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Geheimnis und Aufklärung

Die Darstellung von Verbrechen in deutschsprachigen Texten 1782-1855

0718
2016
978-3-7720-5594-2
978-3-7720-8594-9
A. Francke Verlag 
Markus Biesdorf

Die gängige Meinung, dass der moderne Krimi eine plötzlich auftauchende Erfindung zweier kreativer Köpfe sei, ist bei einer näheren Betrachtung bezweifelbar. Lange vor Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle beschäftigten sich auch deutschsprachige Autoren bereits mit unterschiedlichen literarischen Darstellungsmethoden von Verbrechen. Die Untersuchung entwickelt eigene grafische Analysemethoden und vermittelt so einen Blick auf die faszinierende Vielfalt der deutschsprachigen Verbrechensliteratur zwischen 1782 und 1855.

<?page no="0"?> Biesdorf Geheimnis und Aufklärung Markus Biesdorf Geheimnis und Aufklärung Die Darstellung von Verbrechen in deutschsprachigen Texten 1782-1855 Die gängige Meinung, dass der moderne Krimi eine plötzlich auftauchende Er ndung zweier kreativer Köpfe sei, ist bei einer näheren Betrachtung bezweifelbar. Lange vor Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle beschäftigten sich auch deutschsprachige Autoren bereits mit unterschiedlichen literarischen Darstellungsmethoden von Verbrechen. Die Untersuchung entwickelt eigene gra sche Analysemethoden und vermittelt so einen Blick auf die faszinierende Vielfalt der deutschsprachigen Verbrechensliteratur zwischen 1782 und 1855. ISBN 978-3-7720-8594-9 <?page no="1"?> Geheimnis und Aufklärung <?page no="3"?> Markus Biesdorf Geheimnis und Aufklärung Die Darstellung von Verbrechen in deutschsprachigen Texten 1782-1855 <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8594-9 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Umschlagcollage von Markus Biesdorf, unter Verwendung eines Gemäldes von Ludovike Simanowiz. Zugelassene Dissertation, Fachbereich II der Universität Trier, 2015 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis 1 Einführende Überlegungen 1 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Restriktive und extensive Betrachtungsweise der Verbrechensliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.3 Die Bewertung des literarischen Gegenstands . . . . 14 1.4 Stimmen der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.5 Erläuterung des eigenen Ansatzes . . . . . . . . . . . 27 2 Zwischen Distant Reading (Moretti) und Close Reading (Genette) 34 2.1 Erzählelemente der Verbrechensliteratur . . . . . . . 38 2.2 Der Stammbaum der Verbrechensliteratur . . . . . . 41 2.2.1 Die Verbrecherliteratur . . . . . . . . . . . . . 48 2.2.2 Die Kriminalliteratur . . . . . . . . . . . . . . 50 2.3 Überlegungen zur zeitlichen Entwicklung der verschiedenen Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . 55 2.4 Das Kriminalschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.5 Weiterführende Überlegungen zu Schönhaars Kriminalschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.5.1 Die zeitliche Gestaltung und die Ordnung . . 66 2.5.2 Die Fokalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.5.3 Die Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3 Überlegungen zu einzelnen Erzählelementen der Verbrechensliteratur 73 3.1 Whodunit : Das Verbrechen und die Figur des Verbrechers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.2 Whydunit : Das Motiv des Verbrechens und die Suche danach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.3 Das Opfer des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.4 Das Rätsel und der Leser als Teil der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 V <?page no="6"?> 3.5 Der Zufall und das Schicksal . . . . . . . . . . . . . . 89 3.6 Die Figur des Detektivs . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.7 Ein erster Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4 Vorformen der Verbrechensliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts 103 4.1 Frühe Formen der Verbrechensliteratur . . . . . . . . 103 4.2 Der Bezug zur antiken Tragödie . . . . . . . . . . . . 115 4.3 Moritaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4 Kriterien der Werkauswahl . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.5 Hinweis zur Farbgebung der grafischen Übersichten und zu den Siglen der Überschriften . . . . . . . . . 135 5 Formen und Facetten der Verbrecherliteratur 136 5.1 Einleitende Überlegungen zur Verbrecherliteratur . . 136 5.2 Die Verbrecherliteratur als Spiegel einer neuen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.3 Tragische Verbrechergeschichten: August Gottlieb Meißner - Skizzen (1778-1796) . . . . . . . . . . . . . 157 5.3.1 Der eigentliche Täter als Retter eines Unschuldigen: Die Stuzperükke (1784, Vf2) . . 164 5.3.2 Aufdeckung durch Geständnis: Mörder, nach Übereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Überzeugung, und dennoch unschuldig (1789, Vr3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.3 Der Richter als Opfer: Der blutige Jeßanack (1792, Vr5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.3.4 Transzendente Einflussnahme: Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten (1796, Vf2) . . . . . . . . . . . . . 175 5.4 Verbrechen als Ausdruck innerer Krisen: Johann Wolfgang von Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.4.1 Mord aus Eifersucht: Die Leiden des jungen Werther (1787, Vf1) . . . . . . . . . . . . . . 180 5.4.2 Die moralische Dimension von Verbrechen: Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung (1795, Vf1) . . . . . . . . . . . . . 185 VI <?page no="7"?> 5.5 Öffentliche Prozesse als Mittel der Aufklärung: Theodor Gottlieb von Hippel - Ein Beytrag über Verbrechen und Strafen (1797, Vr2) . . . . . . . . . . 191 5.6 Auf dem Weg zum modernen Rechtsstaat: Paul Johann Anselm von Feuerbach - Merkwürdige Verbrechen (1808-1849) . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.6.1 Moderne Formen der Forensik: Andreas Bichel, der Mädchenschlächter (1828, Vr4) . . . . . . 216 5.6.2 Von der „Ungeheuerlichkeit des Verbrechens“: Tartüffe, als Mörder (1828, Vr2) . . . . . . . 222 5.6.3 Whodunit : Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre (1829, Kr4) . . . . . . . . . 227 5.7 Poetische Darstellung einer Verbrecherin: Adelbert von Chamisso - Die Giftmischerin (1828, Vf1) . . . . . . . . . . . . . 237 5.8 Ausgestaltung eines bekannten Verbrechens in Novellenform: Franz Theodor Wangenheim - Marguerite Mercier (1846, Vr5/ Vf2) . . . . . . . . . 244 5.9 Ausblick auf die heutige Verbrecherliteratur: Ferdinand von Schirach - Verbrechen (2009, Vr5) und Schuld (2010, Vr5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.10 Erster Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 6 „Der andere Schiller“: auf der Suche nach neuen Textformen und Erzählstrukturen für eine Darstellung „menschlicher Irrungen“ 264 6.1 Aus der Perspektive einer Täterin: Die Kindsmörderin (1782, Vf1) . . . . . . . . . . . . 276 6.2 Weg des Verbrechens: Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte (1786) / Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786, Vr4) . . . . . . . . . . . . . . 280 6.3 Geheimnis ohne Aufklärung: Der Geisterseher (1786-1798, Kf3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6.4 Eine literarische Ausgestaltung: Schillers Pitaval (1792-1795) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 6.4.1 Konzepte der Verbrechensliteratur: Vorrede . 306 VII <?page no="8"?> 6.4.2 Aus der Perspektive eines Opfers: Das ungleiche Ehepaar (1795, Vr3) . . . . . . 309 6.5 Schillers Konzeption eines Krimi-Theaters: Die Fragmente Die Polizei und Die Kinder des Hauses (posthum 1805, Kf3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 6.6 Zweiter Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 7 Der „Beschwörer des Grässlichen“: Kleists Auseinandersetzung mit der Kriminalität 328 7.1 Unlauterkeit : Verbrechen aus moralischer Überzeugung - Familie Schroffenstein (1803, Kf1/ Kf3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 7.2 Gebrechlichkeit : Verbrechen aus Kontrollverlust und Probleme der Rechtsprechung - Der zerbrochene Krug (1806, Vf2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 7.3 Bösartigkeit : Moralische Grenzverletzung und eine Spurensuche - Der Zweikampf (1811, Kf1/ Kf3) . . . 349 8 Überlegungen zu den Voraussetzungen einer Kriminalliteratur 362 8.1 Aspekte der Schauerliteratur . . . . . . . . . . . . . 362 8.2 Die Veränderungen des Buchmarktes und der literarischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 8.3 Die Anfänge der modernen Forensik . . . . . . . . . 377 9 Strukturelemente des modernen Krimis 385 9.1 Rationale Aufklärung von Unheimlichem: E.T.A. Hoffmann - Das Fräulein von Scuderi (1819-1820, Kf1/ Kf3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 9.2 Kriminalfall im Schauerroman: J. Albiny - Die unheimlichen Gemächer in dem Schlosse Lovel, oder: Das enthüllte Verbrechen (1824, Kf2/ Kf3) . . . 400 9.3 locked room mystery : Laurids Kruse - Der krystallene Dolch (1823, Kf1/ Kf3) . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 9.4 Deduktive Auflösung eines Rätsels: Von Voltaires Zadig (1747, Kf3) zu Hauffs Abner der Jude, der nichts gesehen hat (1825, Kf3) . . . . . . . . . . 422 VIII <?page no="9"?> 9.5 Parodie der Verbrechensliteratur: August Graf von Platen Hallermünde - Die verhängnisvolle Gabel (1826, Kf1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 9.6 Anfänge der Forensik: Adolph Müllner - Der Kaliber (1828, Kf3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 9.7 Mord als zentrales Element: Karl von Holtei - Mord in Riga (1855, Kf3) . . . . . . . . . . . . . . . 463 10 Die Darstellung sozialer Probleme in der Verbrechensliteratur des Vormärz 481 10.1 Kombination von Verbrecher- und Kriminalliteratur: Anonym - Die Geheimnisse von Berlin (1844, Vf2/ Kf1/ Kf3) . . . . . . . . . . . . . . 490 10.2 Darstellung sozialistischer Überzeugungen in der Verbrecherliteratur: Ernst Dronke - Polizei- Geschichten (1846, Vf1/ Vr4) . . . . . . . . . . . . . 513 11 Zusammenfassung 534 12 Grafiken 547 12.1 Stammbaum der Verbrechensliteratur . . . . . . . . . 547 12.2 Beispiele für Titelblätter der true-crime -Literatur des 20. Jahrhunderts . . . . . . 548 13 Literaturverzeichnis 550 13.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 13.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 13.3 Bildbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 13.4 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 14 Bibliographie der deutschsprachigen Verbrechensliteratur (1650-1875) 587 Abbildungsverzeichnis 61 IX 2 <?page no="11"?> Danksagung Eine solche Arbeit, deren Entstehung sich über einen langen Zeitraum hinweg erstreckt, geschieht nicht ohne die tatkräftige Unterstützung vieler engagierter Personen und Einrichtungen, denen ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Ein ganz besonders herzlicher Dank gilt zuallererst Herrn Prof. Dr. Ulrich Port von der Universität Trier, der meine Promotion überhaupt erst möglich machte und mich von Anfang an tatkräftig in meinem Vorhaben unterstützte. Mit seinem fachlichem Rat stand er mir bei der Konzeption und während des gesamten Projektes stets zur Seite und half mir auch dabei, Mittel für die Finanzierung meiner Dissertation zu generieren. In dieser Sache danke ich auch ganz herzlich Herrn Prof. Dr. Hermann Kleber. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass meine Forschungen durch Gelder des Cusanuswerks und der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz gefördert wurden. Ein weiterer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Georg Guntermann, der sich direkt dazu bereit erklärte, meine Promotion als Zweitkorrektor zu begleiten und mit viel Interesse sowie wichtigen Anregungen an meinen Forschungen teilnahm. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle die großartige Unterstützung meiner Arbeit durch das Cusanuswerk. Besonders die promotionsbegleitenden Graduiertentagungen der Stiftung, die mir die Möglichkeit eröffneten, mein Dissertationsthema in einem größeren Rahmen vorzustellen und in einen regen Austausch mit Wissenschaftlern aller Fachbereiche zu treten, waren während dieser Zeit eine wichtige Stütze meiner Arbeit. Frau Dr. Christine Baro, die damalige Referentin des Cusanuswerks, stellte zudem den Kontakt zu Herrn Prof. Dr. Gerhard Lauer von der Georg-August-Universität Göttingen her. Herr Lauer gab mir wichtige Impulse zu der theoretischen Konzeption meiner Arbeit, weshalb ich auch diesen beiden Personen zu großem Dank verpflichtet bin. Dr. Manuel Ganser vom Cusanuswerk war mir als kompetenter Ansprechpartner stets eine wichtige und zuverlässige Stütze. <?page no="12"?> Ebenfalls möchte ich Herrn Dr. Joachim Linder und Herrn Mirko Schädel dafür danken, dass sie sich die Zeit nahmen, geduldig meine Fragen zu beantworten und mir während meiner Recherchen wichtige Hinweise auf mir noch unbekannte Werke gaben. Letztendlich ist aber nicht nur die fachliche Betreuung, sondern auch die familiäre Unterstützung überaus wichtig. Stets an meiner Seite sind meine Eltern Luzia und Hans-Dieter Biesdorf, die mich immer in allen Belangen meiner universitären Laufbahn aus vollen Kräften unterstützen. Ebenso danke ich ihnen für das geduldige Korrekturlesen meiner Arbeit, das auch meine Frau Imèn Gharbi mit großem Engagement übernahm. Ihr, sowie unserer gemeinsamen Tochter Zoé, danke ich zudem von ganzem Herzen für ihre große Geduld und die uneingeschränkte Unterstützung meiner Arbeit, besonders in der Abschlussphase meiner Promotion. Abschließend gilt ein herzlicher Dank der Stiftung Geschwister Boehringer Ingelheim, die die Drucklegung der Arbeit großzügig unterstützt haben. <?page no="13"?> 1 Einführende Überlegungen 1.1 Einleitung Im Rahmen einer Erzählstrukturanalyse von Schillers Werk „Der Geisterseher“ zeigte sich, dass die Erzählung an einer bestimmten Stelle eine verblüffende Nähe zur Deduktion einer Detektivfigur der modernen Kriminalerzählung aufweist. Nach weiteren Nachforschungen stellte sich heraus, dass auch in anderen Werken und Fragmenten des Autors eine auffällig intensive und vielfältige Auseinandersetzung mit der literarischen Darstellung von Verbrechen erkennbar ist. Nach einer ersten Sichtung der Sekundärliteratur wurde deutlich, dass die Forschungsbeiträge zur literarischen Darstellung des Verbrechens sich in ungewöhnlicher Weise auf die Zeit nach den ersten Entwürfen des modernen Detektivromans konzentrieren, dessen Entstehung frühestens in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts angesetzt wird. Ausgehend von diesem modernen Erzählkonzept wurde in den meisten Fällen die davor liegende Literatur als eine Sondergattung betrachtet, die, so die Aussage, fast ausschließlich aus auf realen Fällen beruhenden und für den juristischen Gebrauch konzipierten Texten bestand. Dabei vertritt ein Großteil der Forscher zwei Hauptthesen, die sich bereits nach einer ersten Sichtung der Primärtexte als bezweifelbar erwiesen. Zum einen geht man davon aus, dass es in den deutschsprachigen Ländern, anders als in den englisch- und französischsprachigen Ländern, keine intensive Auseinandersetzung mit der literarischen Darstellung des Verbrechens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben hat. Zum anderen lassen sich scheinbar keinerlei Verbindungen zwischen den ersten Vertretern des modernen Krimis und den frühen Darstellungsformen von Verbrechen herstellen. Begründet wird diese These meistens damit, dass die literarische Figur des Detektivs oder des Kriminalkommissars aus Gründen der nicht sehr weit fortgeschrittenen Entwicklung der Kriminologie zu dieser Zeit noch gar nicht existieren konnte. 1 <?page no="14"?> Dennoch gibt es durchaus Forschungsansätze, die die These vertreten, dass die lange Tradition der Verbrechensdarstellung in der Literatur nicht völlig losgelöst von den modernen Erzählkonzepten des Krimis zu sehen ist. Die vorliegende Arbeit schließt sich dieser These an und versucht aufgrund einer Betrachtung mehrerer Erzähltexte aus dem Bereich der Verbrechensliteratur einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten. Besonders die umfangreiche Bibliographie von Mirko Schädel 1 war bei der Suche nach Primärtexten hilfreich und ermöglichte es, weitere deutschsprachige Texte aufzuspüren, in denen das Thema Verbrechen einen zentralen Platz einnimmt. Mit Hilfe der Analyse- und Interpretationsmethoden von Gérard Genette und Franco Moretti wurde so zuerst der Inhalt auf einzelne Erzählstrukturelemente und grafische Übersichten reduziert, die unabhängig von jeglicher inhaltlicher Ausführung für alle Texte gültig sind, die ein Verbrechen literarisch darstellen. Darüber hinaus wurden die spezifischen Eigenheiten einzelner Texte in Anlehnung an das Konzept von Moretti in Form von Graphen und Diagrammen dargestellt, um die Forschungsergebnisse greifbarer zu machen. Mit diesen Analysemodellen konnte nun die große Zahl an Primärtexten, die sich bis dahin aus der Recherche ergeben hatte, strukturiert und ihre verschiedenen Erzählstrukturkonzepte voneinander unterschieden werden. Dabei stellte sich heraus, dass es in der deutschsprachigen Literatur zwischen den 80er Jahren des 18. und den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts eine intensive Auseinandersetzung mit der literarischen Darstellung des Verbrechens gegeben hatte, die sich an einer Vielzahl von Erzählkonzepten nachweisen lässt. Durch die Reduzierung auf einzelne Erzählstrukturelemente und die genaue Abgrenzung der verschiedenen Variationen der Verbrechensdarstellung voneinander konnten Einteilungskriterien gewonnen werden, mit denen die Texte widerspruchsfrei in einen großen Gesamtzusammenhang gestellt werden können, der den Bezug dieser Texte zur modernen Kriminalliteratur differenzierter beschreiben lässt. Der erste Teil der Arbeit widmet sich daher den theoretischen Aspekten. Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschungen zum 1 Schädel, Mirko: Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur 1796 - 1945 im deutschen Sprachraum. Unter Mitwirkung von Robert N. Bloch. Band I & II. Butjadingen: Achilla Presse Verlagsbuchhandlung, 2006. 2 <?page no="15"?> Thema Verbrechensdarstellung werden die neu gewonnenen Analysekonzepte und die teilweise veränderten Begriffsdefinitionen erläutert 2 . Sie sind die Grundlage für die ausgiebige Primärtextanalyse, die im zweiten Teil der Arbeit ausgeführt wird 3 . Dabei können alle Texte aufgrund der Beschreibungsmethoden in ihrer Verschiedenheit akzeptiert werden, ohne sie zwangsläufig als Vorläufer der Gattung der modernen Kriminalerzählung betrachten zu müssen. Ohne Zweifel gehört das Genre des Krimis heute zu einer der populärsten Literaturformen. Hier geht es um rätselhafte Verbrechen, Spannung bei der Aufdeckung und damit auch um denjenigen, der dem Opfer oder der Gesellschaft zur Seite steht, um den straffällig gewordenen Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen. Man begegnet dieser Form in den verschiedensten Ausprägungen und Medien. Doch wie sie sich entwickelt hat und welcher Tradition sie verpflichtet ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Denn nicht immer wurde das Verbrechen in dieser heute so verbreiteten Form dargestellt, vielmehr ist sie nur eine von vielen Darstellungsweisen, die Autoren im Laufe der Jahrhunderte nutzten, um einen schwierigen Bereich des menschlichen Zusammenlebens zu thematisieren. Dennoch ist sie heute die populärste Form der Verbrechensliteratur, auf die sich daher in den einschlägigen Untersuchungen mehr oder weniger stark bezogen wird. Die umfangreiche Forschung 4 zur literarischen Umsetzung dieses Themas erreichte ihren Höhepunkt in der Mitte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und lässt sich in zwei große Lager aufteilen, deren Grenzen mehr oder minder scharf gezogen werden können. Auf der einen Seite argumentieren Forscher unter dem literaturhistorischen Aspekt, dass die moderne Form des Krimis als eine Fortsetzung einer jahrhundertealten Tradition der literarischen Darstellung von Verbrechen betrachtet werden kann 5 . Dabei gehen sie 2 Siehe dazu Kapitel 2 und 3. 3 Siehe dazu Kapitel 5, 6, 7, 9 und 10. 4 Vgl. dazu die Darstellung bei Buchloh, Paul G.; Becker, Jens P.: Der Detektivroman. Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen Detektivliteratur. Darmstadt, 1978. S. 6-7. 5 Ebd., S. 06. 3 <?page no="16"?> in der Literaturgeschichte bis zu den Apokryphen der Bibel zurück 6 . Demgegenüber stehen die Vertreter der These, dass der moderne Krimi, der sich vor allem durch das Auftreten einer literarischen Figur auszeichnet, die einen verrätselten Kriminalfall durch rationales Handeln löst, entweder von Edgar Allan Poe 7 oder von Sir Arthur Conan Doyle 8 erfunden wurde. Oft wird dabei die Hypothese aufgestellt, dass ihre Erzählungen in keinem direkt nachweisbaren Zusammenhang mit älterer Verbrechensliteratur stehen. Denn besonders auffällig an den Erzählungen der beiden Autoren war das Auftreten dieser neuen literarischen Figur 9 . Somit lässt sich in der Forschung zur Verbrechensliteratur zwischen einem literaturhistorischen Ansatz und einem Ansatz unterscheiden, der hauptsächlich moderne Formen der Verbrechensdarstellung mit einbezieht. Buchloh und Becker weisen darauf hin, dass diese Gruppe vorwiegend von formalen Aspekten, die Vertreter des literaturhistorischen Ansatzes eher von thematischen Aspekten ausgeht 10 . Auf den ersten Blick fällt es leicht, den Vertretern der zweiten Gruppe zuzustimmen, denn die inhaltlichen und strukturellen Elemente eines Krimis sind selbst für Laien schnell zu benennen. In dieser Form, in der wir heute den Krimi kennen, wurden sie das erste Mal von Edgar Allan Poe so zusammengefügt. Hinzu kommt, dass sich 6 Vgl. dazu Kapitel 4. 