 f.; „Von den Juden aber springt jemand auf und bittet den Statthalter, das Wort ergreifen zu dürfen.“); Et alius quidam Iudaeus exiliens dixit: […] (cap. VI 2, Z. 1; „Und ein anderer Jude sprang auf und sagte: […]“). Auch im Nikodemusevangelium wird das Aufstehen aber nicht immer erwähnt, vgl.: Et mulier quaedam nomine Ueronica dixit: […] (cap. VII, Z. 1 [6,3 (G / I)]; „Und eine Frau namens Veronika sagte: […]“). 295 Klibansky (1925, S. 24 f.) hebt hervor, dass „die Zeugen ihre Aussage stehend machen müssen“. Auffällig ist aber vielmehr, dass die nah am Nikodemusevangelium bleibenden Formulierungen suggerieren, dass die Zeugen vorher gesessen haben, da außer dem Richter wohl nur die Urteiler eine sitzende Position einnahmen (s. o. S. 76 f.). Die Unklarheit über die Gruppenzugehörigkeit der Zeugen passt <?page no="112"?> 112 3 Variationen der Rechtsthematik ,vollständiges‘ deutschrechtliches Verfahren dargestellt werden sollte, aber es ist doch aufschlussreich, dass nur an bestimmten Stellen entsprechende Anpassungen durchgeführt wurden. Für den Handlungsablauf nach dem Nikodemusevangelium unverzichtbar war es, einen Ort des Gerichts zu benennen, da das Betreten oder Verlassen des Prätoriums durch die Prozessbeteiligten dort mehrfach eine zentrale Rolle spielt. In Christi Hort ist der Ort des Gerichts (wie in Diu urstende ) durch eine Abschrankung markiert: 296 Der Läufer, den Pilatus ausgesandt hat, um Jesus zu holen, bittet ihn, in die schrangen zu gehen (v. 1435). Im abgeschrankten Bereich befinden sich offenbar auch ,die Juden‘, denn sie gehen hinaus, um (nach dem ersten Neigen der chriuce ) 297 zwölf jüdische Träger auszuwählen (vv. 1533 f.) 298 bzw. um eine Befleckung durch eine Beteiligung an der Verurteilung Jesu zu vermeiden (vv. 1817-1822). Pilatus wird als auf einem (Richt)stuhl ( stu ͦ le , v. 1562) sitzend vorgestellt, denn er springt vor Schreck davon auf, als sich die chriuce zum zweiten Mal vor Jesus verneigen (vv. 1562 f.). 299 Zu einem späteren Zeitpunkt steht er zornig auf und will uz der schrangen hinausgehen, um die Verhandlung zu beenden (vv. 1689 f.), 300 setzt sich dann jedoch wieder hin ( du saz er anz geriht nider , v. 1705). Sein Niedersitzen zeigt auch den Wiederbeginn des Verfahrens an, nachdem Herodes Jesus wieder zu Pilatus zurückgesandt hat (v. 1751). Dass das Aufstehen des Richters das Ende eines Verfahrens markiert, ist ein Zug, der aus dem lateinischen Nikodemusevangelium übernommen wurde, der aber in einem deutschrechtlichen Kontext sehr plausibel ist. 301 Logischer als bei einem im Prätorium vorgestellten Gerichtsverfahren, wie es das Nikodemusevangelium voraussetzt, ist bei einer Verhandlung innerhalb von Gerichtsschranken dazu, dass in der gesamten Prozesserzählung nicht klar zwischen den Parteien und den Urteilern differenziert wird. 296 In Christi Hort wird das Wort schrange in der Regel im Singular gebraucht. Vgl. zum Ort der Verhandlung in Christi Hort auch Klibansky 1925, S. 24 f. 297 Die signa des Nikodemusevangeliums (cap. I 5, Z. 2) sind in Christi Hort - anders als in Diu urstende - als chriuce (v. 1492) aufgefasst. Klibansky (1925, S. 25) sieht hierin ein Missverständnis, es fehle außerdem „jeder naheliegende Hinweis auf die hierin [sc. in den Fahnen] zum Ausdruck kommende stellvertretende königliche Gerichtsgewalt“. Auch Kreuze können jedoch im Mittelalter Herrschaftszeichen sein (vgl. Lück 2012b, Sp. 983; Kocher 2016), sodass eine entsprechende Verwendung in Christi Hort rückprojiziert worden sein könnte, ohne dass die nicht-christliche Kultur, in der die Handlung situiert ist, dafür ein Hinderungsgrund gewesen wäre. Dass es nicht auf den religiösen Aspekt der ,Kreuze‘ ankommt, ist auch daran abzulesen, dass im weiteren Erzählverlauf (vv. 1533-1547) nicht problematisiert wird, dass ,die Juden‘ mit den ,Kreuzen‘ letztlich christliche Symbole tragen. 298 Vgl. Klibansky (1925, S. 25): „Will eine Partei während der Verhandlung sich beraten, so zieht sie sich zum Gespräch zurück und geht ‚ouz der schrangen‘ (CH. 1533)“. Zu solchen Beratungsgesprächen vgl. von Planck 1879, Bd. 1, S. 217-222. - Die ursprünglich drei Träger (v. 1523) werden durch zwölf Juden ersetzt (v. 1534), die zu je vier Mann (v. 1543) ein ,Kreuz‘ tragen sollen (vgl. Klibansky ebd., Anm. 54). Durch diese Zahlenangaben wird die im Nikodemusevangelium angegebene Zahl von zwölf Mann bei der Auswechslung erreicht, mit anderer Aufteilung, aber mit demselben Akzent, dass die Juden trotz ihres übersteigerten Bemühens, das Neigen der signa bzw. ,Kreuze‘ zu verhindern, nicht erfolgreich sind. 299 Ein Richterstuhl ist kein deutschrechtliches Spezifikum, steht aber durchaus im Einklang mit der Vorstellung von Gerichtsschranken (vgl. Schott 2006, S. 155). 300 Vgl. Nikodemusevangelium , cap. IX 3, Z. 1 (8,1 [G / I]): Exurgens Pilatus de tribunali uoluit exire foras . („Pilatus stand vom Tribunal auf und wollte nach draußen gehen.“). 301 Vgl. dazu Klibansky 1925, S. 25. Zum Sitzen des Richters und zum Signalwert seines Aufstehens vgl. Drüppel 1981, S. 298; Schott 2006, S. 153-146. <?page no="113"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 113 die Anwesenheit einer Öffentlichkeit. Dass ,die Juden‘ hören, was Jesus zu Pilatus gesagt hat, und darauf reagieren (vv. 1591; 1622-1626 302 ), erscheint in einem deutschrechtlichen Kontext ganz natürlich. Entsprechend unscharf ist die Verortung des aus Io 18,33-38 übernommenen Verhörs (vv. 1751-1778). Im Johannesevangelium findet die Unterredung im Prätorium statt, ,die Juden‘ haben das Gebäude nicht betreten, um nicht unrein zu werden (Io 18,28). 303 In Christi Hort scheint Pilatus Jesus von seinem Gerichtsstuhl aus anzureden, 304 geht dann jedoch von Jesus weg, 305 und zwar dorthin, wo ,die Juden‘ stehen (vv. 1779 f.). Für die weitere Befragung Jesu nach Io 19,9-11 (vv. 1798-1816) geht Pilatus wieder zu ihm (vv. 1796 f.). Auch Jesus gegenüber tritt er in den Augen des Erzählers als Richter auf, denn die Frage redst du niht mit mir (v. 1801; vgl. Io 19,10) wird als ordnungsgemäße Reaktion darauf gekennzeichnet, dass der Angeklagte schweigt. 306 Nach der Unterredung mit Jesus geht Pilatus wieder zu den juden (v. 1851), wo er weiterhin als Richter agiert. Jedenfalls kommt der Prozess in der nun folgenden Unterredung mit ,den Juden‘ zu einem Ende. Wo Jesus und ,die Juden‘ sich jeweils genau befinden, wird nicht explizit gesagt; aber wenn man davon ausgeht, dass Jesus beim Richtstuhl (vgl. vv. 1751 f.) innerhalb der Gerichtsschranken steht, dann lassen sich vv. 1817-1822 wie eine nachgeschobene Erklärung lesen, warum ,die Juden‘ nicht mehr dort zu finden sind: Im Plusquamperfekt wird dort erklärt, sie hätten den abgeschrankten Bereich verlassen, 307 weil sie negative Konsequenzen für sich selbst befürchteten, wenn sie die Verurteilung Jesu mit ansähen. 308 Das Problem der Raumlogik ist auf diese Weise gelöst, jedoch wirft die Aussage verfahrenstechnisch neue Fragen auf (von der noch zu diskutierenden Motivation für den Weggang einmal abgesehen): Sind ,die Juden‘, die den abgeschrankten Bereich verlassen haben, identisch mit denen, die Pilatus später nach dem Urteil fragt (vv. 1876 f.)? Wenn ja, welchen Status haben sie? Sie wären dann durch das Verlassen der schrangen nicht zu Unbeteiligten geworden. Man wird von der Erzählung wiederum keine verfahrenstechnische Stringenz verlangen dürfen, aber das Verhalten der Menge spielt durchgehend eine wichtige Rolle, sodass die Frage nach deren Status am Ende des Prozesses nicht unberechtigt ist. Zu deren 302 Hier ist die Aussage des Hohepriesters in Mc 14,63 f. der Menge in den Mund gelegt. 303 Das Verhör durch Pilatus ist auch in das Nikodemusevangelium übernommen worden (cap. III 2). Nach dessen Version befinden sich ,die Juden‘ zwar zunächst im Prätorium, werden dann jedoch von Pilatus hinausgeschickt (cap. II 6). 304 an daz gerichte er aver saz / unt sprach zu Jesu […] (vv. 1751 f.). 305 Das dazu notwendige Aufstehen des Richters wird an dieser Stelle nicht thematisiert. 306 Jesus gab im ein antwurt niht. / des lasters nam Pilatus phlicht (vv. 1799 f.). Das Wort phlicht ist auf Pilatus bezogen, der seiner Verpflichtung nachkommt, das laster zu ahnden (vgl. zum Ausdruck ‚ phlicht nemen ‘ BMZ, s. v. phliht ). Das Schweigen Jesu kann insofern als ein ‚Laster‘ gelten, als es im deutschrechtlichen Kontext eine Verletzung der Dingpflicht darstellt (so auch Klibansky 1925, S. 25, mit Verweis auf von Planck 1879, Bd. 1, S. 60). 307 Der durch Gerichtsschranken umfriedete Bereich dient hier als ein Äquivalent zum Prätorium im Johannesevangelium (Io 18,28). 308 In der eingeschobenen Petrus-Episode (vv. 1827-1850) heißt es, dass Jesus Petrus ansieht (v. 1843; vgl. Lc 22,61) und dass Petrus danach hinausgeht ( da gie er ouz , v. 1844; vgl. z. B. Lc 22,62). Nach Stübinger (1922, S. 98) muss die Szene, die nach den kanonischen Evangelien im Hof des Hohepriesters stattfindet, bei Gundacker „dem Zusammenhang nach im Gerichtshause“ zu denken sein; das Konzept eines Gerichtshauses kommt in Christi Hort aber nicht vor. Die unklare Lokalität scheint durch die Nähe zum Evangelientext zustande gekommen zu sein (vgl. dazu Manuwald 2015, S. 359). Wichtiger als eine räumliche Logik ist hier offenbar die systematische Verknüpfung über das Sehen: Anders als ,die Juden‘ will Petrus sehen, was geschieht, verleugnet jedoch Jesus und zieht sich zurück, nachdem dieser ihn angesehen hat. <?page no="114"?> 114 3 Variationen der Rechtsthematik Beantwortung soll jedoch zunächst betrachtet werden, welche Funktionen den verschiedenen Akteuren im Verlauf des Prozesses zukommen. Der Prozess wird - wie im Nikodemusevangelium - dadurch eingeleitet, dass ,die Juden‘ den Richter Pilatus aufsuchen und Anklagen vorbringen (vv. 1396-1419). 309 Sie berichten Pilatus auch von der Gefangensetzung Jesu (v. 1399), jedoch schickt dieser trotzdem seinen ,Läufer‘ 310 aus, um Jesus zu holen. Dass der ,Läufer‘ ein Tuch um den Hals trägt, das er ehrend vor Jesus ausbreiten kann, wird als Sitte ,jenseits des Meeres‘ erklärt, wo Jung und Alt für ein solches Tuch Geld ausgäben (vv. 1423-1429). 311 Während diese Erklärung der Sitte das Ungewöhnliche des Verfahrens noch betont, ist in der Formulierung der Kritik ,der Juden‘, Jesus hätte mit schergen stimme / […] unt mit grimme (vv. 1445 f.) herbeigebracht werden sollen, 312 mit scherge eine Person des Gerichts benannt, wie sie aus der deutschrechtlichen Praxis bekannt war. 313 ,Die Juden‘ fordern auch explizit eine Erfüllung der gängigen Gerichtspraxis ( ‘das wær recht’ , v. 1447). Obwohl in Christi Hort nicht ausdrücklich davon die Rede ist, dass Jesus zu einer Gerichtsverhandlung geladen wird, wird mit der schrangen (vv. 1435; 1533) und dem Richtstuhl (v. 1562) ein entsprechendes Setting aufgebaut. Offenbar obliegt dem Richter die Entscheidung darüber, ob er eine Verhandlung eröffnet oder nicht. Jedenfalls lässt Procula, die Frau des Pilatus, - in einer signifikanten Präzisierung von Mt 27,19 und der entsprechenden Stelle im Nikodemusevangelium (cap. II 1) - Pilatus ausrichten: “du solt dich dehain gerith an nemen um disen rechten man; ich han heint in jamers sitten grozen ungemach erlitten in dem troum von im, da von dih von der rede nim.” (vv. 1571-1576) Mag auch die Vorstellung, Pilatus hätte es einfach ablehnen können, über Jesus zu Gericht zu sitzen, in einem heilsgeschichtlichen Kontext rein hypothetisch wirken, wird sie im Pilatus-Veronika-Teil von Christi Hort wieder aufgenommen, wenn Pilatus formuliert, er hätte richtig ( reht , v. 4095) gehandelt, wenn er dem Rat seiner Frau gefolgt wäre und gar nicht erst über Jesus zu Gericht gesessen hätte (vv. 4094-4100). reht wäre diese Verhaltensweise 309 Ähnlich wie in Diu urstende (s. dazu o. S. 77) wird für die Vorwürfe das Wort ,rügen‘ verwendet (hier als Verb): an disen dingen ru ͤ gten si in (v. 1419). Klibansky (1925, S. 25) sieht darin ein deutschrechtliches Element, es handelt sich jedenfalls um einen Terminus technicus. 310 Bei dessen erster Erwähnung (v. 1421) wird er als leufel bezeichnet, offenbar in Anlehnung an den cursor des Nikodemusevangeliums (vgl. cap. I 2). Der Erzähler charakterisiert ihn ergänzend als ein stolzen chnaben, / der sich wol chunde an tugenden haben (vv. 1421 f.). Im Folgenden wird seine soziale Stellung als chnap (vv. 1430; 1485; 1550) bzw. cneht (v. 1448) spezifiziert und in einen mittelalterlich höfischen Kontext übertragen (vgl. auch die Bezeichnung des Läufers als der hofsche man , v. 1476). Dass er Jesus ,schön‘ vor Gericht geleitet (vv. 1487; 1551), kann ebenfalls als höfisches Element gelten. Vgl. das Empfangszeremoniell für Columban (v. 4435) und Vespasian (v. 5099) bei Tiberius. 311 Zum Tuch-Motiv im Nikodemusevangelium (cap. I 2) s. u. S. 181, Anm. 15. 312 Vgl. Nikodemusevangelium , cap. I 2, Z. 10 f.: ‘Quare non sub uoce preconis iussisti eum introire sed per cursorem? […] ’ („ ,Warum hast du ihn nicht durch die Stimme des Herolds herkommen lassen, sondern durch einen Läufer? […]‘ “). 313 Vgl. dazu auch Klibansky 1925, S. 25. scherge ist eine übliche Übersetzung von lat. praeco (vgl. BMZ, s. v.; s. auch u. S. 190, Anm. 68), ist aber eindeutiger auf den gerichtlichen Kontext festgelegt (zur umfassenderen Bedeutung des lateinischen Wortes vgl. OLD, s. v.). <?page no="115"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 115 aus der subjektiven Sicht des Pilatus deshalb gewesen, weil dann sein eigenes Leben nicht in Gefahr geraten wäre. Jedoch könnten sich hinter der - gegenüber den Vorlagen - neuen Idee auch Bezüge zur Rechtswirklichkeit verbergen, denn eine Möglichkeit der Einflussnahme des Richters in einem deutschrechtlichen Verfahren war der passive Widerstand. 314 In Christi Hort leitet die Reaktion ,der Juden‘ auf die Botschaft Proculas - sie werfen Jesus mit lautem Geschrei Zauberei vor (vv. 1577-1581) - direkt zu einer Verhandlung über, die (wie im Nikodemusevangelium ) weder formell eröffnet noch mit einer offiziellen Anklage eingeleitet wird. Stattdessen nimmt Pilatus in einer Rede an Jesus auf die Vielfalt der gegen ihn erhobenen Vorwürfe Bezug (vv. 1582-1585). 315 Die Antwort Jesu, dass jeder frei entscheiden könne, ob er gut oder schlecht (über jemanden) spreche (vv. 1586-1590), wird in den folgenden Versen in der Handlung entfaltet, denn die Mehrheit ,der Juden‘ 316 äußert, von Zorn getrieben und schreiend, weitere Vorwürfe, wie die uneheliche Geburt Jesu und die Verantwortung für den Kindermord (vv. 1591-1602; zum Geschrei vgl. 1607 f.), während eine andere Gruppe über dieses Verhalten traurig ist und mit semftichait den Vorwurf der unehelichen Geburt bestreitet (vv. 1603-1608). Anders als in Diu urstende reden die Unterstützer und Gegner Jesu nicht direkt miteinander. Das entspricht der über den Richter laufenden Kommunikation der Prozessparteien in einem deutschrechtlichen Verfahren. 317 Die Gruppe der schreienden , Juden‘ lässt sich verfahrenstechnisch als die der Ankläger klassifizieren, die andere bleibt verschwommen: Befindet sie sich innerhalb des abgeschrankten Bereichs oder außerhalb? Ist vom gesamten Umstand die Rede, oder gibt es ein gesondertes Urteilergremium? In Christi Hort ist offenbar nur wichtig, dass der Richter auf das Verhalten der Menge zu reagieren hat. In einem Zusatz gegenüber dem lateinischen Nikodemusevangelium heißt es, dass es Pilatus angemessen gewesen wäre, das Geschrei zu stoppen - also den Gerichtsfrieden herzustellen -, es ihm aber nicht gelingt, die Ankläger zur Mäßigung zu bringen (vv. 1609-1612), 318 und er sich stattdessen ratsuchend an Jesus wendet (v. 1613). Jesus verweist darauf, dass sein Martyrium bereits feststehe (vv. 1614-1621; vgl. Nikodemusevangelium , cap. IV 3), was ,die Juden‘ nur zu gern bekräftigen (vv. 1622-1626; vgl. Mt 26,65). Als daraufhin aber auch viele ,der Juden‘ anfangen zu weinen und damit ihr Missfallen zu erkennen geben, wie ausdrücklich gesagt wird (vv. 1627-1629), reagiert Pilatus als Richter darauf: Er und Nikodemus hätten mit ir chunst und ir list versucht, Jesus zu retten (vv. 1630-1636). Die Rolle von Nikodemus an dieser Stelle erklärt sich nur aus der Vorlage (cap. V 1), nach der Nikodemus vor den Zeugenaussagen der Geheilten eine Rede hält, in der er für Jesus eintritt. Die für Pilatus positive Zusammenstellung mit Nikodemus weist hier aber auch auf die geschickte Verhandlungsführung des Richters Pilatus voraus, wie sie später in Bezug auf die Passah-Amnestie geschildert wird. 319 314 Vgl. Drüppel (1981, S. 128), der das aus stadtrechtlichen Quellen ableitet, nach denen nur Gegenmaßnahmen ergriffen werden sollten, wenn der Richter „ mit vnrechte - grundlos oder aus Parteilichkeit - seine Mitwirkung ablehnte“. Zum Handlungsspielraum des Richters s. auch u. Kap. 5.1. 315 An der entsprechenden Stelle im Nikodemusevangelium (cap. II 2) ist nicht eindeutig, ob Pilatus sich auf alle Anklagepunkte ,der Juden‘ oder nur auf den zuletzt vorgebrachten Zaubereivorwurf (cap. II 1) bezieht. 316 Die Gruppe wird zunächst mit die juden bezeichnet (v. 1591), erst in vv. 1603 f. wird klar, dass es unter ihnen auch ,genügend‘ gibt, die eine andere Position vertreten. 317 Vgl. dazu Drüppel 1981, S. 299 f. 318 Auch im weiteren Verlauf der Verhandlung mangelt es den Anklägern an zuht (vgl. vv. 1658 f.; 1692). 319 Pylatus zu den juden gie, / sin rede er wislich an vie (vv. 1851 f.). <?page no="116"?> 116 3 Variationen der Rechtsthematik Als Pilatus und Nikodemus die Ankläger nicht umstimmen können (vv. 1637 f.), treten Zeugen auf, die von Heilungswundern berichten (vv. 1639-1654). Pilatus handelt im Folgenden wie ein Richter, der die ,Beweislage‘ selbst einschätzt: Er erschrickt vor der go ͤ tlichen ere , die er in den Heilungswundern erkennt (vgl. Nikodemusevangelium , cap. VI 4), und will Jesus freilassen (vv. 1655-1657; vgl. Io 19,12). Als ,die Juden‘ ihm daraufhin mit dem Kaiser drohen, hält er eine Scheltrede, in der er ,den Juden‘ unter Berufung auf ihr Verhalten gegenüber Moses vorwirft, sie seien seit jeher von Falschheit und einem Mangel an triwe (v. 1677) geprägt und drohten ihm deshalb mit dem Kaiser, wenn er Jesus freiließe, dessen Schuld sie mit redlichen sachen nicht nachweisen könnten (vv. 1663-1688; vgl. Nikodemusevangelium , cap. IX 2 [7,2 (G / I)]). 320 Seine Absicht, zornig den abgeschrankten Bereich zu verlassen und so den Prozess abzubrechen, realisiert Pilatus jedoch nicht, als ‚die Juden‘ darauf hinweisen, dass es Jesus ist, um dessentwillen Herodes die Kinder habe erschlagen lassen (vv. 1689-1705). Bei ihren neuerlichen Vorwürfen befinden sich die Ankläger offenbar im abgeschrankten Bereich, denn sie bedrängen Pilatus, indem sie sich um ihn herumstellen (vv. 1706-1710). 321 In dieser Situation erfragt Pilatus ein Urteil, woraufhin sich ,die Juden‘ für die Kreuzigung aussprechen. An dieser Stelle, die ohne Parallele in den Vorlagen ist, überwiegen deutschrechtliche Elemente, indem Verfahrensführung und Urteilsfindung getrennt werden. 322 Allerdings scheint die Gruppe der Urteilsfinder mit der der Ankläger identisch zu sein. Außerdem wird deutlich, dass mit dem Urteilsvorschlag 323 nicht etwa ein Ende des Prozesses erreicht ist, da Pilatus das Urteil nicht ausgibt, sondern den Fall an die jüdische Gerichtsbarkeit überweisen will (vv. 1714-1717; vgl. Io 18,30 f.). Als ,die Juden‘ unter Berufung auf das Tötungsverbot in ihrer ê das ablehnen (vv. 1718-1722), beendet Pilatus die Verhandlung, indem er sich erhebt (v. 1733) und Jesus zu Herodes bringen lässt (vv. 1734 f.; vgl. Lc 23,7). 324 In der erneuten Verhandlung (ab v. 1751) wird der (begrenzte) Entscheidungsspielraum des Richters wiederum deutlich. Angelehnt an das Lukasevangelium (Lc 23,14; 16; 22) verkündet Pilatus nach einem weiteren Verhör Jesu, er könne kein todeswürdiges Vergehen finden, deshalb wolle er Jesus zuchtigen lassen, und man solle ihn dann freigeben (vv. 1782-1786). Interessanterweise kündigt er nicht wie im Lukasevangelium an, er wolle ihn 320 Zur Hochschätzung Mose vgl. Rommel (2002, S. 189, in Bezug auf die Zeit der Kirchenväter): „Von Aaron bis zu den Klagereden der Propheten wurden alle negativen Schriftstellen auf die Propheten bezogen, während man Moses, die Propheten selbst sowie alle weiteren zentralen Autoritäten des Christentums der eigenen christlichen Tradition zuschlug.“ Im Nikodemusevangelium werden die Autoritäten nicht so sehr der christlichen Tradition zugeschlagen, sondern der Hauptvorwurf zielt darauf ab, dass ,die Juden‘ seit jeher gegen die eigenen Wohltäter rebelliert hätten (vgl. dazu Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 149, Anm. 75). Vgl. entsprechend in Christi Hort , vv. 1678 f.: unt wart ouch ungehorsam / ewerm maister Moysi . 321 Vor diesem Hintergrund könnte es auch eine wörtlich zu verstehende Komponente haben, dass ,die Juden‘ Pilatus protestierend besten (v. 1440), als sie die höfliche ,Vorladung‘ Jesu bemängeln. Zur Wortbedeutung von besten (u. a. ,sich gegen jemanden stellen‘) vgl. BMZ; L exer ; MWB, s. v. bestân , bestên . 322 Vgl. Klibansky 1925, S. 25. 323 Für diese Konstellation scheint der von Weitzel (1998, Sp. 438) kritisierte Begriff angemessen zu sein, denn es handelt sich nicht um ein Konsens stiftendes Ersturteil. 324 Die vorher berichtete Misshandlung Jesu durch ,die Juden‘ findet also wohl noch während der Verhandlung statt (vv. 1723-1730), ohne dass der massive Bruch des Gerichtsfriedens problematisiert würde. Vielleicht sind hier aber auch eher systematische Prinzipien bei der Textorganisation wirksam, denn das Verspottungsmotiv wird fortgesetzt, indem Pilatus Jesus ein Purpurgewand anlegen lässt, als er ihn zu Herodes schickt (s. dazu o. S. 105, Anm. 249), der ihn wiederum mit einem weißen Gewand bekleidet zurückbringen lässt (v. 1749; veste alba , Lc 23,11). <?page no="117"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 117 selbst freilassen, und die jetzt einstimmige Forderung ,der Juden‘, Jesus solle gekreuzigt werden (vgl. Mc 15,13), und der nochmalige Hinweis auf den Kaiser (vv. 1787-1790) veranlassen Pilatus, die Verhandlung fortzuführen. Im ‚Gespräch‘ mit Jesus, der ihm nicht antwortet, bedeutet ihm Pilatus aber dann - in wörtlicher Übersetzung von Io 19,10 -, er habe die Macht, Jesus freizulassen oder zu töten (vv. 1801-1805). ,Die Juden‘ scheinen den abgeschrankten Bereich nicht aus Angst vor einer aktiven Beteiligung an einem Todesurteil zu verlassen, sondern wegen der Befürchtung, dass sich schon das Anschauen einer solchen Verurteilung negativ auswirken könnte (vv. 1817-1822). Das wird mit der aktualisierenden Übertragung durch den Erzähler, dass sich etliche Leute noch heute dadurch rein halten wollten, dass sie sich eine Verurteilung zum Tode nicht anschauen wollten (vv. 1823-1826), noch einmal bekräftigt. 325 In der Barrabas-Szene (vv. 1851-1877; vgl. Mt 27,16-23; Mc 15,6-15; Lc 23,18-25; Nikodemusevangelium , cap. IX 1 [7,1 (G / I)]) befragt Pilatus jedoch dann wiederum ,die Juden‘, wie er mit Jesus verfahren solle. Da das Geschrei des Volkes, von dem die kanonischen Evangelien an der entsprechenden Stelle berichten, ebenso wie im Nikodemusevangelium ausgespart ist, endet die Szene nicht im Tumult, sondern mit einer Frage des Pilatus ( ‘wes ist nu Jesus wert? ’ , v. 1876), die sich als erneute Urteilsfrage verstehen lässt. 326 Sie ist - dem biblischen Kontext nach - an das gesamte jüdische Volk gerichtet, das sich in einem deutschrechtlichen Zusammenhang als Umstand denken ließe. Auch wenn die Gruppe ,der Juden‘ in der Prozessschilderung nur punktuell so an Kontur gewinnt, dass ihre verfahrenstechnische Rolle genau zu bestimmen ist, entsteht doch der Eindruck, dass der Richter durchgehend in Abstimmung mit der Menge agiert. Wiederum wird jedoch das Urteil vom Richter nicht ausgegeben, vielmehr verkündet Pilatus, ,die Juden‘ würden geschändet, wenn er ihren König kreuzigen ließe (vv. 1878 f.; vgl. Io 19,15; Nikodemusevangelium , cap. IX 2 [7,2 (G / I)]). In vv. 1881 f. heißt es dann, dass Pilatus von ‚den Juden‘ weggegangen sei und nun seinerseits Jesus gefangen gesetzt habe (um ihn anschließend geißeln zu lassen). Davor ist die Bemerkung des Erzählers eingeschoben da beginnet diu rede sich spreucen (v. 1880). Der Vers ist schwer zu deuten, weil nicht ganz klar ist, was mit der rede gemeint ist, die sich ,spreizt‘ oder ,auseinander wächst‘. 327 Obwohl rede in Christi Hort gelegentlich auch in Bezug auf Figuren gebraucht wird (v. 1806), ist es unwahrscheinlich, dass hier die rede des Pilatus gemeint ist, weil sie ihm nicht pronominal zugeordnet ist und der Vers im Präsens steht. Auch dürfte die rede nicht auf eine Auslegung des Geschehens zu beziehen sein, denn in analogen Fällen waren in Christi Hort das Geschehen interpretierende Verse vorangegangen. rede kann in Christi Hort aber auch die Erzählung selbst meinen (vgl. v. 4045). 328 Dann würde thematisiert, dass die Erzählung bzw. der Gegenstand der Erzählung 329 widersprüchlich wird, da Pilatus zu erkennen gibt, dass er Jesus für unschuldig hält, aber nicht danach handelt. Dass an dieser zentralen Stelle vom Erzähler eine Irritation ausgedrückt wird, ist ungewöhnlich, scheint aber vor dem Hintergrund anderer selbstreflexiver Bemerkungen zum Erzählen in Christi Hort durchaus 325 Klibansky (1925, S. 26) verweist zu Recht auf den kulturgeschichtlichen Wert der Umsetzung von Io 18,28; deren Kontext konnte jedoch bisher nicht geklärt werden. Zur spirituellen Gefahr beim Fällen von Todesurteilen s. u. S. 211; S. 220, Anm. 106. 326 So auch Klibansky 1925, S. 25. 327 Die Lesart spreucen wird durch einen entsprechenden Vers in der Weltchronik Heinrichs von München gestützt ( do begund sich die red sprau ͤ czen , v. 6,1873). Shaw / Fournier / Gärtner (2008, S. 588) geben im Wortverzeichnis als Bedeutung für spriuczen ,auseinandergehen, widersprüchlich werden‘ an. 328 Zum Bedeutungsspektrum von rede in Christi Hort s. o. S. 105 f. 329 Beide Aspekte kann das Wort rede abdecken (vgl. BMZ; L exer , s. v.). <?page no="118"?> 118 3 Variationen der Rechtsthematik plausibel. Der Vers, der einen formellen Abschluss des Prozesses ersetzt, stellt vermutlich auch eine Reaktion darauf dar, dass aus den kanonischen Evangelien, denen Christi Hort an dieser Stelle folgt, keine formelle Urteilsverkündung entwickelt werden konnte. Die Verteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Pilatus und ,den Juden‘ bleibt in Christi Hort unklar, auch im Folgenden. Zwar ist es Pilatus, der Jesus geißeln lässt, 330 aber bei der Kreuztragung und Kreuzigung scheinen vor allem die mit si bezeichneten , Juden‘ aktiv zu sein (v. 1915; dann Passivformen). 331 Schaut man sich den Prozess bzw. die ,apokryphe‘ und die ,kanonische‘ Verhandlung in Christi Hort insgesamt an, so wird deutlich, dass sie nicht konsequent an das deutsche Recht angepasst sind: In beiden Teilen changiert die Rolle des Richters zwischen urteilender und verfahrensleitender Funktion. Die unklare Verteilung der Verantwortlichkeiten war in den Vorlagentexten schon angelegt und ist durch einige explizit deutschrechtliche Elemente, insbesondere die erste Urteilsfrage des Pilatus (v. 1711), verstärkt worden; denn einerseits wird deutlich, dass die Urteiler eine Verantwortung haben, andererseits zeigt aber die Reaktion des Pilatus, der das Urteil nicht ausgibt, dass auch der Richter einen Spielraum hat. Durch das Herauskürzen von Figurenreden des Nikodemus und der zwölf für Jesus eintretenden Juden fokussiert sich das Geschehen gegenüber dem Nikodemusevangelium ganz auf Pilatus als Richter, Jesus als Angeklagten und ,die Juden‘, die überwiegend als feindselige Gruppe dargestellt werden. Pilatus wird dabei tendenziell als positive Figur gekennzeichnet, während es am Ende des Prozesses vollkommen in den Hintergrund getreten ist, dass es auch Juden gibt, die Jesus nicht gekreuzigt sehen wollen. Das Problem, wer die Verantwortung für die Kreuzigung trägt, bleibt bis zum Ende des Prozesses offen: Pilatus billigt sie nicht, aber er lässt sie, wie von ‚den Juden‘ gewünscht, vollziehen. In der Pilatus-Veronika-Legende wird der Prozess gegen Jesus jedoch diskursiv und in einer weiteren Gerichtsverhandlung aufgearbeitet. Dort geht es dann nicht um den Ablauf im Einzelnen, sondern um die Schuldfrage. Da diese aber mit dem Verfahren verknüpft ist, sollen hier auch die ,Rückblicke‘ auf den Prozess gegen Jesus diskutiert werden. Zunächst fasst der Erzähler das bisherige Geschehen um Pilatus zusammen: ir hapt da von wol vernomen wi e er zeJerusalem was chomen unt richtær wart inder stat und wie er da gerichtet hat; er was ungu ͤ tic al sein ceit, er wesse wol daz die juden durch ir neit Jesum heten verraten, unt swas si im ubels taten, daz wesse wol Pilatus daz si das taten um sus. do c h rihter durch siu uber in, dar an betraug in sein sin daz er durch der juden pêt unrecht gericht uber in tet. (vv. 4049-4062) 330 Nach der Geißelung wird Jesus ,den Juden‘ vorgeführt (vv. 1905-1914), nur das Prädikat im Singular (v. 1907) deutet an, dass Pilatus dabei beteiligt sein könnte; die Ecce homo -Szene ist getilgt. 331 Pilatus tritt erst als Verfasser der Kreuzesinschrift wieder in Erscheinung (vv. 1973-1983). <?page no="119"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 119 Bereits aus diesen Versen ist erkennbar, dass man es in diesem Textabschnitt mit einem deutlich veränderten Pilatus-Bild zu tun hat. Der Rückbezug auf die in Christi Hort nur knapp angedeutete Vorgeschichte, wie Pilatus zu seiner Gerichtsgewalt kam (unter Umgehung von Herodes direkt von Rom) und damit zugleich die Feindschaft mit Herodes begann (vv. 1343-1350), verweist auf die Kenntnis der legendarischen Pilatus-Vita, aus der auch die Tendenz zu einer negativen Bewertung der Figur insgesamt herrühren dürfte. 332 Allerdings gibt es hinsichtlich der über den Prozess referierten ‚Fakten‘ keinen Bruch zu dem auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Teil von Christi Hort : Pilatus weiß, dass ,die Juden‘ aus Missgunst handeln (vv. 1663-1688), und er sitzt trotzdem weiter über Jesus zu Gericht. unrecht gericht (v. 4062) könnte sich entweder auf das gesamte Verfahren oder auf den (bei der Erzählung vom Prozess ausgesparten) Urteilsspruch beziehen - das Bedeutungsspektrum von gericht lässt beides zu. 333 Für Pilatus selbst, der nur aus Angst um sein Leben Reue über das Geschehen empfindet (vv. 4063-4070), liegt der Fehler in seinem ubermût (v. 4090), der ihn dazu verleitet habe, überhaupt erst über Jesus zu Gericht zu sitzen. Über einen Boten will Pilatus versuchen, in Rom Deutungshoheit in seinem Sinne zu erlangen (vv. 4101-4109). Und in der Tat erklärt sein Bote Adrian, als er schiffbrüchig bei Vespasian landet, die ,falschen Juden‘ hätten Jesus gefangen und gekreuzigt (vv. 4289 f.). 334 Wie recht Pilatus mit der Sorge um sein Leben hat, ergibt sich aus dem Geschehensablauf, nach dem der vom Aussatz betroffene Kaiser Tiberius vom Wunderheiler Jesus hört und Pilatus gebieten lässt, ihn herbeizuschaffen: Sonst sei es sein Tod (vv. 4450-4452; 4528 f.). 335 Zunächst haben diese Todesdrohungen nichts mit dem Prozessgeschehen zu tun. Doch als Columban als Bote des Tiberius in Jerusalem Nachforschungen anstellt, erfährt er zuerst, dass die juden unt Pilatus jegliches Gedenken an und Sprechen über Jesus verboten haben (vv. 4569-4574), 336 und dann, wie es zum Tod von Jesus gekommen ist. Veronika gibt ihm eine differenzierte Darstellung, in der sie auch heilsgeschichtliche Aspekte mit aufführt (vv. 4701-4770) und die ,falschen Juden‘ die Hauptverantwortung am Tod Jesu zugesprochen bekommen (vv. 4719-4733). Mit der Feststellung, dass Pilatus vom nît ,der Juden‘ gewusst habe (vv. 4732 f.; vgl. Mt 27,18), begründet sie, dass Pilatus das Ansinnen ,der Juden‘ missfiel; 337 dass er Jesus dennoch töten ließ, legt sie ihm nicht zur Last. 338 Als Tiberius dann in Rom von ihr wissen will, wer Jesus getötet habe, fasst der Erzähler kurz zusammen, dass Veronika ihm und Columban berichtet, wie sich alles zugetragen habe, und dass über all das Pilatus Richter gewesen sei (vv. 5045-5048), der Fokus verschiebt 332 Zu Pilatus als Inbegriff des Bösen in der Historia apocrypha vgl. Knape 1985, S. 132 f. Die von ihm edierte Version wird im Folgenden herangezogen, um inhaltlich Schwerpunktsetzungen in Christi Hort herauszuarbeiten, auch wenn sie nicht die direkte Vorlage von Christi Hort gebildet hat (s. dazu o. S. 102, Anm. 228). 333 Vgl. BMZ; L exer ; MWB; DRW; WMU, s. v. gerihte . 334 Adrians Pilatus-freundliche Darstellung entspricht der der Emmaus-Jünger ( den die juden viengen / und an das chriuce hiengen , vv. 2629 f.). Auch als Vespasian später Tiberius berichtet, was Adrian ihm gesagt habe, wird Pilatus nicht direkt beschuldigt (vv. 5130-5145). 335 Die Todesdrohungen fehlen in der Historia apocrypha (vgl. Z. 110-119). 336 In der Historia apocrypha (Z. 119-121) sind es scribe et pharisei , die verbieten, dass darüber gesprochen wird, was Jesus angetan wurde. 337 dem was ein tail ir rede swær, / die si gegen im sprachen (vv. 4730 f.). 338 Die Bewertung des Pilatus fällt hier positiver aus als in der Historia apocrypha (Z. 137), in der Veronika Pilatus an der entsprechenden Stelle als tocius mali causa („Ursache des ganzen Übels“) bezeichnet. <?page no="120"?> 120 3 Variationen der Rechtsthematik sich also auf Pilatus. 339 Tiberius erklärt ihn kurzerhand für ‚verloren‘, wenn er Jesus ,erschlagen‘ habe (vv. 5049-5054). Für Tiberius ist Pilatus ab diesem Zeitpunkt ein Mörder (vgl. v. 5180), eine Einschätzung, die im weiteren Handlungsverlauf von niemandem mehr angezweifelt wird. Bis dahin ist die Aufarbeitung des Prozesses gegen Jesus aber insgesamt differenzierter als in der Historia apocrypha . Für die inhaltliche Stoßrichtung von Christi Hort ist es außerdem aussagekräftig, welcher Ausschnitt aus der Historia apocrypha übernommen worden ist: Dass die Bestrafung ,der Juden‘ durch Vespasian 340 weggefallen ist, könnte damit zusammenhängen, dass sie bereits in dem auf dem Somnium Neronis basierenden Abschnitt (vv. 3909-3944) angekündigt worden war. Christi Hort endet mit der alleinigen Bestrafung des Pilatus und seiner Selbsttötung; was mit seiner Leiche passiert, 341 ist nicht thematisiert. Es scheint also weniger ein Interesse an der Pilatusfigur als solcher zu bestehen als daran zu zeigen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird. 342 So dürfte auch zu erklären sein, dass die Episode von der Bestrafung des Pilatus zu einer deutschrechtlichen Verhandlung vor einem vom Kaiser geleiteten Fürstengericht ausgestaltet worden ist. 343 Zunächst beruft Tiberius einen Fürstenrat ein (vv. 5082-5085) und fragt, wie er mit dem Mörder Pilatus verfahren solle (vv. 5177-5184). Vespasian ergreift - von Zorn geleitet, wie der Erzähler erläutert (v. 5186) - zuerst das Wort und rät, den Mörder zu entehren und gefangen nach Rom bringen zu lassen (vv. 5185-5189); fursten und chnechte stimmen diesem Rat zu (vv. 5190-5192). Der Fürstenrat ist eindeutig von der später folgenden Gerichtsver- 339 Eine explizite Bewertung seines Verhaltens erfolgt nicht. Dagegen erklärt der Bote in der Historia apocrypha (Z. 163-167), dass Jesus ohne rechtmäßige Verurteilung hingerichtet worden sei: „Ihesum desideratum tibi medicum, hominem Deo carum [,] innocentem Pilatus et Iudei perfide tradiderunt [,] inuide flagellantes patibulo crucis affixerunt, asserentes eum fore magum et quasi conuincentes, eum falso testimonio sine iusticia et iudicio cum impiis reputaverunt“. („ , Jesus, den von dir ersehnten Arzt, einen Menschen, der Gott lieb ist, haben Pilatus und die Juden, obwohl er unschuldig war, treulos [zur Bestrafung] ausgeliefert; aus Missgunst ließen sie ihn geißeln und an den Querbalken des Kreuzes schlagen; sie behaupteten, er sei ein Zauberer und, als ob sie ihn überführten, rechneten sie ihn mit falschem Zeugnis und ohne Gerechtigkeit und Gerichtsverfahren unter die Gottlosen.‘ “). 340 Vgl. Historia apocrypha , Z. 201-203; 251-335 (vgl. dazu Knape 1985, S. 122 f.). 341 Vgl. Historia apocrypha , Z. 185-200 (vgl. dazu Knape 1985, S. 120 f.). 342 Das ist eine Akzentsetzung, wie sie in der Historia apocrypha bereits angelegt ist. Vgl. dazu Knape 1985, S. 126: „Am Beispiel dieser Figuren demonstriert der Autor das Werden und Wirken des Bösen, aber auch die strafende, letztlich stets erfolgreiche Gerechtigkeit sowie lenkende und fügende Wirksamkeit Gottes.“ 343 Vgl. dagegen die knappen Andeutungen in der Historia apocrypha (Z. 176-184): Poncius Pilatus capitur, Romam usque perducitur imperio cesaris carceris uinculis mancipatur, donec condigna mortis sentencia plectatur. Super his urbis principibus disceptantibus et uniuersa plebe, quid faciendum esset, deliberante licenciam destructionis Iudee et Ierusalem et habitatorum eius ad cesarem uenerat Uespesianus accipere, qui aduocato consilio principum morte turpissima dampnandum censuit Pilatum. Pilatus audiens se morte turpisima [sic] dampnandum, cultello proprio faucibus suis immisso capitis et colli dissoluit iugulum. Cesar itaque cognita morte Pilati dixit: „Vere, mortuus est morte pessima, cui manus non pepercit propria“. („Pontius Pilatus wird gefangen genommen, bis nach Rom gebracht und auf Befehl des Kaisers den Fesseln des Gefängnisses überantwortet, bis er mit dem todeswürdigen Urteil bestraft werde. Als darüber die führenden Leute der Stadt debattierten und das gesamte Volk, was zu tun sei, war Vespasian zum Kaiser gekommen, die Erlaubnis für die Vernichtung von Judaea, Jerusalem und seiner Einwohner zu erhalten; der [sc. Vespasian] beantragte, nachdem der Rat der führenden Leute einberufen war, Pilatus sei mit der schändlichsten Todesart zu bestrafen. Als Pilatus hörte, es solle zur schändlichsten Todesart verurteilt werden, stach er das eigene Messer in seine Kehle und zertrennte so die Kehle zwischen Kopf und Hals. Daher sagte der Kaiser, als er vom Tod des Pilatus erfahren hatte: ,Wahrhaftig, der starb den schändlichsten Tod, den seine eigene Hand nicht schonte.‘ “). <?page no="121"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 121 handlung abgesetzt ( der chaiser an daz gerith saz , v. 5222), 344 die Entscheidung der Fürsten hat jedoch rechtliche Implikationen, denn die Gefangennahme wird aufgrund der Schuld des Pilatus beschlossen, der dadurch in eine ungünstige Verteidigungsposition gerät. 345 Zu der Gerichtsverhandlung werden ,Alt und Jung‘ gebeten; zu Gericht sitzen aber offenbar nur die Könige und Fürsten (vv. 5222-5228), die vom Kaiser auch direkt als Urteiler adressiert werden (v. 5229). 346 Es wird also offenkundig zwischen einem Urteilergremium und einem Umstand unterschieden. 347 In der weiteren Erzählung über die Verhandlung verlagert sich der Fokus ganz auf die Fürsten und deren Verhalten (vv. 5235-5239; 5256-5260; 5264-5267); von den Königen ist nur Vespasian aktiv beteiligt (vv. 5240-5255; zum Königstitel vgl. vv. 4216 f.). Da das begangene Verbrechen bereits offenkundig ist, fragt der Richter zu Beginn direkt nach einem Urteil (v. 5231). Allerdings sind die Fürsten zögerlich, ein Ersturteil zu äußern (vv. 5235-5239). Die Erklärung des Erzählers, dass keiner habe voreilig sein wollen und dass es ihnen unangenehm gewesen sei ( si douchte ein tail swære , v. 5239), spezifiziert nicht, wo genau die Bedenken der Fürsten liegen. Vielleicht hat man es wieder mit der Scheu vor der Beteiligung an einem Todesurteil zu tun (vgl. vv. 1817-1826), oder halten sich die Fürsten zurück, weil Pilatus einer der Ihren ist? 348 Vespasian, der schon im Fürstenrat voll zorn das Wort ergriffen hatte (vv. 5185 f.), ist das auf jeden Fall gleichgültig ( ummære , v. 5240), wie der Erzähler sagt, und er verkündet sein Urteil, das indirekt auch ,die Juden‘ mit einschließt (vv. 5241-5246). 349 Vespasian begründet seine Forderung, dass Pilatus den schmählichsten Tod sterben solle, den man sich ausdenken könne (vv. 5247-5255), damit, dass das eine angemessene Bestrafung ( pillich , v. 5252) 350 für das Vergehen sei, den ,höchsten Mann‘ getötet zu haben (v. 5249). Er bekräftigt sein Urteil außerdem mit der 344 Vgl. dagegen Klibansky (1925, S. 26), der die Ratsszene als Teil des Gerichtsverfahrens versteht, da über die Prozessform entschieden werde. 345 Klibansky (1925, S. 26) interpretiert die Gefangennahme als ,Verfestung‘, die Pilatus die Gerichtsfähigkeit komplett nehme (dazu, dass sich die Verfestung „fast ausschließlich im ostfälisch-niederdt. Rechtskreis“ [Sp. 718] findet und den Verfesteten nicht vollkommen rechtlos macht, vgl. jedoch Sellert / Bauer 1998). Der von Klibansky als Beleg angeführte v. 5219 ( niemen sprach sein wort da wol ) bezieht sich jedoch trotz des rechtlichen Sinns von eines wort sprechen (,für ihn sprechen‘, ,ihn verteidigen‘, vgl. BMZ, s. v.) nicht darauf, dass eine Verteidigung unmöglich ist, sondern im Kontext mit vv. 5220 f. darauf, dass am Hof niemand Pilatus positiv gesonnen ist. 346 Jaksche (1910) führt im Apparat zu v. 5225 den auf Carl von Kraus zurückgehenden Vorschlag auf, und ir chnechte zu athetieren. Der Text ( vil der chunige under ir chrone ) entspräche dann dem Vers, wie er in die Weltchronik Heinrichs von München aufgenommen ist: vil chunig under der chron (v. 12,1521). Die Athetese erscheint sowohl unter metrischen als auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten sinnvoll, da gesagt wird, dass der Kaiser alle zu Gericht sitzenden Personen anspricht ( der chaiser zu in allen sprach , v. 5228), in seiner Rede aber nur die Könige und Fürsten adressiert sind (v. 5229), nicht die chnechte . 347 Vgl. dazu Klibansky 1925, S. 26 f. 348 Zum rechtshistorischen Kontext der Szene s. u. S. 219 f. 349 Nach einem Urteil über ,die Juden‘ war gar nicht gefragt worden. Dass deren Schicksal noch einmal thematisiert wird, dürfte mit der Vorlage zu tun haben (s. o. S. 120, Anm. 343), ist aber auch aus systematischen Gründen geboten, denn sie sind in der diskursiven Aufarbeitung des Prozesses ebenso wie Pilatus als schuldig identifiziert worden. Außerdem war Vespasian schon in dem auf das Somnium Neronis zurückgehenden Textteil ein Wille zur ,Bestrafung‘ ,der Juden‘ zugeschrieben worden (vv. 3935-3942). Wenn Vespasian sagt, dass die an Jesu Tod Schuldigen nimmer frid noh sûn (v. 5242) gewinnen könnten, hat das eine rechtliche Dimension (vgl. dazu Hagenlocher 1992, S. 130 f., der mit Geith 1968a eine deutsche Prosaquelle annimmt [s. dazu u. Kap. 6.3.1] und die rechtlichen Anklänge darauf zurückführt). 350 Zur Wortbedeutung im rechtlichen Kontext vgl. BMZ; L exer ; MWB; DRW; WMU, s. v. billich . <?page no="122"?> 122 3 Variationen der Rechtsthematik Formel ‘ […] / pei vrôm recht ertail ich daz.’ (v. 5255), also mit einer Berufung auf eine Rechtsordnung, wie sie aus zeitgenössischen Zusammenhängen bekannt gewesen sein dürfte. 351 Der Kaiser als Richter fragt die Fürsten daraufhin nach ihrer Zustimmung, und die Fürsten erklären, dem Urteil folgen zu wollen. 352 Aus dem Fortgang der Verhandlung wird ersichtlich, dass die Entscheidung nur ein Zwischenurteil war, das die Art der Bestrafung festgesetzt hat, aber noch nicht die Einzelheiten des Vollzugs, denn der Kaiser will nun wissen, was die schändlichste Todesart sei (vv. 5261-5263). Die Fürsten bitten daraufhin um eine Siebentagesfrist, um sich zu beraten (vv. 5264-5267). 353 Ausschlaggebend dafür könnte eine erzähltechnische ,Motivation von hinten‘ sein, da so Pilatus ein Zeitfenster für seinen Selbstmord bekommt (vv. 5268-5291). Es wird aber zugleich demonstriert, wie formell geordnet ein Gerichtsverfahren abzulaufen hat, und zwar gerade nach der Phase der ,Beweisaufnahme‘, die bei der Schilderung des Prozesses gegen Jesus weitgehend ausgespart ist. Auf diese Weise wirft der zweite Prozess in Christi Hort ein fragwürdiges Licht auf den ersten, dessen Richter im zweiten Verfahren vor einer weltlichen Instanz zur Rechenschaft gezogen wird. Traditionellerweise galt der Selbstmord des Pilatus als (göttliche) Strafe für sein Verbrechen gegen den Heiland. 354 Dieser Auslegungstradition ist die Verknüpfung von irdischem Gerichtsverfahren und Selbstmord in der Pilatus-Veronika-Legende sicherlich geschuldet. Pilatus, der sich in Christi Hort der Entehrung durch die menschliche Gerichtsbarkeit entziehen will (v. 5284), wählt mit dem Selbstmord zugleich aus christlicher Perspektive die allerschändlichste Todesart und wird auf diese Weise für sein Vergehen auch an der Seele bestraft (vv. 5292-5294). Der Text lenkt so das Augenmerk darauf, dass es Dimensionen gibt, die mit der irdischen Gerichtsbarkeit nicht zu fassen sind. 3.3.3 wârheit Anders als in Diu urstende ist die Aussage Jesu, dass er für die Wahrheit Zeugnis ablege (Io 18,37; vgl. Nikodemusevangelium , cap. III 2), 355 in den Prozess vor Pilatus integriert (vv. 1772-1775). Verfahren zur Wahrheitsfindung spielen dagegen im Rahmen dieses Prozesses sonst eine bemerkenswert geringe Rolle: So erklärt der Läufer, der einen Augenzeugenbericht ( ze Jerusalem sah ich daz , v. 1453) über Jesu Einzug in Jerusalem gibt, von sich aus, dass ihm der hebräische Hosanna-Gesang übersetzt worden sei (vv. 1451-1475). Daraus ist zwar abzuleiten, dass Erfahrungszeugenschaft plausibilisiert werden muss, aber die 351 Jaksche (1910, App. zu v. 5255) schlägt vor, vrôm recht als vrôn recht zu lesen. So ist der Ausdruck auch in der Weltchronik Heinrichs von München ( pey fronrecht , v. 12,1593) und - mit einem adjektivischen Verständnis von vrôn - im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk ( pei fronem rehte , zitiert nach Masser / Siller 1987, S. 441, Z. 363) aufgefasst worden. Bei den Rezeptionszeugnissen sind Uminterpretationen zwar nicht auszuschließen, aber die Formel bî vrônrehte lässt sich in der österreichischen Urkundenüberlieferung auch für assertorische, von Zeugen gesprochene Eidesformeln sichern (vgl. WMU, s. v.). Das Bedeutungsspektrum von vrônreht reicht vom göttlichen Recht über herrschaftliches Recht bis zum öffentlichen Recht oder Stadtrecht (vgl. BMZ; L exer ; DRW; WMU, s. v.). Im Kontext der Gerichtsszene dürfte die römische - an diesem Punkt der Handlung schon christlich legitimierte? - Rechtsordnung gemeint sein. 352 Zur Interpretation von volgen (v. 5259) s. o. S. 94, Anm. 173. 353 Beratungsfristen bei schwierigen Urteilen waren allgemein üblich (vgl. Klibansky 1925, S. 27, mit Verweis auf von Planck 1879, Bd. 1, S. 255). 354 Vgl. dazu Scheidgen 2002, S. 86-92. 355 S. dazu u. S. 226. <?page no="123"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 123 Wahrheitsproblematik wird nicht auf der Figurenebene erst diskutiert. 356 Denjenigen, die in der Verhandlung selbst dem Vorwurf widersprechen, Jesus sei unehelich geboren, wird allein schon dadurch Autorität zugeschrieben, dass sie sich mit semftichait äußern (vv. 1603-1605). Weder wird die Herkunft ihres Wissens thematisiert noch ihre Vertrauenswürdigkeit bekräftigt. 357 Auch der Eid als Mittel der Wahrheitssicherung tritt nicht in den Blick. 358 Nur in der in die Prozesshandlung eingeschobenen Petrus-Episode kommen Eide vor, wenn es dort heißt: unt swur er hiet in nie erchant. / alsus laugent er mit eiden / dreistunt umbescheiden (vv. 1840-1842). Angesichts der Bedeutung, die Eiden im weiteren Handlungsverlauf zukommt, 359 wird man aus den falschen Eiden des Petrus nicht auf eine grundsätzliche Kritik am Eid schließen können. Vielmehr scheint es dem Erzähler wohl nicht nötig, die bechanten mære (v. 1648) über Jesu Wirken zu seinen Lebzeiten in der Darstellung des Prozesses noch weiter bekräftigen zu lassen. Erst mit Jesu Auferstehung wird ,Wahrheit‘ auf der Figurenebene zu einem Diskussionsgegenstand. Die erste Augenzeugin für die Auferstehung ist Maria Magdalena. Sie hat nicht nur das leere Grab, sondern auch den Auferstandenen gesehen, und sie habe ihn sprechen hören, wie sie Johannes und Petrus berichtet (vv. 2357-2370). Diese wollen ihr glauben, weil sie es besser wisse als ‚die lügenhaften Juden‘, ihr Bericht habe Beweiskraft (vv. 2371-2374). 360 Ob die Glaubwürdigkeit Maria Magdalenas in ihren Sinneseindrücken begründet liegt oder darin, dass sie charakterlich ,den Juden‘ überlegen ist, bleibt an dieser Stelle offen. Als nächste bezeugen die Grabwächter gegenüber ‚den Juden‘ die Auferstehung Jesu (vv. 2466-2487), indem sie berichten, was sie gehört und gesehen haben ( ‘ […] daz hort wir unt sahen’ , v. 2487). Bei den Wächtern zweifeln ,die Juden‘ ihre charakterliche Integrität an und werfen ihnen Bestechlichkeit vor (vv. 2460-2465; 2488-2492). Die Wächter rufen daraufhin Wunder in Erinnerung, die Jesus zu Lebzeiten vollbracht habe und die ,die Juden‘ auch nicht hätten glauben wollen (vv. 2493-2524), schieben also zugleich ,den Juden‘ die Schuld für deren Skepsis zu und untermauern ihre eigene Aussage durch Analogieargumente. Sie beteuern im weiteren Verlauf ausdrücklich, dass das, was sie gehört haben, wahr sei, 361 und bekennen sich angesichts der ersten Bestechungsversuche ,der Juden‘ ausdrücklich zur warheit (vv. 2548-2557). Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet bei der moralischen Gegenüberstellung von Wahrheit und Lüge der Terminus Wahrheit leitend wird (vv. 2549; 2557). Zwar geben die Wächter schließlich nach (vv. 2558-2566), was vom Erzähler eindringlich verurteilt wird (vv. 2567-2582), doch wird so ein Gegensatz zwischen dem Bekenntnis zur Wahrheit als vorbildhaftem Verhalten und den Lügen ,der Juden‘ auf- 356 Vgl. dagegen Nikodemusevangelium , cap. I 4; Diu urstende , vv. 368-373. 357 Vgl. dagegen Diu urstende , vv. 462-476; 650-666. 358 Auf diese Weise erfolgt keine Auseinandersetzung mit der im Nikodemusevangelium (cap. II 5) verhandelten Frage, ob es Juden erlaubt ist zu schwören, und der dort auf den Kaiser bezogenen Eidesformel. Dass bei der vom Hohen Rat angestrengten Untersuchung nach Christi Hort durchaus von Juden Eide geleistet werden (z. B. vv. 3427-3430), wird so bruchlos anschließbar. 359 Vgl. z. B. den Siebenereid, den die Boten anbieten, als sie Joseph Sicherheit leisten (vv. 3141-3250). 360 ‘ […] / an ir mæren leit diu chraft’ (v. 2374). Zu kraft im Sinne von ,Beweiskraft‘ vgl. DRW, s. v. Später wird chraft in Christi Hort auch im Sinne der Wirkungsmacht von Worten verwendet (vgl. z. B. v. 2935). 361 ‘daz ist uns wærlich bechant, / daz hort wir den engel sagen; / […] ’ (vv. 2530 f.). <?page no="124"?> 124 3 Variationen der Rechtsthematik gebaut, die schon in Bezug auf den aus dem Gefängnis verschwundenen Joseph im Text thematisiert worden waren. 362 Die Konstellation von Lüge, Wahrheit und Bestechung wiederholt sich in veränderter Form nach dem Pfingstgeschehen: 363 ,Die Juden‘ erklären die Predigten der Jünger zur Lüge (vv. 2962-2968); die Jünger berufen sich jedoch auf ihre Erfahrungen, wobei sie sich ausdrücklich als Zeugen benennen: 364 ‘ […] des sei wir gezeuge: niemen dar an triuge, wir haben in wærlich gesehen und ist daz dicke geschehen da wir mit im haben gaz . 365 fur war sag wir iu daz: wir sahen in loblich varen gegen himelreich […] ’ (vv. 2981-2988) Der Versuch ,der Juden‘, auch die Jünger durch Bestechung zum Schweigen zu bringen, misslingt kläglich, da den Jüngern ihr Hab und Gut ohnehin nicht mehr wert ist als ‚fauliges Heu‘, wie der Erzähler sagt (vv. 3000-3032). Die Serie der Versuche, die Verbreitung der Wahrheit durch Bestechung zu unterdrücken, gipfelt im Umgang ,der Juden‘ mit der Aussage von drei Männern aus Galiläa (vv. 3038-3090), Finees ( grozer ewart , v. 3041), Adras ( gebieter , v. 3043) und Egeas ( diaken , v. 3044). Obwohl sie, die wegen ihrer hohen Ämter für ,die Juden‘ vertrauenswürdig sein müssten, übereinstimmend angeben, dass sie Christi Himmelfahrt gesehen hätten, und die Aussage jeweils eidlich bekräftigen (vv. 3038-3057), 366 erklären ,die Juden‘ sie für tumbe und argumentieren, sie könnten die Himmelfahrt nicht gesehen haben, weil sie unmöglich sei (vv. 3058-3063). Nikodemus macht jedoch auf die ,Gefahr‘ aufmerksam, dass andere Leute der Aussage der drei Vertrauen schenken könnten (vv. 3064-3076), indem er auf die Glaubwürdigkeit der drei (v. 3071) sowie ihren Eid verweist (v. 3075) und außerdem ihre Aussage für plausibel erklärt ( ez gelichet sich wol der warheit , v. 3076). Nikodemus schließt den Rat an, die drei zu bestechen, dem ,die Juden‘ gern Folge leisten (vv. 3077-3090). Dass das im lateinischen Nikodemusevangelium (cap. XIV 2) nur angedeutete Bestechungsmotiv in Christi Hort Nikodemus zugeordnet wird, ist erstaunlich, 367 aber möglicherweise so zu erklären, dass er bereits an dieser Stelle als jemand auftreten sollte, der der Wahrheit näher ist als ,die Juden‘, aber noch in das jüdische Ordnungssystem eingebunden ist. 362 Die Zeichen (bewachte Tür mit unversehrtem Siegel) sind so eindeutig, dass das Verschwinden eine übernatürliche Erklärung haben muss. Damit nicht ein Einwirken Jesu vermutet wird, verkünden ‚die Juden‘ dem Volk, Joseph sei durch Zauberei verschwunden (vv. 2407-2454), obwohl die weisen unter ,den Juden‘ selbst offenbar nicht daran glauben, denn sie werden hæimlich […] unvro (v. 2454). 363 Vgl. dazu Stübinger 1922, S. 102. 364 Vgl. Act 2,32. 365 Dass Jesus nach seiner Auferstehung etwas isst, ist für die Jünger ein Beweis, dass er kein gaist ist (vv. 2700-2720; vgl. Lc 24,36-43). 366 islicher des mit aiden swûr / daz er ez wærlichen sach (vv. 3056 f.). 367 „[…] der Zug paßt nicht zu seinem Charakter“ (Stübinger 1922, S. 103). <?page no="125"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 125 Annas und Kaiphas versuchen, ,die Juden‘, die durch die Geschehnisse verunsichert sind (vv. 3091-3093), mit der Erklärung zu trösten, dass die Grabwächter auch von den Jüngern Geld genommen haben dürften und deshalb verkündeten, dass Jesus noch lebe (vv. 3094-3106). Sie versuchen also, der Auferstehung Jesu, obwohl sie durch die Augenzeugenschaft der drei bestätigt ist, wieder den Status unbewiesenen Hörensagens zuzuweisen ( wer solt den hûtæren / gelauben und irn mæren , vv. 3105 f.). Nikodemus, der jetzt als weise apostrophiert wird, kann jedoch ,die Juden‘ überzeugen, sich aktiv Gewissheit zu verschaffen und nach Jesus zu suchen (vv. 3107-3126): Als dabei Joseph gefunden wird (vv. 3127-3153), wird er nach Jerusalem eingeladen (vv. 3154-3250) und vom Hohen Rat befragt (vv. 3298-3300), allerdings nicht öffentlich (vv. 3276-3278). Während bei der Befragung von Joseph seine Beteuerung, die Wahrheit zu sagen, von ihm ausgeht (vv. 3319-3321), sind es bei der erneuten Befragung von Finees, Adras und Egeas ,die Juden‘, die von ihnen nichts als die Wahrheit verlangen (vv. 3400-3408). 368 Um das sicherzustellen, werden verschiedene formale Mechanismen angewandt: Die drei werden voneinander getrennt (v. 3398), sie müssen jeweils einen Eid ablegen (v. 3399), negative Folgen einer wahrheitsgemäßen Aussage werden ausgeschlossen, indem ihnen sicherhait geleistet wird (v. 3418). Schließlich wird durch die Art der Fragestellung verlangt, dass sie angeben sollen, ob sie von der Himmelfahrt nur gehört oder ob sie sie selbst gesehen haben (vv. 3409-3417). Wiedergegeben wird die Antwort von Finees, dem Ranghöchsten der drei (vv. 3039-3044), der an dieser Stelle als Hohepriester bezeichnet wird ( der hohe priester , v. 3419). Er bekräftigt die Augenzeugenschaft, verweist auf seinen früheren Eid und bietet an, weitere zu schwören (vv. 3420-3430). Die Glaubwürdigkeit seiner Aussage wird weiterhin dadurch untermauert, dass die Aussagen der drei übereinstimmen (v. 3431). Die Methoden zur Wahrheitssicherung kulminieren im Abschnitt zur Befragung der Simeonsöhne. Zunächst wird die Identität der wiederauferstandenen Simeonsöhne gesichert, indem Joseph sich von ,den Juden‘ bestätigen lässt, dass sie gesehen haben, wie die beiden begraben wurden (vv. 3455-3465), und sie dann zu deren leeren Gräbern führt (vv. 3466-3476). 369 Dann hebt Joseph die besondere Qualifikation der Simeonsöhne als Augenzeugen hervor: Sie hätten sowohl im Diesseits als auch im Jenseits alles gesehen und sprächen nichts als die Wahrheit (vv. 3493-3499). Dementsprechend erwarten sich ,die Juden‘ von den beiden Aufklärung darüber, ob die Nachrichten über die Auferstehung Jesu wahr seien (vv. 3551-3560). Als die Simeonsöhne aufschreiben wollen, was sie gesehen haben (vv. 3593-3600), wird der zusätzliche Kontrollmechanismus aktiviert, dass die beiden voneinander getrennt werden, sodass sie sich nicht sehen können (vv. 3608-3611). In dem wörtlich wiedergegebenen Bericht des Karicius verweist er sowohl darauf, dass er und sein Bruder alles scheinberlich gesehen , als auch darauf, dass sie es getrennt voneinander schriftlich niedergelegt hätten (vv. 3843-3848). Dem Wunder der identischen Schriftstücke haben die Oberen ,der Juden‘ nichts entgegenzusetzen (vv. 3870-3880). Die Konsequenz ist 368 Dass ,die Juden‘ jetzt zu den dreien sagen, sie wüssten, dass jene um niemandes willen lügen würden (vv. 3404-3408), steht im Kontrast zum vorherigen Bestechungsversuch. Allerdings war da auch schon erzählt worden, dass ‚die Juden‘ danach verzagten (v. 3091). Ihre Besorgnis könnte sich - neben der generellen Verunsicherung - auch darauf beziehen, dass sie nicht darauf vertrauen, dass sie die drei wirklich haben umstimmen können. 369 Dass sie die beiden leeren Gräber als Bestätigung der warhait dessen sehen, was Joseph gesagt hat, hält dieser für inkonsequent, weil sie die Beweiskraft der weiteren leeren Gräber für die Auferstehung nicht akzeptierten (vv. 3477-3483). <?page no="126"?> 126 3 Variationen der Rechtsthematik allerdings nicht ein Bekenntnis zur Wahrheit, sondern die Aufforderung, sich eine (erneute) Täuschung des Volkes zu überlegen (vv. 3881-3884). Joseph und Nikodemus sorgen jedoch dafür, dass die priefe , die die Simeonsöhne geschrieben haben, Pilatus zur Kenntnis gelangen (vv. 3885-3902), der sie nach Rom sendet (vv. 3903-3905), sodass die warhait dort bekannt wird (v. 3930). Wie die Reihe der Augenzeugenberichte zeigt, bedarf das Wunder der Auferstehung der Beglaubigung. Die hier kurz skizzierten Szenen haben mit Sicherheit die Funktion, die ,Verstocktheit‘ ,der Juden‘ zu demonstrieren, die die Wahrheit zunächst nicht anerkennen und dann verschleiern wollen, sie dienen aber auch dazu, dem Rezipienten die Heilswahrheit unmissverständlich vor Augen zu führen. Bezieht man die erzählerische Vermittlung in die Überlegungen mit ein, so wird auch die Doppelfunktion des Motivs deutlich, dass es Nikodemus ist, der zusammen mit Joseph die Verbreitung der priefe in die Wege leitet. Denn es ist Nikodemus, von dem das Autor-Ich die Wahrheit ( die rechten warhait ich ew sage , v. 1371) über das Martyrium Jesu vermittelt bekommen haben will (vv. 1369-1380). Um den Wahrheitsgehalt zu garantieren, werden auf der Erzählerebene Argumentationstechniken angewandt, die denen auf der Figurenebene vergleichbar sind. Am wichtigsten ist sicherlich die Augenzeugenschaft des Nikodemus, die gleich zu Beginn der Passionsschilderung hervorgehoben wird. 370 Außerdem wird - ähnlich wie bei der Aussage des Läufers - die sprachliche Übermittlung thematisiert: Nachvollziehbar ist nur die Übertragung vom Lateinischen ins Deutsche (vv. 1377 f.), aber es wird auch die hebräische Urfassung benannt, die Nikodemus diktiert habe und die die Basis der lateinischen Version bilde (vv. 1373-1376). 371 Die durch Nikodemus garantierte Wahrheit tritt in Konkurrenz zu derjenigen der kanonischen Evangelien, wie anlässlich der Erzählung von der Befreiung Josephs aus dem Kerker im Text diskutiert wird: s wie ez doch nicht geschriben ist an dem ewangelio, so ist ez doch benam also. ez ist endlichen war daz er n mit der gevangen schar lost, daz was pillɩ ͤ ch; iz ist der warhait wol geleich, wand er durch in gevangen was; pilleich er von im ouch genas des ersten er lobliche erschæin. daz ist zwivel de hain daz daz diu rechtiu warheit sei: daz mugt ir versten da pey daz er in loste zemitter nacht, e die juden mit ir macht chomen fur den chærcher, den si des morgens funden lere. (vv. 2276-2292) 370 wie ez allez dort ergangen ist, / also schreipt uns Nichodemus, / der berichtet uns da von sus / wie ez alles ergie unt wie ez geschach, / want er ez allez horte unt sach; / da von chund erz gesagen (vv. 1308-1313). Vgl. dazu Wyss 1986, S. 301; Hoffmann 1997a, S. 292; Knapp 1999, S. 342 f. 371 Das ,Schreiben‘ in v. 1309 ist also nicht in einem schreibtechnischen Sinn zu verstehen. Zur Sprache der Urfassung vgl. den Prolog des Nikodemusevangeliums . <?page no="127"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 127 Um zu beweisen, dass das Erzählte wahr ist, wird ein Plausibilitätsargument eingesetzt (vgl. v. 3076), indem gesagt wird, es sei (rechtlich) angemessen ( pillɩ ͤ ch , v. 2281; pilleich , v. 2284), 372 dass Joseph, der um Jesu willen gefangen genommen worden sei, von jenem befreit werde. Des Weiteren gilt der genaue Zeitpunkt der Befreiung als Wahrheitskriterium. Es ist unklar, wie dieses Argument zu verstehen ist, 373 aber es könnte mit den Bemühungen des Verfassers zusammenhängen, die im Nikodemusevangelium nur rückblickend geschilderten Ereignisse in die Chronologie von Tod und Auferstehung einzupassen. Danach muss Jesus Joseph noch vor dem Sonntagmorgen befreit haben, da ,die Juden‘ nur den Sabbat abwarten wollten, bevor sie ihn töteten (vv. 2201 f.). Dass die Szene in einen Abschnitt eingeschoben ist, der eigentlich den Evangelien folgen will (vv. 2242-2246), könnte auch der Grund dafür sein, warum ausgerechnet an dieser Stelle der Wahrheitsgehalt apokrypher Quellen zur Sprache gebracht wird. 374 Während der Wahrheitsgehalt des apokryphen Nikodemusevangeliums einer Herleitung bedarf, wird es als feststehende Tatsache präsentiert, dass die Heiligen Evangelisten die Wahrheit wussten (vv. 2245 f.). Den Evangelien wird vom Verfasser eine solche Autorität zugestanden, dass er Veronika (die zur Zeit von Jesu Auferstehung selbst gelebt hat) sich für die Tatsache, dass Jesus nach seiner Auferstehung 40 Tage auf Erden gelebt habe, auf die vier Evangelisten berufen lässt (vv. 4754-4757). 375 Die schrift kann urchunde geben (v. 1154), also die Wahrheit einer Sache kundtun. 376 Das Wort urchunde wird (auf der Figurenebene) auch verwendet, um Wunder zu bezeichnen, mit denen Gott seinen Willen offenbart. 377 Die Worte der Evangelisten und die Wunder verweisen auf eine göttliche Wahrheit, die eine andere Qualität hat als über Augen- und Ohrenzeugenschaft zu sichernde Handlungsabläufe. Das ist zunächst einmal die heilsgeschichtliche Wahrheit, die die Propheten geäußert haben. 378 Jesus hält diese Wahrheit den Emmaus-Jüngern vor, die doch die Notwendigkeit seines Martyriums von den Propheten hätten gewusst haben sollen (vv. 2643-2650). 379 Zur heilsgeschichtlichen Wahrheit gehört auch die Wahrheit der Auferstehung, die Thomas durch den Anblick Jesu begreifen soll ( ‘ […] / want du die warhait sihst an 372 Das Wort ist hier nicht terminologisch auf den Bereich des Rechts eingeengt (zur Billigkeit als Rechtsprinzip vgl. Becker 2008), es kommt aber wie bei der rechtlichen Verwendung auf die Angemessenheit im Einzelfall an. 373 Die Faktenwahrheit, die durch die genaue Datierung in vv. 1381-1393 evoziert wird, hat einen anderen Charakter. 374 Abweichungen von den kanonischen Evangelien werden jedoch nicht generell kenntlich gemacht (so aber Quast 2009, S. 394). Bei der Pilatus-Veronika-Legende ist offenbar die Art der Quelle nicht wichtig, sondern nur, dass der Verfasser einer Schriftquelle folgt ( daz sag ich iu als man mirs las, / daz von im geschriben was , vv. 4047 f.). 375 Unsicherheit besteht im Umgang mit konkurrierenden Quellen: Nach den Evangelisten sei Christus nach seiner Auferstehung zehnmal erschienen, andere Heilige sagten, es sei öfter geschehen (vv. 2585-2590). Offenbar soll im Folgenden die Zehnzahl maßgeblich sein (vgl. die Zählung in vv. 2797 f.), erzählt werden aber zwölf Erscheinungen (vgl. dazu Stübinger 1922, S. 101 f.). 376 Zum Bedeutungsspektrum von urkunde s. o. S. 87, Anm. 137 (vgl. auch v. 1930: als mich diu schrif beweiset hat ). Auch in v. 3964 wird (zur Bekräftigung des Wunders vom Opferkalb, das ein Lamm gebiert) die Formel als uns die schrift urchund geit verwendet. Auf der Grundlage des Textes ist nicht zu entscheiden, ob der Verfasser dieses Wunder für biblisch hielt oder ihm nur den Anschein geben wollte. 377 Vgl. die von ,den Juden‘ vorgenommene Interpretation des sechsten Vorzeichens zur Zerstörung Jerusalems (vv. 4011-4016). 378 Zum Konzept der Zeugenschaft von Propheten vgl. Prica 2010, S. 250 f. 379 Die Konjektur nicht in v. 2647 ist metrisch und inhaltlich überzeugend. <?page no="128"?> 128 3 Variationen der Rechtsthematik mir, / […] ’ , v. 2740). Inbegriff der Wahrheit ist der Heilige Geist, der in Christi Hort - angelehnt an johanneische Konzepte - gaist der waren warhait genannt wird (v. 2859). 380 Erfüllt von diesem Geist können die Jünger ihre Worte mit Wundern untermauern. 381 Anders als in der Apostelgeschichte (1,8) wird die Zeugenschaft der Jünger jedoch nicht direkt mit dem Heiligen Geist in Verbindung gebracht, sondern sie nennen sich selbst aufgrund ihrer Erfahrungen Zeugen (v. 2981). 382 Ein Zeuge der Wahrheit zu sein, kommt in Christi Hort nur Jesus zu, der Pilatus auf die Frage, was er verbrochen habe, folgendermaßen antwortet: Jesus sprach: ‘ich wil dir sagen: ich pin dar umbe her chômen daz diu warheit werd vernomen; der warhait ich ein gezeug pin.’ do sprach Pilatus wider in: ‘waz ist diu warhait? daz hort ich ob mir daz wurd gesait.’ (vv. 1772-1778) Jesus bezieht sich hier eindeutig auf die göttliche Wahrheit (Io 18,37 f.). Die Antwort des Pilatus nimmt für einen wissenden Leser das Argument aus dem Johannesevangelium auf, dass nur wer ex veritate ist, die Stimme Jesu verstehen könne (Io 18,37; vgl. auch Io 8,47). 383 In dem Konditionalgefüge (v. 1778) bleibt offen, ob Pilatus die Wahrheit vernommen hat. Doch scheint sein Anspruch nicht vollkommen vermessen, denn er ist empfänglich für die Wunder Jesu (vv. 1510-1514; 1655-1657) und erkennt das religiöse Königtum Jesu an (vv. 1973-1983). Da in Christi Hort die Fortsetzung des Dialogs über die Wahrheit auf Erden aus dem Nikodemusevangelium (cap. III 2) nicht eingegangen ist, erfolgt hier keine Rückbindung an das Prozessgeschehen, in das der Dialog eingebettet ist. Wahrheit vor Gericht ist auch in dem zweiten Prozess in Christi Hort kein Thema. Zwar sind die Techniken zur Wahrheitsfindung und -absicherung (Eid, getrennte Zeugenaussagen) aus juristischen Kontexten übernommen, sie bleiben aber der Absicherung einer heilsgeschichtlichen Wahrheit vorbehalten. 3.3.4 reht und ê Hinsichtlich der Rechtsordnungen ist der auffälligste Zug von Christi Hort , dass die irdische Gerichtsbarkeit, vor die Jesus gestellt wird, in einen politischen Kontext eingeordnet wird. Der eigentlichen materi , nämlich der Passion Christi (vv. 1367 f.), sind relativ ausführliche Erklärungen zur Stellung von Herodes und Pilatus vorgeschaltet (vv. 1327-1366). Ausschlaggebend dafür könnte die Benennung der Ämter im Prolog des Nikodemusevangeliums gewesen sein, die in Christi Hort als genaue historische Verortung wiedergegeben ist (vv. 380 Vgl. Io 6,64; 14,17; 15,26 f.; 16,13; 1. Io 5,6. Zwar ist bei Johannes vom ,Geist der Wahrheit‘ die Rede (vgl. dazu Prica 2010, S. 252), die tautologische Bildung ,wahre Wahrheit‘ findet sich dort jedoch nicht. Der Vers in Christi Hort steht im Kontext der Rede Jesu an seine Jünger vor der Himmelfahrt. An der entsprechenden Stelle in Act 1,8 ist vom ,Heiligen Geist‘ die Rede. 381 ‘ […] / sie bewærent iriu wort mit zaichen, / […] ’ (v. 2939) . 382 Für die Einbettung des Verses s. o. S. 124. 383 Vgl. dagegen ,die Juden‘, die entsprechende Aussagen Jesu prozesstaktisch verwenden (v. 1625). <?page no="129"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 129 1381-1393), außerdem das Bedürfnis, aus der Pilatus-Veronika-Legende bekannte Elemente der Vorgeschichte des Pilatus den Prinzipien des ordo naturalis gemäß unterzubringen. 384 Damit ist aber die spezifische Akzentsetzung in Christi Hort noch nicht zu erklären: Die Erläuterungen beginnen mit dem historiographischen Bestreben, die Verhältnisse zur Zeit der vergangenen Römerherrschaft darzulegen, als die römische Rechtsordnung in vielen Gebieten übernommen worden sei, so auch in Jerusalem (vv. 1327-1333). Dass es fursten sind, die das Recht aus Rom ,nehmen‘, deutet aber schon darauf hin, dass die damaligen Verhältnisse in die Zeit des Verfassers übersetzt werden. Dementsprechend ist der König Herodes, dem die Fürsten in Galiläa untergeben sind, als jemand gekennzeichnet, der leut und lant , scepter und chrône vom Kaiser empfangen hat und ihm untertan ist (vv. 1334-1342). 385 Pilatus (dessen Stand nicht benannt wird) hat sich die Feindschaft des Herodes dadurch zugezogen, dass er den Gerichtsbann 386 nicht von Herodes haben wollte, sondern ihn direkt vom Kaiser in Rom erhalten hat (vv. 1343-1348). 387 An späterer Stelle wird erklärt, dass Pilatus in Jerusalem Stadtrichter ist: Herodes was chunick uber daz lant; do was Pilatus rihtær da in der stat unt niht ander swa. (vv. 1740-1742) 384 Vgl. aber die Vorausdeutung auf die Versöhnung zwischen Pilatus und Herodes in vv. 1356-1366. Indem Pilatus dort (wie Herodes) als ‚böser Mensch‘ gekennzeichnet wird, erscheint die relativ positive Darstellung im Prozessteil von vornherein relativiert (vgl. dazu Mattig-Krampe 2001, S. 103). 385 Vgl. dazu Klibansky 1925, S. 23 f. Die im Text verwendeten Formeln verweisen auf das Prinzip der lant - Leihe (vgl. dazu, vor dem Hintergrund der neueren Forschungen zum Lehnswesen, Peters 2017, bes. S. 8-11). Dass Herodes König ist (vgl. Mc 6,14) und über Galiläa herrscht (Lc 3,1), sind Informationen, die in den kanonischen Evangelien gegeben werden. So könnte die Berufung auf die schrift (v. 1342) zu erklären sein. 386 Da hier für das Wort pan (v. 1346) als Bedeutung die „ berechtigung zu richterlichen functionen “ (BMZ, s. v. banne ) anzusetzen ist (vgl. auch MWB, s. v. ban ), ist nicht davon auszugehen, dass damit etwas grundsätzlich anderes gemeint sein soll als mit gerichte (v. 1345). Für die Doppelformel ,Bann und Gericht‘ vgl. das DRW (s. v. ,Bann‘) mit Belegen ab der Zeit um 1400. Möglicherweise soll die Doppelformel in Christi Hort darauf hindeuten, dass Pilatus auch der Blutbann verliehen wurde (zur Hochgerichtsbarkeit vgl. Lück 2012c), den Pilatus von Herodes hätte erwerben sollen. 387 Nur das Motiv, dass Pilatus hinter dem Rücken des Herodes nach Rom fährt, entspricht der Version der Historia apocrypha (Z. 52-59): Herodes ergo minor, filius Archelai, magni Herodes filii, princeps diebus illis Iudee et Ierusalem, ut audiuit hominis illius [sc. Pilatus, der die widerspenstigen Pontier als Richter bezwungen hat] industriam, uersuciis congaudens uersutus (utpote similia similibus congaudent) inuitauit eum muneribus et internunciis et tradidit ei partem et uicem suam super Iudeam et Ierusalem. Denique superhabundantibus ei diuiciis, Herode nescio Poncius Pilatus nauigio transfretauit et usque Romam perueniens oblata pecunia non numerabili a Tiberio imperatore Romano uicem dignitatis sue, quem tenuerat ab Herode, dolose reuersus obtinuit. („Als der ,Kleinere Herodes‘, Sohn des Archelaus, des Sohnes Herodes’ des Großen, in jenen Tagen Herrscher von Judaea und Jerusalem, von den Aktivitäten jenes Menschen gehört hatte, lud er - selbst verschlagen, aus Freude über dessen Verschlagenheit (Gleichartiges freut sich ja über Gleichartiges) - ihn durch Unterhändler, die Geschenke brachten, ein und übergab ihm die stellvertretende Teilherrschaft über Judaea und Jerusalem. Als Pontius Pilatus schließlich Reichtum im Überfluss hatte, überquerte er ohne Wissen des Herodes zu Schiff das Meer und, als er nach Rom gelangte, bot er eine ungeheure Menge Geld auf und hatte, listig [wieder nach Judaea] zurückgekehrt von Tiberius, dem römischen Kaiser, die Amtswürde inne, die er [zuvor] von Herodes übertragen bekommen hatte.“). - Eine Feindschaft zwischen Pilatus und Herodes wird in Lc 23,12 benannt, aber nicht erklärt. <?page no="130"?> 130 3 Variationen der Rechtsthematik Es handelt sich bei dieser Wiederaufnahme des Motivs nicht um ein Anzeichen einer fehlenden Endredaktion, 388 vielmehr um eine Präzisierung des Verhältnisses zwischen Pilatus und Herodes. 389 Jerusalem wird über die reichsunmittelbare Gerichtsbarkeit indirekt der Status einer Reichsstadt zugestanden, und für zeitgenössische Rezipienten dürfte es plausibel gewesen sein, dass die rechtliche Selbstständigkeit gegenüber der Amtsgewalt des Herodes zu Konflikten führen konnte. 390 Da der Konflikt zwischen Pilatus und Herodes eine größere Prominenz erhält, als für den Handlungsverlauf nötig wäre, sind realhistorische Anspielungen nicht auszuschließen, 391 jedoch sind die Indizien im Text zu wenig spezifisch, als dass man einen solchen Bezug sichern könnte. Wichtig für die weitere Erzählung vom Prozess ist jedoch, dass Pilatus - entsprechend zu seiner Funktion als Statthalter in den kanonischen Evangelien 392 - in Christi Hort als Richter direkt dem Kaiser untersteht. Wenn ,die Juden‘ Pilatus mehrfach auf mögliche Konsequenzen für sein Verhältnis zum Kaiser hinweisen, 393 sind das also keine leeren Drohungen. Als Pilatus dann vom Kaiser später tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wird, spielt die Bannleihe dabei keine Rolle, aber seine Bestrafung ist immerhin die Folge von unrecht gericht (v. 4062 im Erzählerkommentar) und ist innerhalb der zuvor geschilderten Machtverhältnisse nachvollziehbar. Die ,deutschrechtlich‘ ablaufende Verhandlung am Kaiserhof in Rom macht dann auch noch einmal deutlich, dass das Recht nur insofern ,römisch‘ ist, als die Gerichtsgewalt von Rom aus verliehen ist, nicht weil es etwa dem Corpus iuris civilis folgt. So beruft sich Vespasian bei seinem Urteil auch nicht auf ein Regelwerk, sondern auf die Rechtsordnung als Ganze (v. 5255). 394 Wie das Recht, das für den Prozess vor Pilatus ausschlaggebend ist, inhaltlich aussieht, ist (wie schon in den kanonischen Evangelien) offenbar nicht von Interesse. Es gibt aber einzelne Punkte, an denen eine eingehendere Beschäftigung mit rechtlichen Fragen erkennbar ist. So ist der Erzähler bemüht, die Passah-Amnestie zu erklären: Zum Osterfest ,der Juden‘ habe Pilatus jedes Jahr einen Gefangenen freigelassen, um die ehemals freien Juden zu ehren, das habe vor ihm kein richtær getan (vv. 1869-1873). 395 Hier scheint die Funktion 388 „Solche Unebenheiten der Darstellung erklären sich aus der Kompilation verschiedener Quellen; der Dichter ist nicht bis zu einer letzten, ausgleichenden Bearbeitung seines Werkes gelangt.“ (Stübinger 1922, S. 95). 389 Wenn Herodes sich in der ,Stadt‘ aufhält, als der Prozess gegen Jesus stattfindet (vv. 1731 f.; vgl. Lc 23,7), bedeutet das gleichzeitig, dass er sich im Gerichtsbezirk des Pilatus befindet. Dass Jesus aus Galiläa, also dem Gebiet des Herodes, stammt (vgl. Lc 23,6 f.), wird in Christi Hort nicht thematisiert, obwohl mit dem Personalitätsprinzip hätte gerechtfertigt werden können, warum Pilatus Jesus zu Herodes schickt. 390 Mattig-Krampe (2001, S. 117) erklärt die „Kompetenzverteilung zwischen Pilatus und Herodes“ als Irrtum des Verfassers hinsichtlich der historischen Verhältnisse. 