7 Schönhaar, Rainer: Novelle und Kriminalschema. Ein Strukturmodell deutscher Erzählkunst um 1800. Berlin, Zürich: Verlag Dr. Max Gehlen, 1969. S. 35: „Historisch pflegt man den Beginn der eigentlichen Detektivliteratur exakt mit dem Erscheinen von Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue im Aprilheft der von ihm redigierten Zeitschrift Graham´s Lady´s and Gentleman´s Magazine vom Jahr 1841 anzusetzen.“ 8 Doyles erste Detektivgeschichte A Study in Scarlet (Eine Studie in Scharlachrot), in der Sherlock Holmes als Detektiv erschien, wurde 1887 im Magazin Beeton’s Christmas Annual als Titelgeschichte veröffentlicht. 9 Buchloh & Becker 1978, S. 07-08: „Die Literatur über Verbrechen und Gewalttaten ist so alt wie die geschriebene Literatur überhaupt, und es scheint, daß die literarische Darstellung des Bösen für Autoren und Leser stets faszinierender war als die Darstellung des Guten. Neu an der Detektivliteratur ist, daß im 19. Jahrhundert ein Held im Mittelpunkt der Erzählung steht heiße er Dupin, Cuff oder Holmes der imstande ist, dem Leser Rätselhaftes, Zusammenhänge, Vernachlässigtes logisch innerhalb eines ungeahnten Zusammenhangs zu erklären.“ 10 Ebd., S. 06. 4 <?page no="17"?> der Krimi dadurch auszeichnet, dass er auf einer recht simplen und festgelegten Form basiert, die leicht an jedes Publikum angepasst und mit den verschiedensten Inhalten gefüllt werden kann. Wie bei einem Märchen weiß der Leser ungefähr, was ihn strukturell und inhaltlich erwartet 11 . Meist gibt der Titel oder ein kurzer Text auf dem Umschlag Auskunft darüber, in welchem Bereich der Inhalt zu verorten ist und welches Zielpublikum angesprochen werden soll. Dadurch hat heute eigentlich jeder erwachsene Leser eine mehr oder weniger dezidierte Vorstellung davon, welche Elemente diese Literaturform konstituieren. Auf der anderen Seite war das literarische Schaffen Poes nicht völlig losgelöst von den damals aktuellen Strömungen. Vielmehr ist bekannt, dass er sich ganz ausdrücklich auf die europäische Literatur bezog 12 und eine besondere Vorliebe für die Werke E.T.A. Hoffmanns entwickelte, dessen Werk „Das Fräulein von Scuderi“ nicht ohne Grund für diese Arbeit von Bedeutung ist. Im Gegensatz zur deutschen Forschung, die der Darstellung von Verbrechen in der deutschsprachigen Literatur im 18. und 19. Jahrhundert nur wenig Platz einräumt, gibt es im englischen und französischen Kulturkreis eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dieser Literaturgattung, die auf umfangreichen Textanalysen basiert und ganz selbstverständlich Texte mit einbezieht, die nur in Teilaspekten auf den modernen Krimi bezogen werden können 13 . Die Besonderheit der französischen Forschung ist dabei, dass sie einen Zusammenhang zwischen der Etablierung einer wissenschaftlichen Denkweise und dem Aufkommen analytisch konzipierter Verbrechensliteratur herstellt 14 . Viel weniger Forschungsliteratur setzt sich mit diesem Thema 11 Die Werke Doyles bezeichnet Bloch sogar rückblickend als „Volkslied [...] mit einer fast archetypisch anmutenden Summe prekärer Situationen“. Vgl. dazu Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans.. In: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: Wilhelm Fink Verlag, 1971. S. 322-343. Hier: S. 325. 12 Buchloh & Becker 1978, S. 08: „Man ist leicht geneigt, mit Haycraft zu dekretieren: die Detektiverzählung beginnt mit Edgar Allan Poe, ohne zu bedenken, wie sehr Poe dem 18. Jahrhundert verpflichtet ist.“ 13 Ebd. 14 Ebd.: „Die Verankerung des Detektivromans in den geistigen Strömungen des 18. und 19. Jahrhunderts ist von Régis Messac und A. E. Murch hinlänglich bewiesen worden.“ Interessant ist die Annahme Messacs, dass das dritte Kapitel des Zadig die erste bekannte Detektivgeschichte ist und sich die 5 <?page no="18"?> in der deutschen Literatur auseinander und nur wenige zeigen dabei eine literaturhistorische Entwicklung dieses Erzählkonzeptes auf 15 . Erst im 20. Jahrhundert engagierten sich unter anderem Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt wieder für eine wissenschaftliche und unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Krimi und seiner Kultur, doch weitgefasste literaturhistorische Betrachtungen sind rar 16 . Insgesamt scheint sich die deutsche Literaturforschung nur ungern diesem Thema zuzuwenden. Von einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akzeptanz als Forschungsthema ist man, im Gegensatz zu Frankreich und England, zudem weit entfernt. Aber was wäre, wenn man nachweisen könnte, dass schon bekannte Autoren wie Goethe, Schiller, Kleist und Adalbert von Chamisso sowie eine große Zahl unbekannter deutschsprachiger Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts sich mit dem Verbrechen auf literarischer Ebene auseinander setzten? Was wäre, wenn man belegen könnte, dass praktisch alle literarischen Darstellungsweisen von Verbrechen aus dem 18. Jahrhundert auch heute noch existieren und sich besonders in der filmischen Umsetzung großer Beliebtheit erfreuen? Was wäre, wenn man einzelne Elemente des modernen Krimis schon in deutschsprachiger Literatur bis 1855 nachweisen könnte? Müsste die Geschichte des Krimis neu geschrieben werden? Natürlich nicht - und noch viel weniger soll dieser Ansatz dazu führen, diese Literaturform „aufzuwerten“, wie es einige Forscher befürchten. So gibt es kritische Stimmen, die die Einbeziehung von Anfänge des Detektivromans kausal mit der ‚pensée scientifique‘ und dem Fortschrittsgedanken verbinden lassen. Ebd., S. 06-07: „Aber nur wenige Kritiker können Messac hier folgen [...].“ Siehe dazu Kapitel 9.4. 15 So sieht beispielsweise Rainer Schönhaar als einer der wenigen Forscher in seiner Studie über die Novelle des 19. Jahrhunderts und ihre Verbindung zur modernen Kriminalliteratur im Konzept der frühen juristischanthropologischen Verbrecherliteratur einen Zusammenhang mit der analytischen Aufklärung im modernen Krimi. Schönhaar 1969, S. 64: „Man könnte Methode und Absicht der Causes célèbres daher als einen Versuch verstehen, der Doppelbödigkeit, der sie gelten, durch ‚Aufklärung‘ in des Wortes allgemeiner wie spezifisch kriminalistischer Bedeutung entgegenzuwirken.“ 16 Neben den Darstellungen von Schönhaar und Schädel muss an dieser Stelle unter anderem auf wissenschaftliche Abhandlungen zu diesem Thema von Hans-Otto Hügel, Joachim Linder und Alexander Košenina hingewiesen werden, die ebenfalls einen literaturhistorischen Ansatz verfolgen. 6 <?page no="19"?> Werken wie Kafkas „Prozess“ oder Dostojewskis „Schuld und Sühne“ als eine künstliche Aufwertung des Genres bezeichnen, da sie „keineswegs auch nur im entferntesten Kriminalromane sind“ 17 . Auch Gerber betont im ersten Satz seiner theoretischen Ausführungen, dass es „unser Ziel nicht sein [soll], den Kriminalroman als eine wertvolle literarische Gattung zu etablieren“ 18 und fügt fast entschuldigend hinzu: „Aber der Kriminalroman verdient kritische Betrachtung als eine Romanform [...].“ 19 Trifft man nicht auf die Ablehnung der Idee, dass sich die Entwicklung des modernen Kriminalromans auf frühere literarische Entwicklungen zurückführen lässt, so wird zumindest der Wert dieser Werke herabgesetzt 20 . Daher verfolgt diese Arbeit den Ansatz, sich zwar stets auf diese erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erblühende Form der Verbrechensdarstellung zu beziehen, aber losgelöst von einer zu starken Fixierung auf diese ganz spezielle Form der Kriminalliteratur einen auf der Basis moderner Methoden der Literaturanalyse basierenden und möglichst weit gefassten Blick auf die literarische Darstellung von Verbrechen im Zeitraum zwischen 1778 und 1855 zu werfen. 17 Schädel I, S. 08. Diese Einschätzung ist richtig, aber nicht klar definiert. Beide Erzählungen sind bei genauer Betrachtung dem Bereich der Verbrecherliteratur zuzuordnen. Gerber weist auf solche Fehleinschätzungen hin, die meist aus einem nicht ausreichend differenzierten Begriffsgebrauch resultieren. Vgl. dazu Gerber, Richard: Verbrechensdichtung und Kriminalroman. In: Vogt 1971 (II), S. 404-420. Hier: S. 406-407. 18 Vogt 1971 (II), S. 404. 19 Ebd. 20 Berger, Alice und Karl Heinz: Vorwort. In: Doyle, Arthur Conan: Die Abenteuer von Sherlock Holmes. Sämtliche Sherlock-Holmes-Erzählungen I. Übersetzt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Alice und Karl Heinz Berger. Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1988. S. 05-36. Hier: S. 19-20: „Aber es bleibt im Grunde nur ein müßiges Spiel, das mit solcher Genealogie zum höheren Ruhm des Krimis getrieben wird, indem man etwa auf den antiken Muttermörder Orest als Ahnen verweist oder sich mit Dostojewskis Raskolnikow aus dem Roman ‚Schuld und Sühne‘ schmückt, den übrigens Thomas Mann in Verkennung des Genres ‚den größten Kriminalroman der Weltliteratur‘ genannt hat. [...] Das muss verstanden werden, wenn das vorgestellte Geschehen mehr vermitteln soll als die simple Erkenntnis, daß im Klassenstaat das Verbrechen seit eh und je existiert und interessiert hat - womit nichts gewonnen wäre, auch nichts in bezug [sic] auf eine mögliche Ahnenreihe des ‚Krimis‘.“ 7 <?page no="20"?> Um dies leisten zu können und nicht Gefahr zu laufen, Vorläufer des modernen Krimis entdecken zu wollen, müssen zuerst Modelle entwickelt werden, mit denen widerspruchslos sämtliche Texte, die das Verbrechen thematisieren, miteinander verglichen werden können. Dabei müssen die verschiedenen Darstellungsmethoden auf ihre Erzählstruktur reduziert werden, um stets in der Analyse Inhalt von den Darstellungsmethoden trennen zu können. So können Entwicklungen von Erzähltechniken und einzelnen Strukturelementen nachvollzogen werden und ihre Existenz unabhängig von einer speziellen Spielart nachgewiesen werden. Durch die Reduzierung auf den kleinsten gemeinsamen inhaltlichen Nenner, der Darstellung von Verbrechen, ergeben sich bei einem historischen Blick so Zusammenhänge auf inhaltlicher wie auch struktureller Ebene. Dadurch wird vermieden, dass die Beschreibungen der Texte zu stark von einer subjektiven Vorstellung des Begriffs „Krimis“ geprägt sind, denn viele Forscher gehen bei ihren Untersuchungen zuerst von ihrer persönlichen Vorstellung des optimalen Krimis aus. Dabei spielt es eine große Rolle, ob man mit Sherlock Holmes, Hercule Poirot, Maigret oder Wachtmeister Studer sozialisiert wurde. Gerade die häufig zitierte Blaupause von Doyle kann bei näherer Betrachtung keiner wissenschaftlichen Analyse standhalten, denn abseits der bekannten Erzählungen um Sherlock Holmes finden sich viele Strukturexperimente, die zeigen, wie breit gefächert die Darstellungsmethoden bei Doyle sind. Gerber weist darauf hin, dass teilweise von einem zu vereinfachten Modell der Detektivgeschichte ausgegangen wird. Dabei wird konsequent die Meinung vertreten, dass drei Aspekte diese Form charakterisieren: Das Verbrechen, das für viele stets ein Mord sein muss, wurde schon begangen, der Täter ist unbekannt und der Detektiv klärt aufgrund seiner überragenden Kombinationsgabe den Fall auf. Hierbei weist Gerber zurecht darauf hin, dass die erste Geschichte, in denen Holmes und Watson gemeinsam auftreten 21 , keine dieser Aspekte erfüllt. Im Vergleich mit anderen Erzählungen ist es vielmehr so, dass eine enorme erzählerische Vielfalt nachweisbar ist 22 . Die so häufig bemängelte Formenarmut des modernen Krimis scheint sich also erst im 20. Jahrhundert etabliert zu haben, Doyles 21 Doyle, Arthur Conan: A Scandal in Bohemia. (1891) 22 Vgl. Gerber 1971, S. 408 ff. 8 <?page no="21"?> Experimente spiegeln dagegen eine ganz unerwartete Darstellungsvielfalt wider, deren Ursprung erklärt werden muss. Die Diskussion über den modernen Krimi tendiert teilweise dazu, diese Form nicht in ihrer ganzen Breite zu sehen und nur die auffälligsten Merkmale, wie das Vorkommen einer Detektivfigur oder die Verrätselung, in den Vordergrund zu stellen. Doch woher stammen diese Strukturelemente? Sind sie wirklich erst das Produkt einer industrialisierten Gesellschaft mit einem neu strukturierten Polizeiapparat, der ab dem 20. Jahrhundert auf moderne Methoden der Forensik zurückgreifen konnte? Ist die Herstellung der sozialen Ordnung, die von vielen als das zentrale Handlungsmotiv des Detektivs gesehen wird, nicht auch ein zentraler Wunsch der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen also zuerst die wissenschaftlichen Rahmenbedingungen eindeutig festgelegt werden, die die Grundlage der folgenden Auseinandersetzung mit dem Thema sein sollen. Es gilt somit zuerst zu klären, in welchen Zusammenhang ein moderner Krimi mit Verbrechensliteratur des 18. Jahrhunderts gesetzt werden kann. Dafür müssen eindeutige Begriffe definiert werden, welche sich nicht auf eine spezielle Textsorte beziehen und sämtliche Texte, die sich inhaltlich mit dem Verbrechen auseinandersetzen, mit einschließen. Dies lässt sich übersichtlich mit Hilfe eines Baumdiagramms leisten 23 . Sodann müssen diese sich daraus ergebenden Variationen genauer auf ihre Erzählstruktur untersucht werden. Es gilt herauszuarbeiten, wie Inhalt und Struktur sich in den verschiedenen Entwürfen gegenseitig bedingen und welche Elemente schließlich den modernen Krimi konzipieren, unabhängig vom inhaltlichen Schwerpunkt des jeweiligen Textes 24 . Schlussendlich soll die Primärtextanalyse belegen, wie sich die einzelnen Erzählelemente und Darstellungsweisen entwickelt haben könnten, denn vieles von dem, was erst von Poe und dann von Doyle zu dem bekannten Format zusammengestellt wurde, findet sich schon früher, wenn auch in anderem Zusammenhang und weniger ausgeprägt. So kann gezeigt werden, dass die Darstellung von Verbrechen im gewählten Zeitraum dieser Arbeit einen kaum vorstellbaren Fundus an Formen und Inhalten bietet und die Autoren sämtliche Darstellungsmöglichkeiten des 23 Vgl. dazu Kapitel 2.2. 24 Vgl. dazu Kapitel 3.1 - 3.6. 9 <?page no="22"?> Inhaltes nutzen, entweder um zu lehren oder zu unterhalten, oder um beides kreativ miteinander zu verbinden. Es soll damit aufgezeigt werden, dass es im deutschen Sprachraum des 18. und 19. Jahrhunderts eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Erzählstoffgab, die mit ihren Konzepten auf wichtige literarische und gesellschaftliche Fragen einging und sich für soziale Gerechtigkeit stark machte. Keineswegs soll damit versucht werden, dem Detektivroman das „spezifisch Angelsächsische abzusprechen“ 25 , denn die Entwicklung im deutschsprachigen Raum ist durchaus als eigenständig anzusehen. Es geht also nun auf Spurensuche: Wie ein guter Detektiv muss man dafür zuerst seine Techniken und Hilfsmittel zurecht legen, Gedankengänge entwickeln, sie überprüfen und schließlich Thesen aufstellen, die sich nur an der Wirklichkeit, also in der direkten Textarbeit, überprüfen lassen 26 . Nur mit den so gewonnenen Indizien und Beweisen kann man dem Phantom auf die Spur kommen, das es doch eigentlich gar nicht geben soll der Tradition einer deutschen Verbrechensliteratur. 1.2 Restriktive und extensive Betrachtungsweise der Verbrechensliteratur Wie schon in den einführenden Überlegungen erwähnt, lässt sich die Forschung zu den verschiedenen Spielarten der Verbrechensliteratur 27 in zwei große Gruppen unterteilen. Die eine Gruppe vertritt 25 Buchloh & Becker 1978, S. 08. 26 Schädel I, S. 08: „Das Bibliographieren ist eine spezielle Wissenschaft und erinnert zuweilen an die Arbeit eines Detektivs. Man forscht und sucht nach Spuren von Büchern, man klassifiziert, realisiert und spekuliert. Man findet neue Ansätze und forscht auf Grundlage dieser Ansätze weiter. Solange, bis man die Gewißheit hat, daß das Buch existiert oder existierte, daß es sich auch tatsächlich um ein Buch des Genres handelt usw. Diese Arbeit ist ein mühsames Geschäft, die aber immer wieder lohnend und spannend ist, denn es ist schon sehr befriedigend, den ‚Fall‘ gelöst zu haben, um sich mit dem nächsten Fall beschäftigen zu können.“ 27 Damit soll jede Art von Literatur bezeichnet werden, die schwerpunktmäßig ein Verbrechen thematisiert, egal in welchem Umfang, aus welcher Perspektive und mit welchen erzählerischen Mitteln. Vgl. dazu Kapitel 2.2. 10 <?page no="23"?> Abb. 1: Titelblatt des Magazins Beeton´s Christmas Annual, in dem 1887 die erste Erzählung Doyles mit Sherlock Holmes als Hauptfigur erschien. den Ansatz, dass es bis zum Erscheinen von „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ 28 im Jahr 1841 nur eine sehr sporadische und meist beruflich motivierte Auseinandersetzung mit dem Thema in der Literatur gab, deren Vertreter die auf realen Fällen beruhenden Erzählungen nur in geringem Umfang literarisch ausgestalteten. Da die Vertreter dieser Gruppe keinerlei Beziehungen zwischen den frühen Konzepten der Verbrecherliteratur und denen des modernen Krimis herstellen, soll diese restriktive Betrachtungsweise als „Urknall-Theorie“ bezeichnet werden, da Poes Erzählkonstrukt scheinbar wie aus dem Nichts auftauchte 29 . Innerhalb dieser Gruppe gibt es nochmals zwei Untergruppen, von denen die Vertreter der einen die drei Detektiverzählungen von Poe 30 als den Ursprung des modernen Krimis bezeichnen. Die Vertreter der anderen Gruppe dagegen betrachten erst die knapp 50 Jahre später erschienenen Erzählungen rund um Sherlock Holmes als Urform der Gattung, da erst Doyle die Form ausbaute, perfektionierte und ihr damit zu ihrem literarischen Erfolg verhalf 31 . 28 Poe, Edgar Allan: The Murders in the Rue Morgue. (1841). 29 Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München: C. H. Beck´sche Verlagsbuchhandlung, 1990. S. 27: „Ahnherr aller literarischen Detektive ist der Chevalier Dupin, der noch gar nicht wußte, daß er ein ‚Detektiv‘ war. Die eigentliche Geschichte des Kriminalromans muß also mit Edgar Allan Poe anfangen. Die Entstehung der neuen Literaturgattung war kein allmählich ablaufender Prozeß; es gab kein vorsichtiges Abtasten einer neuen Erzähltechnik, kein Theoretisieren über neue Intentionen des Erzählers. Poes erste Detektivgeschichte erschien mit einem Paukenschlag, und das Publikum horchte überrascht auf.“ 30 Poe, Edgar Allan: The Murders in the Rue Morgue. (1841), The Mystery of Marie Rogêt (1842) und The purloined letter (1844). Schon auf der ersten Seite des Manuskripts von Poes The Murders in the Rue Morgue hob der Autor das Wort „analysis“ durch einen Unterstrich hervor. 31 Alewyn, Richard: Die Anfänge des Detektivromans. In: Žmegač, Viktor 11 <?page no="24"?> Poe ist das Verdienst zuzuschreiben, als erster Autor mehrere inhaltliche und strukturelle Aspekte so miteinander verbunden zu haben, dass sie eine neue Erzählform ergaben. Er muss mit Blick auf die spezifische Erzählstruktur durchaus als der Vater des Detektivromans gesehen werden, sodass der Ursprung der Literaturform aus dieser Perspektive mit der Veröffentlichung der Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ angesetzt werden muss. Buchloh und Becker weisen zurecht darauf hin, dass diese Betrachtungsweise dem Thema keineswegs gerecht wird, da es nur unwahrscheinlich eine „Schöpfung ex nihilo“ 32 sein kann, die sich von so vielen literarischen Strömungen dieser Zeit, besonders von denen der deutschen Romantik, lossagt. Zudem schließen die Vertreter der restriktiven Betrachtungsweise nur einen kleinen Teil der Verbrechensliteratur in die Betrachtungen mit ein, da sie sich hauptsächlich am Auftreten einer (Detektiv)figur im Text orientiert, die die rationale Deduktion übernimmt. Ebenso werden als typische Merkmale der Gattung die spezielle Ordnung, das Auslegen falscher Spuren sowie die Verrätselung der Handlung angeführt, an deren Auflösung der Leser aktiv teilnehmen kann. Die andere Gruppe sieht in der modernen Form des Krimis eine (Hrsg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt a. M.: Athenäum Verlag, 1971. S. 185-202. Hier: S. 186: „Nach allgemeiner Ansicht ist der Detektivroman nicht viel mehr als ein Jahrhundert alt. Der Amerikaner Edgar Allan Poe gilt für den Entdecker seiner Formel und seine Murders in the Rue Morgue [...], 1841 erschienen, für das klassische Muster der Gattung. Ihren Triumphzug trat sie allerdings erst fünfzig Jahre später unter der Führung von Sherlock Holmes an, des von Conan Doyle in London kreierten Meisterdetektivs.“ 32 Buchloh & Becker 1978, S. 08: „Der Detektivroman, dessen eigentlichen Beginn wir im England und Amerika des 19. Jahrhunderts festsetzen, ist andererseits keine Schöpfung ex nihilo, und so kommen die Literaturhistoriker zu ihrem Recht. Man ist leicht geneigt, mit Haycraft zu dekretieren: die Detektiverzählung beginnt mit Edgar Allan Poe, ohne zu bedenken, wie sehr Poe dem 18. Jahrhundert verpflichtet ist. Die Verankerung des Detektivromans in den geistigen Strömungen des 18. und 19. Jahrhunderts ist von Régis Messac und A. E. Murch hinlänglich bewiesen worden. [...] Es fehlt nicht an Versuchen, dem Detektivroman das spezifisch Angelsächsische abzusprechen. Wir sind uns bewußt, daß es eine reiche Tradition des französischen Detektivromans gibt-Boileau und Narcejac geben in ihrem sehr guten Buch Der Detektivroman einen Eindruck davon [...].“ 12 <?page no="25"?> Entwicklung aus einer wesentlich weitreichenden Auseinandersetzung mit dem Thema. Dieser Ansatz sucht frühe Formen der Verbrechensdarstellung in der gesamten Literaturgeschichte, wie beispielsweise in den Apokryphen der Bibel, und betont die Tatsache, dass die Form des Krimis nur eine der vielen Spielarten der Verbrechensliteratur darstellt, deren literarisches Gewicht durch ihre quantitative Verteilung oftmals überbewertet wird. In dieser Gruppe lassen sich diejenigen Ansätze, die bis in die frühste Literaturgeschichte zurückgehen, von denjenigen unterscheiden, die das verstärkte Aufkommen der Verbrecherliteratur im 18. Jahrhundert als den Beginn der Genese der modernen Kriminalliteratur betrachten. Dabei werden vor allem die „Causes célèbres et intéressantes“ des französischen Rechtsgelehrten François Gayot de Pitaval als Initialzündung einer weitreichenden literarischen Auseinandersetzung mit diesem Thema angenommen. Abb. 2: Titelblatt der überarbeiteten Ausgabe des ersten Bandes der Causes célèbres et intéressantes aus dem Jahr 1738. In seinen Werken, die in den Jahren zwischen 1734 und 1743 erschienen und ursprünglich für Rechtsgelehrte konzipiert waren, berichtet der Jurist von ausgefallenen realen Rechtsfällen. Seine Darstellungen fanden großen Anklang und schon bald ein über die fachlich motivierten Leser hinausreichendes Zielpublikum, das nicht müde wurde, nach neuen Folgen dieser Werke zu verlangen. Diese Nachfrage beeinflusste im Verlauf der neun Jahre, in denen sie von Pitaval verfasst wurden, dessen Darstellungsmethoden, die eine immer stärkere Literarisierung erkennen lassen. Sein Konzept fand bis ins 20. Jahrhundert viele Nachahmer und im 19. Jahrhundert gab es kaum ein öffentliche Bibliothek, die keinen der sogenannten „Pitavals“ in ihren Beständen führte. Die Vertreter dieser Gruppe legen damit ihren Argumentationen eine extensive Betrachtungsweise zugrunde, die einen großen Fundus an Texten mit einbezieht 33 . Dabei wird grundsätzlich die 33 Weitere dieser Texte werden in Kapitel 4 dargestellt. 13 <?page no="26"?> Darstellung von Verbrechen als gemeinsames Merkmal der Untersuchungen zugrunde gelegt. Die vorliegende Arbeit bezieht sich somit auf die Thesen der Vertreter der zuletzt genannten Gruppe. Dabei ist die Grundannahme, auf der alle weiteren Ausführungen aufbauen, dass in der nachweisbaren Literarisierung der juristischanthropologischen Verbrecherliteratur auch in der deutschsprachigen Verbrechensliteratur der Grundstein für die erzählerische Gestaltung der ab Beginn des 19. Jahrhunderts aufkommenden Kriminalliteratur gelegt wurde. Zudem wird zu zeigen sein, dass diese frühen Konzepte des 18. Jahrhunderts keineswegs vollkommen in Vergessenheit geraten sind und noch heute ein treues Publikum haben. 1.3 Die Bewertung des literarischen Gegenstands Widmet man sich der literarischen Darstellung von Verbrechen in der Literatur auf wissenschaftlicher Ebene, so begegnen einem nicht nur die angesprochenen Probleme einer zu strikten Trennung zwischen den Konzepten der modernen Kriminalliteratur und den früheren Formen der Verbrechensliteratur, sondern teilweise eine oftmals nicht ganz wertfreie Bewertung des Gegenstands. Schon seit dem 18. Jahrhundert kämpft die Verbrechensliteratur mit einigen Vorurteilen, welche sowohl den Gegenstand als auch die Art der Darstellung betreffen. Schiller hält bereits 1792 in seinem Essay „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“ bezüglich der damaligen Entwicklung der Unterhaltungsliteratur fest, dass sich die Verfasser von Beginn an gegen den Vorwurf wehren mussten, dass die „auf unser Vergnügen abzielende Bestimmung“ der Werke „sie erniedrige“ 34 . Dass er diese Aussage auf dem Höhepunkt seiner eigenen 34 Schiller, Friedrich: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: ders.: Schillers Sämtliche Werke. 11. Band. Stuttgart: Cotta’scher Verlag, 1862. S. 346-361. Hier: S. 346: „Wie sehr auch einige neuere Ästhetiker sichs zum Geschäft machen, die Künste der Phantasie und Empfindung gegen den allgemeinen Glauben, daß sie auf Vergnügen abzwecken, wie gegen einen herabsetzenden Vorwurf zu verteidigen, so wird dieser Glaube dennoch, nach wie vor, auf seinem festen Grunde bestehen, und die schönen Künste werden ihren althergebrachten, unabstreitbaren und wohltätigen Be- 14 <?page no="27"?> literarischen Auseinandersetzung mit dem Verbrechen formulierte, kommt nicht von ungefähr 35 . Doch nicht nur dieses, bereits Ende des 18. Jahrhunderts formulierte Problem der unterhaltenden Literatur schwingt heute bei der Ablehnung gegenüber der Darstellung dieses Themas mit. In seinem „Offenen Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘ “ 36 (1937), der sich auf Ausführungen des Schriftstellers Stefan Brockhoffzu diesem Thema bezog, bringt Friedrich Glauser 50 Jahre nach der ersten Erzählung um Sherlock Holmes die Probleme des modernen Krimis und die der allgemeinen Wahrnehmung desselben auf den Punkt. Durch das Spielerische, das in ihm steckt, ist der Kriminalroman verwandt mit seinem salonfähigeren Bruder, der sich kurzweg „Roman“ nennt und darauf Anspruch erhebt, zu den Kunstwerken zu zählen. Und diese Kunstwerke wurden gelesen, bis sie Kunstprodukte wurden, künstliche Produkte. [...] Und weil der Roman die Spannung als unkünstlerisch verwarf, erlebte der verachtete Bruder, der Kriminalroman, jenen Erfolg, der ihn in den Augen gewisser Leute zum Parvenü stempelt. [...] Denn: der Kriminalroman hat von allen Eigenschaften, die den Roman ausmachen, einzig die Spannung beibehalten. [...] Und freiwillig verzichtet er auf das Wichtigste: das Darstellen der Menschen und ihres Kampfes mit dem Schicksal. 37 Nicht nur die Konzepte der Verbrechensliteratur standen seit jeher in der Kritik, auch der Inhalt wurde durchaus misstrauisch aufgenommen, obwohl (oder vielleicht besonders da) sich die Werke einer ruf nicht gern mit einem neuen vertauschen, zu welchem man sie großmütig erhöhen will. Unbesorgt, daß ihre auf unser Vergnügen abzielende Bestimmung sie erniedrige, werden sie vielmehr auf den Vorzug stolz sein, dasjenige unmittelbar zu leisten, was alle übrigen Richtungen und Tätigkeiten des menschlichen Geistes nur mittelbar erfüllen.“ 35 Zu diesem Problem äußerte sich Schiller mehrfach. Siehe dazu Kapitel 6. 36 Glauser, Friedrich: Offener Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘. In: ders. (Autor); Echte, Bernhard (Hrsg.): Gesprungenes Glas. Das erzählerische Werk Band IV: 1937-1938. Zürich: Limmat Verlag, 1993. S. 213-221. 37 Ebd., S. 214-215. 15 <?page no="28"?> großen Beliebtheit beim Publikum erfreuten 38 . Dabei war dieses literarische Thema in früherer Zeit durchaus salonfähig 39 und diente nicht nur der reinen Unterhaltung. Die Leser der Verbrechensliteratur pflegen vielmehr eine beinahe archetypische literarische Vorliebe, denn auch die Leser der modernen Verbrechensliteratur „absolvieren die alten Schrecken, die ehedem durch Mythen und große Dichtung abgeleitet wurden, [aber] in leichter bekömmlichen Dosen. Sie genießen jene Erregungen, die von speziellen Extremsituationen des Lebens ausgehen, ohne sie am eigenen Leib erfahren zu müssen.“ 40 Damit sind sie vor allem „keine potentiellen Verbrecher, wie vor Jahrzehnten eine inzwischen widerlegte Kulturkritik fürchtete“ 41 . Diese recht absurde Idee wurde beispielsweise von Alewyn formuliert 42 . 38 Platen-Hallermünde, August Graf von: Die verhängnißvolle Gabel. Ein Lustspiel in 5 Akten. Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta´sche Buchhandlung, 1826. S. 52: „Genire dich nicht! thu was der Instinkt dir gebietet! Man metzelt in neuen Tragödien auch schlechtweg, nach kurzer Versuchung.“ Siehe dazu Kapitel 9.5. Vgl. dazu auch Berger 1988, S. 18: „Der Kriminalfall als Gegenstand der Unterhaltung, als Möglichkeit, sich von den Sorgen des Lebens ablenken zu lassen? Es hat nie an Stimmen gefehlt, die den ‚Krimi‘ von moralischen Positionen aus attackierten, die sein Ziel, durch das Verbrechen und seine Aufklärung Spannung und Vergnügen zu erzeugen, als makaber denunzierten, die ihm einen literarischen Eigenwert absprechen zu können glaubten. Ihnen gegenüber steht die große und, wie es scheint, ständig wachsende Schar der Liebhaber dieses Genres, aus der sich immer wieder Befürworter finden, die auf die lange und große Tradition der Kriminal-Literatur hinweisen, die bis zu den griechischen Mythen und zur Bibel zurückzuverfolgen sei.“ 39 Foltin, Hans-Friedrich: Nachwort. In: Meißner, August Gottlieb: Kriminal- Geschichten. 10 Teile in einem Band. Mit einem Nachwort von Hans- Friedrich Foltin. Nachdruck der Ausgabe Wien 1796. Hildesheim, New York: Olms Presse, 1977. S. 533-563. Hier: S. 553: „...Wilhelm Hauffbezeichnete in seiner ‚Controverspredigt‘ gerade die Kriminalgeschichte als jenes schriftstellerische Produkt Meißners, dessen Lektüre man in guter Gesellschaft nicht verschweigen müsse.“ 40 Vormweg, Heinrich: Detektiven auf der Spur. Eine kritische Revue neuer Kriminalromane. In: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: Wilhelm Fink Verlag, 1971. S. 300-307. Hier: S. 300. 41 Ebd. 42 Alewyn 1971, S. 187: „Umgekehrt haben es die Leser von Detektivromanen nicht nötig, Verbrecher zu werden, da ihnen ihre Lektüre ermöglicht, sich ihrer schlummernden kriminellen Instinkte auf unschuldige und unschädliche 16 <?page no="29"?> Manche gehen diesbezüglich sogar so weit, dass sie dem modernen Krimi erzieherische Elemente zuschreiben 43 . Die Gründe für diese Ablehnung liegen interessanterweise ebenfalls in einer oberflächlichen Betrachtung der literarischen Tradition dieses Inhaltes, die sich seit dem 18. Jahrhundert etabliert hat. Die große Zahl an minderwertigen Veröffentlichungen, die sich durch inhaltliche Banalität und eine überaus einfach gestrickte Erzählstruktur „auszeichnen“, überdeckt die Tatsache, dass das Thema eine große inhaltliche Darstellungsvielfalt und eine ganze Bandbreite an Formen zulässt, von denen der Detektivroman, den Herbert Singer als „hochformalisiert, an klare Kompositionsschemata und strenge Regeln gebunden“ 44 beschreibt, oft nur einige wenige nutzt. Obwohl die feste Struktur sicherlich als genrebestimmend gesehen werden kann, ist der Autor immer noch derjenige, der mit der geschickten Konstruktion des Aufbaus, der Personenkonzeption und dem Integrieren einer über sich hinausweisenden Realität durchaus seine literarischen Qualitäten unter Beweis stellen kann. Damit erinnert diese spezielle Form schon beinahe an mittelalterliche und barocke Erzählstrukturen, die ebenfalls „hochformalisiert“ und an „strenge Regeln“ gebunden waren, in der jeweiligen individuellen Umsetzung aber eben aufgrund der formalen Beschränkungen die Größe des Autors erkennen ließen. Somit dürfen nicht die kommerziellen Aspekte und die Lesererwartung mit den Möglichkeiten dieser Erzählstruktur verwechselt werden, die scheinbar durch die Produkte ganzer Horden mittelmäßiger Schriftsteller in Vergessenheit geraten sind 45 . Weise zu entledigen. Der Leser des Detektivromans wird also der gleichen Katharsis unterzogen wie der Zuschauer der griechischen Tragödie.“ 43 Weber, Ingeborg: Der englische Schauerroman. Eine Einführung. Mannheim: Artemis & Winkler Verlag, 1991. S. 133: „Was Erziehung vermag, ist, einzuüben in Angstbewältigung, und ein Mittel dieser Einübung war von jeher die Literatur - Märchen für Kinder, Gothicnovel, Vampirliteratur und Gespenstergeschichten, Science fiction, Western- und Kriminalromane für Erwachsene.“ 44 Zitiert nach Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essays. Frankfurt a. M.: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1975. S. VII. 45 Glauser Offener Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘, S. 216: „Die Handlung eines Kriminalromans läßt sich in anderthalb Seiten gut und gerne erzählen. Der Rest - die übrigen hundertachtundneunzig 17 <?page no="30"?> Der schlechte Ruf der Verbrechensliteratur wurde in gewisser Weise durch die Verfasser mit selbst begründet. Dies lässt sich sowohl bei einem der wichtigsten Vertreter der frühen fiktiven Kriminalliteratur am Ende des 18. Jahrhunderts ebenso wie bei einem dem wichtigsten Vertreter der modernen Detektivliteratur nachweisen. So bezeichnete Schiller seinen „Geisterseher“ teilweise als „sündlichen Zeitaufwand“ und „Schmiererei“ 46 . Doyle bedauert 1918 in einem Brief an Vincent Starrett, dass die Erzählungen um seinen berühmten Meisterdetektiv „einen guten Teil meines ernsthafteren Werkes verdunkelt hat“ 47 . Damit stehen zwei wichtige Vertreter der modernen Verbrechensliteratur ihren Werken durchaus skeptisch gegenüber - eine Bewertung, die die Kritik verinnerlicht zu haben scheint. Schulz-Buschhaus bemerkt treffend, dass Trivialität stets nur durch eine historische Analyse zu identifizieren ist, die den einzelnen Text auf seine Relation zu anderen Texten hin analysiert 48 . Dies kann durchaus auch in Bezug auf die Darstellung eines Themas angewandt werden. Erst wenn man die inhaltlichen und strukturellen Umsetzungen der Darstellung von Verbrechen in einen historischen Vergleich mit der Darstellung anderer Inhalte setzt, kann die vermeintliche Trivialität dieses Themas belegt werden. Dass es bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts außer den 1929 entstandenen Überlegungen Messacs kaum solche weitgefassten Betrachtungen dieser Literaturgattung gab, trug in nicht unerheblichen Maße dazu bei, dieses Vorurteil zu pflegen, denn die Idee eines „schock- und stoßweisen Vollzugs“ 49 der Entwicklung einer Gattung spricht nicht unbedingt für ihre literaturhistorische Bedeutung. Es stimmt sicherlich nicht, dass seit den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution die „literarische Trivialität nicht mehr als fixes Attribut einzelner Themen und Stile Schreibmaschinenseiten - sind Füllsel. Es kommt nun darauf an, was man mit diesem Füllsel anstellt.“ 46 Schiller, Friedrich: An Körner. 17. März 1788. In: ders. (Autor); Fricke, Gerhard (Hrsg.): Briefe. München: Carl Hanser Verlag, 1955. S. 165-166: „Der Geisterseher, den ich eben jetzt fortsetzte, wird schlecht schlecht, ich kann nicht helfen.“ 47 Berger 1988, S. 05. 48 Vgl. Schulz-Buschhaus 1975, S. IX. 49 Ebd., S. X. 18 <?page no="31"?> definierbar“ 50 ist. Selbst die Tatsache, dass die meisten dieser Texte bewusst als Unterhaltungsliteratur konzipiert wurden, ist keineswegs Grund für deren generelle literarische Minderwertigkeit 51 . Dabei gab es auch Vertreter der sogenannten „hohen Literatur“, die sich bezüglich des modernen Krimis durchaus positiv äußerten. Brecht sieht im Lesen von Kriminalromanen eine intellektuelle Beschäftigung, die beim Leser logisches Denken voraussetzt und die diese literarische Form in die Nähe des Kreuzworträtsels rückt 52 . Gerade die Denkaufgabe verschafft dem Leser, ebenso wie dem handelnden Detektiv, intellektuellen Genuss 53 . Dabei ist diese charmante Einschätzung der literarischen Qualität im Zusammenhang durchaus nicht abwertend gemeint. Brecht erkennt in der Variation „mehr oder weniger festgelegter Elemente“ trotzdem ein ästhetisches Niveau, was für ihn „eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs“ 54 ist. Besonders interessant ist seine Feststellung, dass „nicht die Handlungen aus den Charakteren, sondern die Charaktere aus den Handlungen entwickelt werden“ 55 . Damit bezieht er sich hauptsächlich auf die Texte, die der Schule von Poe und Doyle verpflichtet sind. Hierbei ist es besonders die Annäherung an den wissenschaftlichen Standpunkt, die diese Form vom eher introspektiven psychologischen Roman abgrenzt, so Brecht. Für ihn erzeugt die Beobachtung der handelnden Menschen und die Tatsache, dass sie, im Gegensatz zum wirklichen Leben, Spuren hinterlassen, eine Art Beruhigung und Befriedigung, denn „das Leben der atomisierten Masse und des kollektivisierten Individuum unserer Zeit verläuft spurlos“ 56 . Ebenso verweist er in Bezug auf den Inhalt auf die Tatsache, dass der Mensch oft nur aus Katastrophen lernt. Er informiert sich darüber in Zeitung, Fernsehen, 50 Schulz-Buschhaus 1975, S. IX. 51 Buchloh & Becker 1978, S. 04: „Auch bei eingehender Analyse soll nie vergessen werden, daß die Detektivliteratur vornehmlich der Unterhaltung dient und dienen will, wobei man auch ohne genaueste Definition durchaus zwischen guter und schlechter Unterhaltungsliteratur unterscheiden kann.“ 52 Brecht, Bertolt: Über die Popularität des Kriminalromans. In: Vogt 1971 (II), S. 315-321. Hier: S. 315. 53 Ebd., S. 318. 54 Ebd., S. 316. 55 Ebd., S. 317. 56 Ebd., S. 318. 19 <?page no="32"?> oder damals eben im Pitaval, und „der Geist geht auf Patrouille“ 57 und sucht nach den Ursachen, Hintergründen und anderen Erklärungen, wie die dargestellte Situation entstanden ist. Obwohl damit auf die bekannten W-Fragen eines journalistischen Artikels angespielt wird, liegt der Reiz der modernen Kriminalliteratur darin, dass der Leser nun selbst forschen und anhand der Informationen, die ihm der Autor zu Verfügung stellt, eigene Schlussfolgerungen ziehen kann, damit er am Ende die Ergebnisse seiner intellektuellen Arbeit mit denen des Detektivs messen kann. Doch diese Integration des Lesers und seine geistige Aktivierung hat eine längere literaturhistorische Tradition, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Vor dem Hintergrund dieser Aspekte ist es durchaus eine Rechtfertigung des Forschungsthemas, dass man sich mit der Bewertung des Inhaltes auseinandersetzt, denn die Werke, die einem solchen Projekt zugeordnet werden können, verdienen scheinbar keine weitere Beachtung. Bisher mangelt es teilweise an einer wertfreien Beurteilung des literarischen Bereichs der Verbrechensliteratur, wie Lits feststellt 58 . Er betont, dass viel genauer auf das einzelne Werk geschaut werden muss, statt eine ganze Gattung als unwürdig für die literarische Analyse zu erklären. Somit ist die Auseinandersetzung mit der Bewertung teilweise eine Erklärung für die mangelhafte Differenzierung innerhalb der Forschungsliteratur. Damit stehen bisher drei Probleme einer differenzierten Betrachtung der Verbrechensliteratur im Weg: der fehlende literaturhistorische Bezug, eine dem Thema geschuldete Formenarmut und eine vermeintliche Trivialität des Themas. Auch wenn der Vorwurf der Trivialität in den meisten Fällen durchaus zutrifft, so darf er nicht analog auf die Gesamtheit der Verbrechensliteratur angewendet werden. Denn durch die gängige Konzentration 57 Brecht 1971, S. 321. 58 Lits, Marc: Le roman policier: introduction à la théorie et à l´histoire d´un genre littéraire. Deuxième édition complétée. Bibliographie revue et mise à jour (1998). Liège: Éditions du Céfal, 1999. S. 07: „Est-il encore nécessaire de justifier auprès du lecteur le choix du roman policier comme objet d´analyse ? En effet le roman policier, à l´instar d´autres genres paralittéraires, n´a pas toujours été reconnu (ne mérite pas encore de l´être diront certains), par les diverses instances de légitimation du champ littéraire : critiques, histoires littéraires, institutions universitaires, manuels scolaires... C´est à la fois vrai et faux.“ 20 <?page no="33"?> der Forschung auf die modernen Formen der Verbrechensliteratur entgeht den Untersuchungen ein großer Teil der Bandbreite des Themas. Die Darstellung von Verbrechen muss nämlich nicht nur der Unterhaltung dienen, vielmehr können damit anschaulich gesellschaftliche, moralische und juristische Fragen verknüpft werden, die auch über den individuell dargestellten Fall eine allgemeingültige Bedeutung haben. Schopenhauer bemerkte daher treffend: „Kriminalgeschichten und Beschreibungen anderer anarchischer Zustände muß man lesen, um zu erkennen, was, in moralischer Hinsicht, der Mensch eigentlich ist.“ 59 Die Autoren, die sich im 18. und 19. Jahrhundert mit dem Thema des Verbrechens in der Literatur auseinandersetzten, nutzten diesen Stoff, um eben solche Fragen aufzuwerfen und um Lösungsvorschläge anzubieten. Dies lässt sich selbst in den Werken nachweisen, die eindeutig Produkte der damaligen Vielschreiber sind. Inzwischen gibt es eine immer größere Zahl an modernen Krimis, die sich ebenfalls wieder solchen Fragen zuwenden, sie aber, anders als die damalige Verbrechensliteratur, eher am Rande behandeln. 1.4 Stimmen der Forschung Vergleicht man die Forschungsansätze zur deutschsprachigen Verbrechensliteratur mit derjenigen zu englisch- und französischsprachigen Werken, so lässt sich feststellen, dass der Problematik der vermeintlichen Trivialität des Themas außerhalb des Forschungsbereiches der deutschsprachigen Texte wesentlich differenzierter begegnet wird und die Frage nach der Trivialität daher anders beantwortet werden kann 60 . Gerber kommt beispielsweise durch seine zu starke Kon- 59 Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlage der Moral. In: Schopenhauer, Arthur (Autor); Löhneysen, Wolfgang Frhr. von (Hrsg.): Sämtliche Werke. Band 3: Kleinere Schriften. Berechtigte Sonderausgabe, 2., überprüfte Auflage, reprografischer Nachdruck der 1. Auflage 1961. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968. S. 725. 60 Buchloh & Becker 1978, S. 03: „Eine stringente Definition der Detektiverzählung ist trotz vieler Versuche nach inhaltlichen oder formalen Kriterien bis heute nicht gelungen und wird auch bei der Vielschichtigkeit des Genres kaum gelingen können. Die englische und französische Kritik kennen diesen Zwang zur Definition nicht in dem Maße wie die deutsche Kritik, die auch auf diesem Gebiet nach einer perfekten Aussage strebt. Die von der 21 <?page no="34"?> zentration auf simpel gestaltete Krimis zu der Feststellung, dass „der Kriminalroman seinem Wesen nach minderwertig ist und immer minderwertig bleiben wird“ 61 , denn sein zentrales Motiv ist ausschließlich die „Jagd“. Dem stellt er die von ihm so bezeichnete „Verbrechensdichtung“ gegenüber, die „nach dem Ursprung, der Wirkung und dem Sinn des Verbrechens und damit nach der Tragik der menschlichen Existenz“ fragt 62 . Schönhaar sieht in der scheinbar begrenzten Form der modernen Kriminalliteratur den Grund dafür, dass die Werke dieser Literaturgattung weder als Kunstwerk, noch als triviales Gebrauchsschrifttum bezeichnet werden können 63 . Gerber und Schönhaar bieten aber eine erste Differenzierung innerhalb der Verbrechensliteratur an und verweisen darauf, dass es zwei verschiedene große Strömungen gibt. Gerber entwirft dafür das Gegensatzpaar „Kriminalroman - Verbrechensdichtung“, Schönhaar die Gegenüberstellung von „Kriminalerzählung - Detektiverzählung“. Damit bezeichnen beide Autoren den grundlegenden Unterschied, ob innerhalb des Textes das Verbrechen oder die Aufdeckung desselben in den Vordergrund gestellt wird 64 . Die Gegenüberstellung der beiden problematischen Begriffspaare ist dabei durchaus programmatisch für die gesamte deutschsprachige Forschung zu diesem deutschen Kritik so gern gestellte Frage, ob Detektiverzählungen „Literatur“ oder „Trivialliteratur“ seien, wird in der englischen Kritik nur am Rande gestreift (und schon früh, etwa von Chesterton, ironisch behandelt).