391 Setzt man die österreichische Rechts- und Verfassungsgeschichte (vgl. dazu Weltin 1977) als Kontext an, so fällt auf, dass dort gerade gegen Ende des 13. Jahrhunderts Fragen virulent waren, die in Christi Hort berührt werden: Sie reichen von der Ausbreitung des Rechts zur Hochgerichtsbarkeit (vgl. ebd., S 388-391) bis zur Kompetenzverteilung zwischen Stadt- und Landrichter (vgl. ebd., S. 418-421). Außerdem hatten Österreich und die Steiermark 1282 ihre Reichsunmittelbarkeit verloren (vgl. ebd., S. 399). 392 Historisch war er Präfekt von Judäa (s. dazu u. S. 187, Anm. 49). 393 Vv. 1508 f.: la dir ez wesen swære / ob du hast mit dem chaiser phliht ; vv. 1660-1662; 1790. Vgl. auch vv. 1402-1404 und Pilatus’ Reaktion (vv. 1684-1688). 394 Zum vrôm recht s. auch o. S. 122, Anm. 351. 395 Nach Mattig-Krampe (2001, S. 114) ist die Quelle für diese Erklärung unklar. Vgl. aber Thomas von Aquin, Super Io. , cap. 18, l. 6, XII (2369): Sciendum est autem, quod hanc consuetudinem introduxit <?page no="131"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 131 des Pilatus als Herrscher durch, der Recht setzt und sich dann daran gebunden sieht. Erneut liegt dem Erzähler an einer historischen Herleitung der in seinen Quellen als Gewohnheit benannten Verhaltensweise (vgl. Mt 25; Mc 15,6; Io 18,39; Nikodemusevangelium , cap. IX 1 [7,1 (G / I)]), ohne dass der Kommentar für den Handlungsablauf funktionalisiert würde. Wie im Johannesevangelium (Io 18,31; vgl. Nikodemusevangelium , cap. IV 3) versucht Pilatus, den Fall an die jüdische Gerichtsbarkeit zu überweisen, die in Christi Hort - anders als in den Evangelien, wo Jesus auch Kaiphas vorgeführt wird - bis zu diesem Punkt der Handlung in keiner Weise an dem Verfahren beteiligt war: ‘nu tût im selbe des ir gert, nemt in unt riht nach ewer ê, als es an ewerm orden stê! ’ (vv. 1714-1716) ,Die Juden‘ lehnen das unter Verweis auf das Tötungsverbot der ê ab (vv. 1718-1722). 396 Obwohl bei diesem Verweis ein Rekurs auf das (mosaische) sechste Gebot mitschwingt, ist hier ê vor allem im Sinne der Regeln einer Gemeinschaft gebraucht, 397 genauso wie bei dem einleitenden Vorwurf der jüdischen Ankläger, dass Jesus ihre ê breche (v. 1409). Die alttestamentarische Dimension von ê wird innerhalb des Prozesses aber deutlich, wenn Jesus zu Pilatus sagt, dass Moses und die Propheten seine Passion und Auferstehung vorhergesagt hätten (vv. 1614-1621), und ,die Juden‘ daraufhin fordern, Pilatus solle ihnen nach der ê zu ihrem Recht verhelfen (vv. 1622-1626). Hier ist mit ê offenbar nicht eine Rechtsordnung gemeint, sondern ,die Juden‘ fordern in einem literalen Schriftverständnis, 398 dass Pilatus so richten solle, dass die Prophezeiungen der ê erfüllt würden. Nimmt man den Gesamttext in den Blick, ergibt sich, dass mit ê außerdem rituelle Komponenten des jüdischen religiösen Lebens bezeichnet werden können, wenn gesagt wird, dass Jesus nach der alten ê beschnitten wird (vv. 370 f.) oder dass Joseph ihn scho ͤ n nach der ê bestattet (v. 2165). Aber auch für christliche Riten wird das Wort gebraucht, denn es heißt, dass Joseph nach christen ê getauft wird (vv. 2426 f.). 399 Dass die ê , vor allem im Sinne der alttestamentarischen Bestimmungen, auf Gott zurückgeht, wird nicht herausgearbeitet. 400 Für Gott als ,Gesetzgeber‘ bzw. eher Inhaber der Befehlsgewalt zieht sich stattdessen eine andere semantische Linie durch den Text, nämlich Pilatus, vel alii praesides Romanorum, ob favorem populi. (zitiert nach Cai 1972 [1952]; „Man muss aber wissen, dass diesen Brauch Pilatus eingeführt hat oder andere Statthalter der Römer, um die Gunst des Volkes zu gewinnen.“). Zu den historischen Bezügen der Passah-Amnestie vgl. Strobel 1980, S. 118-131; Bammel 1984, S. 427 f. 396 Bezeichnenderweise wird bei dem den Prozess einleitenden Blasphemievorwurf (vv. 1405 f.) keine Berufung auf die ê vorgebracht, sondern es heißt nur: swer daz tût, daz hab wir wol, / daz man den dar um to ͤ ten shol. (vv. 1407 f.). Im Nikodemusevangelium (cap. IV 3) wird in Anlehnung an Lc 24,15 f.; Io 10,31-33 die Steinigung als Strafe für Blasphemie benannt. Dafür ist die Berufung auf das Tötungsverbot gestrichen; ,die Juden‘ weigern sich vielmehr deshalb, Jesus nach ihrem ,Gesetz‘ zu richten, weil sie ihn gekreuzigt sehen wollen (cap. IV 4). 397 Dazu passt auch der Gebrauch des Wortes orden , vgl. dazu BMZ, s. v.: „das gesetz, die regel, unter welcher eine klasse von menschen steht“. 398 Zu dem judenfeindlichen Topos, dass ,den Juden‘ ein tieferes Bibelverständnis verschlossen sei, vgl. (in Bezug auf den Österreichischen Bibelübersetzer) Niesner 2005, S. 163-171. 399 Daneben kommt ê mehrfach in der weitverbreiteten Bedeutung ,Ehebund‘ vor: Gott gibt Eva Adam zur Ehe (vv. 63-66). Jesus wird vorgeworfen, dass er von un ê geboren sei (vv. 1592 f.). 400 So wird in der Scheltrede des Pilatus (vv. 1665-1688), anders als an der entsprechenden Stelle im Nikodemusevangelium (cap. IX 2 [7,2 (G / I)]), nicht gesagt, dass Gott ,den Juden‘ ihr ,Gesetz‘ gegeben habe. <?page no="132"?> 132 3 Variationen der Rechtsthematik die des Gebots: 401 Gott gebietet Adam und Eva bei ihrem Gehorsam ( ‘ich gepiut ew pi der gehorsam / […] ’ , v. 78), nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Sie vergessen jedoch Gotes gebot (v. 108) und werden deshalb von Gott verflucht (vv. 125; 131). Gehorsam gegenüber Gottes Gebot ist ein Ideal, das die Heiligen Drei Könige verwirklichen ( si waren gehorsam dı ͤ nem gebot , v. 418), dem Maria (v. 322) und der geheilte Tiberius (vv. 5020 f.) folgen wollen 402 und das auch das Ich der Gebete anstrebt (vv. 647-652). An dieser Stelle bezieht sich der Gehorsam darauf, den Namen Gottes zu ehren und der Welt zu entsagen. Vorbild dafür sind die Jünger, die um Jesu willen Entbehrungen auf sich genommen haben (vv. 638-642) und dafür auserwählt worden sind: du erwelts ûz aller der werlde gar, daz si waren sunderbar uber allez menschlich geslæht richter nach recht. (vv. 643-646) In Kombination mit dem Armutsmotiv dürfte es sich hier um eine Anspielung auf Mt 19,27 f. handeln, wonach die Jünger am Ende der Zeiten auf zwölf Thronen neben dem Menschensohn auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden. Der Gedanke wurde in der Auslegung mehrfach so interpretiert, dass die Apostel beim Jüngsten Gericht als Schöffen fungieren. 403 Dass das ,Richten nach Recht‘ sich tatsächlich auf das Jüngste Gericht bezieht, lässt sich textimmanent nachweisen, denn nachdem Jesus nach seiner Auferstehung den Jüngern ,geboten‘ und sie gebeten hat zu predigen (vv. 2818-2822), kündigen sie das Jüngste Gericht in einer Predigt folgendermaßen an: ‘ […] her wider am jungstem tag chûmt er ze richten nah rechte uber alles mensch geslæchte, uber lebentige unt uber tote.’ (vv. 2992-2995) Interessanterweise wird beim göttlichen Richten das Prinzip benannt, nach dem es erfolgt: nah rechte , ,so, wie es richtig ist‘. Zu vermuten ist dahinter in diesem Zusammenhang die Vorstellung einer Identität von ,Gott‘ und ,Recht‘, 404 sodass das Richten nah rechte nicht eine Unterordnung Gottes unter ihm wesensfremde Prinzipien bedeutet. Vor dieser Folie verliert auch Gottes Handeln nach der minne gebot (v. 326) etwas von dem provokativen Potenzial, wenn der Text auch die Vorstellung eines Kampfes der Minne mit Gott aufrechterhält. 401 Außer Gott ist es der Kaiser Tiberius, der ein gebot (v. 4448) ausspricht. Diese Parallele dürfte kein Zufall sein, denn auch Jesus wird vom Erzähler mit weltlichen Ehrentiteln bezeichnet, insbesondere dann, wenn sie mit der Niedrigkeit seines irdischen Lebens kontrastiert werden (vgl. z. B. vv. 345; 653-665; 1025; 2048 f.). Dass Columban Veronika zur gebieterinne über seine Habe machen will (vv. 4940 f.), stellt eine besondere Ehrung dar. Im Auftrag des Tiberius soll er ihr gewähren, swaz sie gepiete uber al mein reich (v. 5063). 402 Zu den Vorbildfiguren in der Pilatus-Veronika-Legende vgl. Knape 1985, S. 126. 403 Vgl. dazu Trauden (2000, S. 162 f.; 226 f.), der jedoch für die Weltgerichtsspiele betont, dass sich die Funktion der Apostel in der Regel auf die von Besitzern beschränke. 404 Vgl. aber auch die im Sachsenspiegel (Ldr. I 62,7) für den menschlichen Richter formulierte Forderung, Urteilsfragen nicht na sineme mutwillen , sondern na rechte zu stellen. Zu Gott als Letztbegründungsinstanz des Rechts s. u. Kap. 5.3. <?page no="133"?> 3.3 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 133 Dass am Jüngsten Tag alle vor Gottes Gericht erscheinen müssen, wird mehrfach im Text thematisiert (vgl. vv. 366-368; 4766-4770), 405 aber der Schwerpunkt liegt dabei auf der Gesamtheit der Menschen. Eine Verbindung zu den Gerichtsverhandlungen auf Erden wird nicht hergestellt. Auch sonst ist die Forderung, dem göttlichen Gebot zu folgen, nicht mit dem Handlungsverlauf verknüpft, bis auf eine Ausnahme: die Befragung von Karicius und Leucius. ,Die Juden‘ bitten sie um Gottes willen, und zwar pi der ê unt pi dem gebot (v. 3552), ihnen zu sagen, ob die Auferstehung wirklich stattgefunden habe. Als sie schweigen, mahnt sie Nikodemus bei der wære n minne bant , das sie an Gott bindet, und führt unterstützend an, dass sie doch sein Gebot achteten (vv. 3585-3592). Offenbar gehört es für ,die Juden‘ und für Nikodemus zum Befolgen von Gottes Gebot, dass man wahrheitsgemäß Auskunft gibt, vor allem, wenn man im Namen Gottes darum gebeten wird. Die Simeonsöhne haben jedoch von Jesus selbst ein Schweigegebot erhalten (vv. 3618-3620). Dass sie sich trotzdem zu einer (schriftlichen) Äußerung entschließen, also dem folgen, was die Menschen für Gottes Gebot halten, begründen sie damit, dass man sie in Gottes Namen so innig beschworen habe (vv. 3624 f.). 406 Dieser Schritt ist in der Vorlage vorgeprägt (vgl. Nikodemusevangelium , cap. XVIII 1) und erzähltechnisch notwendig. Zugleich klingt aber die Möglichkeit an, dass auch Menschen nach eigenem Ermessen nah rechte handeln können, wenn es darum geht, die Wahrheit als Augenzeuge zu bestätigen (vv. 3598-3600; vgl. v. 3559). 3.3.5 Heilsgeschichte als (rechts)ethische Anleitung Christi Hort bietet, was die Ausarbeitung rechtlicher Vorgänge und sich damit berührender Themen wie ,Wahrheit‘ angeht, ein gemischtes Bild. Einerseits sind gerichtliche Abläufe und rechtliche Termini für die Darstellung der Ereignisse von großer Relevanz, andererseits ist - anders als es die vorangegangene systematisierende Präsentation von Einzelaspekten vielleicht vermittelt - die Rechtsthematik im Text nicht dominant. 407 An einigen Stellen ist ein faktenorientiertes Detailinteresse erkennbar (so bei der Klärung des rechtlichen und persönlichen Verhältnisses zwischen Pilatus und Herodes oder beim Prozedere der Verurteilung von Pilatus), an anderen tritt es in den Hintergrund (z. B. bei den kurz abgehandelten Zeugenaussagen zugunsten Jesu), dafür werden Fragen der persönlichen Verantwortung wichtig. Der Befund lässt sich übergeordneten Textstrategien zuordnen: So verleihen die rechtlichen Details den Geschehnissen Glaubwürdigkeit, gerade was die Feststellung der Wahrheit von irdischen Vorgängen, aber auch von Heilsgewissheiten (etwa durch formalisierte Zeugenbefragung) angeht, wobei die Plausibilisierung des Vergangenen erfolgt, indem es an die Gegenwart anschlussfähig gemacht wird. Auf diese Weise tragen die rechtlichen Details zur historiographischen Stoßrichtung des Textes bei, die ihrerseits kein Selbstzweck ist, sondern dazu dient, die Heilswahrheit greifbar zu machen und abzusichern, indem etwa die Quellen offengelegt werden - auf der Figurenebene ebenso wie auf der der erzählerischen Vermittlung. Überlagert wird die historiographische Komponente noch von einer Strategie, das Heilsgeschehen auf die eigene Lebensführung zu beziehen. 405 Aufschlussreich für diese Tendenz ist die Aufnahme des Verweises auf das Jüngste Gericht in die Predigt der Jünger (vv. 2969-2995), denn der explizite Bezug auf das Jüngste Gericht findet sich nicht in der Pfingstpredigt des Petrus (Act 2,14-36), an die die Passage in Christi Hort angelehnt ist. 406 Sie bitten Christus darum, dass er seinen Zorn darüber mäßigen möge (v. 3626). 407 Manche im Plot angelegten Aspekte, wie das vermeintliche ,Recht‘ des Teufels auf Jesus nach dessen Tod, sind gar nicht ausgearbeitet. <?page no="134"?> 134 3 Variationen der Rechtsthematik Neben den predigtartigen Einlassungen des Erzählers, 408 die eine explizite didaktische Funktion haben, leitet der Text von Beginn an auch zur eigenen Prüfung an. Im Prolog heißt es: swer sich selben an sicht, der spot furpaz nicht mêre; im git gewis lere sein selbs gewizzen. wie er sich hat gevlizen paidiu ouf ubel unt ouf gût, diu gewizen im daz chûnt tût. (vv. 220-226) Im Gebetsteil werden Übertragungen des Erzählten auf das eigene Leben eingeübt, wenn das Sprecher-Ich zum Beispiel beklagt, dass es wie Judas Jesu Körper zugunsten der Welt verkauft habe und sündig zur Kommunion gegangen sei, weshalb sein Gewissen beschwert sei (vv. 1128-1152). Während hier die Zeitebenen getrennt werden (dem vergangenen Verrat des Judas steht das entsprechende Verhalten ,heute‘ gegenüber, vgl. v. 1128), erscheint das Ich, dessen Reflexionen in die Erzählung von Jesu Leiden am Kreuz eingeflochten sind, unmittelbar involviert. Das Kreuzeswort ‘consummatum est’ (v. 2055) ist Anlass dafür, zu erläutern, was dieses Ich empfindet, wenn es die Worte in der Karfreitagslesung hört: Quälend wird ihm bewusst, dass es nicht vollendet hat, was es ,billigerweise‘ hätte machen sollen, dem pilde 409 seines Herren folgend, dessen Antlitz durch diese Verfehlung verunstaltet worden sei (vv. 2056-2063). Eine solche Auslegung geht weit über eine moraldidaktische Aneignung des Geschehens hinaus, aber sie zeigt, dass auch das Passionsgeschehen auf das eigene Leben bezogen werden kann und soll. Liest man vor dem Hintergrund der geforderten Gewissensprüfung etwa die Aussage Jesu, dass jeder Mensch Entscheidungsgewalt darüber habe, Gutes oder Böses zu sagen (vv. 1586-1588), dann gewinnen die Worte einen Sinn, der den Handlungszusammenhang übersteigt. Die ausgiebige textinterne Diskussion über die Verantwortung ,der Juden‘ und Pilatus am Tode Jesu lässt es für die Rezipienten unzweifelhaft werden, was schlecht ist. Dabei verändert sich im Laufe des Textes der Blick auf Pilatus: Während bei der Schilderung des Prozesses gegen Jesus seine Bemühungen um dessen Freilassung gewürdigt werden und auch die heilsgeschichtliche Notwendigkeit seines Handelns thematisiert wird (v. 1614), ist rückblickend nur das Resultat seiner Entscheidung relevant. Sein Fehlverhalten wird von einem weltlichen Gericht bestraft, aber auch seine Seele wird nicht zu retten sein (vv. 5292-5294). Dass allen, die nicht nach Gottes Gebot leben, die Verdammnis droht, wird bei der Erzählung von der Höllenfahrt Jesu demonstriert, wenn ausdrücklich gesagt wird, dass Jesus nur diejenigen hinausführt, die seinen Willen getan haben, die anderen jedoch dort lässt (vv. 2261-2264). Eine entsprechende Sortierung erfolgt beim Jüngsten Gericht, das im Text immer wieder aufgerufen wird. Wie das Beispiel des Pilatus zeigt, dessen Richter-Sein prominent herausgestellt ist und dessen Bestrafung den letzten Teil des Werks dominiert, sodass die der mitschuldigen ‚Juden‘ eher im Hintergrund bleibt, kann unrechtes Richten zur Verdammnis führen. Insofern hat Christi Hort auch eine rechtsethische Komponente. 408 S. dazu o. S. 106. 409 pilde ist hier sowohl als ,Vorbild‘ als auch als ,Gestalt‘ zu interpretieren (zum Bedeutungsspektrum vgl. MWB, s. v. bilde ). <?page no="135"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 135 Sie gewinnt dadurch, dass - in einzelnen Aspekten - der Prozess gegen Jesus und deutlicher noch der gegen Pilatus an die Gepflogenheiten der zeitgenössischen Rechtspraxis angeglichen ist, an besonderer Unmittelbarkeit. 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 3.4.1 Entstehungsumfeld und Textgrundlage Die Autorschaft Heinrichs von Hesler ist für das Evangelium Nicodemi 410 nicht durch eine werkinterne Angabe gesichert: Das Autor-Ich, das den Heiligen Geist um Beistand für sein Werk anruft (vv. 301-361) und die Rezipienten bittet, für sein Seelenheil zu beten (vv. 362-367), bleibt namenlos. Aufgrund sprachlicher und stilistischer Kriterien hat man das Werk jedoch Heinrich von Hesler zugesprochen, 411 dessen Name sich in einem deutschsprachigen Apokalypsekommentar ( Apokalypse ) 412 und in einem - seit der Veröffentlichung des Wolfenbütteler Fragments 1888 - in der Forschung als Erlösung bezeichneten Werk findet. 413 In allen drei Werken ist eine idiosynkratische Verrechtlichung der Heilsgeschichte zu beobachten, die es zusätzlich plausibel macht, dass sie von ein und demselben Verfasser stammen. 414 Auf dieser Grundlage scheint es gerechtfertigt, Indizien zu Schaffenszeit und -raum des Verfassers und seinem Bildungshintergrund aus allen drei Werken zusammenzutragen bzw. die an der Apokalypse gewonnenen Erkenntnisse für das Evangelium Nicodemi fruchtbar zu machen. 410 Wenn nicht anders angegeben, wird der Text nach der Ausgabe von Helm (1902) zitiert. 411 Vgl. Amersbach 1883; de Boor 1925, bes. S. 144. 412 Heinrich heiz ich mins rechten namen, / Hesler ist min hus genant (vv. 154 f.). Der Apokalypsekommentar wird nach der Ausgabe von Helm (1907) zitiert; zur Überlieferung vgl. Klein 2014. Ehrich (2010, S. 153) bringt den Befund der im Evangelium Nicodemi fehlenden Autorsignatur in Verbindung mit der Textgattung: Im Vergleich mit dem Apokalypsekommentar habe die paraphrasierende Nacherzählung des Nikodemusevangeliums einen geringeren Legitimationsbedarf. Der Vergleich der Autorstilisierung in den beiden Werken ist weiterführend, aber zu bedenken ist zum einen, dass auch das Evangelium Nicodemi einen exegetischen Anspruch hat, zum anderen, dass vergleichbare Werke wie Diu urstende und Christi Hort durchaus Namenssignaturen enthalten. 413 Vgl. von Heinemann 1888, S. 111-117 (Abdruck der Fragmente Wolfenbüttel, HAB, Cod. 404.9 (13) Novi (W13) und Cod. 404.9 (19) Novi (W19)), hier S. 116. Zur Frage, ob der Titel angemessen ist, vgl. Wiedmer 1977, S. 122-124; Mentzel-Reuters 2014, S. 60-63. Für eine Edition aller bekannten Textzeugen vgl. Mentzel-Reuters 2013. Die Namensnennung erfolgt in vv. 59-61: Vnde die werden irkennen mich / vnde wizzen daz ich Heinrich / von Hasiliere bin genant . - Mentzel-Reuters (2013; 2014) hat die These aufgestellt, dass „die ‘Erlösung’ benannten Verse nicht der beklagenswerte Rest eines eigenständigen, ansonsten aber verlorenen Werkes darstellen, sondern Bestandteil einer autornahen Langversion des ‘Evangelium Nicodemi’ waren“; vermutlich seien die Verse aus dessen Prolog ausgegliedert worden (2013, S. 74). Seine Vorannahme, dass vv. 1-289 (bzw. 290) des Evangelium Nicodemi nicht dem Beginn des Werks zuzuordnen seien (vgl. 2014, S. 63 f.), ist jedoch wenig überzeugend (s. dazu u. S. 143), weshalb auch seine darauf aufbauenden Schlüsse hier nicht übernommen sind. 414 Zu den gedanklichen Entsprechungen vgl. Wiedmer 1977, der einleitend (S. 11-20) die These Schumanns (1912, S. 58-66), dass das Evangelium Nicodemi Heinrich von Hesler abzusprechen sei, mit überzeugenden Argumenten widerlegt. Neben den gedanklichen gibt es auch wörtliche Parallelen zwischen dem Evangelium Nicodemi und der Apokalypse sowie dem Evangelium Nicodemi und der Erlösung (vgl. Mentzel-Reuters 2014, S. 60, und s. dazu z. B. u. S. 171, Anm. 633; S. 172, Anm. 637). Sie können eine gemeinsame Verfasserschaft nicht zwingend beweisen, haben aber auch keine pointierte intertextuelle Funktion, die die Übereinstimmungen anderweitig erklären würde. Zum Forschungsstand hinsichtlich der Verfasseridentität vgl. auch Ehrich 2012, S. 14 f. <?page no="136"?> 136 3 Variationen der Rechtsthematik Während sich aus dem Apokalypse -Text lediglich ableiten lässt, dass er vor 1309 entstanden sein dürfte, 415 deutet die Überlieferung aller drei Werke auf ein Wirken Heinrichs von Hesler bereits im 13. Jahrhundert hin: 416 Der älteste Überlieferungszeuge für das Evangelium Nicodemi (M) wird ins ausgehende 13. Jahrhundert datiert, 417 ebenso wie die Erlanger Fragmente der Erlösung (E). 418 Für ein Fragment der Apokalypse (Se) ist von Karin Schneider im Jahr 2000 sogar eine Datierung in die 60er Jahre des 13. Jahrhunderts vorgeschlagen worden. 419 Diese Datierung der Fragmente hat die Annahmen hinsichtlich des zuvor für die Zeit um 1300 angenommenen Schaffenszeitraums Heinrichs von Hesler 420 entscheidend verändert und neue Perspektiven auf die von Heinrich eventuell benutzten Quellen und seine literarhistorische Stellung eröffnet. 421 Wenn Heinrich von Hesler kurz nach der Mitte des 13. Jahrhundert literarisch tätig war, ist es zudem möglich, ihn mit einem Heinricus de Heseler zu identifizieren, der in Urkunden des Naumburger Bischofs aus dem Zeitraum von 1277 bis 1287 als Schultheiß (von Naumburg) aufgeführt ist. 422 Dann hätte er für das Hochstift die niedere Gerichtsbarkeit ausgeübt, 423 wäre also mit rechtlichen Abläufen vertraut gewesen. So passend ein solches Amt für Heinrich von Hesler angesichts des in seinen Werken zu beobachtenden Interesses an Rechtsfragen erscheint, die Identifizierung des Autors mit Heinricus de Heseler ist nicht zu beweisen. Es lassen sich aber zumindest Indizien für die im Hinblick auf eine solche Identifizierung notwendigen Voraussetzungen finden: Heinrichs Wirken in Thüringen und sein vermutlicher Laienstand. Zwar war bereits im 19. Jahrhundert in Betracht gezogen worden, dass das hus Hesler auf den Sitz des im ca. 15 km von Naumburg entfernten Burgheßler 415 Vgl. Honemann (2008 [2000], S. 52) dazu, dass Verweise auf die Verlegung der päpstlichen Hofhaltung nach Avignon fehlen. Helm (1899, S. 141 f.; 1902, S. XXXI f.) wollte für das Evangelium Nicodemi aus der Übereinstimmung von v. 4692 ( Man furte sie vor an seilen ) mit einem Vers im zweiten Gedicht des ,Seifried Helbling‘ auf 1292 / 94 als terminus post quem schließen, aber dafür ist die Materialbasis zu gering (vgl. dazu Honemann ebd. mit anderen Gegenargumenten). 416 Die relative Chronologie seiner Werke ist unklar. Vgl. dazu Honemann 2008 (2000), S. 53 mit einer Zusammenfassung der Forschungsdiskussion. 417 München, BSB, Cgm 5249 / 55b (vgl. den Eintrag im Handschriftencensus ). Vgl. dazu Schneider 2005, S. 99: „paläographisch als kaum später als ins 4. V. / Ende 13. Jh. datierbar“. Vgl. auch Schneider 1996, S. 88. Malm (2011, Sp. 953) gibt die Entstehungszeit des Evangelium Nicodemi hingegen mit „um 1300-05“ an. 418 Zur Datierung vgl. Pültz 1973, S. 17; Mentzel-Reuters 2013, S. 77. 419 Colmar, Archives Départementales du Haut-Rhin, Fragments de Ms. no. 332 (früher Sennheim, Stadtarchiv, G. G. 1537). Zur Datierung vgl. Ehrich 2010, S. 11; Klein 2014, S. 129. 420 Vgl. Masser 1981, Sp. 750. 421 Vgl. dazu Honemann 2008 (2000), S. 53; 2008 (2003), S. 85 f.; Schmolinsky 2009; Ferrari 2011, S. 474 f.; Klein 2014, S. 133; Mentzel-Reuters 2014, S. 43; 63. 422 Vgl. Honemann 2008 (2003), S. 85. Die Urkunden sind verzeichnet in Schulze 2000, Nr. 448 (1277); 453 (1277); 466 (1278); 515 (1283); 579 (1287); 582 (1287). Die Angabe in der Urkunde Nr. 303 aus dem Jahr 1259 ( Heinricus scultetus ) ist zu wenig spezifisch, um eine Zuordnung zur genannten Person zu ermöglichen. Die Ortsangabe ,Naumburg‘ findet sich erst in der Urkunde von 1283, vor 1283 ist auch das Amt des scultetus von Naumburg nicht belegt; es ist jedoch nicht anzunehmen, dass es dann erst geschaffen wurde (vgl. Hoffmann 1901, S. 17, Anm. 3). Der Schultheiß Heinricus de Heseler tritt in den Urkunden meist als Zeuge in Erscheinung, einmal jedoch auch als ehemaliger Besitzer einer Wiese (Nr. 515). Masser (1976, S. 123) hatte eine Identifizierung des Schultheißen mit dem Autor Heinrich von Hesler aus chronologischen Gründen zurückgewiesen. Nach heutigen Erkenntnissen ist jedoch nur die Identifizierung mit dem 1341 / 42 als „Propst und Komtur der Deutschordenskommende Zschillen bei Rochlitz“ belegten Heinrich von Hesler ausgeschlossen (vgl. Honemann 2008 [2000], S. 53 f.). 423 Zu den gerichtlichen Zuständigkeiten vgl. Wiessner 1997, S. 240. <?page no="137"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 137 ansässigen Geschlechts der Herren von Hesler verweisen könnte, 424 jedoch schien der aus der Überlieferung rekonstruierte Sprachstand der Dichtungen nicht diesem Wirkungsort zu entsprechen, sodass man annahm, dass Heinrich von Hesler im Deutschordensland tätig gewesen sei. 425 Da die niederdeutschen Elemente in der Sprache Heinrichs von Heslers 426 aber mittlerweile als typisch für das nördlichste Thüringisch erkannt worden sind, 427 spricht nichts dagegen, dass Heinrich von Hesler in diesem Raum gewirkt hat. 428 Damit steht die Aussage des Autor-Ich der Apokalypse im Einklang, dass es für seine Übersetzung einer bestimmten Stelle zu Nebre (v. 16 471) getadelt worden sei. 429 Aus Selbstaussagen in der Apokalypse hat man außerdem geschlossen, dass Heinrich dem Laienstand angehörte: Zum einen bezeichnet sich das Autor-Ich dort als nothaften rittere (v. 16 480), 430 zum anderen grenzt es sich selbstbewusst vom geistlichen Stand ab (vv. 6613-6656; 13 095-13 099). 431 Die Aussagen mögen genauso dem jeweiligen Argumentationszweck geschuldet sein 432 wie die Kritik an geistlichen und weltlichen Eliten im Evangelium Nicodemi (vv. 4856-4954). 433 Auch die in der Apokalypse skizzierte Situation eines höfischen Literaturvortrags (vv. 3699-3720) 434 lässt keine sicheren Rückschlüsse darauf zu, dass der Verfasser der anvisierten Rezipientenschicht angehörte. 435 Doch könnte die Argumentation, dass das Autor-Ich bei dem gewagten Unternehmen, einen Apokalypsekommentar auf Deutsch abzufassen, nur der ,Schreiber‘ Gottes sei (vv. 755-802), 436 auf einen Legitimationsbedarf hindeuten, der vielleicht nicht allein mit der Sprachwahl, sondern auch mit dem Status des Autors zu tun hat. 437 424 Vgl. skeptisch dazu Helm 1899, 165-168. Das Wort hus wird in der Regel auf ein konkretes Gebäude bezogen (vgl. Honemann 2008 [2000], S. 50 f.), könnte aber auch die Familie meinen (vgl. BMZ; L exer , s. v.). 425 Vgl. zur Forschungsgeschichte Honemann 2008 (2000), S. 51. Die Zugehörigkeit von Heinrichs Werken, insbesondere der Apokalypse , zur Literatur im Deutschen Orden, ist mittlerweile als Rezeptionsphänomen erkannt worden (vgl. Honemann ebd., S. 55 f.: Ehrich 2010, S. 12; Klein 2014, S. 133). Zur Rezeption von Bibeldichtung im Deutschen Orden vgl. Löser 2008. 426 Vgl. dazu Helm / Ziesemer 1951, S. 86-88. 427 Vgl. Honemann 2008 (2000), S. 51, Anm. 13 mit weiterer Literatur. Das weitgehende Fehlen deutlich thüringischer Züge (vgl. ebd., S. 51) wäre vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse zu mitteldeutschniederdeutschen Mischsprachen (vgl. dazu z. B. Klein 2003) noch einmal neu zu diskutieren. Eine umfassende sprachliche Analyse kann hier jedoch nicht geleistet werden. 428 So auch Mentzel-Reuters 2014, S. 44. 429 Zur Identifizierung des Ortes mit Nebra bei Memleben vgl. Honemann 2008 (2000), S. 50; zur Interpretation der Stelle vgl. Honemann ebd., S. 71 f.; Ehrich 2010, S. 13; 47-52 (mit weiterer Literatur). 430 Das Wort nothaft könnte situationsbezogen sein (vgl. dazu Helm 1902, S. LXXXII; Mentzel-Reuters 2014, S. 44). 431 Vgl. Ehrich (2010, S. 14) mit einem Überblick zur Forschungsdiskussion darüber, wie wörtlich diese Angaben aufzufassen seien. 432 An mehreren Stellen geht es darum nachzuweisen, dass Geistliche nicht automatisch einen privilegierten Zugang zu Gott haben und dass das Leben eines Laien auch gottgefällig sein kann (vv. 6511-6734; 12 899-13 138). 433 Dort werden Laien und Geistliche ( ir leien und ir phaffen , v. 4859) gleichermaßen angesprochen. 434 Vgl. dazu Honemann 2008 (2003), S. 87 f. 435 Konkretisierende Interpretationen der genannten Stellen sind mit Vorsicht zu betrachten. Masser (1981, Sp. 750) konstruiert aus den verschiedenen Angaben einen „kleinen, in materiell bescheidenen Verhältnissen lebenden Ritter“. 436 Vgl. dazu Honemann (2008 [2000], S. 71), der auf Parallelen zu Mechthild von Magdeburg hinweist. 437 Ehrich (2010, S. 90-92) wertet auch die Berufung auf das Alte Testament und die Kirchenväter in der Apokalypse (vv. 17 834-17 839; 17 847-17 856) als Vorsichtsmaßnahme eines Laien. Ähnlich Mentzel- Reuters 2014, S. 44 f. <?page no="138"?> 138 3 Variationen der Rechtsthematik Allerdings spricht das Autor-Ich der Apokalypse als Wissender - und Lateinkundiger - zu einem weniger gebildeten Publikum. 438 Die Bildung des Verfassers zeigt sich auch an den von ihm verwendeten Quellen, deren Zahl weit über die von ihm selbst genannten Apokalypsekommentare von Beda Venerabilis und Ambrosius Autpertus hinausgeht: 439 Insgesamt erscheint Heinrichs Apokalypse so als eine compilatio aus den wichtigsten Apokalypsekommentaren und theologischer Grundlagenliteratur des frühen und hohen Mittelalters, die aber deutlich eigene Akzente setzt und nicht nach der Art der scholastischen Wissenschaft seiner Zeit, sondern weit eher nach der ‘Mönchstheologie’ des 12. Jahrhunderts gearbeitet ist. Die sehr intensive und reiche Quellenbenützung, von der Heinrich selbst spricht [sc. vv. 1303-1307], macht im übrigen den Zugang zu einer guten Bibliothek zur Voraussetzung für Heinrichs Arbeit; zugleich aber stellt sich mit ihr die Frage nach seiner Ausbildung und seinem Bildungsstand noch zwingender. 440 Mit Naumburg als Domstadt, dem Stift Zeitz, der Bischofsstadt Merseburg und dem Zisterzienserkloster (Schul-)Pforta müssen in erreichbarer Nähe von Burgheßler und Nebra gute Bibliotheksbedingungen vorhanden gewesen sein, 441 doch wer hatte zu den Bibliotheken Zugang? Wenn Heinrich von Hesler tatsächlich ein ,Laie‘ war - worauf der Gesamtbefund hindeutet -, 442 dürfte er auf jeden Fall zu jener Gruppe lateingebildeter Laien gehört haben, deren Existenz im Spätmittelalter die Grenzen zwischen clerici litterati und laici illitterati verwischen ließ. 443 Für die Interpretation des Evangelium Nicodemi ist der Bildungshintergrund Heinrichs von Hesler insofern von Bedeutung, als die Erzählung von Passionsgeschichte, Höllenfahrt Jesu und der Pilatus-Veronika-Legende dort in ein umfassendes Erklärungsmodell zu 438 Vgl. Honemann 2008 (2003), S. 87, Anm. 4. Das Autor-Ich wendet sich jedoch auch an die wisen , die die Lehre den tummen weitergeben sollen (vv. 1273 f.). - Im Evangelium Nicodemi sind Rezipienten ohne Lateinkenntnisse anvisiert, denn lateinische Einsprengsel werden durchgehend übersetzt (vgl. z. B. vv. 3514-3523), selbst wenn sie in Figurenreden vorkommen (vgl. vv. 3484-3487). 439 Vgl. Honemann 2008 (2000), S. 76. 440 Honemann 2008 (2000), S. 77. Ehrich (2010, S. 46-53) charakterisiert die Apokalypse als ,traditionsbewussten Kommentar eines selbstbewussten Exegeten‘ (S. 46). 441 Vgl. Honemann (2008 [2000], S. 54), dem darin zuzustimmen ist, dass diese Situation ein zusätzliches Argument für die Lokalisierung der Tätigkeit Heinrichs von Hesler in Thüringen ist. Ein Abgleich der Informationen über die Bibliotheksbestände mit den von Heinrich benutzen Quellen steht jedoch noch aus (vgl. Honemann ebd., S. 55, Anm. 22). Für Mitglieder der Ministerialienfamilie von Hesler sind 1239 wirtschaftliche Kontakte zum Kloster Pforta nachweisbar (vgl. Mentzel-Reuters 2014, S. 44, mit weiterer Literatur). Ob Mitglieder der Familie im 13. Jahrhundert auch das (1318 erstmals urkundlich nachgewiesene) Zisterzienserinnenkloster Klosterhäseler gegründet haben (so Mentzel-Reuters ebd.), ist unsicher (vgl. Neuß 1987, S. 242 f.). 442 Vgl. aber Ehrich (2010, S. 155) zur Möglichkeit eines ,Klerikers im Laienpelz‘. Auch Mentzel-Reuters (2014, S. 44) schließt eine geistliche Position nicht aus, erwägt aber als Alternative, dass ein geistlicher Mentor Heinrich Zugang zu lateinischen Handschriften gewährt haben könnte. Bei aller Stilisierung von Autorrollen ist zu bedenken, dass mit dem Autornamen eine außertextuelle Referenz gegeben ist, sodass das Spiel mit Rollen - jedenfalls gegenüber den ersten Rezipienten - nicht frei von Vorgaben war. 443 Vgl. dazu Schreiner 1992. <?page no="139"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 139 Sündenfall und Erlösung eingebunden ist. 444 Welche theologischen Quellen benutzt sind 445 bzw. in welches geistige Umfeld sich das Konzept einordnen lässt, ist nicht abschließend geklärt. 446 Peter Wiedmers (1977) These, dass Heinrich von Hesler maßgeblich von Bonaventura beeinflusst worden sei, 447 ist sowohl inhaltlich als auch aus chronologischen Gründen neu zu diskutieren. 448 Es ließ sich aber mit dem Konzept der necessitas immutabilitatis eine Nähe zu scholastischem Gedankengut feststellen, 449 sodass zu fragen ist, ob das Fehlen einer scholastischen Methode wirklich mit dem Bildungsstand des Autors oder - zumindest beim Evangelium Nicodemi - nicht eher mit der Textgattung zu tun hat. Das Evangelium Nicodemi teilt die Traktatbzw. Predigthaftigkeit in den diskursiven Passagen mit vielen Werken der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsliteratur. 450 Auch inhaltlich bestehen Parallelen; als Beispiel sei nur der Auslegungsexkurs zum Kreuzeswort „Eli / lamasabatani! “ (vv. 1927 f.) genannt (vv. 1929-2178), 451 in dem nicht nur darauf verwiesen wird, dass Jesus den Beginn des 21. Psalms (nach der Zählung der Vulgata ) ausspricht (vv. 2035-2044), 452 sondern er genau nach der Fassung der Septuaginta übersetzt wird. 453 Im Kontext der Stelle geht es vor allem um die Erfüllung der schrift (vgl. z. B. v. 2028), nicht um ein Psalmengebet Jesu, aber die Passage ist auch in dem Kontext zu sehen, dass der Einschub respice me in der Passionsliteratur meist dann zitiert wird, wenn ausgedrückt werden soll, dass Jesus am Kreuz Psalmen gebetet habe. 454 Der differenzierte Umgang mit dem Wortlaut des Kreuzeswortes deutet darauf hin, dass Heinrich von Hesler mit solchen Überlegungen vertraut war. Mit größerer Eindeutigkeit sind die Quellen für den Ablauf der Erzählung zu bestimmen. Die Kombination der Erzählkomplexe , Nikodemusevangelium ‘ und ,Pilatus-Veronika-Legende‘ hat Heinrich von Hesler vermutlich bereits aus seiner Vorlage übernommen, in der das Nikodemusevangelium und die Cura sanitatis Tiberii als Texteinheit vorgelegen haben 444 Vgl. dazu grundlegend Wiedmer (1977), der die diskursiven Partien des Textes herausgegriffen hat und durch eine Analyse solcher Passagen in allen drei Werken Heinrichs von Hesler „das heilsgeschichtliche Denken dieses Dichters […] verstehen und würdigen“ will. Dementsprechend diskutiert er nicht, wie sich die Diskurszur Narrationsebene der Texte verhält. Vgl. dazu (für das Evangelium Nicodemi ) Manuwald 2014. 445 Vgl. dazu bereits Helm 1899, S. 134 f. 446 Da im Evangelium Nicodemi theologische Literatur nicht direkt zitiert wird, dürfte es schwierig sein, Bezüge definitiv auszumachen. 447 Vgl. Wiedmer 1977, S. 148. 448 Vgl. Honemann 2008 (2000), S. 75. 449 Vgl. Manuwald 2014, S. 667 f. Näher zu untersuchen wäre auch die Auffassung der Taufe im Evangelium Nicodemi , wie sie sowohl in Figurenreden als auch in Erzählerreden entwickelt wird. Die Taufe Jesu wird als Überwindung der Erbsünde begriffen (vv. 2808-2828; 2974-2989), sodass der Taufe allgemein die Kraft zugesprochen wird, die Erbsünde abzuwaschen: Am Jüngsten Tag müssten auch die ,guten‘ Auferstandenen im Jordan im Geist getauft werden, um von der Erbsünde gereinigt zu werden (vv. 3713-3723). Zur scholastischen Diskussion darüber, ob die Taufe die Erbsünde vollständig abwaschen kann, vgl. Köster 1979, S. 186-191. 450 Helm / Ziesemer (1951, S. 77) vermuten vor allem Predigten als Quelle für das theologische Wissen Heinrichs von Hesler. 451 Vgl. dazu Wiedmer 1977, S. 67-73. Zur Frage der Echtheit s. u. S. 143 f. 452 Mit Helm (1902, S. 241) ist der Lesart der Schweriner Handschrift S (s. u. S. 142, Anm. 474) der Vorzug zu geben: S liest in v. 2038 Nach dem anstatt an dem zwenzigisten psalmen (im Ausgabentext). 453 „Min got, min got, sih mich ane! / Durch waz hastu mich vorlazen? “ (vv. 2092 f.) als Entsprechung zu Deus, deus meus: respice me: quare me dereliquisti (vgl. dazu Kemper 2006, S. 379). 454 Vgl. Kemper 2006, S. 376-388. <?page no="140"?> 140 3 Variationen der Rechtsthematik dürften. 455 Weil die lateinische Vorlage streckenweise recht genau übersetzt wird, ließen sich die jeweiligen Textredaktionen identifizieren: die Rezension Lateinisch A des Nikodemusevangeliums und die B-Fassung der Cura sanitatis Tiberii . 456 Allerdings finden sich in beiden Textteilen auch Ergänzungen des Handlungsablaufes: Für den auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Teil ist zusätzlich auf die kanonischen Evangelien zurückgegriffen worden; 457 bei der Pilatus-Veronika-Legende ist die Cura sanitatis Tiberii offensichtlich mit der Historia apocrypha der Legenda aurea 458 kompiliert, sodass es zu einer Verdoppelung der Boten von Tiberius gekommen ist. 459 Einzelne Züge der Pilatus-Veronika-Legende sind außerdem wohl aus der Sächsischen Weltchronik übernommen, die hinter der konige buchen (v. 4718) zu vermuten ist, die in der das Werk beschließenden judenfeindlichen Invektive ausdrücklich als Quelle benannt sind. 460 Inwieweit Heinrich von Hesler die Kompilation der Quellen selbst vorgenommen hat, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. 461 Jedenfalls lässt sich als durchgehend dominierendes Prinzip bei der Kompilation beobachten, dass das Vorgefundene möglichst bewahrt wird (so wie bei der Verdoppelung der Boten), selbst wenn auf diese Weise inhaltliche Spannungen entstehen: Die Gefangennahme Jesu (vv. 600-623; 710 f.) nach den kanonischen Evangelien wird mit seiner Vorladung (vv. 767-918) nach dem Nikodemusevangelium kombiniert; 462 Tiberius ist durch den schriftlichen Bericht des Pilatus eigentlich schon über das Schicksal Jesu informiert und reagiert zornig (vv. 3824-3855), bricht aber erst in Klagen aus, als seine Boten ihm davon berichten (vv. 4468-4471); 463 oder: Veronika lässt, nachdem sie zunächst das Bildnis Jesu für Geld nicht hat hergeben wollen (vv. 4438-4443), es dann doch in Rom und wird vom Kaiser für ihre Reise entlohnt (vv. 4521-4529). 464 Die bewahrende Grund- 455 Zu dieser Fassung, die durch zahlreiche lateinische Handschriften und vier deutsche Übersetzungen repräsentiert ist, vgl. Hoffmann 1997a, S. 298, mit Verweis auf von Dobschütz 1899, S. 157*-203*. 456 Vgl. Hoffmann 1997a, S. 298. 457 Außerdem ist die Stelle des Nikodemusevangeliums (cap. XXV), in der Elias und Enoch das Kommen des Antichrists prophezeien, offenbar mit weiterem Quellenmaterial ausgestaltet worden, denn es wird auch das Wirken des Antichrists kurz skizziert (vv. 3582-3632). Zu den für Antichrist-Passagen in der Apokalypse herangezogenen Quellen vgl. Ehrich 2010, S. 63-109. Das Evangelium Nicodemi (vv. 3617-3627) teilt mit der Apokalypse (vv. 19 777-19 779) die Besonderheit, dass der Antichrist in der Tiefebene Josaphat das gebot erlässt, dass man ihn anbeten solle. 458 S. dazu o. S. 102, Anm. 228. 459 Vgl. Hoffmann 1997a, S. 297 f. Dass Tiberius nach Volusian auch noch Alban ausschickt, wird damit erklärt, dass er von dem (von ungünstigen Winden verschlagenen) Volusian nichts mehr gehört habe (vv. 4226-4234). 460 Vgl. Helm 1899, S. 568 f.; 1902, S. XXX f.; Hoffmann 1997a, S. 298. - Zum judenfeindlichen Schlussexkurs vgl. (jeweils ohne Bezug auf das Gesamtwerk) Schreckenberg 1994, S. 360 f. (mit weiterer Literatur); Schulze 2002, S. 119-124 (sie betont den predigthaften Charakter des Exkurses). 461 Masser (1976, S. 121; 1981, Sp. 753) hatte für die Einarbeitung von Passagen aus den kanonischen Evangelien bestritten, dass sie auf Heinrich zurückgehe, hatte dafür aber keine Materialbasis geliefert (vgl. Hoffmann 1997a, S. 298 f.). 462 Der inhaltliche Bruch ist dadurch aufgehoben, dass der Läufer Jesus freigeben lässt, wie ausdrücklich gesagt wird (v. 774). Einen solchen Ausgleich gibt es in Christi Hort allerdings nicht , obwohl dort ebenfalls eine solche Kompilation vorliegt (vv. 1241-1286; 1420-1491). Bei Heinrich von Hesler ist ein vergleichbares Handlungselement auch an späterer Stelle zwischengeschaltet: Während es in Christi Hort Pilatus ist, der Jesus direkt zu Herodes schickt (vv. 1733-1735), erfolgt bei ihm vor der Vorführung vor Herodes eine erneute Gefangennahme Jesu durch ‚die Juden‘ (vv. 1419-1422; 1438 f.). Vgl. dazu auch Klibansky 1925, S. 17. - Zum Status des Nikodemusevangeliums als Quelle s. u. S. 155. 463 Hier ist die Tradition der Epistola Pilati ad Claudium (vgl. dazu Izydorczyk 1997c, S. 55-57) mit der Pilatus-Veronika-Legende verbunden worden. 464 Vgl. dazu Helm 1902, S. XXXI. <?page no="141"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 141 haltung, die Kürzungen jedoch nicht ausschließt, 465 geht einher mit einer Ausgestaltung des vorgefundenen Materials, die eigene Akzente setzt: So zeigt zum Beispiel die Ankunft Jesu in der Hölle eine größere Dramatik als im lateinischen Nikodemusevangelium ; 466 auch die Dialoge zwischen Satan und ,der Hölle‘ sind ausgeweitet worden (vv. 3011-3463). Hier finden heilsgeschichtliche Fragen Platz ebenso wie in dem ausführlichen Dialog zwischen dem gelehrten (v. 3899) Adrian und Vespasian (vv. 3941-4193), in dem letzterer von Adrian christlich unterwiesen wird. Solche Dialogpassagen bilden zusammen mit dem Lehrdialog zu Beginn (vv. 1-300) und den Exkursen des Erzählers (vv. 1670-1790; 1929-2178) einen diskursiven Zugang zur Heilsgeschichte, der für das Werk charakteristisch ist. Sowohl die narrativen als auch die diskursiven Passagen kreisen um bestimmte Schlüsselwörter, sodass sich über den Text hinweg semantische Netze entfalten, ohne dass die Summe der Aussagen in ein starres System gepresst werden könnte. 467 Ob Heinrich von Hesler Diu urstende kannte, ist nicht sicher zu entscheiden, denn die Übereinstimmungen sind außerordentlich gering. 468 Das Verhältnis zu Christi Hort ist ebenfalls unklar, auch chronologisch, es sind aber deutlich mehr Entsprechungen festzustellen, sodass ein Rezeptionsverhältnis (in welcher Richtung auch immer) wohl anzunehmen ist, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Gemeinsamkeiten auf eine weitere Quelle zurückgehen. Über Einzelzüge 469 hinaus lassen sich vor allem strukturelle Parallelen ausmachen: Dazu gehört - neben der Kombination der Prozessschilderung nach dem Nikodemusevangelium ( Evangelium Nicodemi , vv. 679-1417) mit einem kurzen Prozessschluss nach den kanonischen Evangelien ( Evangelium Nicodemi , vv. 1418-1491) 470 - der Einstieg in das Werk mit Ausführungen zu Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, die dem eigentlichen Prolog vorangestellt sind. 471 Die im Evangelium Nicodemi für den Einstieg gewählte Form des Lehrdialogs 472 setzt dort jedoch sogleich einen didaktisierenden Akzent, die Narration ist noch mehr aufgebrochen, als es in der Exposition zu Christi Hort der Fall ist. Eine strukturelle Entsprechung findet der Einleitungsteil des Evangelium Nicodemi in der ,Predigt‘ 465 Zu der Kürzung der Zeugenbefragungen vor dem Hohen Rat und der Umgestaltung der Szene mit den Grabwächtern vgl. Hoffmann 1997a, S. 299. 466 Vgl. Hoffmann 1997a, S. 299 f. 467 Für Parallelen zu Gottfried von Straßburg vgl. Manuwald 2014, S. 688 f., mit Verweis auf de Boor 1925 und Köbele 2002. 468 Vgl. Helm 1899, S. 136 f.; 1902, S. XXX. Beweiskraft haben für Helm nur das Motiv, dass ,die Juden‘ erst nach der Auferstehung Jesu das Verschwinden Josephs von Arimathia bemerken, und die wörtliche Übereinstimmung des Ausrufs von Adam im Evangelium Nicodemi ( „Ich sie die hant, die mich geschuf! […] “ , v. 3314) und in Diu urstende ( „ich sich die hant diu mich beschuof “ , v. 2047), beide ohne Parallele im lateinischen Nikodemusevangelium . Nach Hoffmann (2000, S. 171-173; 324) ist der Ausruf Adams weiter verbreitet und hat deshalb keine Beweiskraft. 469 Aussagekräftig ist hier vor allem der Abschluss der Aussagen der Geheilten mit einer Referenz auf Lazarus ( Christi Hort , vv. 1651-1654) bzw. dessen Auftritt ( Evangelium Nicodemi , vv. 1249-1265), außerdem die Ausgestaltung der Scheltrede des Pilatus ( Nikodemusevangelium , cap. IX 2 [7,2 (G / I)]), an deren Ende er in Christi Hort (vv. 1676-1688) und im Evangelium Nicodemi (vv. 1368-1377) jeweils aus dem treulosen Verhalten ,der Juden‘ gegen Moses ableitet, dass sie Jesus mit allen Mitteln ins Verderben stürzen wollten, und die Drohung mit dem Kaiser als Taktik entlarvt. 470 Während bei divergierenden Versionen derselben Szene (in den kanonischen Evangelien und dem Nikodemusevangelium ) in Christi Hort tendenziell den kanonischen Evangelien der Vorzug gegeben wird (s. o. S. 110), dominiert im Evangelium Nicodemi die Anlehnung an das Nikodemusevangelium . 471 Thelen (1989, S. 332 f.) weist auf die Parallele hin, wobei er annimmt, dass die beiden Werke unabhängig voneinander entstanden seien. 472 Vgl. dazu Wiedmer 1977, S. 27 mit Anm. 74 (S. 158 f.). <?page no="142"?> 142 3 Variationen der Rechtsthematik zum Umgang mit ,den Juden‘, in die die Erzählung von der Zerstörung Jerusalems am Ende des Werkes mündet. Insgesamt ergibt sich für den von Karl Helm (1902) edierten Text folgende Gliederung: 473 Lehrdialog zu Schöpfung, Sündenfall und Erlösung (vv. 1-300) Prolog: Anrufung des Heiligen Geistes, Quellenkritik (vv. 301-392) Passionsgeschehen vor dem Prozess (vv. 393-678) Prozess (vv. 679-1491) Kreuzigung und Grablegung, Gefangennahme Josephs (vv. 1492-2332) Befragungsszenen (vv. 2333-3793 [Bericht über die Höllenfahrt: vv. 2842-3779]) Brief des Pilatus nach Rom (vv. 3794-3809) Pilatus-Veronika-Legende (vv. 3810-4595) Römische Geschichte bis zur Zerstörung Jerusalems (vv. 4596-4713) Invektive gegen ,die Juden‘ (vv. 4714-5392) In der hier skizzierten Form ist das Werk jedoch in keinem der vier Codices erhalten, die es jeweils in weiten Teilen überliefern. 474 In der Stuttgarter Handschrift setzt der Text erst mit v. 369 (also dem quellenkritischen Abschnitt des Prologs) ein und endet mit einem an v. 4782 angefügten Schlussgebet. 475 Die Heidelberger Handschrift, in der das Evangelium Nicodemi ebenfalls mit v. 369 beginnt, bringt den Text bereits nach v. 3788 (also vor dem Beginn der Pilatus-Veronika-Legende) zum Abschluss. 476 Die erste Lage der Schweriner Handschrift ist beschädigt, es lässt sich aber rekonstruieren, dass sie den Prolog nicht enthalten hat. 477 Er ist einzig in der Görlitzer Handschrift überliefert, in der der Auslegungsexkurs zum Kreuzeswort Jesu „Eli / lamasabatani“ (vv. 1927 f.) und die Invektive gegen ,die Juden‘ erhebliche Kürzungen aufweisen. 478 473 Vgl. auch die leicht abweichende Gliederung Hoffmanns (1997a, S. 297). 474 Görlitz, Bibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, Cod. A III.1.10 [verschollen], Sigle G (bair., 14. Jh.; Ava: Johannes , Ava: Leben Jesu und Sieben Gaben des Hl. Geistes , Ava: Antichrist , Ava: Jüngstes Gericht , Heinrich von Hesler: Evangelium Nicodemi ); Heidelberg, UB, Cpg 342, Sigle p (überwiegend niederalem., um 1440; Buch der Märtyrer , Heinrich von Hesler: Evangelium Nicodemi [Auszüge], Buch der Märtyrer ; Digitalisat: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg342 [PURL]); Schwerin, Landesbibl., ohne Sign. (1), Sigle S (md. mit nd. Einschlägen, Ende 13. Jh.; Heinrich von Hesler: Evangelium Nicodemi , Heinrich von Kröllwitz: Vaterunser-Auslegung ); Stuttgart, Landesbibl., Cod. theol. et phil. 4° 98, Sigle s (vermutlich rheinfrk. nach bair. Vorlage, 14. Jh.; Heinrich von Hesler: Evangelium Nicodemi , Heinrich Seuse: Büchlein der Ewigen Weisheit ; Digitalisat: http: / / digital.wlb-stuttgart. de/ purl/ bsz378568434 [PURL]). Für eine Übersicht über den Versbestand in den vier Handschriften vgl. Helm 1902, S. 217-220. Zu den vier Handschriften hinzu kommen Fragmente und die Überlieferung der Abendmahlsszene (vv. 428-481) in Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1242 (s. dazu die Einträge im Handschriftencensus und u. Kap. 6.2.1). 475 Vgl. Helm 1902, S. IX (mit weiterer Literatur). 476 Vgl. Helm 1902, S. X (mit weiterer Literatur); Miller / Zimmermann 2007, S. 165-167. 477 Vgl. Helm 1902, S. I. 478 Vgl. einen „getreuen Abdruck“ (S. 142) des Evangelium Nicodemi in Piper 1888, S. 141-285. Kurze Ausführungen zum Kreuzeswort finden sich dort in vv. 1924-1972; am Schluss laufen der Text der Görlitzer Handschrift und der von Helm (1902) edierte Text nur bis zu dem Abschnitt parallel, der mit v. 4908 (G) bzw. 5264 (Helm) beginnt. Ab v. 4915 (G) wird das Publikum gemahnt, sich an die neue e zu halten, zumal mit dem Beginn der neuen e die Verdammten umso tiefer hinabgestoßen worden seien (G, vv. 4936-4945). Exemplifiziert wird das an der Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus (G, vv. 4936-5126, vgl. Lc 16,19-31), die von gebetshaften Passagen gerahmt wird (G, vv. 4915-4935; 5127-5154). G gehört nach den Erkenntnissen Helms (1899, S. 103-117) zur Handschriftengruppe z 1 , <?page no="143"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 143 Arno Mentzel-Reuters (2014) nimmt an, dass das Werk heute überhaupt nur in einer Kurzfassung vorliege: Bei vv. 1-289 (bzw. 290) handele es sich um ein Textstück, das ursprünglich zum Gespräch zwischen Vespasian und Adrian gehört habe; erst mit v. 291 setze ein ,Schöpferpreis‘ ein, der prologartigen Charakter habe. 479 In der Tat beginnt mit der Anrede O meister in v. 291 ein neuer Abschnitt, dessen Verhältnis zum Vorangehenden sich wegen einer Fehlstelle vor v. 290, die in der Görlitzer Handschrift ausdrücklich durch eine Leerzeile markiert ist, nicht mehr definitiv klären lässt. Inhaltlich schließen vv. 291-300, die sich auf Sündenfall und Erlösung beziehen, 480 aber durchaus an den vorherigen Textabschnitt an. 481 Auch ließe sich der Lehrdialog nicht, wie von Mentzel-Reuters postuliert, 482 bruchlos in das Gespräch zwischen Adrian und Vespasian einfügen, denn der noch nicht bekehrte Vespasian will z. B. wissen, was Jesus für ein Mensch sei (vv. 3955-3962) und wie er den Tod bezwungen habe (vv. 4009-4019), muss also über Heilstatsachen erst informiert werden. Dagegen fragt der ,Schüler‘ aus einer christlichen Perspektive (vgl. unsen vater Adamen , v. 27) nach den Gründen für das göttliche Handeln (vv. 10-14; 26-29). 483 Auch wenn im Folgenden deshalb nicht beweifelt wird, dass die von Helm (1902) abgedruckte Anfangspassage aus der Görlitzer Handschrift als Beginn des Evangelium Nicodemi aufzufassen ist, bleibt die Interpretation des Ausgabentexts problematisch, da es sich um einen Komposit-Text handelt. 484 Damit ist gerade für die Analyse der Rechtsthematik ein Problem gegeben, denn Prolog und Auslegungsexkurs enthalten dazu zentrale Aussagen, sind aber nirgendwo gemeinsam überliefert. Es wurde erwogen, dass der Auslegungsexkurs eine spätere Hinzufügung sein könnte, 485 jedoch gibt es weder stilistisch noch indie einen redaktionell bearbeiteten Text überliefert. Auf der Grundlage späterer Handschriftenfunde ist das Stemma Helms bisher nicht überprüft worden (vgl. Masser 1972, S. 327). 479 Vgl. Mentzel-Reuters 2014, S. 63-66. 480 Vgl. Manuwald 2014, S. 690. 481 Auch gegen die Einheitlichkeit dieses Abschnitts erhebt Mentzel-Reuters (2014, S. 64) Einwände: Die ,rhetorische Zurücknahme‘ in v. 3, zerstöre „[i]m Exordium […] die dort erwartete Feierlichkeit“; „[v]öllig unvermittelt bricht in die dialektische Darstellung der Erschaffung des ersten Menschen mit V. 10 die Frage des Discipulus herein“. Diese Einwände beruhen jedoch auf normativen Vorannahmen, die eine Setzung sind. Das gilt ebenso für die Erwartung (ebd.), dass der Zusammenhang zwischen Baum der Erkenntnis und Kreuzesholz in einem Prolog erläutert worden wäre. 482 „Es bedarf keines langen Suchens, um herauszufinden, dass die Verse 1-290 nach Form und Inhalt zu dem Gespräch zwischen Vespasian und Adrian gehören, das im zweiten Teil der Erzählung geführt wird (V. 3393[ sic ]-4223)“ (Mentzel-Reuters 2014, S. 64). 483 Die vorgeschlagene Textstelle für die Platzierung des Anfangsdialogs innerhalb des Gesprächs zwischen Adrian und Vespasian leuchtet ebenfalls nicht ein: Nach Mentzel-Reuters (2014, S. 65) setzt v. 120 voraus, „dass Gott den Baum der Erkenntnis ins Paradies eingepflanzt hat, was in Vers 4059 tatsächlich berichtet wird“; es sei deshalb anzunehmen, dass die Passage an der nächsten syntaktisch möglichen Stelle (v. 4088) eingefügt worden sei. Dieses Argument ist aber allein schon deshalb zu hinterfragen, weil es in v. 4059 um Adam geht, den Gott ins Paradies gesetzt hat (ab v. 4060 wird dann das Verbot referiert, vom Baum der Erkenntnis zu essen). Außerdem muss es sich bei vv. 119 f. nicht notwendig um einen Rückbezug handeln. 484 Das gilt auch für die Textgestalt im Einzelnen. Zwar lässt sich S als Leithandschrift erschließen (so auch Hoffmann 1997a, S. 302), aber Helm (1902, S. XXIV-XXVI) hebt die Freiheit des Editors gegenüber der „autorität der hss.“ hervor, die die „flüchtigkeit und nachlässigkeit“ der mittelalterlichen Schreiber dem Herausgeber gewähren (zur sprachlichen Gestalt und Orthographie des Ausgabentextes vgl. ebd., S. XCV-XCVII). Trotz der aus heutiger Perspektive bestehenden editorischen Mängel wird wegen des Fehlens einer Alternative im Folgenden mit der Ausgabe Helms gearbeitet. Wo es weiterführend ist, wird auch der Abdruck von G (Piper 1888) vergleichend herangezogen. 485 Vgl. de Boor 1962, S. 515. <?page no="144"?> 144 3 Variationen der Rechtsthematik haltlich dafür ausreichende Anhaltspunkte. 486 Umgekehrt wäre es durchaus plausibel, dass bei einer Konzentration auf die Handlungsebene gerade diskursive Textabschnitte in der Überlieferung planmäßig weggelassen worden wären. Auch wenn keine Sicherheit über den ursprünglichen Textbestand gewonnen werden kann, scheint es deshalb vertretbar, mit Helm einen hypothetischen Text mit Prolog und Auslegungsexkurs zugrunde zu legen. 3.4.2 geriht Die Schilderung des Prozesses im Evangelium Nicodemi folgt über weite Strecken genau dem lateinischen Nikodemusevangelium . 487 Dementsprechend sind auch die Unterredungen zwischen Pilatus und dem ‚Angeklagten‘ bzw. den Jesus wohlgesonnenen Juden übernommen worden, die im lateinischen Nikodemusevangelium innerhalb des Prätoriums stattfinden. 488 Anders als in Diu urstende und in Christi Hort ist im Evangelium Nicodemi der Gerichtsort nicht explizit aktualisiert, sondern vordergründig scheint sogar die Vorstellung eines Innenraums beibehalten worden zu sein, jedenfalls heißt es an einer Stelle, dass Pilatus allen befiehlt, von seinem Richtstuhl wegzugehen, außer den zwölf Juden (die für Jesus eintreten) und Jesus selbst, die bei ihm da innen bleiben sollten (vv. 1018-1021). 489 Allerdings ist der ausdrückliche Hinweis auf das Prätorium als Ort der Unterredung getilgt: Während Pilatus nach dem lateinischen Nikodemusevangelium (cap. III 1) im Anschluss an die Unterredung das Prätorium verlässt, um zu ,den Juden‘ zu sprechen, adressiert er sie im Evangelium Nicodemi , ohne dass ein Ortswechsel markiert wäre ( Do sprach er zu in allen , v. 1035). Dieser Handlungsablauf macht es vorstellbar, dass auch im Evangelium Nicodemi nicht an einen Innenraum, vielmehr an einen abgeschrankten Bereich gedacht ist, 490 der ein ,Innen‘ vom ,Außen‘ trennt, aber eine akustische Verbindung zu der außen stehenden Menge zulässt. 491 Im Folgenden bleiben die lokalen Angaben ebenfalls auf Pilatus bezogen: Er lässt Jesus zu sich kommen ( Do ladet er Jesum for sich , v. 1065) zu einer Befragung, die offenbar ohne Zuhörer stattfindet. Danach geht er von Jesus weg und ruft ,die Juden‘ zu sich ( Pilatus Jesum do vorliez, / die juden er vor sich komen hiez , vv. 1093 f.) - an der entsprechenden Stelle im lateinischen Nikodemusevangelium (cap. IV 1) geht Pilatus aus dem Prätorium heraus. Danach lässt Pilatus (wie im Nikodemusevangelium , cap. IV 2) die Ältesten ,der Juden‘ zu sich kommen ( Pilatus ladete aber sint / under den juden die grisen , vv. 1116 f.), dann erneut Jesus ( Do ladet er Jesum for sich , v. 1127). Nach dem lateinischen Nikodemusevangelium (cap. IV 3) werden ,die Juden‘ hier wiederum aus dem Prätorium herausgeschickt, hören 486 Vgl. Wiedmer 1977, S. 68; Manuwald 2014, S. 681-683. 487 „[…] Heinrich’s version hardly differs in content or structure from his apocryphal source“ (Hoffmann 1997a, S. 299). Deshalb wird der Ablauf im Folgenden nicht im Einzelnen nachvollzogen. 488 S. o. S. 63 f. 489 Im Gegensatz zum Nikodemusevangelium (cap. II 6) ist im Evangelium Nicodemi nicht davon die Rede, dass Jesus von den zwölf Juden getrennt wird, Pilatus spricht aber - wie im Nikodemusevangelium - nur mit den zwölfen (vv. 1022-1034). - Zum Ort der Gerichtsverhandlung vgl. auch Klibansky 1925, S. 16; 20 f. 490 Helms (1902, S. 273) Registereintrag „gerichtsschranken(? )908“ erschließt sich mir nicht. 491 Wenn Pilatus die Menge in v. 1019 „nur zurücktreten“ lässt (so Klibansky 1925, S. 20 f.), ist damit vermieden, dass der Richter eine Partei und die Öffentlichkeit von der Teilnahme an der Verhandlung ausschließt, ein Vorgehen, dass einem deutschrechtlichen Verfahren widerspräche (vgl. dazu Klibansky ebd., in Bezug auf vv. 1268 f.). <?page no="145"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 145 aber trotzdem, was Jesus Pilatus antwortet. 492 Dieser Bruch ist im Evangelium Nicodemi durch das Wegfallen konkreter Ortsangaben aufgehoben, wobei die jeweiligen Aktivitäten des Pilatus jedoch beibehalten sind. Wenn sich die Ankläger zur Beratung zurückziehen (vv. 1268 f.), während Pilatus auf dem Gerichtsstuhl sitzen bleibt (v. 1275), 493 und dann wieder hereinkommen ( Die juden giengen in da mite , v. 1285), wird noch einmal deutlich, dass dort, wo Pilatus zu Gericht sitzt, ,innen‘ ist. Dass sich die Ankläger überhaupt zur Beratung zurückziehen, ist eine Zutat Heinrichs von Hesler, die erzähltechnisch vor allem dazu dient, die verwerflichen Intentionen ,der Juden‘ deutlich zu machen (vv. 1270-1274). Die Beratung der Ankläger korrespondiert aber mit den rechtlichen Möglichkeiten, wie sie im Sachsenspiegel (Ldr. I 62,9) entworfen werden, nämlich dass sich Ankläger wie auch Beklagte bis zu dreimal vor jeder Rede beraten dürfen, bis sie der Fronbote wieder vorlädt - die Beratung findet also außerhalb des Gerichts statt, das als der Ort definiert wird, an dem der Richter mit Urteilen richtet (vgl. Ldr. I 62,10). 494 Eine vergleichbare Auffassung von ,Gericht‘ könnte den Bearbeitungsstrategien im Evangelium Nicodemi zugrunde liegen, denn auch in der Passage der Erzählung über den Prozess, die dem Johannesevangelium (19,8-11) folgt (vv. 1452-1470), ist das Prätorium getilgt: Es heißt nur, dass Pilatus ,die Juden‘ heraustreibt ( die juden er dar uz treib , v. 1454), und dann - abweichend vom Johannesevangelium -, dass sie wieder hereinkommen ( Die Juden wider in traten , v. 1471). Das gerihte als Gerichtsort 495 wird lediglich zu Beginn des Prozesses mehrfach benannt, zuerst als gesagt wird, dass Pilatus aufgestanden und von deme gerihte weggegangen sei (vv. 785 f.), nachdem er seinen Läufer zu Jesus geschickt hat. 496 Aus den folgenden Versen, in denen es darum geht, dass ,die Juden‘ die Art der Vorladung kritisieren (vv. 787-797), wird erkennbar, dass die Ladung for daz gerihte (v. 795) offenbar mit einer Ladung zu hofe (v. 791) identisch ist. Auch hier dürfte aber nicht ein konkretes Gebäude gemeint sein, sondern eine gerichtliche Versammlung unter Vorsitz des Herrschenden. 497 Entscheidend ist der Ort des Gerichts durch den Richtstuhl definiert, bei dem auch die Träger der vanen stehen müssen (vv. 841; 854 f.). Pilatus verlässt das gerihte nach der Handwaschung, von der in Anlehnung an das Matthäusevangelium (27,24) erzählt wird (vv. 1520-1522). Insgesamt wären die Örtlichkeiten mit einem deutschrechtlichen Verfahren kompatibel, wobei dieser Effekt durch Vagheit erreicht wird, nicht durch eine explizite Neukontextualisierung. Auch der Verfahrensablauf ist nicht ausdrücklich deutschrechtlich geprägt. Dass Nikodemus (vv. 1155-1159) und die ersten der Geheilten (vv. 1199-1201; 1220-1222) Pilatus um Redeerlaubnis bitten, ist bereits im Nikodemusevangelium (cap. V 1; VI 1) vorgeprägt. Jedoch zeigt die Antwort des Pilatus „Sprich, des dich got ermane.“ (v. 1201), dass zeitgenössische christliche Vorstellungen eingeflossen sind. 498 Die Forderung ,der Juden‘ „ […] / so ha disen 492 Zu dieser Inkohärenz s. o. S. 64, Anm. 65. 493 Nikodemus und die zwölf Juden sitzen in einer Gesprächssituation bei ihm (vv. 1276-1284). Damit könnte eine Konstellation mit Gerichtsbänken angedeutet sein. 494 Vgl. dazu Klibansky 1925, S. 20; außerdem von Planck 1879, Bd. 1, S. 219 (in Bezug auf den Sachsenspiegel ). 495 Vgl. dazu MWB, s. v. 1.6. 496 Vgl. außerdem vv. 907; 910. 497 Vgl. BMZ; L exer , s. v. Auch Klibansky (1925, S. 22) sieht in der Stelle einen Verweis auf die Institution des Hofgerichts. 498 Pilatus hatte zuvor - wie im Nikodemusevangelium (cap. III 1) - die Gestirne zu Zeugen angerufen (vv. 1035-1044). <?page no="146"?> 146 3 Variationen der Rechtsthematik als einen dieb“ (v. 1412) dürfte vom Erzähler vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Strafrechts konzipiert sein. 499 Verfahrensrechtliche Aktualisierungen finden sich nur vereinzelt, so zu Beginn des Verfahrens, als die Ankläger Pilatus bitten, frühmorgens, bevor er gegessen habe, Gericht zu halten (vv. 720-724). 500 Wahrscheinlich handelt es sich auch bei dem Detail, dass Pilatus mit seiner Hand Schweigen gebietet (v. 871), um ein Element der zeitgenössischen Gerichtspraxis. 501 In der Läufer-Episode klingt in dem Vorwurf ,der Juden‘, Jesus habe mit butels stimme (v. 790) vorgeladen werden sollen, und in der nachfolgenden Bezeichnung des Läufers als schergen (v. 825) und butel (v. 827) 502 ein deutschrechtlicher Kontext an, der durch die Übersetzung von praeco zustande gekommen ist, aber dadurch verstärkt wird, dass ,die Juden‘ bemängeln, Jesus sei nicht seinem Vergehen angemessen geladen worden (vv. 794-797). 503 Jedoch bemüht sich der Erzähler, das Verfahren deutlich in römischer Zeit anzusiedeln, wenn er die Funktion der Fahnen erläutert. Do pflagen si al geliche uber romische riche, swa rihter zu gerihte saz, daz er des nimmer vorgaz: als er wolde dingen, man must zuhant bringen an den stul des riches vanen, dem ungerehten zu banen, dem rehten zu heile, daz er da der urteile al deste baz bequeme; swa man den vanen vorneme und des koniges gewalt, swer da worde bezalt mit unrehten dingen, daz er den mohte betwingen mit des keiseres craft. (vv. 835-851) Obwohl mit der Zeitangabe Do ein zeitlicher Abstand angezeigt wird, der auch das romische riche , von dem gesprochen wird, in der Vergangenheit verortet, ist die Charakte- 499 S. dazu u. S. 195 f. 500 Vgl. dazu Klibansky 1925, S. 17 f. Zur geforderten Nüchternheit des Richters s. o. S. 49. 501 Es könnte sein, dass Pilatus durch seine Handgeste den Gerichtsfrieden gebietet (vgl. von Amira 1905, S. 196-199). Klibansky (1925, S. 17) denkt insbesondere an den Befehlsgestus (vgl. von Amira ebd., S. 213). Jedoch lassen sich Rechtsgesten nur unvollkommen rekonstruieren, weil bei abgebildeten Gebärden damit zu rechnen ist, dass auch Darstellungskonventionen mit eine Rolle gespielt haben (vgl. dazu grundlegend von Amira 1905). 502 Dass damit dieselbe Person gemeint ist wie mit dem loufere in v. 799, ergibt sich aus vv. 822-824. 503 Nach Klibansky (1925, S. 18 f.) ist es „zweifellos“, „daß das EN. gemäß der deutschen Rechtsauffassung jene ausdrückliche Feststellung der Juden für ein Prozeßmittel hält, um den Gegner von vornherein ins Unrecht zu setzen; denn auch im deutschen Gerichtsverfahren bedeutete eine Ladung durch einen besonderen Boten, wie sie hier durch den Läufer erfolgt, etwas Außergewöhnliches, während sie im allgemeinen durch den dazu bestimmten Gerichtsdiener, den Büttel (EN. 790), zu erfolgen hatte.“ - Zum entsprechenden Phänomen in Christi Hort s. o. S. 114. <?page no="147"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 147 risierung der Fahnen des Reiches ( des riches vanen , v. 866) 504 als Zeichen königlicher bzw. kaiserlicher Gerichtsgewalt 505 mit Vorstellungen zur Entstehungszeit vereinbar. 506 Und die Gerichtsverhandlung wird mit Vokabular (wie dingen , v. 839) beschrieben, das konnotativ zeitgenössische Verfahrensweisen aufruft. 507 Von überzeitlicher Qualität ist das Konzept des guten Richtens, das hier eingeführt wird und die gesamte Prozessdarstellung durchzieht: Die Fahnen am Richtstuhl sollen dem Recht zum Durchbruch verhelfen, indem sie den Richter darin unterstützen, besser zu einem Urteil zu gelangen und mit bestochenen Prozessteilnehmern umzugehen. 508 Die Verse betonen einerseits die Verantwortung, die der Richter trägt, lassen andererseits aber erkennen, dass er mit Schwierigkeiten konfrontiert sein kann, das Recht durchzusetzen. 509 Wie zu zeigen sein wird, ist die Verteilung der Verantwortlichkeiten ein leitendes Prinzip bei der Ausgestaltung des Verfahrens: Schon vor Beginn der Prozessschilderung begegnet eine signifikante Änderung gegenüber der Vorlage. Kaiphas nämlich macht seine Aussage, dass es besser sei, dass ein Mensch sterbe, als dass das Volk verderbe (vv. 414-416), nicht im Hohen Rat (vgl. Io 11,47-50), sondern bei einem heimlichen Treffen mit Pilatus, der sich dagegen verwahrt und die Unschuld Jesu bekräftigt (vv. 422-424). Als ,die Juden‘ Pilatus dann später bitten, eine Gerichtsverhandlung abzuhalten, legt Pilatus das Rechtsprinzip dar, dass niemand schuldlos verurteilt werden sollte: 510 Pilatus sprach: „Durch welche schult? ir wizzet wol, daz ir ensult in vorteilen wan mit rehte.“ (vv. 725-727) Der Richter fungiert hier als Garant eines rechtmäßigen Verfahrens, das Verurteilen liegt aber offenbar nicht in seinen Händen. 504 Aus vv. 852-854 geht hervor, dass es sich um mehrere Fahnen handelt; deren genaue Zahl wird im Evangelium Nicodemi jedoch nicht benannt. ,Die Juden‘ stellen auf Anordnung des Pilatus (v. 888) zwölf Mann als Fahnenträger (v. 898) auf, so wie im Nikodemusevangelium (cap. I 6), wo allerdings die von Pilatus geäußerte Anweisung keine Zahlenangabe enthält. Nach Klibansky (1925, S. 20) „erweckt das EN. die Vorstellung, als ob jeder der zwölf starken Männer eine Fahne gehalten habe“. 505 Zwischen Kaisertum und Königtum wird im Text nicht klar differenziert; so ist z. B. im Pilatus-Veronika-Teil von keiserlicher veme die Rede (v. 4297), der römische Kaiser Tiberius wird aber mehrfach als König bezeichnet (z. B. vv. 4469; 4505). 506 Im Evangelium Nicodemi wird die Verbindung zum Reich zusätzlich dadurch hergestellt, dass die Fahnenträger auf das Reich eingeschworen sind (vv. 872 f.). Klibansky (1925, S. 19 f.) betont den historischen Quellenwert der Stelle und sieht darin eine Bestätigung der These Bruckaufs (1907, S. 35), dass bei Fahnlehen nicht bloß Territorien, sondern auch die Gerichtsgewalt verliehen werden konnte. Abgesehen von dem oben (S. 76, Anm. 75) diskutierten Problem, dass eine Mehrzahl von Fahnen nur für den Akt der Investitur belegt werden kann, ist nicht klar, ob des riches vanen im Plural tatsächlich als Lehnsfahnen verstanden werden können. 507 Zuvor war bereits gesagt worden, dass Jesus von ‚den Juden‘ vor des riches dincstul (v. 623) gebracht wird. 508 Dass nicht nur die Bestechung des Richters ein Problem sein konnte (s. dazu u. S. 209), sondern damit zu rechnen war, dass auch anderen Prozessbeteiligten ,Gut‘ angeboten wurde, lässt sich aus Regelungen in den Rechtsbüchern erschließen (s. dazu u. S. 231 f.). 509 Gegenüber dieser rechtlich bedeutsamen Interpretation von des riches vanen als Symbolen obrigkeitlicher Gewalt tritt das traditionelle Motiv der Vervielfachung der jüdischen Träger (gegenüber den heidnischen) in den Hintergrund; vielmehr befiehlt Pilatus für die Überprüfung des Fahnenwunders ,den Juden‘ zwölf starke Männer zu stellen, ohne dass man erfährt, wie viele Träger er hat (v. 888). 510 Vgl. dazu Mattig-Krampe 2001, S. 111. <?page no="148"?> 148 3 Variationen der Rechtsthematik Pilatus ist zögerlich, ein Verfahren zu eröffnen: Zwar lässt er, nachdem ,die Juden‘ ihm ihre Anklagen vorgebracht haben (vv. 728-766), 511 Jesus durch seinen Läufer höflich zu sich bitten (vv. 767-770), jedoch handelt es sich, wie ,die Juden‘ beklagen (vv. 787-797), nicht um eine gerichtliche Vorladung, und Pilatus befindet sich auch nicht am Ort des Gerichts, als Jesus vom Läufer zu ihm geleitet wird, denn er ist von seinem Richtstuhl aufgestanden und von dem gerihte gegangen (vv. 785 f.). Die von Pilatus angeordnete zweite Herbeiholung Jesu durch den Läufer ist mit dem Fahnenwunder verbunden, das beim Richtstuhl verortet sein muss. Auf das wiederholte Fahnenwunder reagiert Pilatus mit großer Angst (vv. 915 f.) und will Jesus sogar freilassen ( und getorst en niht vorwazen / und wold en han lazen , vv. 917 f.). 512 Das Verfahren nimmt aber offenbar erst seinen eigentlichen Anfang, 513 als Pilatus angesichts des Zaubereivorwurfs ,der Juden‘ (vv. 928-938) Jesus erneut ( anderweide ) zu sich kommen lässt (vv. 939 f.), was wohl bedeutet, dass er vor den Richtstuhl gestellt wird. 514 Dabei hatte seine Frau Pilatus gewarnt, den rehten zu verdammen bzw. zuzulassen, dass man ihn vor ihm strafe (vv. 919-926) - wiederum eine interessante Zweigleisigkeit hinsichtlich der möglichen Verantwortlichkeiten. Verantwortung liegt auch bei denjenigen, die bei der Verhandlung anwesend sind. Positiv nehmen die zwölf - wie im Nikodemusevangelium (cap. II 4) namentlich genannten - Juden ihre Verantwortung wahr, wenn sie den Lügen der Ankläger entgegentreten (vv. 960-989) - unter Gefahr für ihr Leben (v. 981). 515 Von den Leuten, die zu einem späteren Zeitpunkt des Prozesses heimlich weinen, wird gesagt, dass sie sich nicht getraut hätten, gegen die schlechte Behandlung Jesu vorzugehen (vv. 1145-1150). Im Nikodemusevangelium (cap. IV 5) ist weder von der Heimlichkeit des Weinens noch von angstvoller Untätigkeit die Rede. Dadurch wird im Evangelium Nicodemi suggeriert, dass daz volk (v. 1145) eine Mitwirkungsmöglichkeit hätte; ihm wird so die Funktion eines Umstandes zugeschrieben. Pilatus geht sogar auf die indirekten Signale der Menge ein (vv. 1151-1154). Vor allem verlässt er sich aber auf seine Einschätzung der ,Beweislage‘: Er verkündet nicht nur (ähnlich wie im Nikodemusevangelium ) mehrfach die Unschuld Jesu (vv. 1036-1044; 1096 f.; 1111; 1119-1121; 1444 f.; 1475 f., auch schon vor dem Prozess: vv. 423 f.), sondern benennt darüber hinaus klar Recht und Unrecht, einmal gegenüber den zwölf Juden und Nikodemus ( „Daz ist niht gut , / daz man im unrehte tut.“ , vv. 1033 f.), ein weiteres Mal öffentlich in der Barrabas-Szene. 516 Pilatus nimmt außerdem eine ausdrückliche Bewertung vor, 511 Wenn die Ankläger sagen „Der rede ger wir niht vrides; / […] “ (v. 729), so setzt das wohl voraus, dass sie sich bewusst sind, dass sie sich mit einer ungerechtfertigten Anklage in Gefahr begäben (s. dazu u. S. 217, Anm. 90). 512 Nach dem Nikodemusevangelium (cap. II 1) überlegt Pilatus nach dem Wunder der sich neigenden signa lediglich, sich von seinem Gerichtssitz zu erheben. - In Christi Hort erschrickt er sich ebenfalls und springt von seinem Stuhl auf (vv. 1562 f.). 513 Von Jesus heißt es daraufhin: Jesus hienc daz houbet nider / durch des volkes angesiht (vv. 944 f.). Wird damit eine Ergebenheit in das Verfahren oder eine Demütigung des Angeklagten durch die Öffentlichkeit der Verhandlung angedeutet? Für Letzteres könnte sprechen, dass Jesus vor Gericht den Aggressionen ,der Juden‘ ausgesetzt ist (v. 950). 514 Das in v. 940 verwendete Verb laden hat ein Bedeutungsspektrum, das von bittender bis befehlender Einladung reicht (vgl. DRW, s. v.). Insofern kann die Aktion des Pilatus tatsächlich als Wiederholung seiner vorherigen Aufforderungen an Jesus gesehen werden, auch wenn sie hier mehr den Charakter einer Vorladung hat. 515 Zur Vorstellung, dass eine Zeugenaussage mit Gefahr verbunden ist, s. u. S. 232 f.; 243-245. 516 „Er enhat niht ubeles getan; / und were michel unreht. / Hat den schuldigen kneht, / lat den unschuldigen gen.“ (vv. 1298-1301). <?page no="149"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 149 wenn er das Verhalten der Ankläger tadelt: 517 Sie wollten unschuldic sin der tat , aber gäben vehement den rat , dass Jesus getötet werden solle. Sie wiesen ihm, Pilatus, die werc zu, jedoch sei der verbale Rat schlimmer als die Tat (vv. 1056-1064). 518 In einer Erweiterung seiner bereits im Nikodemusevangelium (cap. IX 2 [7,2 (G / I)]) existenten Scheltrede gibt Pilatus außerdem klar zu erkennen, dass er es als List ,der Juden‘ erkannt habe, dass sie ihm mit dem Kaiser drohten (vv. 1371-1377). Wie kommt es aber bei dieser Konstellation überhaupt zur Kreuzigung? Eine erste Aufforderung ,der Juden‘, Jesus kreuzigen zu lassen, weist Pilatus zurück - auch weil er viele im Volk weinen sieht (vv. 1138-1154). Im Text bleibt unklar, ob die Urteilsfindung planmäßig bei ,den Juden‘ liegt oder ob Pilatus sie ihnen ad hoc zugewiesen hat: Auf die Aufforderung ,der Juden‘ „nu rihte uns, Pilate! / […] “ (v. 1136), da er doch jetzt die Schuld Jesu gehört habe, hatte Pilatus erwidert, wenn Jesu Worte ein Grund zur Verurteilung seien, sollten sie selbst über ihn Recht sprechen. 519 Auf jeden Fall wird das Verfahren hier nicht abgeschlossen, weil er, der Richter, das Urteil nicht ausgibt. Nachdem ihm ,die Juden‘ mit dem Kaiser gedroht haben, wenn er Jesus trotz seines (politischen) Anspruchs auf das Königtum ungestraft lasse, erhebt sich Pilatus zornig und unterbricht so - vor seiner großen Scheltrede (vv. 1319-1377) - die Verhandlung (vv. 1302-1318). 520 Der Hinweis von Kaiphas und Annas, dass Jesus derjenige sei, den Herodes damals beim Kindermord gesucht habe, und er ihn um dessentwillen bestrafen solle, veranlasst Pilatus, Jesus zu Herodes zu schicken (vv. 1378-1418). Dass auch Herodes Jesus nicht verurteilen will, erklärt Pilatus ‚den Juden‘ so, dass sie beide keine Schuld an Jesus fänden. Er ist jedoch mit der Bitte ,der Juden‘ konfrontiert, daz er in [ Jesus] rihten wolde, / als er zu rehte solde (vv. 1441 f.). Pilatus bietet daraufhin ,den Juden‘ an, dass sie ihre Klage zurückziehen und Jesus mit einer veme belegen könnten, 521 was sie jedoch gemeinschaftlich ablehnen (vv. 1443-1451). Es folgt eine private Unterredung des Pilatus mit dem Angeklagten, in der er betont, dass er gewalt habe, ihn freizugeben oder ans Kreuz schlagen zu lassen (vv. 1452-1470; vgl. Io 19,10 f.). Als ,die Juden‘ danach Pilatus erneut bitten, über Jesus zu richten, betont Pilatus wiederum dessen Unschuld (vv. 1471-1476). Statt einer folgerichtigen Freilassung wird jedoch erzählt, wie ,das Volk‘, provoziert (v. 1477), bereits bekannte Anklagen (Anspruch, Gottes Sohn zu sein, 517 Der Tadel folgt auf den Versuch des Pilatus, das Verfahren der jüdischen Gerichtsbarkeit zu übertragen (vv. 1050-1053). Das hatten ,die Juden‘ mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, dass es ihnen nicht erlaubt sei, jemanden zu töten (vv. 1054 f.). Offenbar betrachtet Pilatus die Begründung ,der Juden‘ als Vorwand. 518 S. dazu u. S. 221-224. 