“ 61 Gerber 1971, S. 414. 62 Ebd. 63 Schönhaar 1969, S. 34-35: „Gegenüber diesem weiten Spielraum sind der Sondergattung ‚Detektivgeschichte‘ wegen ihres streng gefügten Formschemas engere Grenzen gesteckt. Dabei erfreut sie sich einer mittleren Wertschätzung, die sie weder als Kunstwerk gelten noch auf die unterste Stufe trivialen Gebrauchsschrifttums absinken lassen will.“ 64 Ebd., S. 35: „Für unser Vorhaben hat die gattungstheoretische Unterscheidung von Kriminalerzählung und Detektiverzählung vor allem ein Verdienst: sie erlaubt es, von der unverschlüsselten Verbrechergeschichte abzusehen und alle Aufmerksamkeit auf die strenger gefügte Detektivgeschichte und deren Erzählschema zu richten. Weiter aber führt diese Unterscheidung nicht, denn innerhalb der Gattung Detektivgeschichte bleibt man auf Bereiche an der unteren Grenze der hohen Literatur und darunter verwiesen; daß man es hier in der Tat eher mit einem künstlichen als mit einem künstlerischen Gebilde zu tun hat, bestätigen selbst die beredtesten Anwälte seiner literarischen Geltung: ‚Der Detektivroman bleibt ein Laboratoriumsprodukt‘.“ 22 <?page no="35"?> Thema zu sehen. Es fehlt an eindeutigen Begriffen, um die Vielzahl an Texten der Verbrechensliteratur widerspruchslos klassifizieren zu können. So nennt Gerber das „Kriminalroman“, was Schönhaar als „Detektiverzählung“ bezeichnet. Das, was für Schönhaar aber die „Kriminalerzählung“ ausmacht, ist Kern dessen, was Gerber unter dem Begriff „Verbrechensdichtung“ versteht. Dabei kommt Schönhaar dennoch das Verdienst zugute, dass er als einer der wenigen Forscher explizit darauf hinzuweist, dass die Verwendung des Begriffs „Roman“ in diesem Zusammenhang für weitere Schwierigkeiten und Missverständnisse sorgt. Zudem reichen diese Bezeichnungen bei weitem nicht aus, all das mit einzuschließen, was die Verbrechensliteratur an Variationen bereithält. Die englische Forschung bietet dahingegen ganze elf Unterscheidungsmöglichkeiten, die allein innerhalb der sogenannten „crime fiction“ verschiedene Spielarten kategorisieren 65 . Eine solche Differenzierung kann durchaus auch auf deutschsprachige Literatur bezogen geleistet werden. Die deutschsprachige Diskussion hat sich meistens auf den Unterschied zwischen dem Kriminal- und dem Detektivroman konzentriert 66 , doch wie genau diese Begriffe voneinander unterschieden werden und welche Werke den beiden Bereichen zugeordnet werden können, darüber gehen die Meinungen auseinander. Warum stellt die deutsche Forschung zudem in Bezug auf den modernen Krimi oft nur den Bezug zu Formen wie der Schelmenliteratur, den Räuberromanen oder literarischem Schund her, währenddessen die englische Forschung unprätentiös den Rätselaspekt hervorhebt und damit eine ganz andere literarische Tradition in den Vordergrund stellt 67 ? Reu- 65 Buchloh & Becker 1978, S. 04: „Was der deutsche Durchschnittskonsument unter dem Namen ‚Krimi‘ kennt, ist ein komplexes Phänomen, das sich im Englischen unter einer Vielzahl von Namen verbirgt [...].“ Buchloh und Becker zählen insgesamt elf verschiedene Unterscheidungsmöglichkeiten auf, welche nach sehr unterschiedlichen Aspekten differenzieren. Vgl. dazu Ebd., Fußnote 6: Insgesamt elf verschiedene Bereiche innerhalb der crime fiction werden von den Herausgebern des „Cumulated Fiction Index“ genannt. 66 Ebd., S. 05. 67 Ebd., S. 06: „An dieser Stelle ist der Unterschied zu den Definitionen in deutschen Lexika aufschlußreich. In Deutschland wird der Detektivroman als eine Unterabteilung des Kriminalromans gesehen und dabei auf die ‚Schelmenliteratur‘, die ‚Räuberromane‘, die ‚Schundliteratur‘ und die ‚Trivialliteratur‘ verwiesen - während für zwei führende englische Detektivromanautoren die 23 <?page no="36"?> ter schätzt die Rolle der französischsprachigen Literatur zwischen 1850 und 1900 hoch ein und erklärt den „roman policier“ als eine gemeinschaftliche literarische Entwicklung der drei Länder Frankreich, England und den USA 68 . Warum sollte sich die deutschsprachige Literatur diesem Thema und seinen verschiedenen Darstellungen in dieser Zeit verschlossen haben? Die Uneinigkeit über die Beantwortung dieser Fragen zeigt sich in der Konzeption mancher Forschungsliteratur. Ein wichtiges deutschsprachiges Werk zum Thema ist beispielsweise die Aufsatzsammlung von Jochen Vogt 69 aus den 70er Jahren, in der teilweise sehr unterschiedliche und kontroverse Aufsätze zur Kriminalliteratur kommentarlos nebeneinander präsentiert werden. Allein dieser Umstand weist einerseits auf die Problematik der Argumentationen hin, die bei näherer Betrachtung nicht den wissenschaftlichen Anforderungen standhalten, auf der anderen Seite aber auch wieder auf die Tatsache, dass die Vielschichtigkeit der Erklärungsansätze gleichzeitig eine Vielseitigkeit der literarischen Ausführungen widerspiegelt. Gleiches gilt für eine weitere wichtige Aufsatzsammlung zum Thema, die ebenfalls aus den 70er Jahren stammt und von Viktor Žmegač zusammengestellt wurde 70 . Es finden sich in diesen Sammlungen unter anderem die bekannten Beiträge zum Thema von Sayers, Alewyn oder Gerber, die in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert werden. In Deutschland lassen sich nur wenige Untersuchungen herausstellen, welche aktuell umfassender die Entwicklung der Darstellung von Verbrechen und Kriminalfällen im 18. und 19. Jahrhundert betrachten. Oftmals erschöpft sich dieses Thema in kleineren Beiträgen, wie beispielsweise die Aufsätze von Alexander Košenina zu Fallgeschichten sowie zum Mord in Goethes „Werther“ 71 oder die Detektiverzählung in ihrer Definition (mit einem zeitlichen Abstand von 20 Jahren) als eine Unterabteilung der Rätselliteratur erscheint! “ 68 Reuter, Yves: Le roman policier. Paris: Nathan, 1997. S. 09: „On peut donc dire, à partir de ce survol très schématique, que le roman policier naît véritablement sur un demi-siècle entre la France, l´Angleterre et les États-Unis.“ 69 Vogt 1971 (I) & (II). 70 Žmegač 1971. 71 Košenina, Alexander; Röcke, Werner; Schütz, Erhard; Stephan, Inge; Martus, 24 <?page no="37"?> Arbeiten von schon erwähnten Autoren wie Hans-Otto Hügel, Joachim Linder, Rainer Schönhaar, Mirko Schädel und einigen weiteren. Daher muss an geeigneter Stelle auf die wesentlich differenzierteren Betrachtungen der Entwicklung in der französisch- und englischsprachigen Literatur von Kathrin Ackermann, Paul Buchloh und Jens Becker, Pierre Boileau und Thomas Narcejac, Marc Lits, Ernest Mandel, Régis Messac, Alma Elizabeth Murch oder Ulrich Schulz- Buschhaus zurückgegriffen werden, um verschiedene Aspekte der literarischen Entwicklung dieses Inhaltes zu erklären, die nicht nur außerhalb des deutschsprachigen Raums stattfand. Dabei hat jedes dieser Werke seine Vor- und Nachteile. Beispielsweise enthält das Werk von Mandel 72 einige wichtige Aspekte zu den Vorläufern der Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts, orientiert sich aber stark an marxistischen Ideen. Seine Ausführungen zeigen damit auf der anderen Seite, dass das Thema viel Platz für Sozialkritik lässt, in diesem Fall die Kritik an sozialen Unterschieden der Rechtsprechung und die Auswirkungen der kapitalistischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert auf die Organisation des Verbrechens. Das modernste und immer wieder überarbeitete deutschsprachige Überblickswerk stammt von Peter Nusser 73 , der sich ebenfalls stark auf die verschiedenen Spielarten der modernen Kriminalliteratur konzentriert und alle weiteren Formen der Verbrechensliteratur mehr oder weniger von seinen Erläuterungen ausschließt. Dabei trennt er zudem die Sammlungen im Stile Pitavals begrifflich wiederum ganz anders von der fiktiven Verbrecherliteratur 74 und sucht die Vorläufer Steffen (Hrsg.): Zeitschrift für Germanistik. Heft 2/ 2009, XIX. Jahrgang. Schwerpunkt: Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion. Bern (CH): Peter Lang, 2009. Vgl. dazu auch Košenina, Alexander: Es ‚ist also keine dichterische Erfindung‘: Die Geschichte vom Bauernburschen in Goethes ‚Werther‘ und die Kriminalliteratur der Aufklärung. In: Frick, Werner; Golz, Jochen; Meier, Albert; Zehm, Edith (Hrsg.): Goethe Jahrbuch 2007. 124. Band der Gesamtfolge, S. 189-197. Bern (CH): Peter Lang, 2009. 72 Mandel, Ernest: Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans. Aus dem Englischen übersetzt von Nils Thomas Lindquist. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1987. 73 Nusser, Peter: Der Kriminalroman. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler, 2009. 74 Ebd., S. 79: „Es ist eindeutig, dass diese Sammlungen ihren Erfolg dem öffentlichen Interesse am Verbrechen und seiner Verfolgung verdankten. 25 <?page no="38"?> der Erzählform ausschließlich im nicht-deutschsprachigen Raum 75 . Nusser formuliert zwei grundlegende Unterhaltungsmechanismen, die sich eindeutig nur auf die trivialen Umsetzungen innerhalb der Kriminalliteratur beziehen. Auf der einen Seite wird der Leser durch eine vorübergehende Problematisierung des Gewohnten unterhalten, wobei das Gewohnte als Ausgangs- und Endlage bestehen muss, damit der Leser die Abweichung als lustvoll erlebt 76 . Nusser bezeichnet dies als „Wechselspiel zwischen Stimulierung von Angst und Sicherheitsversprechen“ 77 und hebt den „Reizhunger bzw. die Angstlust des Kulturmenschen“ 78 hervor. Der zweite grundlegende Unterhaltungsmechanismus ist nach Nusser die Bindung des Lesers an den Helden, in diesem Fall den Detektiv, wobei er hervorhebt, dass sich das Identifikationsobjekt deutlich vom Leser abheben muss, damit es zur Zielscheibe von Projektionen werden kann 79 . Allerdings muss er selbst zugeben, dass viele Varianten des Detektivromans und besonders die Neuansätze in der Kriminalliteratur aufgrund kritischer und aufklärerischen Intentionen 80 sich einer solchen Definition entziehen. Des Weiteren vertritt er die problematische Meinung, dass der Detektivroman eher von höheren sozialen Schichten, der Thriller dagegen eher von niedrigen sozialen Schichten gelesen wird 81 . In keinem Fall können die geistigen Fähigkeiten unabdingbar mit der sozialen Klasse verknüpft werden. Dies soll zeigen, wie absurd und subjektiv teilweise die Argumentation in diesem Bereich sein kann. Die lebendige Diskussion zu diesem Thema, die auch zaghaft in Deutschland Ende der 60er Jahre bis in die Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts stattfand, ist längst verebbt. Selbst wenn immer Ihre fiktionalen Entsprechungen fanden sie in der mit der Kriminalliteratur konkurrierenden Verbrechensliteratur (s. Kap. 1.1.1). Diese hat eine lange europäische Tradition und fand seit Ende des 18. Jh.s. auch in Deutschland einige Höhepunkte [...]. Ihre Behandlung bleibt hier ausgeklammert (s. Kap. 1.1.1).“ 75 Nusser 2009, S. 80-84. 76 Ebd., S. 168-169. 77 Ebd., S. 169. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 169-170. 80 Ebd., S. 170. 81 Ebd., S. 168. 26 <?page no="39"?> wieder einige neue Forschungsergebnisse zu diesem Thema publiziert werden, die sich meist auf einen ganz speziellen Aspekt innerhalb der Darstellung konzentrieren 82 , so wurden wichtige Fragen in dieser Zeit und danach noch nicht beantwortet. 1.5 Erläuterung des eigenen Ansatzes Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Definitionen von Kriminalliteratur im weiten und der Detektivliteratur im engeren Sinne ist für die vorliegende Fragestellung unumgänglich. Problematisch ist hierbei, dass die Verwendung der Bezeichnungen und die Argumente, die der jeweiligen Argumentation zugrunde gelegt werden, recht unterschiedlich sind und, wie schon angesprochen, auf einer subjektiven und persönlichen Vorstellung vom „perfekten“ Krimi beruhen. Dennoch sollen die teilweise konträren Ansichten nicht bloß als Hindernis, sondern vielmehr als Fingerzeig verstanden werden, dass die Darstellung von Kriminalfällen in der Literatur viele verschiedene Bereiche berühren kann. So lassen sich soziologische, psychologische und literaturgeschichtliche Erkenntnisse auf der inhaltlichen Seite gewinnen und strukturelle Entwicklungen der erzählenden Literatur, unter besonderer Betrachtung bestimmter Textgattungen, herausarbeiten. Hinzu kommt, dass die meisten Veröffentlichungen sich nur sporadisch mit den Vorläufern des modernen Krimis auseinandersetzen und so eine Analyse der Werke sich häufig auf spätere Darstellungsformen des Verbrechens konzentriert, was dem Thema keineswegs gerecht wird. Dennoch verwendet auch diese Arbeit häufig den Begriff „moderner Krimi“. Der Begriffsoll für all die Kriminalliteratur stehen, die in Tradition von Poe und Doyle einen verrätselten Kriminalfall mit einem personengebundenen rationalen dénouement auflöst und den Leser über das Rätsel aktiv in den Leseprozess mit einbezieht. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass der moderne Krimi die letzte große Entwicklung im Bereich der 82 So zum Beispiel das Werk von Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2006. 27 <?page no="40"?> Verbrechensdichtung war. Die weit gefasste Definition des modernen Krimis ist dabei absichtlich so gestaltet, denn es geht an dieser Stelle um Werke, die vor dem Entstehen dieser Form verfasst wurden. Dabei soll einerseits vermieden werden, dass sich zu stark auf diese spezifische Form der Kriminalliteratur bezogen wird, auf der anderen Seite soll es verdeutlichen, dass dieser Bereich ein ganz eigener und in vielen Teilen von dem hier vorliegenden Ansatz losgelöstes Forschungsgebiet ist. Dennoch ist ja die Grundannahme dieser Arbeit, dass die einzelnen Erzählstrukturelemente, die Poe und Doyle schließlich zu einer neuen Form zusammenfügten, alle bereits vorher in anderen Strukturen und Formen existierten, manche sogar schon seit Jahrhunderten. Um dies leisten zu können, müssen also die einzelnen Elemente des modernen Krimis in ihrer Erzählfunktion abstrahiert und analysiert werden, was im Kapitel „Überlegungen zu einzelnen Erzählelementen der Verbrechensliteratur“ 83 versucht wird. Nicht nur die Abstraktion der verschiedenen Erzählelemente muss geleistet werden, sondern auch eine unmissverständliche Klassifizierung sämtlicher Verbrechensliteratur mithilfe eindeutiger Begriffe. Je nach Werk verwenden die Autoren ganz unterschiedliche Bezeichnungen, die sich teilweise sogar überschneiden, wie bereits bei Gerber und Schönhaar nachgewiesen. Begriffe wie „Verbrechensdichtung“, „Kriminalroman“, „Kriminalliteratur“ oder etwa „Verbrecherspürhundromane“ 84 können nur unscharf voneinander abgegrenzt werden. Leonhardt verallgemeinert noch stärker und spricht von „Mordgeschichten“, wobei viele Krimis gar keinen Mord, sondern einen Diebstahl darstellen. Besonders auf die fehlerhafte und oberflächliche Benutzung des Begriffs „Roman“ wird in diesem Zusammenhang hingewiesen 85 . Gerber bemängelt, dass der Sprachgebrauch in diesem Zusammenhang nicht eindeutig ist und Werke als Kriminalromane bezeichnet werden, welche eigentlich keine sind. Sein Vorschlag, den Kriminalroman als „kastrierte Verbrechensdichtung“ 86 zu bezeichnen, ist genauso abwegig. Die bekannte Unterscheidung von Alewyn, dass der Kriminalroman die Geschichte eines Verbrechens erzählt, 83 Kapitel 3. 84 Gerber 1971, S. 412. 85 Schönhaar 1969, S. 33. 86 Gerber 1971, S. 407. 28 <?page no="41"?> der Detektivroman die Aufdeckung eines solchen 87 , ist begrifflich aufgrund der Konzentration auf die literarische Gattung des Romans nicht eindeutig genug. Dagegen ist der Begriff „Krimi“ heutzutage eigentlich formal betrachtet jedem verständlich und soll deshalb der Einfachheit halber beibehalten werden. Damit ist im vorliegenden Fall auch eine historische Abgrenzung zu den früheren Formen der Kriminalliteratur impliziert. An dieser Stelle soll daher nun ein extensiver Begriffeingeführt werden, der bereits verwendet wurde und alle Literatur, die vom Verbrechen handelt, mit einbezieht: die „Verbrechensliteratur“. Er soll deshalb verwendet werden, da er eine inhaltliche Abgrenzung zulässt, aber noch keinerlei strukturelle Einschränkungen beinhaltet. Dies ist eine wichtige Grundlage für das weitere Verständnis, denn die inhaltliche Analyse erweist sich als sperrig, da sie eine Vielzahl von Aspekten berücksichtigen muss, ohne gleichzeitig zu stark zu verallgemeinern. Die „simple Erkenntnis“ 88 , dass das Verbrechen immer schon existierte und interessiert hat, führt nicht etwa zu einer „Ahnenreihe des Krimis“, sondern zur entscheidenden Frage, wie sich dieses Interesse auf literarischer Ebene nachweisen lässt. Es muss daher nochmals darauf hingewiesen werden, dass der moderne Krimi keineswegs der Weisheit letzter Schluss ist, sondern „nur“ eine spezifische Spielart der Kriminalliteratur, die sich zwar einer großen Popularität erfreut, aber dennoch nicht die einzige Entwicklung ist, die aus der literarischen Auseinandersetzung mit diesem Thema im 18. und 19. Jahrhundert entstand. Der extensive Begriffermöglicht so eine weitere Differenzierung der Betrachtung des Themas in zwei Aspekte, die großen Einfluss auf die literarische Umsetzung haben: Entweder steht der Verbrecher, und damit dessen persönliche Entwicklung und der Ablauf der Tat, im Mittelpunkt der Erzählung 89 oder die Aufklärung des Verbrechens, die von einer zentralen Detektivfigur geleistet wird 90 . Was leistet die Betrachtung der Tat gegenüber der Betrachtung des Täters? Wie kann die Analyse der Tat durch einen Dritten, dem Detektiv, geleistet werden und welcher 87 Alewyn 1971, S. 187. 88 Berger 1988, S. 20. 89 Im Folgenden als „Verbrecherliteratur“ bezeichnet. 90 Im Folgenden als „Kriminalliteratur“ bezeichnet. 29 <?page no="42"?> Blick auf das Verbrechen wird dadurch evoziert? Wie kann auch der Blick auf den Täter durch eine unverschlüsselte Darstellung zu einem eigenen Krimi werden, in dem Zusammenhänge und Abhängigkeiten nicht so klar sind, wie sie sich zuerst darstellen? All diese Fragen können nicht beantwortet werden, ohne den weiten Spielraum weiter zu untergliedern. Diese Unterscheidung soll in Form eines Stammbaums verdeutlicht werden, der es ermöglicht, alle Texte, welche inhaltlich ein Verbrechen darstellen, eindeutig zu klassifizieren, denn diese Arbeit steht bisher noch in der Forschung zur Verbrechensliteratur aus. Interessanterweise findet sich die gleiche Problematik im Zusammenhang mit einer genauen Definition des Rätsels und kann als Anspruch auf eine einwandfreie Kategorisierung deckungsgleich übernommen werden, da Tomasek das Problem einer subjektiv beeinflussten Argumentation aufgreift, die sich besonders in der unreflektierten Verwendung von Bezeichnungen widerspiegelt, die durch den allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr klar definiert sind. Der Sinn wissenschaftlicher Gattungsbegriffe liegt darin, einen möglichst widerspruchsfreien Rahmen der Klassifikation zu bieten und das zu untersuchende Phänomen in seiner Breite abzudecken. Ein Rückzug auf den allgemeinen Sprachgebrauch führt leicht dazu, daß ‚unproblematische‘ Formen [...] für die Gattung selbst gesetzt werden und diejenigen Grenzfälle [...], von deren Einbeziehung oder Aussonderung die Wesensbestimmung der Gattung entscheidend abhängt, außer Betracht bleiben. 91 Diese Arbeit verfolgt somit den Ansatz, eine Verbindung zwischen den Ergebnissen der extensiven und restriktiven Betrachtung des Themas herzustellen, indem die verschiedenen Positionen durch eine auf eindeutigen Begriffen basierende und an der Erzählstrukturanalye orientierten literaturhistorischen Betrachtung vereint werden. Denn der „missing link“ zwischen den beiden Betrachtungsweisen ist nur so erkennbar, weshalb in dieser Arbeit, soweit wie möglich, 91 Tomasek, Tomas: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1994. S. 06-07, Fußnote 3. 30 <?page no="43"?> zwischen strukturellen und inhaltlichen Aspekten getrennt wurde. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass die einzelnen Elemente der beiden Bereiche der Verbrecher- und Kriminalliteratur teilweise unabhängig voneinander entwickelt und erst von Poe und Doyle zu der bekannten Form zusammengeführt wurden. Dies kann bei näherer Betrachtung durchaus als „vorsichtiges Abtasten einer neuen Erzähltechnik“ gewertet werden, was manche Forscher verneinen 92 . Ein differenzierterer Blick auf das viel zitierte Schaffen Doyles kann schnell belegen, wie er an der Form arbeitete, sie umstrukturierte, verschiedene Fokalisierungen und chronologische Reihenfolgen ausprobierte, bis er die perfekte Kombination fand. Dieses Argument wird aber häufig nicht in die Erläuterungen mit einbezogen und so kommt beispielsweise Leonhardt zu dem Schluss, dass es „kein Theoretisieren über neue Intentionen des Erzählers“ 93 gab, was bereits mit einem Blick auf Aussagen Schillers widerlegt werden kann. Das „Theoretisieren“ fand zudem nicht auf akademischer Ebene statt, sondern in der konkreten Arbeit der jeweiligen Schriftsteller, die sich im 18. und 19. Jahrhundert gegenseitig lasen und neue Ideen aufgriffen, um sie auf ihre eigene Art weiterzuentwickeln. Dies lässt sich nur durch einen breit angelegen Primärtextvergleich belegen, der deshalb im zweiten Teil der Arbeit geleistet wird. Eine weitgefasste Darstellung dieser Entwicklungen kann die Zusammenhänge zwischen den beiden großen Bereichen besser erklären, denn auf den ersten Blick verfolgen alte und moderne Verbrechensliteratur scheinbar unterschiedliche Ansätze und nutzen andere Konzepte. Betrachtet man aber die einzelnen Elemente, so werden diese Entwicklungen viel deutlicher sichtbar und die Elemente, die als konstitutiv für die Gattung der Detektiverzählung angesehen werden können, in ihrer Entwicklung nachweisbar. Dabei orientiert sich der Arbeitsansatz durchaus an den Konzepten der modernen Kriminalliteratur, nur eben unter einem weiter gefassten literaturhistorischen Blickwinkel. Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass besonders in der Kunst, und in besonderer Weise im Bereich der Literaturproduktion, sich die einzelnen Vertreter eines Zeitraums aufeinander beziehen, selbst wenn sie sich mit ihrem Ergebnis teilweise komplett gegen 92 Vgl. Leonhardt 1990, S. 27. 93 Ebd. 31 <?page no="44"?> die gängigen Strukturen stellen: „Originalität, jenes romantische Gütezeichen großer Literatur, meint nicht, daß jeder Autor ab ovo anfängt, sondern daß die Idiosynkrasie seines schöpferischen Geistes sich sichtbar niederschlägt in der Form seines Kunstwerkes.“ 94 Alle im Folgenden in der Primärtextanalyse vorgestellten Texte entstammen dem deutschen Sprachraum, was im behandelten Zeitraum durchaus als eine literarische und nicht etwa eine geographische Einschränkung zu sehen ist 95 . Damit soll keineswegs der Wert der englisch- oder französischsprachigen Literatur herabgesetzt werden, die zudem bereits in ausreichendem Maße aufgearbeitet wurde, sondern die intensive Auseinandersetzung mit diesem literarischen Thema in unserem Sprachraum belegt werden, die oftmals bestritten wird. Die Verschiedenartigkeit der Texte im Vergleich zur modernen Kriminalliteratur soll zudem nicht als Ausschlussargument, sondern als Beleg einer Entwicklung und einer damit verbundenen Diversität der literarischen Darstellung dieses Themas verstanden werden. Erst über die Herausarbeitung von Differenzen lässt sich die wirkliche Bedeutung eines Textes im Vergleich zu anderen bestimmen 96 . So ergibt sich aus diesem Konzept eine dynamische Spannung zwischen distant und close reading 97 , da ein großer Zeitraum überblicksmäßig dargestellt werden muss, einzelne Teile dieser Texte aber aufgrund des Bezugs zur modernen Kriminalliteratur genauer betrachtet werden müssen. So können über konkret nachweisbare Parallelen im Aufbau und der Darstellung Aspekte der Transtextua- 94 Weber 1991, S. 63. 95 Boyle, Nicholas: Kleine deutsche Literaturgeschichte. München: C.H: Beck, 2009. S. 20: „ Deutschland war um 1800 nicht so sehr ein geographischer als vielmehr ein literarischer Begriff.“ Dies kann man so aufgrund der historischen Umstände für den gesamten Forschungszeitraum als Grundlage der Hypothese gelten lassen. 96 Schulz-Buschhaus 1975, S. XI: „Dabei gilt als das eigentliche Ziel jenseits der Beschreibung von Strukturen die Ermittlung von Strukturdifferenzen; denn erst in der Differenz zu verwandten Texten gewinnt der einzelne Text ja seine Identität, zeigt Trivialität oder Relevanz und öffnet sich kritischer Wertung. In der Differenz zu verwandten Texten wird am einzelnen Text vor allem jener Punkt sichtbar, in dem seine Besonderheit auf den Einfluß anderer historischer Reihen und damit über die spezifisch literarische Geschichte hinaus auf die allgemeine Geschichte verweist.“ 97 Siehe dazu Kapitel 2. 32 <?page no="45"?> lität herausgearbeitet werden 98 . Damit erhofft sich die Arbeit eine Diskussion zu diesem Thema anzustoßen, denn keineswegs können bei einem solchen methodischen Vorgehen alle Einzelheiten der Texte hervorgehoben und Feinheiten dargestellt werden. Ziel soll es vorerst sein, die für uns heute ungewöhnliche Darstellung von Kriminalfällen in dieser Zeit näher zu beleuchten und ihre Intentionen zu erkennen, die Auswirkungen auf die ganz speziellen Erzählkonzepte hatten. Wie Schulz-Buschhaus versucht die vorliegende Arbeit „anhand ausgewählter Beispiele einen gattungsgeschichtlichen Prozeß zu rekonstruieren“ 99 , der zudem über sich hinaus weist, da man hier den Ursprüngen der modernen Unterhaltungsliteratur begegnet, deren Vielfalt, besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch heute noch überaus faszinierend ist. 98 Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. OT: Palimpsestes. La littérature au second degré, 1982. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1993. S. 09: „In einem etwas weiteren Sinn bezeichne ich heute als Gegenstand der Politik eher die Transtextualität oder textuelle Transzendenz des Textes, die ich grob als alles das definiert habe, ‚was ihn in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt‘.“ 99 Schulz-Buschhaus 1975, S. XI. 33 <?page no="46"?> 2 Zwischen Distant Reading und Close Reading Wie bereits angesprochen, sollen neue Methoden der Literaturanalyse herangezogen werden, um den Zeitraum von 74 Jahren und die recht umfangreiche Primärliteratur zu strukturieren. Die Idee, Literatur mithilfe von Darstellungsmethoden aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu erfassen, stammt aus dem Werk „Kurven, Karten, Stammbäume“ 1 des italienischen Literaturwissenschaftlers Franco Moretti. Der Autor schlägt vor, Darstellungsformen wie zum Beispiel Karten, Graphen und Kurven im literaturwissenschaftlichen Bereich einzusetzen. Um dies leisten zu können, muss man einen weitgefassten Blick auf das zu untersuchende Thema einnehmen. Unter distant reading, ein Begriff, den Moretti analog zu close reading bildet, versteht der Autor daher eine gewisse Distanz, welche zu den zu analysierenden Gegenständen eingenommen werden kann und die eine „spezifische Form von Erkenntnis“ 2 ermöglicht: „Weniger einzelne Elemente bedeuten eine bessere Übersicht über ihre Abhängigkeiten untereinander. Umrisse, Beziehungen und Strukturen werden so deutlich, Formen, letztlich Modelle.“ 3 Mit diesem Ansatz soll von der Betrachtung einzelner Werke hin zur Entwicklung von Übersichtsmodellen gelenkt werden, die die Literaturwissenschaft bisher kaum zu Analysezwecken heranzog. Dabei basiert Moretti seine Modelltheorie auf „Graphenkurven der quantitativ orientierten Geschichtswissenschaft, den Karten der Geographie und den Stammbäumen der Evolutionstheorie“ 4 . Durch diese Arbeitsweise erhält man sehr konkrete Ergebnisse, die das „literarische Feld im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen“ 5 führen. 1 Moretti, Franco: Kurven, Karten, Stammbäume: Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2009. 2 Ebd., S. 07. 3 Ebd., S. 09. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 08. 34 <?page no="47"?> Der Wissenschaftler kritisiert zurecht, dass die Wissenschaft von der Literaturgeschichte bisher hauptsächlich von der Erarbeitung „seltener, besonderer Werke“ geprägt ist und das Forschungsinteresse fast allein dem Ausnahmefall gilt 6 . Dabei spielt die sogenannte „hohe Literatur“ in einer weitgefassten Betrachtung des Literaturwesens eine verschwindend kleine Rolle, wird aber überproportional in der Sekundärliteratur analysiert. Die Produkte aber, „die die Massen permanent indoktrinieren“ 7 , nehmen zwar innerhalb der Leserschaft einen besonderen Stellenwert ein, erhalten jedoch aufgrund stilistischer und inhaltlicher Gründe keine wirkliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Dabei spiegelt sich in dieser Tatsache immer noch das Gattungssystem der klassischen Literatur, das sich vor allem durch eine unbewegliche Grenze zwischen trivialen und sublimen Gattungen auszeichnet 8 . Unabhängig von der Bewertung trifft dieser Vorwurf in besonderem Maße die Untersuchungen zum modernen Kriminalroman, da sie sich praktisch dadurch „auszeichnen“, stets nur auf zwei Werke zurückzukommen, die doch in einer viel weiteren literarischen Tradition stehen, als vermutet wird. Was aber würde geschehen, wenn auch die Literaturhistoriker beschließen würden, den Blick, um mit Pomian zu sprechen, von der ‚Ausnahme zur Regel‘ zu verschieben, ‚vom Außergewöhnlichen zum Alltäglichen, von den Einzelzu den Massenerscheinungen‘ ? Welche Literatur wäre dort zu finden, in jenen ‚Massenerscheinungen‘ ? 9 Da dies eine grundsätzliche Frage ist, muss sich die Literaturwissenschaft damit auch, schweren Herzens, der sogenannten Trivialliteratur zuwenden, eine Aufgabe die bei vielen auf einer Stufe mit dem herkulischen Ausmisten der Ställe des Königs Augias steht. Dabei ist es überaus interessant, welche Phänomene sich bei einer möglichst 6 Moretti 2009, S. 10. 7 Schulz-Buschhaus 1975, S. VII. 8 Ebd., S. IX: „Unvermittelt festgelegt wurde literarische Trivialität einst durch das Gattungssystem klassischer Literatur, das auf einer unbewegten Vertikalen die niedrigen ‚trivialen‘ Gattungen vor allem der Burleske von den hohen ‚sublimen‘ Gattungen substantiell unterschied.“ 9 Moretti 2009, S. 10. 35 <?page no="48"?> wertfreien historischen Betrachtung eines Erzählstoffes wie dem des Verbrechens entdecken lassen. Moretti entwickelte seine Idee des distant reading, als er bei Untersuchung von Nationalbibliographien erkannte, dass sich die Literaturwissenschaft meist nur mit einem „winzigen Teilgebiet des literarischen Feldes“ 10 auseinandersetzt. Dabei werden oftmals weniger bekannte Schriftsteller vernachlässigt, die in einem anderen Zeitraum verhältnismäßig bekannt waren und ansehnliche literarische Erfolge feiern konnten. Es geht vor allem darum, durch eine großflächige Werkbetrachtung mögliche Beziehungen zwischen dem Wirken von Autoren in einem bestimmten Zeitraum zu erforschen: „Felder sind eben nicht einfach die Summe vieler individueller Fälle, sondern eher kollektive Systeme, die als solche auch in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen.“ 11 Dies berechtigt zu einer Nebeneinanderstellung von Berufs- und Amateurschriftstellern und damit von Literatur ganz unterschiedlicher Qualität und literaturhistorischem Bezug. So kann man herausarbeiten, welche literarischen Formen in der Vergangenheit bekannt und beliebt waren und wie sich die Schriftsteller untereinander beeinflussten. Literarische Trends lassen sich so verdeutlichen. Auch Roland Barthes fordert: „Der Literatur das Individuum amputieren! “ 12 Auf der anderen Seite muss Morettis Kritik am close reading bereits an dieser Stelle dahingehend eingeschränkt werden, dass einzelne Nuancen von Werken, die zwar oberflächlich gesehen inhaltlich einer spezifischen Gruppe wie dem Schauerroman oder der Kriminalliteratur zugeordnet werden können, nur über eine genauere Analyse erarbeitet und damit korrekt in einem Überblicksdiagramm dargestellt werden können. Die so gewonnenen Datensätze sind zudem zwar „im Idealfall unabhängig von Interpretationsansätzen“ 13 , auf der anderen Seite stellen sie aber eben nur Daten dar, sodass die Interpretation der Darstellung erst geleistet werden muss, im Kleinen wie im Großen. Aus diesen Gründen wird in dieser Arbeit seine Betrachtungsweise mit der sehr differenzierten Analysetechnik von 10 Moretti 2009, S. 11. 11 Ebd. 12 Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2006. S. 82. 13 Moretti 2009, S. 16. 36 <?page no="49"?> Gérard Genette kombiniert, um einzelne Elemente der Erzählstruktur zu isolieren und ihre Entwicklung verfolgen zu können. Morettis Ansatz erlaubt es ebenfalls, losgelöst von den gängigen Interpretationsansätzen einen Blick auf die Entwicklung der Darstellung des Themas zu werfen, was besonders im vorliegenden Fall von großer Wichtigkeit ist. Denn wie weit die vorgefestigte Meinung zu einer Literaturgattung reicht, wurde von Viehoff und Bungert nachgewiesen, die anhand mehrerer Versuchsgruppen belegten, dass das gattungsspezifische Wissen, in diesem Fall zum „Märchen“ und zum „Krimi“, den Verlauf und das Ergebnis des Verstehensprozess beeinflusst 14 . Überträgt man diese Erkenntnis nun auf die Sekundärliteratur zu diesem Thema, so lässt sich verstehen, warum die Forschungsergebnisse vielfach von einer bestimmten Erwartungshaltung und der eigenen Vorstellung einer vermeintlich idealtypischen Form geprägt sind. Für eine grundsätzliche inhaltliche Einschränkung des Themas wurde daher der weite Begriff „Verbrechensliteratur“ 15 gewählt. Er bezeichnet jede Art von Literatur, die sich schwerpunktmäßig mit der Darstellung von Verbrechen befasst. Dennoch können auch kleinere Episoden, wie beispielsweise der Bericht vom Mord des Bauernburschen in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, mit diesem Schema klassifiziert werden. Dieser Oberbegriff, der jede literarische Epoche und alle Darstellungsmodi des Themas umfasst, muss nun allerdings auf der nächsten Ebene in zwei Schwerpunkte untergliedert werden, die sich aus der Natur des Themas ergeben. Im Gegensatz zur Darstellung einer individuell erlebbaren Erfahrung ist das Verbrechen immer von einer Wechselbeziehung geprägt. Es gibt immer einen Täter und ein Opfer, das, in welcher Weise auch immer, unter den Folgen einer kriminellen Tat leiden muss. Dies betrifft nicht nur materielle Dinge, sondern auch die Existenz eines Menschen an sich, der durch Gewalt und Tod zu Schaden kommen kann. Sobald in dieser Beziehung das Recht des Stärke- 14 Viehoff, Reinhold; Burgert, Martin: Kommunikationsbildungsprozeß 2. Strukturen und Funktionen deklarativen und prozeduralen Wissens beim Verstehen von Literatur - Untersuchungen zu ‚Märchen‘ und ‚Krimi‘. Siegen: LUMIS-Universität-Gesamthochschule-Siegen, 1991. 15 Gerber verwendet mit „Verbrechensdichtung“ einen ähnlichen Begriff, der aber vom Begrifflichen her die Darstellung realer Fälle ausschließt. 37 <?page no="50"?> ren nicht mehr greift, wird das Thema literarisch interessant. Nun geht es nicht nur darum, wer wem etwas angetan hat, sondern dass dies aufgedeckt wird und Konsequenzen für den Täter haben muss. Genette geht davon aus, dass „die kleinste vorstellbare Erzählung aus einem Minimalsatz besteht und dass man alle längeren Erzählungen als Erweiterungen solcher Kerne verstehen kann“ 16 . Diese Aussage kann man im übertragenen Sinne auch auf das vorliegende Konzept anwenden. Der jeweilige Minimalsatz aus den verschiedenen Betrachtungsweisen kann schnell anhand des folgenden Schemas bestimmt werden, das sämtliche möglichen Erzählelemente aufzeigt, die die Verbrechensliteratur darstellen kann - unabhängig von der strukturellen Umsetzung. 2.1 Erzählelemente der Verbrechensliteratur Man erkennt anhand der Übersicht (Abb. 3) deutlich die vier zentralen inhaltlichen Hauptelemente der literarischen Darstellung eines Verbrechens, deren Anordnung im Erzähltext direkten Einfluss auf den gesamten Darstellungsmodus haben: die Vorgeschichte der Tat, die Tat, die Aufklärung und die Konsequenzen. Je nach Intention der Erzählung werden mehr oder weniger dieser Erzählelemente genutzt. Ältere Verbrechensliteratur, wie die im Stile Pitavals, bildet beispielsweise alle dieser vier Elemente ab, meist in chronologischer Reihenfolge. Der klassische Krimi, wie ihn Poe erfand, beginnt dagegen mit der Tat und lässt den Leser über die Beziehung des Opfers zum Täter, der Identität des Täters und dem Tatablauf im Unklaren. Dabei dient die Aufdeckung dieser Zusammenhänge später in vielen Fällen dem dénouement, die Bestrafung wird meist ganz ausgeklammert. Hinzu kommt eine weitere zeitliche Ebene, die Vorgeschichte des Verbrechens und des Verbrechers. Diese wird in der Verbrecherliteratur meist sehr umfangreich ausgeführt, in der Kriminalliteratur spielt sie dagegen kaum eine Rolle. Hier dient sie meist dazu, über die Aufdeckung einer Beziehung zwischen Opfer und Täter den Verbrecher schließlich zu überführen. 16 Schmitz, Thomas A.: Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002. S. 68-69. 38 <?page no="51"?> Abb. 3: Erzählelemente der Verbrechensliteratur Diese Darstellung ermöglicht es, übersichtlich die von den beiden großen Untergattungen der Verbrechensliteratur genutzten Erzählelemente pauschal darzustellen und die chronologische Reihenfolge der vier großen zeitlichen Ebenen, die an der Seite markiert sind, aufzuzeigen. Unabhängig von dieser allgemeinen Betrachtung erlaubt die Übersicht die Markierung der verwendeten Erzählelemente in konkreten Fällen, die dann übersichtlich miteinander verglichen werden können. Dabei ist es gleichgültig, ob nur eine Episode innerhalb eines Textes analysiert wird oder ein gesamtes Werk von romanhafter 39 <?page no="52"?> Länge. Daher wird in der folgenden Primärtextanalyse der Umfang, die Verteilung und die Anordnung dieser Erzählelemente in Form von Balkendiagrammen und Übersichten bezüglich der genutzten Erzählelemente der Verbrechensliteratur grafisch dargestellt. Dabei zeigt der Vergleich der verschiedenen Konstrukte bereits eine große Variation und Kombinationsspielraum dieser Elemente innerhalb des hier analysierten Zeitraums. Man kann ebenfalls leicht erkennen, dass die Aufklärung einer Tat keineswegs mit der Figur eines Detektivs gelöst werden muss. Die frühe fiktive Kriminalliteratur nutzte ganz andere literarische Kniffe, um ein Rätsel aufzulösen, wie in der späteren Primärtextanalyse dann im Einzelnen gezeigt wird. Das Element „Besitz“ muss dabei sehr weitgefasst verstanden werden, denn es kann in diesem Fall auch Informationen oder menschliche Gefühle bezeichnen. Die Verbindungen oder Elemente, die durch Vorenthaltung oder Verschlüsselung der Information dem Spannungsaufbau dienen, sind mit einer gestrichelten Linie markiert. Dabei kann eigentlich jedes Element der ersten oberen Ebene zu einem Rätsel ausgebaut werden. Der genaue Tatablauf wird ebenfalls meist als Rätsel ausgestaltet, da er direkte Aufschlüsse auf den Täter zulässt. Die klassischste Form ist in diesem Fall das sogenannte locked room mystery, bei dem niemand weiß, wie der Verbrecher in einen Raum gelangen und nach seiner Tat wieder daraus fliehen konnte. Als große Ausnahme im Bereich der modernen Kriminalliteratur kann die „Millenium- Triologie“ von Stieg Larson betrachtet werden, da die drei Bände mehr oder weniger chronologisch die Geschehnisse berichten und den drei großen Hauptelementen Tat („Verblendung“ (2005)), Aufklärung („Verdammnis“ (2006)) und Bestrafung („Vergebung“ (2007)) jeweils ein eigenes Buch widmen 17 . 17 Dies wird durch die wortgetreue Übersetzung der schwedischen Titel noch deutlicher: Larson, Stieg: Män som hatar kvinnor. (Übers.: „Männer, die Frauen hassen“), ders.: Flickan som lekte med elden. (Übers.: „Das Mädchen, das mit dem Feuer spielte“) und ders.: Luftslottet som sprängdes (Übers.: „Das Luftschloss, das gesprengt wurde“). Das zeitliche Element der Vorgeschichte der Tat wird nach und nach ein- und aufgearbeitet. Allerdings findet Lisbeth Salanders Selbstjustiz bereits im zweiten Band ihren Platz. Auch sind die Verdächtigungen gegenüber Salander nochmals ein Handlungsteil, der vom Gesamtkonzept unabhängig analysiert werden kann. 40 <?page no="53"?> Seitlich wird diese Übersicht in vier übergeordnete Erzählelemente eingeteilt, die je nach Literaturform in einer anderen Reihenfolge erzählt werden. Die verschiedenen zeitlichen Anordnungen können dabei am eindeutigsten mit den Analysemethoden Genettes erläutert werden 18 . Jeder Autor verfügt somit über eine große Bandbreite an Erzählelementen, die er zudem noch in verschiedenen zeitlichen Anordnungen wiedergeben kann. An dieser Stelle lässt sich also bereits das Argument entkräften, dass die Darstellung von Verbrechen grundsätzlich oberflächlich und reißerisch sein muss. Vielmehr hängt es vom Autor ab, welche Intention er mit seinem Werk verfolgt und welche dieser Elemente er dabei einsetzt. 2.2 Der Stammbaum der Verbrechensliteratur Allein diese Übersicht gibt noch nicht den gesamten Spielraum der Gattung der Verbrechensliteratur wieder. Dieser lässt sich übersichtlich in Form eines Baumdiagramms darstellen. Anhand dieses Stammbaums der Verbrechensliteratur, der auf diese Weise ersichtlich wird, lassen sich einige generelle Überlegungen anstellen und die Werke klassifizieren. Vorab muss darauf hingewiesen werden, dass hierbei von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Kriminalliteratur“, welche im 18. und 19. Jahrhundert Texte bezeichnete, die in diesem Schema der Verbrecherliteratur zuzuordnen sind 19 , abgerückt wird. Diese Verschiebung hat den Vorteil, dass sie den Fokus der Geschichte hervorhebt und unabhängig vom Aufbau der Erzählung die Texte voneinander unterschieden werden können. In dieser Arbeit können so beide Textgattungen nebeneinander betrachtet und möglichst eindeutige Begriffe verwendet werden, um der historisch gewachsenen Verwirrung durch die unterschiedliche und oft nicht eindeutige Nutzung der Begriffe zu begegnen. Besonders die Gattungsnamen oder die Orientierung an der Textlänge haben viel Verwirrung gestiftet 20 . 18 Siehe dazu Kapitel 2.5. 19 Zum Beispiel Meißners Kriminalgeschichten. Siehe dazu Kapitel 5.3. 20 So zum Beispiel bei Schönhaar 1969, S. 33: „Formal kann sich die Kriminalerzählung romanhafte Breite gestatten; der Verwendung und der Variation epischer Bauformen jeglicher Art setzt sie kaum eine Grenze, während die 41 <?page no="54"?> Bisher geht die Forschung im eindeutigsten Fall von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Verbrechens- 21 , Kriminal- und Detektiverzählung aus. Begrifflich führt dies in einigen Fällen zu Problemen, da die Abgrenzung der Kriminalvon der Detektiverzählung aufgrund des umgangssprachlichen Gebrauchs des Wortes „Krimi“ teilweise nicht scharf genug vollzogen werden kann. Daher wurde ein neues Schema entwickelt, dass bekannte Begriffe teilweise neu definiert, aber sämtliche Spielarten der Darstellung von Verbrechen in der Literatur mit einbezieht und voneinander abgrenzen kann. So erscheint nun der Detektivroman als eine Untergattung der Kriminalliteratur und kann als fiktive verrätselte Kriminalliteratur mit personengebundenem dénouement definiert werden 22 . Bei der Klassifizierung der Texte wird im neu entwickelten Schema zwischen einer inhaltlichen Konzentration auf den Verbrecher 23 oder auf den Kriminalfall 24 unterschieden. Die Vorteile sollen kurz anhand ähnlicher, aber anders ausgeführter Unterscheidungen aufgezeigt werden. Schönhaar unterscheidet zwischen dem Verbrecherroman und der Kriminalerzählung im weiten und der Detektiverzählung im engeren Sinn 25 . Unterscheidungsmerkmal ist für Schönhaar die Verrätselung des Kriminalfalls. Detektivgeschichte auf ein genau umrissenes Erzählschema festgelegt und auf äußerste Spannung berechnet ist - was vor einem allzu unbedenklichen Gebrauch des Terminus Detektivroman warnen sollte.