519 In v. 1139 ist das Verb rihten aus v. 1136 wieder aufgenommen, wobei über die unterschiedlichen Bedeutungsnuancierungen die Aushandlung der Verantwortlichkeiten ausgedrückt wird: Während ,die Juden‘ wollen, dass Pilatus ihnen zu ihrem Recht verhilft (v. 1136), möchte Pilatus die Rechtsprechung an ,die Juden‘ delegieren (v. 1139). Anders als an der entsprechenden Stelle des Nikodemusevangeliums (cap. III 4) spielt das Gesetz ,der Juden‘ keine Rolle, sodass es denkbar wird, dass das von Pilatus benannte rihten innerhalb des geschilderten Gerichtsverfahrens stattfände. 520 Vgl. dazu auch Klibansky 1925, S. 17. Wie schon bei der Vorladung Jesu ist das Aufstehen des Pilatus gegenüber dem Nikodemusevangelium (cap. IX 3 [8,1 (G / I)]), wo Pilatus nach der Scheltrede das Prätorium verlassen will, vorgezogen und vereindeutigt. 521 „ […] / ir muget noch gerne erwinden / und vemet en sus mit einer veme, / da er smerzen genuc abe neme; / damite lazet in gan.“ (vv. 1446-1449). veme ist hier offenbar nicht als Todesstrafe zu verstehen, auch spielt vemen mit Sicherheit nicht auf die westfälischen Freigerichte an (vgl. dazu Lück 2008c); für die Deutung der Stelle könnte aber durchaus das Konzept eines „genossenschaftlichen Zusammenschlusses zur Wahrung des Rechtsbzw. Landfriedens“ (ebd., Sp. 1535) relevant sein, der außerhalb der verliehenen Gerichtsbarkeit steht. <?page no="150"?> 150 3 Variationen der Rechtsthematik Zerstörung der e , Betrug des Volkes, Ungehorsam gegenüber dem Kaiser) noch einmal vorbringt (vv. 1478-1487). Angesichts der politischen Zuspitzung reagiert Pilatus mit den Worten: „So tut mit ime swes ir gert.“ (v. 1488). Die folgenden Verse sind vom Herausgeber folgerichtig der Menge zugeordnet, die das Urteil festlegt: 522 „Man sal in erst mit besmen 523 slan [ . ] und sider an daz cruze han nach kuniclicheme rehte.“ (vv. 1489-1491) Abgesehen davon, dass es heilsgeschichtlich notwendig ist, dass die Kreuzigung erfolgen muss, liefert der Text auch Indizien, die den Verhaltensumschwung des Pilatus zumindest im Ansatz erklären könnten: Anders als zuvor sprechen ,die Juden‘ alle geliche (v. 1480), und sie modifizieren die bisherige Anklage wegen des Königsanspruches Jesu dahingehend, dass sie erklären, dass, wer sich König nenne, gegen das ,Reich‘, also die Autorität des Kaisers, handele (vv. 1478 f.; vgl. auch v. 1485). Damit ist die Instanz benannt, von der her Pilatus seine Legitimation als Richter hat. Pilatus fällt im Namen des ,Reiches‘ zwar kein Urteil, aber ,die Juden‘ nehmen für ihr Verdikt ,königliches Recht‘ in Anspruch, berufen sich also auf die herrschaftliche Legitimation des Rechts. 524 Die Dornenkrönung und die Verspottung werden dann als Kollaboration zwischen den Hofleuten des Pilatus ( Sine ritter und sine knehte , v. 1492) und ,den Juden‘ geschildert (vv. 1492-1519), 525 wobei das gesamte Volk beteiligt ist (vv. 1498-1505). Die Verhandlung kommt erst danach zum Abschluss ( er [Pilatus] gienc uz deme gerihte ), und zwar (nach Mt 27,24 f.) mit zwei Stellungnahmen der Beteiligten zur Verantwortlichkeit für das Geschehen (vv. 1520-1529): Pilatus wäscht sich die Hände und beteuert, dass er an der tat unschuldig sei; ,den Juden‘ ist der sogenannte Blutruf in den Mund gelegt: „Uber uns und uber unse kint / ge die rache sines blutes.“ (vv. 1528 f.). 526 Wie in Christi Hort werden in der Pilatus-Veronika-Legende die Verantwortlichkeiten aufgearbeitet; im Evangelium Nicodemi gilt das sowohl für Pilatus als auch für ,die Juden‘. Die Rolle des Pilatus im Prozess wird zunächst wohlwollend von seinem Boten Adrian (gegenüber Vespasian) 527 geschildert (vv. 3972-3991). 528 Danach hätten ‚die Juden‘ Jesus ans Kreuz geschlagen; sie hätten Pilatus gebeten, ihn wie einen Dieb zu verurteilen. Pilatus habe das nicht gewollt, habe sich jedoch gegen die große Menge nicht durchsetzen können und de- 522 Insofern agiert Pilatus hier nicht als selbsturteilender Richter, wie Klibansky (1925, S. 21 f.) meint. 523 besme ist der zeitgenössische Ausdruck für Zuchtrute (vgl. BMZ; L exer ; MWB, s. v. bëseme ; DRW, s. v. besen ). 524 Gegenüber Joseph sagen ,die Juden‘ später, Jesus sei mit rehter klage (v. 2294) ans Kreuz geschlagen worden. 525 Im judenfeindlichen Schlussexkurs werden die Misshandlungen allein ,den Juden‘ zugeordnet (vv. 4959-4973). 526 Vgl. auch bereits vv. 1114 f. Zur Interpretation von Mt 27,25 vgl. Schreckenberg 1999, S. 129-131; zu alttestamentarischen Bezügen der Selbstverfluchungsformel vgl. Rommel 2002, S. 186. Zur Aussage des Erzählers, dass ,die Juden‘ sender ougen blint gehandelt hätten (v. 1527), vgl. TPMA, Bd. 2, S. 35 f. 527 Als Adrian Vespasian trifft, steht dieser in einem feudo-vasallitischen Verhältnis zu Tiberius: Vespasian hat daz riche aus den Händen des Tiberius empfangen und zahlt zins (vv. 3916-3918). Zu den ökonomischen Implikationen der Landleihe vgl. Peters 2017, S. 18-40. 528 Vgl. dazu Mattig-Krampe 2001, S. 134. - Vorangegangen ist bereits ein eigener, vom Erzähler als wahrheitsgemäß bezeichneter Bericht des Pilatus, den er nach Rom schickt; darin wird ,den Juden‘ die alleinige Schuld am Kreuzestod Jesu zugewiesen (vv. 3794-3809). <?page no="151"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 151 ren Willen nachgegeben. Interessanterweise wird hier ein Erklärungsmodell aktiviert, wie es sich auch in Diu urstende findet, nämlich dass der Richter den Gerichtsfrieden nicht aufrechterhalten konnte. 529 Über die Figur Adrians wird nachträglich eine mögliche Motivation für das Handeln des Pilatus angeboten, die in der eigentlichen Prozessschilderung fehlt. Pilatus hatte Adrian aus Angst um sein Amt ausgeschickt, das er von romischer hant hielt (v. 3896). Adrian sollte herausfinden, ob in Rom jemand gegen ihn Klage erhebe (vv. 3890-3904). Tatsächlich muss sich Pilatus später in Jerusalem gegenüber den Boten des Tiberius, Alban und Volusian, verantworten. Als ein ‚Ritter‘ des Pilatus ihnen gegenüber aussagt, Jesus habe auf den Rat ,der Juden‘ hin ein bitteres Ende durch Pilatus genommen (vv. 4282-4287), setzen die Römer Pilatus und ‚sein ganzes Geschlecht‘ gefangen (vv. 4294 f.), 530 damit er einer kaiserlichen Bestrafung zugeführt werden kann (vv. 4296 f.). Pilatus beteuert - unter Verweis auf den Blutruf ,der Juden‘ - seine Unschuld: Er habe ,die Juden‘ beschwichtigt und habe schließlich das Gericht verlassen, nachdem er seine Hände gewaschen habe (vv. 4310-4325). Simeon wirft ihm jedoch vor, nicht gerehtlichen und rehte (v. 4333) gerichtet zu haben, denn die Geißelung sei auf Geheiß des Pilatus geschehen ( Do volgte daz werc dinem willen , v. 4336), und er habe gegenüber Jesus gesagt, dass er gewalt habe, ihn gehen oder ans Kreuz schlagen zu lassen; 531 deshalb müsse Pilatus seine Schuld bewusst sein (vv. 4326-4345). Die Römer schließen sich dieser Interpretation an und legen Pilatus bis zu einer Verurteilung in Ketten (vv. 4346-4363). 532 Von einem Prozess wird nicht mehr erzählt, aber die römischen Boten führen Pilatus gefesselt nach Rom (vv. 4455-4458). Dort stuft Tiberius das Verhalten des Pilatus als todeswürdiges Verbrechen ein, die Boten hätten ihn aufhängen sollen (vv. 4474 f.). Eine Entscheidung über die Bestrafungsaktion (auch gegen ,die Juden‘) wird auf die Zeit nach der Genesung des Tiberius verschoben (vv. 4485-4487). Für den Blick zurück auf das Gerichtsverfahren gegen Jesus ist es aufschlussreich, dass sich die Vorwürfe gegen Pilatus sowohl darauf beziehen, dass er den heilenden Gott getötet habe (vv. 4298-4309), als auch darauf, dass Pilatus nicht gerecht gerichtet habe (vv. 4329-4333). 533 Nach der Einschätzung der Römer ist Pilatus schuldig geworden, weil er Jesus vor sich schändlich behandeln ließ, obwohl er es hätte ändern können, wenn er sich ehrenhaft verhalten hätte (vv. 4352-4356). 534 Das schlechte Gericht des Pilatus wird durch das - nach den Wertmaßstäben des Textes - ,gute‘ Gericht gespiegelt, das der inzwischen zum Kaiser gewordene Vespasian am exakt gleichen Ort abhält, nachdem er Judäa erobert hat: 535 529 Do wart ir menie also groz, / daz sin rede niht vorschoz, / und enkonde sie niht gestillen; / do vorhancter in irs willen (vv. 3985-3988). 530 Maihold (2005) hat nachgewiesen, dass das Prinzip der Sippenhaftung für das ,deutsche‘ Recht keineswegs allgemein anzunehmen ist. Wie im römischen Recht gibt es jedoch einige wenige verstreute Belege für dessen Anwendung im Fall des Hochverrats. Die Verhaftung der Verwandten des Pilatus im Evangelium Nicodemi dürfte also die Schwere seines Verbrechens herausstellen. 531 Dass Pilatus nach der vorher geschilderten Handlung diese Worte geäußert hat, als er mit Jesus allein war (vv. 1452-1455), spielt hier keine Rolle. 532 Für ein ,unterhaltendes Moment‘ (so Mattig-Krampe 2001, S. 137, in Bezug auf die Ausgestaltung der Fesselung) bietet der Text keine Anzeichen. 533 Beide Vorwürfe sind in der Formel zusammengeführt, dass Pilatus ein Feind Gottes und des rehten sei (vv. 4348 f.). Vgl. zur Sinndimension dieser Verse Manuwald 2014, S. 684 f. 534 Die Römer werfen Pilatus hier also eine Mitschuld vor, wie sie in den Worten seiner Frau (v. 923) angedeutet worden war. 535 Bereits Tiberius hatte eine Bestrafung ,der Juden‘ anvisiert (vv. 4476-4487). <?page no="152"?> 152 3 Variationen der Rechtsthematik und swaz des volkes genas, daz hiez der konic spannen - kint, wib mit den mannen - und furen an die selben stat, da Jesus vor Pilaten trat, der alle siechen heilde; und da man in vorteilde dem volke zu gesihte, do saz er zu gerihte. Do vorteilde er mit rehte die juden und ir geslehte, die kint, wib unde man und tet daruber keiseres ban 536 nach romischen urteilen. (vv. 4678-4691) Die Betonung, dass Jesus dem volke zu gesihte verurteilt worden sei, suggeriert eine Mitverantwortung des Volkes (an der damaligen Entscheidung). Sie ist bei dem Verfahren gegen ,die Juden‘ nicht gegeben, sondern Vespasian agiert als selbsturteilender Richter 537 und legt sein Urteil als Landesherr in einer Urkunde fest. 538 Die Schuld der gefesselt vorgeführten Juden (vgl. auch v. 4692) steht durch den Blutruf schon fest, der durch die Verurteilung des gesamten Geschlechts 539 implizit präsent ist. ,Die Juden‘ werden nicht nur zur Unfreiheit 540 und zu einer stark eingeschränkten Berufsausübung verurteilt (vv. 4692-4713), ihnen wird - gleichsam als spiegelnde Strafe - auch die Zeugnis- und Gerichtsfähigkeit aberkannt ( und daz sie niergen mugen sten / an gezuge noch an gerihte , vv. 4694 f.). 541 Dass Pilatus und ,die Juden‘ für das ungerechte Verfahren gegen Jesus zur Rechenschaft gezogen werden, zeigt, welche Konsequenzen es hat, wenn das Prinzip, jemanden nur mit rehte zu verurteilen, das Pilatus zu Anfang propagiert hatte (vv. 725-727), nicht befolgt wird. Die moralisierende Deutung des Prozessgeschehens, die im Schlussteil des Textes dominiert, steht in einem Spannungsverhältnis dazu, dass an früheren Stellen die Notwendigkeit des Heilsgeschehens betont worden war: Der Verrat ,der Juden‘ habe geschehen müssen (vv. 393-396), Kaiphas habe unbewusst als Heilswerkzeug fungiert (vv. 414-421). 542 Und Jesus sagt im Prozessverlauf nicht nur von Pilatus, dass dessen gewalt gottgegeben sei (vv. 1465-1468), 543 sondern deutet das auch für die jüdischen Ankläger an (vv. 946 f.). Satan 536 Damit ist die Reichsacht gemeint. S. dazu u. S. 170. 537 Hier könnten die Entwicklungen zu einem selbsturteilenden Richter im Königsgericht, die Klibansky (1925, S. 22) für das Hofgericht des Pilatus interpretatorisch fruchtbar machen wollte, relevant sein. 538 und gab des sin geleite / und des riches hantveste (vv. 4704 f.). 539 Dass das gesamte jüdische Volk Schuld am Tod Jesu trage, war im Text schon dadurch insinuiert worden, dass am Mordrat auch Frauen beteiligt sind (vv. 397-401). Der Erzähler bedient sich allerdings auch in anderen Zusammenhängen der Formel ,Männer und Frauen‘, um eine große Volksmenge zu beschreiben (vgl. vv. 3793; 4364). 540 Zur bis auf die Vindicta Salvatoris zurückgehenden Erzähltradition von der Versklavung der Juden vgl. Magin 1999, S. 118 f. 541 Das kanonistische Zeugnisverbot für Juden wurde in verschiedene deutsche Rechtsbücher übernommen, in besonders strikter Form in den Schwabenspiegel , ohne dass die Rechtswirklichkeit dem immer entsprochen zu haben scheint (vgl. Magin 1999, S. 407 f.). Zur Regelung der Gerichts- und Zeugnisfähigkeit im Einzelnen vgl. Magin ebd., S. 210-275. 542 Ebenso heißt es später von Satan, dass er unwissentlich Heilswahrheiten ausspreche (vv. 3414-3433). 543 Vgl. auch den Verweis Jesu auf die alttestamentarischen Prophezeiungen in vv. 1127-1133. <?page no="153"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 153 wiederum beansprucht, er habe sein Volk, die ungetruwen juden , und den Richter Pilatus auf Jesus gehetzt (vv. 3131-3185). Die Zusammenschau dieser weit auseinanderliegenden Textpassagen wird der Regie des Textes nicht gerecht, die eindeutig auf die Eigenverantwortung der am Prozess Beteiligten hinsteuert, jedoch zeigt sie, dass das Prozessgeschehen gerade im Evangelium Nicodemi nicht unabhängig vom heilsgeschichtlichen Rahmen zu betrachten ist. 544 3.4.3 wârheit Die Wahrheitsthematik wird im Evangelium Nicodemi bereits im Prolog eingeführt, wenn das Autor-Ich den Heiligen Geist bittet, er möge es mit dem Feuer seiner Minne erfüllen zu schribene die waren schrift (vv. 312-315). In diesen Versen geht es um eine Wahrheit, die durch göttliche Inspiration vermittelt wird. Mit seiner schrift will das Autor-Ich die ,heilige Schrift‘ Gottes vermitteln: […] mache wis mich tummen an diner heiligen schrift, die wunder die du hast gestift daz ich die den luten muge also beduten, 545 daz ich des lon dort vinde vor der meide kinde, mit dem du ein war got 546 bist. (vv. 336-343) An dieser Stelle bleibt unklar, ob es sich bei der heiligen schrift um eine Wort- oder eine Werkoffenbarung handelt. Der Inhalt des Textes, nämlich die Wunder, die Jesus zu Lebzeiten und bei seiner Auferstehung vollbringt, spricht aber ebenso für eine Werkoffenbarung wie der Status, der den neutestamentlichen Schriften im Evangelium Nicodemi zuerkannt wird. 547 Dass die göttliche Wahrheit an zeichen erkennbar ist, wird später erläutert, als das Autor- Ich unvornunftigen luten Jesu Worte am Kreuz ,deutet‘ (vv. 2045 f.). Es bezieht sich dabei auf die Propheten, die den waren geist empfangen hätten (vv. 2047-2055), also den Zustand erreicht haben, um den es selbst im Prolog bittet. Auf dieser Basis hätten sie die Zukunft vorhergesagt, damit ihre Nachkommen Jesus an seinen zeichen und urkunden erkennen und so zur warheit vordringen könnten (vv. 2056-2073). Während hier die Wahrheit in den Werken Jesu zu liegen scheint, die die Propheten vorhergesagt haben, kehrt sich das Verhältnis in den folgenden Versen um: Jesus habe durch sein Verhalten die Wahrheit der Prophetenworte bestätigen wollen: 548 544 S. dazu u. Kap. 3.4.4. 545 beduten umfasst im Evangelium Nicodemi (vv. 1766; 1929; 2187) das gesamte Spektrum von ,übersetzen‘ bis ,auslegen‘ (vgl. BMZ; L exer ; MWB, s. v. bediuten ). 546 Dass der ,wahre Gott‘ ein trinitarischer Gott sei, wird im Text mehrfach geäußert (vv. 2483 f.; 4517 f.), ebenso, dass Jesus wahrer Gott und Mensch sei (vv. 2793 f.; 3941 f.; 4553 f.). Zum Gebrauch von war in Bezug auf Gott / Christus vgl. BMZ, s. v. 547 S. dazu u. S. 155. 548 Inhaltlich geht es darum, dass Jesus am Kreuz den Beginn von Psalm 21[22] gesprochen habe. <?page no="154"?> 154 3 Variationen der Rechtsthematik Do unse herre Jesus Crist an daz cruze gehangen wart, […] do wolde er irzeigen die warheit und urkunden den vienden und den vrunden, daz die gesprochen heten war mit gotlichen steten gar, und bewarte besunderen mit zeichen und mit wunderen mit worten und mit gedulde die tat mit unschulde, - an simem libe was gestift gar al der propheten schrift - […] (vv. 2074-2088) 549 Dass sich Jesus alttestamentarischen Prophezeiungen entsprechend verhält, ist im Evangelium Nicodemi kein vereinzeltes Motiv. 550 Nach den Ausführungen des Autor-Ich sieht sich sogar Gott an das Alte Testament gebunden: Do er der werlde began, er sprach: „Wir machen einen man nach unseme glichnisse.“ Do er den val vor wisse, daz er ganz mohte niht bestan, het er des alles niht getan, entweder Moses der luge der uf got diz wort zuge, oder got muse volgen - swie harte ir sit irbolgen - sinen worten mit den werken. (vv. 1697-1707) 551 In einer paradoxen Umkehrung werden hier die Worte Mose, der Gottes Worte überliefert, zum Maßstab für Gottes Handeln. 552 549 Dass die schrift erfüllt werden müsse und nicht ,zerbrochen‘ werden dürfe (vv. 2020-2044), hatte der Erzähler zuvor bereits Jesus in einer ihm - als Erläuterung des Kreuzeswortes - in den Mund gelegten Rede (vgl. vv. 1948 f.) sagen lassen, aus deren Interpretation für ,unverständige Leute‘ (v. 2046) die zitierten Verse stammen. 550 Vgl. den Verweis auf Is 53,7 in vv. 641-651, aus dem ebenfalls eine Intention Jesu zu erschließen ist. Andere Akteure führen die im Alten Testament präfigurierten Handlungen unwissentlich aus (vgl. vv. 1530-1537; 1603-1627), bzw. es werden einfach Entsprechungen konstatiert, so wie beim Paradiesbaum, der Tau-förmig wächst (vv. 1770-1787). 551 Vgl. zur voluntas divina an dieser Stelle Wiedmer 1977, S. 64-67. 552 In der Rede Adrians wird - ebenfalls ausgehend von dem Zitat, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe - die Notwendigkeit der Erlösung dagegen damit begründet, dass Gott an seine eigenen Worte gebunden sei (vv. 4120-4140): So ist got so warsprêche, / daz er nimmer niht zubrichet / alles des er gesprichet (vv. 4120-4122). Diese Vereinfachung geht mit Konkretisierungen einher, die Wiedmer (1977, S. 83) überzeugend mit der didaktischen Redesituation in Zusammenhang gebracht hat. <?page no="155"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 155 Von dieser umfassenden Autorität des Alten Testaments unterscheidet sich die der Evangelien deutlich, wie dem ,quellenkritischen‘ Abschnitt des Prologs (vv. 369-392) zu entnehmen ist: Die vier Evangelisten hätten die zeichen und wunder Jesu und seine Passion aufgeschrieben - hier folgt also das Wort den Werken nach. Jedoch hätten sie viel ausgelassen, sowohl von dem, was Jesus getan habe, als auch von dem, was seine Gegner getan hätten. Das Werk der Evangelisten habe der meister Nikodemus vollendet, der mit Juden und Christen zusammen gewesen sei: die rehten waren mere / beidenthalb er wiste (vv. 382 f.). 553 An späterer Stelle wird das Wissen des Nikodemus auf dessen Augenzeugenschaft zurückgeführt, die er den Evangelisten vorausgehabt habe (vv. 679-709). 554 Dass die Evangelisten nicht alles berichteten, wird im Text aber nicht allein damit erklärt, dass sie nicht alles gewusst hätten: Im Prolog heißt es, sie hätten durch tumme lute (v. 377) manches ungeschrieben gelassen. Ist damit gemeint, dass man diesen Leuten bestimmte Komplexitäten nicht zumuten könne, oder eher die Angst vor der Reaktion törichter Leute? Auf Letzteres könnte der Kommentar zu den Kreuzesworten in den Evangelien (vv. 2166-2178) 555 hindeuten. Dort werden gleichberechtigt die Versionen der vier Evangelisten und die des Nikodemus gegenübergestellt. Sinngemäß wird gesagt, dass Markus und Matthäus den einen Ausruf überlieferten (gemeint ist: „Eli / lamasabatani“ , vv. 1927 f.; vgl. Mc 15,34; Mt 27,46), Lukas und Nikodemus den anderen (gemeint ist: „Via alach / hoe fricole“ , vv. 2185 f.; vgl. Lc 23,46; Nikodemusevangelium , cap. XI 1), während Johannes die Worte ‚verschwiegen‘ habe (v. 2171). 556 Sie hätten jedoch alle die Wahrheit gesprochen: Der eine habe mehr gewusst als der andere bzw. so gesprochen, wie er es gewagt habe ( als er torste ien , v. 2177). So provokativ eine solche Deutung auch ist, der Wortlaut scheint nahezulegen, dass dahinter die Vorstellung steht, die wahrheitsgetreue Übermittlung des Heilsgeschehens erfordere Mut. Die Aspekte der Augenzeugenschaft und des mutigen Eintretens für die Wahrheit schaffen eine Querverbindung von der Quellenreflexion zum geschilderten Prozessgeschehen. 553 In vv. 384-392 wird in einer Präteritio auf Io 3,1-9 verwiesen, wodurch die Figur des Nikodemus zusätzlich an Autorität gewinnt. Prozesse der medialen Vermittlung spielen in den quellenkritischen Passagen des Evangelium Nicodemi keine Rolle: Weder wird das Motiv, dass Nikodemus eine Niederschrift des Berichts der Simeonsöhne erhalten habe (vv. 3692-3694), weiter entfaltet, noch wird thematisiert, wie der Bericht des Nikodemus an den Verfasser gelangt ist. 554 Nikodemus wird auch von den Jüngern abgehoben, die aus Furcht vor ,den Juden‘ nach seiner Gefangennahme nicht bei Jesus geblieben seien (vv. 692 f.). Nach dem Erzähler handelte Nikodemus, als er sich unter ,die Juden‘ mischte, mit listen (v. 698), war aber auch durch seinen Verwandtschaftsverbund vor den ,Fürsten‘ ,der Juden‘ geschützt (vv. 700 f.). Der Erzähler betont auch die Loyalität des Nikodemus, die er in keiner Weise negativ wertet: doch enwold er en niht vorraten, / noch vehen vor gerihte, / und gehal in an nihte, / daz sie an ime begiengen. (vv. 706-709). Interessanterweise wird hier auch die Möglichkeit eines gerichtlichen Vorgehens gegen ,die Juden‘ genannt. 555 Die Passage ist sowohl auf die vorhergehenden Verse zum Ausruf „Eli / lamasabatani“ (vv. 1927 f.) als auch auf die anschließenden Verse zum Ausruf „Via alach, / hoe fricole“ (vv. 2185 f.) zu beziehen (vgl. Helm 1899, S. 122). 556 Der folgende Vers ( sin passio sunder titel stat , v. 2172) ist schwer zu deuten. titel kann hier nicht wie in v. 1800 die Kreuzesinschrift bezeichnen (vgl. Helm 1902, S. 241). Hoffmann (1997a, S. 298) bezieht titel offenbar auf das Kreuzeswort, denn er übersetzt „such an utterance by Christ“. Da der Psalmenbezug im Auslegungsexkurs so prominent ist und auch „Via alach, / hoe fricole“ auf ein Psalmwort (30[31],6) zurückgeht, Johannes jedoch kein auf einem Psalmvers beruhendes Kreuzeswort überliefert (vgl. Kemper 2006, S. 318), könnte sich titel hier auf die (vor allem im Frühmittelalter verbreiteten) tituli psalmorum beziehen, in denen die Psalmen u. a. auf Jesus als Sprecher hin ausgelegt wurden (vgl. Salmon 1959). <?page no="156"?> 156 3 Variationen der Rechtsthematik Auch in der Darstellung des Prozesses wird Nikodemus als vorbildlich charakterisiert, indem er für Jesus aussagt (vv. 1155-1186). Er wiederholt, was er schon beim Mordrat gesagt habe: Wie an den von Moses vollbrachten zeichen erkennbar sei, hätten Wunder, die von Gott kämen, Beständigkeit. Das bestätigen ,die Juden‘ als wahr. Deshalb, so argumentiert Nikodemus, könne man in Analogie entscheiden, dass Jesu Werke von Gott seien, wenn sie bestehen blieben. Nikodemus erweist sich als fähig, das Wahrgenommene richtig zu interpretieren. 557 ,Die Juden‘ aber werden zornig auf Nikodemus, weil er die Wahrheit gesagt hat ( daz er der warheite jach , vv. 1187-1189). Da die Szene auf den Dialog zwischen Jesus und Pilatus über die Wahrheit (vv. 1084-1092) folgt, in dem Jesus - ähnlich wie im Nikodemusevangelium (cap. III 2) - auf das Gefährdungspotenzial hinweist, das damit verbunden ist, wenn jemand auf Erden die Wahrheit sagt, kann die Reaktion ,der Juden‘ auf die Rede von Nikodemus als Exemplifikation dieser Aussage verstanden werden. Dass im Evangelium Nicodemi Pilatus dann ,die Juden‘ dafür tadelt, dass sie Nikodemus zürnten, weil er die Wahrheit gesagt habe (vv. 1192 f.), wirft ein positives Licht auf das Gericht als wahrheitsbewahrende Instanz. Überhaupt fällt - vor allem im Vergleich mit Diu urstende - auf, dass die Wahrheit im Kontext des Prozesses wenig Schwierigkeiten hat, sich durchzusetzen: Die Augen- und Ohrenzeugenschaft des Läufers wird ohne Weiteres akzeptiert (vv. 800-826). Beim Proselytenvorwurf (vv. 994-999) gegen die zwölf Juden, die aussagen, Jesus sei nicht unehelich geboren, wird nur kurz gesagt, dass die zwölf diesen Vorwurf hätten widerlegen können (vv. 1000-1002). Daraufhin akzeptieren - anders als im Nikodemusevangelium (cap. II 5) - sogar Kaiphas und Annas deren Aussage (vv. 1003-1005), die auf Augenzeugenschaft beruht (vv. 979 f.). 558 Die Zeugenaussage von Veronika, einer Frau ( ein wib , v. 1237), wird nicht hinterfragt (vv. 1237-1242). Und die gegenüber dem lateinischen Nikodemusevangelium zusätzlich eingefügte Zeugenaussage des Lazarus, der sich wiederum auf zahlreiche Zeugen beruft, die seine Auferweckung vom Tode gesehen hätten (vv. 1249-1265), 559 hat eine solche Überzeugungskraft, dass ,die Juden‘ sich daraufhin zur Beratung zurückziehen und keine andere Möglichkeit mehr sehen, als den Richter ‚zornig‘ zu machen, um eine Verurteilung Jesu zu erreichen (vv. 1266-1274). Offenbar wurde in der Erzählung vom Prozess das Augenmerk ausdrücklich nicht auf Methoden der Wahrheitsfindung und deren Absicherung gelegt, da man beobachten kann, dass sie an anderen Stellen des Textes durchaus ausgestaltet sind. Zwei verschiedene Verfahren zur Wahrheitsfindung werden bereits in der Fahnenwunder-Episode eingeführt. Wie im lateinischen Nikodemusevangelium (cap. I 5 f.) werden zunächst die heidnischen Fahnenträger befragt, dann folgt zur Ermittlung der Wahrheit das von Pilatus angeordnete pragmatische ,Experiment‘, dass die Fahnenträger gegen Vertrauensleute ,der Juden‘ ausgetauscht werden (vv. 872-918). Jedoch dient der Austausch der Fahnenträger im Evangelium Nicodemi vor allem der öffentlichen Wahrheitsdemonstration, denn schon vorher ist Pilatus, der das Senken der Fahnen als zeichen deutet (v. 865), von der Unschuld der heidnischen Träger überzeugt (vv. 884 f.). Dass er sie bei ihrem Eid auf das Reich befragt hat (ein Zusatz zum lateinischen Nikodemusevangelium ), hat es ihm erlaubt, Wahrheit von Lüge zu 557 Die Frage, wie bestimmte Anzeichen zu deuten sind, ist auch an anderen Stellen des Textes thematisiert. So wirft das Höllenvolk Satan vor, er habe Anzeichen für die Göttlichkeit Jesu verkannt (vv. 3237-3273). 558 Vgl. dazu Manuwald 2011, S. 61 f. 559 Vgl. dazu Hoffmann 1997a, S. 299. <?page no="157"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 157 scheiden. Der Eid dient hier nicht als direktes Mittel zur Wahrheitsfindung, sondern garantiert das ,verlässliche Verhalten‘ der Untergebenen. 560 Eiden als Absicherungsmechanismus kommt auch im weiteren Handlungsverlauf ein hoher Stellenwert zu, 561 vor allem bei den Befragungen, die ,die Juden‘ nach Jesu Auferstehung durchführen. 562 In der Wächter-Szene (vv. 2333-2449) spielt der Eid allerdings noch keine Rolle: ,Die Juden‘ glauben den Wächtern nicht und wollen sie in einem Gerichtsverfahren zur Rechenschaft ziehen, das so implizit als Mittel der Wahrheitsfindung anerkannt wird. Die Wächter können sich dem jedoch durch Verweis auf den evidenten Befund entziehen, dass auch Joseph auf mirakulöse Weise verschwunden ist, und werden von ‚den Juden‘ zu Falschaussagen gegenüber Pilatus veranlasst. Auch die Aussage der drei Priester (vv. 2450-2493) ist nicht durch einen Eid gesichert, sondern erhält durch die Übereinstimmung (vgl. vv. 2460 f.) ihrer auf Augenzeugenschaft beruhenden Aussage, 563 die in eine Bezeugung der Himmelfahrt Jesu mündet, Autorität. ,Die Juden‘ glauben den dreien erst, als sie - wiederum übereinstimmend - beteuern, die Wahrheit gesagt zu haben und sich zu der Verpflichtung bekennen, die Wahrheit nicht zu verschweigen (vv. 2490-2493). Daraufhin verpflichten die Hohepriester sie bei einem Eid (mit Todesdrohung) zum Schweigen (vv. 2494-2498) und lassen sie wegführen (vv. 2499-2501). Bei der Befragung Josephs wird das Mittel des Eides dazu eingesetzt, die Wahrheit seiner Aussage zu garantieren. Dass die ,Bischöfe‘ Joseph bi der e die er bege (v. 2513) beschwören sollen, ist bereits Teil des von Nikodemus geäußerten Rates, man solle Joseph befragen (vv. 2506-2524). In der Tat wird später ein Schwur von Joseph verlangt: daz volc 564 in bi der e bat und hiez in uf den buchen swern, als er sich wolde genern zu deme jungesten tage, daz er sagete ware sage um in und umme Cristen: (vv. 2578-2583) Joseph beschließt seine Aussage mit einer entsprechenden Wahrheitsbeteuerung: „ […] / Diz ist war bi miner e! “ (v. 2678). Mit ,den Büchern‘, auf die Joseph schwört, dürften die fünf Bücher Mose gemeint sein, die bei Judeneiden üblicherweise zum Einsatz kamen, 565 weil nicht anzunehmen ist, dass der christliche Verfasser hier ein jüdisches Ritual beschreibt. 566 Mit dem Eid Josephs kommt eine metaphysische Instanz ins Spiel. Glaubwürdigkeit gewinnt seine Aussage aber auch dadurch, dass er als Wahrnehmungszeuge spricht, wie 560 Zum Eid als Mittel „zur Begründung und Stabilisierung politisch-herrschaftlicher Beziehungen“ vgl. Holenstein 2008, S. 232. Zur Differenzierung zwischen promissorischen und assertorischen Eiden vgl. Munzel-Everling 2008b. 561 Vgl. auch die eidähnliche Wahrheitsbeteuerung des Pilatus, wenn er die Gestirne als Zeugen dafür anruft, dass er nicht lüge, wenn er sage, dass er an Jesus keine Schuld finde (vv. 1039-1044). 562 Anders als im lateinischen Nikodemusevangelium (cap. II 5) wird ein jüdisches Eidverbot nicht thematisiert. 563 Vgl. den gehäuften Gebrauch von sach in vv. 2473-2485. 564 Es ist anwesend, obwohl die Befragung im Verborgenen stattfindet (vv. 2574-2577). 565 Vgl. Kisch 1978, S. 146-150. Für Literatur zu den Judeneiden s. o. S. 70, Anm. 25. 566 Das Schwören auf einen Gegenstand, z. B. eine Gesetzesrolle, ist allerdings im Judentum in nachtalmudischer Zeit noch üblich: „der Schwörende musste wissen, resp. darauf besonders hingewiesen werden, daß er den Eid auf deren Inhalt und nicht etwa auf das Pergament leiste“ (Cohn 1928, Sp. 291). <?page no="158"?> 158 3 Variationen der Rechtsthematik die zahlreich gebrauchten Verben des Sehens anzeigen (z. B. vv. 2606; 2618). 567 Außerdem wird seine Aussage von den drei Priestern bestätigt (vv. 2679-2681) - auf der Grundlage ihrer eigenen Augenzeugenschaft der Himmelfahrt, so kann man vermuten. Wie schon in der Prozesshandlung (vv. 1003-1005) erkennt Kaiphas auf Augenzeugenschaft beruhende übereinstimmende Aussagen als wahr an (v. 2701), allerdings ist hier ein weiterer Schritt dazwischen geschaltet: Kaiphas verweist auf Elias und Enoch, die Gott ebenfalls vor dem Tod bewahrt habe (vv. 2684-2687), führt also Präzedenzfälle an, die das wunder möglich erscheinen lassen, dass Jesus, den doch alle tot g e s e h e n hätten (v. 2696), wiederauferstanden ist. Bei der abschließenden Befragung der vom Tod wiederauferstandenen Simeonsöhne sind wiederum rituelle und rationalistische Methoden der Wahrheitssicherung kombiniert, indem sie im Tempel beschworen (vv. 2760-2787), zusätzlich aber bei der Abfassung ihrer schriftlichen Berichte voneinander getrennt werden (vv. 2829-2835). Das Resultat dieser irdischen Vorsichtsmaßnahme ist jedoch ein weiteres wunder , nämlich die völlige Übereinstimmung der Berichte (vv. 2836-2841). 568 Welche Wahrheit sollen die Simeonsöhne aber garantieren? Bei der Einführung der Figuren geht es noch einmal um den Wahrheitsgehalt der Aussage Josephs, der rekapituliert, dass man die Simeonsöhne gemeinschaftlich begraben habe, dann aber berichtet, dass sie wiederauferstanden seien (vv. 2714-2727). ,Die Juden‘ senden daraufhin Joseph nach ihnen aus, prüfen aber zugleich nach, ob ihre Gräber tatsächlich leer sind (vv. 2748-2759). Joseph hatte Leucius und Carinus als Quelle der Wahrheit angekündigt; man solle sie sowohl dazu befragen, was mit Jesus passiert sei, als auch dazu, was sie über die Erlösung wüssten (vv. 2728-2737). Für die Übermittlung einer solchen heilsgeschichtlichen Wahrheit sind sie nach Joseph geeignet, da sie zu ihren Lebzeiten wahrheitsliebend gewesen seien und außerdem wüssten, was nach dem Tode passiere (vv. 2738-2743). Bei dieser Einführung wird erneut deutlich, dass zur Übermittlung von ,Wahrheit‘ nach dem Evangelium Nicodemi sowohl eine inhaltliche als auch eine moralische Qualifizierung nötig ist. Letztere solle, so hatte es bereits Joseph vorgesehen, durch einen Eid bi der e, / die an unsen buchen ste (vv. 2733 f.) gesichert werden. Tatsächlich werden die Simeonsöhne vor ihrer Befragung bei dem Inhalt der e beschworen (auf den alttestamentarischen Gott, der Moses die Gesetze gab); 569 die e - aufgefasst als materielles Schriftstück 570 - wird ihnen dabei für den Eid auch auf den Kopf gelegt (vv. 2768-2783). Dieser Ritus fällt aus der im christlichen Kontext üblichen Eidesleistung auf ein Buch (Evangeliar) oder ein Reliquiar heraus, 571 und auch das Eidzeremoniell der Judeneide bietet 567 Er will seine Eindrücke an alle Juden vermitteln, damit sie erkennen, was geschehen ist (vv. 2568-2572). Dass für die Bezeichnung des Erkenntnisprozesses ein Verb des Sehens gewählt ist ( ane sen , v. 2571; zur Bedeutung vgl. MWB) dürfte kein Zufall sein. In der Handschrift p ist verdeutlicht, dass die Aussage Josephs erst auditiv wahrgenommen werden muss ( horn und sehen ). 568 Zum Wundercharakter dieser Übereinstimmung vgl. (in Bezug auf Diu urstende , wo das Wunder nicht als solches benannt ist) Strohschneider 2005, S. 323 f.; 2014, S. 103-106. - ,Die Juden‘ scheinen den Wahrheitsgehalt der Berichte anzuerkennen, jedenfalls ziehen sie sich, als die Simeonsöhne verschwunden sind, unvro zurück und beklagen, was mit Jesus geschehen ist (vv. 3780-3788). 569 Diese Formel ist für Judeneide typisch (vgl. Schmidt 2002, S. 95). 570 Es dürfte sich um die Thorarolle des Tempels handeln, die auch bei Judeneiden als auf jeden Fall authentisches Exemplar der fünf Bücher Mose gern Verwendung fand (vgl. dazu Kisch 1978, S. 150-159). 571 Zwar werden bei einer Klage auf handhafte Tat (vgl. Munzel-Everling 2008b, Sp. 1254) bzw. bei der Überführung eines Verfesteten (vgl. Richtsteig Landrechts 35,6; zitiert nach Homeyer 1857) dem Be- <?page no="159"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 159 kaum etwas Vergleichbares. 572 Sucht man im christlichen Kontext nach Parallelen, so stößt man auf Riten im Rahmen der Bischofsweihe. 573 Sollte hier eine Anspielung darauf vorliegen und ein hybrider jüdischer Schwurritus konstruiert worden sein, gewännen die Simeonsöhne durch diese Art der Beschwörung zusätzliche Autorität als Verkünder des Wortes Gottes. 574 Auch die Aufforderung ‚der Juden‘, dass die Simeonsöhne bei ihrem orden Auskunft geben sollten (v. 2786), bringt zum Ausdruck, dass die beiden einen besonderen Status innehaben. 575 Dass es sich bei der e aber gerade nicht um das Evangelium handelt, wird nicht nur durch den Inhalt des Schwures präsent gehalten, sondern auch dadurch, dass die Simeonsöhne in ihrer an Jesus gerichteten Rede (vv. 2793-2828) sagen, dass die e , bei der man sie beschworen habe, jetzt durch die Taufe, die Johannes der Täufer zuerst an Jesus vollzogen habe, abgelöst sei (vv. 2805-2810). 576 In ihrer - gegenüber dem lateinischen Nikodemusevangelium (cap. XXVII 2) deutlich ausgearbeiteten - abschließenden Mahnrede an ,die Juden‘ (vv. 3695-3777) geben die Simeonsöhne vor ihrer Himmelfahrt dann eine regelrechte Tauflehre (vv. 3713-3735) und fordern ,die Juden‘ zur Taufe auf (v. 3734). Für ihre Rolle als Wahrheitsvermittler ist relevant, dass sie in dieser Rede beanspruchen, ,die Juden‘ die Worte der alttestamentarischen wissagen gelehrt zu haben (vv. 3743-3747). Außerdem ordnen sie sich einer Gruppe von Auferweckten zu, die Jesus mit sich habe auferstehen lassen zum Beweis ( urkunde ), dass er auferstanden sei (vv. 3698-3701). Eine entsprechende Interpretation der Funktion der mit Jesus Auferstandenen ist auch Adrian in den Mund gelegt: „ […] die grabe uf sich taten, die toten die sie haten die giengen heruz lebende, antworte den luten gebende, und vorjigen uns der warheit, des Jesus hete vor geseit, er were lebend erstanden uz des todes banden.“ (vv. 4001-4008) klagten Reliquien auf den Kopf gesetzt, den Eid darauf leisten dann aber diejenigen, die ihn beschuldigen. 572 Nur im zweiten Judeneid einer westmitteldeutschen Schwabenspiegel -Handschrift vom Ende des 14. Jahrhunderts (Heidelberg, UB, Cpg 53: Ordnung IIIb, systematisiert; vgl. den Eintrag im Handschriftencensus und Oppitz 1990, S. 39 [zu Nr. 692]) heißt es in der Anweisung an den Judenbischof: Sint ir dw stebe hat genant so heizet uns don bekant we daz bouch [sic] si genant in uwer e. daz wir zo rehte scullen haben. vnde ob her ir uf deme halse sulle tragen. biz an des eides ende (zitiert nach Zimmermann 1973, S. 82). Der Sinn der Stelle, die keine Parallelen in anderen Judeneiden hat, ist nicht abschließend geklärt. Nach Zimmermann (ebd., S. 93) ergibt sie „nur im Zusammenhang mit der Wendung ‚vnde so daz swebel vnde daz pech uf dinen hals muoze rinnen vnde reghenen‘, die in jedem Judeneid der Schwabenspiegelgruppe zu finden ist, einen Sinn.“ Zur Sonderstellung dieses Eids vgl. Magin 1999, S. 276 f., Anm. 576. 573 Zum Ritus der impositio evangelii und den unterschiedlichen Sinnzuschreibungen, die er erfahren hat, vgl. Schreiner 2001a, S. 73-79. 574 Die besondere Art des Körperkontakts mit der e steht im Evangelium Nicodemi zugleich im Kontext einer anderen Berührungsgeste: Die Münder der Simeonsöhne werden erst dadurch ,entriegelt‘, dass sie Kreuze - wie eine Hostie - auf ihre Zungen legen (vv. 2791 f.). Nach dem Nikodemusevangelium (cap. XVII 3) machen sie ein Kreuzzeichen über ihre Zungen. 575 Ein geistlicher Stand ist durch das Wort orden nicht impliziert (vgl. BMZ, s. v.). 576 S. dazu u. S. 264 mit Anm. 337. <?page no="160"?> 160 3 Variationen der Rechtsthematik Durch ihre körperliche Anwesenheit und ihre Worte, die die Erfüllung der alttestamentarischen Prophezeiungen bestätigen, sind die Simeonsöhne also vor allem Übermittler der Heilswahrheit. Trägt man die verschiedenen Äußerungen auf der Figuren- und der Erzählerebene, die sich auf die Wahrheit und deren Absicherung beziehen, zusammen - und das scheint wegen deren Kohärenz gerechtfertigt -, ergibt sich Folgendes: Die Propheten haben, inspiriert vom Heiligen Geist, die (Erlösungs-)Wahrheit vorhergesagt. Jesus hat diese Wahrheit durch sein Leben und Sterben und seine Auferstehung bekräftigt. Die mit ihm Wiederauferstandenen waren lebende Beweise für diese Wahrheit 577 und haben durch ihr Zeugnis, das auch durch irdische Mechanismen (wie den der übereinstimmenden Augenzeugenschaft) abgesichert ist, zugleich eine Überlieferungstradition begründet. 578 Wo sich der Text des Evangelium Nicodemi in dieser Kette positioniert, wird nicht explizit benannt, aber es wird nahegelegt, dass er in dieser Überlieferungstradition ebenfalls Wahrheit für sich beanspruchen kann. Der Ausdruck ,wahre Schrift‘ taucht nur im Schlussteil des Textes nochmals auf: Die Fürsten (v. 5189) ‚pflegten‘ das Unrecht, sie hätten sich von den Idealen der Vorfahren abgekehrt und folgten nicht der waren schrift ; sie sollten sich besser an der warheit orientieren (vv. 5232-5238). Hier dürfte mit der waren schrift die christliche Lehre gemeint sein. 579 Aus einer anderen Textstelle des Schlussteils lässt sich schließen, dass die Orientierung an der Wahrheit auch die konkrete Dimension des Nicht-Lügens hat (vv. 4764-4767), 580 die in der erzählten Prozesshandlung relevant ist. Zumindest onomasiologisch sind die heilsgeschichtliche Wahrheit und Wahrheit als Verhaltensmaßstab verbunden. 3.4.4 reht und ê Es ist für das Evangelium Nicodemi charakteristisch, dass verschiedene Rechtsordnungen auf Erden zueinander in Beziehung gesetzt werden und dass sie - entweder derivativ oder systematisch - in einem Zusammenhang mit dem göttlichen Recht stehen. Die komplexen Verhältnisse können hier nur skizziert werden, wobei die versuchte Systematisierung nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass im Text gerade kein streng logisches Gedankengebäude entwickelt wird, sondern die einzelnen narrativ funktionalisierten Aspekte assoziativ verknüpft sind. 581 Wie Sinnbezüge generiert werden, sei an der Stellung des Pilatus im Rechtssystem verdeutlicht. Sie zu bestimmen scheint einfach zu sein, wenn man nur die expliziten Aussagen zu seiner Gerichtsgewalt berücksichtigt: Er hat sein Amt ,von römischer Hand‘ bekommen (vv. 3895-3904) und übt seine Gerichtsgewalt im Namen des römischen Reiches 577 Auch ,den Juden‘ wird zugestanden, dass sie die Heilsgeschichte bezeugen. S. dazu u. S. 163, Anm. 594. 578 Im Text wird sie dadurch angedeutet, dass Pilatus die brieve abschreiben lässt und mit einer eigenen schriftlichen Aufzeichnung, in der er die Abläufe wahrheitsgemäß darstellt, nach Rom sendet (vv. 3794-3809). 579 Diese Bedeutung der waren schrift ist auch in v. 5340 aktiviert: Dort werden ,die Juden‘ dazu aufgefordert zu erkennen, welche Wunder Gott auf Erden gewirkt habe und dass sie um der Erlösung des Menschen willen geschehen seien (vv. 5337-5350). 580 Dort werden diejenigen kritisiert, die sich ,den falschen Juden‘ gleichmachten, indem sie nicht die Wahrheit sagten. 581 Das geschieht häufig über die Wiederholung von Leitwörtern oder ganzen Versen, die jedoch in den verschiedenen Kontexten unterschiedliche semantische Nuancierungen entfalten (vgl. dazu Manuwald 2014, S. 688 f.; zur Technik der Wiederholung vgl. de Boor 1925; Helm / Ziesemer 1951, S. 80-83). <?page no="161"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 161 aus, dessen Herrscher durch die Fahnen des Reiches repräsentiert ist (vv. 835-851). Unabhängig von der historischen Situation war im Rahmen der Erzählung von der Gefangennahme Jesu an chronologisch passender Stelle in einem Exkurs die Zweischwerterlehre 582 entfaltet worden (vv. 533-556). Zum weltlichen Schwert heißt es dort: 583 Der werlde zu gesihte der konic sal daz swert tragen; damite sal er tun geslagen alle die weder dem rehten [ ; ] in sime rihte vehten; er sal die werlt beschermen, er sal niht mite gehermen goteshus witewen weisen. (vv. 536-543) Wenn im Schlussexkurs diejenigen, die über andere herrschen und deswegen Gott dankbar sein sollten, dafür getadelt werden, dass sie, obwohl sie die Gerichtsgewalt hätten, nicht gegen ,die Juden‘ vorgingen, die Gotteshäusern, Witwen und Waisen durch Wucher Schaden zufügten (vv. 4920-4943), dann wird deutlich, dass die Anforderungen des weltlichen Schwerts auch für Vertreter der königlichen Gewalt gelten. Trifft das auch auf Pilatus zu? Immerhin sitzt er auf des riches dincstul (v. 623). Wenn das römische Reich auch kein christliches Reich ist, so gelten nach dem Sinnentwurf des Textes für Pilatus offenbar doch dieselben Maßstäbe wie für den König nach der Zweischwerterlehre des Exkurses, denn er wird schließlich zur Rechenschaft gezogen, weil er sich erpressbar gemacht und seine Gerichtsgewalt nicht dazu genutzt hat, diejenigen in Schach zu halten, die ein ungerechtes Urteil erwirken wollten (vv. 4326-4357). Da an der entsprechenden Textstelle nicht über den Wortlaut ein Bezug zur Zweischwerterlehre hergestellt wird, ist bei der Engführung der Textstellen Vorsicht geboten, aber es scheint doch über assoziative Bezüge eine universelle Vorstellung davon auf, was gerechtes Handeln in der Welt bedeutet. Angesichts dieses globalen Konzepts ist es wenig verwunderlich, dass Ausdifferenzierungen verschiedener gerichtlicher Zuständigkeiten, wie sie sich in Christi Hort für Pilatus und Herodes finden, 584 unterblieben sind. Nur das partikulare Recht einer bestimmten Gruppe zieht sich als Motiv durch den Text: das ,der Juden‘. 585 Gleich zu Beginn der Erzählung wird gesagt, dass bei Kaiphas als ,Bischof ‘ auch die Gerichtsgewalt liegt (vv. 402-405). 586 Die Rechtsordnung, die für das Gericht des Kaiphas maßgeblich ist, wird dann bei den ersten Anklagen ,der Juden‘ gegen Jesus benannt: er (zer)störe mit seinen Werken ,ihre‘ e 582 Vgl. zur Zweischwerterlehre allgemein Mikat 1998, zur Stelle im Evangelium Nicodemi Fehr [1931], S. 229 f. 583 Das zweischneidige geistliche Schwert könnte auf die göttliche Gerichtsbarkeit hindeuten. Vgl. Manuwald 2014, S. 679, mit einer ausführlicheren Interpretation der Stelle. 584 S. dazu o. S. 129. 585 Im Folgenden wird das jüdische Recht behandelt, wie es im Text aus christlicher Perspektive charakterisiert wird. Zu dem im Evangelium Nicodemi ebenfalls präsenten Konzept des Judenrechts s. u. S. 169-171. 586 Zur weiter verbreiteten Vorstellung, dass Kaiphas nur in diesem Jahr Hohepriester gewesen sei, s. u. S. 185, Anm. 37. Hinter der Bezeichnung des Kaiphas als ,Bischof ‘ steckt unter Umständen mehr als die christianisierende Umsetzung von ,Hohepriester‘ (s. dazu u. S. 185-187), denn es könnte damit auch das Amt des Judenbischofs in mittelalterlichen Judengemeinden assoziiert sein: Dieser hatte Richterfunktionen auszuüben (so auch Klibansky 1925, S. 16 f., Anm. 23). Zum Amt des Judenbischofs vgl. Zimmermann 1973, S. 64; Hausmann 2004, S. 98 (mit weiterer Literatur). <?page no="162"?> 162 3 Variationen der Rechtsthematik (vv. 734 f., vgl. auch v. 766). Das Wort e bezeichnet an dieser Stelle vor allem die jüdische Zeremonialgesetzgebung, 587 da der Vorwurf ,der Juden‘ darin begründet ist, dass Jesus an einem Sabbat Heilungswunder vollbracht hat (vv. 738 f.). Dass zu dem Bedeutungsspektrum des Wortes aber auch das jüdische Strafrecht 588 gehört, wird deutlich, wenn Pilatus ,die Juden‘ auffordert, sie sollten Jesus nach ,ihrer‘ e richten (v. 1052) . e kann aber auch die Gruppe meinen, die sich zu einer bestimmten Ordnung bekennt; jedenfalls lässt der Erzähler Pilatus sagen, die Fahnenträger uz unser e sollten gegen Fahnenträger uz uwer e ausgetauscht werden (vv. 890 f.). Hier soll offenbar vor allem ein religiöser Gegensatz ausgedrückt werden, der aber in einer Beziehung zur staatlichen Ordnung steht, denn die Fahnenträger des Pilatus hatten zuvor argumentiert: […] „Wir sin heiden und sin der tempel knehte. Von wie getanem rehte bete wir an Jesum Cristen? Bi dem eide wir enwisten, wie sich geneigten die vanen! “ (vv. 878-883) rehte bezeichnet an dieser Stelle sicherlich nicht gesetztes Recht, sondern eine Norm, die den Wächtern aufgrund ihres Glaubens und ihrer eidlichen Verpflichtung (vv. 872 f.) zukommt, 589 aber sowohl an der Verwendung des Wortes reht als auch an der des Wortes e lässt sich im Evangelium Nicodemi beobachten, dass sich rechtliche und religiöse Ordnungen nicht scharf trennen lassen. Der Charakter der e als Inbegriff der Buchreligion wird in der bereits diskutierten Szene der Beschwörung der Simeonsöhne offensichtlich, wo es zunächst heißt, dass ihnen die e materialiter auf den Kopf gelegt wird (vv. 2768 f.), und die e dann für Glaubensinhalte steht ( „Als ir geloubet / an dise e […] “ , vv. 2770 f.). 590 In der von ,den Juden‘ formulierten ,Eingangsformel‘ des zu schwörenden Eides (vv. 2773-2781) 591 wird Gott als derjenige benannt, der Moses die zehn Gebote gegeben habe (vv. 2777-2779). Auch wenn die mosaischen Gesetze an dieser Stelle nicht ausdrücklich als e bezeichnet werden, legt der Kontext nahe, dass sie Teil der jüdischen e sind. Kommt aber die jüdische Rechtsordnung letztlich von Gott, so ist damit das umfassendere, von Theologen breit diskutierte Problem präsent, wie sich die lex vetus zur lex nova verhält. 592 587 Auch an späterer Stelle bezieht sich das Wort e auf jüdische Riten, wo nämlich Joseph rekapituliert, man habe die Simeonsöhne gemeinschaftlich begraben, also die e uns gebot (v. 2721). 588 S. dazu u. S. 257 f. 589 Vgl. die in BMZ (s. v.) angegebene Grundbedeutung: „dasjenige, was einer person oder einem dinge vermöge eines inneren oder äussern gesetzes oder auch vermöge geltender sitte zukommt“. 590 Entsprechend hatte Joseph zuvor von der e gesprochen, die an unsen buchen ste (vv. 2733 f.). 591 Vom eigentlichen Eid wird nicht mehr erzählt, und die genannten Verse entsprechen formal nicht einer Eingangsformel, sie erfüllen aber eine entsprechende Funktion, da derjenige, der den Eid abnimmt, benennt, bei welcher Instanz er geleistet wird (zum Formular für den Vorsprecher bzw. Eidstaber vgl. Schmidt-Wiegand 1977, S. 84). Die Benennung Gottes als Adonay (v. 2777) kommt aus der jüdischen Gebetspraxis und wurde in verschiedene Judeneide übernommen (vgl. ebd., S. 87 f.); sie begegnet z. B. im Eidformular des Heidelberger Judeneids (vgl. Zimmermann 1973, S. 63), aber auch prominent im Rahmen des Eidzeremoniells der Judeneide des Schwabenspiegels bei der Beschwörung des Judenbischofs (vgl. Zimmermann ebd., S. 82; Schmidt 2002, S. 92). 592 Vgl. dazu Basse 2014; Marschler 2014. <?page no="163"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 163 Tatsächlich lassen sich im Text Spuren der Auseinandersetzung mit diesem Problem finden, so zum Beispiel in der Rede der Simeonsöhne an Jesus (vv. 2793-2828), in der sie sagen: „ […] Si han uns bi der e besworn, die wir begiengen hie bevorn, und dir do was geneme, e dan die toufe keme, […] “ (vv. 2805-2808) In ihrer abschließenden Bekehrungsrede an ,die Juden‘ wird vor allem der kultische Aspekt der alten und der neuen e betont, indem die Simeonsöhne die Funktion der Beschneidung bi der alten e der der Taufe bi der nuwen gegenüberstellen. 593 Die den Simeonsöhnen in den Mund gelegte relativ positive Einstellung zur alten e , nämlich dass sie Gott gefallen habe, bevor sie durch eine neue Ordnung abgelöst worden sei, findet sich auch im Schlussexkurs, der wörtliche Korrespondenzen zur Rede der Simeonsöhne aufweist. Zur Begründung, dass ,den Juden‘ eine Existenzberechtigung zukäme, heißt es: Man sal sie han in drucke, also daz man sie mide und daz man sie doch lide durch gezuc 594 und durch geleite der heiligen cristenheite und durch des alden urhab testamenti, daz got gab irem vatere Moysi uf dem berge Synai, da er im schreib die zen gebot. Sintmales irfulde got die alden mit der nuwen e und machte ir damite me und volgete dem alden site mit des vleisches ummesnite, und mit der nuwen toufe nu hat er braht zu houfe die alden und die nuwen. (vv. 5246-5263) Das Verhältnis der alten e , deren Gesetzeskomponente wiederum betont ist, zur neuen e wird hier als eines der Erfüllung und Zusammenführung interpretiert. Gleich im Anschluss 593 Der ummesnit bi der alten e / was der kusche ein gelaz / und der sunden antlaz, / die toufe bi der nuwen (vv. 3762-3765). Dass von den Simeonsöhnen zu erfahren sein würde, ob die alte e beibehalten werden solle, hatte Joseph bereits angekündigt (vv. 2744-2747). 594 Zum Zeugenstatus ,der Juden‘ vgl. Kisch (1978, S. 64), der die Lehre der Kirchenväter referiert: „Nach der christlichen Lehre waren die Juden zu ewiger Knechtschaft verdammt als einer gerechten Strafe für ihre Verwerfung und Kreuzigung des Erlösers. Aber Gottes Befehl gemäß sollten sie nicht getötet werden, sondern - gleich Kain - aufbewahrt werden für ein Leben, das schlimmer ist als der Tod. Ein Überrest von ihnen soll über die Welt verstreut werden und durch ihre Schriften sowohl als durch ihre physische Existenz ewiges Zeugnis ( testimonium veritatis ) für die Christenheit ablegen, daß die Prophezeiungen über Christus keineswegs erdichtet und trügerisch gewesen sind.“ <?page no="164"?> 164 3 Variationen der Rechtsthematik an den zitierten Text wird ,den Juden‘ (vv. 5264-5293) vorgeworfen, sie richteten sich weder nach der alten noch nach der neuen e, sie müssten sich für eine entscheiden und, falls sie Juden bleiben wollten, von Wucherei und Zinsgeschäften Abstand nehmen, da ,ihr Buch‘ das verbiete. 595 Der Vorwurf, dass ,die Juden‘ 596 Moses nicht gefolgt seien, begegnet schon in der Scheltrede des Pilatus (vv. 1319-1370), die der im Nikodemusevangelium (cap. VII 3) entspricht. Abgesehen von dieser Quellenbezogenheit ist der Vorwurf aber die logische Konsequenz aus einer antijüdischen Grundhaltung bei gleichzeitiger Hochschätzung der alten e . 597 Während das Evangelium Nicodemi für die alte e die Rolle Gottes als Gesetzgeber hervorhebt, stellt sich das Verhältnis der neuen e zum göttlichen Recht komplexer dar. Wie die Simeonsöhne erklären (vv. 2817-2821), hat Jesus bei seiner Taufe im Jordan dem Taufwasser die Qualität verliehen, den Tod abzuwaschen, der von Adames ubertrite / uf al die werlt geerbet was (vv. 2820 f.). In den folgenden Versen führen sie aus, dass für die Erlösung der Menschheit von der Erbsünde die Taufe und der Kreuzestod Jesu auschlaggebend gewesen seien, der für die Sünden der Menschen gemartert worden sei (vv. 2822-2827). Die enge Verbindung von Kreuzestod, Erlösung und Taufe war schon in der Longinus-Szene präsent (vv. 1848-1855), da dort gesagt wird, dass mit dem aus der Seitenwunde fließenden Wasser und Blut zum Vorteil der Menschheit der Tod abgewaschen worden sei, der von Adames ubertrite / uf al die werlt was geerbet (vv. 1852 f.). 598 Indem der neue Bund, die neue e , mit der Taufe die Kraft hat, die Erbsünde aufzuheben, erweist er sich als Teil des Erlösungswerks, das im Evangelium Nicodemi als Rechtshandeln Gottes begriffen wird. Bereits in dem das Werk einleitenden Lehrdialog werden Sündenfall und Erlösung in einen rechtlichen Zusammenhang gestellt, der dann im Verlauf des Werks vor allem in 595 In dem etwas versöhnlicheren Teil des Schlussexkurses ab v. 5294, in dem ,die Juden‘ mit Israel angeredet werden (zum Bezug auf Rm 11,26 vgl. Schulze 2002, S. 121), wird ihnen ein nicht intentionales falsches Gesetzesverständnis unterstellt: Sie glaubten zwar, Gottes Gebot Folge zu leisten, es sei aber nicht der Fall, denn sie vertrauten Gott nicht völlig (vv. 5300-5308). In Handschrift G, die diesen Teil des Schlussexkurses nicht enthält (s. dazu o. S. 142, Anm. 474; Anm. 478) wird über ,die Juden‘ gesagt, dass sie die alte e verlassen und sich von der neuen e losgesagt hätten; sie hätten sich Gott entfremdet und seien ihm unlieb (G, vv. 4908-4914, zitiert nach Piper 1888). Nach dieser Textversion steht die Gottesferne ,die Juden‘ bereits fest. Dieser Vorannahme entsprechend konzentriert sich das Autor-Ich in der Schlusspartie auf die Ermahnung der Christen, denen Erlösung gewiss sei, es sei denn, sie verschmähten die neue e (G, vv. 5150-5154). 596 Der Text arbeitet mit dem Konzept der Kollektivschuld und differenziert kaum zwischen den am Prozess beteiligten Juden und den Juden als religiöser Gruppe. 597 Daneben wird das Verhältnis zwischen den religiösen Ordnungen als Konkurrenz begriffen: ,Den Juden‘ wird vorgeworfen, die christliche e ( unse e ) zugunsten ihrer eigenen zu schwächen (vv. 4999; 5002-5006). Vgl. Mikosch (2010, S. 66 f.; 78) dazu, wie über die nähere Bestimmung des Wortes ê eine Abgrenzung von ,den Juden‘ erfolgen kann: In der 15. Predigt des Speculum ecclesiae begegneten nebeneinander die Bezeichnungen div e des herren Moysi , alte e und ivden e . Während die beiden ersten Ausdrücke sowohl auf eine Kontinuität als auch auf eine Diskontinuität zum Christentum hin interpretiert werden könnten, stehe letzterer allein für die Absetzung von ,den Juden‘. Ein ähnliches Spektrum lässt sich im Evangelium Nicodemi beobachten, wobei die eindeutige Abgrenzung über Possessivpronomen vorgenommen wird. 598 Schon seit Augustinus war die Vorstellung verbreitet, dass sich aus der Seitenwunde die Sakramente ergossen hätten (vgl. Kemper 2006, S. 434). Zur eucharistischen Deutung des Blutes vgl. auch Bynum 2001. <?page no="165"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 165 Exkursen und in der Bekehrungsrede Adrians weiter entfaltet wird. 599 Den dem ,Schüler‘ in den Mund gelegten bohrenden Fragen, warum Gott den verbotenen Baum ins Paradies gesetzt und warum er den Menschen nicht so stark geschaffen habe, dass er der Versuchung widerstanden hätte (vv. 1-29), begegnet die autoritative Stimme des Textes letztlich mit einem Verweis auf Gottes Unergründlichkeit, auf die man mit Gottvertrauen reagieren müsse (vv. 291-300; 5351-5392). 600 Klar ausgearbeitet werden aber die Mechanismen des Heilsgeschehens, die sich grob, wie folgt, skizzieren lassen: Gott hat den Sündenfall vorausgewusst (vv. 20 f.). Da er den Menschen aus schwacher Materie geschaffen hat, trägt er eine Mitverantwortung an dessen Fall. 601 Daraus erwächst ihm eine Verpflichtung, den Menschen zu erlösen: Got der muste heilen von gotlicher ehte den menschen zu rehte, wend er von mutwiller kur also cranc und also mur von nihte in 602 hiez werden. (vv. 216-221) Die Wortwahl legt nahe, dass es sich um eine Rechtsverpflichtung handelt, 603 wobei deren Bezugspunkt nicht eine gesetzte Rechtsordnung ist, sondern das, was ,recht‘ im Sinne von ,richtig‘, ,angemessen‘ ist. 604 Gott richtet sich nach diesem Prinzip und gehorcht damit einer inneren Notwendigkeit, die seinem Wesen entspricht. Das lässt sich ebenfalls aus der Wort- 599 Vgl. eine Analyse der einschlägigen Passagen bei Wiedmer 1977, S. 25-83. Zur Interpretation und geistesgeschichtlichen Einordnung vgl. auch Manuwald 2014. Im Folgenden werden nur einzelne Aspekte herausgegriffen, die für die Frage nach Rechtsordnungen relevant sind. 600 In vv. 291-300 spricht der ,Lehrer‘; die Dialoghaftigkeit des Textes ist da aber schon lange aufgegeben, sodass die Stimme des ,Lehrers‘ kaum von der des Autor-Ich zu trennen ist. Dem Autor-Ich wird man wohl auch die das Werk beschließende predigthafte Passage zuordnen können. 601 Von du was sin schepphere, / so vil so ers geruchte / und selbe schulde da suchte, / an sinem valle schuldic (vv. 258-261). Mit er in v. 259 dürfte Adam bzw. der Mensch gemeint sein (anders Wiedmer 1977, S. 58), vgl. (aus der fingierten Rede Jesu) zur schult Adams und Evas auch v. 1979 (vgl. dazu Wiedmer ebd., S. 70). Während schult in Bezug auf Adam und Eva als ein ,Vergehen‘ interpretiert werden kann, ist in Bezug auf Gott die neutrale Bedeutungskomponente der Urheberschaft anzunehmen (vgl. dazu L exer ; WMU, s. v.). 602 in fehlt in G. 603 Vgl. auch vv. 2098-2105 aus dem Auslegungsexkurs, in denen die Inkarnation damit erklärt wird, dass Gott sune mit der Menschheit haben wollte. 604 ehte bzw. echte ist eine Substantivbildung zum niederdeutschen Adjektiv echt , das mhd. êhaft entspricht (vgl. dazu Seebold 1981, S. 79-81); Handschrift G (s. o. S. 142, Anm. 474) liest an dieser Stelle æhte (zitiert nach Piper 1888). Niederdeutsche Elemente sind in der Heinrich von Hesler-Überlieferung nichts Ungewöhnliches (vgl. dazu Helm 1902, S. LXXIV-LXXXI; Honemann 2008 [2000], S. 51 mit Anm. 13). Für echt , echte als Substantiv sind im Mittelniederdeutschen Handwörterbuch - neben dem ehelichen Stand und der ehelichen Geburt mit den daraus abgeleiteten Rechten - ,Recht, Gesetz, Gesetzmäßigkeit, Berechtigung‘ als Bedeutungen angegeben. Weiterführender erscheint es, für die Interpretation von der in BMZ (s. v.) formulierten Grundbedeutung von êhaft auszugehen: „was durch satzung oder herkommen für eine person oder gemeinde recht oder pflicht ist“ (vgl. auch MWB, s. v. 2). Vgl. auch das MWB, wo echte als Nebenform von ahte aufgefasst ist und für ahte u. a. „Art, Geartetheit, Charakter, Gestalt, Verfassung, Beschaffenheit“ (s. v. 2.2) als Bedeutungen angegeben sind. Zur Interpretation von zu rehte und ehte in der zitierten Textstelle vgl. auch Manuwald 2014, S. 672. <?page no="166"?> 166 3 Variationen der Rechtsthematik wahl erschließen, denn das in der zitierten Textstelle verwendete Wort müezen drückt in erster Linie ein Sollen aus, keinen Zwang von außen. 605 Der ursprüngliche Wille Gottes, das zu tun, was ,recht‘ ist, hat jedoch Konsequenzen, die sein weiteres Handeln bestimmen. 606 Denn Inkarnation und Passion sind, so ist es jedenfalls Adrian in seiner Bekehrungsrede in den Mund gelegt, eine Folge davon, dass Gott seiner Treuepflicht gegenüber den Menschen 607 Folge leistet (vv. 4136-4159) und es den elichen ehten Gottes widersprochen hätte, dabei die Rechte der Hölle zu missachten. Voraussetzung für diese Argumentation ist die Vorstellung, dass der Teufel durch den Sündenfall ein Recht auf die Menschheit erworben hat und durch die Inkarnation getäuscht wird: 608 Do koufte sie got der gute uz mit sin selbes blute . 609 Anders kund iz niht geschen, daz het er selbe wol gesen, do sie sich hete gevalt, er enwolde dan begen gewalt wider sinen elichen ehten an den helleschen knehten. (vv. 4105-4112) 610 Offenbar soll jedoch ausdrücklich vermieden werden, dass das Handeln Gottes prädestiniert erscheint. Gerade in Bezug auf Jesus wird im Evangelium Nicodemi betont, dass er vil fri und unbetwungen (v. 1753) den Tod gewählt habe, sodass nicht der Eindruck einer äußeren Notwendigkeit erweckt wird. 611 Allerdings wird auch die spannungsvolle Situation, dass die Erlösung der Menschheit nur über ein irdisches (Unrechts)urteil 612 erreicht werden 605 Nach BMZ (s. v.) leitet sich die Bedeutung „nothwendiger weise geschehen, nothwendiger weise thun, müssen, gezwungen sein“ daraus ab, dass das, was geschieht, eine Folge göttlicher Fügung ist. Bei Gott fallen Wille und Notwendigkeit zusammen. Entsprechend lässt sich das Verb twingen in v. 150 als Ausdruck eines inneren Dranges deuten. 606 Hier liegen Parallelen zur necessitas immutabilitatis der Scholastiker vor (vgl. dazu Manuwald 2014, S. 677 f.). Vgl. auch das Verhältnis von necessitas praecedens und necessitas sequens bei Anselm von Canterbury (vgl. dazu Dunthorne 2012, S. 121 [in Bezug auf Cur deus homo 2,17]). 607 Zu den lehnrechtlichen Implikationen vgl. Wiedmer 1977, S. 82. Gottes truwe wird aber nicht nur in Adrians Bekehrungsrede an den Lehnsmann Vespasian thematisiert. Auch die Seelen in der Hölle interpretieren die Erlösung als Ausdruck von Gottes truwe (vv. 3006-3010). 608 S. dazu o. S. 93, Anm. 171. Während sich Satan im Evangelium Nicodemi durch die Weisheit Jesu ,überlistet‘ fühlt ( „O wisheit aller liste! / Mich hat vorlistiget din list! / […] “ , vv. 3336 f.), interpretiert das Höllenvolk dessen Niederlage als gerechtes Urteil (vv. 3408-3411). 609 Zur Vorstellung der Erlösung als Handel mit dem Teufel vgl. auch Jesu Rede in der Hölle (vv. 3484-3487) und den Schlussexkurs ( und kouft in uz der ehte, / da in der tufel hete braht , vv. 5330 f.). 610 Aus Gottes Willen zur Erlösung erwächst daher nach der Darstellung Adrians der Plan zur Inkarnation (vv. 4160-4187). 611 Vgl. auch eine entsprechende Stelle in den Erklärungen Adrians (vv. 4020-4029), die den zitierten Versen zur ,Notwendigkeit‘ von Inkarnation und Passion vorausgeht. 612 In vv. 2116 f. ist die Unrechtmäßigkeit des Urteils nicht benannt, sie ergibt sich aber aus dem Gesamtzusammenhang des Evangelium Nicodemi , in dem die am Prozess Beteiligten für ihr Unrecht zur Rechenschaft gezogen werden. Vgl. auch den Kommentar des Höllenvolks, dass Jesus (trotz seiner göttlichen Macht) als Unschuldiger habe über sich urteilen lassen (vv. 3434-3437). Die paradoxe Situation ist in der Apokalypse (vv. 12 884-12 898) noch deutlicher zum Ausdruck gebracht: Wen daz her mit gedult leit / Den tot vors vater gesichte, / Daz her sin recht gerichte / Der menscheit machte genediclich, / Wen her liez richten uber sich / Vor dem irdischen gerichte, / Dar her entleib im an nichte. / Diz unrecht der gerechte leit / Dar um daz her die menscheit / Uz sines vater echte / Wider zu gnaden brechte. / Sus <?page no="167"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 167 kann, nicht ausgespart, indem in einem imaginierten Dialog die menschliche Natur Jesu der göttlichen ihr Leid klagt (vv. 2112-2165). Bereits vorher war zugespitzt der Gedanke formuliert worden (vv. 1658-1669), dass sich Jesus (als Mensch) vor dem Tod fürchte, den er doch (als Gott, so muss man ergänzen) selbst in die Welt gesetzt habe, der menscheit zu rachen, / die sin gebot zubrachen (vv. 1665 f.). Mit rache als Vergeltung von Unrecht ist ein weiteres Rechtsprinzip benannt, nach dem Gott handelt; 613 zugleich wird über das Wort gebot seine Rolle als ,Gesetzgeber‘ deutlich. 614 Dass es geahndet wird, wenn die Menschen den von Gott erlassenen Regeln nicht folgen, ist für die ursprüngliche Normübertretung beim Sündenfall relevant, wird aber auch das Urteil beim Jüngsten Gericht bestimmen, wenn ‚Klage‘ gegen die Menschen erhoben wird ( rede gebende der clage, / die uf sie do wirt getan , vv. 3708f . ) und nur die erlöst werden, die sich gottesfürchtig und gut verhalten haben (vv. 180-196; 3705-3712). 615 Aus den verschiedenen Textstellen lässt sich erschließen, dass Gott Maßstab und Durchsetzer des rehten ist, nach dem er sich aber zugleich auch selbst ausrichtet. Dass Gott Inbegriff des rehten ist, wird im Evangelium Nicodemi nur auf der Figurenebene (von den Gesandten des Kaisers) in Bezug auf Jesus formuliert, der als des rehten ein reht gesprinc (v. 4273) bezeichnet wird. 616 Außerdem eröffnet die Übersetzung von iusto illi (vgl. Mt 27,19) als den rehten in der Warnung der Procula an Pilatus (v. 922) die Lektüremöglichkeit, dass Jesus nicht nur der ,Gerechte‘, sondern auch der Inbegriff des ,Richtigen‘ und ,Wahrhaften‘ ist. 617 Angesichts dieses umfassenden Rechtsbegriffs stellt sich die Frage, ob die hier zum Ausdruck kommenden Vorstellungen von reht überhaupt an juristische Rechtsbegriffe rückzubinden sind. Ohne postulieren zu wollen, dass sich hinter den einzelnen Aussagen ein kohärentes Konzept verbergen muss, kann man doch feststellen, dass die Vorstellung von Gott als Inbegriff des rehten dem Konzept der rectitudo ähnelt, wie es Anselm von Canterbury entwickelt hat, der rectitudo als Grundlage von veritas und iustitia ansieht. 618 In welopfert her sich alle tage / Sime vater vor unse clage, / Die der tuvel uf uns claget, / Als her unser sunde saget. 613 Vgl. BMZ, s. v.; zum Bedeutungsspektrum von râche vgl. auch L exer ; DRW; WMU, s. v.; zu den rechtlichen Implikationen vgl. Manuwald 2018a. 614 gebot bezeichnet im Evangelium Nicodemi sowohl konkrete Anweisungen (z. B. von Gottvater an seinen Sohn [v. 1950], von Adam an seinen Sohn Seth [v. 2941] oder auch von Gott an die Erde [vv. 2366 f., hier gebot als Verbform]) als auch allgemeine Regeln (z. B. Jesu Gebot zur gegenseitigen Waschung [vv. 452-456], das Verbot an Adam und Eva [vv. 1666; 1970], die zehn Gebote [vv. 1356; 2779] bzw. das, was Gott oder geistliche Autoritäten wollen [vv. 1167; 1322; 3738; 4973; 5300]). Außerdem wird das Wort gebraucht, um Machtverhältnisse im Sinne von Gebotsgewalt auszudrücken (vgl. vv. 2111; 3049; 3149; 3269; 4550). Immer schwingt eine normative Komponente mit, die offensichtlich wird, wenn gesagt wird, dass der Antichrist dem Volk sein gebot ,setzt‘ (v. 3623). Vgl. dazu auch BMZ; L exer ; MWB; DRW, s. v. 615 Dementsprechend betonen Elias und Enoch mit dem Ausdruck daz bibende urteil (v. 3602) das mit dem Jüngsten Gericht verbundene Furchtpotenzial. 616 Umgekehrt sieht der zum Christentum bekehrte Tiberius in den heidnischen Göttern irrere des rehten , außerdem werrere des slehten und storere des waren vrides (vv. 4560-4565). Zum Konzept des ,wahren Friedens‘ an dieser Stelle vgl. Hagenlocher 1992, S. 121. 617 Vgl. zum entsprechenden Bedeutungsspektrum des Adjektivs reht BMZ; L exer ; DRW; WMU, s. v. 618 Vgl. z. B. Söhngen 1970; McGrath 2005, S. 77; Dunthorne 2012, S. 121-124 (mit weiterer Literatur). Parallelen gibt es auch, was die Übereinstimmung von Wille und Notwendigkeit bei Jesu Erleiden des Kreuzestodes angeht (vgl. zu Anselms Konzept Dunthorne ebd.). <?page no="168"?> 168 3 Variationen der Rechtsthematik chem Verhältnis steht dann aber das ,Recht‘ Gottes zu dem der Menschen? 619 Das Problem hat - nicht nur bei Anselm - auch eine sprachphilosophische Dimension: Inwiefern sind menschliche Gerechtigkeitsbegriffe überhaupt auf Gott übertragbar? 620 Im Evangelium Nicodemi gibt es auf der sprachlichen Ebene zahlreiche Berührungspunkte zwischen der göttlichen und der menschlichen Rechtssphäre, die von einzelnen Wörtern bis zu ganzen Versen reichen. Die Wiederholungen sind nicht nur ein Stilmittel, sondern lassen sich auch als Signale lesen, die dazu auffordern, verschiedene Stellen und so auch göttliches und menschliches Rechtshandeln miteinander zu vergleichen. Zum Beispiel ist der Frau des Pilatus bei der Warnung an ihren Mann das Argument in den Mund gelegt, dass es nicht seinen ehten zieme, den gerehten zu verurteilen (vv. 921 f.). Als ehte wird auch der Maßstab Gottes für die rechtskonforme Erlösung der Menschen bzw. seine Verpflichtung gegenüber den helleschen knehten benannt (vv. 217 f.; 4111 f.). Während Gottes Handlungsmaßstab von innen kommt, kann sich die ehte bei Pilatus auch auf die ihm von außen verliehene Funktion des Richters beziehen. In beiden Fällen soll aber ein gerechter Zustand wiederhergestellt bzw. erhalten werden. Kategoriale Unterschiede im Sprechen über menschliches und göttliches Rechtshandeln sind nicht festzustellen. Ein vergleichbarer Wortlaut muss jedoch nicht mit inhaltlichen Entsprechungen einhergehen. So wird in einem Exkurs erklärt, der Kreuzestod Christi sei ein Akt des Erbarmens vonseiten Gottes gewesen (vv. 1734-1740). Dieser Akt wird dann näher erläutert: so schuldic wir doch waren gewesen zu manigen iaren und gevallen an daz unreht, daz er for den schuldigen kneht den unschuldigen son gab an daz cruze und an daz grab und zu der grozen arbeit, daz was ein gotlich mildicheit. (vv. 1741-1748) Die Formulierungen korrespondieren mit der Forderung des Pilatus in der Barrabas-Szene „ […] / Hat den schuldigen kneht, / lat den unschuldigen gen.“ (vv. 1300 f.), alles andere wäre Unrecht (vv. 1298 f.). Der inhaltliche Gegensatz zwischen den beiden Textstellen hebt das Exzeptionelle des Erlösungsgeschehens hervor, lässt aber auch das Paradox, dass die Erlösung durch irdisches Unrecht erreicht wird, deutlich zutage treten. Es ist charakteristisch für das Evangelium Nicodemi , dass der Widerstreit zwischen iustitia und misericordia nirgendwo ausdiskutiert wird. 621 Stattdessen sagt der Erzähler im Auslegungsexkurs zu den Worten Jesu am Kreuz dezidiert in der Gegenüberstellung von Gottheit und Menschsein, dass Gottes (subjektives) Recht irbarmen sei, während den Menschen die Klage bliebe (vv. 2129 f.). 622 619 McGrath (2005, S. 77) schreibt in Bezug auf Anselm: „Thus, the justice which regulates the affairs of humans […] cannot be considered to be identical with the justice which regulates God’s dealings with humanity.“ 620 Vgl. McGrath 2005, S. 89-92. 621 Der von Adrian skizzierte Erlösungsrat (vv. 4160-4172) hätte sich dafür angeboten, das Motiv des Streites der vier Töchter Gottes, also auch zwischen iustitia und misericordia , einzubauen. Vgl. zu dem Motiv grundlegend Ohly 1994. 622 Im Prolog ist nicht vom Erbarmen Gottes die Rede, aber davon, dass seine senfte otmute , gotlich gute und unzellich milde ihn zur Erlösung des Menschen bewogen hätten (vv. 159-165). <?page no="169"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 169 Aus diesem Auslegungsexkurs ist darüber hinaus aber auch zu erschließen, dass göttliches Rechtshandeln und menschliches (Un)Rechtshandeln nicht nur terminologisch, sondern auch kausal in Verbindung stehen: Die Worte Jesu, warum Gott ihn verlassen habe, werden zunächst dahingehend interpretiert, dass Gott ihn der Welt zu urteile überlassen habe, die ihn zum Tode verurteile (vv. 2112-2119). In einer die Interpretation erläuternden hypothetischen Rede des Menschen Jesu an seine göttliche Natur wird die Möglichkeit der Welt zu einem solchen Urteil dann als Konsequenz der nach göttlichem Willen erfolgten ,Verurteilung‘ der Welt gedeutet (vv. 2148-2156), die hier wohl als Begnadigung zu verstehen ist. 623 Hinter den Übereinstimmungen auf der Wortebene verbergen sich wiederum inhaltliche Gegensätze; zugleich wird jedoch eine Entsprechung auf der Ebene der rechtlichen Vorgänge nahegelegt: Gott und die Menschen fällen Urteile, wobei Gottes Urteil von Erbarmen geprägt sein kann, auf jeden Fall mit dem ihm eigenen Recht konform ist. Solche Konvergenzen werden im Schlussteil des Textes inhaltlich unterfüttert, wenn nicht mehr das komplexe Erlösungsgeschehen, sondern die Bestrafung von Unrecht im Vordergrund steht. Die auf die Erzählung von der Verurteilung ,der Juden‘ durch Vespasian folgende Invektive gegen die Juden (vv. 4714-5392) nimmt zwar teilweise den Charakter einer selbstständigen Predigt gegen die Kammerknechtschaft an, 624 schließt aber klar an den vorhergehenden Text an 625 und bildet ein Gegengewicht zum Lehrdialog zu Beginn des Textes. Ging es dort um die ,Notwendigkeit‘ der Erlösung, wird im Schlussteil aus der Erlösung die ,Notwendigkeit‘ zur Bestrafung ,der Juden‘ hergeleitet: Set daz soldet ir bewarn, wen daz gerihte uwer ist. Hat uch geloset Jesus Crist von den geisten bosen, so soldet ir in ouch losen von disen unreinen geisten, die ime nie truwe leisten und nimmer neheine wolden. Iz wirt u al vorgolden in disem libe unde dort, gerechet ir niht gotes mort unde trostet uch der habe, die si u selben brechen abe. (vv. 4942-4954) 623 Vgl. dazu Manuwald 2014, S. 681-683. 624 Zum Fokus auf die Kammerknechtschaft im Evangelium Nicodemi vgl. Schreckenberg 1994, S. 360 f.; zum Konzept der Kammerknechtschaft vgl. Kisch 1978, S. 54 f.; Magin 1999, S. 35 f. 625 Vgl. Masser 1976, S. 124: „Nicht ohne Interesse ist übrigens zu sehen, an welcher Stelle Hesler zu so scharfen Wendungen findet: am Ende seiner Dichtung über das Evangelium Nicodemi, wo er gewissermaßen in einem epiloghaften Ausklang des Werks die Brücke von dem, was er über die Bosheit der Juden dem Heiland gegenüber zu erzählen hatte, zur Gegenwart schlägt, in der sich immer noch die gleiche Schlechtigkeit und Verstocktheit zeige. So führt ein gerader Weg von der epischen Darstellung der Passio Christi über die Genugtuung, daß die Juden nach der Zerstörung Jerusalems als Knechte verkauft wurden, bis hin zu den üblichen Ratschlägen, wie man mit den in der eigenen Zeit lebenden Juden verfahren solle.“ <?page no="170"?> 170 3 Variationen der Rechtsthematik Adressiert sind die Adeligen, die sich zu Herren über andere machen, obwohl doch vor Gott alle Menschen gleich und wegen der Erbsünde erlösungsbedürftig seien (vv. 4856-4919). 626 Aus der von den Herren beanspruchten Vorrangstellung leitet der Sprecher bestimmte Pflichten ab, die mit den Anforderungen des weltlichen Schwerts korrespondieren (vv. 4920-4941). Entsprechend wird in den zitierten Versen damit argumentiert, dass ihre Gerichtsgewalt die Herren in die Lage versetze, für den Gottesmord Vergeltung zu üben. In einer infamen Gleichsetzung werden ,die Juden‘ als unreine Geister mit den Teufeln als böse Geister parallelisiert. Gleichzeitig wird den Herren - wie Jesus! - eine Erlösungsmacht zugesprochen. Im weiteren Verlauf der Argumentation werden sie jedoch eher mit Pilatus parallelisiert, wenn es heißt, sie dürften nicht zulassen, dass Jesus vor ihnen so schmählich behandelt würde, wenn sie es doch ändern könnten. 627 Voraussetzung für diese Parallelisierung ist die Gleichsetzung der ,jetzt‘ lebenden Juden mit den am Passionsgeschehen beteiligten Juden. 628 Sie wird im Rahmen der diskutierten Textstelle mit fortgesetztem gotteslästerlichem Verhalten begründet ( die got schulden, die juden, / und noch hute schelden , vv. 4960 f.), 629 die Kollektivschuld ergibt sich aber auch aus dem im Verlauf des Werkes immer wieder zitierten Blutruf (erstmals vv. 1528 f.). 630 Wenn verlangt wird, die Herren sollten Fehlverhalten ahnden, so entspricht dieses Rechtsprinzip dem des strafenden Gottes. Dass Gottes Verhalten als Vorbild dienen soll, wird in den abschließenden Versen des Textes ausdrücklich gesagt. 