“ Es ist vielmehr so, dass die Verwendung und die Variation epischer Bauformen auch im Detektivroman stattfinden kann. 21 Schönhaar nutzt diesen Begriff, verwendet ihn aber widersprüchlich, indem er unter dem Gattungsbegriffs des Romans auch Volksballaden einsortiert. Schönhaar 1969, S. 33: „Aufgrund ihrer vielfältigen formalen Möglichkeiten zeigt die Gattung Verbrecherroman sich schließlich drittens historisch und in der literarischen Wertung von einer sehr umfassenden Breite: ihr könnte man schon zahlreiche Volksballaden und Volkserzählungen sowie die Volksbücher des ausgehenden Mittelalters und der Frühzeit zuordnen, die Robin Hood- Überlieferungen etwa oder das Faustbuch; hinzu kommt im 17. und 18. Jahrhundert die europäische Tradition des Schelmenromans sowie die Fülle der sogenannten Ritter-, Räuber- und Schauerromane.“ 22 Im Stammbaum ist diese Variante als Kf3 klassifiziert. 23 Im Stammbaum als „Literatur über Verbrecher “ bezeichnet. 24 Im Stammbaum als „Literatur über Kriminalfälle “ bezeichnet. 25 Ebd., S. 32-33. 42 <?page no="55"?> Erstens geht es im Kriminalroman stofflich und thematisch um den äußeren und inneren Verlauf eines Verbrecherschicksals, in der Detektiverzählung dagegen um einen einzelnen verschlüsselten Fall, genauer: um die Lösung dieses Falles, oder, in Alewyns Worten: ‚Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die der Aufdeckung eines Verbrechens‘. 26 Dabei unterscheidet er strukturell zwischen dem weiten Spielraum der Kriminalerzählung und der Sondergattung „Detektivgeschichte“, der „wegen ihres streng gefügten Formschemas engere Grenzen gesteckt“ sind 27 . Problematisch ist auch hier der ungenaue Umgang mit den Gattungsnamen. Dennoch dient die Unterscheidung Schönhaars und Alewyns in dieser Arbeit dazu, zwischen dem Fokus der Erzählungen zu unterscheiden, nur müssen die beiden Bereiche mit eindeutigeren Bezeichnungen verknüpft werden. Ulrich Suerbaum bietet eine ähnliche Unterscheidung an, die wiederum etwas schief gerät, da zu exklusiv definiert wird. Grundsätzlich sieht er den entscheidenden Unterschied zwischen dem Verbrechensroman und dem Kriminalroman in der Art, wie die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird. In der älteren Verbrechensliteratur wird Mord „immer herauskommen, weil Gott der Aufklärer und der Rächer ist, seine Ordnung durch Entdeckung der Schandtat wiederherstellt. Die eigentliche Aufgabe der Aufklärung und Strafzumessung ist damit dem Menschen entzogen. Er ist bei der Aufdeckung und Sühnung allenfalls Helfer und Vollstrecker.“ 28 Damit negiert er den Bereich der Verbrechensliteratur, in dem der Mensch handelt und so Kriminalfälle aufdeckt oder das Schicksal im entscheidenden Moment die Lösung des Rätsels bewirkt. Dies ist im hier analysierten Zeitraum aber der wesentlich größere Bereich. Gerber bietet folgende Unterscheidung an: „Die Unterscheidung zwischen Kriminalroman und Detektivroman als zwei gleichberechtigten, klar voneinander unterschiedenen Gattungen ist eine Pseudodistinktion, die der Wirklichkeit nicht entspricht und sie 26 Schönhaar 1969, S. 33. 27 Ebd., S. 34-35. 28 Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart, Reclam, 1984. S. 31. 43 <?page no="56"?> verfälscht. In Wirklichkeit haben wir vor uns einfach die Gattung des Kriminalromans, einer Stutzform der Verbrechensdichtung, eine Romanart, in der sich das Hauptinteresse darauf konzentriert, wie ein Sleuth, oder mehrere, einen oder mehrere Verbrecher zur Strecke bringen.“ 29 Er erkennt, dass der Detektivroman nur ein Ast an einem viel größeren Baum darstellt und damit in einem größeren Zusammenhang zu sehen ist. Aus der Wahl zwischen den beiden Untergattungen der Verbrechensliteratur resultiert damit bereits eine bestimmte Erzählstruktur und eine spezielle Chronologie. Abb. 4: Der Stammbaum der Verbrechensliteratur (Ausschnitt) Den Erzählungen und Berichten aus beiden Bereichen können sowohl wahre wie auch und erfundene Verbrechen zugrunde liegen, wobei hier die Grenze durch erzähltechnische Tricks aufgebrochen werden kann. Die bekannteste Technik ist die Markierung einer fiktiven Erzählung als „aus den Papieren eines Kriminalbeamten“ 30 , aber auch eine möglichst realistische Einbettung einer fiktiven Geschichte in einen wahren historischen oder politischen Hintergrund ist dabei möglich 31 . Besonders in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde damit schon auf den Titelseiten der massenhaft produzierten „ true-crime - 29 Gerber 1971, S. 413-414. 30 Zum Beispiel in Adolph Müllners Werk „Der Kaliber“ oder in der Erzählung „Die Geheimnisse von Berlin“ eines anonymen Autors. Siehe dazu Kapitel 9.6 und 10.1. 31 Zum Beispiel in ETA. Hoffmanns Werk „Das Fräulein von Scuderi“, siehe dazu Kapitel 9.1. 44 <?page no="57"?> Literatur“ geworben 32 . An dieser Stelle lässt sich bereits eindeutig der Einfluss der Erzählungen im Stil Pitavals in ihrem Einfluss auf die Kriminalliteratur nachweisen. Auch der moderne Kriminalroman arbeitet mit diesem Trick. So stellt der Autor Henning Mankell am Ende seiner Kriminalerzählung „Der Feind im Schatten“ fest: In der Welt der Fiktion sind viele Freiheiten möglich. [...] Dahinter steht natürlich die Absicht, den Unterschied zwischen dem Fiktiven und dem Dokumentarischen hervorzuheben. Was ich schreibe, könnte so geschehen sein, wie ich es erzähle. Aber es ist nicht notwendigerweise so gewesen. [...] Wie die meisten Autoren schreibe ich, damit die Welt auf die eine oder andere Weise begreiflicher wird. Dabei kann die Fiktion dem dokumentarischen Realismus durchaus überlegen sein. 33 Er weist zurecht darauf hin, dass die Fiktion dem dokumentarischen Realismus überlegen sein kann dies ist ein Grund, warum sich um 1800 eine Übertragung der Darstellungsformen der realen auf die fiktive Verbrechensliteratur nachweisen lässt, die den Autoren viel größere Spielräume ermöglichte. Selbst wenn die Erzählungen auf wahren Begebenheiten beruhen, werden diese durch die literarische Umsetzung transponiert, wobei der Grad der literarischen Umformung rückblickend kaum noch bestimmt werden kann. Diese Problematik wird durch die gestrichelte Linie bei der juristischanthropologischen Konzeption markiert und auch diese Technik hat eine lange literaturhistorische Tradition. Die Transposition ist ein ‚ernste Parodie‘, also die Umsetzung eines Einzeltexts in einen neuen Stil ohne satirische Absicht. Ihr widmet Genette die weitaus größte Aufmerksamkeit, weil sie als literarisches Vorgehen so gewaltige Bedeutung hat. Bereits jede Übersetzung oder Nachdichtung stellt eine Transposition dar [...]. Dazu kommen die vielfältigen Möglichkeiten, Texte umzuformen, indem man sie etwa in eine andere Gattung überführt [...] oder mit subtilen Abweichungen denselben 32 Siehe dazu Kapitel 12.2. 33 Mankell, Henning: Der Feind im Schatten. 4. Auflage. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2010. S. 589. 45 <?page no="58"?> Stoffwie ein Vorgänger gestaltet [...]. Unter diese Rubrik kann man einen großen Teil der antiken Literatur einordnen, in der Nachahmung und Übertreffen der Vorgänger eine solch wichtige Rolle spielt. 34 Die Informationen, die meist aus Akten von Rechtsfällen stammen, werden nicht einfach so wiedergegeben, wie sie aufgefunden werden. Vielmehr setzt mit dem Konzept Pitavals eine Literarisierung dieser Inhalte ein, die sich langsam, aber stetig im Laufe der Zeit von einer auf realen Fällen beruhenden Erzählung hin zu fiktiven Erzähltexten entwickelt. Dieser Übergang ist dabei fließend und bewegt sich langsam über Zwischenstufen wie Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ über Kleists „Michael Kohlhaas“ hin zu fiktiver Kriminalliteratur, die zu Beginn noch häufig als auf wahren Ereignissen beruhend markiert wird, wie beispielsweise in Schillers „Geisterseher“, Müllners „Der Kaliber“ oder „Die Geheimnisse von Berlin“ eines anonymen Autors 35 . Dabei ist in der deutschen Literatur dieser Wechsel ungefähr um 1800 feststellbar, wie später in der Primärtextanalyse genauer ausgeführt werden soll. Diese Unterscheidung hat den großen Vorteil, dass sie grundsätzlich jede Art von Literatur mit einbezieht, deren inhaltliche Gemeinsamkeit die Darstellung eines Verbrechens und den damit verbundenen Konsequenzen ist. Somit kann ein Bericht aus dem Pitaval 36 im selben Schema eingeordnet werden wie ein Roman über Sherlock Holmes 37 . Dieses Schema kann und muss nun aber noch weiter ausdefiniert werden. 34 Schmitz 2002, S. 96. Eine solche Umsetzung eines Einzeltexts in einen neuen Stil mit satirischer oder parodierender Absicht lässt sich folgendermaßen erklären. Albrecht, Jörn: Literarische Übersetzung: Geschichte, Theorie, kulturelle Wirkung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. S. 254: „Eine der geläufigsten Formen der Parodie ist eine Form der Übersetzung; es ist die Transposition eines Textes in ein anderes, dem Inhalt unangemessenes stilistisches Register, also z.B. die Wiedergabe eines Kindermärchens in juristisch-bürokratischer Fachsprache. Ein solches Verfahren ist nicht nur innerhalb ein und derselben Sprache, sondern über die Sprachgrenzen hinweg möglich und üblich. [...] Die Übersetzung eines literarischen Werks - und mag es von einem Vaganten stammen in eine nicht-kanonische Form der Zielsprache gerät fast zwangsläufig zur Parodie.“ 35 Siehe dazu Kapitel 6, 7, 9 und 10. 36 Verbrecherliteratur, realer Fall. 37 Kriminalliteratur, fiktiver Fall. 46 <?page no="59"?> Kehren wir daher wieder zu den Überlegungen Morettis zurück. Drei Zeitmaße spielen für ihn bei der Analyse der Literaturentwicklung eine Rolle: das Ereignis, der Zyklus und die lange Dauer 38 . Moretti definiert hierbei Zyklen als „temporäre Strukturen innerhalb der Dynamik der Geschichte“ 39 . In diesem Fall wäre dies die Betrachtung der verschiedenen Darstellungsweisen von Verbrechen, die eine Zeitlang aktuell und beliebt waren, bevor sie zugunsten neuer Strukturen verdrängt wurden. Diese bilden in kleineren zeitlichen Abständen betrachtet die unterste Ebene des Stammbaums 40 , in größeren Dimensionen die obere Ebene. So wurde beispielsweise die juristisch-anthropologische Konzeption, die sich im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute, im 19. Jahrhundert quantitativ von den Konzepten der fiktiven Kriminalliteratur abgelöst. Es lässt sich somit eine eindeutige Verschiebung des Schwerpunktes der Literaturproduktion von links nach rechts auf der untersten Ebene beobachten, die schließlich in der fiktiven und durch ein rationales dénouement charakterisierten Kriminalliteratur (= Krimi) mündete. Dazwischen liegen verschiedene andere Literaturformen, die Moretti als Zyklen definiert. Der kurzen Zeitspanne wohnt keine Struktur inne, sie besteht aus nichts als Dynamik. Die lange Dauer dagegen ist Struktur ohne Dynamik. Zwischen beiden Maßen stehen die Zyklen als unbeständiges - Grenzgebiet. Da sie Wiederholungen innerhalb der Dynamik der Geschichte festhalten, repräsentieren sie Strukturen. Und da sie nur auf kurze Ausschnitte der Geschichte blicken [...] sind sie zugleich doch auch temporär. 41 Diese „temporären Strukturen“, so Moretti weiter, bieten sich als „Definitionsgrundlage für Genres“ an, welche „nichts anderes als morphologische Arrangements“ sind. Damit kann man „Genres als die wahren Protagonisten der mittleren Ebene der Literaturgeschichte 38 Moretti 2009, S. 22 39 Ebd. 40 Damit ist die Ebene gemeint, die als „Konzeptschwerpunkt“ bezeichnet wird. Vgl. dazu die gesamte Übersicht des Stammbaums der Verbrechensliteratur, Kapitel 12.1. 41 Ebd., S. 25. 47 <?page no="60"?> bezeichnen, die eine ungleich ‚rationalere‘ Ebene darstellt als die beiden anderen, da hier Dynamik und Form aufeinandertreffen“ 42 . Somit kann die Geschichte eines Genres nur über seine literaturhistorische Umgebung umfassend bestimmt werden (= Dynamik) und damit die Entwicklung und Festigung einer Form (= spezifische Erzählstruktur) erläutern. Dies lässt sich in den folgenden Darstellungen der Verbrecher- und Kriminalliteratur aufzeigen. 2.2.1 Die Verbrecherliteratur Im Gegensatz zur Kriminalliteratur arbeitet die Verbrecherliteratur fast immer ohne den Einsatz eines sogenannten dénouements 43 , da der Täter im Mittelpunkt steht. Damit verbunden ist meist eine interne Fokalisierung des Täters, welche die Rätselfrage nach dem Täter nicht zulässt. So befindet sich der genaue Tatablauf meist direkt am Anfang der Erzählung oder erschließt sich aus einer Präsentation der Verbrecherlaufbahn des im Mittelpunkt stehenden Täters. Hierbei lässt sich wiederum aus einem juristisch-anthropologischen Text durch eine Transposition ein Text erstellen, der den Schwerpunkt der Darstellung auf das tragische Element der Hauptfigur legt oder eben verstärkt moralische, psychologische, sozialkritische Aspekte in den Vordergrund stellt 44 . Diese Wechselbeziehung wird durch die gestrichelte Linie markiert. Darüber hinaus waren und sind auch heute noch viele wahre Berichte über Verbrechen Inspiration für fiktive Kriminalliteratur, wobei diese Weiterführung schon nicht mehr als Transposition bezeichnet werden kann. Innerhalb des Bereichs der „realen Fälle“ spielt die Transposition eine wichtige Rolle, da sie die Literarisierung des Erzählstoffes belegt, die den Erzähltexten im Stil Pitavals teilweise abgesprochen wird. Selbst wenn die ursprünglichen Akten heute 42 Moretti 2009, S. 25. 43 Franz., wörtlich: die Entknotung. Der Begriffbezeichnet die literarische Auflösung des Rätsels um den Tathergangs am Ende einer Kriminalerzählung. 44 Dies lässt sich beispielsweise in der Novelle Marguerite Mercier von Theodor Wangenheim nachweisen, die zwar auf einem Text aus dem Neuen Pitaval von Hitzig und Häring beruht, aber im Vergleich dazu bewusst die Handlung erweitert und dramatisiert. Siehe dazu Kapitel 5.8. 48 <?page no="61"?> Abb. 5: Verbrecherliteratur kaum noch eingesehen werden können, kann durch eine nähere Betrachtung der Erzählstrukturen und der Variationen im Aufbau deutlich eine Einflussnahme der Verfasser aufgezeigt werden 45 . Genette unterscheidet bei der Transposition zwei grundlegende Kategorien: „die im Prinzip (und ihrer Absicht nach) rein formalen Transpositionen, die nur versehentlich oder infolge einer perversen und nicht angestrebten Konsequenz an den Sinn des Textes rühren, etwa bekanntlich bei der Übersetzung (die eine sprachliche Transposition ist), und unverhohlen und absichtlich thematischen Transpositionen, wo die Transformation des Sinns offenkundig, ja offiziell und vorsätzlich ist [...].“ 46 In dieser Arbeit ist also im Bereich der auf realen Fällen basierenden Verbrechensliteratur ganz speziell die Frage nach der thematischen Transposition von Bedeutung, da sie die Auseinandersetzung mit verschiedenen strukturellen 45 Siehe dazu Kapitel 5.3, 5.5, 5.6, 5.8, 6.2 und 6.3. 46 Genette 1993, S. 288. 49 <?page no="62"?> Umsetzungen ein und desselben Inhaltes aufzeigt 47 . Unterhalb der untersten Ebene des Stammbaum werden nochmals kurz die inhaltlichen Schwerpunkte zusammengefasst, um die Unterschiede zu verdeutlichen. Darunter werden Abkürzungen angegeben, mit denen übersichtlich ganze Bibliographien kategorisiert werden können. Die Übersicht zeigt ebenso, dass nicht immer eine spezielle Form mit einem gewissen Inhalt verknüpft werden muss. So sind sicherlich auch fiktive Pitavalgeschichten möglich, dennoch wäre eine solche Verbindung nicht wirklich sinnvoll und zu konstruiert. Daraus ergibt sich auf der anderen Seite, dass sich eine bestimmte Form oftmals für einen ganz bestimmten Inhalt am besten eignet. Diese Tatsache wird im weiteren Verlauf noch eine wichtige Rolle spielen. Innerhalb der fiktiven Verbrecherliteratur lässt sich eine moralische, psychologische und/ oder sozialkritische Konzeption von reiner Unterhaltungsliteratur abgrenzen, wie sie zum Beispiel in Form der im 18. Jahrhundert populären Räuberromane zu erkennen ist. Moritaten waren in gewisser Weise die reißerische Form der Pitavalgeschichten, welche neben der Funktion als möglichst aktuelle Berichterstattung aber ihr Hauptaugenmerk darauf legten, ein möglichst großes Publikum zu unterhalten. In diesem Fall verschwimmen die Grenzen zwischen sämtlichen inhaltlichen Schwerpunkten der untersten Ebene der Verbrecherliteratur und müssen jeweils im speziellen Fall bestimmt werden. 2.2.2 Die Kriminalliteratur Auf der anderen Seite steht Literatur, die den Blick von Außen auf eine kriminelle Tat wirft. Durch diese Verschiebung der Perspektive ergibt sich eine grundsätzlich andere Konzeption, die zudem die Verrätselung eines Falles überhaupt erst möglich macht. Da in diesem Konzept der Blick auf den Kriminalfall im Vordergrund steht und meist am Anfang der Erzählung platziert wird, geht es hauptsächlich darum herauszufinden, wer genau die Tat begangen hat. Im Bereich der auf realen Fällen beruhenden Kriminalliteratur findet sich eben- 47 Als eine auf realen Fällen basierende und mit einem rationalen dénouement verbundene Kriminalliteratur könnten beispielsweise die Werke des Kriminalbiologen Mark Benecke gelten. Siehe dazu Kapitel 11. 50 <?page no="63"?> falls wieder die Transposition, die meistens deutlich zu erkennen ist. In ganz seltenen Fällen, wie kurzen Beschreibungen von nicht aufgelösten Verbrechen, fehlt das dénouement, da es nicht geleistet werden kann. Dies ist beispielsweise in einer Polizeimeldung der Fall. Auch hier ist die Grenze zur Transposition fließend und nur schwer zu bestimmen, ähnlich wie bei den Darstellungen, die dem Zuschauer in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ präsentiert werden. Abb. 6: Kriminalliteratur Dabei lassen sich sowohl im wahren wie auch fiktiven Bereich drei gängige Auflösungsmechanismen herausarbeiten. Gibt es keine Detektivfigur, so muss der Zufall als erzähltechnischer Griffherangezogen werden. In manchen modernen Krimis tritt der berühmte „Kommissar Zufall“ an diese Stelle, wenn ganz „zufällig“ im richtigen Moment das entscheidende Indiz oder der ausschlaggebende Hinweis „gefunden“ wird 48 . In vielen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts 48 Bloch bezeichnet die in Anlehnung an die Technik des Deus ex Machina 51 <?page no="64"?> sind darüber hinaus noch der wirkliche Deus 49 (ohne machina) oder Wesen der Geisterwelt diejenigen Instanzen, die in brenzligen Situationen den Schwachen beistehen und Unrecht aufdecken. Diese Aufdeckung, die im Stammbaum als transzendentes dénouement bezeichnet wird, findet sich ebenfalls in manchen Erzählungen der juristisch-anthropologischen Literatur, spielt dort aber keine unterscheidende Rolle, da sie kein Erzählgriff, sondern eine wirklich angenommene Erklärung ist. Dies lässt sich bis hin zu Geschichten des alten Testaments nachweisen. Die dritte und bis heute überaus populäre Auflösung ist an eine Person im Text gebunden, welche durch rationales Vorgehen und der Auswertung von Fakten den Urheber eines Verbrechens entlarvt. Viele Forschungen stellen hierbei in den Vordergrund, dass damit die „gesellschaftliche Ordnung“ wieder hergestellt wird. Diese Figur ist wichtig für diese Art von Erzählung, ist aber in ihren Ursprüngen kaum definiert und charakterlich recht blass gezeichnet. So erfährt man über C. Auguste Dupin eigentlich nichts, auch Sherlock Holmes familiäre Hintergründe oder der Grund für seinen Wohlstand bleiben im Dunkeln. Allerdings ist der Gegenpart, wie der Ich-Erzähler bei Poe oder eben Dr. Watson bei Sherlock Holmes, wesentlich menschlicher gestaltet und steht dem Leser durch die interne Fokalisierung näher. Dies zeigt deutlich, dass die Detektiv-Figur eigentlich „nur“ ein Teil der Erzählstruktur ist. Auch hier lässt sich wieder zwischen dem realen und fiktiven Fall unterscheiden, doch die grundlegende Konzeption jeder Variation lässt sich am besten darüber unterscheiden, wie der Fall am Ende der Erzählung aufgelöst wird. Bis zum Aufkommen von staatlichen und privaten Detektiven mussten die Autoren das dénouement eben anders lösen. Dies bedeutet aber nicht, dass das clever end nicht konzipiert werden konnte. Vielmehr scheint es im Nachinein so, dass durch die Einführung als Indiz ex Machina (Bloch 1971, S. 330.). 49 So bezeichnet Edmund in Die geheimnisvollen Gemächer von J. Albiny Gott als „den allwissenden Weltenrichter [...] dem der Fürst wie der Bettler unterworfen ist, und der die Unschuld beschützen und das Verborgene ans Licht bringen wird.“ (Albiny, J.: Die unheimlichen Gemächer in dem Schlosse Lovel, oder: das enthüllte Verbrechen: Eine romantische Sage aus dem mittlern Zeitalter in zwei Theilen. Braunschweig: Verlag Meier, 1824. S. 91). 52 <?page no="65"?> einer Detektivfigur die Variationen einer literarischen Lösung dieses Problems schlagartig abnahmen 50 . Die frühen Autoren der Verbrechensliteratur nutzten vor allem Kunstgriffe wie den Zufall oder eine höhere Macht, um sich aus diesem erzähltechnischen Dilemma zu befreien. Je rationaler die fiktive Literatur dabei im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde, desto schwieriger wurde dabei ein glaubhafter Einsatz dieser Elemente. Durch diese Konstruktion konnte der Leser nur bedingt mit dem Wissen der literarischen Detektivfigur konkurrieren und auch das Rätsel ließ sich nur schwer gestalten. Dass dies ganz gezielt von einem der berühmtesten Krimiautoren abgeändert wurde, zeigt ein Zitat von Doyle aus einem Interview mit der „Westminster Gazette“ im Jahr 1900: Damals, um das Jahr 1886, hatte ich einige Detektivgeschichten gelesen und stieß mich an dem Unsinn, den sie verzapften um es mild auszudrücken -, weil die Autoren bei der Auflösung des Geheimnisses sich immer von irgendwelchen Zufällen abhängig machten. Ich nahm daran Anstoß, weil mir das als ein nicht faires Spiel vorkam; denn der Detektiv sollte seinen Erfolg etwas verdanken, das seinen eigenen Überlegungen entsprang und nicht einfach zufälligen Umständen, die sich im wirklichen Leben ohnehin nicht ergeben. 51 Er legte damit den Grundstein für eine der populärsten Literaturgattungen unserer Zeit. Gleichzeitig erschuf er ein Erzählschema, dass es auch dem schlechtesten Autor ermöglicht, einen lesbaren Text mit Spannungsaufbau zu verfassen, denn das grundsätzliche Schema ist leicht umzusetzen und effektiv in Bezug auf den Spannungsaufbau. Damit ist der erste große strukturelle Bereich definiert, der den modernen Krimi auszeichnet: die Konstruktion eines vom Anfang der Erzählung bis zu deren Ende reichenden Spannungsbogens, der 50 Bloch 1971, S. 325: „Der Anfang zum clever end scheint schwer gewesen zu sein, wurde später leider desto leichter. Hoffmanns „Fräulein von Scudéry, öffnet 1819 die Bahn, mit der edlen alten Dame fast schon detektivhaft, den Goldschmied entlarvend, seinen Gesellen rettend. Scharf entwickelt aber, bereits mit allem Zubehör, wurde das Genre durch E.A. Poe, wie bekannt [...].“ 51 Berger 1988, S. 24-25. 53 <?page no="66"?> durch eine speziellen Erzähltechnik konzipiert wird. Die Eigenheiten der Chronologie und der Fokalisierung, die diesen Effekt bewirken, werden mithilfe der Begriffe von Gérard Genette in Kapitel 2.5 erläutert. Selbst wenn dieser „Stammbaum der Verbrechensliteratur“ recht übersichtlich die verschiedenen Untergattungen aufzeigt, so hat doch die Übersicht, wie jede Vereinfachung, auch ihre Grenzen. Manche Textsorten, wie beispielsweise die Moritat, bewegen sich zwischen den Konzeptionen. Sie können wahr oder erfunden sein, sind manchmal eher unterhaltend, manchmal eher tragisch und bieten auch die Möglichkeit der Ausgestaltung moralischer Aspekte. Innerhalb des hier behandelten Zeitraums lassen sich zudem Texte entdecken, die beide Seiten miteinander kombinieren oder innerhalb einer Erzählung zwischen den Bereichen wechseln. So ist beispielsweise die Erzählung „Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre“ von Paul J. A. von Feuerbach vom Blick her eigentlich dem Bereich der Kriminalliteratur zuzuordnen, da ausschließlich das rationale dénouement präsentiert wird, das aber aufgrund der Untersuchungen zu keinem Ende kommt, da der Täter nicht gefunden wird und somit keine Hintergründe der Tat angegeben werden können. Ihr literarischer Zusammenhang rechtfertigt aber die Zuordnung zur Verbrecherliteratur. Zudem ist dies ein extremer Sonderfall, der sich so auch nicht an anderer Stelle der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur nachweisen lässt und interessanterweise ähnliche Techniken des Aufbaus von falschen Verdachtsmomenten durch Analepsen und Prolepsen kreiert wie der moderne Krimi. Ein weiterer Sonderfall sind „Die Geheimnisse von Berlin“, in denen Episoden, die der Verbrecherliteratur zuzuordnen sind, Episoden gegenüber stehen, die der Kriminalliteratur zuzuordnen sind 52 . Andere Textsorten, wie beispielsweise der Detektivroman, lassen sich dagegen eindeutig als fiktive Kriminalerzählung mit rationalem dénouement definieren. Auch sonst lassen sich eigentlich sämtliche Texte, die das Verbrechen thematisieren, recht eindeutig innerhalb dieses Schemas kategorisieren. Solche Grenzfälle, wie oben beschrieben, können durchaus als kreative Variationen betrachtet werden, die die eigentlichen Struk- 52 Siehe dazu Kapitel 10.2. 54 <?page no="67"?> turen aufgrund ihrer Seltenheit nur bestätigen und, im Fall der „Geheimnisse von Berlin“, in ihrem Aufbau den Inhalt unterstützen. Dem Schema könnte ebenfalls noch eine weitere untere Ebene hinzugefügt werden, auf der beispielsweise die verschiedenen Spielarten der fiktiven Kriminalerzählung mit rationalem und personengebundenen dénouement aufgezeigt werden. Auch einige der anderen Spielarten erlauben eine solche Verfeinerung. Dies wurde bewusst fortgelassen, um den weiten Blick auf das Thema an dieser Stelle zu wahren und die Übersicht nicht unnötig zu verkomplizieren. So wird keine einzige spezifische Spielart ausgeschlossen, da die Bereiche möglichst umfassend definiert werden. Genau dies ist Ziel der Untersuchung. Der Vorteil dieser Darstellung ist es zudem, dass sich so erkennen lässt, dass man innerhalb des analysierten Zeitraumes eine Verschiebung des Schwerpunktes der Darstellung von der juristischanthropologischen Verbrecherliteratur hin zur fiktiven Kriminalliteratur mit personengebundenem dénouement erkennen kann. Diese Entwicklung von Strukturen beginnt am Anfang des 18. und dauert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der Zeitraum zwischen 1782 und 1855 spiegelt dabei eine intensive Zeit dieser Entwicklung wider. Daher soll, so weit wie möglich, eine chronologische Darstellung der Werke in den Kapiteln der Textanalyse möglichst beibehalten werden. 2.3 Überlegungen zur zeitlichen Entwicklung der verschiedenen Ausprägungen Warum aber vollzieht sich ein solcher Wechsel innerhalb der Gattung der Verbrechensliteratur und wie kann die hier geäußerte Vermutung bestätigt werden, dass eben nicht die „Urknall-Theorie“ zutrifft, sondern sich eine historische Entwicklung der Darstellung des Erzählstoffes beobachten lässt? Dabei ist eine solche Veränderung keineswegs nur in Bezug auf die Verbrechensliteratur zutreffend, sondern eine immer wieder zu beobachtende literarische Tatsache. ‚Die neue Form tritt auf, um eine alte Form zu ersetzen, die ihre künstlerische Brauchbarkeit überlebt hat‘, schreibt Viktor Šklovskij, und genau in diesem Sinne scheint auch hier der 55 <?page no="68"?> Abstieg eines führenden Genres die notwendige Voraussetzung zu sein, damit das nachfolgende hegemonial werden kann. So lassen sich möglicherweise auch die merkwürdigen ‚Latenzen‘ in den jeweiligen Anfangsstadien einzelner Genres erklären [...]. 53 Diese „merkwürdigen Latenzen“ waren bisher immer wieder der Stolperstein vieler Ansätze, welche die Geschichte des Krimis als bloße Folge der beiden Werke von Poe und Doyle darstellen. Betrachtet man wirklich alle Erzählungen von Doyle, die Sherlock Holmes als zentrale Figur einsetzen, so lassen sich hier jede Menge an verschiedenartigen Erzählstrukturen herausarbeiten. Von diesen Versuchen setzten sich aber nur die besten durch. Das Zitat von Šklovskij muss dahingehend eingeschränkt werden, dass diese alten Formen durchaus auch nach der Einführung einer neuen Form ihren Platz in der Literatur haben, nur eben mit einer veränderten Gewichtung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Zeit scheinbar noch nicht reif für Poes fortschrittlichen Entwurf. Die verschiedenen Möglichkeiten der Ausgestaltung seines Konzeptes wurden von ihm nur gestreift und schließlich von Doyle ausgearbeitet. Dagegen geriet mit dieser Weiterentwicklung der Bereich der Verbrecherliteratur in den Hintergrund, der aber im 21. Jahrhundert erfolgreich von Ferdinand von Schirach wiederbelebt wurde 54 . Die Forschungsergebnisse Morettis zeigen, dass die Systeme sich nicht fortwährend ein wenig verändern, sondern über Jahrzehnte hinweg gleich bleiben und dann abrupt transformiert werden 55 . Meist halten sich dann die Formen zwei bis drei Jahrzehnte und ändern sich wiederum schlagartig. Dies könnte das plötzliche Auftreten des modernen Krimis erklären, doch die historische Entwicklung und die Vorläufer einer Form erklärt dies nicht, denn die inhaltlichen und strukturellen Feinheiten, die nach und nach innerhalb der Formen diese abrupte Transformation auslösen, werden so nicht dargestellt. Interessanterweise nimmt in diesem Zusammenhang das Detektivgenre ein besondere Rolle ein, die Moretti vor ungelöste Fragen 53 Moretti 2009, S. 25. 54 Siehe dazu Kapitel 5.9. 55 Ebd., S. 27. 56 <?page no="69"?> stellt 56 . Dieses Genre, ebenso wie das der Science-Fiction, entzieht sich dieser Dynamik und ist bis heute aktueller denn je: „Obwohl beide Genres ihre moderne Form um 1890 erreichen (Doyle und Wells) und synchron zum allgemeinen Muster in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts großen Veränderungen unterliegen, scheint ihre eigentümlich lange Lebensdauer nach einer anderen Antwort zu verlangen.“ 57 Betrachtet man nun den Detektivroman als eine Spielart der Kriminalliteratur, die wiederum in einer langen Tradition der Verbrechensliteratur steht, so kann dies dennoch sinnvoll interpretiert werden. Da neben dem Inhalt auch die Erzählstruktur des Kriminalromans eigentümlich ist, könnte man an dieser Stelle die These wagen, dass sich die „Normalliteratur“ ungefähr alle 25 Jahre ändert 58 und zwar so lange, bis eine neue universelle Form geschaffen wird, derer sich jeder Schriftsteller bedienen kann und welche sich durch anhaltenden kommerziellen Erfolg besonders in ihrem Einsatz lohnt. Allerdings heißt das leider nicht, dass sich aus jedem Genre eine solche Form herausbilden kann, denn viele Inhalte sind nur innerhalb gewisser Phasen der Menschheit interessant. Vielmehr geschieht dies dort, wo ‘archetypische Inhalte‘ oder ‘Allgemeinmenschliches‘ zum Ausdruck kommen. In Bezug auf die Science-Fiction-Literatur ist es dem Mensch genauso zu eigen, dass er stets nach einer Verbesserung seiner Technik strebt, da er an ihrem Fortschreiten (noch) die Größe der Menschheit misst. Ähnlich dürfte es sich mit der Darstellung von Liebe verhalten. Zudem passiert dies dort, wo die Neugier des Lesers immer wieder entfacht werden kann, also innerhalb einer Erzählstruktur, die zeitlich ungebunden mit Inhalten gefüllt werden kann und für die es stets ein Lesepublikum gibt. Denn das Konzept des modernen Krimis strukturiert diesen Inhalt auf eine ganz besondere Art und Weise und kombiniert darüber hinaus mehrere Aspekte des Lesevergnügens miteinander. Aus diesem Grund entzieht sich der Detektivroman einer solchen Analyse, wenn die Beschreibung auf der inhaltlichen Seite stehen bleibt und sich nur an den modernen Formen der Kriminalliteratur 56 Moretti 2009, S. 28. 57 Ebd., S. 43. 58 Ebd., S. 29. 57 <?page no="70"?> orientiert. Geht man hier einen Schritt zurück, so kann man durchaus konstatieren, dass es die Darstellung von Verbrechen schon vor dem modernen Kriminalroman gab und dass Darstellungen, die der Verbrechensliteratur des 18. Jahrhunderts ähneln, auch heute noch hohe Verkaufszahlen erreichen, wenn sie von ihrer Erzählstruktur her an moderne Erwartungen angepasst werden 59 . Somit kann die Betrachtung von Zyklen und Genres eine „versteckte Geschwindigkeit“ 60 aufzeigen, mit der sich Prozesse in der literarischen Entwicklung abspielen. Da „die Vielfalt der Romane auf eine einzige Basisform reduziert“ 61 wird und so Theorien an „Eleganz und Attraktivität“ 62 gewinnen, wird ein Großteil der literarischen Produktion außen vorgelassen. Moretti geht dabei so weit, dass er die These aufstellt, dass so „neun Zehntel der Literaturgeschichte ausgelöscht“ 63 werden, die, historisch betrachtet, sehr wohl einen Einfluss auf die Genese einer solchen Erzählstruktur haben. Auch wenn sich Morettis folgendes Zitat allgemein auf den Roman bezieht, so verdeutlicht es doch die Problematik, die auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kriminalroman zugrunde liegt. Der Roman ist in diesem Sinne die eigentliche Form, weshalb er eine komplette Großtheorie verdient. Die Subgenres dagegen kommen eher Unfällen gleich, deren Studium zwar interessant sein mag, aber dennoch vom Ansatz her lokal bleiben muß und keine ernsthaften theoretischen Konsequenzen haben kann. 64 Dieses Konzept führt Moretti anhand der Entstehung des Detektivgengres durch und belegt, wie Doyle innerhalb seiner Geschichten mehrere Strukturveränderungen vornimmt und welche Aspekte ihn von seinen zeitgenössischen Mitstreitern unterscheiden. Šklovskij weist an dieser Stelle darauf hin, dass es Doyles bester Erzähltrick war, die wichtigen Informationen für die Entschlüsselung des Rätsels 59 Siehe dazu Kapitel 5.9. 60 Moretti 2009, S. 39. 61 Ebd., S. 40. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 39. 58 <?page no="71"?> in Nebensätzen zu verstecken und dort zu platzieren, wo sie der Leser nicht direkt wahrnimmt 65 . Moretti spricht von einer „kulturellen Selektion“ 66 , in der Autoren zwar auf bekannte Erzählstrukturen zurückgreifen und sich eines Genres bedienen, sie aber zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie sie nicht souverän einsetzen. Entscheidend ist somit letztendlich immer der Geschmack des Publikums, der über Erfolg oder Misserfolg eines Werkes und, im Großen betrachtet, einer Literaturgattung entscheidet. Dies könnte der Grund dafür sein, dass viele der in dieser Arbeit vorgestellten Texte kaum noch bekannt sind, obwohl sie jeden Liebhaber historischer Krimis begeistern müssten, im Laufe der Zeit aber scheinbar vergessen wurden 67 . Morettis Diagramm des Detektivgenres lässt ihn selbst stutzig werden, da er zu dem Schluss kommt, dass allein die Verdichtung der Gesamtstruktur zu dem Element der detektivischen Anhaltspunkte „ungewöhnlich“ ist 68 . Da er fordert, dass literarische Stammbäume „auf einer Vielfalt morphologischer Merkmale aufbauen“ müssen, soll diese Verdichtung als These dafür gelten, dass der Inhalt zwar auch andere morphologische Merkmale in sich trägt, diese aber, wie an den folgenden Werken zu zeigen ist, verschwanden, da sie oftmals erzählerischen Ballast darstellten und nur so der Rätselaspekt von Detektivgeschichten klar hervortreten konnte. Trotzdem stellt er fest, dass die Abzweigungen seines Stammbaums sowohl durch etwas bestimmt wird, das kleiner als individuelle Texte ist (einzelne Sätze, Metaphern), auf der anderen Seite durch etwas Größeres, dem Genre 69 . Hierbei ist es hauptsächlich der Markt, so Moretti, der diese Stammbäume wachsen lässt und ihnen immer mehr neue Blätter beschert, aber „das beständige Ausdifferenzieren geht einher mit beständigem Aussterben“ 70 . 65 Moretti 2009, S. 87. 66 Ebd., S. 86. 67 Ebd.: „Wenig könnte besser illustrieren, auf welche Weise der Literaturmarkt funktioniert: Dort herrscht rücksichtsloser Wettbewerb, ein Wettbewerb der Formen. Die Leser entdecken, daß sie eine bestimmte Technik mögen, Geschichten, die nicht auf diese Technik zurückzugreifen scheinen, werden von nun an einfach nicht mehr gelesen und verschwinden daher.“ 68 Ebd., S. 111. 69 Ebd., S. 91. 70 Ebd., S. 93. 59 <?page no="72"?> Die Literaturgeschichte wird also von sehr kleinen und sehr großen Kräften geformt; von Techniken und Genres, keineswegs aber von eigenständigen Texten. [...] Für gewöhnlich nähert die Literaturkritik sich [Texten] in einer Weise, die der Evolutionsbiologe Ernst Mayr als ‚typologisches Denken‘ bezeichnet hat - ein ‚repräsentatives Individuum‘ wird ausgewählt und von ihm ausgehend das Gesamtgenre definiert. [...] Wird nun aber demgegenüber ein Genre in Form eines Stammbaums visualisiert, so schwindet unweigerlich jede scheinbare Kontinuität zwischen dem einzelnen Objekt und dem Genre als Wissensbereich: Das Genre erscheint so als abstraktes ‚Spektrum der Vielfalt‘ (Mayr), für dessen innere Mannigfaltigkeit kein einzelner Text jemals stehen könnte. 71 Im weiteren Verlauf zeigt er nicht nur diese Bezüge für Genres auf, sondern auch, und damit noch viel wichtiger für diese Arbeit, dass dies für Erzählstrukturelemente möglich ist 72 . Ohne darauf weiter einzugehen heißt dies, dass Elemente wie Fokalisierung, Aufbau und Länge der Erzählungen mit einbezogen werden können und man somit eine literaturhistorische Betrachtung bis hin zu einer Darstellung von der Verwendung einer bestimmten Erzählstruktur für einen bestimmten Inhalt ausweiten kann. Dies soll daher in der Textanalyse stets mit einbezogen werden. Diese Modelltheorie hilft somit an dieser Stelle, mit einfachen Übersichten darzustellen, welch ein großes literarisches Feld diese Arbeit zu öffnen versucht. Darüber hinaus zeigt es die noch bestehenden Lücken auf, die durch weitergehende Forschungen geschlossen werden müssen. Dabei soll es zwar „die Arbeit eines literarischen Pathologen“ 73 sein, die „ein Spektrum der Vielfalt“ abbilden möchte 74 , aber nicht nur bei Stammbäumen stehen bleiben darf. Daher müssen einige Texte etwas genauer analysiert werden, um im Kleinen die Elemente zu isolieren, die später im Gesamtkonzepts des Krimis eine Rolle spielen, damit ihre historische Entwicklung nachvollzogen werden kann. Dies wird im Folgenden 71 Moretti 2009, S. 91-92. 72 In diesem Fall bezieht stellt er die Entwicklung der erlebten Rede in der modernen Erzählliteratur dar. Vgl. Ebd., S. 100. 73 Ebd., S. 93 74 Ebd., S. 92. 60 <?page no="73"?> anhand von Balkendiagrammen und weiteren grafischen Übersichten geleistet. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass nur so die Unterscheidung zwischen Hoch- und Massenkultur durch temporale und morphologische Kategorien ersetzt werden kann 75 , ohne die Interpretation individueller Texte zu vernachlässigen. Doch das Ziel bleibt gleich: Es geht darum, „das Feld der Literaturwissenschaft auszuweiten und in einer Weise neu zu arrangieren, die es uns erlaubt, überkommene, nutzlose Unterscheidungen [...] endlich durch neue temporale, räumliche und morphologische Kategorien zu ersetzen“ 76 . Vor diesem Hintergrund könnte die hier angewandte Technik, analog zur Begriffsbildung Morettis, als „closer reading“ bezeichnet werden. 2.4 Das Kriminalschema Aus den vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema der Verbrechensliteratur muss ein Werk hervorgehoben und näher betrachtet werden, dass sich konkret mit den frühen Formen dieser Gattung auseinandersetzt. In seinem Werk „Novelle und Kriminalschema“ 77 , befasst sich Rainer Schönhaar ausgiebig mit der Entwicklung des Kriminalschemas in deutschsprachiger Literatur des 19. Jahrhunderts. Dabei legt er den Schwerpunkt seiner Betrachtungen auf die Form der Novelle, die gerade in der Romantik überaus populär war. Allerdings wird seine Konzentration auf Novellen der formellen Vielfalt der Texte in diesem Zeitraum nicht gerecht und ist darüber hinaus schwierig, da sich ein wirklicher Novellenbegrifferst ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte. Er verweist in diesem Zusammenhang zurecht auf die „triviale und gehobene Unterhaltungsliteratur dieser Jahrzehnte“ bis zum „Geniestreich von Edgar Allan Poe“ 78 , welche „sehr reichhaltig und vielgestaltig nachweisbar ist und nicht ohne Folgen für die Zukunft blieb“ 79 . Daher, so Schönhaar weiter, kann man Texte der Verbrechensliteratur zuerst einmal ohne Bezug zu den späteren Entwicklungen betrachten, da 75 Dabei wird die räumliche Komponente vorerst ausgeklammert. 76 Moretti 2009, S. 109. 77 Schönhaar 1969. 78 Ebd., S. 58. 79 Ebd. 61 <?page no="74"?> das um die Detektivfigur herum „konstruierte starre Darstellungsklischee“ 80 zu dieser Zeit noch nicht existiert. Das Problem ist, dass man auf der anderen Seite mit diesem Ansatz „vor einer ungefügen Fülle [steht], die aller Konstruktivität entbehrt“ 81 . Es werden die verschiedensten Traditionszusammenhänge herangezogen, in denen der Kriminalroman zu stehen scheint, um das Feld zu strukturieren 82 , was aber nicht unbedingt dazu beiträgt, das literarische Feld übersichtlich zu beschreiben. Boileau und Narcejac weisen darauf hin, dass bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts alle Erzählstrukturelemente der modernen Kriminalerzählung vorhanden waren, aber in ganz verschiedenartigen Werken vorkamen. Sie betonen dabei, dass das Konzept des modernen Krimis als eine „Synthese“ 83 dieser Elemente betrachtet werden kann. Schönhaar sucht vor diesem Hintergrund bereits nach Hinweisen, wie die Konstruktion des Rätsels und den damit verbundenen Spannungsaufbau losgelöst von der gängigen Annahme betrachtet werden kann, dass dieser im Bereich der Darstellung von Verbrechen zwangsläufig mit einer Detektivfigur verknüpft werden muss. Dabei stellt sich diese Technik bei näherer Betrachtung zuerst als eine besondere Reihenfolge der einzelnen Angaben von Informationen dar. Schönhaar nennt vier wichtige Gestaltungsmerkmale, die das von ihm so bezeichnete Kriminalschema ausmachen. 1. Die Kriminalfrage nach dem Täter : Das ständige Fragen nach den verborgenen Ursachen und Hintergründen einer kriminellen Tat „gibt [...] ein Organisationsprinzip ab, das die übrigen Einzelelemente detektorischen Erzählens zu einem geschlossenen Schema integriert.“ 84 Diese Frage muss nicht mit einer Figur im Erzähltext verbunden werden, sondern kann vom Erzähler gestellt und beantwortet werden. 80 Schönhaar 1969, S. 58. 81 Ebd. 82 Schönhaar nennt den Schauerroman, den Abenteuerroman, den Verschwörungsroman, die gothic novel (England), den pikaresken Roman, die Geheimbunderzählung, den Räuberroman und moralische Erzählungen als „Vorstufe zur deutschen Novelle“ (Ebd., S. 12-13). 83 Boileau-Narcejac 1964, S. 32. 84 Schönhaar 1969, S. 194. 62 <?page no="75"?> 2. Die Auswirkungen der Frage nach dem Täter auf die Zeitstruktur im Kriminalschema: Schönhaar setzt mit der „Kriminalfrage nach dem Täter“ also grundsätzlich voraus, dass die chronologische Erzählordnung eines Tatablaufes bereits durchbrochen ist, denn um die Kriminalfrage nach dem Täter stellen zu können, muss die Tat bereits begangen worden sein. Dies hat Auswirkung auf die Geschwindigkeit der Erzählung, denn „das unablässige Weiterfragen erlaubt nämlich weder ein längeres Verweilen noch ein weiteres Ausholen, sondern es drängt auf Enthüllungen und Entscheidungen.