631 Gottes Handeln soll aber nicht nur Vorbild für das weltliche Rechtshandeln sein, sondern das menschliche und das göttliche Urteil über ,die Juden‘ werden auch in einen chronologischen Zusammenhang gebracht: Die Verurteilung ,der Juden‘ durch Vespasian wird im Schlussteil als Ächtung interpretiert (vv. 5198-5201). Die nachfolgenden Herrscher hätten die Urteile der vorhergehenden gefestigt (vv. 5202-5211). ,Heute‘ seien die Verhältnisse so, dass nur Gott ,die Juden‘ von Acht und Bann befreien könne ( daz sie nieman losen mac / von ahte noch von banne, / iz entu got selbe danne , vv. 5214-5216), und zwar dann, wenn der 626 Zum Gleichheitsgrundsatz vgl. Helm / Ziesemer (1951, S. 83 f. mit Anm. 222 [S. 190]), die indirekt auf den Sachsenspiegel (Ldr. III 42) verweisen (vgl. dazu Repgen 2010). 627 Sal daz wesen uwer got / und uwer irlosere, / den ir so offenbere / vor u sus lazet handelen, / so wol so irz gewandelen / im an den wihten mohtet , / ob ir so vil im tohtet, / daz ir in torstet gesturen! (vv. 4974-4981). Vgl. den Vorwurf an Pilatus (vv. 4352-4356): „ […] / Soldes du Jesum lazen / vor dir alsus handelen, / so wol so dus gewandelen / im an den wihten mohtes, / ob du zun eren tohtes! / […] .“ 628 Vgl. dazu Schulze 2002, S. 119 f. Zu der bereits seit frühchristlicher Zeit bestehenden Tendenz, das biblische Geschehen zu enthistorisieren und die antijüdischen Passagen der Bibel „auf alle Juden zu allen Zeiten“ zu beziehen, vgl. Rommel 2002, S. 189. 629 Umgekehrt wird die Kreuzigung kollektivierend als Angriff auf die Ehre derjenigen verstanden, die Gottes gebot folgen (vv. 4969-4973). 630 Bereits zu Beginn der Erzählung ist antizipatorisch von der vorteilden juden nit (v. 394) die Rede, dort dominiert die Vorstellung eines Kollektivs sogar die Handlungslogik, denn von der Anklage ,der Juden‘ gegen Jesus wird erst später die Rede sein. Während hier das Wort verteilen wahrscheinlich im Sinne von ,verdammen‘ zu verstehen ist, gewinnt es vom Schlussexkurs her betrachtet auch die Bedeutungskomponente ,verurteilen‘ (zum Bedeutungsspektrum vgl. BMZ; L exer ; WMU, s. v.). 631 enber swes got wil enbern, / und halde, swaz er ouch halde (vv. 5364 f.). Der Schlussabschnitt (vv. 5360-5392) ist zwar formal an Israel (v. 5294) gerichtet, enthält aber eine allgemeine Glaubenslehre und spricht alle an, die nach dem ewigen Leben streben (vv. 5360-5363). Vgl. dazu auch Schulze 2002, S. 122. <?page no="171"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 171 Jüngste Tag herannahe. Wer sich dann zum Christentum bekehre, werde mit uns bewahrt (vv. 5212-5225). 632 Dass ,die Juden‘ auch unter Bann stehen, ergibt sich aus den vorangehenden Versen, nach denen jeder, der unredelichen lebet / und dem gelouben widerstrebet (vv. 5193 f.), unter ,römischem Bann‘ und der Reichsacht stehe (vv. 5195-5197). Abgesehen davon, dass der Bann als römisch bezeichnet wird, werden keine kirchlichen Autoritäten genannt, und der Bann erscheint hier wie die Acht (die für ,die Juden‘ zusätzlich von Vespasian hergeleitet wird) als eine automatisch auf Fehlverhalten folgende Strafe. Dass der Bann das Seelenheil gefährdet, war bereits an früherer Stelle gesagt worden (vv. 5010-5020). Er wird hier mit einer Verfluchung durch Gott in Verbindung gebracht, die eintritt, wenn gotes reht unrihtet wird (v. 5023). Diese wider Gott gerichtete Verhaltensweise 633 ist in eine Reihe gestellt mit anderen, die auf derselben Ebene liegen: dass man sich denen zugesellt, die den Bann verdienen (v. 5021), dass gegen Gott gekämpft wird (v. 5024), dass die Gedanken nicht auf Gott gerichtet werden (v. 5025). Gottes reht könnte in diesem Zusammenhang subjektiv zu verstehen sein, also das meinen, was Gott in angemessener Weise zukommt. Dazu gehört aber auch gerechtes Verhalten der Menschen, sodass Gottes reht objektiv auch auf eine irdische Rechtsordnung verweisen könnte, die nicht verletzt werden darf. Dass sich jemand, der sich gegen das ‚Rechte‘ wendet, zugleich gegen Gott richtet, klingt auch im Parallelismus der Beschimpfung des Pilatus durch die Römer an „O du gotes widerwarte, / verchviant des rehten, / […] “ (vv. 4348 f.). Ausgearbeitet ist der Gedanke von Gott als Geltungsgrund allen Rechts aber nicht. Vielmehr werden nach der Auflistung der gegen Gott gerichteten Verhaltensweisen flankierend aus dem weltlichen Recht Handlungsmaßstäbe für die Herren abgeleitet, die solche Verhaltensweisen vermeiden sollen. Aus der rhetorisch gestellten Frage, ob die Herren die Juden in Frieden leben lassen sollen, die das nicht täten, wenn sie die Übermacht hätten, ergibt sich, dass es um das Zusammenleben im irdischen Bereich geht (vv. 5028-5032). Vor allem solle man sich nicht mit den als unreine diet (v. 5033) bezeichneten Juden gemein machen. Zur Verdeutlichung verweist der Erzähler auf Analogien aus zwei verschiedenen Kontexten: 1. Wenn man kranke mit gesunden Pferden zusammen in einen Stall stelle, würden alle krank; genauso ansteckend sei der nit der Juden (vv. 5035-5041). 634 Diese aus der Praxis- 632 Die Vorstellung, dass ,die Juden‘ sich dann zum Christentum bekehren werden (vv. 5218 f.), steht in einer paulinischen Tradition (vgl. dazu Schulze 2002, S. 111), die eigentlich ein zur Selbstverfluchung durch den Blutruf alternatives Konzept darstellt (vgl. dazu Magin 1999, S. 17 f.). Das Motiv der Bekehrung ,der Juden‘ am Ende der Zeiten ist jedoch an verschiedenen Stellen des Textes präsent (vv. 3748-3757; 4738-4743 [dort in Bezug auf Gog und Magog, die in ihrer Abgeschiedenheit vom Christentum nichts vernommen hätten]). Außerdem aktiviert der Text (unter Berufung auf Lc 14,23) auch das Konzept der gewaltsamen Bekehrung ,der Juden‘ (vv. 5133-5143). Vgl. zur Stelle Helm 1899, S. 140; Schulze 2002, S. 120 f.; zu verschiedenen Positionen zur Zwangstaufe Magin ebd., S. 164-185. 633 Gewarnt davor werden hier die herren (v. 4920), obwohl die in den umgebenden Versen genannten Klischees (vv. 5021-5027) nach der Textlogik eher ,den Juden‘ zuzuordnen wären. Vgl. aber auch die Vorwürfe (vv. 5226-5235) an die Fürsten (v. 5189). In den Fragmenten der Erlösung hingegen sind mit denjenigen, die gottes recht unrichten (v. 80, zitiert nach Mentzel-Reuters 2013), tatsächlich ,die Juden‘ gemeint (vv. 83-85). Zu den Korrespondenzen zwischen dem Evangelium Nicodemi und der Erlösung an dieser Stelle vgl. auch Mentzel-Reuters 2014, S. 60. 634 Bereits vorher war versucht worden, über Bezüge zur kulturellen Praxis Überzeugungskraft zu gewinnen: Keiner der Angeredeten würde jemanden leben lassen, der seine Mutter geschmäht habe (vv. 4835-4840) - impliziert ist, dass sie für diejenigen, die den Schöpfer schmähen (v. 4790), nicht die- <?page no="172"?> 172 3 Variationen der Rechtsthematik erfahrung abgeleitete These wird durch den Hinweis auf Worte des Psalmisten David bestätigt und überhöht (vv. 5042-5049). Er habe gesagt: „Mit den heiligen wirdestu heilic / und wirdes in ebenteilic, / mit den vorkarten vorkart.“ (vv. 5045-5047) 635 Aus einem weiteren Halbvers des zitierten Psalms ( „Mit den unschuldigen unschuldic“ , v. 5049) wird dann umgekehrt abgeleitet, dass die Herren schuldig würden - mit entsprechenden Konsequenzen beim Jüngsten Gericht, wenn sie, die als Vertreter Gottes fungieren sollten, ihn nicht verteidigten oder wenigstens die Feinde Gottes (,die Juden‘ und ihre Kinder) mieden (vv. 5050-5060). 2. Wenn einer einen Dieb verstecke, verdiene er dieselbe Strafe wie dieser; er sei genauso schuldig wie derjenige, der stiehlt (vv. 5061-5068). Der zuletzt genannte Rechtsgrundsatz wird als ein alt erteilet reht (v. 5062) eingeführt, also als ein Prinzip, das durch wiederholte Urteile zur Rechtsgewohnheit 636 geworden ist. Tatsächlich werden in verschiedenen deutschrechtlichen Quellen Täter und Begünstigter gleichgestellt. 637 Der Vergleichsbereich des Strafrechts wird dann noch dazu genutzt, um auszuführen, dass, wenn Diebe und Räuber nicht versteckt, sondern konsequent bestraft würden, 638 sie von ihren Verbrechen abließen (vv. 5069-5078). 639 Das gelte analog auch für ,die Juden‘, deren Wucher als Diebstahl zu betrachten sei: Sie seien nur mutig, wenn man ihnen keinen Widerstand leiste (vv. 5079-5132). 640 Die Anhäufung verschiedenster Argumente dafür, warum man ,die Juden‘ in drucke (v. 5246) halten solle, zeugt vom agitatorischen Charakter 641 des Schlussteils des Evangelium selben Konsequenzen zögen. Wer solche Leute als Lehnsmänner aufnehme, verdiene die Vierteilung (vv. 4841-4855). 635 Vgl. Psalm 17[18],26, der als Sprichwort verbreitet war (vgl. TPMA, s. v. ,heilig‘ [Bd. 6, S. 4 f.]). 636 Zum Begriff vgl. Dilcher u. a. 1992. 637 Vgl. dazu His 1920, S. 152-167; Kaufmann 1998a, Sp. 140. Nach Helm (1902, S. 262) bezieht sich die gesamte Stelle auf Hehlerei, die man aber allenfalls aus dem Verstecken ableiten kann; für die Analogie zum Umgang mit ,den Juden‘ ist es wichtig, dass es eine Person ist, die verborgen und deren Schuld daher nicht geahndet wird. Zur Vorstellung einer Mitschuld durch Verstecken eines Diebes vgl. Freidanks Bescheidenheit , vv. 46,23 f. (vgl. dazu Grimm 1899, Bd. 2, S. 195; zur Freidank-Rezeption vgl. Heiser 2006): Swâ ein diep den andern hilt / da enweiz ich, weder mê stielt (zitiert nach Bezzenberger 1872; s. auch TPMA, Bd. 12, S. 144 f. [mit einem Abdruck einer späteren lateinischen Übersetzung]). Die Gleichheit der Strafe in Bezug auf Diebstahl und Hehlerei ist für die Entstehungszeit des Evangelium Nicodemi viel besser belegt als in Bezug auf Diebstahl und Begünstigung (vgl. Sachsenspiegel , Ldr. II 13,6; vgl. dazu His ebd., S. 164 f.). Auf das entsprechende Rechtssprichwort (s. u. S. 310) wird auch in der Apokalypse Heinrichs von Hesler verwiesen: Iz ist ein alt gesprochen wort, / Ir habet iz dicke gehort: / Her ist so schuldic der da hilt, / Als der dieb der da stilt. (vv. 2961-2964; zitiert nach Helm 1907). 638 Die in vv. 5071-5073 genannten Strafen des Erhängens für Diebe und der Enthauptung für Räuber sind z. B. auch im Sachsenspiegel (Ldr. II 13,1 und 5) zu finden. Vgl. zu diesen typischen Strafen auch His 1920, S. 491-495. 639 Ein ähnlicher Gedankengang findet sich in dem in Anm. 637 anzitierten Freidank-Spruch: Ein Dieb unterließe ohne Versteckmöglichkeit den Diebstahl (vv. 46,25-47,1); die Richter verfolgten die Diebe nicht konsequent genug (vv. 48,5-8; zitiert nach Bezzenberger 1872). 640 Zur Klassifizierung ,der Juden‘ als Diebe vgl. Schulze 2002, S. 120. Auch der Bildbereich der Ansteckungsgefahr, die von den maselsiechen Pferden (v. 5035) ausgeht, wird noch einmal explizit auf ,die Juden‘ übertragen, indem ihr Atem mit dem Gestank von maselsiechen gleichgesetzt wird (vv. 5151 f.). 641 Der Vergleich mit Dieben lässt sich der ,kriminellen Ausgrenzung‘ zuordnen, der Vergleich mit Trägern ansteckender Krankheiten der ,sozialen Ausgrenzung‘ (zu diesen im Spätmittelalter weiter verbreiteten Strategien vgl. Ernst 2000, S. 22-25). Deshalb ist es umso problematischer, wie Malm (2011, Sp. 973), aus dem Wucher-Vorwurf auf finanzielle Probleme des Autors zu schließen. <?page no="173"?> 3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 173 Nicodemi . 642 Die Kompilation der Argumente vermittelt aber auch den Eindruck, dass die verschiedenen Rechtszusammenhänge (bis auf die e der Juden und die der Christen) nicht in einem konkurrierenden Verhältnis zu sehen sind: Was ,richtig‘ ist, kann aus dem rechtlichen Prinzipien folgenden Heilsgeschehen ebenso begründet werden wie aus zeitgenössischen Rechtsgewohnheiten. Die Verantwortung für die Durchsetzung dessen, was der Erzähler im menschlichen Leben als ‚richtig‘ betrachtet, und die Ahndung bei Zuwiderhandeln sieht er in den Händen der irdischen Obrigkeit, die ihre Macht von Gott hat und ihn auf Erden vertritt, und er erwartet letztlich einen endgültigen Vollzug des ‚Richtigen‘ in der Gerichtsbarkeit Gottes am Jüngsten Tag. 3.4.5 Verflechtungen göttlichen und menschlichen Rechtshandelns Wie die Argumentation mit Beispielen aus dem zeitgenössischen Gewohnheitsrecht im Schlussteil des Werks erkennen lässt, war der Verfasser offenbar mit der Rechtspraxis vertraut. Trotzdem sind bei der Prozessschilderung zeitgenössische verfahrensrechtliche Details nur am Rande eingeflossen. Das könnte mit der Quellentreue Heinrichs von Hesler zusammenhängen oder damit, dass ein zeitlich zurückliegendes Verfahren dargestellt werden soll. Da aber gerade bei Erläuterungen zu römischen Rechtssitten ein Kurzschluss mit solchen aus der Gegenwart erfolgt, liegt der Grund für die insgesamt sparsame Ausgestaltung des Verfahrens vermutlich eher darin, dass das Erzählinteresse nicht so sehr auf dem jeweiligen Prozedere, vielmehr auf grundsätzlichen Fragen von Recht und Unrecht liegt. Bezeichnenderweise sind mit den Aussagen des Erzählers zu dem (als dem Recht gemäß oder als ungerecht beurteilten) Vorgehen des Pilatus innerhalb der Prozessschilderung Hinzufügungen gegenüber der Quelle vorhanden. Verbunden mit der Frage danach, was gerechtes Handeln bedeutet, ist die Frage nach Schuld und Unschuld der Handelnden, die im Pilatus-Veronika-Teil des Textes dominant wird. Durch die Konzentration auf solche Fragen gewinnt die Rechtsthematik eine moraldidaktische Ausrichtung. Dem grundsätzlichen Interesse an Recht und Unrecht entspricht ein ebenso grundsätzlicher Zugang zur Wahrheit. Auch hier treten verfahrensrechtliche Fragen wie die Beweisaufnahme im Prozess in den Hintergrund. Verfahren zur Wahrheitssicherung werden vor allem dann thematisiert, wenn es um die Erlösungswahrheit geht. Der Text begreift diese Wahrheit als Rechtszusammenhang: In der Erklärung der Interdependenz von Sündenfall und Erlösung, die der Text in der moralisch-rechtlichen Verpflichtung Gottes gegenüber dem von ihm geschaffenen (schwachen) Menschen und den Rechtsansprüchen des Teufels begründet sieht, liegt sicherlich die Hauptfunktion der Rechtsmotivik im Evangelium Nicodemi . Aus der Konzeption der theologischen Zusammenhänge werden im Schlussteil des Textes wiederum Prinzipien für das Rechtshandeln in der eigenen Zeit entwickelt, das aufgrund des inhaltlichen Kontextes im Wesentlichen auf das Verhältnis zu Gott bezogen bleibt: Mit der Bestrafung des Pilatus, der seiner richterlichen Verpflichtung nicht nachgekommen ist, einen Unschuldigen vor einem Unrechtsurteil zu bewahren, und der Bestrafungsaktion Vespasians gegenüber ,den Juden‘ ist für den Erzähler die Schuld ,der Juden‘ nicht gesühnt. Nach der Logik des Textes erwächst aus Gottes Rechtsverpflichtung zur Erlösung 642 Eine bedingte Duldung (zu entsprechenden kirchlichen Positionen vgl. Magin 1999, S. 19-21) wird ihnen aber zugestanden (vv. 5239-5263). Vgl. dazu auch Schulze 2002, S. 122. <?page no="174"?> 174 3 Variationen der Rechtsthematik die Rechtsverpflichtung der Christen zur Bestrafung ,der Juden‘, soweit sie sich der neuen e verschließen. Diese Logik hat jedoch mit Problemen zu kämpfen, denn sie arbeitet mit Analogien zwischen göttlichem und menschlichem Rechtshandeln, die allerdings nur partiell funktionieren: Bei der Erlösung hat sich Gott über das für Menschen gültige Prinzip, dass der Schuldige bestraft werden muss, 643 hinweggesetzt. So steht dem Versuch, Gottes Handeln mit Rechtstermini nachvollziehbar zu machen, letztlich die Erkenntnis gegenüber, dass seine urteil (vv. 291-293) unergründlich sind. 3.5 Zur Hybridität der Erzählwelt Wie die Lektüren der Kerntexte deutlich gemacht haben, weist der Umgang mit rechtlichen Aspekten in den drei Texten Gemeinsamkeiten auf, die sich nicht allein aus dem als Prätext fungierenden lateinischen Nikodemusevangelium ableiten lassen (z. B. bei der Ausgestaltung der juristischen Züge der Befragungsszenen nach Jesu Auferstehung). Daneben zeigt sich jedoch eine erhebliche Variationsbreite im Zugriff auf die Rechtsthematik, da die Rechtsmotive jeweils in einen speziellen internen Bezugsrahmen eingespannt sind: In Diu urstende etwa ist über die Kette der Zeugenaussagen mit ihrer je eigenen Konzeptionalisierung von ,Wahrheit‘ der juristische Wahrheitsbegriff mit dem der Heilswahrheit enggeführt, in Christi Hort werden durch detaillierte Schilderungen des Verfahrensablaufs die rechtsethischen Aspekte besonders herausgearbeitet, die im Gesamttext in Zusammenhang mit der Frage nach der richtigen Lebensführung stehen, und im Evangelium Nicodemi wird das menschliche Rechtshandeln vor dem Hintergrund göttlichen Rechtshandelns interpretiert. Um das Erzählte zu plausibilisieren, werden in allen drei Texten jeweils mehrere Strategien eingesetzt, die sich teilweise überlagern: Abgesehen davon, dass der Textinhalt insgesamt durch Quellenberufungen abgesichert wird, werden einzelne Handlungen erläutert. Historische Begründungen (Pilatus ließ die Fahnen vor sich hertragen, weil es damals so üblich war) stehen dabei neben heilsgeschichtlichen Zusammenhängen von Verheißung und Erfüllung ( Jesus schwieg, weil es so prophezeit war). An der problematischen Stelle, an der der Prozess gegen Jesus mit dem tradierten Ergebnis zu Ende kommen muss, findet sich in Diu urstende und indirekt auch in Christi Hort eine punktuelle Berufung auf die Quelle, die das Berichtete legitimiert, den Erzähler aber zugleich von der Verantwortung dafür entlastet. In den Kontext von Strategien der Plausibilisierung ist auch die partielle Anpassung des Erzählten an die zeitgenössische Kultur - sowohl an die ,Alltagsrealität‘, speziell an das Rechtswesen, als auch an literarisch vorgeprägte Muster (höfische Botenszenen) - einzuordnen. In allen drei Texten werden bei der Schilderung des Prozessablaufes - in unterschiedlichem Ausmaß 644 - nur einzelne Elemente aktualisiert, sodass das Verfahren insgesamt einen uneinheitlichen Eindruck vermittelt: Es gibt Gerichtsschranken und Urteilsfragen, aber das deutschrechtliche Verfahren ist weder vollständig repräsentiert (keine Vorspre- 643 Das Konzept der Gnadenjustiz auf Erden (vgl. dazu Schreiner 2012) ist im Evangelium Nicodemi nicht präsent. 644 Vgl. dazu Klibanski (1925, S. 15 f.; 22 f.; 27), der daraus auch jeweils Rückschlüsse auf die juristischen Kenntnisse der Verfasser zog. <?page no="175"?> 3.5 Zur Hybridität der Erzählwelt 175 cher! ), noch sind dem ,deutschen‘ Recht widersprechende Züge getilgt 645 (Unterredung des Richters mit dem Angeklagten allein). Die Gründe für die inkonsequente Gestaltung der rechtlichen Abläufe liegen angesichts der stofflichen Vorgaben auf der Hand, aber die Tatsache, dass man die Logik eines ,deutschrechtlichen‘ Verfahrens eben nicht absolut setzen kann, verweist auf die hybride Natur der Erzählwelt insgesamt: Sie konstituiert sich teilweise unter Bezug auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit, weicht aber in anderen Punkten davon ab. 646 Systematisch betrachtet ähnelt die Erzählwelt der eines fiktionalen Textes, bei dem der zeitgenössische Rezipient automatisch Lücken nach dem Realitätsprinzip füllt, aber auch damit umgehen kann, dass manches anders funktioniert. Ebenso ist für einen historischen Rezipienten zu vermuten, dass er mit der schrangen eine zeitgenössische Gerichtssituation assoziiert hat, 647 aber das Auftreten einer Frau als Zeugin, das bezogen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit nicht ohne Weiteres plausibel wäre, akzeptiert hat, zumal dafür mit den biblischen Heilungswundern ein anderer Kontext aktiviert werden konnte. Umgekehrt kann nicht angenommen werden, dass jeder Bezug auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit für die Rezipienten kohärenzstiftend gewesen sein muss bzw. so angelegt ist. Gerade die dadurch aktivierten Assoziationsräume können auch dazu führen, dass neue Fragen aufgeworfen werden. Bei einer Richterfigur, die die Entscheidung über das Urteil eindeutig delegiert, stellt sich z. B. verstärkt die Frage, worin ihre Schuld bei der Verurteilung eines Unschuldigen besteht. Möglicherweise sind manche Ausgestaltungen in den Texten als Reaktionen auf solche implizit aufgeworfenen Fragen zu verstehen. 648 Produktionsästhetisch betrachtet ist es wenig überraschend, dass der Grad der kulturellen Aneignung sich auch als von der Autorität der Vorlage abhängig erwiesen hat: Bei der legendarisch tradierten Bestrafung des Pilatus war der Entwurf eines römischen Hofgerichts nach zeitgenössischem Muster ohne Weiteres möglich ( Christi Hort ), beim Prozess gegen Jesus hatte der überlieferte Ablauf eine größere Dominanz. Aber bei der Analyse der Prozessszenen in den drei Kerntexten ließ sich auch erkennen, dass das Ausmaß der Aktualisierung höchst unterschiedlich ist (in Diu urstende und Christi Hort ausgeprägter als im Evangelium Nicodemi ), d. h., sogar bei dem stark kanonisierten Stoff bestand eine gewisse erzählerische Freiheit. Vor diesem Hintergrund kann es als gestalterische Entscheidung gelten, dass in allen drei Texten überhaupt ein partieller Anschluss an die zeitgenössische Erfahrungswelt gesucht wurde, und es gilt, die mit dieser Entscheidung verbundenen Implikationen zu erkunden. 645 Am ehesten ist das noch in Diu urstende der Fall. 646 Mit der Hybridität der dargestellten Rechtswelt stehen die Kerntexte nicht allein (s. o. S. 28 f. zum Rolandslied und zur Heldenepik allgemein). 647 Zu solchen Assoziationsvorgängen im Einzelnen s. u. Kap. 4. 648 Deshalb werden in Kap. 5 mögliche Bezugsrahmen rekonstruiert. Zur Frage der Kohärenzerwartung s. Kap. 5.4. <?page no="177"?> 4.1 Explizite kontextuelle Verankerung 177 4 Verfahren der kulturellen Aneignung in Diu urstende, Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi Bei der interpretierenden Lektüre der Kerntexte (Kap. 3) wurden - besonders bei der Analyse der Gerichtsverfahren gegen Jesus und gegen Pilatus - punktuell Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit (soweit sie sich rekonstruieren lässt) herangezogen, um Sinnpotenziale zu erschließen. Dieser selektive Zugriff auf externe Bezugsfelder muss, da das ,Hinterland‘ der Texte prinzipiell unbegrenzt ist, durch eine systematisierende Analyse der Mechanismen, mit denen sich die Texte explizit oder implizit auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit beziehen, gestützt werden. Die folgenden Ausführungen sollen daher zum einen die bei der Untersuchung der Kerntexte vorgenommenen Kontextualisierungen auf eine grundsätzlichere Argumentationsbasis stellen, zum anderen die Basis dafür schaffen, zeitgenössische Diskussionszusammenhänge als weitere externe Bezugsfelder zu erkunden (Kap. 5). Auch wenn das Ziel der Analyse letztlich darin besteht, die Funktion von Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit bei der Rezeption der Texte (näherungsweise) zu bestimmen, setzen die Überlegungen an einem produktionsästhetischen Punkt an, nämlich bei den Verfahren der kulturellen Aneignung eines historisch fremden Stoffes, weil sich hier Bezugnahmen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit besonders gut identifizieren lassen. Bevor die Funktionsweise impliziter Aktualisierungen aufgeschlüsselt wird, soll in einem ersten Schritt untersucht werden, welches kulturelle Umfeld die Erzähler für sich und ihre Rezipienten explizit als gemeinsam reklamieren und in welcher Form das geschieht. Denn diese kontextuelle Verankerung kann auch als indirekte Aufforderung an den Rezipienten gelesen werden, weitere Bezüge zu diesem Umfeld herzustellen. 1 4.1 Explizite kontextuelle Verankerung Wenn im Folgenden das Erzählen heilsgeschichtlich bedeutsamer Ereignisse unter der übergeordneten Perspektive der Aneignung eines ,historischen‘ Stoffes betrachtet wird, so sei damit die spezifische Zeitstruktur des Heilsgeschehens nicht geleugnet: Es hat eine historische Dimension, aber auch eine zukünftige, da das Heilsgeschehen aus christlicher Perspektive noch nicht abgeschlossen ist. 2 Zwar zeichnet sich gerade die Passion Jesu durch einen dezidierten Geschichtsbezug aus, 3 doch verweist sie ebenso zurück auf die alttestamentarischen Prophezeiungen wie voraus auf die Gegenwart des einzelnen christlichen Subjekts, für das der Glaube an die Passion die Verheißung auf die eigene Erlösung 1 Vgl. Herman 2002, S. 331 (Zitat o. auf S. 32 f.). 2 Vgl. dazu z. B. Keller 2004, S. 54 (mit weiterer Literatur): „Einerseits ist diese [sc. die Erlösung] im Leben und Sterben von Jesus Christus schon geschehen, was jener vertikalen Achse entspricht, in welche der Erlöser gewissermaßen sprunghaft eingebrochen ist, als er in den Schoß der Jungfrau, in die Welt, ans Kreuz und in den Himmel ,gesprungen‘ ist. Andererseits ist die Erlösung erst endgültig, wenn sie am Ende der Zeit ratifiziert wird.“ 3 Vgl. dazu Frey 2009. <?page no="178"?> 178 4 Verfahren der kulturellen Aneignung bedeutet. 4 Außerdem wird das Christusgeschehen in der Liturgie in besonderer Weise vergegenwärtigt. 5 Die Verschränkungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart scheinen punktuell auch in den Kerntexten auf. Eine explizite Adressierung der liturgischen Gegenwart bzw. das Verschmelzen der Ebenen von liturgischem und historischem Geschehen findet sich nicht nur im Gebetsteil von Christi Hort , wenn die Karfreitagslesung aufgerufen wird und das betende Ich in das auf diese Weise präsente Heilsgeschehen unmittelbar involviert erscheint (vv. 2056-2064), sondern im Evangelium Nicodemi auch innerhalb der Narration bei der Schilderung des letzten Abendmahls: ein brot nam er in die hant, zu berge hub er iz zuhant, und tet daruber einen segen, den die priestere allewegen uber dem altare sprechen, e sie daz brot zubrechen. ( Evangelium Nicodemi , vv. 463-468) Hier wird das Verhalten der Priester nicht mit dem von Jesus erklärt, sondern das Verhalten Jesu durch den Verweis auf einen aus der Liturgie allenthalben bekannten Vorgang erläutert. Dass die Liturgie das Modell für die Anlage der ganzen Szene war, 6 zeigt auch das Detail, dass Jesus in den heiligen drin namen Wasser und Wein in den Kelch gießt (vv. 457-462). Dass das für Heinrich von Hesler ein selbstverständlicher liturgischer Vorgang war, lässt sich mit Versen aus seiner Apokalypse untermauern (vv. 12 903 f.; 13 055; 13 068 f.). 7 Die Verschränkung verschiedener Zeitebenen ist in den Kerntexten jedoch nicht dominant. Sie konzipieren die Passion Jesu eher als historisches Geschehen, und zwar auch im Hinblick auf die darin wurzelnde liturgische Festordnung. So kommt im Evangelium Nicodemi ein Bewusstsein davon zum Ausdruck, dass das einmalige Heilsereignis ein christliches Fest begründet hat. Zum Beispiel wird die Handlungssequenz am leeren Grab mit den Versen eingeleitet: An dem dritten tage vru, / daz osteren ist genant nu (vv. 2333 f.). 8 Die Zeitangabe nu stellt zugleich einen Bezug zur Gegenwart des Erzählers dar. Solche Zeitangaben treten jedoch auch in Figurenreden auf, wenn etwa Joseph bei der Erzählung von seiner Befreiung die Worte in den Mund gelegt sind „In der dritten naht, / daz osteren nu genant ist, / […] “ (vv. 2588 f.). Das nu in der wörtlichen Rede Josephs dürfte sich wohl kaum auf seine eigene Gegenwart beziehen, sondern einen Anachronismus darstellen, 4 Vgl. Kiening (2011, S. 123), mit Bezug auf Augustinus, Confessiones 10,43,68: „Die Faktizität der Passion […] dient […] als Tertium zwischen Vergangenheit und Gegenwart, als mittleres Glied des Erlösungs g e s c h e h e n s , das sichtbar macht, was zuvor schon sich ankündigte und immer noch wirksam ist.“ 5 Vgl. dazu z. B. Berndt 2013. 6 Explizit angegeben sind zu Beginn der Abendmahlsszene die Evangelien als Quelle: […] / do begieng die mandate / unse herre Jesus Crist, / also do geschriben ist / an der marter buche (vv. 428-431). Die traditionsstiftenden Worte Jesu bei der Einsetzung des Abendmahls und der Fußwaschung (vgl. Io 13,12-15) sind im Evangelium Nicodemi (vv. 451-456; 469-479) übernommen worden. 7 Zur Bereitung des Kelchs vgl. Martimort 1963, S. 397. Zur Ausdeutung des Wassers vgl. auch Jungmann (1962, S. 371 f.), der die Beimischung von (warmem) Wasser allerdings der byzantinischen Liturgie zuordnet. 8 Zu „Deiktika und Performativa“, die Gegenwärtigkeit erzeugen, vgl. Kiening 2006, S. 27 (mit weiterer Literatur). <?page no="179"?> 4.1 Explizite kontextuelle Verankerung 179 wie er sich auch häufig in Geistlichen Spielen findet. 9 An der entsprechenden Stelle der Handlung in Christi Hort lässt der Erzähler Joseph ganz selbstverständlich vom Karfreitag sprechen. 10 Eine solche anachronistische Verwendung christlicher Zeitangaben schließt aber keineswegs ein historisches Bewusstsein davon aus, dass eine zeitliche Distanz zu den geschilderten Ereignissen besteht und sich das Christentum als Religion erst etablieren musste, denn als in Christi Hort Jesus die Jünger auffordert, für seine Himmelfahrt zum Ölberg zu kommen, und sie daraufhin alle Christen versammeln, wird ausdrücklich gesagt, dass es noch wenige gewesen seien (vv. 2839-2841). Als historisches Geschehen hat das Heilsgeschehen nach den Kerntexten auch direkte Konsequenzen für die ,heutige‘ Gesellschaftsstruktur: Diu urstende und vor allem das Evangelium Nicodemi leiten die Stellung ,der Juden‘ aus dem Heilsgeschehen ab. 11 Anders als ätiologische Erzählungen mit bloßem Erklärungswert hat diese historische Herleitung der Stellung ,der Juden‘ einen appellativen Charakter, da nach der Logik der Texte von allen Christen ein Eintreten gegen ,die Juden‘ verlangt wird. 12 Neben der Erläuterung der unmittelbaren Konsequenzen des Heilsgeschehens für die Gegenwart und der Engführung mit der Liturgie gibt es noch einen dritten Typus des Bezugs auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit, der für den Zugang zur Heilsgeschichte spezifisch ist: die Auslegung des Erzählten bezogen auf das eigene Leben oder auf Fragen des richtigen moralischen Verhaltens in der Gegenwart. Im Evangelium Nicodemi (vv. 1872-1882) beispielsweise wird aus der Erlösung des guten Schächers abgeleitet, dass für uns - eine Gemeinschaft sündiger Menschen - ebenfalls Hoffnung auf Erlösung bestehe. Um moralisch falsches Verhalten geht es bei der in Christi Hort (vv. 2568-2582) anlässlich der Bestechung der Grabwächter eingefügten Reflexion darüber, dass ,noch‘ mancher seine Seele durch unrecht erworbenes Gut verwirke. In Diu urstende (vv. 159-170) wird beklagt, dass die Falschheit des Judas ,noch‘ in der Welt zu finden sei; arglistige Täuschung werde aber denselben Lohn finden, den Judas bekommen habe. Auffällig ist bei diesen Moralisierungen, dass es sich nicht eigentlich um tropologische Auslegungen handelt, die auf den Einzelnen bezogen wären, sondern dass allgemein Verhaltensweisen mit ihren Konsequenzen benannt werden. Bei den Auslegungen wird vom Erzähler jeweils eine eigene Erfahrungswirklichkeit entworfen, die sicherlich keinen Abbildcharakter hat, aber doch plausibel gewirkt haben 9 Vgl. Schmid 1975, S. 71-79. Entsprechende Anachronismen kommen auch in Übersetzungen von Evangelienperikopen vor, wenn „Heilige Personen wie Johannes Baptista […] in der Übersetzung als sant bezeichnet“ werden, und zwar auch innerhalb von Figurenreden (vgl. Palmer 2004, S. 143). Die Benennung von Johannes dem Täufer als Johannes baptiste durch die Simeonsöhne im Evangelium Nicodemi (v. 2897) dürfte ebenfalls durch die Gegenwart des Textes geprägt sein, wenn auch dessen Täuferfunktion - anders als die Heiligkeit - schon von den Figuren in der erzählten Zeit erkannt werden kann. 10 ‘ […] / do i r mich am charvrîtag / indaz gewelwe bespartet / […] ’ (vv. 3322 f.). 11 Vgl. Diu urstende , vv. 2149-2162: Immer mêre für die zît / […] / hât ir chünne noch den strît , / […]. Im Evangelium Nicodemi heißt es bereits vor Beginn des Schlussexkurses mit seiner deutlichen Ausrichtung auf die Entstehungszeit des Textes (vv. 4714-5392): Von du sint sie uns eigen (v. 4713). Der Vers bezieht sich auf die Verurteilung ,der Juden‘ durch Vespasian, die aber ihrerseits aus dem Heilsgeschehen abgeleitet wird. Die heilsgeschichtliche Begründung für den geforderten Umgang mit ,den Juden‘ wird im Evangelium Nicodemi zusätzlich durch den Verweis auf Analogien in der Alltagswelt gestützt (s. dazu o. S. 171 f.). 12 Eine ausdrückliche Aufforderung dazu wird nach dem rekonstruierten Text von Diu urstende erhoben: wâfen über sie geschrît! (v. 2160). <?page no="180"?> 180 4 Verfahren der kulturellen Aneignung muss. Dass ,heutige‘ Situationen zu ,damaligen‘ in Bezug gesetzt werden, ist möglich, weil der moralische Gehalt nicht zeitgebunden ist bzw. das Wertesystem sich gegenüber dem aus den biblischen Szenen abzuleitenden nicht entscheidend verändert hat, ja sich sogar teilweise aus ihm speist. Bei der Judas-Passage in Diu urstende scheint aber zu der expliziten Übertragung in die Gegenwart noch eine Deutung des Verrats vor dem kulturellen Hintergrund der Entstehungszeit des Textes gekommen zu sein, denn die Information, dass Judas von der Abendmahlstafel weggegangen sei (vgl. Io 13,30), wird in Diu urstende (vv. 155-158) angeführt, um die Größe seines Verrats zu verdeutlichen. Darin wird man eine Anspielung auf den Bruch des Vertrauensverhältnisses sehen können, wie es das gemeinsame Mahl voraussetzt. 13 Noch komplexer sind die Verfahren der kulturellen Aneignung an der Stelle in Christi Hort (vv. 1817-1826), an der vom Erzähler die Tatsache, dass ,die Juden‘ die Gerichtsschranken verlassen, kommentiert wird. Die Gemeinsamkeit zwischen ,heute‘ und ,damals‘ wird wieder in einer bestimmten Verhaltensweise gesehen: dem Vermeiden von Befleckung durch Ansehen eines Todesurteils. Die ganze Situation des Verlassens des abgeschrankten Gerichtsbezirks ist aber nur vor dem Hintergrund eines konkreten kulturellen Umfeldes verständlich, das hier in die Vergangenheit zurückprojiziert ist und dann auf die Gegenwart bezogen ausgedeutet wird. Zwar ist bei dem Kommentar zum Verlassen der Gerichtsschranken wegen der negativen Grundeinstellung gegenüber ,den Juden‘ wahrscheinlich eine Missbilligung durch den Erzähler anzunehmen, sie wird aber nicht als solche kenntlich gemacht. An anderen Stellen in Christi Hort sind auch Bezüge zur Gegenwart zu beobachten, die keine moralische Ausdeutung implizieren, wenn zum Beispiel erläutert wird, dass die Jünger beim Fischen keine Beute gemacht hätten, als dicke vischæren noch geschiht (v. 2752). Bei solchen Erläuterungen ist der heilsgeschichtliche Gehalt nicht relevant, sondern dem historischen Geschehen wird durch den Bezug auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit Plausibilität verliehen. Da in den Kerntexten das Heilsgeschehen - ausgehend vom sensus historicus der Evangelien - überwiegend als vergangenes Geschehen dargestellt wird, zeigen sich an den bisher genannten Textstellen Verfahren der expliziten kontextuellen Verankerung, wie sie auch in anderen Erzählungen von etwas Vergangenem zu finden sind, zum Beispiel der Bezug auf ein ,heute‘, das dem Erzähler und den Rezipienten gemeinsam ist, ausgedrückt durch nu oder noch . Ein solcher gemeinsamer Erfahrungsraum wird auch suggeriert, wenn von den geschilderten Verhaltensweisen der Figuren gesagt wird, dass sie dem entsprechen, was ,man‘ machen soll. Das geschieht in Diu urstende trotz der judenfeindlichen Gesamttendenz sogar einmal in Bezug auf ,die Juden‘, als erzählt wird, dass sie die tumben von der Befragung Josephs durch die Hohepriester ausschließen (vv. 1320-1325). Der Erzähler kommentiert: swâ ma n umbe solh e sache trahtet und ze râte wirt, der tumben man dâ wol enbirt. ( Diu urstende , vv. 1326-1328) Ein strukturell vergleichbarer Kommentar findet sich in Christi Hort in Bezug auf die Ausstattung des Boten Adrian durch Pilatus (vv. 4113-4126): 13 Zur Verwerflichkeit eines solchen Verrats vgl. His 1920, S. 145; 148 f.; Schild 1998, bes. Sp. 794 zum Verrat am Gastgeber (mit Verweis auf eine Quelle aus dem 15. Jh.). <?page no="181"?> 4.1 Explizite kontextuelle Verankerung 181 den berait er shon unt wol als man werde potten schol, die man hohen herren senten wil von verren. ( Christi Hort , vv. 4117-4120) 14 Ob das hier vorausgesetzte Wissen darüber, wie man Boten ausstatten soll (mit üppigen Gastgeschenken, vv. 4121-4126), sich letztlich aus der Praxis oder aus literarischen Texten speist, ist für den Prozess der kulturellen Aneignung irrelevant. Das Bemühen des Erzählers in Christi Hort , das historisch ferne Geschehen von der eigenen Gegenwart ausgehend zu erschließen, wird besonders deutlich bei dem Kommentar zu dem weißen Tuch, das der ,Läufer‘ des Pilatus um den Hals trägt (vv. 1423-1429). Schon diese Aussagen über das Tuch sind eine von den Angaben im Nikodemusevangelium abweichende Konkretisierung, wo gesagt wird, dass der Läufer ein fasciale inuolutorium , das er in der Hand trug, ausgebreitet habe (cap. I 2). 15 Bei der Kommentierung in Christi Hort wird das Tragen eines solchen Tuches als Gewohnheit deklariert, die ,man‘, Junge und Alte, ,noch‘ jenseits des Meeres habe, d. h., das, was den ‚Läufer‘ auszeichnet, wird als Sitte anschlussfähig an die Gegenwart gemacht, aber zugleich in eine lokale Distanz verlegt. Dass das Passionsgeschehen überhaupt in einem geographisch fremden Raum stattfindet, wird in den hier analysierten Texten, von geographischen Angaben abgesehen, nicht thematisiert. Solche geographischen Angaben finden sich zum Beispiel in Christi Hort , wo der Erzähler angesichts des Pfingstwunders ,das Volk‘ erstaunt die Heimatregionen sämtlicher Leute aufzählen lässt (u. a. Ägypten und Libyen), die trotz ihrer unterschiedlichen Sprachen die Botschaft der Jünger verstehen könnten (vv. 2921-2961). Auf diese Weise wird die Vielfalt der Sprachen deutlich, es erfolgt aber kein ausdrücklicher Transfer wie etwa im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk in Bezug auf den Dialekt des Petrus. In der zweiten Auslegung 16 der Verleugnung Petri heißt es dort: Sand Pet ( er ) n er / chanden die dien ( er ) . di pei dem feiv ( er ) stuende ( n ) . pei sein ( er ) red wa ( n ) d si vo ( n ) / Jer ( usa ) l ( e ) m. vnd di von Galyle. di waren ain ( er ) sp ( ra ) ch. ab ( er ) si hete ( n ) niht ain we / is vnd ainen don zu d ( er ) red. als swab. vn ( d ) payr vn ( d ) steyr ( er ) . sint ain sp ( ra ) ch. / vn ( d ) gehebi ( t ) doch ni ( t ) d ( er ) red niht geleich. Also erchanden si auch sand pe / tern pei sein ( er ) red. wa ( n ) d er galyleisch redt. vnd niht Jerusalemisch. (Schaffhausen, Stadtbibl., Cod. Gen. 8, fol. 248r, Z. 9-14) 17 Dagegen genügt im Evangelium Nicodemi die Bemerkung eines Knechts über die galiläisch geprägte Sprache des Petrus (vv. 665-667; vgl. Mt 26,73), und es bleibt dem Rezipienten überlassen, sich sowohl das Fremdartige als auch die entsprechende eigene Erfahrung bewusst zu machen. Deutlicher als die geographische Distanz des Erzählers und seiner Adressaten gegenüber den erzählten Ereignissen wird in den Texten die historische Distanz dazu reflektiert, indem 14 Vgl. entsprechend vv. 3182-3184. 15 Was man unter einem fasciale inuolutorium zu verstehen hat (Turban, Band um fasces , Serviertuch als Teil der Ausstattung eines Dieners), ist umstritten (vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 127, Anm. 12). Auf jeden Fall muss es sich um ein größeres Tuch gehandelt haben, auf das man treten kann. Im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk ist dann von einem Handtuch (um den Hals) die Rede (s. u. S. 329 f.). 16 Vgl. den Überblick zum Textbestand der Göttweiger Handschrift (s. u. S. 326, Anm. 251) bei Niesner 2005, S. 196. Zu der in dieser Arbeit verwendeten Textgrundlage s. u. Kap. 6.3.2. 17 Zur Bedeutung dieser Stelle für die Lokalisierung des ( Klosterneuburger ) Evangelienwerks vgl. Kornrumpf 2004, Sp. 1105. <?page no="182"?> 182 4 Verfahren der kulturellen Aneignung das vergangene Heilsgeschehen, jedenfalls in Christi Hort und im Evangelium Nicodemi , ausdrücklich auch in der politischen Geschichte verortet wird: Im Evangelium Nicodemi wird nicht nur die Funktion der offenbar als erklärungsbedürftig empfundenen Statussymbole des Pilatus erläutert, sondern das Mitführen der ,Fahnen‘ ist auch konkret als eine römische Gerichtssitte benannt ( Do pflagen sie al geliche / uber romische riche, / […], vv. 835 f.). Aus dem deiktischen Do lässt sich der Standpunkt des Erzählers ableiten, der über Sitten in einer vergangenen Zeit spricht. In Christi Hort ist die Vergangenheit, von der erzählt wird, - wie im Prolog des Nikodemusevangeliums - durch eine konkrete Angabe zur Datierung präzisiert (vv. 1381-1395), und der Erzähler macht unmissverständlich klar, dass er und seine Adressaten ( wir [ z ], v. 1376; uns , v. 1391) auf Schriftquellen angewiesen seien. 18 Außerdem werden - wie im Evangelium Nicodemi - Zustände zur Zeit der Römer erklärt, die mit der Angabe hie bevor (v. 1327) zur Gegenwart des Erzählers in ein Verhältnis gesetzt sind. Wie schon bei der Textstelle, an der berichtet wird, dass ‚die Juden‘ die Gerichtsschranken verlassen, ist die explizite Benennung des zeitlichen Abstandes von impliziten Verfahren der kulturellen Aneignung begleitet, denn die Beschreibung der Machtverteilung rückt in der Wortwahl ( fursten , v. 1331, bzw. fu ͤ rsten , v. 1336; scepter unt chrône , v. 1339) und von der politischen Struktur her 19 die römischen Verhältnisse an die Gegenwart des Textes heran. 20 Gegenüber einer solchen impliziten Adressierung der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit 21 bleiben explizite Referenzen in den Kerntexten auf einzelne Stellen beschränkt, was angesichts des mehr narrativen als kommentierenden Charakters der Texte nicht verwundern kann. 22 Die punktuellen Verweise genügen aber, um für alle drei Texte zu belegen, dass die Ereignisse für ein zeitgenössisches christliches Publikum aufbereitet worden sind. Während Erzähler und Adressaten hinsichtlich ihrer Position in Zeit und Raum sowie ihrem Weltverständnis als eine Gemeinschaft inszeniert werden, 23 deuten sich hinsichtlich ihrer Bildung Unterschiede an: Die Erzähler in Diu urstende (vv. 44-47) und in Christi Hort (vv. 1377 f.) beanspruchen jeweils für sich, den Sprachtransfer vom Lateinischen ins Deutsche vollbracht zu haben, wohingegen die Übersetzungen lateinischer Einsprengsel in allen drei Werken 24 davon zeugen, dass Lateinkenntnisse beim Publikum nicht vorausgesetzt werden, auch wenn in Christi Hort die Gemeinschaft der Überlieferungsempfänger betont wird ( da von wirz in latin han , v. 1376). Die spezifische Rezipientenorientierung, die 18 Dass ,wir‘ ( uns , v. 370) von der Überlieferung (Evangelisten, Nikodemus) abhängig sind, lässt auch der Erzähler im Evangelium Nicodemi (vv. 369-381) erkennen; in Diu urstende (vv. 53-68) verweist der Erzähler auf die Aufzeichnungen des Eneas, denen man das Weiterleben der mære verdanke. 19 S. o. S. 128-131. 20 Die Darstellung der vergangenen Kultur ist unter dem generellen Paradigma der Interkulturalitätsforschung zu betrachten, „dass sich Weltbilder vor allem dort schärfen, wo sie an ihre Grenzen stoßen, dass die Selbstdeutung von Kulturen sich erst in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen herstellt […]“ (Münkler 2002, S. 324). 21 S. dazu im Einzelnen Kap. 4.2. 22 In Christi Hort treten explizite Bezugnahmen auf die Gegenwart (auch in den narrativen Passagen) noch am häufigsten auf. 23 Es wird also eine kollektive Identität im Sinne Straubs (1999, S. 103) entworfen: „Nach der hier vertretenen Auffassung sind kollektive Identitäten Konstrukte , die nichts anderes bezeichnen als eine näher zu spezifizierende Gemeinsamkeit im praktischen Selbst- und Weltverhältnis sowie im Selbst- und Weltverständnis einzelner.“ - Zur Diskussion um das Konzept der kollektiven Identität vgl. auch Jensen 2000. 24 S. dazu o. S. 72 f.; 109; 138, Anm. 438. <?page no="183"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 183 in der sprachlichen Hilfestellung fassbar ist, bietet eine Erklärung dafür, warum sich die genannten expliziten Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit vor allem auf Bereiche beziehen, die einem nicht-lateinkundigen Publikum zugänglich sind. 25 Aber auch die kulturelle Übersetzung, 26 wie sie implizit durch Anpassungen an den Sprachgebrauch und die Vorstellungswelt der anvisierten Rezipienten zum Ausdruck kommt, ist auf ein entsprechendes Zielpublikum zugeschnitten. 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit Bei Übersetzungen oder Bearbeitungen von Texten für Adressaten, denen das ursprüngliche kulturelle Umfeld der Ausgangstexte fremd ist, stellt der Umgang mit Realien 27 ein Kriterium dar, an dem sich die Übersetzungsbzw. Übertragungsprinzipien besonders deutlich ablesen lassen: Bleibt eine Übersetzung stark an der Ausgangssprache orientiert, sind auch die Bezeichnungen für Realien nur in ihrem ursprünglichen kulturellen Kontext verständlich, d. h., es sind in der Regel zusätzliche Erläuterungen nötig. Werden dagegen die im Ausgangstext vermittelten außersprachlichen Sachverhalte in die Sprache und Kultur des Zielpublikums übertragen, 28 gewinnt die Übersetzung kommunikative Qualität, 29 legt den Ausgangstext jedoch vereindeutigend fest. Das Grundproblem, wie Sachbezeichnungen aus einer fremden Kultur umzusetzen sind, stellt sich bei bibelepischen Texten, die sich übersetzungstechnisch als erweiterte Versübersetzungen begreifen lassen, 30 in demselben Maße, 31 auch wenn die Anforderungen hinsichtlich der ,textnormativen Äquivalenz‘ 32 an- 25 Die Bezugsfelder der Texte insgesamt müssen - gerade angesichts der Lateinkenntnisse der Autoren - nicht in gleicher Weise eingeschränkt sein (s. dazu u. Kap. 5). 26 Zur Übersetzung als Versuch der Überbrückung von „cultural gaps“ vgl. Djordević 2005, S. 11. Zum grundlegenden Problem der Übersetzbarkeit von Kulturen vgl. Shimada 1999, S. 146-150; Bachmann-Medick 2004; Koller / Henjum 2011 (Koller 1979), S. 54 f.; 163-170. 27 Dazu zählen in erster Linie Gegenstände und deren Bezeichnungen, aber auch immaterielle Vorstellungen, die sich etwa in Amtsbezeichnungen niederschlagen, sodass die Grenzen schwer zu bestimmen sind. Rouziès (2007, S. 232-236) unterscheidet bei seiner Analyse mittelalterlicher Sallust-Übersetzungen z. B. zwischen „réalités sociales et psychologiques, réalités politiques et institutionelles, réalités religieuses et matérielles“ (S. 233). Zum Problem der Wiedergabe von Sachbezeichnungen in Bibelübersetzungen vgl. z. B. Müller 2009 (in Bezug auf Notker III. von St. Gallen ); Wiesinger 2007 (in Bezug auf aktuelle Bibelübersetzungen). 28 Dann entsteht eine denotative Äquivalenz. Zu diesem Typus vgl. Koller / Henjum 2011 (Koller 1979), S. 219. Zur Debatte um den Äquivalenzbegriff vgl. ebd., S. 220-230; Stolze 2011, S. 87-104. Zur Kritik an Kollers Äquivalenzmodell vgl. auch Prunč 2012, S. 60-99. Wenn hier und im Folgenden wegen seiner Differenzierungskraft auf Kollers Äquivalenztypen Bezug genommen wird, soll damit nicht impliziert werden, dass der Ausgangstext auf einen einzigen Sinn festzulegen sei, noch dass vollständige Äquivalenz überhaupt erreicht werden könnte. 29 Die Bezeichnung ,kommunikative Übersetzungen‘ ist vor allem zur Bezeichnung eines bestimmten Typs von Bibelübersetzung eingebürgert, denen das Konzept der ,dynamischen Äquivalenz‘ zugrunde liegt (vgl. dazu Felber 2013). 30 Vgl. die schematische Übersicht bei Sonderegger 1998, S. 235, Abb. 15.2. Für eine Analyse des Heliand unter übersetzungstheoretischen Prämissen vgl. Gantert 1998, bes. S. 26-35. 31 Zu verschiedenen Ansätzen, Bibelübersetzungen typologisch zu ordnen, vgl. Salevsky 2001, hier bes. S. 124-126. 32 Vgl. dazu Koller / Henjum 2011 (Koller 1979), S. 219. <?page no="184"?> 184 4 Verfahren der kulturellen Aneignung ders gelagert sind als etwa bei Bibelübersetzungen in Prosa. 33 Wie bei Prosaübersetzungen kann sich bei bibelepischen Versdichtungen bereits auf der Ebene des Einzelwortes eine Adressierung der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit zeigen, wenn nämlich etwa für eine Sachbezeichnung ein Wort aus der Kultur zur Entstehungszeit des Textes gewählt ist. Darüber hinaus können sich Bibelepen aber eines breiteren Spektrums der kulturellen Adaptation bedienen, zu dem - neben expliziten Erläuterungen oder Vergleichen - auch szenische Ausgestaltungen gehören. Sie setzen oft an kulturell fremden Elementen an, die auch in der exegetischen Literatur Aufmerksamkeit gefunden haben und dort kommentiert worden sind, sodass ein Blick darauf gegebenenfalls helfen kann, um die impliziten Transformationsprozesse in den bibelepischen Texten einzuordnen. Um die in den Kerntexten gewählten Verfahrensweisen besser charakterisieren zu können, sind ihnen im Folgenden punktuell Lösungen aus den Prosaübersetzungen des Nikodemusevangeliums 34 gegenübergestellt, außerdem Passagen aus Der Kreuziger des Johannes von Frankenstein, einem exegetischen volkssprachigen Verstext, der durch Kommentierung von Sachverhalten, an denen er für zeitgenössische Leser Erklärungsbedarf sah, die Vermittlungsprobleme exemplarisch erkennbar macht. 35 Die Vergleichstexte, die später entstanden sind als die Kerntexte und zu ihnen nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, sind aus systematischen Gründen ausgewählt worden: Die Prosaübersetzungen teilen mit den Kerntexten das lateinische Nikodemusevangelium als Ausgangstext; 33 Unter normativen Gesichtspunkten ist auch zwischen der Übersetzung apokrypher und der kanonischer Texte zu unterscheiden; das Problem des historischen Abstandes ist jedoch bei spätantiken apokryphen Quellen ebenso zu bewältigen wie bei den kanonischen Evangelien. Übersetzungen antiker Texte können unter dem Einzelaspekt des Umgangs mit einer vergangenen Kultur ebenfalls als systematische Vergleichsbeispiele für die Übertragung biblischer Texte dienen (vgl. z. B. Küenzlen 2006, S. 349-357, zu „Aktualisierungstechniken“ in der Apuleius-Übersetzung des Agnolo Firenzuola [1524 / 25]; Rouziès 2007, zu Les Faits Des Romains als erster volkssprachiger Sallust-Übersetzung [1213 / 14]). Zur spätantiken und mittelalterlichen Diskussion über die besonderen Anforderungen einer Bibelübersetzung vgl. zusammenfassend Bieberstedt 2004, S. 41-47. 34 Für einen Überblick über die (unabhängig voneinander entstandenen) Prosafassungen vgl. Masser / Siller 1987, S. 20-110; Hoffmann 1997a, S. 304-317; 1997b, S. 344-349. Im Folgenden werden die von Masser / Siller vergebenen Siglen (A-I) verwendet; die bei Zitaten angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf den jeweiligen Text in Masser / Siller. Zur Datierung vgl. ebd., S. 20: „Wann die erste Übertragung vorgenommen wurde, ist nicht festzustellen und läßt sich auch schwer abschätzen. Man wird die Übersetzung des Evangeliums Nicodemi nicht von der allgemeinen Entwicklung der mittelhochdeutschen Prosaübersetzungen trennen wollen, so daß sich ein zu früher Ansatz einer mittelhochdeutschen Prosaversion von vornherein verbietet. Die älteste der uns bekanntgewordenen deutschen Handschriften stammt aus dem Jahre 1330 (Hs. H 1 ). Für die Annahme einer deutschen Nicodemus-Prosa schon wesentlich früher spricht vorläufig nichts.“ 35 Das im 14. Jahrhundert von einem österreichischen Johanniter ( krûzigêre ! ) verfasste Werk, für das aus verstechnischen Gründen eine Datierung vor 1350 vermutet wird (vgl. dazu Heger 1983, Sp. 596 f.), beruht auf einer Prosa-Passio (vgl. die Ausgabe von Ferber 1935), deren Zuschreibung an Matthäus von Krakau mittlerweile aus chronologischen Gründen bezweifelt wird (vgl. Worstbrock 1987, Sp. 174). „J. v. F. folgt in seiner Versübersetzung bis in die Überschriften hinein genau seiner Quelle. Die nach den vier Evangelien erzählten biblischen Vorgänge beschränken sich auf das Erlösungswerk und damit auf einen Teil der Heilsgeschichte. Vom Palmsonntagsgeschehen bis zur Grablegung Christi bringt ‘Der Kreuziger’ ( krûzigêre , nach dem ersten ‘Kreuzträger’ Jesus Christus, dessen Marter geschildert wird) eine gelehrt-theologische Auslegung des Passionsgeschehens in Form eines gereimten scholastischen Kommentars. […] Erklärungen fremder Wörter und Sachen, Zustände und Gebräuche […], Diskussion schwer verständlicher Textstellen oder der Meinungen kirchlicher Autoritäten […] nehmen breiten Raum ein.“ (Heger ebd., Sp. 597 f.). Der Text wird nach der Ausgabe von Khull 1882 zitiert. Zu Johannes von Frankenstein vgl. auch Zapf 2011b (inhaltlich weitgehend identisch mit Heger 1983). <?page no="185"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 185 Der Kreuziger geht - wie die Kerntexte - auf Elemente der ,deutschen‘ Rechtskultur ein, wie die Bearbeitung der lateinischen Vorlage zeigt. 36 Wenn in den Kerntexten von der Passion Jesu erzählt wird, dann sind für die Darstellung nicht nur die bereits angesprochenen historischen und geographischen Distanzen zu bewältigen, sondern die Ereignisse auch in einem religiösen Kontext zu verorten, der dem christlichen Zielpublikum unter Umständen nicht selbstverständlich war: Amtsträger wie ,Hohepriester‘ oder ein religiöses Fest wie das Passahfest mussten in irgendeiner Form in der Schilderung der Ereignisse Erwähnung finden. In den deutschen Versdichtungen sind dafür überwiegend Bezeichnungen aus einem christlichen Kontext gewählt: Kaiphas und Annas werden zum Beispiel in Diu urstende (v. 94) und im Evangelium Nicodemi (v. 792) bischof ( e ) genannt. 37 In Christi Hort , wo an einer Stelle sogar der Ausdruck der hohe priester (v. 3419 in Bezug auf Finees) belegt ist, bleibt die Übersetzung der Amtsbezeichnung für Kaiphas und Annas als fursten priester näher am Vorlagentext; 38 doch hat einer der drei Himmelfahrtszeugen, der priester Egeas (v. 3040), das christliche Amt eines Diakons verliehen bekommen (vv. 3044; 3396). 39 Passah wird an mehreren Stellen mit ,Ostern‘ wieder- 36 S. dazu u. S. 189; 197 f. Deutsche Übertragungen von Bibelkommentaren, wie die Übersetzungen der Catena aurea (vgl. die Editionen von Hörner 2008 / 2012a; 2012b), scheinen ein Feld zu sein, das bislang für die Frage nach kulturellen Adaptationen noch weitgehend unausgeschöpft ist. 37 In Diu urstende (v. 94) und im Evangelium Nicodemi (vv. 404 f.) wird (wie in Io 18,13) gesagt, dass Kaiphas das Amt ‚in diesem Jahr‘ innehatte. Die Angabe könnte als Andeutung einer zeitlichen Begrenzung verstanden werden, die den römischen Realitäten entspricht (wenn sie auch für Kaiphas und Annas historisch nicht zutrifft, vgl. Helm 1902, S. 226), aber für das Amt eines Bischofs untypisch ist. In Christi Hort ist eine längere Amtszeit impliziert, da es heißt, dass Johannes [sc. Annas] unt Cayphas damals ( pei den jaren ) in Jerusalem Hohepriester gewesen seien (vv. 1387-1390). 38 Kaiphas und Annas werden als d ie fursten priester (v. 1389) eingeführt. Der Ausdruck lehnt sich im Kontext der Passage wahrscheinlich an den Prolog des Nikodemusevangeliums an, in dem von Annas und Kaiphas als von principibus sacerdotum (Prolog, Z. 13 [Prologue (G / I)]; vgl. entsprechend Lc 3,2), den Führenden unter den Priestern, die Rede ist. Jaksche (1910) hat in v. 1389 ( d ie fursten priester waren ) überzeugend d ie statt des überlieferten d ( er ) konjiziert; die von ihm gesetzten Kommata vor d ie und nach fursten ( d ie fursten also als Apposition verstanden) scheinen dagegen nicht notwendig, denn in v. 3303 begegnet mit dem Ausdruck priester fursten (zu denen Kaiphas und Annas gerechnet werden) ebenfalls eine Art Kompositum. Die Vorstellung, dass Kaiphas und Annas Fürsten sind, war weiter verbreitet; so steht z. B. in der Frankfurter Handschrift (Fr) des Bremer Evangelistars (UB, Mgq 55) in der Übersetzung von Lc 3,2: vnde / ein furste der prister anna / vnde cayphas (zitiert nach Splett 1996, S. 12); in Der Kreuziger z. B. ein vurstlich êwarte (v. 5217); Der selbe gevurste bischof (v. 5257; zitiert nach Khull 1882) für princeps sacerdotum (Ferber 1935, S. 75, Z. 30) bzw. pontifex (Ferber ebd., S. 76, Z. 8, Variante Hs. A [Anm. 2]). Bei all diesen Belegen könnte das Konzept eines Fürstbischofs durchscheinen, das sich bruchlos mit der Angabe einer Herrschaft von Kaiphas und Annas im Prolog des Nikodemusevangeliums verbinden lässt ( sub principatu , Prolog, Z. 10 [Prologue (G / I)]). Im Evangelium Nicodemi heißt es von Kaiphas ausdrücklich: an deme stunt do d e r h o f / des jares und daz gerihte (vv. 404 f.; Hervorhebung H. M.). 39 diaken (v. 3044) ist eine Übersetzung von Leuites im Nikodemusevangelium : Quidam autem sacerdos nomine Finees et Adda preceptor et Leuites nomine Aggeus […] (cap. XIV 1, Z. 1 f.; „Ein Priester namens Phinees und Adda, ein Lehrer, und ein Levit namens Aggeus […]“). sacerdos ist in Christi Hort an dieser Stelle mit grozer ewart (v. 3041) wiedergegeben, preceptor mit gebieter (v. 3043; vgl. dazu Diefenbach 1857, S. 451 f.). In Diu urstende (vv. 1484-1544) sind den drei Himmelfahrtszeugen keine Amtsbezeichnungen zugeordnet, im Evangelium Nicodemi (vv. 2450-2455) sind sie als priestere bezeichnet, wobei der Name Levi des einen Priesters vielleicht von Leuites abgeleitet ist. <?page no="186"?> 186 4 Verfahren der kulturellen Aneignung gegeben; 40 der Sabbat 41 ist in allen Texten zum ,Samstag‘ geworden (vgl. z. B. Diu urstende , v. 624; Christi Hort , v. 1411; Evangelium Nicodemi , v. 738; jeweils in der wörtlichen Rede ,der Juden‘). 42 Ein solcher ,kolonialer‘ 43 Zugang zur jüdischen Religion ist kein Einzelfall, 44 man denke nur an die in Bischofsstädten eingeführte Bezeichnung des Vorstehers einer lokalen Judenschaft als episcopus Judaeorum . 45 Das Überstülpen der eigenen Kultur ist vermutlich nicht allein im Kontext der Übertragung ins Deutsche geschehen, denn der Vulgata -Text, der neben dem Nikodemusevangelium für die Wortwahl eine Rolle gespielt haben könnte, verwendet mit pontifices für ,Hohepriester‘ (vgl. z. B. Io 11,47) und Paschæ (z. B. Io 19,14) Termini, die im Mittellateinischen für christliche Deutungen offen waren. 46 In den Texten scheint stellenweise ein Bewusstsein von den verschiedenen Bezugsmöglichkeiten auf, wenn nämlich von Passah als ,Ostern der Juden‘ die Rede ist (vgl. Christi Hort : ze iuren ostern , v. 1861 [Pilatus als Sprecher]; zeir ostern , v. 1871 [Erzähler als Sprecher]). Entsprechende Zuordnungen, die vereinzelt auch bei den Amtsbezeichnungen (vgl. Evangelium Nicodemi : ir bischof , v. 403) begegnen, gehen über Phänomene der impliziten Aneignung 40 Vgl. z. B. Christi Hort , vv. 1861; 1871; im Evangelium Nicodemi lässt der Erzähler Pilatus von osterlichen tagen (v. 1288) sprechen. Vgl. aber auch nach ir hohcêit ( Christi Hort , v. 2201); nach den heiligen tagen drin ( Evangelium Nicodemi , v. 2330). Im Nikodemusevangelium ist eine jüdische Festbezeichnung verwendet, denn es wird auf den Sederabend verwiesen: per diem azimorum (cap. IX 1, Z. 7 [7,1 (G / I)]). 41 Vgl. Nikodemusevangelium : sabbato (cap. I 1, Z. 9; II 6, Z. 6). 42 Vgl. für Parallelen Bieberstedt 2004, S. 437. Auch im Ausgabentext der Weltchronik Heinrichs von München (Shaw / Fournier / Gärtner 2008) steht durchgehend sampcztag (z. B. in v. 6,844). In H12 (in den meisten Fällen entsprechend zu H9, vgl. den Apparat der Ausgabe) lässt der Erzähler die jüdischen Ankläger hingegen von sabat sprechen (fol. 180vb, Z. 13 [vgl. v. 6,877]; fol. 182va, Z. 13 [vgl. v. 6,1171]; fol. 183rb, Z. 43 [vgl. v. 6,1330]), während dem geheilten Blinden (fol. 183rb, Z. 38 [vgl. v. 6,1325]) und den zwölf Jesus freundlich gesonnenen Juden (fol. 184rb, Z. 35 [vgl. v. 6,1499]) das Wort samtztag in den Mund gelegt ist. Das System ist nicht streng durchgeführt (vgl. samtztag in der wörtlichen Rede der Ankläger, fol. 180va, Z. 20 [vgl. v. 6,844; veirtag H9]), aber es ist eine Tendenz zu erkennen, dass über die kultische Bezeichnung des Tages durch die Ankläger eine zusätzliche Distanz geschaffen werden soll. Zu den Handschriften H9 und H12 s. u. Kap. 6.1.1. 43 Zur Übertragung von Theorien des Postkolonialismus auf das Mittelalter vgl. Peters 2010, bes. S. 206 f. 44 Bei dem Wort bischof ist die Bedeutung „jeder höhere auch nicht christliche priester“ (BMZ, s. v.; vgl. auch MWB, s. v.) sogar lexikalisiert. Die Übertragung christlicher Termini auf jüdische Ämter oder Rituale muss nicht immer in einem feindseligen Sinne besitzergreifend sein: Wenn etwa Gyburg im Willehalm Wolframs von Eschenbach (307,23 f.; zitiert nach Heinzle 1994; vgl. zur Stelle Schmid 2000, S. 362) im Rahmen des Religionsgesprächs mit ihrem Vater die Beschneidung als ,Taufe der Juden‘ bezeichnet, dient das dazu, die Gemeinsamkeiten zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen herauszustellen. 45 Aufgenommen ist damit wohl „die landesherrschaftliche Funktion der Bischöfe in den entsprechenden Städten“, da das Amt des Judenbischofs kein geistliches war (vgl. Hausmann 2004, S. 98). Zum Judenbischof s. auch o. S. 161, Anm. 586. 46 Vgl. M aigne / M igne ; D u C ange , s. v. pascha und pontifex . Zur christlichen Umdeutung des Passahfestes vgl. Leonhard 2006. Der Bedeutungswandel von pascha wird z. B. in Der Kreuziger innerhalb des ausführlichen Kommentars zu diesem Wort (vv. 144-432) reflektiert, der hier stellvertretend für entsprechende Kommentare etwa in der Historia Scholastica ( Historia Evangelica , cap. 147, vgl. PL 198, col. 1614A-C) zitiert sei: Di hôchzît wart benennet sint / pascha von der alten ê / dâ vor bezeichent, dar nâch se / in der nûwen wart volbrâcht, / als ich zû sagen hân gedâcht. (vv. 144-148). Zur christlichen Übernahme des Pontifex -Titels vgl. Stockmeier 1975 (vgl. dort auch S. 79 f. zur Bezeichnung von ,Hohepriester‘ mit pontifex in „altlateinischen Bibelübersetzungen“). <?page no="187"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 187 hinaus; sie setzen distanzierend die eigene christliche Erfahrungswirklichkeit der Verfasser in der postulierten Gemeinschaft mit den Rezipienten gegen die fremde Religion ab. 47 Die Methode der impliziten Aneignung, wie sie beim Umgang mit der jüdischen Religion dominant ist, lässt sich auch bei historischen Sachbezeichnungen und Ämtern beobachten: So ist der handlungsrelevante Ort des Verfahrens im Nikodemusevangelium (wie auch in Mc 15,16; Io 18,28; 19,9) das Prätorium, das betreten und wieder verlassen wird (z. B. cap. I 6; III 1). Welches Amt mit diesem Amtssitz verbunden ist, wird im Nikodemusevangelium nicht näher spezifiziert. Nach dem Matthäusevangelium (27,2; 11) war Pilatus praeses , 48 nach dem Lukasevangelium ist für Pilatus das Amt eines procurator zu erschließen. 49 Angesichts der diffusen Überlieferungslage war für die mittelalterlichen Verfasser also nicht so sehr eine einzelne Sachbezeichnung umzusetzen als vielmehr ein Funktionsäquivalent 50 für den vom Kaiser eingesetzten Verwalter von Judäa zu finden, der - wie der Prozess gegen Jesus zeigt - dort die Gerichtsgewalt ausübte. Sowohl die herrschaftliche als auch die richterliche Komponente sind in der in allen Kerntexten gewählten Bezeichnung rihter präsent, 51 die auch als gängige Übersetzung von praetor bzw. pretor belegt ist - ein Amt mit der Kombination administrativer und jurisdiktioneller Aufgaben, das unter Umständen von mittelalterlichen Autoren mit dem ,Prätorium‘ assoziiert worden sein könnte. 52 In den Kerntexten steht allein schon durch den Handlungsausschnitt des Prozesses die Richterfunktion des Pilatus im Vordergrund. In Christi Hort , dem einzigen Text, der schildert, wie Pilatus zu seiner Stellung kam, ist sogar diese Vorgeschichte dahingehend vereindeutigt worden, dass Pilatus direkt vom Kaiser r i c h t e r l i c h e Gewalt ( gerichte […] / […] unt den pan ) bekommen habe (vv. 1343-1348). 53 47 Trotz der generell judenfeindlichen Stoßrichtung der Kerntexte dient die Andersheit der jüdischen Kultur aber nicht als „Gegenbild“ (vgl. dazu Schäffter 1991, S. 19-22) oder wird als ,radikale Fremdheit‘ (vgl. dazu Waldenfels 2006, S. 115-117) entworfen, sondern die Fremdheit wird durch die beschriebenen terminologischen Aneignungsprozesse relativiert, wie es schon bei dem Umgang mit den römischen Verhältnissen zu beobachten war. 48 Die unspezifische Bezeichnung praeses in der Vulgata gibt griechisch ἡγεμών wieder (vgl. Demandt 2012, S. 48). 49 Vgl. die Zeitangabe: Anno autem quintodecimo imperii Tiberii Caesaris / procurante Pontio Pilato Iudaeam tetrarcha autem Galilaeae Herode Philippo autem fratre eius tetrarcha Ituraeae et Trachonitidis regionis et Lysania Abilinae tetrarcha / / sub principibus sacerdotum Anna et Caiapha […] (Lc 3,1 f.; „Im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Prokurator von Iudaea war, Herodes Tetrach von Galiläa, sein Bruder Philipp Tetrarch von Ituräa und des Gebiets von Trachonitis und Lysanias Tetrarch von Abilene, unter den Hohepriestern Annas und Caiaphas […]“). Mit procurare wird das griechische ἡγεμονεύειν wiedergegeben. Bei Tacitus ( Annales 15,44,3) ist Pilatus als procurator bezeichnet (vgl. Demandt 1999, S. 70; 2012, S. 38), Philon von Alexandria ( Legatio ad Gaium 299) und Flavius Josephus ( Bellum Iudaicum 2,9,2) bedienen sich mit ἐπίτροπος oft des üblichen griechischen Äquivalents für procurator . Allerdings sind die Vorgänger und Nachfolger des Pilatus bei Josephus auch mit ἔπαρχος bezeichnet, eine übliche Umsetzung von praefectus , also dem Amt, das Pilatus nach der Inschrift von Caesarea (datiert 26-37 n. Chr.; Israel Museum, Inv.-Nr. 1963 no. 104) tatsächlich bekleidet hat (vgl. Demandt 2012, S. 48; zur Inschrift ebd., S. 40-43). 50 Auch bei der Übersetzung konkreter lateinischer Amtsbezeichnungen wurden häufig „funktionale Äquivalente“ generiert (vgl. Lepsius 2008, S. 229 [in Bezug auf italienische Legisten]). 51 Vgl. BMZ; L exer ; DRW, s. v. In Urkunden überwiegt die Bedeutung „mit Ausübung der Gerichtsbarkeit Beauftragter eines Gerichtsherrn o. einer Stadt“ (vgl. WMU, s. v.). 52 Vgl. die (allerdings mehrheitlich aus dem 15. Jahrhundert stammenden) Belege bei Diefenbach 1857, S. 458. Dass das Prätorenamt einen administrativen Aspekt beinhaltet, kommt bei der Übersetzung von pretor mit burcgraue (vgl. Diefenbach 1857, S. 458) zum Ausdruck, jedoch gehörten zum Amt eines Burggrafen eben auch jurisdiktionelle Aufgaben. 53 S. dazu o. S. 129. <?page no="188"?> 188 4 Verfahren der kulturellen Aneignung Zwar geben sich diese Erläuterungen als Erklärung der Verhältnisse zur Römerzeit (vgl. Christi Hort , vv. 1327; 1334; 1343), nicht zuletzt über die Verwendung des Wortes pan (v. 1346) werden die geschilderten ,römischen‘ Verhältnisse jedoch anschlussfähig an das Rechtswesen zur Entstehungszeit des Textes gemacht. 54 Eine entsprechende Mischung von expliziter Distanzierung und impliziter Aneignung lässt sich in Diu urstende und im Evangelium Nicodemi hinsichtlich des Umgangs mit den signa beobachten, die Pilatus nach dem Nikodemusevangelium (cap. I 5) mit sich führt. 55 Einerseits wird die damit verbundene fremde Sitte erläutert ( Diu urstende , vv. 274 f.; Evangelium Nicodemi , vv. 835-855), andererseits versucht, die materielle Realie als ,Fahnen‘ ( Diu urstende , v. 275: baniere ; Evangelium Nicodemi , v. 841: des riches vanen ) zu konkretisieren. 56 Auch wenn die Entsprechungen zur Fahne als Gerichtssymbol allein schon wegen der Mehrzahl der Fahnen verschwommen bleiben, 57 werden die ,römischen‘ Sitten durch die Umsetzung als (Reichs-)Fahnen an Gepflogenheiten zur Entstehungszeit der Texte angenähert. Wo aber sitzt nach mittelalterlichen Vorstellungen ein rihter zu Gericht? Die wohl ab dem 14. Jahrhundert entstandenen Prosaübersetzungen des Nikodemusevangeliums verorten die Verhandlung mehrheitlich in bzw. vor dem richthus ; 58 in einer Handschrift aus dem späten 15. Jahrhundert (A8), in der der Wortschatz der Übersetzung A modernisiert wurde, 59 ist vom Rathauß (Z. 73) die Rede, ebenso in der Handschrift G 1 ( Rothaws , Z. 132), deren Text in der betreffenden Partie auf 1447 datiert ist. 60 In beiden Fällen ist die denotative Bedeutung von ,Prätorium‘ als ,Gebäude mit Gerichtsfunktion‘ beibehalten worden, wobei 54 Zur Bannleihe vgl. Lück 2008b. - Zur kulturellen Adaptation einer antiken Vorlage durch Mediävalisierung von Amtsbezeichnungen und politischen Strukturen vgl. Suerbaum 2013 (in Bezug auf Matthias Ringmanns Caesar-Übersetzung, die in anderen Punkten nicht an die mittelalterlichen Traditionen anschließt). 55 Ingressus autem Iesus et a signiferis qui ferebant signa curuata sunt capita signorum ex se et adorauerunt Iesum. (cap. I 5, Z. 1-3; „Jesus trat ein, und die Häupter der Standarten beugten sich von sich aus weg von den Standartenträgern, die die Standarten trugen, und verehrten Jesus.“). Die signa konnten nicht einfach weggelassen werden, wenn die Szene mit den sich neigenden signa beibehalten werden sollte. 56 Zur Umsetzung von signa mit chriuce in Christi Hort (v. 1492) s. o. S. 112, Anm. 297. Auch in anderen Text- und Bildzeugnissen lassen sich entsprechende Konkretisierungsbemühungen beobachten: In der wörtlich gehaltenen Prosaübersetzung A1, die in einer um 1350 entstandenen Handschrift überliefert ist, sind die signa mit zaichen (Z. 57) wiedergegeben; doch in der redigierten Fassung des 15. Jahrhunderts ist zumindest an einer Stelle ein erläuterndes fannen (A8, Z. 60) eingefügt (vgl. dazu Masser / Siller 1987, S. 21). In einer Miniatur der Madrider Handschrift (Bibl. nat., Vitr. 23-8, vol. II, fol. 164v) aus dem 13. / 14. Jahrhundert hat man sich offenbar nach dem Ausdruck capita signorum ( Nikodemusevangelium , cap. I 5, Z. 2) gerichtet und lässt die Begleiter Herrscherbildnisse tragen (vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 130 f. [mit Abb.]; zur Handschrift vgl. ebd., S. 15, Anm. 7); in der um 1340 entstandenen Schaffhausener Handschrift des ( Klosterneuburger ) Evangelienwerks (s. dazu u. S. 330 mit Anm. 277) sind Fahnen (rote Lehnsfahnen? ) gezeichnet worden (fol. 250r), ebenso in einer Miniatur der ins 15. Jahrhundert zu datierenden Colmarer Handschrift von Der Spiegel des Leidens Christi (Colmar, Bibliothèque municipale, Ms. 306, fol. 78r; vgl. Jänecke 1964, Abb. 6). 57 S. dazu o. S. 76, Anm. 75. 58 Vgl. z. B. A, Z. 129 ( richthus ); B, Z. 237 ( richtehus ); C, Z. 108 ( rechthuß ), vgl. auch Z. 102: Da wart Pilatus czornig vnd ging uß dem sale […]; D, Z. 98 ( gerichthaus ); E, Z. 253 ( richtehus ), 266 ( richt hus ); E 3 , Z. 221 ( richthus ). Vgl. aber schranne als Signalwort im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk (H); s. u. Kap. 6.3.4. 59 Vgl. dazu Masser / Siller 1987, S. 21. 60 München, BSB, Cgm 7240; vgl. dazu Masser / Siller 1987, S. 34; 83 f. - Die Übersetzungsvarianten entsprechen dem bei Diefenbach (1857, S. 458) aufgeführten Spektrum hochdeutscher Übersetzungen für pretorium vom Beginn des 16. Jahrhunderts: richt -, gericht -, ding -, rat -, rayt hauß , huiß . <?page no="189"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 189 das ,Rathaus‘ einen konkreten städtischen Kontext evoziert. In Der Kreuziger des Johannes von Frankenstein ist sogar versucht worden, die Angabe, dass Pilatus vor dem Gebäude zu Gericht sitzt, auf ein Rathaus zu beziehen. Nachdem erklärt worden ist, dass die Heiden ihr Gericht im Rathaus abhalten müssten, ,die Juden‘ wegen der bevorstehenden ,Oster‘feierlichkeiten aber nicht hineingegangen seien, um nicht unrein zu werden (vv. 5911-5942), heißt es, dass Pilatus zu ,den Juden‘ hinausgegangen sei (vv. 5943-5947). Am Ende der Prozessschilderung werden die Örtlichkeiten folgendermaßen beschrieben: Als nû di rede Pilatus het erhôrt, er vûrt her ûz Jesum und besaz hî vor daz gerichte bî dem tor des râthûses an der stat di sand Johannes genennet hât in krîchisch lithostrotos (daz wort man ê geschriben kôs) und heizt in judisch ˛golgatha’, daz recht wart begangen dâ. waz lithostrotos moge wesen, da von ist êmâln genûc gelesen, als Beda iz hât ûz geleit: di stat von steinen was bereit. dar satzte sînes stûles stant Pilatus, daz dô wurde erkant offenlich sîn gericht. ob Jesus durch di inzicht zû dem tôde wurde verteilt, daz im di schult icht angeseilt wurde und nicht verdâcht dar an, und ûf den juden blibe der wân. ( Der Kreuziger , vv. 7783-7804) Das Richten vor der Tür des Rathauses in aller Öffentlichkeit erscheint hier als eine Ausnahmeregelung, die einer speziellen Begründung bedarf. Bei der Diskussion der (schließlich zurückgewiesenen) These, das Rathaus sei ein Teil der wonung des Kaiphas gewesen, hatte sich aber das zeitgenössische Konzept einer Rathauslaube 61 eingeschlichen: von dem gewalte er besaz ein wonung, dar zû gehôrte daz râthûs in des phorte man richten solde und râten, und si daz von rechte tâten. ( Der Kreuziger , vv. 5882-5886) 62 Neben die Quellentreue, die in der Berufung auf den Evangelisten Johannes zum Ausdruck kommt, ist hier eine argumentative Logik getreten, die sich aus dem Bezug auf die 61 Vgl. dazu Lück 2012a. 62 Vgl. dagegen den lateinischen Prätext: sed cum esset pontifex anni illius, de iurisdiccione pontificatus habitavit in aula, cui attinebat pretorium (zitiert nach Ferber 1935, S. 81, Z. 28 f.). <?page no="190"?> 190 4 Verfahren der kulturellen Aneignung zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit speist und durch das Einzelwort ,Rathaus‘ ausgelöst zu sein scheint, das ein Konzept (Richten in der Rathauslaube) nach sich zieht. Solche Verselbstständigungen kommen bei den streng vorlagengebundenen Prosaübersetzungen des Nikodemusevangeliums nicht vor; 63 die Versdichtungen sind dafür aber durchaus affin. In den drei Kerntexten, die früher als die Prosaübersetzungen und Der Kreuziger entstanden sind, ist ebenfalls terminologisch der römische Kontext getilgt, aber es ist - anders als bei den genannten Vergleichsbeispielen - auch das Konzept aufgegeben, dass die Gerichtsverhandlung i n einem Gebäude abgehalten wird. 64 Der Ort der Gerichtsverhandlung ist nach Diu urstende (z. B. v. 265) und Christi Hort (z. B. v. 1435) durch eine Abschrankung ( schrange ) gekennzeichnet; für das Evangelium Nicodemi ist ein entsprechendes Setting ebenfalls eine plausible Annahme, die Lokalisierung bleibt jedoch diffus. 65 Eine kulturelle Transposition ist daran erkennbar, dass die Gerichtsverhandlung am ,Hof ‘ angesiedelt ist, 66 wobei damit wohl die Institution der Gerichtsversammlung unter landesherrschaftlicher Leitung gemeint ist, nicht ein konkretes Gebäude. 67 Wie die Einzelinterpretationen bereits gezeigt haben, sind mit dem veränderten Setting der Verhandlung weitere Aktualisierungen verbunden, die bis in die Gestaltung des Verfahrensablaufes hineinreichen. Auf der Ebene des Einzelwortes tritt in Christi Hort und im Evangelium Nicodemi die Übersetzung von praeco mit scherge bzw. butel hinzu: 68 Die Handlung erfordert es, dass ,die Juden‘ bemängeln, dass Pilatus Jesus durch einen ‚Läufer‘ 69 hat holen lassen, und stattdessen eine Vorladung durch einen Gerichtsboten verlangen. Wechselnde Bezeichnungen für die von Pilatus ausgesandte Person im Evangelium Nicodemi lassen jedoch die Vorstellung durchscheinen, dass auch für den Verfasser bzw. den 63 Vgl. aber die Integration erläuternder Zusätze in manchen Perikopenübersetzungen (vgl. dazu Palmer 2004, S. 142 f.). Zum Zusammenhang zwischen Übersetzung und Glossierung im Mittelalter vgl. grundsätzlich Buridant 2011. 64 Sie stehen also noch der ,germanischen‘ Konzeption näher, nach der ein Gerichtsverfahren unter freiem Himmel stattzufinden hat (vgl. dazu Lück 2008d). 65 S. o. S. 144. Im Evangelium Nicodemi markiert allein der (auch in Christi Hort , v. 1562, genannte) Stuhl des Richters bzw. die Tatsache, dass der Richter darauf sitzt oder man sich in seiner Nähe befindet, den Ort und den Vollzug der gerichtlichen Verhandlung (vv. 841; 855; 1019; 1318; vgl. auch die metonymische Verwendung zur Bezeichnung der Institution ,Gericht‘ in v. 623). Das „Sitzen des Gerichts“ und des Richters auf dem Richterstuhl im Besonderen hat im römischen wie im ,deutschen‘ Recht einen ähnlich hohen Stellenwert (vgl. Schott 2006, S. 153-156). Insofern war im Nikodemusevangelium (cap. II 1) bei der Realie des Sitzes des Richters keine Aktualisierung notwendig. 66 ,Die Juden‘ beklagen sich, dass Jesus nicht in der richtigen Weise zu hofe (vv. 790 f.; 795) geladen worden sei. 67 S. o. S. 144 f. Auch an der entsprechenden Stelle im Nikodemusevangelium (cap. I 2) ist das Prätorium als Ort nicht genannt. 68 ‘er solt mit schergen stimme / praht sin unt mit grimme’ ( Christi Hort , vv. 1445 f.); do zurnde sie mit grimme, / daz er mit butels stimme / niht geladen was zu hofe ( Evangelium Nicodemi , vv. 789-791). Vgl. Nikodemusevangelium : ‘Quare non sub uoce preconis iussisti eum introire sed per cursorem? […] ’ (cap. I 2, Z. 10 f.). In Diu urstende ist die Läuferszene aus dem Nikodemusevangelium nicht aufgenommen worden. - Zur Übersetzung von preco mit ,Scherge‘ s. o. S. 114, Anm. 313, mit ,Büttel‘ vgl. Diefenbach 1857, S. 425. 69 cursor ( Nikodemusevangelium , cap. I 2-4) ist in Christi Hort ( leufel , v. 1421) und im Evangelium Nicodemi ( loufere , v. 768) jeweils zunächst wörtlich übersetzt. <?page no="191"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 191 Redaktor des Textes die Vorladung durch einen Schergen bzw. Büttel der Normalfall war. 70 In dem der Handschrift S folgenden Ausgabentext steht: 71 „ […] Ir enwizzet“ sprach Pilat „wes ir den schergen 72 hat gezigen.“ Die Juden alle gemeine swigen. Pilat den butel 73 ane sach, zu im anderweide er sprach: „Nu ginc, sit dus berufen sis, 74 und lade Jesum solche wis, als du wilt.“ ( Evangelium Nicodemi , vv. 824-831) In den Handschriften s und p ist dagegen - handlungslogisch ,korrekt‘ - durchgehend vom ,Läufer‘ die Rede. Nach Karl Helm (1899) gehören diese beiden Handschriften einer späteren Bearbeitungsstufe an; 75 ob die Varianten an dieser Stelle tatsächlich sekundär sind, wird man aber nicht entscheiden können. Für die systematische Frage danach, wie Referenzen auf die Erfahrungswirklichkeit funktionieren, lässt sich der Befund auf jeden Fall so auswerten, dass in den Handschriften, in denen der Läufer als Gerichtsbote bezeichnet wird, die Situation offenbar produktionsseitig die Vorladung durch einen Gerichtsboten als ,Script‘ aktiviert hat, das sich im Text manifestiert. 76 70 In Christi Hort wird die Bezeichnung ,Läufer‘ auf andere Weise kulturell adaptiert, indem sie durch chneht (v. 1448) und Umschreibungen (wie ein stolzen chnaben , v. 1421) substituiert wird, die den Boten als höfisch charakterisieren (s. dazu o. S. 114, Anm. 310). 71 Zu den Handschriftensiglen s. o. S. 142, Anm. 474; zum Wiener Fragment W s. u. S. 315-317. Abgesehen von den in der Ausgabe Helms (1902) berücksichtigten Handschriften ist die Vorladungsszene noch in einer Gruppe von Handschriften der thüringischen Rezension des Marienleben Bruder Philipps überliefert, die hier durch die Londoner Handschrift (British Library, MS Add. 10 432) vertreten sei. Zum Status des redigierten Textes des Evangelium Nicodemi in dieser Handschriftengruppe und in W s. u. Kap. 6.2.1. 72 W und die Londoner Handschrift (fol. 98r, Z. 3) lesen hier butel , s und p lauffer . 73 s und p lesen wiederum laufer . 74 G liest sit du butel sis , W sant du putel seist (vgl. fol. 2vb, Z. 21) und die Londoner Handschrift (fol. 98r, Z. 7) seint du butel seist . D.h., W und die Londoner Handschrift haben nicht nur an den beiden vorigen Stellen butel , sondern sein Amt wird - wie in G - als Begründung für seinen Auftrag herangezogen. 75 Vgl. Helm 1899, S. 106 f. 76 Der Terminus ,Script‘ ist aus der kognitiven Narratologie (vgl. Jahn 2005; Herman 2011 / 2013 [jeweils mit weiterer Literatur]) übernommen, die sich auf Erkenntnisse zu Wissensstrukturen bezieht, die Herman (1997, S. 1047) folgendermaßen beschreibt: „This research suggests that the mind draws on a large but not infinite number of ‘experiential repertoires,’ of both static (schematic or framelike) and dynamic (scriptlike) types.“ Zu alternativen Termini vgl. Blume 2004, S. 48 f.; Emmott / Alexander 2011 / 2014, Absatz 4. Mit Blume (ebd., S. 54) wird im Folgenden ‚Schema‘ als Oberbegriff für Script (zur Bezeichnung von „dynamischen Segmente[n]“) und Frame (zur Bezeichnung von „statischen Repräsentationen“) gebraucht. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung des Konzepts kognitiver Schemata und dessen Grenzen vgl. Scherner 2000, S. 188; Emmott / Alexander ebd., Absätze 7-14; Herman 2011 / 2013, Absätze 12-16. Die Diskussion ist verwandt, aber nicht identisch mit der zu Erzählschemata (im Sinne von Scripts); zur „Brückenfunktion“ der Scripttheorie „zwischen literarischer Erzählanalyse und der Analyse von Alltagserfahrung“ vgl. Müller 2007b, S. 17. Zur Funktion von Erzählschemata vgl. Bleumer 2007 (mit weiterer Literatur). <?page no="192"?> 192 4 Verfahren der kulturellen Aneignung Zwar wird die Funktion kognitiver Schemata insbesondere für die Rezeption von Texten diskutiert, 77 sie sind jedoch auch für die Produktion von Texten relevant. 78 Für die bibelepischen Kerntexte gilt das in besonderem Maße, da deren Verfasser zugleich Rezipienten der autoritativen Prätexte (mit für sie invariablen Grundsituationen) waren. Wie sich Elemente eines Scripts an Vorgefundenes anlagern können, lässt sich exemplarisch an der (nichtkanonischen) Szene beobachten, in der dem von Jesus befreiten Joseph von Arimathia von Boten ,der Juden‘, die ihn hatten einsperren lassen, Frieden garantiert wird. Nach dem Nikodemusevangelium (cap. XV 2) schicken ihm die Hohepriester eine schriftliche Botschaft nach Arimathia, in der ihm Friede zugesagt wird; der Wortlaut ist dabei an biblische Formeln angelehnt. 79 Im Evangelium Nicodemi ist das Motiv der schriftlichen Botschaft beibehalten, aber der Bezugsrahmen der Formulierungen ist ein rechtlicher: „ […] Ist daz du irvorhtes iht, so habe getrulichen vride di [bi] dem halse und bi der wide, 80 daz dir hie nieman niht entut, wen allez lieb und allez gut, […] “ ( Evangelium Nicodemi , vv. 2538-2542) Die Doppelformel bi dem halse und bi der wide als Androhung der Bestrafung für einen Friedensbrecher ist literarisch belegt und dürfte zur Entstehungszeit des Evangelium Nicodemi Assoziationen an Landfriedensordnungen geweckt haben. 81 Hier ist also eine zeitgenössische sprachliche Formel integriert, die für die Situation ,Frieden anbieten‘ plausibel wirkt. 82 77 Vgl. Emmott / Alexander 2011 / 2014, Absatz 5. 78 Vgl. Blume 2004, S. 50-57; Haferland 2005, S. 370 f. und insbesondere den dezidiert produktionsorientierten Ansatz Müllers 2007b. 79 ‘Pax tecum et omnibus qui tecum sunt. Scimus quia peccauimus in Deum et in te. Dignare ergo uenire ad patres tuos et ad filios tuos, quia ammirati sumus omnes de assumptione tua. Scimus enim quia malignum consilium cogitauimus aduersum te, et Dominus suscepit te. Et ipse Dominus liberauit te de maligno consilio nostro. Pax tibi, domine Ioseph, honorabilis ab omni plebe.’ (cap. XV 2, Z. 7-15; „ ,Friede sei mit dir und allen, die mit dir sind. Wir wissen, dass wir gegen Gott und gegen dich gesündigt haben. Geruhe also, zu deinen Vätern und zu deinen Söhnen zu kommen, weil wir alle über deine Entrückung verwundert sind. Wir wissen in der Tat, dass wir einen bösen Plan gegen dich gefasst haben, und der Herr hat dich in Schutz genommen. Und der Herr selbst hat dich befreit von unserem bösen Plan. Friede sei mit dir, Herr Joseph, der du angesehen bist beim ganzen Volk.‘ “). Vgl. dazu Gounelle / Izydorczyk (1997a, S. 173), die exemplarisch auf Psalm 106[107],17 und Lc 15,21 verweisen. 80 Wegen der Formelhaftigkeit des Ausdrucks dürfte gegen die Überlieferung bi dem halse (anstatt di ) zu konjizieren sein. - G liest hier Uf unser aller lide . 81 Vgl. MWB, s. v. hals , 1.14.4; DRW, s. v. ‚Hals‘, und Seelbach 1987, S. 214 f., jeweils mit Einzelnachweisen. Vgl. dazu Kästner 2001, S. 26 f. 82 Entsprechende Formeln sind auch in Christi Hort zu finden, wenn Columban dem Mann, der sich traut, ihm von Veronika zu erzählen, zusichert: du hast pi mir vrid unt sun (v. 4594). Die Formel erscheint ins Negative verkehrt auch bei Vespasians Urteilsverkündung: si gewinnent nimmer frid noh sûn (v. 5242; s. dazu o. S. 121, Anm. 349). Die Verwendung vorgeprägter Formeln kann auch zu Anachronismen führen; so sind Tiberius zu einem Zeitpunkt der Handlung, als er noch Heide ist, die Worte des lon dir Got (v. 4447) in den Mund gelegt. Fechter (1974, S. 190) sieht für diesen Vers eine konkrete Vorlage in Mai und Beaflor . Für derartige Assoziationen bedarf es aber nicht unbedingt einer solchen Vorlage; vgl. z. B. die an einen Zeugen gerichteten Worte des Pilatus im Evangelium Nicodemi (v. 1201): „Sprich, des dich got ermane.“ - Zur Suggestion von Gegenwart über die Sprache der Figuren und zur Übertragung <?page no="193"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 193 In Diu urstende heißt es entsprechend von den Überbringern der schriftlichen Botschaft ( brief e, v. 1282): die tâten all e s icherheit: / si buten triuwe und manigen eit / daz er âne angest wære (vv. 1283-1285). Die Formel sicherheit tuon ist wie sicherheit nemen häufig in Erzählungen von Gefangennahmen zu finden. 83 Beide Formeln begegnen in Christi Hort (vv. 3229; 3232), wo eine Ausgestaltung des Scripts ,Boten bieten Sicherheit an‘ das Motiv der schriftlichen Botschaft vollständig ersetzt hat (vv. 3157-3250): Die Boten, sieben mit Joseph verwandte Männer, weise unt wol gezogen und schön gekleidet (vv. 3177-3184), reden höflich mit Joseph und bieten sich selbst als Geiseln an (v. 3237). 84 Christi Hort scheint hier wie Diu urstende vor allem auf literarisch vorgeprägte Muster zu rekurrieren. Die produktionsseitige Aktivierung eines Scripts zeigt sich im Evangelium Nicodemi auch an dem Punkt der Handlung, an dem ,die Juden‘ Pilatus bitten, über Jesus Gericht zu halten ( Nikodemusevangelium , cap. I 2). Mit der Aufforderung, dass er früh, bevor er gegessen habe, die Gerichtsverhandlung eröffnen möge (vv. 720-724), wird die Bitte im Evangelium Nicodemi nach dem Schema eines ,deutschrechtlichen‘ Verfahrens konkretisiert. 85 Dass eine selbstverständliche Vorbedingung für das Abhalten einer Gerichtsverhandlung überhaupt benannt wird, hat damit zu tun, dass nach dem Evangelium Nicodemi die jüdischen Ankläger Pilatus im Morgengrauen aufsuchen (vv. 712-719; vgl. auch Diu urstende , vv. 259-266), d. h., es ist handlungsrelevant, dass sie der ersten Mahlzeit des Pilatus zuvorkommen. Danach tritt das Script einer ,deutschrechtlichen‘ Verhandlung in den Hintergrund, 86 z. B. wird die Hegung des Gerichts mit dem Friedensgebot ausgespart. 87 Dass es aber nach wie vor präsent ist, zeigt sich zum Beispiel an der - vom Prätext unabhängigen - Handlung des Richters, der mit seiner Hand Ruhe gebietet (vv. 870 f.). 88 Der Vorgang ,der Richter gebietet Ruhe‘ als Teil des Scripts ,Gerichtsverhandlung‘ manifestiert sich (an einem anderen Punkt der Handlung) auch in Diu urstende , und zwar lässt Pilatus dort einen schergen seine Stimme erheben (vv. 529-546). Dass in Diu urstende übervon Mustern zeitgenössischer politischer Verhältnisse auf biblisches Geschehen vgl. Greisenegger 1978, S. 56-66; 148 (in Bezug auf Le jeu d’Adam vgl. ebd., S. 35-39; zur Sprachverwendung vgl. auch Bažil 2012, S. 75 [mit weiterer Literatur]). 83 Vgl. Rosenau 1959, S. 266-280 (vgl. auch ebd., S. 185 f., zum Leisten von sicherheit im Rahmen von Friedensschlüssen und zum Stellen von Geiseln, die die Einhaltung des Friedens garantieren sollen); Désilles-Busch 1970, S. 69-77; Nöding 1999, S. 99 f.; 104 f. Vgl. auch Parallelen für die bedingungslose Unterwerfung ,der Juden‘, die sich eigenlîchen unter das Gebot Josephs von Arimathia (vv. 1370-1380) stellen (vgl. dazu Désilles-Busch ebd., S. 87-89; Hoffmann 2000, S. 155 f.). 84 Zur Definition von ‚Geisel‘ vgl. Kosto 2012, S. 9. Da er in seine grundlegende Untersuchung keine Erzähltexte als Quellen mit einbezogen hat, geraten sprachliche Formeln, die beim Stellen von Geiseln Verwendung fanden, nicht in sein Blickfeld. 85 S. o. S. 49 f.; 145 f. 86 Vgl. dazu Blume 2004, S. 56: „Sprachliche Kommunikationsakte können - und werden im Normalfall - Schemata aktivieren, ohne daß diese Schemata explizit in allen ihren Teilen artikuliert werden müßten; das macht schematische Repräsentationen zu einem wichtigen Faktor kognitiver Ökonomie. Welche Teilkonzepte oder Subschemata eines Schemas es sind, die explizit aufgerufen und somit gleichsam in den Vordergrund gerückt werden, und welche auf der anderen Seite ausgespart und, im Hintergrund bleibend, implizit koaktiviert werden, ist jedoch variabel. Das heißt, es liegt im Bereich des Ermessens des Sprechers und seiner jeweiligen Kommunikationsstrategie, bestimmte Elemente hervorzuheben und andere in den gleichwohl niemals zu vergessenden Hintergrund zu rücken. Für dieses Phänomen der Variabilität von Betont- und Unbetontheit einzelner Teilkonzepte bei der Realisation schematischer Repräsentationen hat sich in der Kognitionswissenschaft der aus der Gestaltpsychologie entlehnte Begriff ,figure / ground segregation‘ eingebürgert.“ 87 Zur Hegung s. o. S. 80, Anm. 99. 88 Zur Gestik des Richters s. o. S. 146. <?page no="194"?> 194 4 Verfahren der kulturellen Aneignung haupt die Anwesenheit eines bis zur betreffenden Textstelle nicht erwähnten schergen als selbstverständlich angenommen wird, lässt sich damit erklären, dass er zum Frame ,Gericht‘ gehört, wie er sich für die Entstehungszeit des Textes erschließen lässt. 89 Weitere Implikaturen zeigen sich in Diu urstende punktuell an der Textoberfläche: So setzt die Bemerkung, dass sich etliche Juden und Heiden der phlihte entzogen hätten (vv. 332-335), voraus, dass es eine Dingpflicht gibt. Der von Pilatus vorgebrachte Tadel, dass ,die Juden‘ mit übeler urteil (v. 509) einen ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlung störten, gibt nur vor dem Hintergrund Sinn, dass die Gerichtsgemeinde Urteile fällt. Und bei dem Zweifel ,der Juden‘ an der Zeugnisfähigkeit der vermeintlichen Proselyten (vv. 702-706) impliziert das Wort lantreht das Personalitätsprinzip. Für die Rezeption ist zu vermuten, dass durch die einzelnen Wörter jeweils das damit angesprochene Schema insgesamt oder in seinen relevanten Komponenten in der Vorstellungswelt aufgerufen werden konnte. 90 Entsprechend dürften etwa in Christi Hort Handlungsmuster wie ,der Richter stellt eine Urteilsfrage‘ (vv. 1876 f.) beim Rezipienten zur Assoziation des dazu gehörigen Scripts geführt haben. Umso auffälliger wird es gewesen sein, dass Pilatus das Urteil nicht ausgibt. 91 Ob die sinnstiftende „Abweichung von vorgegebenen Erfahrungsmustern“ 92 an dieser Stelle als Erzählstrategie anzusehen ist, lässt sich angesichts der diffusen Angaben zum Prozessende in den Prätexten schwer entscheiden. Mithilfe einer Passage in Diu urstende , in der eine Abweichung vom Schema explizit benannt wird, lässt sich jedoch nachweisen, dass solche Abweichungen punktuell zur Sinnstiftung eingesetzt werden: Dass ,die Juden‘ nicht die ,rechte Zeit‘ für eine Gerichtsverhandlung abwarten können und noch im Morgengrauen Pilatus aufsuchen (vv. 259-266), trägt vor dem Hintergrund des prototypischen Beginns einer Gerichtsverhandlung bei Tagesanbruch zu deren negativer Charakterisierung bei. Wenn mit der ,rechten Zeit‘ in Diu urstende ausdrücklich auf zeitgenössische Gepflogenheiten als Bezugsrahmen verwiesen wird, ist das auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Gegenwartskultur keineswegs den einzigen Bezugsrahmen für die Kerntexte darstellt. 93 Das Nebeneinander verschiedener Bezugsräume zeigt sich etwa am Umgang der Texte mit dem Schweigen Jesu vor Gericht: In Christi Hort wird es - offenbar im Kontext des Scripts ,Gerichtsverhandlung‘ - vom Erzähler als Verstoß gegen die Gerichtsordnung klassifiziert. 94 In Diu urstende dagegen wird von vornherein ein heilsgeschichtlicher Kontext für das Schweigen Jesu aufgerufen, wenn der heidnische Zeuge auf die alttestamentarische Prophezeiung vom Lamm, das willig und swîgende Marter und Tod erleiden wird, verweist (vv. 374-388). 95 89 Entsprechend sind einem mittelalterlichen König selbstverständlich Dienstmänner und Amtsleute zuzuordnen; vgl. Jesu Worte in der Prosafassung E, Z. 276-278: ‘Min Riche ist nicht von dire welte. wann wer min Riche von dire welte, So heten mich mine dienstman vnd mine amptlüte nicht den Juden geben.’ 90 Zur ,spreading activation‘ ausgehend vom Einzelwort vgl. Blume 2004, S. 50 f. 91 Das Übergehen dieses zentralen Schritts lässt sich nicht allein damit erklären, dass gewöhnlich nur einzelne Elemente eines Scripts auserzählt werden. 92 Nach Blume (2004, S. 55) sind solche Abweichungen für Erzählungen essenziell. 93 S. dazu o. grundsätzlich Kap. 3.5. Zum Auftreten einer Frau als Zeugin, das im Widerspruch zum Script einer zeitgenössischen Gerichtsverhandlung steht, s. u. S. 239; 246, Anm. 237. 94 Jesus gab im ein antwurt niht. / des lasters nam Pilatus phlicht (vv. 1799 f.). S. dazu o. S. 113, Anm. 306. 95 S. dazu o. S. 80. <?page no="195"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 195 Weil verschiedene Bezüge möglich sind, lässt sich eine kulturelle Aneignung in dem Sinne, dass ein Bezug auf die handlungspraktische Erfahrungswirklichkeit gegeben ist, 96 nur sichern, wenn im Text eindeutige Signale vorliegen (z. B. zeitgenössisch geprägtes Vokabular). Jedoch ist auch damit zu rechnen, dass ein Gegenwartsbezug dadurch zustande kommt, dass ein bereits im spätantiken Nikodemusevangelium enthaltenes Motiv im Kontext eines mittelalterlichen Textes, der die Gerichtsverhandlung in einem abgeschrankten Bereich konzipiert, neue Konnotationen bekommt, dass sich also nur die ,nichttextualisierten Verstehensbedingungen‘ 97 geändert haben. Ein solches Motiv ist das Weinen etlicher Juden angesichts der Forderung ‚der Juden‘, Jesus kreuzigen zu lassen ( Nikodemusevangelium , cap. IV 5), das Pilatus als Willen der multitudo (Z. 3 f.) in seine Entscheidungsfindung mit einbezieht. Wie bereits ausgeführt, könnte die Menge in einem deutschrechtlichen Kontext zu einem Umstand umgedeutet werden, doch nur im Evangelium Nicodemi (vv. 1145-1154) finden sich dafür verhaltene Signale im Text. 98 Nicht in den Texten artikuliert sind zumeist auch Wertesysteme, 99 die Textproduzenten und den von ihnen anvisierten Rezipienten gemeinsam gewesen sein dürften. Dass beispielsweise in Diu urstende bei der Schilderung des Tumults bei der Gerichtsverhandlung ausdrücklich gesagt wird, dass ,die Juden‘ in der schrangen entwer (v. 737) eindringen, dürfte für zeitgenössische Rezipienten ausgereicht haben, um nicht nur das Script ,Bruch des Gerichtsfriedens‘, sondern auch Bewertungskategorien (Ungeheuerlichkeit des Vergehens, Schwäche des Richters) zu assoziieren. Die hier als ,implizit‘ zusammengestellten Adressierungen der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit haben also unterschiedliche Implizitheitsgrade. Sie reichen von der Verwendung von Wörtern oder der Schilderung von Verhaltensweisen mit einem klaren Bezug zur zeitgenössischen Kultur bis hin zur Bezugnahme auf oder Berücksichtigung von Konzepten, die für einen heutigen Interpreten nur mithilfe kontextuellen Materials zu rekonstruieren sind. Anhand der in allen drei Kerntexten (in unterschiedlicher Weise) präsenten Idee, dass mit Jesus umgegangen wird wie mit einem Verbrecher, ist das gesamte Spektrum der Implizitheitsgrade zu demonstrieren. In Christi Hort lässt der Erzähler Maria in ihrer Klage unter dem Kreuz die Hinrichtung Jesu explizit mit der eines Diebes vergleichen: ‘ […] / der hangt vor mir als ein diep / zwischen schæchern 100 da zwein. / […] ’ (vv. 2130 f.). 101 Der Vergleich hat eine theologische Dimension, indem er die Erfüllung des Jesajawortes et cum sceleratis reputatus est (53,12) verdeutlicht. Dass Jesus nicht zu einem Schächer, sondern zu einem diep in Beziehung gesetzt wird, dürfte nicht allein mit dem Reimwort liep in v. 2129 zusammenhängen. Vielmehr lässt sich 96 Auch die Beschäftigung mit den Inhalten der Bibel zählt selbstverständlich zum Erfahrungsraum der impliziten Rezipienten, ist aber von gegenwartsbezogenen Handlungsmustern zu unterscheiden. 97 Vgl. dazu Scherner 1984, S. 162-167. 98 Zu Christi Hort s. o. S. 115; zum Evangelium Nicodemi s. o. S. 148. In der Prosafassung E (Z. 318-321) heißt es, dass Pilatus zu dem folke hinausgeht und vil luten weinen sieht; gegenüber ,den Juden‘ sagt er dann: ‘mich duncket nicht, das dy gemeynde sinen tot nemen wellen.’ Hier könnte der Terminus gemeynde eine Rechtsgemeinschaft bezeichnen, ohne dass aber - wie häufig (vgl. MWB, s. v. gemeinde , 2.1) - eine Gebietsgebundenheit impliziert ist. Zum Bedeutungsspektrum von gemeinde zwischen ,Versammlung‘, ,Allgemeinheit‘ und ,Ortsgemeinde‘ vgl. auch DRW, s. v. 99 Sie werden in der kognitiven Erzähltheorie zu den ,belief systems‘ gezählt (vgl. dazu Blume 2004, S. 60 f.). 100 schachære (vgl. L exer , s. v.) ist eine übliche Übersetzung von lat. latro (vgl. Mt 27,44; Mc 15,27; Lc 23,39; Nikodemusevangelium , cap. X 1, Z. 1; 5). 101 Zur Entwicklung des Motivs der beiden Schächer und der Rolle, die das Nikodemusevangelium dabei gespielt hat, vgl. Merback 1999, S. 22-27. <?page no="196"?> 196 4 Verfahren der kulturellen Aneignung nachweisen, dass die Kreuzigungsstrafe in verschiedenen mittelalterlichen Text- und Bildzeugnissen vor dem Hintergrund der Bestrafung von Dieben neu interpretiert wurde. 102 Die Assoziation der für Diebe typischen Strafe des Erhängens ist im deutschsprachigen Kontext bereits in der Umschreibung für ,kreuzigen‘, an daz kriuze hâhen , 103 angelegt, denn diebe sol man hâhen , wie es zum Beispiel in Freidanks Bescheidenheit (v. 47,19) heißt. 104 Eine solche Phrase hat unter Umständen bei der Forderung der Hohepriester im Evangelium Niocdemi (v. 1412) „ […] / so ha disen als einen dieb.“ Pate gestanden. 105 Typologisch hat man es hier also mit einem Gegenwartsbezug durch eine sprachlich vorgeprägte Formel zu tun; bei den ebenfalls im Evangelium Nicodemi ausgedrückten Forderungen, man solle Jesus an das cruze han , 106 ist allein in der Wortwahl eine kulturelle Adaptation spürbar. Eine weitere Stelle im Evangelium Nicodemi deutet darauf hin, dass die Diebesmotivik auch mit einem Script verbunden sein könnte. So heißt es im Bericht, den Adrian Vespasian gibt, rückblickend: „ […] des hazten in so sere die Juden, daz si in viengen und an ein cruze hiengen. Sie giengen an Pilaten, vil ture sie in baten, daz er in vorteilde als einen dieb. […] “ ( Evangelium Nicodemi , vv. 3976-3981) Zunächst wird die Gefangennahme rekapituliert, dann die Bitte ,der Juden‘, dass Pilatus Jesus wie einen Dieb verurteilen solle. Aus den Versen ist nicht sicher zu erkennen, ob sich das Verurteilen nur auf das Resultat oder den gesamten Verfahrensablauf bezieht, aber Letzteres ist zumindest möglich. 107 Im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk wird eindeutig ein standardisierter Ablauf anzitiert, wenn in der Fassung H 1 gesagt wird, dass, als Jesus 102 Merback (1999) konnte bei seinen ikonographischen Analysen der Hinrichtung Jesu und der beiden Schächer Parallelen zum Hängen und Rädern zeigen, wobei die Bezüge auf das Rädern dominant sind (vgl. ebd., S. 199). Beide Hinrichtungsformen sind - wie die Kreuzigung - unehrenhafte Strafen (vgl. ebd., S. 213). Die visuellen Verweise auf das Rädern finden sich vor allem bei der Darstellung der Schächer, während die Position des Christuskörpers am Kreuz (von stilistischem Wandel einmal abgesehen) weitgehend standardisiert wurde (vgl. ebd., S. 69-125). 103 Vgl. BMZ, s. v. hâhen . Das MWB führt auch alternative Präpositionen auf. 104 Zitiert nach Bezzenberger 1872. Vgl. auch Sachsenspiegel , Ldr. II 13,1; Deutschenspiegel , Ldr. 110,1; Schwabenspiegel , Ldr. 174a (Zählung nach von Laßberg 1840; s. dazu u. S. 254, Anm. 278). Vgl. dazu Schmidt-Wiegand / Schowe 1996, S. 69. Zur Strafe des Erhängens für Diebe vgl. His 1920, S. 491-495. 105 Vgl. zu den genannten Aspekten Klibansky 1925, S. 21. 106 „Man sal in an daz cruze han / und mit nagelen dar an slan / umme daz schelden, daz er tut.“ (vv. 1141-1143); „Man sal in erst mit besmen slan. / und sider an daz cruze han / nach kuniclicheme rehte.“ (vv. 1489-1491). Vgl. auch den Gebrauch von han ohne weitere Spezifizierung: „Du salt Barrabam uns geben! / Jesum saltu lazen han! “ / „Er enhat niht ubeles getan; / und were michel unreht. / Hat den schuldigen kneht, / lat den unschuldigen gen.“ (vv. 1296-1301). 107 Bei der Erzählung von der Gefangennahme (vv. 600-623) findet sich im Evangelium Nicodemi keine Diebesmotivik. <?page no="197"?> 4.2 Implizite Adressierung zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit 197 in Fesseln zu Pilatus geführt wird, 108 ,die Juden‘ tumultartig zusammenlaufen rehte. als da man dieb. oder morder. verterben sol . 109 Dass allein schon die Fesselung Jesu in einem deutschrechtlichen Kontext als Signal für den üblichen Umgang mit einem Schwerstverbrecher gewertet werden konnte, zeigt der Kommentar dazu in Der Kreuziger . 110 Während im lateinischen Prätext die Fesselung ( ligaverunt , Io 18,12) todeswürdiger Verbrecher als jüdische Sitte erklärt wird (die bis heute fortdauere), 111 hat in der deutschen Version eine kulturelle Aneignung stattgefunden, da gesagt wird, dass m a n es noch heute so mache. Daz man unsern hêren bant, sulches sites phlac daz lant, als noch ist gewonheit. swen man einen uberseit der des tôdes wirdic ist, dem selben bint man zû der vrist zû enander beide hende, 112 im gêt zû sîn ende, man vûrt in vur den richtêre: sô wart gebunden unser hêre. ( Der Kreuziger , vv. 4313-4322) Der Kreuziger weist in Bezug auf die Fesselung Jesu noch an einer zweiten Stelle signifikante Änderungen gegenüber dem lateinischen Prätext auf. Der Prozessbeginn wird im deutschen Text folgendermaßen eingeleitet: Als nû Pilatus daz ersach daz di juden alsô swach nicht wolden gên in sîn hûs, zû in gînc er selb her ûz in zû êren mit gelimph, wan si brâchten sunder schimph Jesum dar gebunden, sam er uberwunden wêr und des tôdes wirdic. swî wol Pilatus sach den stric 108 Si fuerte ( n ) / den hin gepvnden. d ( er ) gewalt hat. alle di w ( er ) lt zerledige ( n ) . (Schaffhausen, Stadtbibl., Cod. Gen. 8, fol. 248v, Z. 14 f.). 109 Zitiert nach Masser / Siller 1987, S. 396, Z. 19 f. S. dazu u. S. 334-337. 110 S. dazu auch o. S. 77, Anm. 80. 111 Nota: dicit in Joh. „Ligaverunt“, quia mos Judeorum fuit, sicut adhuc est, quod dignus morte presentabatur iudici ligatus (Hs. A liest: ligatus manibus ). (zitiert nach Ferber 1935, S. 67, Z. 26-28; „Beachte: Im Johannesevangelium heißt es ,Sie banden (ihn)‘, weil es Brauch bei den Juden war - wie auch heute noch -, dass ein Todeswürdiger dem Richter (an den Händen) gebunden vorgeführt wurde.“). Nachdem der lateinische Text Matthäus von Krakau nicht mehr sicher zugeschrieben werden kann (s. o. S. 184, Anm. 35), muss dessen Entstehungskontext als unklar gelten. 112 Die Fesselung der Hände Jesu ist ein Motiv, das nicht allein rechtliche Deutungen erfährt. In Christi Hort wird es als Zeichen der unzuht ,der Juden‘ gewertet (vv. 1282-1286). In der Schaffhausener Handschrift des ( Klosterneuburger ) Evangelienwerks (s. dazu u. S. 330 mit Anm. 277) wird die Gemeinheit und Brutalität ,der Juden‘ hervorgehoben: Sie binden Jesus die Hände vor dem Bauch zusammen, damit er seine Schande ansehen muss (fol. 244r, Z. 7 f.); sie ziehen den Strick so fest, dass das Blut aus den Nägeln spritzt (vgl. ebd., Z. 32 f.). <?page no="198"?> 198 4 Verfahren der kulturellen Aneignung an Jesu, doch er in nicht verteilen wolde ân gericht, er hôrte vor ir klagen, war umme si besagen in wolden, ob daz redelich wêr, und daz Jesus werte sich gên der dît dâ wider kûn, dem wolde er ouch des stat tûn. ( Der Kreuziger , vv. 5943-5960) Die Konzessivkonstruktion (,obwohl Pilatus den Strick sah, wollte er Jesus nicht ohne Gerichtsverhandlung verurteilen‘) hat die Kausalkonstruktion des lateinischen Textes (,weil Jesus gefesselt wie ein todeswürdiger Verbrecher vorgeführt wurde, wollte Pilatus ihn nicht ohne Anhörung verurteilen‘) ersetzt. 113 Die Logik des deutschen Textes speist sich offenbar daraus, dass jemandem, der gefangen vor Gericht gebracht wird, in der Regel die Möglichkeit zur Verteidigung genommen ist. 114 Die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit wird hier dadurch adressiert, dass die Abweichung von den zeitgenössischen Gepflogenheiten erklärt wird. Diu urstende ist zwar mindestens ein Jahrhundert früher entstanden als Der Kreuziger , nicht aber in einem grundlegend anderen rechtlichen Umfeld. Auch in Diu urstende wird Jesus (in Absetzung vom Nikodemusevangelium ) gefangen zu Pilatus geführt ( si brâhten in gevangen dar , v. 278). Ein ausdrücklicher Vergleich mit einem Dieb oder Mörder ist nicht vorhanden, aber aus dem Vorwurf ,der Juden‘, Jesus wolle durch Zauberei das Gerichtsverfahren in die Länge ziehen, damit ihn niemand hengen 115 sollte (vv. 307-312), wird Jesus indirekt als todeswürdiger Verbrecher charakterisiert. Pilatus lässt Jesus nicht sofort töten, aber immerhin ohne jegliche Befragung an eine Säule binden und geißeln, um ihn danach gehen zu lassen (vv. 325-329). Im Text wird für die Geißelung ausdrücklich eine Begründung gegeben, nämlich dass Pilatus wegen der starchen rüege , d. h. der Drohungen und feindseligen Gebärden ,der Juden‘, 116 glaubt, dass Jesus schuldig sei (vv. 319-324). Von einer Fesselung Jesu vor der Geißelung ist nicht die Rede, und nach der Geißelung beginnt wegen der Forderung ‚der Juden‘, man solle Jesus hâhen , eine Gerichtsverhandlung. Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass bei der Bewertung des Verhaltens des Pilatus zur Entstehungszeit des Textes das Script ,Vorführen eines Angeklagten in Fesseln‘ mit der Implikation, dass dessen Schuld feststeht, eine Rolle gespielt hat. Absolute Sicherheit lässt sich zwar nicht gewinnen, aber im Kontext der Aktualisierung anderer Komponenten des Gerichtsverfahrens ist das eine plausible Spekulation. Dass indirekte Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit den Normalfall darstellen, sollte der systematisierende Überblick gezeigt haben. 113 Et ex quo noluerunt intrare, Pilatus honoravit eos, volens eis satisfacere et exivit ad eos. Et quia presentaverunt sibi eum ligatum, ut dignum morte, noluit eum dampnare, nisi audiret accusacionem eorum adversus eum et daret locum, si se defendere posset. (zitiert nach Ferber 1935, S. 82, Z. 18-23; „Und da sie nicht eintreten wollten, erwies ihnen Pilatus die Ehre, in der Absicht, sie zufrieden zu stellen, und kam heraus zu ihnen. Und weil sie ihm ihn gebunden vorführten, wie einen Todeswürdigen, wollte er ihn nicht verurteilen, ohne ihre Anklage gegen ihn zu hören und [ihm] Gelegenheit zu geben, ob er sich verteidigen könne.“). 114 S. dazu o. S. 78 mit Anm. 81. 115 Zum Wortgebrauch vgl. vv. 754 f.: ietwederhalp sîn wart ein man / erhangen durch gerihte . 116 S. dazu o. S. 75-78. <?page no="199"?> 4.3 Mediävalisierung des Heilsgeschehens 199 4.3 Mediävalisierung des Heilsgeschehens Wie eingangs (Kap. 4.1) erläutert, nähern sich die Kerntexte der Passion und der Auferstehung Jesu vor allem als historischem Geschehen, sodass Fragen der kulturellen Differenz relevant werden, wie sie auch sonst bei Erzählungen von Vergangenem begegnen. Von den punktuellen expliziten Bezugnahmen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit abgesehen, können die Verfahren der kulturellen Aneignung, die in den Kerntexten zu beobachten sind, als Anachronismen beschrieben werden, die das erzählte Geschehen an die Gegenwart des Erzählens heranrücken. Vereinzelte Markierungen lassen den historischen Abstand jedoch nicht ganz aus dem Blick geraten. Verweise auf die Schöpfung und den Sündenfall, der die Notwendigkeit einer Erlösung des Menschen mit sich gebracht hat ( Christi Hort , vv. 1-170; Evangelium Nicodemi , vv. 1-300), und das Jüngste Gericht ( Diu urstende , vv. 1470-1478; Christi Hort , z. B. vv. 2992-2995; Evangelium Nicodemi , z. B. vv. 180-196; 3705-3712) halten zudem den heilsgeschichtlichen Rahmen präsent. In der heilsgeschichtlichen Orientierung sind die Kerntexte Geistlichen Spielen verwandt, wobei diese - über Anachronismen hinaus - performativ spezifische Strategien der Vergegenwärtigung und Distanzierung verwenden. 117 Zugleich sind die Kerntexte in ihrem Gebrauch von Anachronismen bei gleichzeitigem Anspruch, Vergangenheit darzustellen, mit den bereits erwähnten Übersetzungen antiker Texte und auch mit epischen Bearbeitungen historischer Stoffe, etwa im Antikenroman, verbunden. Forschungsgeschichtlich ist für die Anachronismen im Geistlichen Spiel und in mittelalterlichen Umsetzungen antiker Stoffe eine Bewegung von der Einordnung solcher Anachronismen als naiv und amüsant hin zur Untersuchung ihrer Funktion zu beobachten. 118 Die positive Sicht auf Anachronismen als einer Technik der Akkulturation schlägt sich auch im programmatischen Begriff der Mediävalisierung nieder. 119 Deren Funktion muss für jeden Text individuell bestimmt werden; es ist aber auch versucht worden, für einzelne Gattungen Stoßrichtungen der Aktualisierung festzumachen: Für Antikenromane wurde zum Beispiel die These aufgestellt, dass die dadurch geleistete Abmilderung des ,Fremden‘ es ermögliche, den exemplarischen Wert des geschilderten Geschehens zu konturieren, 120 117 Vgl. dazu z. B. Schmid 1975, S. 57-79; Greisenegger 1978, S. 147: „Schon hier [sc. in Le jeu d’Adam , s. dazu o. S. 192 f., Anm. 82] ist also jenes Moment zu identifizieren, das die gesamte mittelalterliche Theatergeschichte begleiten wird: die jähe Vergegenwärtigung alles Geschichtlichen, um dessen Abstand man weiß (wie etwa aus den die Distanz betonenden Kostümen festzustellen ist), das in einem dialektischen Spannungsverhältnis zur Zeitlosigkeit des Aufgehobenseins in der Heilsgeschichte zu denken ist.“ Zum besonderen Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart im Geistlichen Spiel vgl. auch Kiening 2007b, S. 143 f. 118 Vgl. in Bezug auf Bearbeitungen antiker Stoffe z. B. Rouziès 2007, S. 232 (mit weiterer Literatur): „Connoté négativement par l’historiographie traditionelle, la notion d’anachronisme est revalorisée par la critique moderne comme un procédé littéraire riche et créatif.“ Zum Geistlichen Spiel vgl. z. B. Greisenegger 1978, S. 148: „Der leise Spott, mit dem Anachronismen gezählt wurden, übersah, daß sie als bewußtes Wirkungsmittel eingesetzt wurden, um die beschriebene Vergegenwärtigung zu erreichen.“ 119 Vgl. Lienert 2001, S. 9-13 und passim (in Bezug auf den Antikenroman); 2010, S. 247 (in Bezug auf Bibelepik und Heldenepik). Vgl. in Bezug auf bibelepische Texte auch Köbele 2017, S. 169. 120 „Überdies entspringt er [sc. der Anachronismus in Antikenromanen] weniger der Naivität und der mangelnden historischen Distanz des Mittelalters zur Antike als der Absicht, mit Hilfe einer »Aktualisierung« der Vergangenheit den »exemplarischen« Wert der Handlung und der Gestalten herauszuarbeiten und so über eine Idealisierung, die nur in mittelalterlichem Gewand ihre rechte Wirkung <?page no="200"?> 200 4 Verfahren der kulturellen Aneignung wobei diese pauschale Einschätzung der Differenzierung bedarf. 121 Anachronismen in Geistlichen Spielen sind unter anderem als Versuch interpretiert worden, „Vergangenheit in die Gegenwart zu transplantieren, in ihrer Bedeutung für die Gegenwart klarzustellen.“ 122 Sind die Anachronismen zuallererst Verfahren der zeitlichen ,Vergegenwärtigung‘, erleichtern sie bei einem heilsgeschichtlichen Gegenstand darüber hinaus die andächtige ,Vergegenwärtigung‘, die von vertrauten Wahrnehmungsmustern ausgehen kann. 123 Angesichts ihres heilsgeschichtlich essenziellen Stoffes könnte man auch für die Kerntexte vermuten, dass die Bezugnahmen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit entsprechend funktionalisiert wären. Für eine ,Vergegenwärtigung‘ des Geschehens im Sinne einer Einfühlung bieten die narrativen Texte allerdings kaum Anhaltspunkte. 124 Vielmehr erzählen sie die Passion Jesu vor allem als Heils g e s c h i c h t e in dem Sinne, dass das Heilsgeschehen in konkrete politische und soziale Verhältnisse eingebettet ist. Die Aktualisierungen dienen größtenteils dazu, diese Ebene zu erschließen. Dadurch wird nicht nur das Heilsgeschehen als Sonderfall in seiner historischen Dimension verständlich gemacht, sondern es werden auch prototypische Situationen herausgearbeitet, die sich auf die Gegenwart der Rezipienten übertragen lassen. Wenn die geschilderten Ereignisse - jedenfalls teilweise - in ein zeitgenössisches kulturelles Umfeld transponiert werden, betrifft das alle Akteure, z. B. auch die Zeugen, die in dem Gerichtsverfahren auftreten - ein erzielen konnte, zur Typisierung und zur »Verewigung« des Handlungsgeschehens vorzudringen.“ (Schnell 1981, S. 233). Zu altfranzösischen Antikenromanen vgl. ähnlich Gosman 1992, S. 52 f. 121 Sicherlich erleichtert die Mediävalisierung eine exemplarische Lektüre. Darüber hinaus werden über Anachronismen in Antikenromanen aber auch zeitgenössische Problemkreise implementiert. Verwiesen sei nur auf die Gestaltung des Prozesses gegen Philotas im Alexander Rudolfs von Ems: Die Frage, in welcher Sprache (makedonisch? ) die Verhandlung geführt werden solle (vgl. Quintus Curtius Rufus, Historiae Alexandri Magni 6,9,36, zitiert nach Olef-Krafft / Krafft 2014), ist dort transformiert zu der Frage, welches Landrecht angewendet werden solle. Philotas erklärt sich bereit, auf das makedonische zu verzichten, da es die meisten der Anwesenden nicht kennten. Das legt ihm Alexander übel aus, da er sich damit von dem Recht des Landes lossage, in dem er geboren sei (vv. 19 563-19 594, zitiert nach Junk 1928). Handlungsimmanent ist hier der schon bei Curtius Rufus angelegte Vorwurf des mangelnden Patriotismus wichtig. Aufgeworfen wird aber auch die Frage nach der Gültigkeit des Personalitätsprinzips bei der Rechtsprechung. 122 Greisenegger 1978, S. 148. Auch Schmid (1975, S. 74) schreibt den Anachronismen eine didaktische Funktion zu. 123 Vgl. Merback 1999, S. 125 (in Bezug auf Referenzen auf zeitgenössische Hinrichtungstechniken in Darstellungen der Kreuzigung): „What made this imagery so compelling for medieval viewers was precisely the way it served the workings of the imagination: its realism stimulated the viewer’s own powers of visualization without supplanting them, and therefore presented itself as a model for the viewer’s synthetic assimilation of past to present, sacred history to familiar reality. It succeeded as realist religious art not when it finally approximated itself to an optical reality against which the viewer might then in turn test it, but rather when it insinuated itself into the beholder’s perceptual frames as a model upon which pious imagination-work could be patterned.“ Zu „verinnerlichende[n] Verkörperungen und verkörperlichende[n] Verinnerlichungen mittels Gestalthaftem, Szenischem, Anschaulichem, das Heil repräsentierbar und übertragbar macht“ vgl. (in Bezug auf das Geistliche Spiel) Kiening 2007b, S. 144. 124 Der Gebetsteil von Christi Hort (s. dazu o. Kap. 3.3.1) bildet dabei eine Ausnahme. In Christi Hort ist außerdem in die Schilderung der Kreuzigung eine Marienklage integriert (vv. 2081-2144). In Diu urstende werden dagegen nur das bloße Faktum der Kreuzigung (vv. 750-764) sowie verschiedene Reaktionen darauf und die begleitenden Wunder (vv. 765-805) berichtet. In der Passage zur Kreuzigung im Evangelium Nicodemi (vv. 1603-2191) wird zwar ausgehend von den Kreuzesworten die theologische Funktion des Leides Jesu ausführlich erörtert, mitleiderregende Details zum körperlichen Leiden Jesu sind jedoch nur knapp berührt (z. B. vv. 1653-1669). <?page no="201"?> 4.3 Mediävalisierung des Heilsgeschehens 201 Situationsmuster, wie es die Rezipienten selbst erleben könnten. Wie das Beispiel der Antikenromane zeigt, bleibt eine derartige Aktualisierung von materiellen Realien und Handlungsabläufen nicht ohne ,Nebenwirkungen‘, da damit auch die Aktivierung von Konzepten aus dem zeitgenössischen Umfeld der Texte verbunden ist (wie das der guten Herrschaft oder der Richterethik). Dass mit den Aktualisierungen von Handlungsabläufen auch bestimmte Wertvorstellungen evoziert werden, auf die der Text jeweils Bezug nimmt, hat sich für die Kerntexte am konkreten Beispiel der Reaktion des Pilatus auf die Vorführung Jesu als Gefangenen in Diu urstende plausibel machen lassen. Es ist daher zu vermuten, dass in den Kerntexten über Verfahren der kulturellen Aneignung nicht nur die Passionsgeschichte neu perspektiviert wird, sondern dass sich die Texte auch in Diskussionszusammenhängen zu Themenfeldern positionieren, die mit ihr in Zusammenhang stehen. <?page no="203"?> 4.3 Mediävalisierung des Heilsgeschehens 203 5 Externe Bezugsfelder von Diu urstende, Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit beschränken sich in den Kerntexten nicht auf materielle Realien - das hat schon die Analyse damit verbundener Scripts gezeigt -, doch kann die Aktualisierung von Realien gegenüber einem Prätext ein Indiz für eine umfassendere kulturelle Aneignung sein, die auf dieser Basis für den modernen Interpreten eines mittelalterlichen Textes einigermaßen sicher greifbar wird. Referenzen auf immaterielle externe Bezugsfelder sind in den Kerntexten allerdings auch für Stellen zu vermuten, an denen solche Indizien nicht vorhanden sind. Sie dürften für Rezipienten der Texte zu deren Entstehungszeit erkennbar und unter Umständen in der Textkonzeption als sinnstiftende Elemente mit einkalkuliert gewesen sein. Die Bestimmung und Rekonstruktion wesentlicher Bezugsfelder gestaltet sich jedoch schwierig: Schon bei Theoriemodellen, mit denen die Rezeption von Erzähltexten unter der Annahme eines ähnlichen kulturellen Umfeldes von Verfasser und Rezipient beschrieben werden soll, ergibt sich das Problem, welche Ausschnitte der Erfahrungswirklichkeit für die Interpretation eines Textes als relevant anzunehmen sind. 1 Wie sich bei Texten aus einer dem Interpreten historisch fremd gewordenen Kultur die Probleme multiplizieren, ist vor allem in Überlegungen einer rezeptionsgeschichtlich ausgerichteten Hermeneutik diskutiert worden, wobei sich die Überlegungen von Hans Robert Jauß bis heute als besonders einflussreich erweisen. 2 Zwar werden seine Thesen in der neueren Forschungsdiskussion überwiegend kritisch beurteilt, 3 die fortwährende Auseinandersetzung damit zeigt aber zugleich, dass sein Verstehensmodell für historische Texte zentrale Punkte berührt. So scheint die Frage nach dem Erwartungshorizont von Rezipienten zur Entstehungszeit eines Textes nach wie vor berechtigt, auch wenn eine Rekonstruktion dieses Horizonts, wie sie Jauß für durchführbar hielt, 4 heute als unmöglich angesehen wird, da schon kulturspezifische Wahrnehmungsmuster nicht einholbar sind. 5 Über eine Kontextanalyse oder mithilfe von Methoden der Historischen Semantik kann jedoch wenigstens insoweit eine Annäherung an intersubjektive Wissensbestände erreicht werden, als Sinnmuster sichtbar werden, die sich einem modernen Rezipienten nicht unmittelbar erschließen: 6 Das betrifft sowohl er- 1 Mit der Annahme der Existenz allgemein relevanter Kontexte soll nicht die Offenheit literarischer Texte geleugnet werden, die individuelle Lektüren zulassen (vgl. dazu in Bezug auf ,Unbestimmtheitsstellen‘ Ingarden 1968, S. 49-63), sondern es sind Wissensbestände gemeint, mit denen ein Rezipient automatisch bis zu einem gewissen Grad die Ausschnitthaftigkeit der erzählten Welt kompensiert. 2 Vgl. bes. Jauß 1977. 3 Das betrifft insbesondere sein Alteritätskonzept, aber auch seine hermeneutischen Prämissen (vgl. dazu u. a. Kiening 2005; Becker / Mohr 2012, S. 11-22; Baisch 2013, S. 191-197; Braun 2013, S. 11-17; Kablitz 2013, S. 97-106). 4 Vgl. z. B. Jauß 1979 (1975), S. 136; 1977, S. 10. 5 Vgl. Waltenberger (2002), der aber immerhin „eine offene Annäherung der interpretativen Grundeinstellungen“ für möglich hält (ebd., S. 169, Anm. 22). Zum Problem der Rekonstruktion der historischen Rezeptionsvoraussetzungen vgl. auch Zerweck 2002, S. 237-239; Vollhardt 2003, S. 201-204. 6 Vgl. Waltenberger 2002, S. 161; Vollhardt 2003, S. 204-209. <?page no="204"?> 204 5 Externe Bezugsfelder zählerische Konventionen mit ihren Implikationen als auch die inhaltliche Positionierung von Texten in bestimmten Diskursfeldern. Um dem letztgenannten Punkt näherzukommen, werden im Folgenden einige thematische Bereiche, die für die Kerntexte zentral sind, näher erkundet. Die Untersuchung von Kontexten erhebt dabei nicht den Anspruch, die Rezeptionsbedingungen rekonstruieren zu wollen, sondern soll den Blick für zeitgenössische Problemstellungen schärfen, die auch in den literarischen Texten verhandelt werden. 7 In modifizierter Form kommt das Jauß’sche Modell von Frage und Antwort zur Anwendung, nach dem eine Rekonstruktion des historischen Erwartungshorizonts es dem Interpreten ermögliche, die „ Fragen zu stellen, auf die der Text eine Antwort gab “. 8 Zu Recht ist eingewandt worden, dass die Annahme, literarische Texte gäben Antworten, ihrem Wesen nicht gerecht werde. 9 Doch hat sich damit die Rekonstruktion von Fragen, mit denen sich literarische Texte auseinandersetzen, noch nicht erledigt. 10 Im Prinzip verfahren kulturwissenschaftliche Analysen ähnlich, wenn etwa herausgearbeitet wird, wie „die literarischen Entwürfe […] ›Verhandlungen‹ und reflexive Stellungnahmen unterschiedlichster Komplexität“ inszenieren. 11 Solche reflexiven Stellungnahmen können auf der Diskursebene ansetzen, sie können sich aber 7 Vgl. Waltenberger (2002, S. 164) zu einer solchen Funktion einer Kontextanalyse, die es vermeide, den literarischen Text als Ergebnis der in den Kontexten fassbaren Sinnstrukturen zu betrachten. Grundsätzlich zur Kontextanalyse vgl. auch Kiening 2003, S. 26 f.: „Beide Ansätze [sc. Sozialgeschichte und New Historicism ] reagieren auf ein bekanntes Problem: Texte spiegeln nicht einfach Wirklichkeit, sie bilden eigene Formen symbolischer Ordnungen, sind selbst schon soziale Tatsachen und erheben als solche einen nicht nur literarischen Geltungsanspruch. Aber sie können dies nur, weil sie zugleich in Kontexte eingebettet sind und diese überschreiten. Daraus ergibt sich ein ebenso bekanntes Dilemma: Die wissenschaftliche Erschließung muß immer eine von Texten wie Kontexten sein. Sie kann aber nie Gewißheit erlangen, welcher Art die Beziehung der beiden zueinander ist: komplementär oder kontrastiv, affirmativ oder subversiv, inhaltlich oder formal.“ 8 „ Die Rekonstruktion des Erwartungshorizontes, vor dem ein Werk in der Vergangenheit geschaffen und aufgenommen wurde, ermöglicht […], Fragen zu stellen, auf die der Text eine Antwort gab, und damit zu erschließen, wie der einstige Leser das Werk gesehen und verstanden haben kann. “ ( Jauß 1979 [1975], S. 136 [Kursivierung im Original]). 9 Vgl. Stierle 1997, S. 67; Kiening 2003, S. 11: „Auch das Modell von Frage und Antwort, aus der Hermeneutik des Gesprächs stammend, ist nicht problemlos auf die Hermeneutik von Texten übertragbar. Texte sind nicht einfach dialogische Konstellationen, in denen um Problem und Lösung gerungen würde.“ (ähnlich ders. 2005, S. 157). 10 Vgl. dazu Iser (1979 [1975], S. 311) in Bezug auf fiktionale Texte, die nach seinem Modell häufig außertextuelle Normen umcodieren: „Entstammt der Text der Lebenswelt des Lesers, so hebt er durch die im Repertoire erfolgte Umcodierung geltender Normen diese aus ihrem sozio-kulturellen Funktionszusammenhang heraus und läßt dadurch die Reichweite der Wirksamkeit erkennen. Sind aber die Normen des Repertoires [sc. des Textes] für den Leser durch die zeitliche Distanz zu einer historischen Welt geworden, weil er nicht mehr an dem Geltungshorizont partizipiert, aus dem das Repertoire geschöpft ist, dann bieten sich ihm die umcodierten Normen als Verweisungen auf diesen Geltungshorizont. Dadurch läßt sich die historische Situation wiedergewinnen, auf die sich der Text als Problemlösung bezogen hatte.“ Zur ,Weltbezogenheit‘ literarischer Texte vgl. auch die ,neue‘ literaturwissenschaftliche Problemgeschichte, exemplarisch Werle 2006, S. 481: „Der Primärkontext für in Texten aufgefundene Ideen sind die ›realweltlichen‹ Probleme, auf die sie reagieren.“ 11 Vgl. Friedrich (2009, S. 38) in der programmatischen Einleitung zu seiner Untersuchung zu Diskursen der Grenzziehung und Grenzüberschreitung zwischen Mensch und Tier im Mittelalter. Er will kulturwissenschaftliche Ansätze jedoch deutlich von Text-Kontext-Untersuchungen unterschieden wissen: „Doch geht es in kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht um die klassische Situierung eines Textes im historischen Kontext, sondern um den Symbolgehalt des Kontextes selbst.“ (S. 30). <?page no="205"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 205 auch - thematisch enger gefasst - auf eine Ebene beziehen, die hier behelfsmäßig mit ,Problemkreis‘ bezeichnet werden soll. 12 Orientierung für die Auswahl der zu erschließenden kontextuellen Felder sind die in Kapitel 3 herausgearbeiteten thematischen Linien zu geriht , wârheit , reht und ê , wobei eine die Ergebnisse der Textanalyse aufnehmende Zuspitzung auf die Fragen nach der Verantwortung des Richters, der Bedeutung von Zeugenschaft und der göttlichen Legitimation des Rechts erfolgt. Da sich der kulturelle Kontext heute nur noch in Texten im engeren Sinne 13 fassen lässt, werden zu Beginn der folgenden Abschnitte jeweils diskursive Schlüsseltexte untersucht, in denen sich Aspekte bündeln, die in der thematischen Analyse als relevant erkannt worden sind. Ausgehend von einer weiteren Kontextualisierung der in den Schlüsseltexten fassbaren Problemkreise wird der Blick - in einer bewusst zirkulären Bewegung - dann wieder auf die Kerntexte gelenkt, um deren Referenz auf diese Problemkreise genauer zu bestimmen. Dass es nicht um eine Abhängigkeit der Erzähltexte von den herangezogenen Schlüsseltexten geht, zeigt schon die Chronologie: Die Glosse des Johannes von Buch zum Sachsenspiegel -Landrecht ist zeitlich nach allen Kerntexten anzusiedeln, die Legenda aurea und der Schwabenspiegel zumindest nach der Abfassung von Diu urstende . Gemeinsam ist den ausgewählten Texten aber eine gewisse Nähe zur überwiegend volkssprachigen ,Laienkultur‘, 14 d. h., die Problemkreise werden darin in einer Sphäre greifbar, der auch die Kerntexte zuzuordnen sind. 5.1 geriht: Die Verantwortung des Richters In der Glosse zum Sachsenspiegel -Landrecht, die Johannes von Buch ab 1325 verfasste, finden sich ausführliche Darlegungen zur Rolle des Richters: 15 Capitulum XXVIII […] [ III 30 § 2 ] De richter schal ghelike richten allen luden; ordel en schal he nicht vynden noch schelden . […] [ III 30 § 2 ] De richtere et cetera. O du richter, wes gherecht vnde denke an dat gherichte godes. Wente god to der zuluen tid vnde to der suluen stunde vnde in der zuluen stede richtet ouer dy, wan du richtest ouer enen anderen, ut C. de iudicijs l. rem non novam, 16 et XI q. III c. quicumque. 17 12 Die Bezeichnung erfolgt im Anschluss an die neuere problemgeschichtliche Forschung, die nicht von überzeitlichen Problemen ausgeht, sondern ,Problem‘ als Kategorie nutzt, um thematisch gebundene Korrespondenzen zwischen Text und Kontext aufzudecken (vgl. Spoerhase 2010, S. 120 f.). 13 Zu ,Kultur als Text‘ vgl. z. B. Müller 2000, S. 466 f.; Friedrich 2009, S. 32, jeweils mit weiterer Literatur. 14 Gedacht ist hier an die bildungsgeschichtlichen Implikationen des Laienbegriffs (vgl. dazu Steer 1983). Hinsichtlich des Bildungsgrades sind auch Zwischenformen wie lateingebildete Laien anzunehmen (vgl. dazu Schreiner 1992, mit einer Problematisierung des Laienbegriffs). Die Glosse des Johannes von Buch dürfte wegen der Verwendung zahlreicher Allegationen nur literaten Rezipienten voll verständlich gewesen sein, war aber in ihrer Volkssprachigkeit auf einer anderen Ebene auch nicht-lateinkundigen Rezipienten zugänglich. 15 Zur Datierung vgl. Kannowski 2007, S. 61-65; Manuwald 2013, S. 366. 16 Cod. 3,1,14. 17 Decretum Gratiani , C. 11 q. 3 c. 79. <?page no="206"?> 206 5 Externe Bezugsfelder Hir hebbe wy dy vele aff ghesecht. Wultu id bewaren, so beware dy vor veer stucke: Do nen vnrecht dor vrochten, noch dor ghiricheit , noch dor had, noch dor leue. Wente dor desser verer en werden de rechte vorkeret, ut XI q. III c. quatuor. 18 Dit menet he hir, dar he secht: De richter schal ghelike richten allen luden. Nu mochtestu zeggen: Du lest ouele vppe de richter. Weme moghen ze vnrechte don, na deme dat hir steit: Se en schollen ne wedder ordel vinden eder schelden? Merke: We it ordel vint, de is en richter der vraghe , vnde de wert vmme en vnrecht ordel ghewiset vor de duuele, vnde de richter varet na, de des stadet, vnde de dat heten vinden, de varet hindene mede, vnde de dat vulborden vnde dat beter weten. Des hefstu orkunde an deme ordele, dat ouer vnsen heren ghing. Se, Pilatus vraghede des ordeles, wat he mit Ihesu don scholde, do reden de vorsten der prestere deme volke, do vant dat volke, me scholde ene crucighen. Nu merke euen: Dat ordel vant id volk, de prestere de redent, vnde de richter de ghaf dar stade to. Nu ze, wy hir vnschuldich is, vnde de blifft noch vnschuldich. Wente we dat ordel vind, de is des richteres ratgheue, na deme schal he don, dest se wol raden. Dat hir steit, de richter en scholle nen ordel vinden, dat is, he en schal nen nye recht vynden, mer he schal richten na bescreuenem rechte, ut Instit. de officijs omnium iudicum § I, 19 et C. de iudicijs l. iudices, 20 et in autent. de iudicibus § omnis coll. VI . 21 Dat he des ok nicht vinden en schal, dat is, he schal des enen anderen vragen, de sik da vort vmme bespreke. Wente ordele scholen mit rade ghevunden werden, ut in autent. de iudicibus § I coll. VI . 22 Dat ok hir steyd, he scholle nen ordel schelden, dat is, dat he schal nemende vppe schaden dryuen. Mer he schal zeggen: Bespreket gik bad. / Edder he schal zeggen: Halet dat ordel, dar gi to rechte schollet. Edder he schal id dagen. Dat menet he, dar he secht, de richtere schollen wijs sin, ut Instit. in prohemio § summa, 23 et C. de postulando l. II , 24 et in autent. de iudicibus § I coll. VI . 25 […] 26 Die Rolle des Richters gehört zu denjenigen Punkten, in denen sich das ,deutsche‘ und das römisch-kanonische Recht deutlich unterscheiden, da dem selbsturteilenden Richter des römisch-kanonischen Rechts der Richter als Leiter des Verfahrens im ,deutschen‘ Recht gegenübersteht. 27 In dem zwischen 1220 und 1230 verfassten Sachsenspiegel 28 ist die Beschränkung der Aufgaben des Richters klar benannt, wenn gesagt wird, ein Richter solle weder Urteile finden noch schelten (Ldr. III 30,2). 29 Insofern verwundert es nicht, dass in der ein Jahrhundert später verfassten Glosse des Johannes von Buch, der versucht, den 18 Decretum Gratiani , C. 11 q. 3 c. 78. 19 Richtig: Inst. 4,17 pr. 20 Cod. 3,1,9. 21 Nov . 82,13. 22 Richtig: Nov. 82 pr. 23 Inst. , constitutio „Imperatoriam“ § 7. 24 Cod. 2,6,2. 25 Richtig: Nov. 82 pr. 26 Zitiert nach Kaufmann 2002, Bd. 3, S. 1105-1113; auch die Auflösung der Allegationen ist von dort übernommen. 27 Dazu und zu den notwendigen Differenzierungen einer solch binären Gegenüberstellung vgl. Ebel 2004 (1996). 28 In diesem Zeitraum ist wohl die Erstfassung anzusetzen (vgl. Schmidt-Wiegand 1980, Sp. 403); zu den verschiedenen Bearbeitungsstufen vgl. Oppitz 1990, S. 21-30; Kümper 2009, S. 134-165. Zur Verwendung der Ausgabe Homeyers (1861) s. o. S. 14, Anm. 22. 29 Zur Urteilsfindung nach sächsischem Recht vgl. Landwehr 1979. Zur Urteilsschelte vgl. Kaufmann 1998b (mit weiterer Literatur). <?page no="207"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 207 Sachsenspiegel in das römisch-kanonische Recht zu integrieren, 30 gerade diese Stelle einigen Interpretationsaufwand hervorrief. 31 Zunächst wird der Satz De richter schal ghelike richten allen luden 32 in einer Apostrophe an den Richter als Aufforderung zur Gerechtigkeit ausgelegt, der ein Richter im Hinblick auf das Jüngste Gericht folgen solle. Zur Explikation des gerechten Richtens führt der Glossator - unter Verweis auf Gratian - aus, welche vier Fehler zu vermeiden seien: Der (immer noch mit ,du‘ angesprochene) Richter solle sich weder aus Furcht noch aus Gier, 33 weder aus Hass noch aus Liebe zum Unrecht bewegen lassen. Darauf wird ein möglicher Einwand eines ,du‘ angeführt ( Nu mochtestu zeggen ), dass der Glossator den Richtern zu viel aufbürde: Wem sollten sie denn Unrecht tun, wenn sie weder Urteile finden noch schelten dürften? In der mit Merke eingeleiteten Antwort des Glossators erfolgt zunächst eine terminologische Klärung: Ein Urteilsfinder sei en richter der vraghe ; 34 er müsse wegen eines unrechten Urteils zur Hölle fahren. Das betreffe ebenso den Richter, der dem stattgebe. Nachdem nochmals der Urteilsfinder genannt wird, wird schließlich die Gruppe derjenigen, die wider besseres Wissen einem unrechten Urteil zugestimmt hätten, als verdammungswürdig eingestuft. Mit der Aufzählung der Verdammten soll offenbar der Einwand, ein Richter könne kein Unrecht tun, widerlegt werden, da nach dieser Darstellung alle am Verfahren Beteiligten Verantwortung tragen. 35 Zum Beweis ( orkunde ) 36 der Richtigkeit des Gesagten führt der Glossator das Urteil des Pilatus über Jesus an. Wiederum werden verschiedene Akteure unterschieden: Der Richter Pilatus habe das Urteil erfragt, das Volk habe das Urteil gefunden, die Hohepriester seien beratend tätig gewesen. Der Satz Nu ze, wy hir vnschuldich is, vnde de blifft noch vnschuldich. scheint sich auf den Richter zu beziehen, denn zur Erläuterung heißt es, dass der Richter dem Ratgeber, der hier als Urteilsfinder definiert wird, folgen solle. Die Präzisierung, dass das gelten solle, wenn der Rat gut sei, 37 weist dem Richter aber wieder Verantwortung zu, 30 Vgl. dazu Kannowski 2007, bes. S. 593. 31 Zur Kommentierung von Ldr. III 30,2 durch Johannes von Buch vgl. Weitzel 1985, S. 970-974; Schulz 1998, S. 69 f.; Kannowski 2007, S. 121-123. Zum Richterbild in der Glosse insgesamt vgl. Kannowski ebd., S. 107-151. Vgl. auch das Glossar zur Buch’schen Glosse (Kaufmann / Neumeister 2015), s. v. richter (Bd. 2, S. 894-902). 32 Der Satz hat im Kontext des ,deutschen‘ Rechts den Charakter eines Rechtssprichworts (vgl. dazu Janz 1989, S. 318-320; Schmidt-Wiegand / Schowe 1996, S. 278). 33 Die Gier kann als Leitmotiv der Richterkritik in der Glosse gelten (vgl. dazu Kannowski 2007, S. 129-131). 34 Zu Bedeutung von rihter als „derjenige, der über eine frage entscheidet“ vgl. BMZ, s. v. Zur Rollenverteilung zwischen Richter und Urteilsfinder vgl. auch die Glosse , cap. LXX zu Ldr. III 78,1 (zitiert nach Kaufmann 2002, Bd. 3, S. 1450-1456; vgl. dazu Kannowski 2007, S. 131-134; 572). - Zu vrag ( h ) en im Sinne von ,um ein Urteil bitten‘ vgl. das Glossar zur Busch’schen Glosse (Kaufmann / Neumeister 2015), s. v. vrag ( h ) en und vrag ( h ) er (Bd. 2, S. 1291 f.). 35 Vgl. dazu Schulz 1998, S. 68. 36 Kaufmann und Neumeister (2015, Bd. 3, S. 820) interpretieren orkunde an dieser Stelle als „das Beispiel, das Exempel“; im Rahmen des Argumentationszusammenhangs hat das gebrachte Beispiel aber zugleich Belegcharakter. 37 Weitzel (1985, S. 971 f.) zitiert den Text der 1545 bei Nicolaus Wolrab gedruckten Glossenausgabe, bei der mit Überarbeitungen zu rechnen ist (vgl. Kannowski 2007, S. 24-28). Danach soll der Richter den Ratgebern folgen, ob sie wol unrecht rathen (Weitzel ebd., S. 972). Auf dieser Grundlage kommt Weitzel (ebd.) zu dem Schluss: „Es wird also letztlich die Ausgabe des unrichtigen Urteils durch einen Hinweis auf die Bindung des Richters entschuldigt.“ <?page no="208"?> 208 5 Externe Bezugsfelder zumal bei dem Pilatus-Urteil als Exemplum klar ist, dass der Rat, den er erhalten hat, nicht gut war. Der nächste Abschnitt bringt keine weitere Aufklärung über die Verteilung der Verantwortlichkeiten, denn der Glossator will dort den Satz aus dem Sachsenspiegel , dass ein Richter nicht Urteilsfinder sein solle, mithilfe von Stellen aus dem römischen Recht dahingehend uminterpretieren, dass ein Richter sich auf schriftlich kodifiziertes Recht stützen (also Urteile nicht ,erfinden‘) und sich beraten (also Urteile nicht allein finden) solle. Bei der Auslegung des Satzes aus dem Sachsenspiegel , dass ein Richter nicht zur Urteilsschelte schreiten dürfe, wird der Akzent nicht darauf gelegt, dass es ihm institutionell nicht zukommt, sondern darauf, dass der Richter die mit der Schelte verbundene Drohung (sc., dass der Urteilsfinder für das gescholtene Urteil einstehen müsste) besser vermeide. Stattdessen solle der Richter die Urteiler bitten, sich besser zu beraten oder das Urteil holen zu lassen (sc. im Rahmen eines Rechtszuges), 38 oder er solle die Verhandlung vertagen. 39 Interessanterweise werden für diese Empfehlungen keine Allegationen genannt. Erst die Forderung nach der Weisheit von Richtern wird wieder durch Stellenangaben abgesichert. Es ist also zu vermuten, dass mit der Maßgabe, wie ein Richter statt des schelden eines Urteils verfahren solle, Verhaltensweisen eines weisen Richters benannt werden, die nach sächsischem Recht möglich waren und zum gerechten Richten gehören, wie es bereits im Sachsenspiegel gefordert ist. 40 Der auffälligste Zug der Passage aus der Glosse ist sicherlich die juristische Betrachtungsweise des Prozesses gegen Jesus, und zwar unter ,deutschrechtlichen‘ Vorzeichen, 41 die einmal mehr zeigt, dass die historischen Umstände des Prozesses in mittelalterlichen Interpretationen ganz in den Hintergrund treten können. Der Kommentar bündelt aber auch Vorstellungen über die Verantwortlichkeit eines Richters nach sächsischem bzw. römischkanonischem Recht, wie sie bereits im 13. Jahrhundert koexistierten. Indem der Glossator für die Richteruntugenden auf Gratian verweist und dann den fiktiven Einwand bringt, wird in der Glosse ein Gegensatz zwischen dem sächsischen und dem kanonischen Recht aufgebaut. Im Prologus des Sachsenspiegels ist eine vergleichbare Anforderung an rechtliches Handeln tatsächlich offener formuliert, 42 sodass sie auf alle an der Rechtsfindung Beteiligten bezogen werden kann. Jedoch ist die Gegenüberstellung der Richterrollen in der Glosse überzeichnet, da die dort genannten Fehler eines Richters auf eine Richterethik zurückgehen, die jenseits der Ausdifferenzierung in römisch-kanonisches Recht und ,deutsche‘ Rechtsgewohnheiten zu liegen scheint. 38 Vgl. dazu von Planck 1879, Bd. 1, S. 256-262. 39 Vgl. dazu Weitzel 1985, S. 974; Ebel 2004 (1996), S. 329 f. 40 Von Planck (1879, Bd. 1, S. 89 f.) setzt den in der Glosse skizzierten Spielraum von dem im Sachsenspiegel fixierten Konzept ab. Weitzel (1985, S. 970 f.) sieht die Ausführungen in der Glosse zwar auch als Dokument einer sich wandelnden Richterkonzeption an (so auch Kannowski 2007, S. 123), kritisiert aber an von Planck, dass er nicht berücksichtige, dass die Glosse dem Richter verwehre, „die Ausgabe des Urteils endgültig zu verweigern“. Allerdings beruht Weitzels Interpretation auf dem Text einer späten Druckausgabe der Glosse (s. o. S. 207, Anm. 37). Inwiefern die Glosse an dieser Stelle tatsächlich eine Weiterentwicklung festhält, ist schwer zu sagen, weil im Sachsenspiegel nicht behandelt wird, wie der Richter mit einem ungerechten Urteilsvorschlag umgehen soll. 41 Vgl. dazu Kannowski 2007, S. 121-123. 42 Von rechte ne sal nemanne wisen lieve, noch leide, noch torn, noch gift . ( Prologus ). <?page no="209"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 209 Bereits im Alten Testament wird Bestechlichkeit als mögliches Fehlverhalten von Richtern thematisiert. 43 Eine regelrechte Lehre von vier negativen Einflussfaktoren ist dann bei Isidor von Sevilla ausformuliert worden: Quattuor modis iudicium humanum peruertitur: timore, cupiditate, odio, amore. Timore dum metu potestatis alicuius ueritatem loqui pauescimus; cupiditate dum praemio muneris alicuius corrumpimur; odio dum contra quemlibet aduersari molimur; amore dum amico uel propinquis praestare contendimus. His enim quattuor causis saepe aequitas uiolatur, saepe innocentia laeditur. (Isidor von Sevilla, Sententiae 3,54,7) 44 „Auf vier Arten wird das menschliche Urteil verdorben: durch Furcht, Begehrlichkeit, Hass und Liebe. Durch Furcht, wenn wir aus Angst vor jemandes Macht uns fürchten, die Wahrheit zu sagen; durch Begehrlichkeit, wenn wir uns durch den Vorteil irgendeines Geschenks bestechen lassen; durch Hass, wenn wir gegen irgendjemanden feindlich vorgehen; durch Liebe, wenn wir darauf aus sind, einem Freund oder Verwandten zu Diensten zu sein. Aus diesen vier Ursachen nämlich wird oft der Gerechtigkeit Gewalt angetan, wird oft die Unschuld verletzt.“ Die quattuor modi finden in der Folge nicht nur Eingang in das Decretum Gratiani , sondern - im Zuge der Rezeption fremder Rechte - auch gleichermaßen in ,deutschrechtliche‘ Richter- und Urteilereide. 45 Dass ein Urteiler ,Richter‘qualitäten benötigt, klingt in der Glosse des Johannes von Buch noch an, wenn er als richter der vraghe bezeichnet wird. 46 Die Übertragung der bei Gratian genannten Anforderungen auf einen Richter im ,deutschrechtlichen‘ Verfahren ist auch vor dem Hintergrund der Orientierung an christlich vermittelten Gerechtigkeitsidealen zu sehen. 47 Die auf biblischen Grundlagen fußende scholastisch- 43 Vgl. Sigismund 2009. Zu Dt 18,18 f. vgl. auch Evans 2002, S. 111. 44 Zitiert nach Cazier 1998. Nach Drüppel (1981, S. 290; vgl. dazu auch Scheyhing 1960, S. 185) ist der Negativkatalog erstmals bei Isidor belegt. Im Decretum Gratiani wird an der entsprechenden Stelle auf Augustinus verwiesen (C. 11 q. 3 c. 78; das Decretum Gratiani wird hier und im Folgenden nach der Ausgabe von Friedberg 1879 zitiert). Hinter der Autorität des Augustinus verbirgt sich aber wohl eine Passage aus dem Amos-Kommentar des Hieronymus (vgl. den Kommentar Friedbergs 1879 zur Stelle), in der (wie im Decretum Gratiani , C. 11 q. 3 c. 79) von Verwandtschaft und Freundschaft bzw. Feindschaft und Hass als negativen Einflussfaktoren die Rede ist (vgl. In Amos 3,4,12 / 15; zitiert nach Adriaen 1969, S. 311, Z. 430-447). Für den Bezug auf Augustinus könnten dessen breite Ausführungen zu den Qualitäten eines Richters auschlaggebend gewesen sein (zur Richterethik des Augustinus vgl. Kuhn 2009 [2007], S. 119-135; 153 [zur Bestechlichkeit]; Hellebrand 2010, S. 216-229). 45 Vgl. Scheyhing 1960, S. 185 f.; Drüppel 1981, S. 290-296; Ostwaldt 2009, S. 133. 46 Vergleichbare semantische Verschiebungen scheinen auch in der Lex Baiuvariorum vorzuliegen, wo mit dem iudex , von dem bestimmte Qualitäten gefordert werden, wohl der Urteiler gemeint ist (vgl. dazu Kroeschell 1986, S. 63-66; vgl. aber zur Diskussion über die Aufgaben des iudex nach der Lex Baiuvariorum auch Köbler 1970, S. 89, mit weiterer Literatur). 47 „Die Aufnahme der fremden Rechte weist bei den Richter- und Schöffeneiden sonach eine eigenartige Gestaltung auf. Es handelt sich nicht um die Übernahme eines Rechtsinstitutes, mag auch das römische Recht mancherorts das Anwendungsgebiet der Richter- und Schöffeneide erweitert oder vertieft haben, sondern um eine wohl bis ins hohe Mittelalter zurückreichende Ausbildung einer Lehre von den Richterpflichten, bei der die Kirche mitgewirkt hat, nicht ihre eigene geschichtliche [ sic ] gewordene Rechtsordnung durchsetzend, sondern als Hüterin der Gerechtigkeit.“ (Scheyhing 1960, S. 190 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang die Identifizierung von Christus mit iustitia in der Passage zu den quattuor modi im Decretum Gratiani (C. 11 q. 3 c. 79, s. dazu o. Anm. 44): Quicumque aut consanguinitate, aut amicitia, uel hostili odio, uel inimicitiis in iudicando ducitur, peruertit iudicium Christi, qui est iustitia, et fructum illius uertit in amaritudinem. („Jeder, der sich beim Urteilen durch Verwandtschaft oder Freundschaft, durch feindseligen Hass oder Feindschaften leiten lässt, macht das Urteil Christi zunichte, der die Gerechtigkeit ist, und verkehrt seine Frucht in Bitterkeit [sc. der Ungerechtigkeit].“). <?page no="210"?> 210 5 Externe Bezugsfelder kanonistische Lehre vom bonus iudex , 48 der letztlich Gott zum Modell hat, 49 fand als System der Richtertugenden etwa Eingang in die süddeutschen Rechtsspiegel. 50 In dem zwischen 1274 und 1275 abgeschlossenen Deutschenspiegel 51 heißt es: ein isleich richter sol vier tugunt an im haben. Die haizzent fu ͤ rsten v ͤ ber alle tugent. Daz ist dev rechtichait vnd dev weizhait vnd stæte. vnd dev mazze. er sol reht sein also daz er durch liebe noch durch gu ͦ tes liebe noch durch veintschaft niht entu ͦ wan daz recht sei. […] ein richter sol also stæt sein. daz er seinen leib vnd sein gu ͦ t sol wagen daz er daz rechte scherm. er sol also witzig sein. daz er daz vbel von dem gu ͦ ten. vnd daz gu ͦ te von dem Vbeln chu ͤ nne geschaiden. vnd chan er daz so ist er ein weiser richter die pesten tugent sol er haben. daz ist daz er got fu ͤ rchten sol. vnd daz er daz rechte minnen sol. vnd ellev vnrechtev dinch hazzen sol. so ist er ein weiser richter tu ͦ t er dev dinch. […] ( Deutschenspiegel , Ldr. 77,3) 52 Dass die geforderten Richtertugenden in der christlichen Morallehre begründet sind, wird auch im Deutschenspiegel selbst deutlich, wenn die Verfehlung eines bestechlichen Richters mit der des Judas verglichen wird (Ldr. 77,8). Doch: „Warum muss ein Richter überhaupt weise sein, wenn ihm die Urteilsfindung nicht obliegt? “, mag man mit dem fiktiven Gesprächspartner des Glossators Johannes von Buch fragen. Auch im Deutschenspiegel wird erläutert, dass es vor wertleichem gerichte nicht die Richter seien, die das Urteil sprächen (denn sie seien nicht alle weise, und es könne gut sein, dass in der Gerichtsversammlung Leute säßen, die weiser seien als der Richter allein! , Ldr. 77,5). Im Deutschenspiegel wird die Spannung zwischen der Verteilung der Verantwortlichkeiten nach der Gerichtsverfassung und der christlichen Richterethik so aufgelöst, dass es auch als Verfehlung des Richters verstanden wird, wenn er anderen Leuten erlaubt, ein unrechtes Urteil zu sprechen. 53 Wie ein weiser Richter durch eine geschickte Verhandlungs- 48 Vgl. dazu Küper 1967, S. 85-90. Vgl. auch schon die christlich geprägte Richterethik des Augustinus (s. dazu o. S. 209, Anm. 44). Zum Richter als bonus vir im mittelalterlichen römischen Recht vgl. Lepsius 2003, S. 209 f. 49 Vgl. Kroeschell 1986, S. 464 f. Dass bei der Vorstellung von Gott als gerechtem Richter menschliche Maßstäbe auf ihn übertragen werden, zeigt sich deutlich in der Legenda aurea , wo (im Kapitel De adventu domini ) in einem längeren Argumentationsgang bei der Beschreibung von Christus als idealem Richter (vgl. dazu Schwarz 1981, S. 545) unter anderem seine Immunität gegen die klassischen Fehler eines Richters genannt wird: Quartum est severitas iudicantis. Non enim flectetur timore, quia omnipotens est. […] Nec munere, quia ditissimus est. […] Nec odio, quia optimus est. […] Nec amore, quia iustissimus est. […] Iterum nec errore, quia sapientissimus est. […] (cap. 1,10 [Häuptli 2014, Bd. 1, S. 94, Z. 9-28] = M., cap. 1,151-166; „Das vierte ist die Strenge des Richtenden. Denn er wird sich nicht umstimmen lassen: Nicht durch Furcht, denn er ist allmächtig. […] Nicht durch ein Geschenk, denn er ist der Reichste. […] Nicht durch Hass, denn er ist der Beste. […] Nicht durch Liebe, denn er ist der Gerechteste. […] Auch nicht durch Irrtum, denn er ist der Weiseste. […]“; Übersetzung nach Häuptli ebd., S. 95). 50 Vgl. dazu Scheyhing 1960, S. 186; Küper 1967, S. 90-93; Tamás 2015, S. 77 f. 51 Zu dessen literatur- und rechtsgeschichtlicher Bedeutung vgl. Oppitz 1990, S. 33 f.; Johanek 1995; Ertl 2006, S. 348-353. Die im Landrechtsteil entwickelte Richterethik ist auch im Kontext des vorangestellten Buchs der Könige alter ê mit seinen Exempla mustergültigen Richtertums zu sehen. 52 Der Deutschenspiegel wird nach der Ausgabe von Eckhardt 1971 zitiert. Vgl. ähnlich Schwabenspiegel , Ldr. 71,3 (zu den verschiedenen Fassungen des Schwabenspiegels und zur Zählung s. u. S. 254, Anm. 278). 53 Swelch richter unreht vrtail geit. oder andern leuten gestattet. daz si vnreht vrtail sprechent. tu ͦ t er daz durch liebe oder durch haz oder durch gu ͦ tes willen. Der verleuset gotes hulde. (Ldr. 77,4). Vgl. auch Ldr. 77,8: da von sullen sich die richter hu ͤ ten. daz si niemen dhain vnreht tu ͦ n noch gestatten ze tu ͦ n. <?page no="211"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 211 führung den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann, ist dem letzten Absatz des Zitats aus der Glosse zu entnehmen; weitere Beispiele ließen sich beibringen. 54 Auch beim selbsturteilenden Richter des römisch-kanonischen Rechts ist zu fragen, inwieweit ein gerechtes Urteil von den Richtertugenden abhängt. Das vom Glossator auf der Grundlage römischrechtlicher Quellen entworfene Bild eines Richters, der geschriebenem Recht folgt, 55 deutet eine Bindung auch an verfahrensrechtliche Abläufe schon an. Im gelehrten Recht wurde ein anderes Problem intensiv diskutiert: Darf ein Richter bei seiner Entscheidung privates Sonderwissen über den Fall berücksichtigen, oder muss er auf der Grundlage des Tatsachenstoffes entscheiden, der von den Parteien eingebracht wurde? 56 Die ausdifferenzierte Diskussion kann hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden, aber die vorherrschende Meinung lässt sich so zusammenfassen, dass der Richter - wider besseres Wissen - einen Unschuldigen verurteilen solle, um das vorgeschriebene prozessuale Vorgehen zu wahren, denn dann sei es das Gesetz, das töte, nicht der Richter. Dahinter steht die Vorstellung von einer Gefahr für die Seele des Richters: Handele er in rechter Gesinnung unter Einhaltung der prozessualen Ordnung ( ordo iudiciarius ), bleibe er als Werkzeug Gottes von Sündenschuld frei und werde nicht zum Mörder. 57 Über den konkreten Streitpunkt hinaus lässt die Diskussion zwei allgemein wesentliche Aspekte sichtbar werden: zum einen die strukturelle Nähe eines Todesurteils zum Mord, 58 zum anderen das Sündenparadigma als mögliche Herangehensweise bei der moralischen Beurteilung des Verhaltens von Personen, die an Gerichtsverhandlungen beteiligt sind. Thomas von Aquin, der sich in seiner Summa Theologiae mehrfach mit dem Problem auseinandersetzt, ob der Richter sein privat erworbenes Wissen nutzen dürfe (vgl. auch II a - II ae q. 67), 59 geht bei der Diskussion der Frage, wie ein Richter verfahren solle, wenn er weiß, dass ein Unschuldiger von falschen Zeugen beschuldigt wird, 60 auch darauf ein, ob falsche Zeugen und diejenigen, die ein Todesurteil ausführen, Sünde auf sich laden: Ad tertium dicendum quod iudex, si scit aliquem esse innocentem qui falsis testibus convincitur, debet diligentius examinare testes, ut inveniat occasionem liberandi innoxium, sicut Daniel fecit. Si autem hoc non potest, debet eum ad superiorem remittere iudicandum. Si autem nec hoc potest, non peccat 54 „Nur in scheinbarem Widerspruch steht der Ruf nach dem rechtskundigen Richter zu der verfassungsrechtlichen Regelung, die ihm die Beteiligung an der Rechtsfindung versagte. Zwar war und blieb seine abweichende Rechtsauffassung unbeachtlich; er hatte die rationabilem sentenciam der Urteiler ohne Beeinflussungsversuch anzunehmen und auszuführen. Doch dieses Gebot schloß nicht zugleich die Verpflichtung ein, offenkundigem Unrecht den Arm zu leihen. Richterliches Rechtsverständnis wirkte in den Formen des passiven Widerstands: ohne den Richter konnte das Gericht nicht gehegt, ohne seinen Befehl der Urteilsspruch nicht wirksam werden.“ (vgl. Drüppel 1981, S. 128, mit stadtrechtlichen Belegen). 55 Zu den Hintergründen für die auch von Johannes von Buch geforderte strikte Gesetzesbindung des Richters vgl. Kannowski 2007, S. 232 f.; 593-595. 56 Zur Parömie iudex secundum allegata, non secundum conscientiam iudicat („Der Richter urteilt nach dem, was vorgebracht worden ist, nicht nach dem, was er [sc. aus anderen Quellen] weiß.“) vgl. Nörr 1967; 2012, S. 188-190. Vgl. dazu auch Lepsius (2003, S. 27), die deutlich macht, dass damit eine Beweiswürdigung durch den Richter nicht ausgeschlossen ist. Zur Bedeutung von conscientia in diesem Zusammenhang vgl. Kannowski 2007, S. 136-141; Whitman 2008a, S. 106. 57 Vgl. dazu Kuttner 1935, S. 252 f.; Kannowski 2007, S. 402 f.; Whitman 2008a, S. 104-114. 58 Zur theologischen Rechtfertigung von Todesurteilen vgl. Whitman 2008a, S. 28-49. 59 Vgl. dazu Lippert 2000, S. 194-196. 60 Nach Whitman (2008a, S. 113 mit Anm. 84 [S. 242]) ist „Homicide“ das Thema von Quaestio 64; die Problematik wird jedoch unter dem übergeordneten Aspekt de vitiis oppositis commutativae iustitiae diskutiert. <?page no="212"?> 212 5 Externe Bezugsfelder secundum allegata sententiam ferens, quia non ipse occidit innocentem, sed illi qui eum asserunt nocentem. Minister autem iudicis condemnantis innocentem, si sententia intolerabilem errorem contineat, non debet obedire, alias excusarentur carnifices qui martyres occiderunt. Si vero non contineat manifestam iniustitiam, non peccat praeceptum exequendo, quia ipse non habet discutere superioris sententiam; nec ipse occidit innocentem, sed iudex, cui ministerium adhibet. ( II ª- II ae q. 64 a. 6 ad 3) 61 „Zu 3. Wenn der Richter weiß, dass jemand unschuldig ist, der durch falsche Zeugen überführt wird, muß er die Zeugen sorgfältiger prüfen, um eine Möglichkeit zu finden, den Unschuldigen zu befreien, wie es Daniel getan hat [Dn 13,51 ff.]. Kann er das nicht, so muss er ihn zur Urteilsfindung an einen Höheren überweisen. Wenn er auch das nicht kann, sündigt er nicht, wenn er nach den vorgelegten Aussagen das Urteil fällt, denn nicht er tötet den Unschuldigen, sondern die, die seine Schuld behaupten. - Der Scharfrichter aber des Richters, der einen Unschuldigen verurteilt, darf, wenn das Urteil einen unerträglichen Irrtum enthält, nicht gehorchen; anderenfalls würden die Henker, die die Märtyrer getötet haben, entschuldigt. Enthält das Urteil aber keine offenbare Ungerechtigkeit, so sündigt er nicht, wenn er den Befehl ausführt; denn es ist nicht seine Sache, die Entscheidung des Vorgesetzten zu untersuchen. Auch tötet nicht er den Unschuldigen, sondern der Richter, dem er zu Diensten ist.“ 62 Schuldig seien auf jeden Fall diejenigen, die einen Unschuldigen falsch beschuldigten, nicht der Richter. Bei der Beurteilung der Schuld derjenigen, die das Todesurteil ausführen, wird zwar ihre Position in der Hierarchie berücksichtigt, wenn gesagt wird, dass sie nicht verpflichtet seien, das Urteil eines Höherstehenden in Frage zu stellen, wenn nicht klar ist, dass ein unrechtes Urteil vorliegt. Es kommt aber indirekt auch das Kriterium ins Spiel, ob sie wissentlich oder unwissentlich ein ungerechtes Todesurteil vollstrecken, da damit argumentiert wird, dass ihnen bei einer evidenten Ungerechtigkeit die Befehlsverweigerung offenstehe (andernfalls hätten auch diejenigen eine Entschuldigung, die Märtyrer hinrichten). Die differenzierte Aufschlüsselung der Schuldanteile ist deshalb von besonderem Interesse, weil die Frage danach, ob wissentlich oder unwissentlich gehandelt wurde, von Thomas von Aquin auch für den ähnlich gelagerten Fall des Prozesses gegen Jesus erörtert wird. 63 Die Argumentation ist Teil von Quaestio 47 des dritten Teils der Summa Theologiae , in der es um die causa efficiens der Passion Jesu geht. Dazu gehört, wie schon im Proömium angekündigt wird, auch die Behandlung der Frage nach der Sünde derjenigen, die Jesus getötet haben; d. h., juristische Aspekte stehen nicht im Vordergrund. Das Sündenparadigma ist durch das Johannesevangelium (19,11) vorgegeben, wenn Jesus zu Pilatus sagt: respondit Iesus / non haberes potestatem adversum me ullam / nisi tibi datum esset desuper / propterea qui me tradidit tibi maius peccatum habet („Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre; deshalb hat der, der mich dir übergeben hat, die größere Schuld.“). 64 Ebendieses Jesuswort wird in argumentum 2 des articulus 6 zitiert, nach dem Judas die größere Sünde auf sich geladen habe. An dieser Stelle erfolgt 61 Die Zitate aus der Summa Theologiae beruhen hier und im Folgenden auf der Editio Leonina . 62 Die Übersetzung folgt mit Abweichungen der von Utz (1953) kommentierten deutschen Ausgabe (S. 171 f.). 63 Falsche Zeugen gibt es bei der Verhandlung vor Pilatus (anders als bei der vor dem Hohen Rat, vgl. Mt 26,59-61) nach der Überlieferung der kanonischen Evangelien nicht, aber ungerechtfertigte Anklagen, nach denen Jesus Schaden anrichte. 64 Zur Bandbreite der in den kanonischen Evangelien angelegten Deutungsmöglichkeiten des Passionsgeschehens im Hinblick auf die Pilatus-Figur vgl. Scheidgen 2002, S. 56 f. <?page no="213"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 213 auch bereits eine Differenzierung zwischen Pilatus und den ministri , die die Kreuzigung ausgeführt haben, ohne dass sie hier schon funktionalisiert würde . In argumentum 1 war, abgeleitet aus dem Jesuswort pater, ignosce illis, quia nesciunt quid faciunt 65 („Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“), 66 der Beurteilungsmaßstab des Wissens bzw. Nichtwissens eingeführt worden, indem das Nichtwissen als Faktor präsentiert wird, der die Schwere der Sünde reduzieren könne. Unter Berufung auf Chrysostomus 67 (vgl. III ª q. 47 a. 6 s. c.) wird im Abschnitt sed contra eine Unschuldsvermutung zurückgewiesen; vielmehr wird die Schwere der Sünde nach dem jeweiligen Wissensstand der Beteiligten differenziert, 68 wobei hier religiöses Wissen, insbesondere um die Göttlichkeit Jesu, gemeint ist. 69 Unterschieden wird in der responsio dann sowohl zwischen den principes und den minores ,der Juden‘ 70 als auch zwischen Pilatus 71 und seinen Soldaten: 72 Respondeo dicendum quod, sicut dictum est, principes Iudaeorum cognoverunt Christum, et si aliqua ignorantia fuit in eis, fuit ignorantia affectata, quae eos non poterat excusare. Et ideo peccatum eorum fuit gravissimum, tum ex genere peccati; tum ex malitia voluntatis. Minores autem Iudaei gravissime peccaverunt quantum ad genus peccati, in aliquo tamen diminuebatur eorum peccatum propter eorum ignorantiam. Unde super illud Luc. XXIII , nesciunt quid faciunt, dicit Beda, pro illis rogat qui nescierunt quod fecerunt, zelum Dei habentes, sed non secundum scientiam. Multo autem magis fuit excusabile peccatum gentilium per quorum manus Christus crucifixus est, qui legis scientiam non habebant. ( III ª q. 47 a. 6 co.) Ad primum ergo dicendum quod excusatio illa domini non refertur ad principes Iudaeorum, sed ad minores de populo, sicut dictum est. ( III ª q. 47 a. 6 ad 1) 65 Vgl. Lc 23,34: Pater dimitte illis non enim sciunt quid faciunt . 66 Die Übersetzung folgt der von Hoffmann (1956) kommentierten deutschen Ausgabe (S. 78). 67 Vgl. De prophetiarum obscuritate 1,3 (zitiert nach PG 56, col. 168). 68 Zur unwissentlich begangenen Sünde vgl. auch Summa Theologiae Iª-IIae q. 6 a. 8; IIIª q. 80 a. 5 (vgl. den Kommentar von Murphy 1965, S. 73). 69 Vgl. Hammerle 2012, S. 266-270. 70 Damit, dass das einfache Volk unwissend bzw. in guter Absicht gehandelt habe, die jüdischen Gelehrten aber gewusst hätten, dass Christus der Messias gewesen sei, argumentieren im 13. Jahrhundert auch Alexander von Hales und Gérard d’Abbeville (vgl. Niesner 2005, S. 213 f., auch zu alternativen Positionen). 71 Dass Pilatus seinerseits einen institutionell begrenzten Handlungsspielraum hat, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Vgl. aber Summa Theologiae IIª-IIae q. 67 a. 4 co.: Iudex enim inferior non habet potestatem absolvendi reum a poena, contra leges a superiore sibi impositas. Unde super illud Ioan. XIX, non haberes adversum me potestatem ullam, dicit Augustinus, talem Deus dederat Pilato potestatem ut esset sub Caesaris potestate, ne ei omnino liberum esset accusatum absolvere. („Der untergeordnete Richter hat nicht die Macht, gegen die ihm vom Übergeordneten auferlegten Gesetze den Angeklagten von der Strafe zu befreien. Deshalb sagt Augustinus zu Io 19[,11] Du hättest keine Gewalt über Mich : ,Gott hat dem Pilatus eine Macht dergestalt gegeben, dass er unter der Gewalt des Kaisers stehen sollte, damit ihm in keiner Weise freistünde, einen Angeklagten freizusprechen.‘ “; die Übersetzung folgt mit Abweichungen der von Utz [1953] kommentierten deutschen Ausgabe [S. 230 f.]). 72 Zu entsprechenden Abstufungen der Schuld in Der Kreuziger des Johannes von Frankenstein (vv. 7035-7154) vgl. Scheidgen 2002, S. 225-228. Da in Der Kreuziger mehrfach Thomas von Aquin zitiert wird (vgl. Ferber 1935, S. 3), wird man die Ausführungen als Thomas-Rezeption verstehen dürfen. Sie schließen an die Erklärung an, dass der Sinneswandel des Pilatus, der Jesus zunächst habe freilassen wollen, aus Furcht, Gefälligkeit ( favorem , vgl. Ferber ebd., S. 91, Z. 28) ,den Juden‘ gegenüber und Bestechlichkeit erfolgt sei (vv. 7005-7034). Die Schuldlehre ist also mit dem Konzept der quattuor modi verknüpft. <?page no="214"?> 214 5 Externe Bezugsfelder Ad secundum dicendum quod Iudas tradidit Christum, non Pilato, sed principibus sacerdotum, qui tradiderunt eum Pilato, secundum illud Ioan. XVIII , gens tua et pontifices tui tradiderunt te mihi. Horum tamen omnium peccatum fuit maius quam Pilati, qui timore Caesaris Christum occidit; et etiam quam peccatum militum, qui mandato praesidis Christum crucifixerunt; non ex cupiditate, sicut Iudas, nec ex invidia et odio, sicut principes sacerdotum. ( III ª q. 47 a. 6 ad 2) „Antwort: Die Fürsten der Juden erkannten, wie gesagt [in a. 5], Christus. Und wenn es bei ihnen eine Unwissenheit gab, dann war es eine geheuchelte Unwissenheit, die sie nicht entschuldigen konnte [a. 5]. Und deshalb war ihre Sünde die schwerste, sowohl von der Art des Sünde her als auch von der Bosheit des Willens. Das einfache Volk der Juden aber sündigte aufs schwerste, soweit es die Art der Sünde betrifft. In gewisser Weise jedoch war ihre Sünde gemindert durch ihre Unwissenheit. Daher sagt Beda zu Lk 23,[34] Sie wissen nicht, was sie tun : ,Für die betete Er, die nicht wußten, was sie taten, die wohl Eifer für Gott hatten, der aber nicht vom Wissen geleitet war.‘ Aber in viel höherem Maße entschuldbar war die Sünde der Heiden, durch deren Hand Christus gekreuzigt wurde, da sie keine Kenntnis vom Gesetz hatten. Zu 1. Die Entschuldigung des Herrn bezieht sich nicht auf die Fürsten der Juden, sondern auf die kleinen Leute aus dem Volke, wie gesagt worden ist. Zu 2. Judas lieferte Christus nicht an Pilatus, sondern an die Hohepriester aus, die Ihn Pilatus übergaben, gemäß Io 18[,35]: Dein Volk und Deine Hohepriester haben Dich mir übergeben . Die Sünde all dieser aber war schwerer als die des Pilatus, der Christus aus Furcht vor dem Kaiser töten ließ; und auch als die Sünde der Soldaten, die Christus auf Befehl ihres Vorgesetzten kreuzigten und nicht aus [Geld-]Gier wie Judas oder aus Neid und Hass wie die Hohepriester.“ 73 Die Abstufung der Sünden wird nicht allein am jeweiligen Wissensstand festgemacht, sondern auch an der Handlungsmotivation der Beteiligten: Die Furcht des Pilatus vor dem Kaiser und die Ausübung des Befehls durch die Soldaten werden als weniger schuldbehaftet abgesetzt von den niederen Beweggründen der Habgier ( Judas) sowie des Neides und Hasses (Hohepriester). 74 Die Bewertung der Handlungen erfolgt hier also nach dem Prinzip der Gesinnungsethik, wonach die innere Haltung, nicht die Tat das Entscheidende ist. Auch wenn es in der zitierten Passage explizit um moraltheologische Fragen geht, schwingen juristische Aspekte mit, weil Gesinnung und Wille seit dem Decretum Gratiani ein zentrales Kriterium der kanonistischen Schuldlehre waren. 75 Demgegenüber gilt im ,deutschen‘ Recht des hohen und späten Mittelalters das Prinzip der Erfolgshaftung als dominant, nach dem die Tat das Entscheidende ist. Allerdings kennt auch der Sachsenspiegel mildernde Umstände wie mangelnde Zurechnungsfähigkeit oder eine Notwehrsituation, deren Berücksichtigung voraussetzt, dass der Wille des Täters als wichtiger Faktor erachtet wird. 76 73 Die Übersetzung folgt mit Abweichungen der von Hoffmann (1956) kommentierten deutschen Ausgabe (S. 79 f.). 74 Vgl. dazu Hammerle 2012, S. 269. Der Katalog der Laster derjenigen, die am Vollzug der Passion verantwortlich beteiligt sind, war weiter verbreitet (zum Speculum morale des [Ps.-]Vinzenz von Beauvais vgl. Scheidgen 2002, S. 72). Zur Differenzierung zwischen der Schuld ,der Juden‘, die den Rat zur Kreuzigung geben, und der der römischen Soldaten, die sie ausführen, vgl. auch Goetz 2013, Bd. 2, S. 469 (in Bezug auf Rather von Verona, Praeloquia 1,27). 75 Vgl. grundlegend Kuttner 1935, S. 1-62 (zur ignorantia , S. 133-184); vgl. auch Schnell 1991, S. 18. 76 Vgl. Weitzel 2008b, mit weiterer Literatur. Zu „Absicht und ungewollte[r] Tat“ im Strafrecht des deutschen Mittelalters vgl. His 1920, S. 68-102. Auch bei der Regelung, dass derjenige, der nach bestem <?page no="215"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 215 In der zitierten Stelle aus der Glosse wird ebenfalls zwischen wissentlichem und unwissentlichem Handeln unterschieden, wenn es in dem mit Merke eingeleiteten Abschnitt heißt, dass auch diejenigen zur Hölle fahren, die das Urteil vulborden vnde dat beter weten . Der Bezug auf das Jüngste Gericht verdeutlicht weiterhin, dass die Ausführungen im Kontext der Frage nach der persönlichen Sündenschuld der Beteiligten zu lesen sind, obwohl bei der Auslegung des Exempels vom Prozess gegen Jesus vor allem mit der Gerichtsverfassung argumentiert wird. Der Satz Nu ze, wy hir vnschuldich is, vnde de blifft noch vnschuldich. bleibt jedoch enigmatisch. 77 Denn die Unschuld des Richters, der nur einem Rat folge, wird abschließend dadurch relativiert, dass die Kategorie eines guten Rates eingeführt wird, die implizit vom Richter eine eigene Urteilsfähigkeit fordert, die wiederum einen gewissen Handlungsspielraum voraussetzt. 78 Auch hat man es mit einer Verdoppelung der Ratgeberrollen zu tun: Zunächst erscheint das ,Volk‘ als Empfänger des Rates der ,Priester‘. Später wird es jedoch implizit selbst zum Ratgeber deklariert, wenn der Urteilsfinder allgemein als Ratgeber des Richters gekennzeichnet ist. Diese Aussage ist auch auf das ,Volk‘ zu beziehen, da vorher im Text gesagt worden war, dass es auf den Rat der ,Priester‘ hin das Urteil gefunden habe. 79 Die der Argumentation inhärente Spannung lässt sich wahrscheinlich darauf zurückführen, dass zunächst - ähnlich wie bei Thomas von Aquin - der Grad der Verantwortlichkeit vom Grad des Wissens abhängig gemacht wird, dann aber die theologische Argumentation in die Gegebenheiten der Gerichtsverfassung überführt wird, nach der als Ratgeber nur der Urteilsfinder in Frage kommt. 80 Während der Rat der Urteilsfinder einen institutionellen Charakter hat, 81 kann beim Rat der ,Priester‘ im Kontext ihres aus der Bibel bekannten Vorgehens gegen Jesus die Bedeutung der „intellektuelle[n] […] Beihilfe zu einer Straftat“ 82 mitschwingen. Kaleidoskopartig sind also in dem zitierten Abschnitt aus der Glosse nicht nur das gelehrte und das sächsische Recht eingefangen, sondern es überlagern sich auch moraltheologische und juristische Beurteilungsmaßstäbe. Die Nähe zwischen moraltheologischen und juristischen Aspekten ist nicht auf den Spezialfall des Prozesses gegen Jesus beschränkt - man denke neben der kanonistischen Schuldlehre auch an den Tugendkatalog für Richter -, zeigt sich hier aber in besonderer Verdichtung. Die mittelalterliche Rezeption der Pilatus-Figur lässt erkennen, wie die verschiedenen Aspekte einzeln herausgearbeitet Wissen ein Urteil findet, selbst wenn es unrecht sei, keinen Nachteil davon haben solle ( Sachsenspiegel , Ldr. II 12,9), ist die innere Haltung maßgeblich, ebenso bei der Unterscheidung zwischen der wissentlichen und der unwissentlichen Unterstützung eines Missetäters (z. B. Ldr. III 23; vgl. dazu His ebd., S. 154). 77 Vgl. dazu Kannowski 2007, S. 122, Anm. 89: „Dieser Satz ist etwas kryptisch. Johann könnte meinen, wer sich als Richter in Bezug auf das gerichtliche Verfahren an diesen Ablauf hält, den trifft kein Vorwurf.“ Zur Komplexität der - manchmal auch in Form einer Quaestio gestalteten - Argumentationsgänge in der Glosse vgl. Kannowski 2007, S. 571-574. 78 Er ist - vor dem Hintergrund des Deutschenspiegels - wohl im Ausgeben des Urteils zu sehen. Dafür spricht auch die vorherige Erklärung in der Glosse , dass der Richter, der ein ungerechtes Urteil gestattet, zur Hölle fahre. 79 Die Kollektivierung des ,Rates‘ durch die Zustimmung zum Urteilsvorschlag ist an dieser Stelle der Argumentation ausgespart. 80 Zum Rechtssprichwort „Wer das Urteil findet, ist des Richters Ratgeber.“ vgl. Schmidt-Wiegand / Schowe 1996, S. 332. 81 Zu dieser Bedeutung vgl. DRW, s. v. ,Rat‘, II,1: „im Rahmen des rechtlich Gebotenen: Ratschlag, der aus einem besonderen Rechtsverhältnis heraus erbeten oder erteilt wird“. 82 Vgl. DRW, s. v. ,Rat‘, II,2, mit Belegen. Dieser Bedeutung entspricht die Verwendung von consilium zur Bezeichnung einer Mittäterschaft im römischen Recht (vgl. dazu Matzinger-Pfister 1972, S. 65). <?page no="216"?> 216 5 Externe Bezugsfelder werden, 83 aber auch ineinander verschränkt erscheinen, so wie noch bei Johannes Geiler von Kaysersberg, der in seinem Seelenparadies Pilatus als Exempel für die Falschheit verwendet, weil er die Wahrheit nicht beschützt habe, obwohl er es hätte tun müssen: 84 Pilatus […] bekannt wol / das der herr Jesus den tod nit het verschuldet / und daz in die Juden falschlichen von neides und hasses wegen dargaben. davon solt er in beschirmt haben als ein richter / dem das zu ͦ geho ͤ rt von ambtes wegen / wenn die geschrifft spricht / Den unschuldigen und den gerechten solt du nit to ͤ den / er het sein ouch gewalt / als er von im selber betzeüget / da er zu ͦ dem herrenn sprach / warumb antwurtest du mir nit ⟨? ⟩ weist du nit / das ich gewalt hab ⟨/ ⟩ dich zu ͦ to ͤ den / oder ledig zu ͦ laßen? Aber dorumb das sy im trowten uff den keiser / den er forcht / ouch wolt er inen hiemit gefallen und irer bittung genu ͦ g sein / davon gab er in den herren ⟨/ ⟩ mit im zetu ͦ nd noch irem willen. 85 Die individuellen Verfehlungen des Pilatus (Handeln wider besseres Wissen aus Furcht vor dem Kaiser und als Gunsterweis gegenüber ‚den Juden‘) sind mit den eigentlich Pilatus gegebenen Amtspflichten und -kompetenzen eines Richters kontrastiert, der einen Unschuldigen nicht töten solle. Anders als in der Glosse des Johannes von Buch wird die Richterrolle aber nicht aus einem bestimmten kodifizierten Recht abgeleitet, sondern aus einem modifizierten biblischen Tötungsverbot und dem Bericht im Evangelium. Den hier zusammengestellten Textzeugnissen aus dem 13. bis zum beginnenden 16. Jahrhundert ist gemeinsam, dass sie - unter unterschiedlichen Vorzeichen - versuchen, die Verantwortung des Richters allgemein und die des Pilatus im Besonderen zu bestimmen, wobei sich moraltheologische und juristische Betrachtungsweisen gegenseitig durchdringen. Für die Frage nach der Positionierung der Kerntexte zu diesem Problemkreis ergeben sich vor diesem Hintergrund neue Perspektiven: Zunächst einmal ist festzuhalten, dass in ihnen der Prozess gegen Jesus - ähnlich wie in der Glosse des Johannes von Buch - als prototypische Gerichtsverhandlung präsentiert wird, nicht als heilsgeschichtlicher Sonderfall. 86 Die Integration ,deutschrechtlicher‘ Elemente bei der Gestaltung des Verfahrensablaufs (z. B. Zeit und Ort der Verhandlung) legt es nahe, dass auch bei der Beurteilung der Richterfigur und der Ankläger bzw. Urteiler eine entsprechende Kontextualisierung bei Autoren und zeitgenössischen Lesern anzunehmen ist. Alle drei Texte präsentieren eine Verhandlungssituation, in der der Richter aufgrund der Beweislage von der Unschuld des Angeklagten überzeugt ist. 87 In Diu urstende nimmt Pilatus zwar anfänglich aufgrund des Verhaltens der Ankläger eine Schuld des Angeklagten an (vv. 323 f.), doch ändert sich seine Auffassung, als sie für ihre Anschuldigungen keine Beweise beibringen können (vv. 513-517). D.h., als Richter ist Pilatus nicht voreingenommen oder verfolgt von vornherein eigene Interessen, sondern lässt sich - wie in den beiden anderen Texten - von der Sachlage leiten. 83 In seiner grundlegenden Arbeit zur Auslegung der Pilatus-Figur insbesondere in deutschsprachigen mittelalterlichen Texten differenziert Scheidgen (2002) u. a. zwischen einer spirituellen Interpretation und der Funktionalisierung der Pilatus-Figur als didaktischem Exempel eines ungerechten Richters. 84 Vgl. dazu Scheidgen 2002, S. 246. 85 Zitiert nach Bauer 1995, S. 375, Z. 35 - S. 376, Z. 12. 86 Zur Eingebundenheit des Pilatus in den göttlichen Heilsplan vgl. Scheidgen 2002, S. 51-57. 87 Die Ausgangslage ist in dieser Hinsicht anders als bei dem kanonistischen Streitfall, bei dem der Richter selbst gewonnene Erkenntnisse hat, die der Beweislage widersprechen. <?page no="217"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 217 ,Den Juden‘ dagegen, die sowohl als Ankläger wie auch als Urteiler fungieren, wird mehrfach Hass als Handlungsmotivation zugeschrieben. 88 Über das judenfeindliche Klischee hinaus hat das auch eine rechtsethische Relevanz, denn niemand soll sich durch Emotionen vom Recht abbringen lassen. 89 In einem strafrechtlichen Sinn wird mit der Angabe der Motivation der klageführenden Juden das Vergehen der falschen Anklage 90 aufgerufen. Sie wird im Evangelium Nicodemi von Pilatus durchschaut und als solche benannt (vv. 1371 f.); die Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Ankläger wird vom Erzähler außerdem dadurch markiert, dass er sie, als sie mit ihren Vorwürfen keinen Erfolg haben, beschließen lässt, den Richter Pilatus zornig zu machen und den Angeklagten auf diese Weise ins Verderben zu stürzen ([…] / daz er anderweide / beweget worde in zorne: / „so ist Jesus der vorlorne.“ , vv. 1272-1274), d. h., sie wollen das von der Richterethik geforderte Verhalten unterminieren. 91 Auch in Diu urstende ist unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die jüdischen Ankläger auf ein ungerechtes Urteil sinnen: Kaiphas gibt von vornherein vor, dass durch die Gerichtsverhandlung der Tod Jesu erwirkt werden soll (vv. 126-128). Dementsprechend bezeichnet der Erzähler ,die Juden‘, die eine Gerichtsentscheidung möglichst schnell herbeiführen wollen, als mordgierig ( ez bâten die mortgîten / Pylâtum den rihtære / daz er fruo bereit wære , / zuo der schrangen quæme / und ir rede vernæme, vv. 262-266). Wenn Pilatus in Diu urstende für einen geordneten Ablauf der Verhandlung sorgt, indem er unziemliches Verhalten vor Gericht durch eigene Ermahnungen und den Einsatz des schergen unterbindet (vv. 493-519; 92 529-546), nutzt er den Spielraum, den er als Richter hat, um ein gerechtes Verfahren zu gewährleisten. Auf ebendiesem Gebiet versagt er, wenn die Situation, als die Beweislage sich zugunsten Jesu weiter vereindeutigt hat, eskaliert und er den Gerichtsfrieden nicht wahren kann, sondern der wütende Mob in den abgeschrankten Bereich eindringt (vv. 724-742). Anders als etwa im Deutschenspiegel gefordert, 93 ist Pilatus nicht bereit, für die Wahrung des Rechts sein Leben zu riskieren (vv. 746 f.), sondern lässt aus Furcht zu, dass Unrecht verübt wird. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Kontexte ist das als klarer Verstoß gegen die Richterethik zu interpretieren. 94 Zwar gilt sie nicht allein für den Richter in einem ,deutschrechtlichen‘ Verfahren, aber aufgrund der 88 Vgl. z. B. Christi Hort , vv. 1637 f.: die alten daz widersprachen, / die ir haz an im rachen (als Antwort auf Vermittlungsversuche von Pilatus und Nikodemus). Im Evangelium Nicodemi (vv. 1027-1029) erklären innerhalb der Prozesshandlung die zwölf jüdischen Männer Pilatus, dass ,die Juden‘ Hass auf Jesus hätten, weil er an Samstagen heile; auch im summierenden Blick auf das Passionsgeschehen wird vom Erzähler der nit (v. 394) bzw. von Figuren der haz ,der Juden‘ benannt (v. 3976 [Adrian im Rückblick]; v. 4285 [ein Ritter des Pilatus im Rückblick]). 89 Vgl. die entsprechende Stelle aus dem Prologus des Sachsenspiegels (s. o. S. 208, Anm. 42). 90 Zur „malicious prosecution“ durch die jüdischen Ankläger vgl. (in Bezug auf die York Trial Plays ) Tiner 2005, S. 145 f. (mit Anm. 25 [S. 148 f.], dort Stellenangaben zum römischen und kanonischen Recht). Vgl. außerdem den Abschnitt über falsche Ankläger im Corpus iuris civilis ( Cod. 9,46,9; zitiert nach Krüger 1877). Auch der Sachsenspiegel (Ldr. I 50,1) kennt Sanktionen für eine Anklage, die nicht bewiesen werden kann, allerdings ist dafür nicht die Intention des Anklägers entscheidend, sondern dessen Unfähigkeit, die Vorwürfe durch einen Beweis zu bekräftigen (zu diesem Prinzip vgl. bezogen auf Quellen aus England auch Whitman 2008a, S. 74 mit Anm. 97-99 [S. 233]). 91 Dass der Erzähler dieses Verhalten missbilligt, ist an der diffamierenden Bezeichnung ,der Juden‘ als die ungetruwen ruden (v. 1268) ablesbar. 92 „Konrad von Heimesfurt lässt hier Pilatus als auffällig gerechten Richter sprechen […]“ (Mattig- Krampe 2001, S. 111). 93 S. o. S. 210. 94 Vgl. neben den obigen Ausführungen auch Scheidgen (2002, S. 70-74; 245 f.) zum timor mundanus . <?page no="218"?> 218 5 Externe Bezugsfelder relativ systematischen Einarbeitung ,deutschrechtlicher‘ Elemente in den Verfahrensablauf kann man einen entsprechenden Bezugsrahmen für die nahegelegte Bewertung des Verhaltens des Pilatus vermuten. Der Bezug wäre rein affirmativ, aber dass der Text durch die Ausgestaltung der Verhandlungsführung des Pilatus Möglichkeiten der Einflussnahme des Richters aufzeigt, kann auch als Stellungnahme zu dem Problem verstanden werden, inwiefern die Anforderungen an gerechtes Richten mit einem ,deutschrechtlichen‘ Verfahren zu vereinbaren sind. Auch in Christi Hort werden Einflussmöglichkeiten aufgezeigt, die ein Richter hat, zunächst über die Technik der abgewiesenen Alternative, indem über die Botschaft der Frau des Pilatus die Möglichkeit ins Spiel gebracht wird, dass er erst gar kein Verfahren eröffnet (vv. 1569-1576). Zumindest innerhalb der Erzählwelt erscheint das als realistische Option, weil Pilatus später bereut, dass er dem entsprechenden Rat seiner Frau nicht gefolgt sei (vv. 4094-4098). Näher an den in der Glosse suggerierten Verhaltensmöglichkeiten eines Richters ist die Reaktion des Pilatus auf die Kreuzigungsforderung, die ,die Juden‘ auf seine (vom Erzähler ausdrücklich als solche charakterisierte) Urteilsfrage vorbringen (vv. 1711-1713). Pilatus gibt daraufhin das Urteil nicht aus, sondern versucht die Verantwortung an die jüdische Gerichtsbarkeit zu delegieren (vv. 1714-1722). Auch die Einschaltung von Herodes (vv. 1731-1750), von der in der Folge erzählt wird, kann als ein entsprechender Versuch gelesen werden. Er ist in den kanonischen Evangelien vorgeprägt, ebenso wie die Geißelung als ,mildere‘ Alternativstrafe (vv. 1781-1786) und das Angebot, Jesus im Rahmen der Passah-Amnestie freizulassen (vv. 1851-1879). Letzteres wird ausdrücklich in den Kontext der Richterethik gestellt, wenn gesagt wird, dass Pilatus seine Rede wislich (v. 1852) angefangen habe. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das kurz darauf geschilderte, aber weder motivierte noch explizit kommentierte Nachgeben des Pilatus (vv. 1881-1883) als richterliche Verfehlung; ein sündhaftes Verhalten lässt sich jedoch an dieser Stelle nur erschließen. 95 Im Pilatus-Veronika-Teil des Textes wird demgegenüber eine dezidiert moraltheologische Betrachtungsweise eingenommen: Der Erzähler stellt heraus, dass Pilatus um den Hass ,der Juden‘ gewusst 96 und trotzdem der Bitte ,der Juden‘ nachgegeben und unrecht gericht über Jesus gehalten habe (vv. 4054-4062). Es werden damit gleich zwei falsche richterliche Verhaltensweisen benannt: das Handeln wider besseres Wissen und das Handeln aus Gefälligkeit heraus. 97 Damit aber nicht genug: Die Reue, die Pilatus packt, ist rein weltlicher Natur; er ist vom timor mundanus (der Angst um sein Leben) bestimmt (vv. 4063-4100). Der Erzähler erwartet hingegen Reue wegen der untriuwe 98 und der groz mistat des Pilatus, mit anderen Worten wegen seiner sunde ( ez gerau in durch die sunde nicht , v. 4067). Anders als etwa bei Tilo von Kulm 99 fällt in Bezug auf Pilatus in Christi Hort das Stichwort gewizzen nicht, aber eine Vorstellung vom Gewissen kann für Christi Hort voraus- 95 Zur Unterlassung aus kanonistischer Perspektive vgl. Kuttner 1935, S. 43-47. 96 Ohne Schuldzuweisung berichtet auch Veronika, die den Tod Jesu in einen heilsgeschichtlichen Kontext stellt, von diesem Wissen des Pilatus (vv. 4728-4733). 97 Der Erzähler lässt ihn sich selbst des ubermût bezichtigen (v. 4090). - Zur Gefälligkeit als Richtermotivation s. auch o. S. 213, Anm. 72. 98 In der Handschrift steht triwe ; die Konjektur von Carl von Kraus ergibt jedoch mehr Sinn, weil triwe keine Reue erforderte. 99 In Tilos von Kulm Von siben ingesigeln (beendet 1331) wird im Hinblick auf den Prozess gesagt, dass Pilatus Wider di gewizzen ſin (v. 4448) gerichtet habe (vgl. zur Stelle Scheidgen 2002, S. 244 f.). Von siben ingesigeln wird nach der Ausgabe von Kochendörffer (1907) zitiert. <?page no="219"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 219 gesetzt werden, weil im Gebet zum Abendmahl das Sprecher-Ich seine Gewissensqualen beschreibt (vv. 1131-1152). Die Verfehlungen, die das Ich beklagt, bestehen nicht nur darin, dass es die Reinheit seines Gewissens nicht bewahrt hat (vv. 1136 f.), sondern dass es in seinem sündigen Zustand w i s s e n d an der Kommunion teilgenommen hat (v. 1143). 100 Angesichts des hier durchscheinenden Konzepts der Reflexion über die eigenen Sünden erscheint es gerechtfertigt, die falsche Reue des Pilatus als mangelnde Prüfung vor dem forum internum zu interpretieren. 101 Eingeholt wird Pilatus dann vom forum externum , nicht im Sinne eines geistlichen Gerichts, das im Kontext der Pilatus-Veronika-Legende nicht denkbar wäre, vielmehr in der Form der (,deutschrechtlich‘ geprägten) weltlichen Rechtsprechung der Römer. Die Überzeugung des Tiberius, dass Pilatus einen mort begangen habe (v. 5180), 102 entspricht der kanonistischen Auffassung, nach der die Grenze zum Mord überschritten ist, wenn der Richter bei einem Todesurteil nicht aus Liebe zum Recht handelt. 103 Auf der Figurenebene wird allerdings mit der Tat argumentiert. 104 Sowohl das Prinzip der Erfolgshaftung als auch das der Schuldhaftung sind im Text präsent. In Bezug auf das richterliche Verhalten des Pilatus lassen sie sich widerspruchsfrei harmonisieren. Angesichts der feststehenden Schuld des Pilatus ist es ein auffälliges, da nicht handlungsrelevantes Motiv, dass die Fürsten zögern, der Aufforderung des Tiberius zu entsprechen und einen Urteilsvorschlag zu machen: die fursten an ein ander sahen, ir deheiner sich nicht wolt vergahen daz er die urtail tæte, swie sies der chaiser pæte: si douchte ein tail swære. Vespasiano was ez ummære; ( Christi Hort , vv. 5235-5240) Dass Vespasian in seiner Rede dann hervorhebt, dass er sich sein Urteil auch zu ertailen traue (v. 5251), deutet erneut auf eine mögliche Hemmschwelle hin. Sie besteht offenbar nicht in der Schwierigkeit, das richtige Urteil zu finden. 105 Vielmehr könnte die Zurückhaltung der Fürsten auf die - auch in der Glosse genannte - Mitverantwortung der Urteiler 100 Zur Vorstellung, dass es dadurch am Blut Jesu schuldig geworden sei (vv. 1148 f.), vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae IIIª q. 80 a. 5. Dass das Sprecher-Ich in Christi Hort sich seiner Sünden bewusst ist, ergibt sich aus seinem Bekenntnis, dass sein Gewissen nicht rein sei. 101 Zur Begrifflichkeit und zum Verhältnis zur Rechtsprechung in geistlichen und in weltlichen Angelegenheiten vgl. Störmer-Caysa 1998, S. 92-96; 247-249. 102 Vgl. auch morder (v. 5188), mort (v. 5232). 103 Die rechte Gesinnung besteht im amor iustitiae und im amor correctionis (vgl. Kuttner 1935, S. 253). Vgl. dazu auch Kannowski 2007, S. 402 f.; Whitman 2008a, S. 47 f. 104 Tiberius spricht davon, dass Pilatus den Heiler ermordet habe (vv. 5179-5181). Vespasian benennt als Vergehen die Tötung des ,höchsten Mannes‘ (vv. 5249 f.), ähnlich der junge Mann, der Pilatus von der Verurteilung berichtet ( ‘daz du Jesum den hohen man / hast ertotet um sus.’ ; vv. 5278 f.). 105 Vgl. zu diesem Problem die kanonistisch beeinflussten Ausführungen im Deutschenspiegel , Ldr. 108,1 (zitiert nach Eckhardt 1971): Swer vrtail gevraget wirt vnd er der niht vinden chan. der sol swern ze den heiligen daz er niht enwizze waz dar vmbe reht sei. sprichet der Richter | danne ir sult vinden daz euch dar vmbe recht dunche. so sprichet der Richter vnreht. Wan ez ist manich man der niht wizzen chan. waz vmb ein isleich dinch recht ist da von sol niemen vrtail vinden im sage sein gewizzen daz si recht sei vnd zweivelt er icht dar an. so wirt er vor got schuldich. In der Normalform des Schwabenspiegels (Uh, zitiert nach Eckhardt / Eckhardt 1972) folgt an der entsprechenden Stelle (Ldr. 116) noch der präzisierende Zusatz: ob er si [sc. das Urteil] vindet nach wane . <?page no="220"?> 220 5 Externe Bezugsfelder zurückzuführen sein, die sich mit einem Todesurteil einer spirituellen Gefahr aussetzen, und zwar auch dann, wenn es gerechtfertigt ist. 106 Eine Scheu vor Todesurteilen wird in Christi Hort offenbar als generell geltend angenommen, denn sie wird auch an dem Punkt der Handlung als Motivation vermutet, an dem ,die Juden‘ die Schranken verlassen, wie der Erzähler, wohl missbilligend, bemerkt (vv. 1817-1826). Dass die Fürsten sich nicht vergahen wollen, charakterisiert sie im Rahmen des Gerichtsverfahrens jedoch eher positiv, ebenso dass sie sich für die Festlegung der Art der Todesstrafe eine Bedenkfrist erbitten (vv. 5264-5266). 107 Zu große Eile ebenso wie Zorn werden in Bezug auf den Richter als Fehler beim Urteilen benannt, wie sich zum Beispiel aus Rechtssprichwörtern erschließen lässt. 108 Man wird also fragen dürfen, ob Vespasian sich vorbildhaft verhält, für den sein schneller zorn schon hervorgehoben worden war ( dem was mit zorn gegen im gah , v. 5186), als er riet, Pilatus gefangen zu setzen. Auch Emotionen können, wie es die quattuor modi zeigen, im gerichtlichen Kontext problematisch sein. Allerdings wird im Gebetsteil von Christi Hort auch von Gott beim Jüngsten Gericht gesagt, dass er voller zorn handele. 109 Im Text ist also das Konzept des gerechten Zorns präsent. 110 Offenbar wäre es auch eine Möglichkeit, mit zorn auf einen Urteilsvorschlag zu reagieren, da die Fürsten sagen, als sie dem Urteil zustimmen, dass sie ihm nicht erbolgen seien (vv. 5258-5260). 111 Die Entscheidungsfreude Vespasians findet auf diese Weise Zustimmung. Vor allem aber wird das Urteil gegen Pilatus inhaltlich bestätigt. Es ist bezeichnend für die hybride Rechtswelt in Christi Hort , dass bei diesem Verfahren gegen einen Richter die Verantwortung der Urteiler im Vordergrund steht, während Tiberius als Richter nur moderiert. Im Evangelium Nicodemi fällt die Ausgestaltung der richterlichen Verfahrensführung im Prozess gegen Jesus insgesamt verhaltener aus als in Diu urstende oder Christi Hort . Es wird aber bei der Prozessschilderung mehr als deutlich gemacht, dass der Richter um die Unschuld des Angeklagten weiß (z. B. vv. 1298-1301; 1444 f.), ja er kennt sogar die intentio der Ankläger, die mit valschen listen Jesus zu Tode bringen wollten (vv. 1371-1377). 112 Auf- 106 Zur grundsätzlichen Befleckung durch Blutvergießen vgl. Whitman 2008a, S. 28-49, bes. S. 34; 41. Zur Regelung des kanonischen Rechts, dass es als Irregularität, also Hinderungsgrund für eine Weihe, gewertet wird, wenn jemand als Richter ein Todesurteil gefällt hat, vgl. Kéry 2006, S. 426. Wie auch eine marginale Mitwirkung an einem Todesurteil oder dessen Vollstreckung zum Weihehindernis werden konnte, belegen für das Spätmittelalter die an die Pönitentiarie gerichteten Suppliken (vgl. Esch 2010, S. 71-75 [mit Anm. auf S. 202]). 107 Dass der Kaiser sie bereits aufgefordert hat, die schändlichste Todesart auszuwählen (vv. 5261-5263), lässt es allerdings als zweifelhaft erscheinen, dass diese Frist zu einer abwägenden Entscheidungsfindung gedacht ist. Erzähllogisch ist der Aufschub der Entscheidung notwendig, damit Pilatus ,Gelegenheit‘ zum Selbstmord bekommt. 108 Vgl. TPMA, Bd. 9, S. 292-294. 109 hilf mir durch deiner gebu ͤ rt chraft / […] / daz mich mu ͤ ze iht dein zorn / am jungistem tage schaiden / von den lieben zu den laiden (vv. 361-368). 110 Zur Ambivalenz von zorn vgl. Blaas 2009 (mit weiterer Literatur); vgl. dazu auch Rosenwein 1998. Zur negativen Bedeutung von Zorn beim Begehen von Straftaten vgl. auch His 1920, S. 70 f. Zum Zorn Gottes vgl. Grubmüller 2003, S. 54-56. 111 Nach dem Ausgabentext ( si waren i r nicht erbolgen , v. 5260) bezieht sich erbolgen auf das Urteil. In der Handschrift steht jedoch in (statt i r), doch scheint die Konjektur sinnvoll, da erbolgen mit Dativ konstruiert wird. 112 Von der Entschlossenheit der jüdischen Ankläger, den Tod Jesu zu erreichen, hat Pilatus bei der Beratung mit Nikodemus und den zwelf man erfahren (vv. 1282-1284), die zwar außerhalb der eigentlichen Gerichtsverhandlung, aber in ihrem Kontext stattfindet. Deshalb kann man das Wissen des Pilatus nicht ohne Weiteres als privat klassifizieren. <?page no="221"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 221 fällig ist weiterhin die Formulierung, die für die Botschaft der Frau des Pilatus gewählt ist (vv. 919-923): Pilatus solle Jesus nicht verurteilen und auch nicht zulassen, dass man ihn vor ihm strafe (also ,schelte‘, ,züchtige‘, ,bestrafe‘). 113 Damit wird dem Richter gleich zu Beginn auch Verantwortung für Taten zugewiesen, die er nicht eigenhändig begeht. Dieser Aspekt wird innerhalb der Erzählung vom Prozess aber nicht weiter verfolgt, sondern es steht durchgängig eine andere Frage zum schuldhaften Handeln im Vordergrund: das Verhältnis von rat und tat . So fordert Pilatus ,die Juden‘ auf, Jesus nach ihrer e zu richten und die schult nicht auf ihn zu laden (vv. 1052 f.). Als Reaktion auf deren Ablehnung sind Pilatus folgende Worte in den Mund gelegt: „Wer sal in danne vorderben? Ir welt unschuldic sin der tat und ratet doch vaste den rat, daz er den lib vorliese. Nu enweiz ich niht waz kiese: der rat ist erger denne die tat, mit den zungen ir in slat und leget uf mich die werc; daz ist ein schentlich geberc.“ ( Evangelium Nicodemi , vv. 1056-1064) 114 Angesichts der Rollenverteilung im Prozess wäre es möglich, dass hier - wie in der Glosse - die formale Ratgeberfunktion der Urteilsfinder angesprochen wäre, wobei es dem Richter zukäme, das Unrechtsurteil zu verkünden und so ins Werk zu setzen. Tatsächlich hat der Rat ,der Juden‘ eine verfahrensrechtliche Relevanz, jedoch ist die Thematisierung von schult ein textimmanentes Indiz dafür, dass es um eine Thematisierung der Verteilung strafrechtlicher und moralischer Verantwortlichkeiten geht, für die die Beteiligten einstehen müssen. 115 Die Verwendung der Wörter rat , tat und werc lässt außerdem die Paarformeln ,Rat und Tat‘ bzw. ,Wort und Werk‘ anklingen, die vor allem in Treueiden Verwendung fanden. 116 Im positiven Versprechen, dem Herrn weder mit Rat noch mit Tat zu schaden, ist das Schadenspotenzial des Rates schon impliziert, dessen rechtliche Relevanz auch in den deutschen Rechtsbüchern zum Ausdruck kommt. 117 Dass das Erteilen eines Rates das Freibleiben von schult ausschließt, wird auch in der Rede des Pilatus dargelegt, 118 der Rat wird sogar als schwerwiegender als die Tat hin- 113 Zum Bedeutungsspektrum vgl. BMZ; L exer , s. v. 114 Zu den Vorwürfen des Pilatus gegen ,die Juden‘ an dieser Stelle vgl. auch Mattig-Krampe 2001, S. 112. 115 Die Vorstellung, dass Pilatus von ,den Juden‘ einen Rat erhält, könnte auch mit der seit Hieronymus kursierenden etymologischen Auslegung von ,Pontius‘ als declinans consilium zusammenhängen, die von Isidor auf die Handwaschung bezogen wurde, mit der Pilatus den Rat ,der Juden‘ abgelehnt habe (vgl. dazu Scheidgen 2002, S. 42-44). Allerdings wird dieser Zusammenhang im Evangelium Nicodemi nicht aktiviert, da von der Handwaschung erst viel später erzählt wird (vv. 1520-1526). 116 Vgl. dazu Matzinger-Pfister (1972, S. 64-67), die auch das Verhältnis zur lateinischen Formel consilium et auxilium aufarbeitet: „Kaum auseinanderzuhalten sind germanisches und römisches Erbe bei den mehrgliedrigen Ausdrücken, die Wortpaare vom Typus ‚Wort und Werk‘, ‚Rat und Tat‘ und ähnliche enthalten.“ (S. 64). 117 Zu rat als Bezeichnung nicht nur der intellektuellen Beihilfe vgl. His 1920, S. 126-147. Zur strafrechtlichen Relevanz von lat. consilium s. o. S. 215, Anm. 82. 118 Zur Verantwortung dessen, der einen rat gibt, vgl. (im Evangelium Nicodemi ) auch den Vorwurf des Höllenvolkes an Satan, der es durch seinen rat ins Verderben gestürzt habe (vv. 3443-3463). - Ne- <?page no="222"?> 222 5 Externe Bezugsfelder gestellt; der ursprüngliche Vorwurf, dass ,die Juden‘ Pilatus zu einer Tat veranlassen, ist jedoch nicht aufgegeben. Überhaupt ist die Textstelle durch eine Akkumulation von Vorwürfen gekennzeichnet, weil ,die Juden‘ auch dafür kritisiert werden, dass sie Jesus mit ihren Zungen ,schlügen‘, also gewalttätig sprechen, ein Verhalten, das wie der schlechte Rat zu den Zungensünden zählt. 119 Ob auch die Schuldfrage im Kontext einer individuellen Sündenschuld zu sehen ist oder ob es um juristische Verantwortlichkeiten geht, bleibt an der Textstelle ebenso offen wie die Frage, warum der Rat schlimmer ist als die Tat. Wahrscheinlich ist eine strikte Trennung der Aspekte gar nicht angemessen, wie ein systematisch vergleichender Blick auf die Rezeption des römischen Rechts Ende des 13. Jahrhunderts im italienischen Raum zeigt: Nach Albertus Gandinus sind der Verbrecher wie auch der Anstifter wegen ihrer jeweiligen Beteiligung an der Tat zu bestrafen. Der Anstifter habe aber ein größeres Unrecht begangen als der unmittelbare Täter, denn der Anstifter habe sich sowohl gegenüber dem Opfer als auch gegenüber dem ausführenden Täter versündigt, weil dieser dazu gebracht worden sei, eine Sünde zu begehen. 120 In dieser Argumentation verschränken sich Aspekte des Strafrechts und der Sündenschuld. Anders als in Christi Hort bleibt die Aufarbeitung des Verhaltens der Prozessbeteiligten im Evangelium Nicodemi aber ganz auf der juristischen Ebene. 121 Bei der Gefangennahme des Pilatus wird erneut das Verhältnis von Rat und Tat thematisiert, diesmal fokussiert auf den Richter. Bereits der Grund der Gefangennahme wird sehr präzise formuliert: Zunächst fasst ein ritter des Pilatus das Ende Jesu so zusammen, dass Pilatus es verursacht habe, und zwar nach der juden rate , die Jesus gefangen gesetzt und gekreuzigt hätten (vv. 4278-4287). 122 Dass ,die Juden‘ damit auch eine Tat begangen haben, wird nicht weiter vertieft, sondern das vom Erzähler vorgenommene Referat dessen, was die Römer gehört hätten, konzentriert sich darauf, was Pilatus denen, die Jesus gefangen genommen hätten, zu tun befohlen habe (vv. 4290-4294). Pilatus erklärt sich für unschuldig ( „Ich bin unschuldic dieser tat! / […] “ , v. 4310) und verweist auf die Handwaschung und den Blutruf ,der Juden‘ (vv. 4310-4325). 123 Dass Pilatus aber ausdrücklich davon berichtet, dass er nach der Handwaschung von deme gerihte (v. 4319; vgl. vv. 1520-1523) gegangen sei, lässt erkennen, dass er auch mit dem Ablauf des Verfahrens argumentiert, für dessen Ausgang er keine Verantwortung übernehmen will. Für die von Pilatus vertretene Auffassung der Richterrolle ist es besonders aufschlussreich, gativ konnotiert ist der rat auch in den Worten Jesu, dass der größere Sünde auf sich geladen habe, der ihn mit rate zu Pilatus gebracht habe (vv. 1469 f.; vgl. Io 19,11), jedoch ist dort eine andere Bedeutung von rat relevant, nämlich die des Vorsatzes (vgl. DRW, s. v. ,Rat‘, I). 119 Vgl. Lindorfer 2008, bes. S. 58. 120 Vgl. Tractatus de maleficiis , De penis reorum 12, zitiert nach Kantorowicz 1926, S. 209. Vgl. dazu Bock 2006, S. 11. 121 Das gilt auch für die Wiederaufnahme des Themas des gewalttätigen bzw. diffamierenden Sprechens ,der Juden‘ im Schlussexkurs (vv. 4783-4855). Die Sündenschuld ,der Juden‘ wird nicht erwähnt; stattdessen steht ihre geforderte Bestrafung (Abschneiden der Zunge, v. 4813) bzw. die derjenigen, die nicht gegen sie vorgehen (Vierteilung, vv. 4853-4855), im Vordergrund. 122 Anders als bei der wohlwollenden Schilderung des Prozesses gegen Jesus durch Adrian als Boten des Pilatus (vv. 3972-3988) spielen Motivation und Umstände der Entscheidung des Pilatus hier keine Rolle. 123 Vgl. vv. 1520-1529. Bereits im Zuge der Handwaschung hatte Pilatus eine Tatbeteiligung von sich gewiesen: ich bin unschuldic dieser tat (v. 1525). <?page no="223"?> 5.1 geriht : Die Verantwortung des Richters 223 dass er sagt, er habe die Anklage mit großer Sorgfalt geprüft und die rede 124 ,der Juden‘ genügend gemäßigt ( „ […] / Ich gedaht es mir vil angen / und sturte in der rede genuc / […] “ , vv. 4316 f.). Pilatus sieht seine Funktion also in einer mäßigenden Verfahrensführung erfüllt, wie sie unter anderem in der oben zitierten Glossenstelle gefordert wird. In seiner Entgegnung lässt Simeon dieses Argument jedoch nicht gelten: „Sprichestu nu daz Pilat, du sis unschuldic der tat? Wie mohtes du ane schult wesen, wend Jesus were wol genesen, swie harte din munt nu slihtet, hetes du ime gerihtet gerechtlichen und rehte. Du hieze dine knehte mit geislen in von aderen villen. Do volgte daz werc dinem willen. Du spreche do er niht ensprach, wend er den tot vor ime sach: ‚Warumme swigestu nu sus? Ich han gewalt din, Jesus, daz ich dich wol mac lazen gan oder an das cruze han.‘ Daz vortruc er mit gedult. Do wistes du wol dine schult, daz du sin schuldic were.“ ( Evangelium Nicodemi , vv. 4327-4345) Simeon erhebt einen inhaltlichen Einwand (bei einem gerechten Verfahren wäre Jesus freigesprochen worden) und verweist auf die Gerichtsverfassung (Pilatus habe doch selbst gesagt, er habe gewalt , über Leben und Tod Jesu zu entscheiden). Für diese Bestimmung der Amtsgewalt ist nicht eine konkrete Gerichtsverfassung maßgeblich, sondern - wie später bei Johannes Geiler von Kaysersberg - die im Johannesevangelium (19,10) überlieferte Aussage des Pilatus. Daraus wird in der Rede Simeons zusätzlich eine Schuldhaftung abgeleitet; denn seine Äußerung ließe darauf schließen, so Simeon, dass Pilatus sich seiner Schuld bewusst sei. Worte könnten den Tatbestand nicht aus der Welt schaffen (v. 4331). 125 Eine Grundannahme in der Entgegnung Simeons ist, dass Pilatus auch für nicht eigenhändig verübte Taten verantwortlich sei - ein Aspekt, der in der Botschaft der Frau des Pilatus im Text schon angeklungen war (vv. 920-923). 126 Simeon hält Pilatus vor, dass er 124 Das rechtsrelevante Bedeutungsspektrum reicht von ,Parteienrede‘ bis zur ,Beschimpfung‘ (vgl. DRW, s. v.). 125 Der munt (v. 4331) des Pilatus wird hier in dem Zusammenhang ausdrücklich benannt, in dem es darum geht, dass Pilatus sich herauszureden versuche. Auf die Tradition der etymologischen Deutung des Namens ,Pilatus‘, wonach der Name so zu erklären sei, dass Pilatus Jesus mit seinem Mund verurteilt habe (vgl. Scheidgen 2002, S. 42-47), wird nicht angespielt. 126 Die Frage der aktiven Beteiligung ist keine rein strafrechtliche, sondern steht auch in der Tradition der Bibelexegese. So wird in der Glossa ordinaria zu Io 18,31 (vgl. PL 114, col. 419C) konstatiert, auch Pilatus habe Jesus getötet, nur nicht mit seinen Händen (vgl. Scheidgen 2002, S. 50 f.). <?page no="224"?> 224 5 Externe Bezugsfelder seinen Knechten den Befehl zur Geißelung gegeben habe (vv. 4334 f.): 127 Do volgte daz werc dinem willen (v. 4336). 128 Die von Simeon vertretene Auffassung bezieht sich auf die Verteilung der Verantwortlichkeiten in der Befehlskette, wie sie etwa auch von Thomas von Aquin erörtert wird, aber indirekt wird hier auch noch die vorher von Pilatus geäußerte Einschätzung zum Ausdruck gebracht, dass der Rat schlimmer sei als die Tat. Neben der inhaltlichen Aufarbeitung des Prozessgeschehens werden - über den Text hinweg - im Zusammenspiel von Figuren- und Erzählerreden auch Wertmaßstäbe entfaltet, die nicht an den konkreten Stoff gebunden sind. Dass im Evangelium Nicodemi wie auch in Christi Hort überhaupt Beurteilungsmaßstäbe verbalisiert werden, deutet darauf hin, dass die Texte an dem Problemkreis, vor welchem Bezugsfeld die Rolle des Richters zu interpretieren ist, Interesse zeigen bzw. dafür interessieren wollen. Christi Hort und das Evangelium Nicodemi unterscheiden sich von Diu urstende dadurch, dass die Wissentlichkeit des Handelns thematisiert wird. Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass die Einbeziehung der Pilatus-Veronika-Legende eine rückblickende Analyse des schuldhaften Verhaltens des Pilatus begünstigt. 129 Zu bedenken ist aber auch, dass die beiden Texte später entstanden sind als Diu urstende , in einer Phase, in der die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts schon weiter fortgeschritten war. Auch Diu urstende liefert jedoch einen entsprechenden Bezugsrahmen mit, indem implizit deutlich auf die Richterethik verwiesen wird. Darin ist im Keim schon die Spannung zwischen institutionellen Zwängen und moralischem Anspruch angelegt, die in den späteren Texten weiter ausgearbeitet wird. Christi Hort zeichnet die institutionelle Rolle des Richters sehr genau, legt den Schwerpunkt bei der Bewertung allerdings klar auf die Gewissensproblematik. Im Evangelium Nicodemi bleibt zwar die Ausgestaltung des Verfahrens weniger konkret, bei der Erörterung von Fragen der schult wird aber eine dezidiert juristische Betrachtungsweise eingenommen. Auf diese Weise fügen die Texte dem skizzierten Feld juristischer und moraltheologischer Perspektiven auf die Rolle des Richters jeweils individuelle Facetten hinzu. 127 Von der Geißelung war im Text vorher nur sehr knapp erzählt worden: Nachdem Pilatus Jesus ,den Juden‘ überlassen hat (v. 1488) und sie die Geißelung und (nochmals) die Kreuzigung eingefordert haben (vv. 1489-1491), wird angegeben, dass Sine ritter und sine knechte Jesus misshandeln (vv. 1492 f.), bevor ,die Juden‘ ihn verspotten. Das Herrschaftssystem setzt aber voraus, dass die ritter und knechte im Auftrag oder zumindest mit Einwilligung des Pilatus handeln. 128 Die alternative Betrachtungsweise von Pilatus als Ausführendem, der dem willen ,der Juden‘ nachgegeben habe, ist im Text in den Worten Adrians präsent (vv. 3985-3988). 129 Eine solche Analyse des Prozesses begegnet auch in anderen Ausarbeitungen der Pilatus-Veronika-Legende (vgl. Scheidgen 2002, S. 186-196 [zur Passion des Johannes Rothe] und S. 202-207 [zur Veronika-Dichtung des Pseudo-Regenbogen]; Grimbert 1991 [zu Joseph d’Arimathie Roberts de Boron]). <?page no="225"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 225 5.2 wârheit: Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung Christus enim quattuor specialiter habuit, in quibus opprobria et blasphemias audivit. [ … ] Habuit infallibilem veritatem, quia ipse est „via, veritas et vita“, 130 unde de se iterum dicit: „Sermo tuus veritas est.“ 131 Filius enim est sermo sive verbum patris. 132 […] In his Christus audivit opprobria et blasphemias. […] Tertio quoad veritatem. Ioh. VIII : „Tu de te ipso testimonium perhibes, testimonium tuum non est verum.“ 133 Ecce, dicunt ipsum mendacem, cum tamen ipse sit „via, veritas et vita“. Hanc veritatem Pilatus scire non meruit, quia ipsum secundum veritatem non iudicavit. 134 Incohavit quippe iudicium a veritate, sed non in veritate permansit et ideo de veritate quaestionem meruit incohare, sed non meruit solutionem audire. Alia ratio est secundum Augustinum, quare solutionem non audivit, quia, cum illam quaestionem fecisset, subito venit illi in mentem consuetudo Iudaeorum, qua solebat unus dimitti in pascha et ideo statim exiit et solutionem non expectavit. 135 Tertia ratio est secundum Chrysostomum, quia sciebat, quod quaestio tam difficilis indigebat multo tempore et multa discussione et ipse ad liberationem Christi properabat et ideo statim exivit. 136 Legitur tamen in evangelio Nicodemi, quod, cum Pilatus Iesum interrogasset: „Quid est veritas? “, Iesus ei respondit: „Veritas de caelo est.“ Et Pilatus: „In terris non est veritas? “ Dicit ei Iesus: „Quomodo potest veritas esse in terris, quae iudicatur ab his, qui potestatem habent in terris? “ 137 ( Legenda aurea , cap. 53,225 f.) 138 „Christus hatte insbesondere vier Vorzüge, gegen die er Beschimpfungen und Lästerungen zu hören bekam: […] Er verfügte über die untrügliche Wahrheit, denn er ist selbst ,Weg, Wahrheit und Leben‘ [Io 14,6], daher sagt er wiederholt von sich [Io 17,17]: ,Deine Rede ist Wahrheit‘. Denn der Sohn ist Rede resp. Wort des Vaters. […] In folgender Hinsicht bekam Christus Beschimpfungen und Lästerungen zu hören: […] Drittens hinsichtlich der Wahrheit. Io 8[,13]: ,Du legst von dir selbst Zeugnis ab, dein Zeugnis ist nicht wahr.‘ Siehe, man nennt ihn Lügner, wo er doch selbst ,Weg, Wahrheit, Leben‘ [Io 14,6] ist. Diese Wahrheit verdiente Pilatus nicht zu wissen, da er ihn nicht nach der Wahrheit richtete. Er 130 Vgl. Io 14,6. 131 Vgl. Io 17,17. 132 Vgl. den Prolog des Johannesevangeliums . Zu dem darin zum Ausdruck gebrachten Wahrheitsbegriff vgl. Gebauer 2000, S. 236-241. 133 Vgl. Io 8,13. 134 Vgl. Rm 2,1 f. 135 Vgl. Augustinus, In Evangelium Ioannis tractatus 115,5 (zitiert nach Willems 1990). 136 Vgl. Johannes Chrysostomus, In Ioannem homilia 84,1 (zitiert nach PG 59, col. 455). Bis zu diesem Punkt scheint die Zusammenstellung der verschiedenen möglichen Gründe dafür, dass die Frage des Pilatus unbeantwortet bleibt, der Catena aurea des Thomas von Aquin (cap. 18, l. 11) zu folgen. Zur Verwendung der Catena aurea in den diskursiven Passagen der Legenda aurea vgl. Jehle 2012, S. 51. 137 Vgl. Nikodemusevangelium , cap. III 2, Z. 14-18. Zur Verarbeitung von Passagen aus dem Nikodemusevangelium in der Legenda aurea vgl. Izydorczyk 1997c, S. 73 f. 138 Zitiert nach Häuptli 2014, Bd. 1, S. 706, Z. 19 - S. 708, Z. 29 = M., cap. 51,42-73. Die bei Maggioni 2007 im Apparat aufgeführten Quellen sind hier um Parallelstellen ergänzt. Zur Gliederung der Argumentation vgl. Maggioni ebd., S. 1533 f. <?page no="226"?> 226 5 Externe Bezugsfelder begann die Gerichtsverhandlung zwar mit der Wahrheit, blieb aber nicht bei der Wahrheit, darum durfte er die Untersuchung über die Wahrheit eröffnen, durfte aber die Lösung nicht hören. Laut a ugustinus liegt ein anderer Grund vor, weshalb er die Lösung nicht hörte, der, dass ihm, als er jene Frage stellte, plötzlich der Brauch der Juden in den Sinn kam, nach dem einer an Ostern entlassen zu werden pflegte, deswegen sogleich hinausging und die Lösung nicht abwartete. Der dritte Grund ist laut [J ohannes ] C hrysostoMus , dass er wusste, dass eine so schwierige Frage viel Zeit und eine umfängliche Untersuchung benötigt, dass er selbst die Befreiung Christi beschleunigen wollte und deshalb sogleich hinausging. Doch liest man im Evangelium des Nikodemus , dass, als Pilatus Jesus fragte: ,Was ist Wahrheit? ‘, Jesus ihm antwortete: ,Die Wahrheit ist vom Himmel.‘ Und Pilatus: „Auf Erden ist keine Wahrheit? ‘ Da sagte Jesus zu ihm: ,Wie kann auf Erden Wahrheit sein, wenn die darüber richten, die auf Erden die Macht haben? ‘ “ 139 In diesem Auszug aus dem Traktat De passione domini der Legenda aurea 140 sind verschiedene Wahrheitsbegriffe präsent. Zunächst wird der christologische Wahrheitsbegriff des Evangelisten Johannes aufgerufen, nach dem eine Identität zwischen ,Wahrheit‘ und ,Christus‘ besteht. 141 Im Zitat aus dem Johannesevangelium (8,13), in dem die (in der Legenda aurea ungenannt bleibenden) Pharisäer die Selbstcharakterisierung Jesu als das Licht der Welt (Io 8,12 f.) anzweifeln, da er selbst über sich Zeugnis ablege, scheint aber eine andere Wahrheit auf, nämlich eine, die mit juristischen Methoden ermittelt werden kann: Im Johannesevangelium argumentiert Jesus zunächst damit, dass die Pharisäer nur eine begrenzte menschliche Erkenntnisfähigkeit hätten (Io 8,14 f.), lässt sich dann aber doch auf eine juristische Argumentationsebene ein, indem er sagt, dass zugleich mit ihm sein Vater über ihn Zeugnis ablege und damit der Zweizeugenregelung des Gesetzes der Pharisäer 142 Genüge getan sei (Io 8,16-18). Den Pharisäern bleibt auch diese Aussage Jesu verschlossen, weil sie seine wahre Natur nicht erkannt haben (Io 8,19). 143 In die Legenda aurea ist aus der Johannes- Stelle nur der Aspekt des Verkennens der wahren Natur Jesu aufgenommen. Unter diesem Aspekt wird eine Verknüpfung zwischen dem Lügenvorwurf nach Io 8,13 und dem Gespräch zwischen Jesus und Pilatus über die Wahrheit (Io 18,37 f.) 144 hergestellt. Gegenüber 139 Die Übersetzung folgt Häuptli (2014, Bd. 1, S. 707; 709) mit Abweichungen. 140 Jacobus a Voragine begann mit der Abfassung des Werks wohl in den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts und hat es bis zu seinem Tod 1298 mehrfach revidiert (zur Datierung vgl. Kunze 1983, Sp. 453 f.; Maggioni 2007, S. XVII). Zur heilsgeschichtlichen Gliederung der Legenda aurea vgl. Rhein 1995, S. 48-60 (mit einer Übersicht über die Stationen des Lebens Jesu in Anm. 179 [S. 49]). 141 Zum „personal-aktuale[n] Offenbarungsaspekt von ἀλήθεια“ im Johannesevangelium vgl. Gebauer 2000, S. 241-245. 142 Zur Zweizeugenregelung vgl. Dt 17,6; 19,15. Zu ihrer Rezeption im jüdischen Recht vgl. Cohn 1927, Sp. 949. 143 Zur Interpretation von Io 8 vgl. Lincoln (2000, S. 82-87), der den ironischen Charakter der Anerkennung der Zweizeugenregelung durch Jesus hervorhebt, dessen Verhalten aber auch grundsätzlich mit seinen zwei Naturen in Verbindung bringt: „That Jesus is portrayed as both human and divine affects the way his witness is depicted. As a human witness, he accedes, at least formally, to the demands in both John 5 and John 8 that there be more than one witness in his case in conformity to the legislation in Deuteronomy. […] But even when Jesus lists more than one witness and talks of the Father as the second witness […], these are not the sort of witnesses that the Deuteronomic law had in view or that would have been accepted in the legal conventions to which his opponents appeal. They only serve to highlight that in the end Jesus is essentially testifying about himself. Despite the law, such testimony is deemed true because of Jesus’ unique identity (8: 14).“ (ebd., S. 195; vgl. auch Lincoln 2015, S. 154). Vgl. zu den theologischen Implikationen der Stelle auch Pancaro 1975, S. 263-280. 144 Dixit itaque ei Pilatus / ergo rex es tu / respondit Jesus / tu dicis quia rex sum ego / Ego in hoc natus sum et ad hoc veni in mundum ut testimonium perhibeam veritati / omnis qui est ex veritate audit vocem <?page no="227"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 227 dem Johannesevangelium erfolgt in der Legenda aurea eine Spezifizierung: Hanc ueritatem (sc. die Identität von ,Wahrheit‘ und , Jesus‘) habe Pilatus nicht zu erkennen verdient. In der Begründung dafür, dass die Frage des Pilatus, was Wahrheit sei, deshalb nicht beantwortet werde, weil er nicht würdig sei, diese Wahrheit zu erfahren, wird mit dem Ausgang des Verfahrens argumentiert, obwohl Pilatus’ Frage zu einem Zeitpunkt gestellt wird, an dem es noch nicht beendet ist: Die Wahrheit, deren Pilatus nicht würdig ist, ist theologisch definiert, der Grund seiner Unwürdigkeit aber ist sein richterliches Verhalten im Prozess, er habe nicht secundum ueritatem geurteilt. Er habe nämlich das iudicium mit der Wahrheit begonnen, sei aber nicht ,in der Wahrheit‘ geblieben ( Incohavit quippe iudicium a veritate, sed non in veritate permansit ). Deswegen sei er zwar würdig genug gewesen, die Frage nach der (theologischen) Wahrheit aufzuwerfen ( ideo de veritate quaestionem meruit incohare ), jedoch nicht, eine Antwort zu erhalten. Das Nicht-Verbleiben ,in der Wahrheit‘ muss in diesem Zusammenhang bedeuten, dass Pilatus trotz seiner Erkenntnis, dass Jesus unschuldig ist, dessen Hinrichtung schließlich nicht verhindert hat. Wenn also gesagt wird, dass er nicht secundum ueritatem geurteilt habe, so ist damit ein Fehlverhalten gegenüber der Wahrheit im juristischen Sinne gemeint, allerdings klingt auch die Formulierung iudicium Dei est secundum veritatem aus dem zweiten Römerbrief an, 145 durch die eine Wesenseinheit zwischen Gott und der Wahrheit nahegelegt wird. In der Begründung für das Verhalten des Pilatus wird auf diese Weise auch deutlich, dass theologische und juristische ,Wahrheit‘ onomasiologisch verbunden, aber nicht deckungsgleich sind. Inwiefern Menschen überhaupt secundum veritatem richten können, wurde zum Beispiel von Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae ( II ª- II ae q. 67 a. 2) diskutiert, in der er argumentiert, für Menschen könne dieses Prinzip nicht in gleicher Weise gelten; sie müssten sich darauf beschränken, die Wahrheit nach dem zu beurteilen, was ihnen vorgelegt worden sei. 146 Eine Kritik an der menschlichen Urteilsfähigkeit kann man auch in der meam / dicit ei Pilatus / quid est veritas / et cum hoc dixisset iterum exivit ad Judæos / Et dicit eis / ego nullam invenio in eo causam („Darauf sagte Pilatus zu ihm: ,Also bist du ein König? ‘ Jesus antwortete: ,Du sagst, dass ich ein König bin. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich Zeugnis ablege für die Wahrheit. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.‘ Pilatus sagte zu ihm: ,Was ist Wahrheit? ‘ Und als er das gesagt hatte, ging er wiederum hinaus zu den Juden und sagt zu ihnen: ,Ich finde bei ihm keine Schuld.‘ “). Die Aussage Jesu an dieser Stelle, dass er in die Welt gekommen sei, um Zeugnis über die Wahrheit abzulegen, ist in der Legenda aurea gewissermaßen durch Io 8,13 ersetzt. 145 propter quod inexcusabilis es / o homo omnis qui iudicas / in quo enim iudicas alterum te ipsum condemnas / eadem enim agis qui iudicas / / scimus enim quoniam iudicium Dei est secundum veritatem in eos qui talia agunt (Rm 2,1 f.; „Deshalb bist du unentschuldbar, o Mensch jedweder Art, der du richtest. Denn worin du einen anderen richtest, verurteilst du dich selbst. Dasselbe nämlich tust du, der du richtest. Denn wir wissen, dass das Urteil Gottes gemäß der Wahrheit gegen diejenigen ergeht, die solches tun.“). Zur Deutung dieser Stelle vgl. Wilckens 1978, S. 122-124. Vers 1 ist nicht auf eine konkrete Gerichtssituation zu beziehen, sondern lässt sich folgendermaßen paraphrasieren: „Auch du, Mensch, der du dich von dem sündigen »Menschen« distanzierst, indem du über ihn richtest, verfällst ebenso Gottes Gericht, weil du nämlich selbst gleiches tust.“ (Wilckens ebd., S. 123). 146 […] iudices debent veritatem iudicare secundum ea quae fuerunt sibi proposita (IIª-IIae q. 67 a. 2 ad 1; „[…] dass die Richter ein wahres Urteil fällen müssen gemäß dem, was ihnen vorgelegt worden ist“). Vgl. auch IIª-IIae q. 67 a. 2 ad 2: Ad secundum dicendum quod Deo competit iudicare secundum propriam potestatem. Et ideo in iudicando informatur secundum veritatem quam ipse cognoscit, non secundum hoc quod ab aliis accipit. Et eadem ratio est de Christo, qui est verus Deus et homo. Alii autem iudices non iudicant secundum propriam potestatem. […] („Zu 2. Gott kommt es zu, zu richten nach eigener Machtbefugnis. Und deshalb bildet er sich sein Urteil anhand der Wahrheit, die er selbst weiß, und nicht nach dem, was er von anderen erhält. Dasselbe gilt von Christus, der wahrer Gott und Mensch <?page no="228"?> 228 5 Externe Bezugsfelder Legenda aurea dem modifizierten Zitat aus dem Nikodemusevangelium entnehmen, denn, während es im Nikodemusevangelium darum geht, wie über die, die die Wahrheit sagen, von den Machthabern geurteilt wird, 147 sind die Worte Jesu in der Version der Legenda aurea auf die Urteilenden fokussiert ( Quomodo potest ueritas esse in terris que iudicatur ab hiis qui potestatem habent in terris? ; „Wie kann auf Erden Wahrheit sein, wenn die darüber richten, die auf Erden die Macht haben? “). Allerdings ist die Aussage Jesu speziell auf diejenigen bezogen, die die Macht haben, sodass auch die Möglichkeit des Machtmissbrauchs bzw. des ungerechten Richtens aufgerufen wird. Das Nikodemusevangelium enthält jedenfalls ein an die Wahrheitsfrage anschließendes erläuterndes Gespräch zwischen Jesus und Pilatus, weswegen sich hier das Problem des Weggangs des Pilatus nicht in gleicher Weise stellt wie in den kanonischen Evangelien. In der Legenda aurea wird dieses Gespräch (mit den modifizierten Worten Jesu) als Abschluss der Reihe verschiedener Erklärungen für das Ausbleiben der Antwort Jesu aufgeführt. Die einzelnen zuvor genannten Interpretationsmöglichkeiten des Dialogs zwischen Jesus und Pilatus werden nicht gegeneinander abgewogen, und so bleibt auch die pragmatische Begründung des Augustinus, Pilatus sei plötzlich die Passah-Amnestie eingefallen und er habe deshalb die Antwort Jesu nicht abgewartet, neben der des Chrysostomus stehen, Pilatus habe gewusst, dass die Erörterung der Wahrheitsfrage viel Zeit kosten würde, und sei deshalb zur Befreiung Jesu geeilt. 148 Im Hinblick darauf, dass für die Ausführungen in der ganzen Passage ein christologischer Wahrheitsbegriff der Ausgangspunkt ist, ist das Argument des Chrysostomus bemerkenswert, vor allem weil es in der Legenda aurea gegenüber der Catena aurea 149 so umformuliert ist, dass es das Muster einer scholastischen Quaestio aufruft: […] sciebat quod quaestio tam difficilis indigebat multo tempore et multa discussione („[…] er wusste, dass eine so schwierige Frage viel Zeit und eine umfängliche Untersuchung benötigt“). Dass die Frage des Pilatus - vor allem, wenn man sie aus dem Handlungskontext isoliert - auch philosophisch verstanden werden kann, wird bis heute in der Bibelexegese betont. 150 In mittelalterlichen ist. Die anderen Richter aber richten nicht in eigener Machtbefugnis. […]“; die Übersetzung folgt mit Abweichungen der von Utz [1953] kommentierten deutschen Ausgabe [S. 225]). Der Kontext für die Position, dass die vorgelegten Beweise gegenüber dem Wissen des Richters privilegiert werden, ist die Frage, ob der Richter auf privates Wissen zurückgreifen darf ( Secundo, utrum liceat iudicium ferre contra veritatem quam novit, propter ea quae sibi proponuntur ; IIª-IIae q. 67 pr.; „2. Darf jemand ein Urteil gegen die ihm bekannte Wahrheit fällen, auf Grund dessen, was vor ihm ausgesagt wird? “; für die Übersetzung vgl. Utz ebd., S. 219 [mit Abweichungen]); s. dazu o. S. 211. Zur Überlegenheit der göttlichen gegenüber der menschlichen Urteilsfähigkeit und den Konsequenzen für das Rechtsleben vgl. Evans 2002, S. 139-141. 147 ‘Intende ueritatem dicentis in terra, quomodo iudicantur ab his qui habent potestatem in terris.’ (cap. III 2, Z. 17 f.; „ ,Sieh dir an, wie diejenigen, die auf Erden die Wahrheit sagen, von denen gerichtet werden, die auf Erden die Macht haben.‘ “). 148 Zum Erklärungsmuster der Ungeduld des Pilatus vgl. Demandt 1999, S. 156; 2012, S. 86. 149 S. dazu o. S. 225, Anm. 136. 150 Vgl. Gebauer 2000, S. 236: „Vor diesem Hintergrund [sc. der hellenistischen Philosophie] erscheint die Frage des Pilatus als Ausdruck berechtigter philosophischer Kritik am Wahrheitsanspruch Jesu. Für den Evangelisten ist sie freilich etwas anderes - nämlich der unvermeidliche Ausdruck der Unfähigkeit der Welt, die sich in Jesus erschließende göttliche Wahrheit zu erkennen.“; vgl. auch Söding 2003, S. 33. Lincoln (2000, S. 129) sieht in der Frage des Pilatus primär „an attempt to evade Jesus’ witness and a sign of his failure to hear“ und möchte sie nicht philosophisch überfrachtet wissen. Losgelöst vom situativen Kontext ist die Frage des Pilatus zum Ausgangspunkt philosophischer Überlegungen geworden (vgl. z. B. Gadamer 1986 [1957]). Zum Provokationspotenzial der skeptischen Frage <?page no="229"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 229 Bibelkommentaren wurde dieser Aspekt nicht unbedingt herausgearbeitet, 151 wie auch die situationsbezogene Auslegung in der Catena aurea demonstriert. In seinem Kommentar zum Johannesevangelium bietet Thomas von Aquin aber ausführlichere Erläuterungen, die im Kern sein veritas -Konzept enthalten, 152 bei dem er zwischen ontologischer (göttlicher) Wahrheit und der dem messenden Verstand des Menschen zugänglichen Wahrheit differenziert. 153 Dass das Verhältnis zwischen theologischer und philosophischer Wahrheit überhaupt klärungsbedürftig geworden ist, verweist auf die großen Auseinandersetzungen zwischen den Fächern Theologie und der sich emanzipierenden Philosophie, in deren Rahmen es auch zu einer Ausdifferenzierung der Wahrheitsbegriffe kam. 154 In der Legenda aurea ist die Theologie als „Letztbegründungsinstanz“ 155 nicht angezweifelt, aber es wird zumindest in der Auffassung des Chrysostomus die Möglichkeit referiert, dass die Frage nach der Wahrheit eine ist, die eine Betrachtung von verschiedenen Seiten ( multa discussione ) erfordern kann. Die sich im Spannungsfeld zwischen Theologie und Philosophie entwickelnde komplexe Wahrheitsdiskussion ist für den Bereich des Rechts nicht unmittelbar relevant; aber die den Disziplinen zuzuordnenden Zugänge zur ,Wahrheit‘ lassen sich dort unter pragmatischen Vorzeichen wiederfinden, wie hier für zwei Aspekte herausgearbeitet werden soll, die für des Pilatus und ihrer Deutungsgeschichte außerhalb der theologischen Exegese vgl. Demandt 1999, S. 155-159; 2012, S. 85-91. Die johanneische Schilderung der Verhandlung vor Pilatus ist insbesondere auch auf die Art der Sprachverwendung hin interpretiert worden (vgl. Knape 2000, S. 20-32, mit einer rhetorischen Deutung, nach der die kommunikative Handlungsmächtigkeit in Frage gestellt werde). Austin (1950, S. 15) liest in die Worte des Pilatus sogar eine sprachkritische Dimension hinein: „ ‘What is truth? ’ said jesting Pilate, and would not stay for an answer. Pilate was in advance of his time. For ‘truth’ itself is an abstract noun […]“ (vgl. dazu auch Hedwig 2009, S. 117, Anm. 5). Der erste Satz aus dem Austin-Zitat ist aus dem ersten der Essays von Francis Bacon (1612) übernommen (zu Bacon vgl. Demandt 1999, S. 156; 2012, S. 86). 151 Im Kommentar des Albertus Magnus zum Johannesevangelium ( In Johannem , cap. 18,37, zitiert nach Borgnet 1899, S. 642b) erfolgt anlässlich der Frage des Pilatus keine Erörterung des Wahrheitsbegriffs (vgl. Senner 2006, S. 114 f.). 152 Vgl. Hedwig (2009, S. 117, Anm. 6), der hinsichtlich der „theologische[n] Funktion des Pilatus im Werk des Aquinaten“ (ebd., Anm. 5) noch Forschungsbedarf sieht. Wie Senner (2006, S. 141 f.) betont Hedwig, dass es Thomas von Aquin bei der Kommentierung der Frage des Pilatus nicht um eine philosophische Wahrheitsdefinition im engeren Sinne gehe. Vgl. Super Io. , cap. 18, l. 6, XI (2364): Ponit responsionis effectum, in quo datur intelligi quod Pilatus propulsa suspicione regni terreni, ac intelligens Christum regem esse in doctrina veritatis, cupit veritatem scire, ac effici de regno eius; unde dicit Quid est veritas? non quaerens quae sit definitio veritatis, sed quid esset veritas cuius virtute de regno eius efficeretur: dans per hoc intelligere, quod veritas mundo incognita erat, et fere ab omnibus evanuerat, dum increduli essent. (zitiert nach Cai 1972 [1952]; „Er [sc. der Evangelist] bestimmt die Wirkung der Antwort, in der zu verstehen gegeben wird, dass Pilatus, nachdem der Verdacht, es handele sich um das irdische Königreich, beseitigt war, und in der Erkenntnis, Christus sei König in der Lehre der Wahrheit, wünscht, die Wahrheit zu kennen, und dass sie in Bezug auf dessen [sc. Christi] Reich erwiesen werde. Daher sagt er ‚Was ist Wahrheit? ‘ Er fragt nicht nach der Begriffsbestimmung der Wahrheit, sondern was die Wahrheit sei, durch deren Kraft etwas erwiesen werde hinsichtlich dessen Königsherrschaft. Er [sc. der Evangelist] gibt dadurch zu verstehen, dass die Wahrheit der Welt unbekannt war und so gut wie immer allen aus dem Blick geraten war, solange sie ungläubig waren.“; die Übersetzung orientiert sich an Weingartner / Schöner 2016, S. 447 [mit größeren Abweichungen]). 153 Vgl. dazu Hedwig 2009, S. 117-127; vgl. auch Senner 2006, S. 141 f. Zur Adäquationstheorie des Thomas von Aquin vgl. außerdem Davids 2006 (mit weiterer Literatur). 154 Zur ,doppelten Wahrheit‘ vgl. Rieger 2000. 155 Vgl. dazu Rieger 2000, S. 102. <?page no="230"?> 230 5 Externe Bezugsfelder die Kerntexte von besonderer Bedeutung sind: die ethische Verpflichtung zur Wahrheit und das Problem der Wahrheitsfindung. Erstere hat ihre Begründung - zumindest in dem hier zu betrachtenden christlichen Kontext - in einem theologischen Wahrheitsbegriff, 156 bei Letzterem geht es zwar um eine konkrete Tatsachenwahrheit, nicht allgemein um eine in den Dingen liegende Wahrheit, doch ergeben sich auch bei der Ermittlung einer Tatsachenwahrheit erkenntnistheoretische Probleme. 157 Wie der christologische Wahrheitsbegriff auf eine pragmatisch relevante Ebene heruntergebrochen werden kann, zeigt eine Stelle im Decretum Gratiani , wo - in Anlehnung an Bedas Kommentar zum Markusevangelium (Mc 14) - nachgewiesen werden soll, dass ein bestechlicher Zeuge sich desselben Verbrechens schuldig macht wie Judas: Qui falsum testimonium dicunt, et ueritatem pro pecunia negant, sceleris Iudae participes fiunt. Abiit Iudas ad summos sacerdotes, et constituerunt ei pecuniam se daturos. Multi hodie scelus Iudae, quia Dominum ac magistrum suum, deumque pecunia uendiderit, uelut inmane et nefarium exhorrent, nec tamen cauent. Nam cum pro muneribus falsum contra quemlibet testimonium dicunt, profecto, quia ueritatem pro pecunia negant, Deum pecunia uendunt. Ipse enim dixit: „Ego sum ueritas.“ […] ( Decretum Gratiani , C. 11 q. 3 c. 83) „ Die ein falsches Zeugnis ablegen und die Wahrheit für Geld verleugnen, werden Teilhaber am Verbrechen des Judas. Judas ging zu den Hohepriestern, und sie kamen überein, ihm Geld zu geben. Viele entsetzen sich heute über das Verbrechen des Judas, weil er seinen Herrn und Lehrer und Gott für Geld verkauft habe, wie über etwas Ungeheuerliches und Frevelhaftes, und hüten sich dennoch nicht davor. Denn wenn sie für Geschenke gegen irgendjemanden ein falsches Zeugnis geben, verkaufen sie tatsächlich, weil sie die Wahrheit für Geld verleugnen, Gott für Geld. Er selbst hat nämlich gesagt: ,Ich bin die Wahrheit.‘ […]“ Aus der Aussage Jesu, dass er die Wahrheit sei, wird hier abgeleitet, dass beim Verkauf der Wahrheit zugleich ,Gott‘ verkauft werde. Eine Verpflichtung zur Wahrheit ergibt sich aus der zu erwartenden Strafe bei Zuwiderhandlungen, wie sich dem Kontext der Stelle entnehmen lässt. Vorher (C. 11 q. 3 c. 80) war bereits gesagt worden, dass es den Zorn Gottes errege, wenn man die Wahrheit aus Furcht vor einer irdischen Gewalt ( metu cuiuslibet potestatis ) verberge, denn das zeige, dass man den Menschen mehr fürchte als Gott. 158 In c. 84 wird das Argumentationsmuster aus c. 83 aufgenommen: Wer gegen die wesensmäßigen Eigenschaften Jesu / Gottes handele, zu denen auch iustitia und ueritas gehören, mache sich genauso schuldig wie die an der Marter Jesu Beteiligten; das werde beim Jüngsten Gericht geahndet: Christum negat qui peruersis socium se facit. Item Ieronimus [ in epistolam ad Titum, c. I. in extremo .] […] 156 Damit soll der Einfluss antiker Tugendlehren nicht geleugnet werden. Zu den aristotelischen Wurzeln des veracitas -Konzepts bei Thomas von Aquin vgl. Hedwig 2009, S. 127-131. 157 Vgl. dazu auch Lepsius (2006, S. 134 f.), die Verfahren der Überzeugungsbildung bei Juristen (Bartolus de Saxoferrato) und Theologen (Glaubenslehre des Thomas von Aquin) vergleicht. Die von ihr für Thomas referierten Methoden sind der theologia philosophica zuzuordnen (zu diesem Konzept vgl. Speer 2007, S. 76 f.). 158 Für die Bezugstexte vgl. die Ausgabe von Friedberg 1879. <?page no="231"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 231 Christus sapientia est, iustitia, ueritas, sanctitas, fortitudo. Negatur per insipientiam sapientia, per iniquitatem iustitia, per mendacium ueritas, per turpitudinem sanctitas, per inbecillitatem animi fortitudo. Quocienscumque uincimur uiciis atque peccatis, tociens Deum negamus, et e contrario, quociens bene quid agimus, Deum confitemur. Nec arbitrandum est in die iudicii illos tantum a Dei filio denegandos, qui in martirio Christum negauerunt, sed et illos omnes, quorum opere, uel sermone, uel cogitatione Christus negatur, negat uel confess o s 159 confitetur. De hac puto confessione quod discipulis precepit dicens: „Eritis michi testes in Ierusalem, et in omni Iudea, et Samaria, et usque ad ultimum terrae.“ ( Decretum Gratiani , C. 11 q. 3 c. 84) „ Christus verleugnet, wer sich zum Genossen von schlechten Menschen macht. Ebenso Hieronymus [zum Brief an Titus, Kap. 1, am Ende.] […] Christus ist die Weisheit, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Heiligkeit, die Tapferkeit. Es wird durch Unverstand die Weisheit verleugnet, durch Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit, durch Lüge die Wahrheit, durch Unsittlichkeit die Heiligkeit, durch Mangel an Mut die Tapferkeit. Wie oft wir uns durch Laster und Sünden besiegen lassen, so oft verleugnen wir Gott, und umgekehrt: wie oft wir etwas gut verrichten, bekennen wir Gott. Und man darf nicht glauben, am Tag des Gerichts müssten nur diejenigen von Gottes Sohn zurückgewiesen werden, die Christus bei seinem Martyrium verleugnet haben; vielmehr: auch alle jene, durch deren Tun oder Reden oder Denken Christus verleugnet wird, verleugnet er oder bekennt sich zu denen, die sich zu ihm bekannt haben. Ich glaube, dass er über dieses Bekennen seine Jünger belehrt hat mit den Worten: ,Ihr werdet für mich Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an die Grenzen der Erde.‘ “ Als Alternative wird aber auch eine Nachfolge Jesu für möglich gehalten: Die spirituelle Zeugenschaft der Jünger (vgl. Act 1,8) wird in diesem Zusammenhang als moralische Nachfolge uminterpretiert. Die hier ausführlich zitierte Stelle aus dem Decretum Gratiani kann als geradezu prototypisch für das weit verbreitete Argumentationsmuster gelten, dass aus der Passionsgeschichte über die Gleichsetzung von Jesus mit seinen Wesenseigenschaften moralische Prinzipien für jeden Christen abgeleitet werden. Es findet sich etwa noch im Schachzabelbuch Konrads von Ammenhausen. Dort treten als Repräsentanten des Richterstandes Pilatus und Herodes auf: Weil sie unrecht gerichtet haben, sitzen sie nun in der Hölle auf ihren Richterstühlen. In der moralischen Ausdeutung heißt es dazu: swel rihter die gerehtkeit lât über got er gerihtet hat. got ist das reht und du ͤ wârheit ( Schachzabelbuch , vv. 4281-4283) 160 Die zahlreichen Drohungen mit dem Jüngsten Gericht deuten daraufhin, dass ,Wahrheit‘ in der Lebenspraxis nicht immer der Handlungsmaßstab war. Neben der Bestechlichkeit der Richter und der anderen an einem Gerichtsverfahren Beteiligten, die sich aus den dagegen gerichteten präskriptiven Normen, aber auch aus Erzählungen 161 erschließen lässt, ist an- 159 Konjektur (H. M.) für confessus . 160 Zitiert nach Vetter 1892 (die Stelle hat keine Entsprechung im Liber de ludo scaccorum des Jacobus de Cessolis). Vgl. dazu Scheidgen 2002, S. 254 f. 161 Vgl. z. B. die Figur des bestechlichen Richters in Strickers Erzählung „Der Richter und der Teufel“, die als Exemplum Eingang in den Deutschenspiegel (Ldr. 80,3) und einige Schwabenspiegel -Handschriften fand (vgl. dazu Ott 1988 mit einer Übersicht über die Überlieferung auf S. 243; Heinzle 1999, S. 270-278; Bleumer 2011b, S. 171). Zum Problem der Bestechlichkeit vgl. auch Schild 1985, S. 12. Dass mit der <?page no="232"?> 232 5 Externe Bezugsfelder zunehmen, dass Furcht ebenso eine Rolle gespielt haben mag, und zwar nicht nur die bereits bei Gratian genannte Furcht vor einer Amtsgewalt. James Q. Whitman (2008a) hat daneben die Furcht vor der Rache der Angehörigen des durch eine Aussage Beschuldigten und die Angst, mit einer Aussage eine Blutschuld auf sich zu laden, ausgemacht. 162 Das Quellencorpus, auf das er seine These stützt, ist denkbar schmal; 163 im Wesentlichen argumentiert er mit einer Problemstellung aus dem Speculum doctrinale des Vinzenz von Beauvais, in dem die Frage diskutiert wird, ob jemand, der einen anderen falsch schwören hört, eine Sünde begeht, wenn er trotz des Wissens um die Falschheit des Eides dazu schweigt. 164 Als mögliche Gründe, die dagegen sprechen könnten, den falschen Eid offenzulegen, wird eine spirituelle Gefahr genannt (Blutschuld durch ein Todesurteil oder die Rache der Eltern [! ] des von dem Meineidigen zu Unrecht Beschuldigten an dem Meineidigen), aber auch die Gefahr für das eigene Leben. Hier scheint die Furcht vor einer Privatrache durch. Ob man eine solche Furcht generell annehmen kann, hängt davon ab, inwieweit die Privatfehde oder das System einer gerichtlichen Konfliktregelung dominierte. 165 Dass im gelehrten Prozess das Zeugenverhör in secreto stattfand, unter anderem zum Schutz der Zeugen vor der Rache grundsätzlichen Gefahr der Rechtsbeugung durch Bestechungszahlungen zu rechnen war, zeigt sich in den Kerntexten am deutlichsten bei der Erläuterung der (römischen) Gerichtssitten im Evangelium Nicodemi , wo allerdings der Richter als jemand dargestellt ist, der gegen Bestechlichkeit vorgeht: swa man den vanen vorneme / und des koniges gewalt, / swer da worde bezalt / mit unrehten dingen, / daz er den mohte betwingen / mit des keiseres craft (vv. 846-851). 162 Vgl. Whitman 2008a, S. 75. Zu der von ihm als dritten Typ der Furcht genannten Angst vor dem Risiko des Schwörens s. u. S. 239 f. 163 Vgl. zu Whitmans Umgang mit Quellen auch die Rezension von Shapiro 2008 und Whitmans (2008b, S. 185 f.) Reaktion darauf, in deren Rahmen er auch die Frage aufwirft, in welchen Texttypen man überhaupt mit Reflexionen über Motivationen etwa von Schöffen rechnen kann. 164 Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale , l. 9, c. 103 (zitiert nach dem Münchner Exemplar des Druckes Venedig 1494 [BSB-Ink V-200 - GW M50 566]; für eine Übersicht über die Drucke vgl. http: / / www.arlima.net/ uz/ vincent_de_beauvais.html#doc, 15. 08. 2017): De illo qui audit alium peierare & tacet. QVid si aliquis audit alium iurare falsum, & ipse scit, & tacet, nunquid peccat? videtur quod sic, in Leuitico. Anima quæ audierit vocem iura(n)tis falsum, testisque fuerit, quod aut ipse vidit, &c . Item caret scrupolo societatis occultæ, qui manifesto facinori desinit obuiare. Econtra vero, qui crimen occultum manifestat, non est erroris correptor, sed proditor, dicit Augu. Item si prodit eum forte punietur ille in corpore, vel occidetur à iudice, vel etiam à parentibus illius contra quem ipse volebat peierare, vel ipsemet proditor potest de facili incurrere mortis periculum: Et ideo dicit Augustinus, quod sufficit isti, vt se ab hoc soluat peccati vinculo, si indicet talibus, qui magis possunt prodesse quam obesse periuro, siue eum corrigendo, siue pro eo Deum placando. („Über denjenigen, der einen anderen einen Meineid leisten hört und schweigt: Nun, wenn jemand einen anderen etwas Falsches schwören hört und er es weiß und schweigt, begeht er etwa eine Sünde? Es scheint, dass es so ist, [vgl.] Leviticus [5,1]: ,Eine Seele, die die Äußerung eines falsch Schwörenden gehört hat, und Zeugin dessen war, was sie entweder selbst gesehen hat, usw.‘ Ebenfalls: Frei ist von der Besorgnis wegen einer geheimen Gemeinschaft [sc. des Bösen], der es unterlässt, einer offenkundigen Schandtat entgegenzutreten. Ganz im Gegenteil: Wer ein geheimes Verbrechen offenkundig macht, der schilt nicht das Vergehen, sondern verrät es, sagt Augu(stinus) [ Sermo 82, cap. 7, vgl. PL 38, col. 510, l. 47]. Ebenfalls: Wenn er ihn verrät, wird jener vielleicht körperlich bestraft oder getötet werden vom Richter oder sogar von den Eltern dessen, gegen den er selbst einen Meineid leisten wollte, oder er kann selbst als Verräter leicht in Todesgefahr kommen: Und deshalb sagt Augustinus, dass es für jenen genügt, um sich von dieser Fessel der Sünde zu befreien, wenn er es solchen anzeigt, die dem Meineidigen mehr nützen als schaden können, sei es, dass sie ihn bessern, sei es, dass sie für ihn Gott besänftigen [ Quaestionum in Heptateuchum libri septem , lib. 3, Quaestio Levitici, quaestio 1, l. 19, vgl. die Ausgabe von Fraipont / De Bruyne 1958].“). 165 Vgl. dazu auch Whitman 2008a, S. 75 mit Anm. 100 und 101 (S. 233); Hyams 2010; Reinle 2013, jeweils mit weiterer Literatur. <?page no="233"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 233 der Angehörigen der Beklagten, 166 spricht für eine weitverbreitete Vitalität der (privaten) Rachekultur. Auf jeden Fall kann das von Whitman interpretierte Textbeispiel unter systematischen Gesichtspunkten sowohl die Bandbreite spiritueller Handlungsmotivationen als auch irdische Beweggründe demonstrieren. Auch in den deutschen Rechtsbüchern ist die spirituelle Verpflichtung zur Wahrheit nur e i n Aspekt. Stellvertretend sei auf den Deutschenspiegel verwiesen: Dort wird ein Vorsprecher, der Bestechungsgeld annimmt und deshalb jemanden um sein Recht bringt, mit Judas verglichen (Ldr. 78,4), und es wird gesagt, dass es wider got sei, wenn ein Vorsprecher seine Kunst für eine unrechte Sache einsetze (Ldr. 78,2) oder einem Armen nur ungern zu dessen Recht verhelfe (Ldr. 78,3). Es werden aber auch ganz konkret Schadenersatzleistungen für den ersten Fall benannt (Ldr. 78,4). Im Kapitel zu den Zeugen hat sich die Perspektive auf die irdische Dimension eingeengt: Für einen überführten bestochenen Zeugen (Ldr. 80,1) werden Bußzahlungen an den Richter festgelegt. Außerdem dürfe der Überführte ein Jahr lang für keinen Mann und keine Frau Zeuge sein. Diese Regelung impliziert eine (irdische) Rehabilitation nach einem Jahr, die im Kontrast zum Konzept der ewigen Verdammnis steht. 167 Von wârheit ist im Deutschenspiegel in Zusammenhang mit der Bestechlichkeitsproblematik nicht die Rede, und die Aufgabe des Zeugen wird so beschrieben, dass er enen seines rechten helfen (Ldr. 80,1), also jemanden zu dessen subjektivem Recht verhelfen solle. Obwohl der Deutschenspiegel insgesamt deutliche Züge der Rezeption des gelehrten Rechts trägt, verweist die Stelle durch diese Formulierung zurück auf eine ,deutschrechtliche‘ Tradition, nach der nicht die Wahrheitsfindung im Mittelpunkt eines Verfahrens steht. 168 Das Ziel von Gerichtsverfahren lässt sich vielmehr als Wiederherstellung von reht durch eine friedliche Sühne beschreiben. 169 Damit soll für das ,deutsche‘ Recht nicht generell der enge Zusammenhang zwischen ,Wahrheit‘ und Recht geleugnet werden. Er zeigt sich auf terminologischer Ebene - unter römischem Einfluss - in frühmittelalterlichen lateinischen Rechtsquellen aus dem deutschen Raum; 170 für die Zeit nach dem Frühmittelalter wären die Quellen erst noch systematisch zu sichten. 171 Außerdem wäre in jedem Einzelfall zu 166 Vgl. dazu Nehlsen-von Stryk 2000, S. 31; Evans 2002, S. 98; Lepsius 2003, S. 62 f. 167 Da beim Fehlverhalten des Vorsprechers dessen Sündhaftigkeit thematisiert ist, kann die rein weltliche Perspektive auf die Bestrafung des bestechlichen Zeugen nicht darauf zurückgeführt werden, dass ein Urteil über die Sündhaftigkeit des Verhaltens geistlichen Gerichten zugekommen wäre. Zu derartigen Interpretationen, mit denen erklärt werden soll, warum im Sachsenspiegel Regelungen zum Meineid und zur Falschaussage fehlen, vgl. Müller 2000, S. 19-21. 168 Auch für den Bereich des gelehrten Rechts wäre zwischen den verschiedenen Verfahrenstypen zu differenzieren. Vgl. dazu Esders / Scharff 1999, S. 20 f.; zur Entwicklung des Inquisitionsverfahrens vgl. Burret 2010, S. 21-30, mit weiterer Literatur. 169 Vgl. dazu (mit weiterer Literatur) Kroeschell 1986, S. 465 (in Bezug auf frühmittelalterliche Verhältnisse). Für die Konzeptionalisierung von reht als dauerhafter sozialer Konfliktregelung in einem geordneten Verfahren lassen sich noch im 15. Jahrhundert Belege finden (vgl. dazu Hildbrand 1999, S. 170 f., mit weiterer Literatur). 170 Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Kroeschell (1986), der für den „germanische[n] Überlieferungsstrang“ (ebd., S. 473) ein weitgehendes Fehlen der Wortbelege für wârheit konstatiert und damit die von Jacob Grimm (1816, S. 75) aufgestellte These relativiert, dass Wahrheit und Recht im deutschen Mittelalter in eins gingen. Vgl. dazu auch Lepsius 2000, S. 29. 171 Zum Forschungsdesiderat vgl. Kroeschell 1986, S. 455 f. Gut fassbar ist die Wahrheitsfindung als Ziel von Strafprozessen dann für den Inquisitionsprozess der Frühen Neuzeit (vgl. Ignor 2013, S. 5-7). Einzelstudien für das Hoch- und Spätmittelalter existieren durchaus (z. B. Hildbrand 1999, S. 167-175, der das Verhältnis von wârheit und reht für die Ostschweiz im 15. Jahrhundert untersucht); eine breit <?page no="234"?> 234 5 Externe Bezugsfelder prüfen, inwiefern christliche Konzepte der Verbindung von Gerechtigkeit und Wahrheit jeweils mitschwingen, wenn von reht die Rede ist. Dazu hätte man ein breites Spektrum von Textsorten zu berücksichtigen, das von theologischen 172 und kirchlichen Schriften 173 bis hin zu Erzähltexten reicht, 174 deren Relevanz für ,deutschrechtliche‘ Konzepte allerdings jeweils erst zu beweisen wäre. 175 Eine unmittelbare Verbindung zwischen theologischen Erwägungen und der Rechtspraxis ist für die Entwicklung von Eidesformeln zu vermuten. Für das Kirchenrecht war die Lehre des Hieronymus von Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit ( veritas , iudicium, iustitia ) als Gefährten des Eides höchst einflussreich. 176 Angesichts der komplexen Verflechtungen von ,Wahrheit‘ und ,Recht‘, wie sie sich in den mittelalterlichen Schriftzeugnissen darstellen, sind stark vergröbert zwei verschiedene Methoden der Entscheidungsfindung vor Gericht zu differenzieren: die Prüfung der Wahrhaftigkeit der Parteien und die Ermittlung einer Tatsachenwahrheit. Der einen Herangehensweise lassen sich als Beweisverfahren der Reinigungseid des Beklagten und das Gottesurteil, der anderen der Beweis mit Wahrnehmungszeugen und Urkunden zuordnen. Die historische Abfolge in der Anwendung der Beweisverfahren ist in der Forschung häufig mit wertenden Kategorien beschrieben worden: Die Rationalisierungsleistung des römischen Prozessrechts, das unter anderem eine Zweizeugenregelung kannte, sei in der ,Völkerwanderungszeit‘ verloren gegangen. In der Folgezeit habe eine rein formale Wahrheitsermittlung mit irrationalen Beweisverfahren vorgeherrscht, bis im Hochmittelalter unter anderem durch die Rezeption des gelehrten Rechts erneut eine Rationalisierung erangelegte Aufarbeitung der Wortbelege in späteren Quellen scheint bis heute nicht erfolgt zu sein. Zu berücksichtigen wären auch Übersetzungen aus dem Lateinischen, z. B. die deutsche Übersetzung des Zweiten Privilegs Rudolfs I. für Wien vom 24. Juni 1278, die „für die Beurteilung der rechtssprachlichen Terminologie der Zeit von hoher Bedeutung ist“ (Csendes 1986, S. 82). Darin heißt es: Aber wie man dingen sol. Ez schol auch ein igleich mensch, daz uber ettleich sach dingen wil, des ersten swern wı ͤ r dem richter, daz iz ding an all triegnu ͤ sse, an aufschub, an gever, nur zu ervinden lawtrew warhait des rechten und der rechtichait. (Art. 20, zitiert nach Csendes ebd., S. 87). des rechten ist eine Umsetzung von lateinisch iuris : […] ad inveniendam puriorem iuris et iusticie veritatem. (Art. 20, zitiert nach Csendes ebd., S. 78; „[…] zum Finden einer reineren Wahrheit des Rechts und der Gerechtigkeit“). 172 Zum Zusammenhang von veritas , iustitia und rectitudo bei Anselm von Canterbury vgl. Kapriev 1998, S. 103-143; McGrath 2005, S. 76 f. 173 Zur engen Verbindung von veritas und iustitia „im Sprachgebrauch der Konzilien“ vgl. (für das Frühmittelalter) Kroeschell 1986, S. 463 f. 174 Das von Bernhard von Clairvaux ( In festo annuntiationis beatae Mariae virginis , Sermo I ) ausgearbeitete Motiv vom Streit der vier Töchter Gottes, wonach sich veritas und iustitia mit pax und misericordia auseinandersetzen, fand breiten Eingang in die deutschsprachige Literatur (vgl. Ohly 1994; Timmermann 1995 [mit Nachtrag 2004]; vgl. auch Urbanek 1980 [zur Erlösung ]; Gärtner 2009a [zur Weltchronik Heinrichs von München]; Brettschneider 2014 [zum ,Frau-Ehren-Ton‘ 1,1-12 Reinmars von Zweter und zu Von siben ingesigeln Tilos von Kulm]). 175 Nach Kroeschell (1986, S. 473) ist das Konzept der „Wahrheit Gottes“ - er verweist auf Anselm von Canterbury - für den Rechtsdiskurs kaum relevant. 176 Vgl. dazu Kreusch 2005, S. 88-91 (zum neutestamentlichen Schwurverbot vgl. ebd., S. 54-76); zur Rezeption der Eideslehre des Hieronymus bei Gratian vgl. ebd., S. 83; 135-141. Zum engen Zusammenhang der Wahrheit des Eides mit der christlichen Glaubenswahrheit vgl. Esders / Scharff 1999, S. 25. Dass die Praxis des Zeugeneides im Spätmittelalter aus dem kanonischen Recht Eingang in das ,deutsche‘ Recht fand, belegt z. B. die Forderung im Meißner Rechtsbuch (vgl. dazu Magin 1999, S. 77-99), man solle Zeugen nach dem Vorbild des geistlichen Rechts vereidigen (IV 37,33, vgl. die Ausgabe von Spáčil / Spáčilová 2010). Bei diesen Zeugen handelt es sich eindeutig um Wahrnehmungszeugen (vgl. ebd., IV 37,32). <?page no="235"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 235 folgt und die Ermittlung der materiellen Wahrheit in den Mittelpunkt gerückt sei. 177 Dieses Fortschrittsmodell wurde zu Recht kritisiert. 178 Schon die Klassifizierungen sind zu hinterfragen: 179 Vor dem Hintergrund der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit kann es - eine christliche Denkordnung vorausgesetzt - durchaus als ,rational‘ erachtet werden, zur Entscheidungsfindung auf göttliche Hilfe zurückzugreifen. 180 Akzeptiert man diese Prämisse, wird die Annahme nachvollziehbar, dass sich etwa durch ein Gottesurteil nicht bloß eine formale Wahrheit offenbart, sondern auch die objektive Wahrheit über die Schuld oder Unschuld der Angeklagten. 181 Umgekehrt bringt zum Beispiel das Verfahren der Zeugenbefragung auch irrationale Komponenten mit sich: Bereits in Schriften des gelehrten Rechts finden sich skeptische Stimmen dazu, ob sich eine Tatsachenwahrheit über die Aussagen von Wahrnehmungszeugen überhaupt ermitteln lässt. 182 Als systematische Konsequenz aus dem Unsicherheitsfaktor, der mit Zeugenaussagen verbunden ist, ergibt sich, dass eine Beweiswürdigung erfolgen muss, die sich entweder nach einem festen Regelwerk richtet, das letztlich zu einer formalen Wahrheit führt, oder freie Entscheidungen des Richters beinhaltet, die irrational sein können. 183 Was die Chronologie angeht, so lassen sich zwar gewisse Grundlinien ausmachen, jedoch hat man - gerade für den hier besonders interessierenden Zeitraum des 13. Jahrhunderts - mit dem Nebeneinander verschiedenster Beweisverfahren zu rechnen, und zwar sowohl im Spannungsfeld des römischen, kanonischen und ,deutschen‘ Rechts als auch innerhalb des ,deutschen‘ Rechtskreises: Frühe Stadtrechtsprivilegien, vor allem aus dem süddeutschen Raum, bevorzugen ,rationale‘ Beweisverfahren, 184 während etwa im sächsischen 177 Vgl. dazu ausführlicher und mit weiterer Literatur Lepsius (2000, S. 7-28), die das der skizzierten Betrachtungsweise zugrunde liegende Fortschrittsdenken herausgearbeitet hat. 178 Die folgenden Überlegungen fußen vor allem auf den Beiträgen von Nehlsen-von Stryk (2000) und Lepsius (2000, S. 28-36). Kritisch zur Rationalisierungsthese äußert sich auch Willoweit (2001, S. 370), der anmahnt, dass „die Möglichkeit verschiedener Formen von Rechtslogik in Erwägung gezogen werden“ müsse. So auch Kannowski 2015 (2008), S. 38. 179 Nehlsen-von Stryk (2000) hat die Unangemessenheit der Attribute ,rational‘ und ,irrational‘ aufgezeigt, aber von deren Vermeidung zur Beschreibung von Beweisverfahren „mangels einer überzeugenden Alternative“ (ebd., S. 38, Anm. 121) abgesehen. Im Sinne eines Kürzels zur Verständigung ist auch im Folgenden gelegentlich von ,rationalen‘ Beweisverfahren die Rede. 180 Zur Diskussion vgl. van Caenegem 1990; Lepsius 2000, S. 30 f.; Whitman 2008a, S. 56. Für van Caenegem ist es deshalb gerechtfertigt, Gottesurteile als ‚irrational‘ zu bezeichnen, weil es sich bei ihnen um Beweisverfahren handele, die nicht auf ‚menschlicher Rationalität und kritischer Nachforschung basierten‘ („based on human reason and critical enquiry“ [ebd., S. 270]). 181 Vgl. Lepsius 2000, S. 12. Ob Gottesurteile eine angemessene Form der Entscheidungsfindung darstellen, war bereits im Mittelalter umstritten, ebenso wie die bis heute in der Forschung diskutierte Frage, welche Art von Wahrheit mithilfe von Gottesurteilen in Erfahrung gebracht werden kann (vgl. dazu z. B. Kroeschell 1986, S. 472 f.; Baldwin 1994; Whitman 2008a, S. 52-90, jeweils mit weiterer Literatur). Auch in der Eideslehre begegnet die Vorstellung, dass Eide menschliche Erkenntnisdefizite ausgleichen können (vgl. dazu Esders / Scharff 1999, S. 26 f.), allerdings zeugen die zahlreichen Regelungen zum Meineid von einem weit verbreiteten Bewusstsein davon, dass Spannungen zwischen ,Eid‘ und ,Wahrheit‘ bestehen können; die gegeneinander geschworenen Parteieneide, wie sie z. B. im Sachsenspiegel beschrieben werden (Ldr. III 88,3), setzen sogar voraus, dass einer der Eide ein Meineid ist. Dazu und zu zeitgenössischen Klagen über den Eidmissbrauch vgl. Kannowski 2007, S. 215 f. 182 Vgl. Lepsius 2006, S. 127-133; Kannowski 2007, S. 229 f. Zur Irrationalität von Zeugenaussagen vgl. auch dens. 2015 (2008), S. 38. 183 Vgl. dazu Lepsius 2000, S. 32; Kannowski 2007, S. 232 f. 184 Vgl. eine Liste von Stadtrechtsprivilegien des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, „die sich zu prozessualen Fragen äußern“, bei Nehlsen-von Stryk 2000, S. 8. Nach Lepsius (2000, S. 30) ist bei einigen der stadtrechtlichen Regelungen der Einfluss römischen Rechts eher unwahrscheinlich. <?page no="236"?> 236 5 Externe Bezugsfelder Landrecht ,irrationale‘ Beweisverfahren vorherrschen. Doch auch der Sachsenspiegel kennt vereinzelt Zeugen, die eine Kenntnis der Tatsachen haben sollen, vor allem für Fälle, bei denen finanzielle Fragen verhandelt werden. 185 Im Schwabenspiegel sind an einigen Stellen Tatsachenzeugen benannt, ohne dass ,rationale‘ Beweisverfahren dominierten oder in ein Verhältnis zu ,irrationalen‘ gesetzt worden wären. 186 Eine ausgearbeitete Beweislehre, in der die Verfahren prinzipiell systematisiert würden, gibt es schon bei diesen Einzelwerken nicht; insgesamt sind die Beweisverfahren stark diversifiziert: Das reiche Quellenmaterial des 13. und 14. Jh. - Landrechte, Stadtrechte, Reichs- und Landfrieden, Friedensbündnisse, Weistümer, Schöffensprüche etc. - ist angefüllt mit beweisrechtlichen Regeln, die eine kaum überschaubare, zudem ganz kasuistisch geprägte Variationsbreite verschiedenster Mischlösungen [sc. von ,rationalem‘ und ,irrationalem‘ Beweis] aufweisen. 187 Wie bereits diese Aufzählung der Quellentypen erkennen lässt, sind Beweisregeln nicht auf den Strafprozess beschränkt; sie finden sich auch in politisch geprägten Zusammenhängen. So fanden etwa beim Ausbau von Landesherrschaften inquisitiones statt, die die Suche nach Wahrheit zum Ziel hatten und bei denen „rechtliche Befragungspraktiken“ zum Einsatz kamen. 188 Die große Bandbreite von Regelungen lässt darauf schließen, dass zum Beispiel der Stellenwert von Augenzeugenschaft in der jeweiligen Rechtsgemeinschaft immer wieder neu ausgehandelt werden musste. Dass in manchen späteren Stadtrechten ,rationale‘ Beweisverfahren wieder durch ,irrationale‘ ersetzt wurden, 189 bestätigt die Annahme, dass die Verfahrensweisen nicht fixiert waren. Für Erzähltexte ist in Anbetracht der Variationsbreite von Beweisverfahren umso mehr zu vermuten, dass sie nicht einen bestimmten historischen Zustand spiegeln, 190 sondern sich in dem aufgezeigten Feld positionieren. Tatsächlich hat die Analyse der Kerntexte gezeigt, dass der Frage, wann etwas von wem als wahr anerkannt wird, großer Raum eingeräumt wird. Eine Rekonstruktion eines konkreten Bezugsrahmens im Sinne ausgewählter Rechtstexte erscheint allerdings angesichts der Koexistenz verschiedenster Beweisverfahren weder möglich noch geboten. Da die Textanalysen jedoch gezeigt haben, dass Konzepte der Zeugenschaft in den Kerntexten eine zentrale Rolle spielen, seien daher - unter all- 185 Vgl. Nehlsen-von Stryk 2000, S. 25; Kannowski 2007, S. 214-217; Meyer 2009, S. 138. Aus dem Befund im Sachsenspiegel ist aber nicht generell zu schließen, dass Zeugen vor allem bei privatrechtlichen, nicht bei peinlichen Klagen herangezogen werden (vgl. dazu Kannowski ebd., S. 242), auch wenn sich in späteren Rechtsbüchern gelegentlich solche Differenzierungen finden (vgl. Nehlsen-von Stryk ebd., S. 32 f., zum Meißner Rechtsbuch ). 186 Vgl. Kannowski 2015 (2008), S. 40 f.; 45. Einen Überblick über Artikel mit beweisrechtlichem Inhalt bietet Kannowski ebd., S. 47 f. Angegeben ist dort auch, ob von Tatsachenzeugen oder Eideshelfern die Rede ist. In zahlreichen Fällen lässt sich das jedoch gar nicht eindeutig entscheiden (vgl. ebd., S. 40 f.). 187 Vgl. Nehlsen-von Stryk (2000, S. 7), die die Sichtung der Quellen auf die Beweisverfahren hin als Forschungsdesiderat beschreibt. 188 Vgl. Esders / Scharff 1999; zur Situation im deutschen Raum vgl. ebd., S. 16. 189 Zur „Disponibilität des Beweisrechts“ in Stadtrechten des 13. und 14. Jahrhunderts vgl. Nehlsen-von Stryk 2000, S. 19-24. Sie warnt jedoch davor, „Abänderungen des Zeugenbeweises als Rückfall in die Irrationalität“ zu sehen, denn im Freiburger Stadtrecht zum Beispiel habe die Wiedereinführung des Rechts auf Zweikampf (für den Beklagten) bei nächtlicher Verwundung oder Verwundung in der taberna den rationalen Grund, dass Zeugenaussagen in diesen Fällen mit Unsicherheiten behaftet seien. 190 Zu möglichen Abweichungen zwischen Rechtstexten und Rechtspraxis s. o. S. 47 f. <?page no="237"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 237 gemeinerer juristischer Perspektive - die Pole skizziert, die als Bezugspunkte anzunehmen sind: Eideshelfer auf der einen und Wahrnehmungszeugen auf der anderen Seite. 191 Das nichtmittelalterliche Kunstwort ,Eideshelfer‘ beschreibt genau deren Funktion: Sie unterstützen denjenigen, der einen Eid (z. B. einen Reinigungseid) schwört, durch einen eigenen Schwur, in dem sie die Richtigkeit des Haupteides bestätigen. 192 Eine eigene Kenntnis des Sachverhalts auf Seiten der Eideshelfer ist nicht vonnöten, da nur die Integrität des Schwörenden bekräftigt wird; deshalb ist eine gute persönliche Kenntnis desjenigen, dessen Aussage bestätigt werden soll, geradezu von Vorteil, während sie bei einem Wahrnehmungszeugen dessen Neutralität in Frage stellt. 193 Trotz dieses grundsätzlichen Unterschiedes sind Wahrnehmungszeugen und Eideshelfer in den Quellen häufig nicht scharf voneinander zu trennen, weil sie mit demselben Wort bezeichnet sein können. 194 Außerdem wird bereits im Sachsenspiegel in einigen Fällen von den Eideshelfern auch die Kenntnis des zu beweisenden Sachverhalts gefordert. 195 Aber dieses Wissen muss nicht begründet werden, sondern entscheidend ist allein das, was vor Gericht geschieht. 196 Bei einem Zeugen, der aufgrund eigener Wahrnehmung einer vergangenen Situation aussagt, fehlt jedoch die „evidenzielle Direktheit“, 197 weshalb seine Aussage zusätzlich abgesichert werden muss. 198 Das Spektrum der Maßnahmen lässt sich am besten an dem reichen Quellenmaterial der römisch-kanonischen Prozessdoktrin ablesen; einzelne Regelungen sind jedoch auch in den Privilegien deutscher Städte aufgeführt, ohne dass jeweils 191 Die generellen Ausführungen sind insofern indirekt auf das jeweilige Entstehungsumfeld der Kerntexte bezogen, als das Spannungsfeld zwischen Eideshelfern und Zeugen auch für die süddeutschen und ostfränkischen sowie die österreichischen Rechte und den sächsischen Rechtskreis durch die grundlegende Quellensammlung von Ruth (1922, S. 76-117; 125-143) nachgewiesen ist. 192 Vgl. Weitzel 2008a (mit weiterer Literatur), auch zur Anzahl der Eideshelfer: „Die Grundzahl war zwölf, durch Teilungen kam man vornehmlich zu sechs u. drei, durch Vervielfältigung zur Anforderung von bis zu 72 E. Manche Rechte bezogen den Beklagten in diese Zahlen ein, andere nicht. Der selbdritt geschworene Eid, erforderte also teils zwei, teils drei E.“ (Sp. 1263). Im Sachsenspiegel wird in der Regel ein Eid selbdritt oder selbsiebt gefordert (vgl. Meyer 2009, S. 138). 193 Vgl. Kannowski 2007, S. 244. 194 Vgl. Ruth 1922, S. 1 f. ( testes ); Meyer 2009, S. 137 ( gezuk ). Dazu und zur alternativen Benennung von Eideshelfern als ( con -) iuratores oder ( con -) sacramentales bzw. helfer vgl. Weitzel 2008a, Sp. 1261. 195 Vgl. Weitzel 2008a, Sp. 1262; Meyer 2009, S. 138. Zur Zwischenstellung von Schreimannen, die bei einer handhaften Tat als Zeugen („zwar nicht als Zeugen der Tatbegehung, aber der sich anschließenden Bindung des nun Beklagten“) durch Gerüfte herbeigerufen wurden, vgl. auch Schild 2012, Sp. 743. 196 Zu diesem Prinzip, das im Sachsenspiegel (Ldr. I 18,2) über allgemein bekannte Fakten gestellt wird, vgl. Nehlsen-von Stryk 2000, S. 26; Kannowski 2007, S. 214 f. Zum Eidverfahren vgl. auch Lepsius 2006, S. 120: „Mit dem Ausgang des Gottesurteils oder des Eidverfahrens war sowohl über die Tatsachenals auch über die Rechtsfragen eine Entscheidung ergangen. Diese sogenannten zweizüngigen Beweisurteile kannten noch keine verfahrensmäßige Ausdifferenzierung zwischen Tatsachenfeststellung im Beweisverfahren sowie nachfolgender Beweiswürdigung und Rechtsanwendung auf den festgestellten Sachverhalt durch das Gericht. Überdies waren in dem Verfahren sowohl die Schöffen als auch der Richter davon entlastet, eine eigene Entscheidung treffen zu müssen.“ 197 Vgl. Strohschneider 2005, S. 318; ähnlich 2014, S. 96. Im gelehrten Recht galt deshalb die Zeugenaussage im Vergleich zu Urkunden, gerichtlichem Augenschein und der Aussage von Sachverständigen als unzuverlässigstes Beweismittel (vgl. Lepsius 2006, S. 125 f.). 198 Strohschneider (2005, S. 318 [Zitat]; ähnlich 2014, S. 96) beschreibt das grundsätzliche Problem folgendermaßen: „ Jurisdiktionelle Verfahrens- und Sanktionsordnungen (Tatsachen- oder Urkundenbeweis, Glaubwürdigkeitsprüfung aller Art, Eid, magische Proben, u.s.w.) sind im Allgemeinen vermutlich der wichtigste kulturelle Modus, diese paradoxe Struktur zu invisibilisieren und ihr zum Trotz die Geltung eines Augenzeugnisses institutionell herzustellen.“ <?page no="238"?> 238 5 Externe Bezugsfelder eindeutig zu klären wäre, ob es sich um ein Rezeptionsphänomen handelt. Das betrifft insbesondere den auch durch Sprichwörter breit dokumentierten Grundsatz, dass ein einzelner Zeuge nicht genug sei. Die häufig genannte Zahl von zwei oder drei Zeugen findet sich bereits in der Bibel, ebenso im kanonischen Recht und in Stadtrechtsprivilegien, wobei der biblische Bezug nicht immer aktiviert wird. 199 Die Forderung nach mehreren Zeugen impliziert das ebenfalls in der Bibel (Mc 14,56-59) thematisierte Kriterium, dass die Aussagen übereinstimmen müssen, um als erwiesen gelten zu können. 200 Unter Berufung auf das biblische Vorbild der Befragung der beiden alten Richter, die Susanna verleumdet hatten, durch Daniel (Dn 13,44-64) wurde im gelehrten Recht die getrennte Befragung von Zeugen propagiert. 201 In der Praxis fand das Zeugenverhör abgetrennt von der eigentlichen Verhandlung in secreto statt, sodass die Zeugen nicht durch die Aussagen anderer beeinflusst werden konnten. 202 Das zog die Notwendigkeit der Verschriftlichung der Aussagen nach sich; denn nur anhand des Verhörprotokolls konnte später verglichen werden, ob die Aussagen übereinstimmten. 203 Grundvoraussetzung für eine vertrauenswürdige Zeugenaussage war, dass jemand etwas mit eigenen Augen wahrgenommen hatte und nicht bloß durch Hörensagen wusste. 204 Bereits im einflussreichen Ordo iudiciarius 205 Tankreds von Bologna (um 1214 / 16) ist angegeben, dass fortschrittliche Richter als Vorsichtsmaßnahme Zeugen einen Eid schwören ließen, der eine Differenzierung beinhaltet zwischen dem Wissen, das sie aufgrund eigener Anschauung hätten, und dem, das auf Hörensagen beruhe, und dass sie nicht leichtgläubig etwas als sicher angäben: Moderni quippe iudices hoc addunt ad cautelam: quod ita dicunt veritatem, sicut sciunt, quia quod sciunt per visum dicent de visu, et quod per auditu, dicent de auditu; nec dicent de credulitate, quod sciunt pro certo, vel e contra; […] 206 199 Vgl. Nehlsen-von Stryk 2000, S. 11 f. (mit weiterer Literatur); vgl. auch Evans 2002, S. 150; Kannowski 2007, S. 239. Zum römischen Recht vgl. Litewski 1999, Bd. II, S. 410-413; Lepsius 2003, S. 9. Die Zahlenverhältnisse sind ähnlich wie bei einem selbdritt geleisteten Eid, was Übergangsformen zwischen Eideshelfern und Zeugen begünstigt haben mag (anders Meyer 2009, S. 138 f., der eine starre Zahlenfestlegung als Merkmal von Eideshelfern ansieht). 200 Vgl. Lepisus (2000, S. 9) dazu, dass nach dem römischen Recht eine Aussage auch dann nicht notwendig als wahr anerkannt werden muss. Zu Kriterien für die Übereinstimmung von Zeugenaussagen im sächsischen Rechtskreis vgl. Meyer (2009, S. 140-147): Während im Freiberger Stadtrecht (um 1300) eine wörtliche Übereinstimmung gefordert wird, kommt es nach der späteren Leipziger Schöffenspruchsammlung auf die ,Gleichmäßigkeit‘ der Aussagen an. In beiden Fällen konnte trotz inhaltlicher Übereinstimmung eine Aussage aus formalen Gründen ungültig werden, d. h., die Erforschung der materiellen Wahrheit stand nicht im Zentrum. 201 Vgl. Litewski 1999, Bd. II, S. 401. 202 Vgl. Evans 2002, S. 98; Lepsius 2003, S. 62 f. In manchen ordines iudiciarii wurde das Öffentlichkeitsprinzip verfochten; diese Auffassung setzte sich jedoch nicht durch (vgl. Litewski 1999, Bd. II, S. 401 f.). 203 Zum Prozedere vgl. Lepsius 2003, S. 66-68, mit Belegen dafür, dass Anwälte in den Verhörprotokollen Übereinstimmungen markierten. Eine Systematik der möglichen Widersprüche zwischen Zeugenaussagen findet sich im Ordo iudiciarius Tankreds von Bologna (P. 3, t. 9 § 2; vgl. die Ausgabe von Bergmann 1842, S. 238 f.). 204 Vgl. Lepsius 2006, S. 127-129; 134, auch zur Hochschätzung des Sehsinns gegenüber anderen Sinnen. 205 Zu diesem Texttyp vgl. Litewski 1999, Bd. I, S. 15-48. 206 P. 3, t. 9 § 1, zitiert nach der Ausgabe von Bergmann 1842, S. 237. Zu der in mehreren ordines iudiciarii getroffenen Unterscheidung zwischen einem testimonium de visu , das auf eigener Wahr- <?page no="239"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 239 „Die fortschrittlichen Richter allerdings fügen Folgendes als Vorsichtsmaßnahme hinzu: Dass sie [sc. die Zeugen] die Wahrheit so sprechen, wie sie sie wissen, weil sie, was sie durch Augenschein wissen, gemäß des Augenscheins sagen werden, und was sie durch Gehörthaben (wissen), werden sie gemäß dessen sagen, was sie gehört haben; und sie werden nicht gemäß leichtgläubiger Vermutung sagen, was sie sicher wissen, oder im Gegenteil; […]“ Die Forderung, dass Zeugen in der Lage sein müssten, über die causa scientiae Auskunft zu geben, 207 war ein Grund dafür, warum bestimmte Personengruppen als Zeugen nicht zugelassen waren. Kinder unter vierzehn Jahren, Geisteskranke, aber auch Frauen sind deshalb in der Regel als Zeugen ausgeschlossen, jedenfalls bei Strafprozessen. 208 Ausschlussgründe konnten aber auch im früheren Verhalten der Personen (Meineid, Exkommunikation) liegen und sogar ständisch begründet sein. 209 Auch bei der Prüfung der fides der zugelassenen Zeugen 210 spielten ständische Aspekte eine Rolle. 211 Wie etwa die Glossa ordinaria zu Dig . 22,5,21 ausführt, sollte der Richter bei der Gewichtung von Zeugenaussagen nicht nach deren bloßer Zahl gehen, sondern sollte denen, die ehrenwerter sind und Wahreres zu sagen scheinen, Glauben schenken. 212 Mögliche Zeugen konnten sich auch durch ihr Verhalten vor Gericht diskreditieren, wenn sie sich als Zeugen anboten, bevor sie offiziell darum gebeten worden waren. 213 Die skizzierten Maßnahmen sollen es dem Richter ermöglichen, die Plausibilität der Aussage von Wahrnehmungszeugen zu beurteilen. ,Wahrheit‘ war auf diese Weise aber nicht objektiv zu sichern. Nicht zuletzt deshalb dürfte dem Zeugeneid als Bekenntnis des Zeugen zur veracitas im gelehrten Recht ein so hohes Gewicht zukommen, auch wenn ein nehmung (auch über das Ohr) fußt, und einem testimonium de auditu , das auf Hörensagen beruht, vgl. Litewski 1999, Bd. II, S. 404 f. In manchen späteren Traktaten wird auch ausdrücklich ausgeschlossen, dass ein Zeuge eigene Schlussfolgerungen zieht (vgl. Lepsius 2006, S. 129, zusammenfassend zum Tractatus testimoniorum [um 1375] des Bartolus de Saxoferrato). 207 Zu den Aufgaben des Richters gehörte es, die Glaubwürdigkeit der Auskunft zu überprüfen, u. a. durch Erfragen der causa scientiae (vgl. Evans 2002, S. 97; Lepsius 2003, S. 62-68); nach manchen Schriften des gelehrten Rechts hatte der Zeuge von sich aus anzugeben, woher er sein Wissen hatte (vgl. Lepsius ebd., S. 65). 208 Vgl. Ullmann 1988 (1946), S. 79-82; Litewski 1999, Bd. II, S. 384 f. Vgl. zur Genderfrage auch van Houts (1999), die herausarbeitet, dass die Praxis oft von der Theorie abwich. Auch Diskussionen darüber, dass Frauen in Prozessen ihrer Männer nicht Zeuginnen sein durften (vgl. Lepsius 2006, S. 123, mit weiterer Literatur), und Regelungen, dass es Frauen nicht zuzumuten sei, im ,Büro‘ des Richters auszusagen (vgl. Lepsius 2003, S. 63), deuten daraufhin, dass Frauen sonst doch gelegentlich als Zeuginnen agierten. Zur Zeugnisfähigkeit von Frauen in zivilrechtlichen Verhandlungen vgl. Nörr 2012, S. 137. 209 Vgl. dazu Litewski 1999, Bd. II, S. 385-390; Lepsius 2006, S. 123; zur Relativierung der Ausschlussgründe im 14. Jahrhundert vgl. ebd., S. 127. Lepsius (ebd., S. 123, Anm. 15) verweist auf den Merkvers für „persönliche[n] Zeugenausschlussgründe“, der z. B. im Ordo iudiciarius Tankreds von Bologna überliefert ist: Conditio, sexus, aetas, discretio, fama / Et fortuna, fides: in testibus ista requires (zitiert nach Bergmann 1842, S. 225; „Stand, Geschlecht, Alter, Verschwiegenheit, Leumund / und Vermögen, Glaubwürdigkeit: Bei den Zeugen wirst du danach fragen.“). Vgl. Bergmann ebd., Anm. 34 (S. 225 f.) mit Parallelbelegen; vgl. dazu auch Litewski 1999, Bd. II, S. 384; Nörr 2012, S. 137. 210 Sie fand ebenfalls im Zeugenverhör statt (vgl. Evans 2002, S. 97; Lepsius 2003, S. 62-68). 211 Vgl. Lepsius 2003, S. 175-179. 212 Vgl. Lepsius 2003, S. 144. Generell zur richterlichen Bewertung der Zeugenaussagen vgl. Nörr 2012, S. 150-154. 213 Vgl. Nehlsen-von Stryk 2000, S. 27 (auch zur entsprechenden Regelung im Sachsenspiegel ). <?page no="240"?> 240 5 Externe Bezugsfelder solcher Eid nur ein Bekenntnis zur subjektiven Wahrheit sein kann. 214 Zwar verließ man sich nicht auf die metaphysische Instanz - im Zeugenverhör wurde die fides des Zeugen mit menschlichen Mitteln noch überprüft -, doch deuten die Regelungen zur Befreiung von der Eidesleistung und Versuche, eine Eidesleistung zu umgehen, darauf hin, welches spirituelle Risiko dem Eid zugeschrieben wurde. 215 Auch wenn man sagen könnte, dass der Zeugeneid „Träger des Rationalisierungsgedankens“ sei, weil das Bekenntnis zur Wahrheit über alle persönlichen Bindungen gestellt wird, 216 würden dann die (keineswegs irrationalen! ) kultischen Aspekte der Eidesleistung zu wenig gewichtet. Sie zeigen sich zum Beispiel in den Diskussionen darüber, ob ein falscher Eid, der auf die Evangelien geleistet worden ist, schwerer wiegt als ein nur verbatim abgelegter. 217 Auf jeden Fall ist der Zeugeneid ein Symptom dafür, dass Gott als wahrheitssichernde Instanz auch bei der Anwendung ,rationaler‘ Beweisverfahren nicht obsolet geworden ist. 218 Berührungspunkte zwischen theologischen und juristischen Denkmustern scheint es noch bei einer anderen kontrovers diskutierten Frage zu geben, die mit der zentralen Rolle von Wahrnehmungszeugen für die ,rationalen‘ Beweisverfahren im gelehrten Recht verbunden ist, nämlich ob ein Zeuge zu einer Aussage (und damit zu einer Eidesleistung) gezwungen werden darf oder nicht. 219 Parallel dazu wurde in theologischen Schriften die Frage diskutiert, ob ein Mensch einen anderen beschwören darf oder nicht, etwa von Thomas von Aquin in der Summa Theologiae ( II ª- II ae q. 90 a. 1). Explizite Querverbindungen zwischen den beiden Diskussionszusammenhängen wären erst zu erweisen, aber mögliche Bezüge der Beschwörungsproblematik zur Debatte über die Erzwingung von Zeugenaussagen zeigen sich in dem - von Thomas ( II ª- II ae q. 90 a. 1 ad 3) zurückgewiesenen - Argument, dass die Beschwörung von jemandem bedeute, dass man diesen zu einem Eid dränge ( adiurare est aliquem ad iurandum inducere , II ª- II ae q. 90 a. 1 arg. 3; „Beschwören heißt, jemanden zu einem Eid zu veranlassen“). Thomas will hingegen unter ,Beschwörung‘ auch verstanden wissen, dass man beim Namen Gottes jemanden um etwas bittet, ohne dass das einen verpflichtenden Charakter hat. 220 214 Vgl. dazu Lepsius 2003, S. 60. Der Schwur beinhaltete immer das Versprechen, die Wahrheit zu sagen, manchmal ergänzt durch die Zusicherung, sich nicht durch Liebe, Hass etc. beeinflussen lassen zu wollen. In den ordines iudiciarii sind Verwandte oder Todfeinde der Partei von vornherein vom Zeugnis ausgeschlossen (zu deren relativer Zeugnisunfähigkeit vgl. Litewski 1999, Bd. II, S. 390-392); offenbar hielt man Einflussfaktoren wie Liebe und Hass für stärker als den Drang zur Wahrheit. 215 Vgl. Lepsius 2003, S. 61; Whitman 2008a, S. 75 f. 216 So Esders / Scharff 1999, S. 29 f., in Bezug auf herrscherliche Inquisitionsverfahren. 217 Vgl. Hallebeek 1991, S. 10-13. 218 Dass das Schwören von Eiden rechtfertigungsbedürftig bleibt, zeigt z. B. der Artikel Ldr. 170a im Schwabenspiegel , in dem - unter Berufung auf biblische Vorbilder - argumentiert wird, dass Gott ,rechte Eide‘ erlaube (zu den Quellen vgl. den Apparat von Eckhardt 1974 zur entsprechenden Stelle in der Kurzform). Es wird allerdings davor gewarnt, zu viel zu schwören, nicht wegen einer spirituellen Gefahr, sondern weil es den Eid entwerte: der auch der warhait zeuil swert der wirt got vnd den leuten vnwert (zitiert nach Kb, vgl. Eckhardt ebd.). Wie beim Wein sei auch bei Eiden, selbst wenn sie wahr seien, ein Übermaß schädlich (vgl. dazu Blazovich 2011, S. 387; zur Tradition der Kritik an Vielschwörerei vgl. Kreusch 2005, S. 54 f.). 219 Vgl. dazu Whitman 2008a, S. 77. 220 Si igitur aliquis per invocationem divini nominis, vel cuiuscumque rei sacrae, alicui non sibi subdito adiurando necessitatem agendi aliquid imponere intendat, sicut imponit sibi ipsi iurando, talis adiuratio illicita est, quia usurpat potestatem in alium quam non habet. Tamen propter aliquam necessitatem superiores suos inferiores tali genere adiurationis constringere possunt. Si vero intendat solummodo per reverentiam divini nominis, vel alicuius rei sacrae, aliquid ab alio obtinere absque necessitatis impositione, <?page no="241"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 241 Die Frage, ob es erlaubt sei, dass ein Mensch einen anderen beschwört, wird bei Thomas ( II ª- II ae q. 90 a. 1 arg. 1) ausgehend von der Aussage des Origenes erörtert, dass Kaiphas Jesus unerlaubterweise bei Gott beschworen habe. 221 Bei dieser Konstellation verschränken sich - wie bei der Frage des Pilatus nach der Wahrheit - juristische und religiöse Ordnungsmuster in paradoxer Weise. Vermittelt über Thomas ist die Szene auch in der im 14. Jahrhundert entstandenen Rechtssumme Bruder Bertholds herangezogen worden, wo sie in einen juristischen Kontext gestellt ist, denn sie dient allein zur Bekräftigung der Auffassung, dass ein Niederer einen Höherrangigen nicht beschwören dürfe. 222 Vielschichtiger wird das Vorgehen des Kaiphas in der Prosa-Passio problematisiert, die den Prätext von Der Kreuziger bildet: „Adiuro te per Deum.“ Queritur, utrum pontifex in hoc, quod Christum adiuravit, peccaverit. Et videtur, quod non, quia non est peccatum, quod aliquis alium per adiuracionem incitat, ut dicat veritatem libere. Sed dico, quod peccavit, quia, quando inferior per adiuracionem incitat superiorem ad dicendum veritatem coacte, peccat. Et sic ipse fuit inferior et Christus superior. Igitur non debuit eum per adiuracionem incitare ad dicendum veritatem. Dicit illi Ihesus: Tu dicis. Dubium, quare Ihesus tunc respondit et prius non. Dico, quod voluit facere reverenciam in hoc nomini Dei, dando nobis exemplum hic, ut nos semper hoc faciamus nomini Dei reverendo. Dicit: Tu dixisti, quasi diceret tu dicis, sed ego pro nunc nec dico, nec non dico. 223 „ ,Ich beschwöre dich bei Gott‘. Es wird untersucht, ob der Hohepriester darin, dass er Christus beschwor, gesündigt hat. Und es scheint, dass nicht, weil es keine Sünde ist, dass jemand einen anderen durch Beschwören veranlasst, dass er frei die Wahrheit sagt. Aber ich sage, dass er gesündigt hat, weil er, wenn ein Untergeordneter durch Beschwören einen Höhergestellten veranlasst, unter Zwang die Wahrheit zu sagen, sündigt. Und so war es: Er war untergeordnet und Christus höhergestellt. Also durfte er ihn nicht durch Beschwören veranlassen, die Wahrheit zu sagen. Jesus sagt zu ihm: ,Du sagst es.‘ Es ist unklar, warum Jesus da geantwortet hat und vorher nicht. Ich sage, dass er dabei den Namen Gottes verehren wollte, womit er uns hier ein Beispiel gibt, damit wir talis adiuratio licita est respectu quorumlibet. (IIª-IIae q. 90 a. 1 co.; „Wenn also jemand durch Anrufung des göttlichen Namens oder irgendeiner heiligen Sache jemandem, der ihm nicht untertan ist, durch Beschwören die Notwendigkeit, etwas zu tun, auferlegen will, wie er sie sich selbst durch Schwören auferlegt, so ist ein solches Beschwören unerlaubt, weil er sich eine Macht über einen anderen anmaßt, die er nicht hat. Dennoch können, wenn notwendig, Höhergestellte ihre Untergebenen durch eine solche Art des Beschwörens binden. Wenn er aber allein durch die Ehrfurcht vor dem göttlichen Namen oder einer heiligen Sache etwas von einem anderen erhalten will, ohne ihn zu nötigen, ist ein solches Beschwören erlaubt im Hinblick auf beliebige Sachverhalte.“). 221 Vgl. Mt 26,63: Iesus autem tacebat / et princeps sacerdotum ait illi / adiuro te per Deum vivum / ut dicas nobis si tu es Christus Filius Dei („Jesus schwieg, und der Hohepriester sagte zu ihm: ,Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du Christus, Gottes Sohn, bist.‘ “). Vgl. Origenes, Commentarius in Matthaeum , Comm. ser. 110, zitiert nach Klostermann 1976, S. 229-231, vgl. bes. S. 229, Z. 25 f.: propterea manifestum est, quoniam princeps sacerdotum inlicite Iesum adiuravit, quamvis videatur per deum vivum adiurasse . („Deswegen ist es evident, dass der Hohepriester unzulässig Jesus beschwor, wenn er ihn auch beim lebendigen Gott beschworen zu haben scheint.“). 222 Vgl. B 36 (zitiert nach Steer u. a. 1987, S. 410-414; zum Thomas-Bezug vgl. die lateinische Quelle, abgedruckt bei Hamm / Ulmschneider 1991, S. 100). Thomas ist zwar auch der Auffassung, dass allenfalls ein Höherrangiger einen Niederrangigen verpflichtend beschwören dürfe (IIª-IIae q. 90 a. 1 co., s. o. Anm. 220), geht in diesem Zusammenhang aber nicht auf die Beschwörung Jesu durch Kaiphas ein. 223 Zitiert nach Ferber 1935, S. 76, Z. 7-19. Vgl. entsprechend Der Kreuziger , vv. 5257-5304 (zitiert nach Khull 1882). <?page no="242"?> 242 5 Externe Bezugsfelder immer das tun zur Verehrung des Namens Gottes. Er sagt: ,Du hast es gesagt‘, als ob er sagte: ,Du sagst es, aber ich - für jetzt - sage es weder, noch sage ich es nicht.‘ “ Nach dieser Argumentation wäre eine Auslegung denkbar, wonach der von Kaiphas vorgebrachten Beschwörung kein verpflichtender Charakter zugeschrieben würde. Diese Interpretation wird vom Verfasser der Schrift nicht gebilligt; er lehnt das Verhalten des Kaiphas ab, da er Jesus untergeordnet sei und ihn deshalb nicht dazu zwingen dürfe, die Wahrheit zu sagen. Zugleich erscheint es als ein geeigneter Weg, jemanden zu beschwören, um die Wahrheit herauszufinden, da die Tatsache, dass Jesus Kaiphas überhaupt eine Antwort gibt, darauf zurückgeführt wird, dass er den Namen Gottes (! ) habe ehren wollen, 224 und diese Reaktion wird als Vorbild für ,uns‘ präsentiert. Auf diese Weise wird der historische Jesus zur Exempelfigur. Es ist symptomatisch für einen solchen Interpretationsansatz, dass die knappe Antwort Jesu positiv umgedeutet wird, denn sein sonstiges Schweigen widerspricht einem Verhalten, wie es aus seiner Wesenseigenschaft ,Wahrheit‘ für die Menschen gefordert wird. 225 Wie der als Beispiel herangezogene Text aus der Prosa-Passio erkennen lässt, ist es möglich, den Komplex von , Jesus‘ und ,Wahrheit‘ auch einer Betrachtungsweise zu unterziehen, die nicht seine Exzeptionalität als Inbegriff der Wahrheit, sondern sein Verhalten als Mensch betont. Man muss also damit rechnen, dass kontextabhängig jeweils unterschiedliche Aspekte funktionalisiert werden. ‘waz ist diu warheit? / […] ’ ( Christi Hort , v. 1775). - Die Frage des Pilatus kann von dem wissenden Leser der Kerntexte dahingehend beantwortet werden, dass Christus die Verkörperung der Heilswahrheit ist. 226 Die Textanalysen haben jedoch gezeigt, dass die Wahrheitsthematik, wie sie jeweils in der Erzählung über den Prozess gegen Jesus und dessen Folgen entfaltet wird, vielschichtiger ist und man verschiedene Wahrheitsbegriffe unterscheiden kann, die in den einzelnen Texten auf spezifische Weise verknüpft sind. Vor dem Hintergrund des hier ausgebreiteten thematisch kontextuellen Materials ist die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarungswahrheit und Faktenwahrheit neu zu stellen. Dazu sollen zunächst die Beobachtungen zur Funktionalisierung von wârheit in der Prozessschilderung und bei den Erzählungen von den Ereignissen nach Jesu Auferstehung verfahrensbezogen eingeordnet werden: Der Prozess ähnelt - nach der Darstellung in allen drei Texten - einem ,deutschrechtlich‘ gefärbten Akkusationsverfahren, sowohl in einzelnen verfahrensrechtlichen Details als auch insbesondere darin, dass nicht die Suche nach Wahrheit, sondern die Urteilsfindung zentral ist. Dass gleichwohl die ,gelehrten‘ Beweisverfahren den Verfassern bekannt waren, zeigt die Ausarbeitung der von den Hohepriestern geleiteten Untersuchung, die sich als außergerichtliche inquisitio mit dem Ziel der Wahrheitsfindung beschreiben lässt, auch wenn die Hohepriester die Resultate der Untersuchung dann verbergen wollen. 227 224 Das Schwurverbot Jesu in der Bergpredigt (Mt 5,33-37) kommt in diesem Zusammenhang nicht zur Sprache. Vielmehr steht die Scheu vor dem Namen Gottes im Vordergrund, wie sie nach Thomas für nicht verpflichtende Beschwörungen entscheidend ist (s. o. S. 240, Anm. 220). 225 Dementsprechend hat es massive exegetische Bemühungen hervorgerufen, wie sie sich z. B. im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk manifestieren (s. dazu u. S. 343 f.). 226 Vgl. dazu Demandt 1999, S. 156; 2012, S. 86. 227 Die Akzente sind in den einzelnen Texten unterschiedlich gesetzt: In Diu urstende wird als Auslöser der Kontaktaufnahme mit Joseph von Arimathia genannt, dass ,die Juden‘ ihre missetât vertuschen <?page no="243"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 243 Allzu strikt wird man die Klassifizierung der Verfahren nicht durchführen können, wie schon ein Blick auf Diu urstende als den frühesten der hier untersuchten Texte zeigt: Der erste Zeuge, der dort im Strafprozess auftritt, ist ein Heide, dessen Aussage nach der des Läufers im Nikodemusevangelium (cap. I 3 f.) gestaltet ist, und er ist - wie der Läufer in der spätantiken Vorlage - als Wahrnehmungszeuge gekennzeichnet, der über die Herkunft seines Wissens (da er kein Hebräisch verstehen könne) Rechenschaft ablegen muss (vv. 336-388). Aber der narrative Schwerpunkt liegt darauf, ob die bei dem Prozess Anwesenden für Jesus eintreten, und damit auf der moralischen Frage, wie man sich verhalten soll, wenn jemand zu Unrecht angeklagt wird. 228 Bezüglich der Aussage des Nikodemus wird vom Erzähler ausdrücklich hervorgehoben, dass er es nicht aus Furcht unterlassen habe ( wand er ez durch vorhte niene lie , v. 450), das Wort zu ergreifen und gegen die lügelîchen mære (v. 455) mithilfe von zwölf ehrenwerten Männern die wârheit (v. 473) zu setzen. Dass er daraufhin von ,den Juden‘ mit dem Tod bedroht wird (vv. 477-492), unterstreicht das Risiko, das Nikodemus als Zeuge eingeht. 229 Indem Pilatus auf die Drohungen hin eine Scheltrede in den Mund gelegt ist, in der er sich grundsätzlich zu dem gebotenen Verhalten vor Gericht äußert (vv. 493-519; bes. vv. 496-500; 516 f.), wird der prototypische Charakter der Situation erkennbar, ohne dass explizit moralische Lehren für die Gegenwart abgeleitet werden müssten. Es fällt auf, dass mit dem Auftritt des Nikodemus und der Stellungnahme des Pilatus positive Verhaltensweisen besonders herausgestellt werden. Diese Schwerpunktsetzung dient sicherlich der Abgrenzung vom unangemessenen Vorgehen ,der Juden‘; zugleich aber werden positive Vorbilder für das Verhalten vor Gericht entworfen, das auf diese Weise als wahrheitssichernde Instanz erscheint. Auch im Evangelium Nicodemi wird bei der Erzählung von der Aussage des Nikodemus das Risiko dessen benannt, der die Wahrheit sagt: Die juden wurden alle do erbolgen Nicodemo, daz er der warheite jach. ( Evangelium Nicodemi , vv. 1187-1189) Dass in den nächsten Versen von der Reaktion des Pilatus erzählt wird, suggeriert, dass sich der Zorn ,der Juden‘ zumindest verbal manifestiert hat. Pilatus hält den Grund für den Zorn ,der Juden‘ für unangemessen (vv. 1190-1193). Wie in den Worten des Erzählers wird in dem von Pilatus vorgebrachten Tadel ausdrücklich formuliert, dass Nikodemus die Wahrheit gesagt habe. Die Antwort des Pilatus ist eine Neuerung gegenüber dem Nikodemusevangelium , an dessen entsprechender Stelle (cap. V 2) nur angegeben wird, dass Nikodemus von ‚den Juden‘ Parteilichkeit vorgeworfen wird. 230 Ähnlich wie im Nikodemusevangelium wollten, als sich die (christologische) wârheit Bahn bricht (vv. 1225-1237). Bei der Befragung selbst geht es dann aber konsequent um die Ermittlung der Faktenwahrheit (vv. 1422-1425). In Christi Hort rät Nikodemus ,den Juden‘, Gewissheit über den Verbleib Jesu zu erlangen (vv. 3107-3126), ähnlich im Evangelium Nicodemi (vv. 2506-2524), jeweils in Anlehnung an das Nikodemusevangelium (cap. XV 1). 228 Zur positiven Zeichnung des Heiden, der nicht die Verhandlung verlässt, sondern offenlîche spricht (vv. 332-337), s. o. S. 95. 229 Dass wahrheitsgemäße Aussagen Mut erfordern, ist auch den Worten des Nikodemus zu entnehmen, dass die zwölf Männer, die seine Aussage bestätigen sollen, die wârheit um keiner Drohung willen verschweigen würden (vv. 662 f.). 230 Diese Kritik erschien vielleicht im Kontext eines ,deutschrechtlich‘ gefärbten Verfahrens bei einem Zeugen, der zwar kein Eideshelfer im strengen Sinne ist, aber die Integrität des Angeklagten bestätigt, nicht naheliegend. <?page no="244"?> 244 5 Externe Bezugsfelder verhöhnen ,die Juden‘ dann auch im Evangelium Nicodemi Nikodemus, indem sie sagen, er solle die Konsequenzen der von ihm verkündeten warheit - in diesem Fall die göttliche Natur Jesu - mit Jesus tragen (vv. 1194-1197). Nikodemus akzeptiert (wie im Nikodemusevangelium ) die doppelsinnigen Worte, mit denen ,die Juden‘ auf die Bestrafung abzuzielen meinen, willig (v. 1198). Für ihn - und den Rezipienten - dürfte in der Formulierung ,der Juden‘ „ […] Mit Jesu nem er teil / zu dem jungesten tage.“ (vv. 1196 f.) die Belohnung für seine Wahrhaftigkeit auf Erden anklingen. Vorher war bereits erzählt worden, dass zwölf Juden aus eigenem Antrieb den von ,den Juden‘ vorgebrachten lügenhaften Anschuldigungen entgegentreten (vv. 960-989). Von Zorn erfüllt 231 wollen sie nicht hingehen lassen, dass ein Unschuldiger zu Unrecht beschimpft wird, wie sie aufgrund eigener Augenzeugenschaft erkennen können (vv. 979 f.). Ihre Worte, sie seien bereit, mit ihrer Aussage ihr Leben zu riskieren (v. 981), implizieren wiederum, dass das Zurückweisen lügenhafter Beschuldigungen mit einem irdischen Risiko verbunden ist. Aufschlussreich dafür, wo im Evangelium Nicodemi die Gefahr für diejenigen gesehen wird, die in der Öffentlichkeit für die Wahrheit eintreten, ist die Gestaltung des Dialogs zwischen Jesus und Pilatus über die Wahrheit (vv. 1084-1092): Während nach dem Nikodemusevangelium die Gefährdung von den Machthabern ausgeht (cap. III 2), sind es im Evangelium Nicodemi ,die Leute‘, die gegen diejenigen, die die Wahrheit auf Erden ( hie ) sagen, vorgehen: Jesus sprach: „Selbe sih, die hie die warheit sprechen, wie daz die lute rechen.“ ( Evangelium Nicodemi , vv. 1090-1092) Im Kontext der Szene ist mit dem ,Rächen‘ 232 sicherlich auch die ungerechtfertigte Anklage gegen Jesus selbst gemeint, der die (göttliche) Wahrheit verkündet hat. Dass der Text außergerichtliche Formen der Konfliktregelung kennt, wird jedoch an einer anderen Stelle deutlich, nämlich dem - gegenüber dem Nikodemusevangelium (cap. XIII 2 [13,3 (G / I)]) - deutlich umgestalteten Dialog ,der Juden‘ mit den Grabwächtern (vv. 2378-2387): ,Die Juden‘ verlangen, dass die Wächter ihnen vorme gerihte (v. 2380) den Leichnam Jesu zurückerstatten, kündigen aber gleichzeitig an, andernfalls selbst zu deren Bestrafung schreiten zu wollen. Wie in Diu urstende wird so demonstriert, dass ein an Wahrhaftigkeit ausgerichtetes Verhalten eine lebensgefährliche Bedrohung durch eine feindlich gesonnene Gruppe nach sich ziehen kann. In Christi Hort werden die Gefahren, die bei einer wahrheitsgemäßen Aussage drohen können, erst thematisiert, als die Hohepriester den drei Auferstehungszeugen sicherhait (v. 3418) versprechen, wenn sie die Wahrheit sagen (vv. 3400-3418). Hier hat die Bedrohung, 231 Die zwelf judische man / saen einander an; / si begunden in zu gramene / und traten alle zesamene / und ermanneten vor zorne / […] (vv. 969-973). Wie bei der Reaktion auf Vespasians Urteilsfrage in Christi Hort (v. 5235) wird eine kollektive Reaktion durch gegenseitiges Anschauen eingeleitet. Bei den zwölf jüdischen Männern dürfte das gramen Ausdruck gerechten Zorns sein, nicht ein Zeichen von Tobsucht, so wie in der Tumultszene in Diu urstende (v. 735). Zum gerechten Zorn s. o. S. 220 mit Anm. 110, und vgl. Ebel 2004 (1996), S. 325 f. (zur Forderung in der Soester Gerichtsordnung aus dem 15. Jahrhundert, der Richter solle dasitzen als eyn grysgrymmich lowe ). 232 rechen dürfte hier so viel heißen wie ,zur Vergeltung jemandem etwas Schlimmes zufügen‘ (vgl. L exer , s. v.). <?page no="245"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 245 die ausgeschlossen wird, aber eine andere Qualität, weil sie von Amtsträgern ausgeht, die zusätzlich einer Gruppe angehören, die die drei wegen ihrer vorherigen wahrheitsgemäßen Aussage gescholten und schließlich durch Bestechung zum Schweigen verpflichtet hat (vv. 3058-3090). Das Motiv der Bestechung, das in den Rechtsquellen naturgemäß auf Gerichtsverhandlungen bezogen erscheint, ist in Christi Hort in der gesamten Darstellung der Ereignisse nach Jesu Auferstehung ausgearbeitet. Die Bestechlichkeitsproblematik wird auch grundsätzlich diskutiert: In dem moralisierenden Kommentar dazu, dass die Grabwächter schließlich doch Bestechungsgeld annehmen, obwohl sie zunächst die Wahrheit verkünden und die Leute nicht betrügen wollen (vv. 2548-2557), 233 werden die negativen Folgen von unrecht gewunnen gût (v. 2575) generell deutlich gemacht (vv. 2568-2582). Wie in den Rechtsbüchern wird die spirituelle Verdammung herausgestellt ( alsus ceuhet diu mîete cehelle , v. 2573). Die Jünger, die sich weder durch Drohungen noch durch den Bestechungsversuch ,der Juden‘ vom Verkünden der (Glaubens-)Wahrheit abhalten lassen (vv. 2914 f.; 3000-3032), erscheinen als positives Gegenbeispiel. In Diu urstende ist in der Erzählung vom Strafprozess dem Aspekt, dass es Leute gibt, die mutig die Wahrheit bezeugen und für Jesus aussagen, insgesamt deutlich mehr Gewicht verliehen als der Darstellung eines formal korrekten Verfahrensablaufs. Allerdings werden am Ende der Prozesshandlung auch verfahrensrechtliche Details bedeutsam: Die zwölf Männer, die Nikodemus zur Bestätigung des Wahrheitsgehalts seiner Aussage bemüht, werden namentlich eingeführt, sie bestätigen übereinstimmend genau das, was Nikodemus gesagt hat, und widerlegen den Einwand ,der Juden‘, sie seien nicht zeugnisfähig (vv. 647-728). 234 Über den Disput mit ,den Juden‘ wird demonstriert, dass auch die formelle Wahrheit, die der Prozess zutage fördert, unangreifbar ist. Formeller und materieller Wahrheitsanspruch durchdringen sich, wie gerade das Beispiel der zwölf zeigt. Klibansky (1925) wollte in ihnen Eideshelfer sehen. 235 Tatsächlich dürfte die Anlehnung an das Konzept der Eideshilfe für die Verknüpfung der Aussage des Nikodemus mit der der zwölf maßgeblich sein, insofern sie zur Frage der Rechtmäßigkeit der Eheschließung zwischen Maria und Josef keine eigene Aussage tätigen, sondern den Wahrheitsgehalt der Aussage des Nikodemus bekräftigen (vv. 667 f.). Angesichts der Tatsache, dass Nikodemus gar keinen Eid leistet, geschweige denn, dass die zwölf mit ihm schwören, kann man sie aber kaum als Eideshelfer interpretieren; vielmehr nehmen die zwölf eine typische Zwischenstellung zwischen Eideshelfern und Wahrnehmungszeugen ein: Von ihnen wird durchaus eigenes Wissen erwartet (vv. 647-649; 660 f.), doch wird ihre causa scientiae nicht hinterfragt, ihre Aufgabe ist mit der Bestätigung der Aussage des Nikodemus erfüllt. Deren Wahrheitsgehalt erscheint gerichtsrelevant dadurch als gesichert, dass sie alle wie ein munt sprechen (v. 666), wobei die Gemeinschaftlichkeit der Aussage, die so suggeriert wird, wiederum an den Kollektiveid von Eideshelfern erinnert. Gegenüber Diu urstende tritt in Christi Hort und im Evangelium Nicodemi , was den Strafprozess betrifft, trotz der späteren Entstehungszeit der Texte keine maßgebliche ,Rationalisierung‘ ein. Zwar wird bei den zwölf Männern im Evangelium Nicodemi (die von sich aus aussagen und schon deshalb von Eideshelfern klar unterschieden sind) unmissverständlich 233 Die Wächter bringen weiterhin vor, dass sie sich selbst nicht belügen wollten (v. 2554). Damit wird ein Konzept der Selbstlüge aufgerufen, dass z. B. in der Lügensystematik des Thomas von Aquin nicht präsent ist (vgl. Hedwig 2009, S. 133 f.). 234 S. dazu auch o. S. 81. 235 Vgl. Klibansky 1925, S. 12 f. <?page no="246"?> 246 5 Externe Bezugsfelder klargemacht, dass sie aufgrund eigener Anschauung aussagen (v. 979), und für den Richter Pilatus ist ihre Aussage so überzeugend, dass er die Ankläger der Lüge bezichtigt (vv. 990-993), aber die Übereinstimmung der Aussagen wird nicht eigens hervorgehoben. In der Version von Christi Hort liegt bei der Beschreibung der Aussage der Jesus freundlich gesonnenen Juden die Betonung ganz auf deren ethischen Qualitäten (vv. 1603-1608). Überhaupt ist die Problematik der Wahrheitsfindung und Wahrheitssicherung in dem in Christi Hort dargestellten Prozessverlauf kaum präsent. Mit dem Auftritt der Geheilten waren im lateinischen Nikodemusevangelium (cap. VI f. [6,1-3 (G / I)]) Wahrnehmungszeugen vorgegeben, die aus eigener Initiative aussagen. Bei der Aussage der blutflüssigen Frau (dort mit Veronika gleichgesetzt) wird sogar deren Zeugnisfähigkeit problematisiert, indem ,die Juden‘ sagen, nach ihrem Gesetz dürften Frauen nicht Zeugnis ablegen. 236 Weder ist dieser Aspekt in die Kerntexte aufgenommen, 237 noch wird die Parteilichkeit oder Eigeninitiative dieser Zeugen problematisiert. Bei der affirmatorischen Darstellung derjenigen, die als Geheilte für Jesus aussagen, 238 geht es offenbar weniger um ihren Zeugenstatus als um den Inhalt ihrer Aussagen, die die Unschuld Jesu unterstreichen und auf die positive Wirkung der von ihm vollbrachten Wunder verweisen. In Christi Hort , wo sogar gesagt wird, dass Pilatus daraufhin wegen der go ͤ tlichen ere erschrak (vv. 1655-1657), und im Evangelium Nicodemi (vv. 1266 f.) reagiert Pilatus unmittelbar überzeugt. 239 Während in Christi Hort wiederum ganz der moralische Aspekt im Vordergrund steht (die Geheilten treten dem haz ,der Juden‘ entgegen; vv. 1637-1639), wird in Diu urstende (vv. 547 f.) und im Evangelium Nicodemi (v. 1201) ein Zeugeneid angedeutet; dort findet sich, adressiert an den Richter Pilatus, auch die vergewissernde Frage des einen Geheilten, ob er sicher sein könne, dass ihm aus seiner Zeugenaussage keine negativen Folgen erwüchsen (v. 1221). In beiden Texten wird außerdem die Evidenz des Geheilt- Seins thematisiert: in Diu urstende nur bei dem geheilten Blinden (v. 610), im Evangelium Nicodemi systematischer. 240 Tendenziell wird der Eindruck erweckt, hier würde - beinahe im Sinne der ,leiblichen Beweisung‘ 241 -,Wahrheit‘ vor Gericht unmittelbar sinnlich erfassbar. Jedoch liegen die Heilungsereignisse in der Vergangenheit; die vorherige Krankheit ist nicht evident, es werden keine weiteren Nachforschungen betrieben. Nur punktuell scheint das Evidenzproblem im Evangelium Nicodemi auf, wenn sich Lazarus für seine Auferweckung auf Augenzeugen beruft (vv. 1262-1265). Eine systematische Wahrheitssuche findet im Kontext des Prozesses jeweils nur vor Beginn der eigentlichen Verhandlung statt, nämlich in der im Nikodemusevangelium (cap. I 5 f.) vorgeprägten Fahnenwunderszene ( Diu urstende , vv. 274-312; Christi Hort , vv. 1492-1563; Evangelium Nicodemi , vv. 835-918). 242 Sowohl in Diu urstende (vv. 308-310) als 236 Zum rechtshistorischen Hintergrund s. o. S. 70. 237 Dabei scheinen auch nach ,deutschem‘ Recht Frauen nur in Ausnahmefällen als Zeuginnen zugelassen gewesen zu sein, wie aus den Regelungen im Sachsenspiegel zu schließen ist (vgl. dazu Rummel 1987, S. 106-109). Zur eingeschränkten Zeugnisfähigkeit von Frauen nach dem gelehrten Recht s. o. S. 239. 238 Vgl. dazu Manuwald 2011. 239 In Christi Hort genügt ein Bericht anderer über die Auferweckung des Lazarus dafür (vv. 1651-1657), dass Pilatus vor der Göttlichkeit Jesu erschrickt (vv. 1655 f.). 240 Der ehemals Lahme: daz ich an der selben stunt / wart als ich n u bin gesunt (vv. 1217 f.; Hervorhebung H. M.); der ehemals Blinde: do wart ich ane lougen / gesende als ich tun n u (vv. 1226 f.; Hervorhebung H. M.); der ehemals Stumme: Ich spriche. Ich was ein stumme. (v. 1229). 241 Zu diesem Konzept des Johannes von Buch vgl. Kannowski 2007, S. 221-234. 242 S. dazu o. S. 89; 156. <?page no="247"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 247 auch in Christi Hort (vv. 1496 f.; 1521) wird dabei eine Differenz zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und der Interpretation (Wunder oder Zauberei) erkennbar gemacht, wie sie auch in Zeugentraktaten des gelehrten Rechts diskutiert wird. 243 Im Hinblick auf eine gerichtlich zu ermittelnde Wahrheit ist besonders die Gestaltung der Szene im Evangelium Nicodemi aufschlussreich. Wie im Nikodemusevangelium ist es dort Pilatus, der den Austausch der Fahnenträger anordnet, nachdem er zunächst die von ‚den Juden‘ beschuldigten heidnischen Träger befragt hat (vv. 870-896). 244 Anders als im Prätext wird im Evangelium Nicodemi nach der Befragung der Fahnenträger gesagt, dass Pilatus aufgrund ihrer Aussage deren Unschuld erkennt (vv. 884 f.). Entscheidend ist jedoch nicht sein privates Wissen, sondern das, was vor Gericht geschieht. Pilatus kündigt ausdrücklich eine Wahrheitsfindung an und ermöglicht dann in einem Experiment, dass die wundersame Wirkung Jesu für alle augenscheinlich wird. 245 In der Fahnenwunderszene begegnet bereits ein Muster, das für die Erzählung von den Ereignissen nach Jesu Auferstehung in allen drei Kerntexten prägend wird. Die Heilswahrheit, die für den jeweiligen Erzähler und seine impliziten Adressaten ohne Zweifel Gültigkeit besitzt, wird von ,den Juden‘ bezweifelt und muss deshalb bewiesen werden. Dabei kommen ,rationale‘ Verfahren zum Einsatz, die teilweise schon im Nikodemusevangelium vorgeprägt sind: Dort wird Christi Himmelfahrt von drei Personen bezeugt, die - mit dem Ergebnis einer übereinstimmenden Aussage - getrennt voneinander befragt werden (cap. XIV 1 f.; XVI 2 f. [16,2,1-16,3,2 (G / I)]); die Höllenfahrt wird von zweien bezeugt (cap. XVII 2 f.), die von den Fragenden „beim Gott Adonay und beim Gott Israels“ ( per Deum Adonay et Deum Israel ) beschworen werden, eine Beschwörung, die die beiden Zeugen stark bewegt ( contremuerunt corpore, „sie zitterten am [ganzen] Körper“). Was die Zahl der Zeugen angeht, so wird der biblische Ausgangspunkt (Dt 19,15) von Annas und Kaiphas ausdrücklich zitiert: „In ore duorum uel trium testium omne uerbum stabit.“ („ ,Durch den Mund von zwei oder drei Zeugen wird jedes Wort feststehen.‘ “). 246 In derselben Rede ist für sie offenkundig auch die Ehrenhaftigkeit Josephs von Arimathia, also dessen fides , ein Argument für seine Glaubwürdigkeit (cap. XVI 3 [16,3,2 (G / I)]). Dass diese Elemente in den Kerntexten nicht einfach übernommen wurden, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Augenzeugenschaft erfolgte, lässt sich exemplarisch an der jeweiligen Ausgestaltung der Aussage Josephs und den unmittelbar darauf folgenden Geschehnissen zeigen. Im Nikodemusevangelium (cap. XVI 1 [16,1,1 (G / I)]) stürzen die Hohepriester aufgrund der Aussage Josephs zu Boden: Sie können das von Joseph geschilderte Wunder, seine Befreiung aus dem Gefängnis durch den auferstandenen Jesus, nicht begreifen und argumentieren mit dessen menschlicher Herkunft, wenn sie sagen, dass ihnen doch die Eltern Jesu bekannt seien. Nachdem jedoch ein Levit von den Prophezeiungen Simeons berichtet hat, lassen ,die Juden‘ nach den drei Himmelfahrtszeugen schicken, die dann befragt werden. Schließlich werten die Hohepriester die 243 Vgl. Lepsius 2006, S. 129 (in Bezug auf den Tractatus testimoniorum [um 1375] des Bartolus de Saxoferrato). 244 In Diu urstende verlangen den Austausch die beschuldigten Träger von ‚den Juden‘, in Christi Hort ‚die Juden‘ selbst. 245 Sie übt auch auf Pilatus selbst, der die Aktion gesteuert hatte, einen enormen Effekt aus; er gerät in Angst (vv. 915-918). 246 Zu Rückbezügen auf diese Stelle im Neuen Testament vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 179, Anm. 123. <?page no="248"?> 248 5 Externe Bezugsfelder Ergebnisse aus, wobei sie rekapitulieren, dass Joseph bezeugt habe, Jesus lebend gesehen zu haben, und die drei herbeigeholten Männer, dass sie ihn auf dem Ölberg und zum Himmel auffahren gesehen hätten. Dass sie die Zeugnisse von Joseph und den drei Männern tatsächlich dahingehend zusammenzögen, dass vier Personen bezeugt hätten, dass Jesus lebe, 247 ist dem Text nicht zu entnehmen. Im Evangelium Nicodemi erfolgt genau diese Verknüpfung, ohne dass das Prinzip der Mehrzeugenregelung erwähnt würde: „ […] / Wir san in allentsamen tot; / nu sprichet Joseph und dise dri, / daz er lebende erstanden si.“ (vv. 2696-2698). Die drei Himmelfahrtszeugen werden - anders als im Nikodemusevangelium - als bei der Aussage Josephs anwesend präsentiert und hatten deren Wahrheitsgehalt bekräftigt (vv. 2679-2681). 248 Kaiphas kommt aufgrund der Sachlage zu dem Schluss: „Die rede ist war.“ (v. 2701). In Diu urstende ist es nicht die Anzahl der Zeugen, die thematisiert wird, sondern die causa scientiae : Kaiphas ist von Josephs Bericht über seine Befreiung (vv. 1426-1457) keineswegs ,erschlagen‘, er stellt vielmehr präzise Nachfragen. Zunächst möchte er Auskunft darüber, ob Joseph denjenigen erkannt habe, der ihn befreit habe (vv. 1458-1463). Als Joseph ihn mit Jesus identifiziert und auch dessen Verbleib angibt (vv. 1464-1478), forscht Kaiphas nach, ob Joseph zur Himmelfahrt de visu ausgesagt habe (vv. 1479-1481). Joseph muss zugeben, dass es de auditu geschehen sei, kann aber auf die drei namentlich bekannten und von ihm als zuverlässig charakterisierten Augenzeugen verweisen, nach denen dann geschickt wird (vv. 1482-1496). Die Augenzeugenschaft hat also klaren Vorrang vor dem Hörensagen. In Christi Hort entspricht der Geschehensablauf noch am ehesten dem im Nikodemusevangelium : ,Die Juden‘ erschrecken über die Aussage Josephs und entschließen sich von sich aus, nach den drei Himmelfahrtszeugen zu senden, d. h., die Zeugenaussagen sind nicht verknüpft (vv. 3385-3394). Dafür wird die causa scientiae der drei von den Hohepriestern eindringlich hinterfragt. Sie wollen nicht nur die Augenzeugenschaft im Gegensatz zum Hörensagen bestätigt wissen, sie zweifeln sogar auch die Zuverlässigkeit der optischen Sinneseindrücke an: 249 ‘sagt uns durch Got was daz was da ir Jesum sahet; wart ir im so genahet daz ir in moh t erchennen, oder hort ir in sus nennen? was ob ir leicht betrogen seit? an iu so vil eren leit daz ir wan die warhait sait.’ ( Christi Hort , vv. 3410-3417) 247 So Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 180, Anm. 124. 248 Ihre eigene Aussage war dem vorausgegangen (vv. 2450-2505), sodass sie als Zeugen eine Doppelfunktion erfüllen. 249 Eine entsprechende Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit optischer Wahrnehmungen - und damit gegenüber Augenzeugenschaft als Wahrheitskriterium - ist in Zeugnissen des gelehrten Rechts zu finden, wenn gesagt wird, ein Richter müsse die Aussage eines kurzsichtigen Zeugen genau prüfen oder solle sich auf die Aussage jüngerer Zeugen stützen, weil sie die besseren Augen hätten (vgl. Lepsius 2006, S. 128). <?page no="249"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 249 Finees (stellvertretend für alle drei) bestreitet vehement, eine unfreiwillige Falschaussage getätigt zu haben; er bekräftigt seine Augenzeugenschaft und erklärt seine Bereitschaft, seinen bereits geleisteten Schwur dahingehend zu erweitern, dass ihm die Himmelfahrt wizentlichen […] chunt sei (vv. 3419-3430). Dass alle drei Zeugen darin übereinstimmen (v. 3431), 250 führt bei ‚den Juden‘ zu einer Resignation angesichts des wunder (vv. 3432-3436). Die Bereitwilligkeit, mit der die drei das spirituelle Risiko des Eides auf sich nehmen, verdeutlicht die Wahrhaftigkeit ihrer Aussage. Sie waren zuvor von ,den Juden‘ beschworen worden (vv. 3398 f.; 3410). 251 Welche Wirkung eine solche Beschwörung haben kann, wird bei der Entscheidung der Simeonsöhne deutlich, entgegen der Anweisung Jesu über das, was sie erlebt haben, Auskunft zu geben: Sie berufen sich ausdrücklich darauf, dass man sie in Jesu Namen beschworen habe (vv. 3624 f.; vgl. vv. 3585-3592). Sie zeigen damit eine Reaktion, die - legt man die oben zitierte Interpretation des Verhaltens Jesu vor dem Hohen Rat aus der Prosa-Passio zugrunde - dem Vorbild des biblischen Jesus folgt. Im Evangelium Nicodemi taucht zwar bei der Befragung der Simeonsöhne ebenfalls das Motiv des Beschwörens auf (vv. 2781 f.), aber das Hauptaugenmerk liegt - wie auch bei der Aussage Josephs (vv. 2578-2583) - auf der in ihren Modalitäten genau beschriebenen Eidesleistung der Zeugen (vv. 2768-2787). Das ungewöhnliche und mitsamt der Eidesformel beschriebene Eidritual für die Simeonsöhne, bei dem ihnen die e auf den Kopf gelegt wird, 252 unterstreicht das Gewicht ihrer Aussage, deren Wahrheitsgehalt ,die Juden‘ zusätzlich dadurch zu sichern versuchen, dass sie die beiden bei der Niederlegung ihrer Berichte voneinander trennen und unter Aufsicht stellen (vv. 2832-2835). 253 Das Eidritual steht also im Kontext von Beweisverfahren, die zur Entstehungszeit des Textes als modern gelten können. Auch andere vermeintlich archaische Züge der Kerntexte lassen sich solchen Beweisverfahren zuordnen: Wenn die Simeonsöhne in Diu urstende zum Beleg, dass sie niemals eine Lüge ausgesprochen hätten, damit argumentieren, dass ihr Vater ein rehter man gewesen sei und sie die wârheit von ihm geerbt hätten (vv. 2103-2107), so ist das a u c h als Beteuerung ihrer fides zu verstehen. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, und allein der sich in den Kerntexten manifestierende Bezug auf Beweisverfahren, wie sie in Abhandlungen gelehrten Rechts diskutiert werden, ist tendenziell ein Ausdruck der Wertschätzung der Augenzeugenschaft für die Wahrheitsfindung vor Gericht. Was den Umgang mit Augenzeugenschaft in den Texten 250 Ob die drei ihre Aussagen unabhängig voneinander tätigen, wird im Text nicht ganz klar: Sie werden zu Beginn der Befragung voneinander getrennt (vv. 3398 f.), dann aber kollektivierend angeredet (vv. 3400-3417); ein Höflichkeitsplural erscheint angesichts der Anrede Josephs in der zweiten Person Singular (vv. 3193 ff.) ausgeschlossen. Vermutlich ist der zusammenfassende Charakter der Schilderung der Befragung der Erzählökonomie geschuldet. Dass die drei nur für die Beschwörung (v. 3399) voneinander isoliert worden wären, ist unwahrscheinlich. 251 In diesem Zusammenhang wird nicht thematisiert, welchen Rang die Fragenden haben. Dadurch, dass zu Anfang der Befragungen (vv. 3301-3304) der hohe Stand derjenigen betont wird, die die Fragen stellen, dürfte aber neben ihrer Klugheit (v. 3304) auch ihre Berechtigung, andere zu beschwören, unzweifelhaft sein. - In Diu urstende wird bei den Aussagen Josephs (vv. 1386-1388; 1422-1425), der drei Auferstehungszeugen (vv. 1498 f.) und der Simeonsöhne (vv. 1630-1633) jeweils nur erzählt, dass sie gebeten wurden, um der Ehre Gottes willen auszusagen, bzw. beschworen worden seien. Das heißt aber nicht, dass der Zeugeneid im Text grundsätzlich keine Rolle spielt, da im Prozess gegen Jesus der erste der Geheilten vor seiner Aussage einen Eid leistet (v. 547). 252 Zu möglichen Konnotationen s. o. S. 158 f. 253 Einleitend zur Beschreibung ihres Vorgehens wird die Umsicht ,der Juden‘ betont: Die juden waren wol bedaht / […] (v. 2832). <?page no="250"?> 250 5 Externe Bezugsfelder besonders interessant macht, ist die dialogische Verhandlung der Glaubhaftigkeit einzelner Aussagen auf der Figurenebene. Auf diese Weise werden in den Erzähltexten Wahrheitskriterien diskursiviert, wie sie sich im juristischen Bereich in Traktaten oder Glossen zur Beweiswürdigung finden. 254 Der Umgang mit der causa scientiae bei der Aussage Josephs bzw. der drei Himmelfahrtszeugen hatte das bereits gezeigt. Die Auseinandersetzung darüber, ob eine Aussage als wahr gelten kann und woran das festzumachen ist, beginnt - in Ausgestaltung der im Nikodemusevangelium (cap. XIII [13,2-4 (G / I)]) angelegten Szene - bereits mit den Aussagen der Grabwächter, also vor der eigentlichen Untersuchung durch die Hohepriester. In Diu urstende gehen die Ausführungen an dieser Stelle ins Grundsätzliche, wenn ,die Juden‘ argumentieren, es sei der wârheit niender gelîch (v. 952), wenn ein Toter auferstehe, wie die Wächter gesehen zu haben behaupteten. Sie operieren mit Annahmen über das, was wahrheitsförmig sei, die sie dann aufgrund der Analogieargumente der Wächter, die auf Lazarus verweisen, revidieren müssen. 255 Verpackt in die polemische Darstellung der beschränkten Erkenntnisfähigkeit ,der Juden‘ scheint hier so etwas wie eine Adäquationstheorie von Wahrheit auf. In der Regel bewegt sich die Argumentation aber im rechtlichen Bereich: Wenn in Diu urstende die drei Himmelfahrtszeugen ,den Juden‘ die Zuverlässigkeit der Simeonsöhne anpreisen, sagen sie zum Beispiel: ‘ […] sô wizzet, swes si iu verjehent, des sît ir sicher âne wân und sult ez für die wârheit hân.’ ( Diu urstende , vv. 1542-1544) In dieser Äußerung wird nicht nur die Exzeptionalität der Simeonsöhne herausgestellt, sie impliziert zugleich, dass im Regelfall eine Aussage eben nicht Wahrheit transportiert, sondern der Rezipient auf wân 256 angewiesen ist. Terminologisch lässt die Stelle die Lehre von den viererlei wane anklingen, die Johannes von Buch in seiner Glosse zum Sachsenspiegel - Landrecht ein Jahrhundert später, aber in Anlehnung an die Lehre von den praesumptiones im gelehrten Recht, entwickelt hat. 257 Als verlässlicher Beweis gilt Johannes von Buch nur die ,leibliche Beweisung‘, also „das, was man an einem Mann gegenwärtig zu sehen und zu fühlen vermag“: 258 Des wete, dat also mer alle bewisinge nicht mer en maken men 259 enen wan, vnde yoch de bewisinge der tu ͦ ghe. Wente me louet vmme nicht den tughen, wen dat me des modet, dat se rechte zweren, 254 Vgl. zusätzlich zu den bisher diskutierten Textstellen die in Christi Hort vorgebrachten Argumente des Nikodemus für den Wahrheitsgehalt der Aussage der drei Auferstehungszeugen (Nikodemus leitet damit seinen Vorschlag zu deren Bestechung ein; s. dazu o. S. 124): Seine Argumente lassen sich den Aspekten der fides der Zeugen ( want si sint gar gelaubhaft , v. 3071, vgl. auch vv. 3072-3074), der Bekräftigung durch einen Eid ( si habent ez pi dem aid gesait , v. 3075) und der Plausibilität der Aussage ( ez gelichet sich wol der warheit , v. 3076) zuordnen. 255 Zu dieser Stelle s. o. S. 90. 256 Vgl. die in BMZ formulierte Grundbedeutung: „die ansicht, die man von etwas faßt, die aber nicht auf völliger gewisheit beruht; das glauben, vermuten“. 257 Vgl. dazu Kannowski 2007, S. 221-238. 258 Kannowski 2007, S. 226 (mit Verweis auf die Glosse zu Ldr. I 15). Für Parallelstellen vgl. das Glossar zur Buch’schen Glosse (Kaufmann / Neumeister 2015), s. v. liflik ( en ) (Bd. 2, S. 676). Nach Kannowski (ebd., S. 227) ist die leibliche Beweisung von geringem prozessualen Wert; er betont die Parallelen zur Wahrheitsermittlung durch den ungläubigen Thomas (Io 20,24-29). 259 Handschrift H liest hier wenne (vgl. Kaufmann 2002, Bd. 3, S. 1150). Mit Kannowski (2007, S. 222 f.) wird hier diese Lesart für das Textverständnis vorausgesetzt. <?page no="251"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 251 nicht also, dat id dar war sy. Sus prouestu, dat nen bewisinge war sy, wenne de men liffliken bewisen moghe. Vnde dar vmme zeggen ze vnrechte, de zeggen: Id is war, wenne R. vnde N. sweren. Wen me schal zeggen: Id is wanlik, dat id war sy, na deme dat id N. vnde R. sworen, ut I q. ult. C. sanccimus. 260 In Diu urstende wird die Glaubhaftigkeit der Simeonsöhne durch eine Art ,leibliche Beweisung‘ unterstrichen, denn allein die körperliche Anwesenheit der ehemals Toten bestätigt Aspekte von dem, was sie sagen. 261 Für die Wirkung ihrer Aussage ist aber vor allem das Schriftwunder entscheidend, d. h. die göttliche Autorisierung ihrer Aussage. Dass die Reihe von Augenzeugenberichten über die Ereignisse nach der Auferstehung Jesu in allen drei Kerntexten (wie schon im Nikodemusevangelium ) mit einem Wunder abgeschlossen wird, wirft die grundsätzliche Frage danach auf, wie juristische Verfahren der Wahrheitsfindung gegenüber der göttlichen Offenbarungswahrheit gewichtet werden sollen. Für Diu urstende hat Peter Strohschneider (2005) betont, dass die menschlichen Bemühungen zur Wahrheitssicherung sich als unzureichend erweisen; die göttliche Offenbarungswahrheit könne nur gesichert werden, indem das Transzendente in das Immanente hineinrage. 262 In der Tat vermittelt der Text, dass ohne göttliche Hilfe nicht über Transzendentes berichtet werden kann und dieser Bericht einer speziellen Legitimation bedarf. Jedoch ist das Wunder im Text so eingebunden und konzipiert, dass dabei menschliche Methoden der Wahrheitssicherung berücksichtigt werden. Schon die Auferstehung der Simeonsöhne ist daraufhin angelegt, dass sie wahrgenommen werden soll; dieses Bemühen um Evidenz wird sogar auf Gott selbst zurückgeführt. 263 Inwiefern die Simeonsöhne darüber hinaus zu ihrer Aussage legitimiert sind, bleibt in Diu urstende und im Evangelium Nicodemi offen. In Christi Hort wird die durch die Beschwörung zum Ausdruck gebrachte Verpflichtung zur göttlichen Wahrheit über den konkreten Auftrag Jesu, sich nicht über das Erlebte zu äußern, gestellt (vv. 3613-3630). Dass die Simeonsöhne ihre Aussage eigenhändig schriftlich niederlegen, fällt zwar aus üblichen juristischen Verfahren heraus, 264 aber die Prinzipien der Trennung der beiden Zeugen und des Vergleichs ihrer Aussagen 260 Glosse zu Ldr. III 37 (cap. XXXV) (zitiert nach Kaufmann 2002, Bd. 3, S. 1150, Z. 1-9). Vgl. eine Übersetzung der Stelle bei Kannowski 2007, S. 223. Die im Zitat abschließend genannte Allegation bezieht sich auf das Decretum Gratiani , C. 1 q. 7 c. 26. - Die Skepsis des Johannes von Buch richtet sich auch gegen Urkundenbeweise, also Beweise mit breuen (vgl. die Glosse ebd., Z. 10-12). 261 Unmittelbar evident wird nur das Auferstehungswunder an sich, nicht dessen Umstände (vgl. Strohschneider 2014, S. 99). 262 Vgl. Strohschneider 2005, S. 318-326, bes. S. 324 (ähnlich 2014, S. 97): „Damit wäre klar, wie eigentlich im Falle des descensus ad inferos die Paradoxie der Augenzeugenschaft gelöst wird, nämlich gar nicht. Sie ist vielmehr im Wunder des Textes [sc. des schriftlichen Berichts der Simeonsöhne] sozusagen übersprungen. Dessen Wahrheits- und Relevanzansprüche hängen nicht primär an der Autopsie der Schreibenden oder daran, dass diese offensichtlich von den Toten auferweckt wurden. Sie ergeben sich vielmehr aus dem Ursprung des Textes. In der Identität seiner beiden schriftlichen Manifestationen offenbart sich diese Transzendenz und ragt sie direkt in die immanente Welt hinein.“ 263 ‘ […] / dô leite wir die menscheit / wider an ze churzer vrist. / daz schuof got durch einen list / und hât uns her gesant / daz wir iu sîn bechant . / […] ’ ( Diu urstende , vv. 2098-2102). Im Evangelium Nicodemi hat - nach den Worten der Simeonsöhne an der entsprechenden Stelle - Jesus sie durch urkunde daz er erstunt (v. 3701) wieder auferweckt (s. dazu o. S. 159). 264 Zum Urkundenbeweis im ,deutschen‘ Recht des Hochmittelalters vgl. Ignor 1998. Im Kontext des gelehrten Rechts entspricht die schriftliche Aussage der Simeonsöhne am ehesten einer Sonderform des Verhörprotokolls. Die medialen Brechungen beim Bericht der Simeonsöhne und dem Erzählen davon dürften aber ohnehin eher mit der Problematik zusammenhängen, wie etwas Transzendentes sprachlich vermittelt werden kann, als mit konkreten rechtlichen Verfahrensweisen (vgl. dazu grundlegend Strohschneider 2005; 2014, S. 105-126). <?page no="252"?> 252 5 Externe Bezugsfelder stehen deutlich in einem Kontext prozessualer Praxis. Die Art, wie das Wunder vollbracht wird, ist also an juristische Verfahren der Wahrheitsfindung angepasst. 265 Für eine solche ,Rücksichtnahme‘ auf die menschliche Erkenntnisfähigkeit lassen sich auch in der Bibel Parallelen finden, wenn Jesus zum Beweis seiner leibhaftigen Auferstehung etwas isst (Lc 24,36-43; vgl. auch Christi Hort , vv. 2705-2720) und wenn, wie oben dargelegt, Jesus im Dialog mit den Pharisäern (Io 8,16-18) auf deren juristische Prämissen eingeht und die Zweizeugenregelung als erfüllt erklärt - sie wird allerdings durch die Identität von Vater und Sohn zugleich unterlaufen. Ein derartig subtiler Umgang mit menschlichen Verfahren zur Wahrheitsfindung lässt sich in den Kerntexten nicht finden. Vielmehr schließt das göttlich autorisierte Augenzeugnis der Simeonsöhne eine Reihe von Zeugenaussagen ab, deren Wahrheitsgehalt in der Schilderung der Auseinandersetzung mit den Kritikern jeweils argumentativ gesichert worden ist. Zwischen der so erfassbaren Wahrheit und der göttlichen Offenbarung scheint - so legt es die Dynamik der Texte nahe - kein grundsätzlicher qualitativer Unterschied zu bestehen, sondern das, was mit menschlichen Mitteln nicht zu erfassen ist oder nur erschlossen werden kann, wird mit göttlicher Hilfe ergänzt. Obwohl in den Texten durchaus verschiedene Arten von Wahrheit präsent sind, kommt insgesamt ein univoker Wahrheitsbegriff zum Ausdruck. 266 Die positive Einschätzung von Augenzeugenschaft hat Konsequenzen für die Poetologie der Texte, und zwar über den Beweis der Authentizität der Descensus -Erzählung hinaus. 267 Die Texte berufen sich auch für den Passionsteil, mehr oder weniger deutlich, auf einen Augenzeugen als Quelle: Enêas in Diu urstende (vv. 53-68), 268 Nic [ h ] odemus in Christi Hort 265 Zur Manuskriptkultur, in der die Identität der Schriftstücke als besonders großes Wunder gewirkt haben muss, als weiterem Bezugsrahmen vgl. Strohschneider 2005, S. 323 f.; 2014, S. 105 f. 266 Vgl. dazu Rieger 2000, S. 118. 267 Vgl. dazu in Bezug auf Diu urstende Strohschneider 2005, S. 322 (ähnlich 2014, S. 102): „Die Handlungsfolge der ‚Urstende‘ […] ist also vor allem auch eine Geltungsgeschichte dieser descensus -Erzählung: ein legitimatorischer Diskurs, der sie autorisiert und dessen Überbietungsverfahren auch darauf - als Kompensation - beziehbar sein werden, dass der descensus zwar im Glaubensbekenntnis garantiert ist, die Erzählung von ihm aber kanonische Geltung tatsächlich gerade nicht beanspruchen kann.“ 268 Augenzeugenschaft wird Eneas nur für den Kreuzestod Jesu zugeschrieben (vv. 54-61). Zu den folgenden Ereignissen heißt es: swaz mære er sît vernam / von sîner urstende und wie / dicke er sich dar nâch sehen lie / unz ze sîner ûfvart / und wie ouch di z bewæret wart, / daz tete er allez geschriben; / des sint diu mære her beliben. (vv. 62-68). Strohschneider (2005, S. 335-337; ähnlich 2014, S. 117-119) leitet aus diesen Angaben zur causa scientiae eine Dichotomie für den Text von Diu urstende ab: „Und das heißt: was die ‚Urstende‘ insgesamt erzählt, führt sich auf zwei verschiedene Ursprünge zurück, denjenigen in der Augenzeugenschaft des Eneas wie denjenigen in der mythischen Schrift der Symeonsöhne […] Der wichtigste Gewährsmann der ‚Urstende‘, Eneas, ist also eine komposite Instanz: Seine Passionserzählung stiftet lediglich die eine Linie der dem aktuellen Text vorausliegenden Rede-Traditionen. Die andere, klar davon geschieden, ist die Überlieferung der Katabasiserzählung. Und deutlich ist, dass in dieser Unterscheidung zugleich diejenige von Immanenz und Transzendenz codiert ist.“ Strohschneider hebt zu Recht den besonderen Status der Katabasiserzählung hervor, jedoch finden bei seiner Betrachtungsweise die Aussagen Josephs und die der drei Himmelfahrtszeugen, in denen Transzendentes immanent fassbar wird, keinen systematischen Platz. Auch hat Eneas nach den zitierten Versen nicht nur aufgeschrieben, was er über die Auferstehung gehört hat, sondern auch, wie es bewiesen wurde ( und wie ouch di z bewæret wart ). Strohschneider (2014, S. 119) versteht diesen Vers als Einschränkung: „Eneas kann die descensus -Erzählung keineswegs in derselben Weise beglaubigen wie den processus Pilati und die Kreuzigung. Er kann allenfalls bestätigen, dass sie beglaubigt worden sei […].“ Auf diese Weise bezeugt Eneas de auditu aber zugleich die legitimierende Rahmung des descensus -Berichts, die nicht zuletzt auf der Augenzeugenschaft der Auferstehungszeugen beruht. Angesichts dieser Vernet- <?page no="253"?> 5.2 wârheit : Das Verhältnis von Offenbarungswahrheit und juristischer Wahrheitsfindung 253 (vv. 1367-1380) und im Evangelium Nicodemi (vv. 369-392). Dass dessen Zeugnis im Evangelium Nicodemi sogar über das der Evangelisten gestellt wird, da Nikodemus das, was er wusste, auch alles aufgeschrieben habe, 269 ist gewiss ein Sonderfall, aber die Figur des Nikodemus, der mit Jesus kommuniziert hat, am Passionsgeschehen beteiligt war und für die Wahrheit eintritt, macht hier die Vernetzungen zwischen der Handlungsebene und der erzählerischen Rahmung besonders deutlich. 270 Über den Topos der adtestatio rei visae schreiben sich alle drei Texte zugleich in eine historiographische Tradition ein. 271 Mit Isidor wurde darin nicht nur die Überlegenheit des Augenzeugnisses gegenüber dem Ohrenzeugnis betont, sondern es finden sich auch vereinzelt argumentative Verknüpfungen mit der juristischen Mehrzeugenregelung. 272 Auch wenn die Heilsgeschichte zur historia zählt - wie schon ihre Integration in Weltchroniken erkennen lässt - ist die Berufung auf eine durch einen Augenzeugen vermittelte Faktenwahrheit durchaus keine Selbstverständlichkeit. Frederick G. Pickering (1970) hat in seinen grundlegenden Überlegungen zu mittelalterlichen Kreuzigungsdarstellungen die These aufgestellt, es sei eine moderne Herangehensweise, wissen zu wollen, was „in fact“ geschehen sei; den mittelalterlichen Autoren sei es vielmehr darum gegangen zu zeigen, was „in truth“ passiert sei, und diese (biblische) Wahrheit sei zum Beispiel typologisch begründet. 273 Nun fußt die Wahrheit, die der Augenzeuge Nikodemus über den Prozess und die Simeonsöhne als Augenzeugen der Höllenfahrt Jesu berichten, nach den in den Kerntexten gegebenen Signalen tatsächlich auf alttestamentarischen Prophezeiungen. Indem die Erzähltexte die causa scientiae der jeweiligen Augenzeugen thematisieren, wird den Geschehnissen aber zusätzlich der Status einer Faktenwahrheit zugeschrieben. Als Faktenwahrheit wird die Heilswahrheit erzählbar, und die volkssprachigen Autoren führen die Tradition dieser ,wahren‘ Erzählungen über die Passion fort. zungen ist es wenig wahrscheinlich, dass der Text in der Gegenüberstellung von Augenzeugenschaft und Vermittlerrolle des Eneas darauf abzielt, im Hinblick auf die Augenzeugenschaft des Eneas die grundsätzlichen Probleme von Augenzeugenschaft zu aktivieren (so aber tendenziell Strohschneider ebd., S. 335 f. [ähnlich 2014, S. 118]: „Eneas ist selbst ein Augenzeuge; von den Problemen, die damit verbunden sind, war im Kapitel 2 die Rede.“). Becker (2015, S. 41) verweist bei ihrer Analyse der Stelle auf Strohschneiders Deutung, problematisiert die Augenzeugenschaft aber nicht. 269 S. dazu o. S. 155. 270 Vgl. Strohschneider (2005, S. 335; 2014, S. 117) dazu, dass diese Querverbindung in Diu urstende nicht besteht. 271 In welche rhetorische Tradition sich die Kerntexte durch ihr Erzählverfahren stellen (vgl. dazu Hübner 2010), wäre gesondert zu untersuchen. 272 Vgl. Knapp 1997 (1980), S. 21 f. (zu Isidor); Schmolinsky 2011, S. 305 (zu Isidor), S. 306 (zu Referenzen auf den Zeugenbeweis bei Thietmar von Merseburg). 273 Vgl. Pickering 1970, S. 230. <?page no="254"?> 254 5 Externe Bezugsfelder Der Status von Augenzeugenschaft in der Bibel- und Legendenepik 274 bedürfte einer systematischeren Untersuchung, als sie hier zu leisten ist. 275 Als Parallele zu dem Umgang mit Beweisverfahren in den Kerntexten sei nur auf die um 1200 entstandene Versdichtung Joseph d’Arimathie Roberts de Boron verwiesen. 276 In die Erzählung von der Herkunft des Grals sind auch die Pilatus-Veronika-Legende und die Schilderung der Rache Vespasians bei der Eroberung Jerusalems integriert. Bei der Aufarbeitung der Passionsereignisse kommt eine ausgefeilte Beweistechnik zum Einsatz. Das übergeordnete Ziel der Erzählung ist es, die Authentizität des Grals zu beweisen, aber über die genaue Rekonstruktion der Ereignisse wird auch die Glaubwürdigkeit der eigenen Erzählung unterstrichen, zumal in der im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts entstandenen Prosafassung, in der die entsprechenden Züge noch verstärkt sind. 277 Der heilsgeschichtliche Stoff scheint also eine Auseinandersetzung mit Wahrheitsbegriffen geradezu herausgefordert zu haben. Der juristisch gefärbte Modus der Augenzeugenschaft erweist sich als eine Möglichkeit, sich der Heilswahrheit erzählerisch zu nähern. 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? Im Schwabenspiegel wird einleitend ein heilsgeschichtlicher Rahmen für die auf Erden geltende Rechtsordnung entfaltet: 278 274 Raumann (2010, S. 121 f.) referiert die Kontroverse zwischen Green (2002, S. 86) und Knapp (2003) darüber, wie die Aussage des Erzählers in der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen zu deuten sei, er sei nicht so weise, dass er alle Speisen beim Festmahl im Hause des Schächers (bei der zweiten Einkehr) aufzählen könne, außerdem komme es ihm nicht zu, denn er sei nicht dabei gewesen (vv. 2443-2449, zitiert nach Fromm / Grubmüller 1973). Da Heilsgeschichte als historia verstanden worden sei, „wäre auch ein Unterschied zwischen dem literarischen Spiel mit dem Augenzeugentopos im Artusroman und in der (heils-)geschichtlichen Dichtung zumindest denkbar“ (so Raumann ebd., S. 122). Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, an der fraglichen Stelle in der Kindheit Jesu dominieren jedoch - dem Gegenstand des höfischen Gastmahls entsprechend - Erzählkonventionen höfischer Literatur (Raumann selbst betont den vielseitigen Charakter des Textes ebd., Anm. 348), zu denen der Verzicht auf eine detaillierte Katalogisierung von Speisen gehört (vgl. Ukena-Best 2002, S. 197 mit Anm. 59 [S. 205 f.]). Konzeptionalisierungen von Zeugenschaft in einem umfassenderen Sinne, d. h. auch von bekenntnishafter Zeugenschaft, sind von Prica (2010, S. 235-276) für die Erlösung untersucht worden. 275 Zu berücksichtigen wären dabei auch die Verflechtung von Zeugenschaft auf Handlungs- und Erzählebene in der Bibel selbst, insbesondere den Evangelien. Vgl. Lincoln 2000, S. 378-389; 2015 (zum Johannesevangelium ) und vor allem die kontrovers diskutierte These von Bauckham 2017 (zuerst 2006), dass alle vier Evangelien auf Augenzeugenberichten beruhten (zur Diskussion vgl. die Beiträge in Journal for the Study of the Historical Jesus 6.2 [2008]). 276 Zur Einordnung des Textes in die Rezeptionsgeschichte des lateinischen Nikodemusevangeliums vgl. O’Gorman 1997, S. 120-123. 277 Vgl. dazu Grimbert 1991. 278 Die abgedruckten Passagen sind in allen edierten Fassungen enthalten (vgl. Hagenlocher 1992, S. 180; für einen Überblick über die Fassungen vgl. Oppitz 1990, S. 34-42; Johanek 1992). Zitiert wird eine der zwischen 1276 und 1282 entstandenen Kurzformen als älteste ,Verkehrsform‘ des Textes (vgl. dazu Johanek ebd., Sp. 899) und zwar die Handschrift mit der Sigle Kb (Klasse Ia) nach der Ausgabe von Eckhardt 1974. Die Zählung richtet sich nach der auch von Eckhardt mitgeführten Artikeleinteilung von Laßbergs (1840), die sich etabliert hat (vgl. Johanek ebd., Sp. 901). Zur bairisch-österreichischen Handschrift Kb (Berlin, SBPK, Mgf 1097) aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts vgl. den Eintrag im Handschriftencensus . Vgl. einführend zum Schwabenspiegel Kümper 2009, S. 362-382 (auch zur Editions- und Forschungsgeschichte). - In den Kurzformen kommt (wie in den Kerntexten) der Figur des Nikodemus <?page no="255"?> 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? 255 Hye hebt sich das lanntrecht puch an. Vorwort a. Herre got himelischer vater durch dein milte guet weschuffe du den menschen in drivaltiger wirdikait. […] 279 Vorwort b. Seyt das vns got in so hoher wirdikait weschaffen hat so wil er auch das wir wirdikleiches leben haben das wir ann einander wird vnd er erpieten vnd treu vnd barhait nicht neid vnd has gen einander tragen. wir sullenn mit frid vnd mit sun vnder einander leben. fridleiches lebens das hat vnser herre vnmesleichen lieb. wann er chom selber von himelreich auf erd durch nichte anderst wann durch den rechten frid das er vns ainen frid schuf uor dem teufel vnd von der ewigen marter ob wir selber wellenn. […] 280 Vorwort c. got der weschuff zum ersten himel vnd erd vnd dar nach den menschen. den saczt er in das paradeis. der prach die gehorsam vns allen zu schaden. dar umb giengen wir irre sam die uerlassen schaff das wir in das himelreich nicht mochten vncz an die zeit das vns got den weg dar beist mit seiner marter. 281 […]. vnd wer […] die gepot vnsers hernn zerpricht das richet got pilleich an im vnd die den er gewalt verlihen hat. das ist der pabst. der sol an gotes stat hie richtenn auf erdrich vncz an den iungsten tag. so wil dann got selb richten ubel vnd guet chlain vnd gross vnd alles das uon hinnen dar nicht gerichtet birt. vnd dar umb wil man ann disem puch lernen alle die gerichtes pflegen sullen ze recht nach gotes willen richten als manig heyliger mann die in der alten ee vnd in der neuen richter waren vnd also habent gericht das si mit irm gericht die ewing freud habent wesessen. 282 vnd wer anderst richtet wann als dicz puech lert der sol wissen das got uil zornleich uber in richtet an dem iungsten tag. […] 1b. seyt got den menschen in so hoher wirdikait weschaffenn hat als uor gesprochenn ist so er auch den menschen alle die sach gelert hat do er zum himelreich mit chomen sol zu der erwirdigen wirdikait do er den menschen zu erwelt hat das erczeuget man in manichen ende mit der heyligen geschrift. vnd do er moysi die zehen gepot gab auf dem perg synai do west er bol das die lewt vil manigerlai krieg mit einander burden haben vnd gab in nicht allain dy zehen gepot. er gap funf gepot vnd sechs hunder argumentativ eine besondere Relevanz zu; deshalb ist hier eine der Kurzformen als Textgrundlage gewählt worden. 279 Der Text erweitert den Beginn eines Traktats von David von Augsburg (abgedruckt in Pfeiffer 1853, S. 8-53; zur Echtheit der David zugeschriebenen deutschen Schriften vgl. Ruh 1980, Sp. 54 f.). Als die drei Formen der wirdikait werden dort wie im Schwabenspiegel die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, seine Herrschaft über die Schöpfung und die Aussicht, bei entsprechendem Verhalten die Freude mit Gott ewig genießen zu dürfen, genannt. Zur Verarbeitung dieser Quelle vgl. Eckhardt 1974 (im Apparat zur Stelle); Johanek 1992, Sp. 901; Ertl 2006, S. 355. 280 Zu Anklängen an die unter dem Namen Bertholds von Regensburg überlieferten Predigten über den Frieden (vgl. Pfeiffer / Ruh 1965 [1862], Nr. XVII; Pfeiffer / Strobl / Ruh 1965 [1880], Nr. XLIX) vgl. Eckhardt 1974 (im Apparat zur Stelle); Johanek 1992, Sp. 901; Ertl 2006, S. 355. Vgl. auch Banta 1978, Sp. 820: „Die d e u t s c h e n P r e d i g t e n [sc. Bertholds von Regensburg] sind nicht authentisch […]. Sie wurden wohl ca. 1275 als Lesestücke von demselben Minoritenkreis redigiert wie der ‘Deutschenspiegel’ und der ‘Schwabenspiegel’ […].“ Zur Propagierung des Friedensgedankens im Vorwort des Schwabenspiegels vgl. Heinzle 1994, S. 278-282. 281 Vgl. Sachsenspiegel , Textus prologi . 282 Bereits dem Deutschenspiegel war eine historische Einleitung ( Buch der Könige alter ê ) mit exemplarischen Richter- und Herrscherfiguren vorangestellt, die beim Schwabenspiegel um die Prosakaiserchronik ergänzt wurde. Der Satz im Vorwort zu den vorbildlichen Richtern mag in der ursprünglichen Konzeption also auch die Funktion eines Rückverweises gehabt haben, wenn auch der Einleitungsteil in der Überlieferung oft weggefallen ist. Vgl. dazu Ertl 2006, S. 352-355; Müller 2006. <?page no="256"?> 256 5 Externe Bezugsfelder gepot. 283 das was nicht anderst wann das er da uon nem wie er ein yetlich sach richten solt. vnd uon den selben gepoten habent seint alle kunig vnd all richter nach gericht vncz her in die neuen ee. do namenn aber die pabst vnd die kaiser vnd die kunig ir gericht nach den selben gepoten. vnd also stet auch an disem puch chainer slacht lantrecht noch lehenrecht noch vrteil wann als es mit recht nach der romischenn phächte vnd uon karls recht her chomen ist. vnd ist aus ainem puch genomen das haisset decretal. do vint man alle die recht inn der geistleiches vnd werntliches gericht wedarff. aber dicz puch sagt nur von werntlichem gericht vnd dar umb haist es das lanntrecht puch. alle die recht die hie an geschriben sind das dy uber alle lantrecht vnd gewer sint nach geschriben rechten ane. hernach sagen wir uon sunderleichem rechten nach gu [ ter ] gewonhait des landes [ vnd der ] stat. Der Anfangsteil des Schwabenspiegels , der ganz im Zeichen franziskanischen Rechts- und Geschichtsverständnisses steht, 284 vermittelt ein einsträngiges Bild vom Recht: 285 Alle partikularen und historisch entstandenen Rechtsordnungen sind letztlich aus dem von Gott gesetzten Recht abgeleitet; jegliches gesetzte Recht dient dazu, dem Menschen für ein moralisch einwandfreies Leben Orientierung zu geben, das - seit der Erlösung der Menschheit durch die Passion Jesu 286 - einen Zugang zum Himmelreich ermöglicht. Leitlinie für das Verhalten der Menschen soll das ,friedliche Leben‘ sein, wobei das (ideale) Verhalten der Menschen mit dem Gottes parallelisiert wird. Dass der durch die Passion Jesu erreichte Heilsfriede eine andere Qualität hat als der irdische Friede, wird durch den Ausdruck den rechten frid nur angedeutet; die Differenzierungen zwischen verschiedenen Arten des Friedens sind zugunsten der Propagierung der Gottgewolltheit irdischen Friedens eingeebnet. 287 Entsprechende Vereinfachungen lassen sich auch für den Bereich des Rechts beobachten, und doch sind in dem Versuch der Synthese die Differenzierungen, die überdeckt werden sollen, schon allein dadurch erkennbar, dass die verschiedenen Rechtsordnungen, die eine Einheit bilden sollen, benannt werden. Insofern lassen sich ausgehend vom Anfangsteil des Schwabenspiegels - trotz seines dezidiert franziskanischen Kontextes - Problemfelder der Rechtslegitimation erschließen, die im 13. Jahrhundert breiter diskutiert wurden. Die Vorrede setzt mit Ausführungen zur Bestimmung des Menschen ein: Nachdem - in Anlehnung an David von Augsburg - die Auserwähltheit 288 des Menschen durch seine Schöpfung erläutert worden ist (Vorwort a), werden die Verpflichtungen genannt, die daraus erwachsen (Vorwort b), nämlich ein dem von Gott verliehenen Status entsprechendes ethisches Handeln, das - so legt es der weitere Verlauf des Textes nahe - wieder zu Gott zurückführt. Ein wirdikleiches leben ist nach dem Schwabenspiegel von Gott gefordert, nicht primär Ziel eines inneren Strebens. Trotzdem weist das Modell Parallelen zum Konzept der Selbstvollendung durch Handeln auf, wie es in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin formuliert ist, nach der das Gesetz zur Unterweisung auf dem Weg zur Vollendung 283 Gemeint sind „die weiteren Gesetze, die Moses von Gott erhält, nachdem er den Dekalog zum zweiten Mal aufgezeichnet hat, vgl. Deut. 12-27“ (Heiser 2006, S. 170, Anm. 28). 284 Vgl. Ertl 2006, S. 355-359. Zur Rolle der Augsburger Franziskaner bei der Entstehung des Schwabenspiegels vgl. Johanek 1992. Zu den kanonistischen Quellen des Schwabenspiegels vgl. Magin 1999, S. 66 f. 285 Vgl. dazu auch Heiser 2006, S. 170. 286 wann das bas nicht uor gotes gepurt. wie wol der mensch in aller der welt lebt so mocht er doch gein himel nicht chomen (Vorwort b). 287 Vgl. dazu Hagenlocher 1992, S. 180-184. 288 Zu wirdecheit im Sinne von ,Auszeichnung‘ vgl. BMZ; L exer , s. v. <?page no="257"?> 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? 257 dient. 289 Zwar sollen hier nicht Berührungspunkte zwischen dem Schwabenspiegel und den Schriften des Thomas von Aquin behauptet werden, aber ein Blick auf die thomasische Gesetzeshierarchie 290 kann helfen zu verdeutlichen, auf welcher Ebene die Argumentation im Schwabenspiegel ansetzt: Sie beginnt mit dem Schöpfungsplan, hinter dem - thomasisch gesprochen - die lex aeterna anzunehmen ist, und bewegt sich dann zu den Konsequenzen für das Handeln der Menschen. Die Notwendigkeit zum sittlichen Handeln wird nicht mit gesetztem Recht, sondern aus der Schöpfung heraus begründet und wäre im thomasischen System der lex naturalis zuzuordnen. 291 Wenn aber die Prinzipien für sittliches Handeln dem positiven Recht vorausliegen, in welchem Verhältnis stehen dazu dann „das positive göttliche Gesetz, nämlich das des Alten und das des Neuen Bundes“ ( lex divina ) und „die positiven menschlichen Gesetze“ ( lex humana )? 292 Der Schwabenspiegel findet dafür eine einfache Lösung: Die göttliche Gesetzesoffenbarung wird als Anleitung dazu verstanden, wie sittliches Verhalten verwirklicht werden kann ( seyt got den menschen in so hoher wirdikait weschaffenn hat als uor gesprochenn ist so er auch den menschen alle die sach gelert hat do er zum himelreich mit chomen sol zu der erwirdigen wirdikait , 1b). 293 Und die Prinzipien für menschliches Richten seien aus den Geboten abgeleitet ( vnd uon den selben gepoten habent seint alle kunig vnd all richter nach gericht vncz her in die neuen ee. do namenn aber die pabst vnd die kaiser vnd die kunig ir gericht nach den selben gepoten , 1b). 294 Der Identität der Rechtsordnungen entspricht eine Komplementarität bei der Richtertätigkeit: Menschliche Richter (zuallererst der Papst) agieren als Stellvertreter Gottes auf Erden; worüber sie noch nicht gerichtet haben, darüber wird Gott beim Jüngsten Gericht Richter sein. Orientierungspunkt für göttliches wie menschliches Richten ist die Einhaltung oder der Bruch des göttlich gesetzten Rechts, aber auch die Qualität ethischen Handelns ( ubel vnd guet ). Das Konfliktpotenzial, das mit dieser einsträngigen Logik überdeckt wird, kann hier nur angedeutet werden: Zunächst einmal wird die Gültigkeit sämtlicher mosaischer Gesetze über alle Zeiten hinweg auch für Christen postuliert. Es wird also kein Unterschied zwischen der Sitten- und der Zeremonialgesetzgebung auf der einen sowie den zivil- und strafrechtlichen Regelungen des Deuteronomium auf der anderen Seite gemacht. 295 Tat- 289 Vgl. Honnefelder 1990, S. 9 (mit Einzelnachweisen); Lippert 2000, S. 142. Zur Bedeutung des sittlichen Handelns bei Thomas vgl. (mit anderer Akzentuierung) auch Bidese 2005. 290 Vgl. dazu z. B. Lisska 1996, S. 82-115 mit Appendix III (S. 296); Lippert 2000, S. 16-140; zu den augustinischen Wurzeln vgl. Nemeth 2001, S. 9; Kaufmann 2012, Sp. 500 f. 291 Vgl. dazu, dass die lex naturalis nach Thomas auch die Ordnung der Naturdinge umfasst und nicht mit dem Naturrecht gleichzusetzen ist, Städtler 2011, S. 196. 292 Die Zitate entstammen Honnefelder 1990, S. 10. 293 Eine geschichtliche Dimension, dass eine Kodifizierung des Rechts nötig war, weil „das ursprünglich natürliche Wissen um das Gute durch den Sündenfall ausgelöscht bzw. verdunkelt wurde“, ist im Schwabenspiegel - anders als in der Frühscholastik - nicht präsent (vgl. Mandrella 2007, S. 172). Die Gebote erscheinen als Explikation der sittlichen Prinzipien, wogegen sich das Verhältnis von Dekalog und lex naturalis in Theologie und Philosophie wesentlich komplexer darstellt (vgl. z. B. Speer 2014 [zu Thomas von Aquin]; Honnefelder 1990, S. 18-20 [zu Johannes Duns Scotus]). 294 Das Festhalten an den mosaischen Gesetzen im Schwabenspiegel zeigt Parallelen zum Gesetzestraktat der ebenfalls franziskanischen Summa Halensis (vgl. dazu Basse 2014). 295 Zur Differenzierung zwischen Zeremonial- und Sittengesetz, die erstmals in der lateinischen patristischen Literatur begegnet, vgl. Wolter 1999. Zu der seit Alexander von Hales und Thomas von Aquin etablierten Dreiteilung des alttestamentarischen Gesetzes (hinzu kommt die Kategorie der praecepta iudicalia ) vgl. Walter (2001), der auch einen Überblick über die Diskussion über die Geltung der alttestamentarischen Zeremonialgesetze im Christentum gibt. <?page no="258"?> 258 5 Externe Bezugsfelder sächlich sind im Landrechtsartikel 201 auch die zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen aufgeführt (nicht jedoch die Zeremonialgesetze). 296 Wie explizit gesagt wird, soll die Aufnahme der alttestamentarischen Gebote dazu dienen, die göttliche Legitimation des Schwabenspiegels deutlich zu machen. 297 Ausgespart werden auf diese Weise eventuelle Spannungen zwischen lex vetus und lex nova . 298 Der Übergang von der alten zur neuen ee erscheint in der Darstellung des Schwabenspiegels als ein rein chronologischer. Auch mögliche Brüche zwischen göttlich gesetztem Recht und menschlicher Rechtspraxis sind nicht thematisiert, wenn gesagt wird, dass Päpste, Kaiser und Könige ,nach denselben Geboten‘ gerichtet hätten. Während bei der zitierten Kurzform des Schwabenspiegels nur indirekt zu erschließen ist, dass auch das menschlich gesetzte Recht von den göttlichen Geboten abgeleitet ist, 299 ist die Verbindung in der um 1287 entstandenen ,Normalform‘ 300 deutlicher, weil den vorher als Richter genannten Päpsten und Kaisern im Folgenden ausdrücklich Rechtssetzungen zugeschrieben werden. 301 Die Parallelisierung von Päpsten und Kaisern entspricht dem harmonischen Zusammenwirken von geistlicher und weltlicher Gerichtsgewalt unter dem Primat der geistlichen Gerichtsbarkeit, wie es bereits im Vorwort (Abschnitte d und e) beschrieben worden war. 302 Das Problem, dass es auch unrechte menschliche Setzungen geben mag, 303 wird jedoch - bei der programmatischen Einleitung eines Rechtsbuches kaum verwunderlich - nicht in den Blick genommen. Allerdings ist in den bereits in Artikel 1b angekündigten Ausführungen Von guter gewonhait (Ldr. 44) festgelegt, wann eine Gewohnheit ,gut‘ ist und damit Rechtsgültigkeit erlangen kann. 304 Wenn gesagt wird, dass eine ,gute‘ Gewohnheit geistlichem Recht nicht widersprechen darf, aber auch wider menschleichen züchten nicht ist noch wider den sälden 296 Vgl. einen Kurzkommentar zu der Zusammenstellung (und der Aufnahme des mosaischen Erbrechts in Ldr. 148c) bei Blazovich 2011, S. 386-389. 297 hie habent deu wort ain ende die got selber sprach wider moisen. dy hat man dar umb in dicz puch geschriben das man da pey merkch das dicz puch uon der barhait gocz genomen ist (Ldr. 201v). Vgl. dazu Heiser 2006, S. 168-170. Der positive Rückbezug auf die mosaische Gesetzgebung im Schwabenspiegel ist unter den deutschen Rechtsbüchern nicht singulär. In anderer Weise wird Moses in der Reimvorrede der Landrechtsglosse des Johannes von Buch funktionalisiert, in der sich der Verfasser mit Moses parallelisiert (Manuwald 2013, S. 365). 298 Zur scholastischen Diskussion zum Verhältnis von lex vetus und lex nova vgl. Marschler 2014. 299 Die Verbindung zu dem Richten nach Gottes Geboten wird durch den Anschluss vnd also geschaffen: vnd also stet auch an disem puch chainer slacht lantrecht noch lehenrecht noch vrteil wann als es mit recht nach der romischenn phächte vnd uon karls recht her chomen ist. (Ldr. 1b). 300 Zur Datierung vgl. Johanek 1992, Sp. 899. 301 vnd also stet ouch an diesem buche keinr slachte lantrecht noch lehenrecht vnd keiner slachte urteil wan als es mit rechte von romischer phahte vnd von karles rechte her komen ist vnd als ez die bebeste vnd keyser zu concilie vnd zen houen habent gesetzet vnd gebotten vz dem decret vnd vz dem decretale. (Ldr. 1b; zitiert nach Eckhardt / Eckhardt 1972 [Uh] = Kl. IIIb). Zum Schwabenspiegel als Kaiserrecht vgl. Trusen 1985; Ertl 2006, S. 357 f. Schon im Deutschenspiegel wird die Rechtssammlung als Kaiserrecht angesehen (vgl. Munzel-Everling 2008b). 302 Trotz der kurialen Version der Zweischwerterlehre zielt der Schwabenspiegel auf eine concordantia der beiden Gewalten ab (vgl. Trusen 1985, S. 47-55; Ertl 2006, S. 357-359). 303 Vgl. Lippert 2000, S. 148-159; Städtler 2011, S. 205-208 (jeweils zu Thomas von Aquin). 304 Zu den Institutionen und dem Brachylogus als Quellen für die Argumentation vgl. Eckhardt 1974 im Apparat zur Stelle (grundsätzlich zu den Quellen des Schwabenspiegels vgl. Kümper 2009, S. 366). Anders als Ertl (2006, S. 356) meint, wird in dem Artikel nicht das im Schwabenspiegel gesammelte Recht charakterisiert. Vielmehr werden an etlichen Stellen gewonheit und gesetztes Recht voneinander abgesetzt, z. B. in Ldr. 139: Ein yeglich furst hat puess nach seins lanns gewonhait. also habent auch ander hernn. vnd auch die richter habent puess nach irr gewonhait. (a) doch sagen wir die alten puss die dy kunig den hernn geseczt habent […] (b). <?page no="259"?> 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? 259 nicht ist leibes vnd sele , 305 dann werden - neben dem geistlichen Recht - moralische Prinzipien genannt, d. h., für die Beurteilung einer Rechtsgewohnheit ist (auch) die lex naturalis maßgeblich. 306 Ähnlich wie im Sachsenspiegel (Ldr. III 42) wird im Schwabenspiegel (Ldr. 308) die Unfreiheit auf eine ,Gewohnheit‘ zurückgeführt, die jetzt als Recht angesehen werde. 307 Eine Rechtspraxis, die dem ,Recht‘ widerspricht, wird auch für den Umgang der Fürsten mit ,den Juden‘ konstatiert. 308 Im Abschnitt Wie es vmb der iuden recht stet als in die kunig haben verlihen (Ldr. 260) wird die rechtliche Stellung der Juden zunächst historisch hergeleitet: Was sie an Rechten hätten, habe (Flavius) Josephus für sie gesichert. Nach der Eroberung Jerusalems, bei der ein Drittel der jüdischen Bevölkerung an Hunger gestorben und ein weiteres erschlagen worden sei, sei das überlebende Drittel gefangen genommen und verkauft worden (je dreißig Personen für einen Pfennig). Titus habe sie zu Kammerknechten gemacht, aus der noch eine Schutzverpflichtung des Herrschers resultiere. 309 Weil sein Sohn Titus von Josephus geheilt worden sei, habe Vespasian ,den Juden‘ auf Bitten des Josephus hin jedoch dann eine bessere rechtliche Stellung zuerkannt (Ldr. 261). 310 Inzwischen ließen die Könige gegen das Recht aber zu, dass ,die Juden‘ unrecht erworbenes Gut beliehen ( nu habent in die kunig geben wider recht das sy leihen auf deubig vnd raubig gut. ). Die Stelle verdeutlicht das systematische Problem, dass menschliche Setzungen von den in Gott begründeten Regelungen abweichen können; zugleich lässt sie erkennen, dass positives Recht auch aus der politischen Geschichte erwachsen kann (ohne den eingangs postulierten Bezug auf die mosaischen Gesetze). 311 Angesichts der historischen Verankerung des Rechts im Schwabenspiegel gewinnt die Heilsgeschichte eine doppelte Funktion: Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Jüngstes Gericht bilden nicht nur den Rahmen, in dem irdische Rechtsordnungen zu sehen sind, sondern 305 Zitiert nach Km (Klasse Ia), abgedruckt in Eckhardt 1974. Im Text von Kb sind weniger Bedingungen für eine ,gute Gewohnheit‘ formuliert: Uon guter gewonhait sullen wir sprechen. wann wo gut gewonhait ist dew recht ist dew ist auch gut. das ist rechte gewonhait vnd is guete gewonhait dy wider geistlich recht nicht ist noch wider den salden nicht ist leybes. vnd dise gewonhait haissent stat gebonhait haissent stet gewonhait vnd haissent des lanndes gut gebonhait. gut gewonhait ist als gut als geschriben recht. […]. 306 Vgl. Kroeschell (1986, S. 472) zur kanonistischen Argumentation, dass Rechtsgewohnheiten an der göttlichen Wahrheit gemessen werden müssten. Vgl. dazu auch Weitzel 2000b, S. 142. 307 Zur Sachsenspiegel -Stelle vgl. Kroeschell 1986, S. 472; Repgen 2010; Seybold 2015; Manuwald 2016, S. 123-125, jeweils mit weiterer Literatur. Zur Umarbeitung der Argumentation im Schwabenspiegel vgl. Kümper 2009, S. 493-497; Seybold ebd., S. 490-493. 308 Zur judenfeindlichen Ausrichtung des Schwabenspiegels vgl. Kisch 1978, S. 85; Magin 1999, S. 407. 309 Zur historischen Entwicklung der Kammerknechtschaft vgl. z. B. Schreckenberg 1984, S. 1179-1191; Magin 1999, S. 26-40. Dazu, dass die Kammerknechtschaft trotz der Argumentation gegen die Unfreiheit fraglos akzeptiert wird, vgl. Kisch (1978, S. 85), der allerdings bei seiner Analyse der Passagen zur Unfreiheit nicht genügend berücksichtigt, dass sie jeweils auf Gewalt und Zwang zurückgeführt wird. 310 Zur Stofftradition dieser auch im Sachsenspiegel (Ldr. III 7,3) verarbeiteten Heilungslegende und zu den Unterschieden ihrer Funktionalisierung im Sachsenspiegel und im Schwabenspiegel vgl. Schreckenberg 1972, S. 159 f.; 1984, S. 1185-1187; Kisch 1978, S. 72-90; Magin 1999, S. 117-122. Die Aufzählung der subjektiven Rechte ,der Juden‘ wird im Schwabenspiegel abgeschlossen mit: dicz ist recht . 311 Vgl. dagegen Heisers Einschätzung (2006, S. 170), die zwar in der Mehrzahl der Fälle zutreffend ist, aber in ihrer Generalität modifiziert werden müsste: „Folgerichtig treten historische Exempel im Kontext des ›Schwabenspiegels‹ nicht als Recht konstituierende Ereignisse hervor, die neue rechtliche Bestimmungen begründen würden, in ihnen manifestiert sich lediglich immer wieder erneut göttliches Recht, welches in der Zeit unbegrenzt Bestand hat.“ <?page no="260"?> 260 5 Externe Bezugsfelder dem historischen Vollzug der Erlösung kann auch rechtliche Relevanz für die Gegenwart zugeschrieben werden. Anders als in der Pilatus-Veronika-Legende ist im Schwabenspiegel die Eroberung Jerusalems nicht als auf die Passion folgende Rachehandlung dargestellt. 312 Ein Konnex zwischen der rechtlichen Stellung der Juden und dem Passionsgeschehen wird erst in dem (in den Kurzformen des Schwabenspiegels noch nicht enthaltenen) demütigenden Judeneid angedeutet, nach dem ,die Juden‘ bei dem Blutruf schwören sollen, dass ihre Aussage wahr sei. 313 An anderer Stelle wird jedoch in den Kurzformen eine verfahrensrechtliche Regelung aus dem Passionsgeschehen abgeleitet, nämlich dass man niemanden mit der Acht belegen solle, ohne ihn vorher vorgeladen zu haben (Ldr. 101): 314 Man sol niemant verächten man gepiet im e füre Das man niemant verächten sol noch vrtail v̈ber in sprechen im werde e für gepoten das sol man bewarn mit dem puech scolastica hystoria. 315 da vindet manz da man liset von vnsers herren marter. 312 Zum Fehlen des Vergeltungsgedankens im Schwabenspiegel vgl. Kisch 1978, S. 86. Vgl. dagegen die Verknüpfung der Sühnehandlungen nach der Passion und des Motivs der Heilung des Titus in der Vindicta Salvatoris und in cap. 57 ( De sancto Jacobo apostolo = M., cap. 63) der Legenda aurea (vgl. Kisch 1978, S. 74; Schreckenberg 1984, S. 1173-1175). 313 ez ist war des du gesworn hast vnd das blut vnd der fluch iemmer an dir wachsen muzze vnd nicht abe nemen des din geslechte in selben wunschten do si ihesum cristum verteilten vnd martelten vnd sprochen also. sin blut kome uff vns vnd uff unser kint. (Ldr. 263, zitiert nach Eckhardt / Eckhardt 1972 [Uh]). Vgl. dazu Schmidt 2002, S. 100. 314 Zur Funktion derartiger legitimierender Passagen im Schwabenspiegel vgl. Heiser 2006, S. 162-184 (mit einer Übersicht über die „Kommentare“ auf S. 180-184). Kümper (2009, S. 375 f.) fordert zu Recht eine weitere Differenzierung der aufgrund der Analyse der Freidank-Passagen gewonnenen Ergebnisse. 315 Vgl. die Historia Scholastica des Petrus Comestor, Historia evangelica , cap. 97: Quod missi ut tenerent Jesum admirabantur verba ejus. ‹Miserunt ergo principes et Pharisæi ministros, ut comprehenderent eum. Et ait Jesus: Quæritis me, et non invenietis, et ubi ego sum, vos non potestis venire ( Joan. I) .› Quasi dicat: Tales non accedetis ad me, sed post resurrectionem multi volent invenire me, si fieri posset corporaliter, et non invenient, fide tamen invenient. ‹Et dicebant quidam: Hic est vere propheta. Alii: Hic est Christus. Cumque rediissent ministri ad pontifices et Pharisæos, et dixissent ministris: Cur non adduxistis eum? responderunt: Nunquam sic locutus est homo, ut iste loquitur. Et increpabant eos Pharisæi dicentes: Nunquid, et vos seducti estis? Quis principum et Pharisæorum credit in eum? Et ait Nicodemus: Lex nostra non judicat quemquam, nisi prius audierit ab ipso.› Credebat, quod si patienter illum audirent sicut ipse fecerat, similes ministris fierent. ‹Et dixerunt ei: Nunquid et tu Galilæus es? › id est a Galilæo seductus. ‹Scrutare Scripturas: a Galilæa non surgit propheta.› (zitiert nach PL 198, col. 1586C-D; „ Dazu, dass diejenigen, die geschickt wurden, um Jesus zu fassen, seine Worte bewunderten. ‹Es sandten also die Hohepriester und die Pharisäer Diener aus, damit sie ihn ergriffen. Und Jesus sagte: ,Ihr sucht mich, und ihr werdet [mich] nicht finden; und wo ich bin, dahin könnt ihr nicht kommen‘ ( Johannes I) [=7,34].› Als ob er sagte: ,Ihr werdet so [wie ihr jetzt seid] nicht zu mir kommen, sondern nach meiner Auferstehung werden mich viele, wenn es möglich wäre, leibhaftig, finden wollen und werden mich nicht finden, dennoch werden sie mich im Glauben finden.‘ ‹Und einige sagten: ,Dieser ist in Wahrheit ein Prophet.‘ Andere: ,Dieser ist Christus.‘ Und als die Diener zu den Hohepriestern und den Pharisäern zurückgekehrt waren und sie zu den Dienern gesagt hatten: ,Warum habt ihr ihn nicht hergebracht? ‘, antworteten sie: ,Noch nie hat ein Mensch so gesprochen, wie jener spricht.‘ Und die Pharisäer schalten sie mit den Worten: ,Habt etwa auch ihr euch verführen lassen? Wer von den Hohepriestern und Pharisäern glaubt an ihn? ‘ Und Nikodemus sagte: ,Unser Gesetz richtet niemanden, bevor es nicht von ihm selbst gehört hat [sc. was er tut bzw. was er getan hat].‘ [Io 7,40-51].› Er glaubte, dass es ihnen, wenn sie ihm geduldig zuhörten, wie er es selbst getan hatte, ergehen würde wie den Dienern. ‹Und sie sagten zu ihm: ,Bist etwa auch du ein Galiläer? ‘ [Io 7,52]›, d. h., von dem Galiläer verführt. ‹Durchforsche die Schriften: Aus Galiläa kommt der Prophet nicht. [Io 7,52]›“). <?page no="261"?> 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? 261 Die iuden sazzen ze rat wie si vnsern herren ihesum christum geuiengen vnd santen ir amptläwt zw im das si in viengen. Erzählt wird dann nach Io 7,32-36, dass Jesus mit den ,Amtleuten‘ über die Zeit nach seiner Auferstehung spricht. Wegen seiner weisen Rede nehmen sie ihn nicht fest, sondern kehren unverrichteter Dinge zurück zw der iuden fürsten vnd zw den richtern , denen sie verkünden, dass Jesus ein Prophet sei. Die Amtleute rechtfertigen sich gegenüber ,den Juden‘ folgendermaßen: ez geret nie mensch so weise rede so er redt. wir funden kain schuld da. si straften die poten vnd sprachen. ir seyt auch verlayter. welher fürst vnd welher herr solt an in gelauben. wir süllen in verächten. so ist er dann allen läwten erlaubet an ze greifen. do saz ain pyder erber man vnder in. der was ihesus frewnt haimleich. der versprach in wa er mit füge möchte. der hiez nicodemus. der stünt auf vnd sprach also. wir haben in der e das man niemant verdammen sol noch vrtail v̈ber in sprechen man sull in e horen. das ist also vil gesprochen. man sol v̈ber niemant vrtail sprechen man süll im e für gepieten. das sprach er got ze lieb vnd in dem synne ob si in selb gehört heten und sein weise rede das er vor in beliben wär als vor den poten. si sprachen zw nycodemo. wir horen an deiner red wol das du pist ein galileus vnd pist verlayt von ainem seinem iunger vnd du pist seiner iunger ainr. man spricht er sein ain prophet. nu merkche die geschrift dew spricht also. von galylea stat dehain prophet mere. da uon sol man niemant vertailen man lad in e für. Wie in der Historia Scholastica ist die Figur des für die Gültigkeit des (jüdischen) Gesetzes eintretenden Nikodemus (Io 7,50-52) aus der Szene des Streites im Hohen Rat in die Szene der versuchten Gefangennahme integriert worden, die so - anders als im Johannesevangelium - zu einem narrativen Abschluss gebracht wird. Indem im Schwabenspiegel die Anhörung eines Angeklagten über die Formel das ist also vil gesprochen mit der Vorladung gleichgesetzt wird, wird das Argumentationsziel erreicht, nämlich mithilfe der Historia Scholastica die Notwendigkeit der Vorladung zu beweisen. Ausschlaggebend für die Gültigkeit der Regelung in der Gegenwart des Schwabenspiegels scheint dabei weniger das ,Gesetz‘ zu sein, sondern die Tatsache, dass Nikodemus in der konkreten historischen Situation damit argumentiert hat. Seine schon im Johannesevangelium angelegte Rolle als Bewahrer des Rechts gegenüber den anderen Juden, die somit als Rechtsbeuger erscheinen, ermöglicht es, dass selbst dem Passionsgeschehen, das auf die Hinrichtung eines Unschuldigen zusteuert, Züge eines positiven Rechtsexempels abgewonnen werden können. Dass das Erlösungsgeschehen insgesamt Ausdruck göttlichen Rechtshandelns ist, findet man im Vorwort (b) des Schwabenspiegels impliziert, wenn gesagt wird, dass Gott auf die Erde gekommen sei, um ,uns‘ Frieden vor dem Teufel zu schaffen. An dieser Stelle ist die Schutzfunktion des Friedens dominant, 316 der damit auch eine rechtliche Dimension gewinnt. Dass ein Schutz der Menschheit vor dem Teufel nur durch die Menschwerdung und damit auch die Passion Jesu erreicht werden kann, setzt voraus, dass der Teufel Ansprüche auf den Menschen hat, die Gott in sein Handeln mit einbezieht. Ob diese Ansprüche auf einem genuinen ius diaboli beruhen oder der Teufel in seinem Handeln als von Gott abhängig angenommen wird, 317 bleibt im Schwabenspiegel offen, aber es wird suggeriert, dass Gottes Rechtshandeln regelhaft ist, da er sich nicht einfach über die Ansprüche des 316 Vgl. dazu Hagenlocher 1992, S. 181. 317 Zu den Diskussionen darüber vgl. Marx 1995, S. 7-27; McGrath 2005, S. 57; 81-83. <?page no="262"?> 262 5 Externe Bezugsfelder Teufels hinwegsetzt. 318 Die damit indirekt ausgedrückte Analogie zwischen göttlichem und menschlichem Rechtshandeln passt zur didaktischen Ausrichtung des Schwabenspiegels , nach dem auch das göttliche Gericht Vorbild für den Menschen sein soll. Dementsprechend sind sprachkritische Reflexionen über die Vergleichbarkeit göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit 319 ebenso wenig zu erwarten wie ein Eingehen auf ,Konfliktfälle‘ wie das Isaak- Opfer, bei denen Gottes Offenbarungshandeln den ethischen Prinzipien, auf denen auch das göttlich gesetzte Recht beruht, zu widersprechen scheint. 320 Doch kann vor dem Entwurf des Schwabenspiegels , dass sämtliche menschliche Rechtsordnungen von Gott abgeleitet seien, gerade das Passionsgeschehen einen besonders prekären Charakter gewinnen. Zwar thematisiert auch der Schwabenspiegel die Möglichkeit einer unzureichenden Umsetzung des göttlichen Rechts (mit entsprechenden Sanktionen beim Jüngsten Gericht) - und das Fehlverhalten des Pilatus ließe sich in ein solches Modell einpassen 321 -, trotzdem birgt ein von Gott gewolltes Unrechtsurteil ein besonderes Provokationspotenzial, wenn die Rechtsordnung ebenfalls von Gott kommt. 322 Wie Klaus Schreiner (2001) im Einzelnen gezeigt hat, wurde die von der Theologie beeinflusste „normative Diskursebene“ für das Recht, die im Schwabenspiegel besonders ausgearbeitet ist, in der Rechtspraxis oft von weltlichen Interessen überlagert. 323 Doch ist mit Schreiner generell festzuhalten: „Das mittelalterliche Recht war kein Heide.“ 324 Entsprechendes lässt sich auch über die Rechtskonzepte in den Kerntexten sagen, in denen thematisch Theologie und Recht miteinander verquickt sind. Da die beim Prozess gegen Jesus geschilderte Rechtsordnung eben nicht dominant als ein fremdes römisch-heidnisches 318 Die Stelle zum Frieden vor dem Teufel folgt Predigt Nr. XVII Bruder Bertholds von Regensburg (vgl. Pfeiffer / Ruh 1965 [1862], S. 238, Z. 4-32). In dem im Vorwort des Schwabenspiegels zitierten Traktat Bruder Davids von Augsburg (s. o. S. 255, Anm. 279) wird hingegen die Notwendigkeit für eine Buße nicht vom Teufel aus, sondern - in dieser Hinsicht vergleichbar mit der Argumentation Anselms von Canterbury (vgl. Plasger 1993; McGrath 2005, S. 75-81) - mit dem Wesen Gottes begründet: Es hätte seiner rehtekeit nicht angestanden, wenn die Sünde nicht ,gebessert‘ worden wäre (vgl. Pfeiffer 1853, S. 15). 319 Zu entsprechenden theologischen Diskussionen vgl. McGrath 2005, S. 89-92. 320 Mandrella (2007) beschreibt das Isaak-Opfer als „naturgesetzlichen Konfliktfall“ (S. 170) und formuliert das Problem folgendermaßen: „Ist die Tötung eines Unschuldigen per se, d. h. von Natur aus […] immer schlecht, dann muß auch Gott daran gebunden sein. Ist hingegen jegliche Sittlichkeit in dem Maße von Gott abhängig, daß Gott sogar Handlungen zu gebieten vermag, die unserem Verständnis von Sittlichkeit widersprechen, dann kann er auch die Tötung des unschuldigen Isaak gebieten“ (ebd., S. 174). Zu Lösungsmustern vgl. den Überblick von Mandrella ebd.; vgl. auch Städtler 2011, S. 213 (zu Thomas von Aquin). 321 Zur Auslegungstradition von Pilatus als Inbegriff schlechten Richtens vgl. Scheidgen 2002, S. 242-255. 322 McGrath (2005, S. 92) formuliert bezogen auf Gerechtigkeitskonzeptionen ein entsprechendes Problem: „The theologians of the medieval period were convinced that God’s righteousness was expressed in the redemption of humanity in Christ. The difficulties associated with this understanding of the ‘righteousness of God’, particularly in connection with the correlation of iustitia Dei and iustitia hominis , were never, however, entirely resolved.“ 323 Vgl. Schreiner 2001b, Zitat auf S. 336. Auch für die normative Diskursebene ist die Theologie nur ein Faktor neben anderen (zur Konkurrenz zwischen Theologie und Rechtswissenschaft vgl. Schreiner ebd., S. 336-340). 324 Schreiner 2001b, S. 335. Das gilt auch für deutschrechtliche Texte des 13. Jahrhunderts. Nicht umsonst hat Schreiner für seinen Aufsatz den programmatischen Satz „Got is selve recht“ aus dem Prologus des Sachsenspiegels als Titel gewählt. <?page no="263"?> 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? 263 System geschildert wird, sondern durch die Bezüge auf ,deutschrechtliche‘ Verfahrensweisen in die eigene Zeit gerückt ist, wird ein christlicher Kontext aufgerufen, d. h., es stellt sich die Frage nach ihrer Ableitung, nach der Göttlichkeit des Rechts. Wie bei der Analyse des Wortfelds reht und ê in den Kerntexten deutlich geworden ist, sind in ihnen religiöse und rechtliche Ordnungen terminologisch nicht scharf getrennt. Als Quelle jeglicher Ordnung erscheint Gott in den Schöpfungseingängen von Christi Hort (vv. 1-170) und dem Evangelium Nicodemi (vv. 1-300), mit denen sich die Texte nach der thomasischen Gesetzeshierarchie im Bereich der lex aeterna bewegen. In Christi Hort schwenkt das Erzählinteresse aber schnell um auf das von Gott erlassene normative Gebot, dass Adam und Eva nicht vom Baum der Erkenntnis essen sollten (vv. 71-86). Wenn es heißt, dass die Minne Gott zur Erlösung des Menschen bewegt habe (vv. 158-170) bzw. die Inkarnation von der minne gebot (v. 326) erfolgt sei, wird deutlich, dass nach der Konzeption von Christi Hort auch Gottes Handeln bestimmten Prinzipien folgt, die positiven Normen vorausliegen. Das gilt ebenfalls für das von den Jüngern für das Jüngste Gericht angekündigte Richten nah rechte (v. 2993). Dass minne und reht als Gott wesenseigen gedacht sind, kann man vermuten, aber der Text bestimmt das Verhältnis Gottes zu den ethischen Prinzipien, die sich hinter den Begriffen verbergen, nicht näher. 325 Dagegen wird im Evangelium Nicodemi das Handeln Gottes nach den für den Menschen erkennbaren ethischen Prinzipien hinterfragt, auch seine Entscheidung, trotz der schwachen Natur des Menschen den verbotenen Baum in das Paradies zu setzen (vv. 10-13). Aus den Erklärungen der autoritativen Stimme, die zunächst auf die Fragen des ,Schülers‘ antwortet und dann zu längeren Erklärungen ansetzt, geht hervor, in welchem Verhältnis Gott zu der von ihm geschaffenen Ordnung steht. Gegen den referierten Einwand der ungehuren (v. 197), dass die Jungfrauengeburt wider die Natur 326 sei und Gott damit die menschen reht 327 übergangen habe, 328 wird folgendes Argument vorgebracht: Nu er gab der 329 nature an aller creature ir gewalt und ir craft, got, der sie hat geschaft ze schephen uber alle dinc, ein brunne und ein ursprinc ist all der werlde sachen; 325 Auch wird nicht problematisiert, wie es angesichts des minne -Prinzips überhaupt zum Fall des Menschen kommen konnte. Vgl. dagegen das Väterbuch : Ine kan gesprechen noch entar, / Warumbe die minne des verhinc, / Daz si den val niht under vinc, / Sit er doch vor kunt was Gote. / Hie belibet unzerloset der knote, / Er ist zu ho gebunden. (vv. 50-55, zitiert nach Reissenberger 1914; zur Stelle vgl. Herberichs 2014, S. 98). 326 Die Natur ist an dieser Stelle personifiziert (vgl. dazu Wiedmer 1977, S. 35 f.). 327 Relevant ist hier vermutlich die Bedeutung: „dasjenige, was einer person […] vermöge eines inneren […] gesetzes […] zukommt“ (vgl. BMZ, s. v.). - Mit der Betrachtung der Jungfrauengeburt als Rechtsverstoß steht das Evangelium Nicodemi nicht alleine: Im Prophetenspiel des Benediktbeurer Weihnachtsspiels ist dem Synagogenvorsteher der Vorwurf in den Mund gelegt, dass die Jungfrauengeburt gegen das Recht der Natur verstoße (vgl. CB, 227, vv. 73-77; vgl. auch die Entgegnung der Augustinus-Figur, vv. 90-97; zitiert nach Vollmann 1987). 328 Der Interpretation der Verse ist der handschriftennahe Abdruck Pipers (1888) zugrunde gelegt: […] / daz got menſchait an ſich / In der maget lîbe enphiench, / div menſchen reht vbergiench (vv. 200-202). Helm (1902) liest in v. 202 die statt div . Dann wäre es Maria, die das Recht überträte. 329 Helm (1902) gibt im Apparat die Lesart ergap die an, Piper (1888) liest ergap div . <?page no="264"?> 264 5 Externe Bezugsfelder der mohte ouch diz wol machen: allez daz er tun wolde und niht wan daz er solde tun doch mit urteilen. ( Evangelium Nicodemi , vv. 205-215) Nach diesen Ausführungen steht Gott über der Natur; er kann sich über die den Menschen auch physisch innewohnende lex naturalis 330 hinwegsetzen. Göttliches Wollen und Sollen werden in der Argumentation als identisch dargestellt. 331 Damit ist der Boden bereitet für die in den sittlichen Bereich übergehende Erklärung dazu, warum Gott eine rechtliche Verpflichtung habe, die so schwache Menschheit zu erlösen (vv. 216-221), bei der ebenfalls Wille und ,Notwendigkeit‘ 332 zusammenfallen. Während Gottes Rechtshandeln einerseits die für Menschen geltenden ethischen Prinzipien außer Kraft setzt, indem er (aus mildicheit ) einen Unschuldigen statt des Schuldigen bestraft werden lässt (vv. 1737-1748), ist er in der damit geleisteten Erfüllung einer sittlichen Verpflichtung zugleich Vorbild für menschliches Rechtshandeln, das - nach der Konzeption des Evangelium Nicodemi - auch gegen ,die Juden‘ als Gottes Feinde gerichtet sein soll (vv. 4944-4949). 333 Der partiellen Parallelisierung von göttlichem und menschlichem Rechtshandeln im Evangelium Nicodemi entspricht es, dass - über die Zweischwerterlehre (vv. 532-556) - die Gerichtsgewalt auf Erden von Gott hergeleitet wird. Dass auch die irdische Rechtsordnung letztlich auf Gott zurückzuführen wäre, wird nicht explizit gesagt. Das von Gott gesetzte Recht wird nur innerhalb der Rede des Pilatus thematisiert, in der er den Ungehorsam ,der Juden‘ gegenüber Moses tadelt (vv. 1317-1377). Mit der prominenten Rolle Mose in dieser Rede und der Thematisierung der Gesetzesoffenbarung Gottes 334 weicht das Evangelium Nicodemi von der entsprechenden Passage im Nikodemusevangelium (cap. IX 2 [7,2 (G / I)]) ab. 335 Da Pilatus als Heide zu ,den Juden‘ spricht, kann es an dieser Stelle allenfalls für die Rezipienten um die Legitimation einer christlichen Rechtsordnung gehen. Handlungsimmanent zielt die Kritik darauf ab, dass ,die Juden‘ ihre eigenen Autoritäten nicht achteten und während der Gesetzesoffenbarung das goldene Kalb anbeteten. Der Dekalog erscheint so als etwas, dem zumindest ,die Juden‘ Respekt entgegenbringen müssten. 336 Und im judenfeindlichen Schlussexkurs wird die Daseinsberechtigung ,der Juden‘ unter anderem auf die Gesetzesoffenbarung Gottes an ,ihren Vater‘ Moses zurückgeführt (vv. 5246-5263). 337 Insgesamt kommt so eine Wertschätzung der lex vetus - jedenfalls als Vorstufe zur lex nova - zum Ausdruck. 330 Vgl. dazu Städtler 2011, S. 106. 331 Bezugsrahmen dafür dürfte das in Philosophie und Theologie diskutierte Problem des Verhältnisses von göttlichem Willen und Vernunft (vgl. Städtler 2011 zu Thomas von Aquin) bzw. göttlichem Willen und Notwendigkeit (vgl. Dunthorne 2012 zu Anselm von Canterbury und Hugo von St. Viktor) sein. 332 S. dazu o. S. 164-167. 333 S. dazu o. S. 169-171. 334 Do schreib er die zen gebot / uf dem berge Synai / uwerem meister Moysi / an einer tafele steinin (vv. 1356-1359). 335 In Christi Hort (vv. 1663-1688) bleibt die Rede des Pilatus näher am Nikodemusevangelium , in Diu urstende ist die entsprechende Passage nicht aufgenommen. 336 Zwar liegt die Episode mit dem goldenen Kalb in der Vergangenheit, aber Pilatus suggeriert, dass sich die Missachtung der Gebote durch ,die Juden‘ bis in seine Gegenwart durchhielte (vv. 1319-1325). 337 S. dazu o. S. 163, auch zur Wertschätzung des durch die Beschneidung ausgedrückten Alten Bundes im Evangelium Nicodemi . Zur theologischen Vorstellung, dass die Beschneidung nach einer Übergangsphase von der Taufe abgelöst wurde, vgl. Gössmann 1964, S. 280 f. <?page no="265"?> 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? 265 Werkimmanent wird auf diese Weise deutlich, dass die e , auf die sich ,die Juden‘ beim Prozess gegen Jesus berufen (z. B. vv. 735; 1015-1017), nicht mit der alttestamentarischen Gesetzesoffenbarung gleichzusetzen ist. Das gilt auch für Diu urstende , wo die Anklagen, dass Jesus gegen das jüdische Gesetz verstoßen habe, ebenfalls großen Raum einnehmen (vgl. Diu urstende , z. B. vv. 268-270; 396-399). Wenn - in Anlehnung an das Nikodemusevangelium (cap. I 1) - ,die Juden‘ es Jesus zum Vorwurf machen, dass er Heilungen am Sabbat durchgeführt habe, dann beharren sie auf dem Buchstaben des (Zeremonial-)Gesetzes (vgl. Diu urstende , vv. 522-525; 620-628; Evangelium Nicodemi , vv. 738-749). 338 Dagegen argumentiert Pilatus mit ethischen Grundsätzen, wie sie am dezidiertesten in seiner Scheltrede in Diu urstende ausgedrückt sind: „ […] Jêsû, dem enwirt von mir dar umbe niht verteilet, daz er hilfet unde heilet. […] daz gerihte nieman tœten sol der niht übeles entuot. […] “ ( Diu urstende , vv. 510-517) Auch nach dem Evangelium Nicodemi , nach dem Pilatus schon vor Beginn des Prozesses darauf pocht, dass ein Unschuldiger nicht verurteilt werden dürfe (vv. 725-727), hält Pilatus die Heilungen am Samstag nicht für strafrechtlich relevant und erklärt es (im Gespräch mit den zwölfen) für Unrecht, dass Jesus wegen der von ihm vollbrachten ,guten Werke‘ 339 verfolgt wird (vv. 1027-1034). 340 In der klaren Positionierung des Heiden Pilatus kann man zuallererst Kritik an den formalen Wertmaßstäben ,der Juden‘ erkennen. Doch wird zugleich das Bild einer Gerichtsbarkeit entworfen, für die andere Grundsätze leitend sind: Obwohl gerade in Christi Hort (vv. 1327-1366) und im Evangelium Nicodemi (vv. 835-851) auch die politische Einbindung des Gerichts erläutert wird, scheint sich Pilatus (vor seinem Verhaltensumschwung) - ebenso wie die für die Wahrheit eintretenden Zeugen - an universellen ethischen Maßstäben (,gut‘ und ,böse‘) zu orientieren. Positiv gesetztes menschliches Recht ( lex humana ) kommt so gut wie nicht zur Sprache, ebenso wenig die Letztbegründung der ethischen Prinzipien, die man aber im christlichen Kontext in der lex naturalis vermuten darf. Auch für die Beurteilung des abschließenden Fehlverhaltens des Richters Pilatus werden in Christi Hort und im Evangelium Nicodemi allgemeine moralische Maßstäbe angelegt: Nach den Worten des Erzählers in Christi Hort hat Pilatus unrecht gericht (v. 4062) über Jesus getan; 341 im Evangelium Nicodemi wird er bei seiner Gefangennahme durch die Römer von ihnen als 338 Zum theologischen Hintergrund dieses Vorwurfs vgl. (in Bezug auf das Johannesevangelium ) Pancaro 1975, S. 9-52. 339 Vgl. Nikodemusevangelium , cap. II 6. Die Argumentation des Pilatus weist Parallelen zu der von Jesus in Io 10,31-33 auf (vgl. Gounelle / Izydorczyk 1997a, S. 138, Anm. 35). 340 Für Christi Hort kann man entsprechende ethische Handlungsmaßstäbe des Pilatus erschließen, wenn er Jesus aufgrund von dessen Heilungswundern gehen lassen will; allerdings wird hier sein Erschrecken vor der Göttlichkeit Jesu in den Vordergrund gestellt (vv. 1655-1657). 341 Ihn ereilt auch die Verdammnis der Seele (vv. 5292-5294), wie sie (nicht nur) im Schwabenspiegel als Strafe für unrechtes Richten vorgesehen ist; allerdings kommt bei der Pilatus-Figur in Christi Hort noch erschwerend die Sünde des Selbstmordes hinzu. <?page no="266"?> 266 5 Externe Bezugsfelder Feind des rehten (v. 4349) bezeichnet, wobei durch die parallel formulierte Beschimpfung als Gegner Gottes (v. 4348) 342 eine Identität von Gott und dem, was richtig ist, angedeutet sein mag. Zwar steht bei der Bestrafung des Pilatus nicht allein sein unrechtes Richten im Mittelpunkt - auf der Figurenebene ist der (daraus resultierende) Tod des Heilers Jesus ein auslösendes Moment (vgl. Christi Hort , vv. 5177-5184; Evangelium Nicodemi , vv. 4296-4309) -, aber es wird mit der Ahndung des falschen Richtens auch die Leistungsfähigkeit der irdischen Rechtsordnung demonstriert, die sogar mit dem Versagen Einzelner umgehen kann. Trotz der in allen drei Texten bestehenden Einbindung der Prozessszenen in politisch-kulturelle Zusammenhänge unterscheiden sich die nach den Kategorien von ,gut‘ und ,böse‘ ausgerichteten Urteilsmaßstäbe nicht substanziell von denen beim Jüngsten Gericht. Vielleicht ist die Präsenz ethischer Normen in den Prozessszenen der Kerntexte auch der Grund dafür, dass in Christi Hort die Sitte der Passah-Amnestie relativ ausführlich erläutert wird (vv. 1858-1875): Nach einer Aufzählung der schweren Vergehen des Barrabas wird erklärt, erst Pilatus habe die Freilassung von Gefangenen zu Passah eingeführt, um ,die Juden‘ zu ehren; vor ihm habe das kein Richter getan. 343 Der Abschnitt endet mit der Aussage, dass Pilatus Barrabas freigelassen hätte, wenn ,die Juden‘ darum gebeten hätten. Offenbar scheint die mögliche Freilassung des Schwerverbrechers Barrabas, die ethischen Normen widerspricht, dem Erzähler in hohem Maße rechtfertigungsbedürftig; jedenfalls ist der Verweis auf die consuetudo aus dem Nikodemusevangelium (cap. IX 1 [7,1 (G / I)]; vgl. Mt 27,15; Mc 15,6; Lc 23,17; Io 18,39) nicht einfach ins Deutsche übertragen. Der jährlichen Passah-Amnestie wird in Christ Hort noch nicht einmal der Status einer tradierten Rechtsgewohnheit zuerkannt, sondern sie wird auf die Entscheidung eines einzelnen Herrschenden zurückgeführt, worin im Kontext eines ,deutschrechtlich‘ geprägten Werkes eine Distanzierung spürbar wird. 344 Subkutan wird hier ein Konflikt zwischen lex naturalis und lex humana fassbar. Ebenso unterschwellig ist in Christi Hort die Interpretation der Passion Jesu als ,Konfliktfall‘ zwischen lex naturalis und göttlicher Offenbarung präsent: Wie im Nikodemusevangelium (cap. IV 3 f.) richtet Pilatus an Jesus die Frage, wie er mit ihm verfahren solle, und Jesus antwortet: wie es Pilatus bestimmt sei. Auf Nachfrage des Pilatus erläutert er, dass Moses und die Propheten seine Marter und Auferstehung vorhergesagt hätten; deshalb solle die Marter stattfinden (vv. 1613-1621). Nach dem Nikodemusevangelium fragen ,die Juden‘ daraufhin Pilatus, warum er sich die Blasphemie Jesu noch länger anhören wolle, und als dieser ihnen Jesus dann zur Bestrafung nach ihrer lex überlassen will, benennen 342 S. dazu o. S. 171. 343 Zu den Quellen s. o. S. 130, Anm. 395. 344 Die Trennlinien verlaufen hier anders als im Schwabenspiegel , wo - unter Einfluss des gelehrten Rechts - zwischen ,guten‘ und ,schlechten‘ Gewohnheiten unterschieden wird (s. o. S. 258 f.). Im ( Klosterneuburger ) Evangelienwerk wiederum wird (bezogen auf die Passah-Amnestie) das ,gesetzte Recht‘ über die gewonhait gestellt (s. u. S. 337 f.); in Der Kreuziger (vv. 6745-6774, zitiert nach Khull 1882) wird zunächst gesagt, dass von alters her ,die Juden‘ die Gewohnheit gehabt hätten, dass ihnen ein Gefangener freigelassen wurde, dass aber Beda gesagt habe, es geschehe nicht nach der ê gebot , sondern nach alter gewonhait , der sich auch die Römer zur Erinnerung an die Befreiung ,der Juden‘ aus Ägypten gebeugt hätten. Dass die Passah-Amnestie offenbar ein Provokationspotenzial birgt, lässt sich auch aus dem Evangelium Nicodemi (vv. 1285-1301) erschließen, wo sie ebenfalls als jüdische Sitte eingeführt wird, die mit großer Distanz geschildert wird: Pilatus hat davon nur gehört und will sie auf keinen Fall so umgesetzt sehen, dass Recht und Unrecht (also naturrechtliche Kategorien! ) verkehrt werden. <?page no="267"?> 5.3 reht und ê : Gottes Recht auf Erden? 267 sie zwar als die nach der lex vorgesehene Strafe dafür die Steinigung, formulieren aber trotzdem ihren Willen, dass Jesus gekreuzigt werden solle. Die Reaktion ,der Juden‘ in Christi Hort wird dagegen folgendermaßen beschrieben: ‘nu ho ͤ re die missewende,’ sprachen die juden an der stat, ‘war 345 selbe verjehen hat! was bedurf wir gezeuge me? du solt uns richten nach der ê.’ ( Christi Hort , vv. 1622-1626) ,Die Juden‘ reagieren hier auf Jesu Worte wie bei den Synoptikern (Mt 26,65; Mc 14,63 f.; Lc 22,71) in der Szene vor dem Hohen Rat: Sie halten aufgrund der Aussage Jesu weitere Zeugen für überflüssig. 346 Wenn sie Pilatus auffordern, er solle ihnen nach der ê zu ihrem Recht verhelfen, 347 so ist damit im Kontext der Stelle offensichtlich nicht die jüdische Rechtsordnung gemeint, sondern die von Jesus zuvor genannte alttestamentarische Offenbarung. 348 Der erzählerische Akzent dieser Szene liegt sicherlich auf der feindseligen Argumentation ,der Juden‘, die zudem vom Heiden Pilatus eine Berücksichtigung ihrer Heiligen Schrift verlangen, und auch darauf, dass sie unbewusst die Ablösung des Alten Bundes durch den Neuen Bund propagieren. In der Forderung ,der Juden‘ ist aber auch das Problem zugespitzt, dass der göttliche Heilsplan, wie er in den alttestamentarischen Prophezeiungen fassbar wird, einem ethisch korrekten Handeln des Richters Pilatus widerspricht. 349 Es dürfte kein Zufall sein, dass angesichts dieser Zuspitzung eine Reaktion des Pilatus (wie sie im Nikodemusevangelium und im Evangelium Nicodemi erfolgt) ausgespart ist. Im Evangelium Nicodemi werden die rechtlichen Paradoxien des Heilsgeschehen