“ 85 Dabei sind vor allem die Rückwendungen (Analepsen) und die Vorausdeutungen (Prolepsen) wichtig, um die besondere Kombination aus Verrätselung und Detektion literarisch umzusetzen. 3. Gestalt und Funktion der aufbauenden Rückwendungen : Durch die veränderte Zeitstruktur nehmen Rückwendungen damit eine ganz besondere Rolle beim Aufbau und der Auflösung des Rätsels ein und können mannigfaltig gestaltet werden. Hierbei kann der Autor allerdings den Leser in die Irre führen oder bewusst Aspekte verschweigen 86 . Es ist wie ein Mosaik, zu dem immer wieder kleine Steinchen geliefert werden, bis sich ein vollständiges Bild ergibt. In der Übersicht über die Erzählelemente der Verbrechensliteratur betrifft dies besonders den Bereich des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer. 4. Die besondere Struktur der Vorausdeutungen: Doch nicht nur über Aufdeckungen in der Vergangenheit, und damit zeitlich 85 Schönhaar 1969, S. 194. 86 Ebd., S. 195: „Erzähltechnisch stehen dafür sämtliche Formen der Rückwendung zur Verfügung, wie Lämmert sie katalogisiert hat. [...] In allen Fällen aber zeigt die aufbauende Rückwendung im Kriminalschema ein gleichbleibendes Charakteristikum: sie trägt äußere Fakten aus der Vergangenheit herzu, die in einer oder der anderen Weise mit dem Anfangsereignis in Zusammenhang stehen; das Wissen um diese Fakten bringt jedoch vorerst noch keine Lösung des Rätsels mit sich, sondern es stiftet eher noch größere Verwirrung die Frage nach dem Täter verschärft sich. [...] Die aufbauende Rückwendung steht also in einem vorausweisenden Funktionszusammenhang mit der auflösenden Rückwendung, die Lämmert als Kennzeichen des Kriminalschemas eigens hervorgehoben hat.“ 63 <?page no="76"?> gesehen den Bereich vor der Tat, deutet sich dem Leser die Auflösung des Rätsels an. Mithilfe von Vorausdeutungen können Hinweise auf die Lösung des Rätsels gegeben werden, die ebenso falsch sein können wie die Rückwendungen 87 . Zudem kann der Autor diese verstecken, indem er diese Informationen nicht ausdrücklich kennzeichnet oder verschlüsselt. Der Schlüssel zur Lösung des Rätsels liegt dann in der Fähigkeit des Lesers, den Wahrheitsgehalt der Rückwendungen einzuschätzen und ihn anhand der Vorausdeutungen zu überprüfen, sodass er vor der Auflösung zu einem eigenen Schluss kommen kann 88 . Schließlich folgt auf das dénouement noch eine kurze Textpassage, bevor das Schema beendet wird 89 . Schönhaar weist zurecht darauf hin, dass die Art und Weise, wie dieses detektorische Erzählen abläuft, durchaus eine literarische Qualität haben kann 90 und misst dem dénouement eine zentrale Bedeutung zu. Dessen Ausgestaltung ist im oben vorgestellten Stammbaum der Verbrechensliteratur im Bereich der Kriminalliteratur nicht umsonst ein formbestimmendes Element und hängt davon ab, ob es mit einer Figur im Text verknüpft werden kann oder ob sich der Autor andere Gestaltungsweisen einfallen lassen muss, um das Rätsel aufzulösen. Denn im Bereich der Kriminalliteratur, die das Verbrechen von außen betrachtet, 87 Schönhaar 1969, S. 204. 88 Ebd., S. 196: „Diese Technik des Abwechselns falscher Fährten mit versteckten Hinweisen führt immer wieder zu Teilwendepunkten und schließlich zu dem Hauptwendepunkt des Geschehens, zum dénouement.“ 89 Ebd., S. 197: „Wie Lämmerts Befund über den Stellenwert der auflösenden Rückwendung innerhalb eines Erzählwerkes weiterhin erkennen läßt, ist die Enthüllung im allgemeinen nicht das letzte, sondern das zweitletzte Glied im Kriminalschema. [...] immer folgt dem enthüllenden dénouement noch der endgültige Schluß der Erzählung.“ 90 Ebd.: „So zeichnen sich innerhalb der Baugesetze des Kriminalschemas bei aller Gemeinsamkeit des erzähltechnischen Formenbestandes und des in sich geschlossenen Umrisses sehr verschiedene, ja gegensätzliche Möglichkeiten der Handhabung und Sinngebung detektorischen Erzählens ab, die jeweils zu berücksichtigen sind, wenn es gilt, die Entfaltung des Strukturmusters in konkreten literarischen Einzelgestalten zu erkennen und sichtbar zu machen, Möglichkeiten, die so sahen wir vor allem im Novellenschaffen der deutschen Romantik einerseits und in dem Heinrich von Kleists andererseits zur Geltung kommen.“ 64 <?page no="77"?> strebt „alles Geschehen der erzählten Gegenwart einem schließlichen dénouement“ 91 zu. Schönhaar unterscheidet zwischen zwei Qualitätsstufen der Auflösung: Triviale und unterhaltende Detektivliteratur zeichnet sich dadurch aus, dass am Ende der Triumph des Detektivs und die Restauration der herrschenden Gesetzes und Gesellschaftsordnung steht. Die hohe Erzählkunst dagegen bemüht sich um Möglichkeiten einer Überwindung der offenbar gewordenen Zweideutigkeit, die er als „Problem der Zweideutigkeit der Welt und des Menschen“ 92 bezeichnet. An dieser Stelle erweist sich die Unterscheidung zwischen hoher und trivialer Literatur als Grund für nicht ganz stimmige Feststellungen, denn besonders die Kriminalliteratur im 19. Jahrhundert hebt, auch bei auf den ersten Blick trivialen Werken, die Tatsache hervor, dass in gewissen sozialen und gesellschaftlichen Umständen eben keine Überwindung der Zweideutigkeit möglich ist und entlarvt damit die Scheinheiligkeit der theoretischen Idee einer allgemeingültigen Gesellschaftsordnung. Die Idee dieser angeblich perfekten sozialen Ordnung, die durch eine kriminelle Tat scheinbar nur kurz gestört wird, ist, war und wird wahrscheinlich immer eine Illusion bleiben und die frühe Verbrechensliteratur gab sich dieser Illusion nur selten hin. In einem ganz entscheidenden Punkt schließt sich aber das Konzept dieser Arbeit an die Forschungen Schönhaars an. Es soll versucht werden, „typische Merkmale der gedanklichen und formalen Struktur des Kriminalschemas als eines Baumusters in der Erzählkunst nicht aus der konkreten Detektivliteratur seit Edgar Allan Poe abzuleiten, sondern sie vielmehr mit aller Entschiedenheit in dem voraufgegangenen halben Jahrhundert aufzusuchen.“ 93 Es geht darum, „Wesen und Geschichte des Kriminalschemas vor seiner Verengung und Trivialisierung zur Detektivgeschichte zu umreißen“ 94 , allerdings müssen die „erzähltechnischen Elementarteile“ 95 im Vergleich zum Ansatz Schönhaars um die weiter oben vorgestellten Übersichten erweitert werden, um dem Trugschluss zu begegnen, 91 Schönhaar 1969, S. 194. 92 Ebd., S. 64. 93 Ebd., S. 43. 94 Ebd., S. 54. 95 Ebd. 65 <?page no="78"?> dass keine anderen Formen außer dem Detektivroman überlebt haben. Und so kann die These, dass die Verbrechensliteratur besonders vor der Etablierung der Detektivgeschichte vielschichtig und differenziert war, nur durch einen konkreten Blick in die Werke belegt werden. Man kann deutlich erkennen, dass Schönhaar sich ebenfalls stark an der Kriminalliteratur Poe‘scher Prägung orientiert. Dennoch sind seine Analyseaspekte so abstrakt formuliert, dass sie auch auf Texte vor 1841 angewendet werden können und aufgrund dieses Ansatzes ragen Schönhaars Überlegungen aus der Masse an Sekundärliteratur zu diesem Thema heraus. Er erweitert ebenfalls den Rahmen der Untersuchungen auf einen größeren Zeitraum, konzentriert sich aber auf Texte der Romantik. Seine Analyse legt das Hauptaugenmerk hauptsächlich auf das Element des Rätsels, auf das Auslegen falscher Spuren sowie die Einbeziehung des Lesers in das Gesamtkonstrukt und klammert dabei bewusst die Figur des Detektivs aus. Gibt es keine Detektivfigur, so muss genau analysiert werden, inwieweit der Autor die Durchführung der Kriminalfrage verlagert. Schönhaars Definition bietet daher den Vorteil, dass die zu starke Fixierung auf das Vorkommen einer Detektivgestalt in der Erzählung vermieden wird, die sonst viele Erzähltexte von der Analyse ausschloss. Dies wurde auch von Bloch gefordert. Anhand der Begrifflichkeiten der Erzählstrukturanalyse Genettes sollen nun die Überlegungen Schönhaars weiter differenziert werden. 2.5 Weiterführende Überlegungen zu Schönhaars Kriminalschema 2.5.1 Die zeitliche Gestaltung und die Ordnung Sowohl Analepsen wie auch Prolepsen spielen also eine entscheidende Rolle in der modernen Kriminalliteratur, denn diese zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sich die eigentliche Handlung auf Vorgänge bezieht, die sich nur aus dem „Unerzählten, Vor-Geschichtenhaften“ 96 heraus erklären lassen. Selbst der Erzähler scheint nicht zu wissen, wohin sich der Fall in der dargestellten Zukunft entwickeln wird. Im 96 Bloch 1971, S. 327. 66 <?page no="79"?> Gegensatz dazu entfällt durch die meist chronologische Anordnung der Erzählung im Bereich der Verbrechensliteratur 97 die Notwendigkeit einer Technik, welche retrospektiv das Geschehen erläutert. Diese spezielle Ordnung, und später auch die Bindung der Auflösung an eine bestimmte Person, ist es, was den Bereich der Kriminalliteratur ausmacht und sie spannend gestalten lässt. Die Anachronie eines klassischen Krimis, die in einem großen Rückgriffbesteht, kann so erklärt werden. Wichtig bleibt die Feststellung, dass die „Erzählung gegen den Strich“ 98 und damit der Bruch mit literarischen Konventionen überhaupt erst die Kreation solcher Erzählstrukturen ermöglicht. Dies lässt sich immer mehr zum Ende der Aufklärung hin nachweisen und war schließlich ein zentrales Element der Romantik. In diesem Sinne kann die Idee eines „Anti-Märchens“ verstanden werden, wie es Lugowski definiert 99 . Die Analepsen erklären im modernen Krimi meist gewisse Aspekte aus dem Leben der beteiligten Personen, die sie dem Leser verdächtig oder unverdächtig erscheinen lassen, die Prolepsen werden vom Erzähler eingestreut, um den Leser am Rätsel teilhaben zu lassen oder um ihn bezüglich der Lösung zu täuschen. Prolepsen finden sich aber auch bei der Verbrechererzählung, den juristischen Texten oder den sogenannten sozialen Novellen, da hier der Weg ins Unglück 97 Dies bezieht sich nur auf die Variante, die chronologisch das Leben des Täters von Beginn an erzählt. Vgl. zu den beiden Ordnungsmöglichkeiten der Verbrecherliteratur Kapitel 5.1. 98 Vgl. dazu Boileau, Pierre; Narcejac, Thomas: Der Detektivroman. Aus dem Französischen, mit Anmerkungen und einer Bibliographie von Wolfgang Promies. Neuwied, Berlin: Hermann Luchterhand Verlag GmbH, 1964. S. 35. Die Autoren nennen hier als Beispiel das Werk Caleb Williams (1794) von William Godwin, das als eines der frühesten Werke diese Technik bewusst nutzt. 99 Lugowski, Clemens: Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists. Frankfurt a. M.: Diesterweg, 1936. S. 156-157: „Das Schema des Kriminalromans gehört dem echten Märchen- Antimärchen-Stil zu. Verborgene Sachverhalte, lange vergebliche Versuche ihrer Enträtselung, absolute Herrschaft der Kausalität, die schließliche Befriedigung im glücklichen Ausgang, der immer gelingenden Enthüllung das wären nur einige Haltepunkte für eine Morphologie des Kriminalromans. Kleist eignet sich dieses Schema an, das ja älter ist als der Kriminalroman selbst, um gleichsam aus der Mitte des Antimärchens sein Wirklichkeitsgefühl umso unwiderleglicher zu entwickeln.“ 67 <?page no="80"?> beschrieben und dies vor dem tragischen Ende schon öfters im Text angedeutet wird. Alewyn nutzt diesen Aspekt der Ordnung, um den „Kriminalroman“, der in dem hier entworfenen Schema der Verbrecherliteratur entspricht, vom „Detektivroman“ abzugrenzen 100 . Die Analepse und die Prolepse erfüllen in der Verbrecherliteratur eine ganz ähnliche Funktion, denn sie ermöglichen es dem Leser an dieser Stelle mitzuraten, wie der Weg ins Verbrechen nun stattfindet oder, wenn die Tat direkt zu Beginn beschrieben wird, wie das Verbrechen stattgefunden hat und ob es schließlich doch noch Rettung für den Täter gibt 101 . Somit ist auch hier die Ordnung dafür verantwortlich, die Erzählung bis zu einem gewissen Grad spannend zu gestalten. Dies kann mit dem verglichen werden, was Lugowski als „Wie- und Ob-überhaupt-Spannung“ bezeichnet. Die Analysepunkte des Kriminalschemas von Schönhaar betreffen fast ausschließlich Aspekte der Ordnung. Dies ist der wahrscheinlich wichtigste strukturelle Aspekt der besonderen Erzählstrukturen der Verbrechensliteratur eines modernen Krimis, da hierüber Spannung und das Rätsel aufgebaut werden können. Ein grober Vergleich zwischen der chronologisch erzählenden Verbrecherliteratur im Stil Pitavals und der Kriminalliteratur im Stil Poes kann dies verdeutlichen. Diese Übersicht soll grob aufzeigen, wie viel Platz den einzelnen Erzählelementen im Text eingeräumt wird. Die augenfälligsten Unterschiede sind vor allem in Bezug auf die Länge der Aufklärung und die Konsequenzen der Tat 102 festzustellen. Die Kriminalliteratur erzählt, im Gegensatz zur Verbrecherliteratur, keine Lebensgeschichte, sondern „ausgezirkelte Lebensabschnitte“ 103 , in denen alles kausal erklärbar ist. Die Verbrecherliteratur erklärt dagegen meist anhand einer Darstellung des gesamten Lebens einer Person kausal einen Lebensabschnitt, in dem sich Probleme akkumulieren. 100 Alewyn 1971, S. 187. 101 Vgl. dazu Schillers Vorstellung von einer Divinationsaufgabe für den Leser in Kapitel 6.2. 102 Leonhardt 1990, S. 10-11: „Am Ende, wenn der Detektiv seine Arbeit getan hat, wartet auf den Mörder die Strafe für sein Verbrechen, auch heute noch bedeutet das in vielen Ländern den Tod. Die meisten Krimi-Autoren sparen diese letzte Phase des Geschehens bewußt aus.“ 103 Brecht 1971, S. 319. 68 <?page no="81"?> Abb. 7: Grober Vergleich der Anordnung und Länge der Erzählelemente in Vr2 und Kf3 2.5.2 Die Fokalisierung Neben der Ordnung spielt besonders die Fokalisierung für die Verrätselung des Falles eine entscheidende Rolle. Genette legt großen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem, der spricht und dem, der wahrnimmt. Die Wahrnehmung wird von ihm als Fokalisierung bezeichnet. So ist die externe Fokalisierung der Detektivfigur durch einen Gehilfen ein prägendes Merkmal bei Poe und Doyle 104 . Erfolgt die Erzählung zum Beispiel nur aus der Ich-Perspektive des Detektivs (interne Fokalisierung), so ist dies oftmals die einfachste Art zu Lesen und die geringste Eigenaktivierung des Lesers. Viel spannender ist die Perspektive von außen, die das Rätsel noch verstärkt und den Leser zum Wettstreit einlädt. 104 Dennoch finden sich gerade bei Doyle interessante Experimente mit der Fokalisierung. Viele der Erzählungen um Sherlock Holmes sind dadurch gekennzeichnet, dass man eben nur über die interne Fokalisierung von Watson, bzw. fast ausschließlich über die externe Fokalisierung von Holmes die Handlung mitverfolgen kann und die Hauptfigur immer wieder durch Handlungen außerhalb der eigentlichen Geschichte, zum Beispiel durch Informationen der Straßenjungen, über ein erweitertes Wissen verfügt. Doyle versuchte sich an einer internen Fokalisierung der Detektivfigur in The Lions Mane und The Blanched Soldier, sowie an der Form einer metadiegetischen Erzählung bei The Musgrave Ritual und The Adventure of the ‚Gloria Scott‘. 69 <?page no="82"?> E. A. Poe hatte den genialen Gedanken, seinem Helden einen Gefährten zu geben. Ihm kann der Detektiv seine Beobachtungen und Überlegungen mitteilen, so daß der Leser mit Hilfe dieses erzähltechnischen Tricks über alles Wichtige ins Bild gesetzt wird. Damit erschöpft sich die Funktion des Gefährten. Seine Gestalt bleibt farblos; Poe gönnt ihr nicht einmal einen Namen. Vor dem Hintergrund des naiv-dümmlichen Gefährten hebt sich die Gestalt des Detektivs um so strahlender ab. 105 Allerdings stimmen die Ausführungen Leonhardts nicht ganz: Der Leser wird eben durch diese Konstellation eben nicht über alles Wichtige ins Bild gesetzt, sondern die eigentliche Detektivfigur weiß immer mehr und sieht die Zusammenhänge immer klarer. So liegt im genannten Beispiel die Fokalisierung zwar auf der Hauptfigur, wird durch den homodiegetischen Ich-Erzähler aber nur von Außen wahrgenommen. Da er nicht der überragende Detektiv ist, erlaubt diese Konstellation dem Autor, die Informationen gezielt an den Leser zu übermitteln. Nur so konkurriert man als Leser stets mit dem Wissen des eigentlichen Detektivs. Hierbei können gezielt „Elemente der Irreführung“ 106 , wie die der versteckten Hinweise und dem Auslegen falscher Spuren, vom Autor eingesetzt werden. Doch in Texten, die der Verbrecherliteratur zuzuordnen sind, wird häufig eine interne Fokalisierung des Täters eingesetzt, um seine Zweifel, Nöte und Probleme zu schildern. Dabei erfüllt der gezielte Einsatz der Fokalisierung stets den Zweck, die inhaltliche Konzeption zu unterstützen. Auch Reuter weist darauf hin, dass die eigentliche Definition eines Kriminalromans über die Fokalisierung zu suchen ist 107 . Reuter unterscheidet inhaltlich den roman à énigme, welcher den Rätselaspekt hervorhebt und dem am nächsten kommt, was man normalerweise unter einem Krimi versteht, den roman noir, welcher den Verbrecher und sein Ende, oder auch sein Überleben und damit den Triumph über die Aufklärung, darstellt und den roman à suspense, welcher die Verhinderung eines Verbrechens in den 105 Leonhardt 1990, S. 30. 106 Schönhaar 1969, S. 204. 107 Reuter 1997, S. 09. 70 <?page no="83"?> Vordergrund stellt 108 . Seine Unterscheidungen stellen dar, welche Ausdifferenzierungen des Konzeptes des modernen Kriminalromans durch die Wahl der Fokalisierung möglich sind. Grundsätzlich ist die Fokalisierung immer eine Einschränkung und an dieser Stelle von ganz besonderer Bedeutung, da nur über eine Einschränkung des Informationsflusses Spannung entstehen kann 109 . Es lässt sich anhand der analysierten Texte im Zeitraum zwischen 1782 und 1855 feststellen, dass es einen Übergang von der so genannten „Nullfokalisierung“ der frühen Verbrecherliteratur hin zu einer „internen Fokalisierung“ gibt, die beispielsweise zu frühe Prolepsen, die die Spannung abbauen, verhindert. Das Konzept, die Handlung aus der Sicht einer homodiegetischen Erzählfigur mit interner Fokalisierung zu berichten und so den Informationsfluss künstlich einzuschränken, findet sich schon früh in der Verbrechensliteratur, so zum Beispiel in der Erzählung „Das ungleiche Ehepaar“ im Schillerschen Pitaval, im „Geisterseher“ von Schiller und in „Der Kaliber“ von Adolph Müllner 110 . 2.5.3 Die Stimme Davon abgegrenzt werden kann die Frage nach der Stimme. Dies spielt besonders bei den Rahmennovellen eine Rolle, wie bei Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ 111 , den „Polizei- Geschichten“ von Ernst Dronke 112 , aber auch in besonderer Weise bei Hauffs Märchen 113 . Sie ermöglicht die Analyse der narrativen Instanz, der narrativen Ebenen und der Unterscheidung zwischen Held und Erzähler einer Geschichte. Texte in Tradition des Pitaval sind meist durch den heterodiegetischen Erzähler gekennzeichnet, alle anderen 108 Reuter 1997, S. 10. 109 Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. 2. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag GmbH, 1998. S. 138: „Auch wenn er selbst der Held ist, ‚weiß‘ der Erzähler fast immer mehr als der Held, und folglich bedeutet die Fokalisierung auf den Helden für ihn immer eine künstliche Einschränkung des Feldes, egal ob in der ersten oder der dritten Person erzählt wird.“ 110 Siehe dazu Kapitel 6.3.2, 6.4 und 9.6. 111 Siehe dazu Kapitel 5.4.2. 112 Siehe dazu Kapitel 10.1. 113 Siehe dazu Kapitel 9.4. 71 <?page no="84"?> hier behandelten Texte wechseln zwischen homo- und heterodiegetischer Erzählhaltung, um den im hier behandelten Zeitraum häufig auftretenden Wahrheitstopos zu verstärken. Nur Schiller bricht diese Struktur auf und modelliert einen Text aus der Ich-Perspektive 114 , wobei der Grund dafür derselbe ist. All diese Überlegungen spielen in der folgenden Primärtextanalyse eine wichtige Rolle und ermöglichen eine anschauliche Beschreibung der großen Vielfalt der verschiedenen Konzepte der damaligen Verbrechensliteratur. 114 Siehe dazu Kapitel 6.3.2. 72 <?page no="85"?> 3 Überlegungen zu einzelnen Erzählelementen der Verbrechensliteratur An dieser Stelle sollen nochmals die wichtigsten Erzählelemente der in Abbildung 3 in Kapitel 2.1 dargestellten Übersicht näher betrachtet werden. Dies ist wichtig für das Verständnis der in der Primärtextanalyse vorgestellten Werke, da die beiden Untergattungen der Verbrechensliteratur verschiedene Konstruktionsverfahren einsetzen, um die Intention des Textes über den Aufbau zu unterstützen. 3.1 Whodunit: Das Verbrechen und die Figur des Verbrechers Die inhaltliche Einschränkung der Texte erfolgt, wie bereits erwähnt, über das Kriterium, dass die zu analysierenden Texte sich der Darstellung eines Verbrechens widmen. Damit steht zuerst derjenige im Zentrum der Analyse, der die Tat ausführt, denn sie muss zwangsläufig mit einer Person verknüpft werden. Hier lassen sich zwei Blickwinkel auf diese Person voneinander unterscheiden, die das gesamte Konzept der Erzählung bestimmen. Es ist möglich, den Blick auf den Täter zu richten und unter verschiedenen Aspekten zu analysieren, wie es zur Tat gekommen ist. Dieser Blickwinkel ist typisch für die Verbrecherliteratur. Auf der anderen Seite kann die Suche nach dem Täter ins Zentrum der Ausführungen rücken, wodurch ein Rätsel zustande kommt, das mit einer möglichst interessanten Auflösung verknüpft wird, so wie es in der Kriminalliteratur zu finden ist. Die Platzierung des Verbrechens, welches das zentrale inhaltliche Kriterium der Textauswahl ist, hat Auswirkungen auf die gesamte Erzählstruktur und steht im modernen Krimi meistens direkt am Anfang. Damit wird die Suche nach dem Täter strukturell ins Zentrum 73 <?page no="86"?> der Erzählung gerückt. Doch auch in der Verbrecherliteratur finden sich Texte, die mit dem Verbrechen beginnen und von dort aus die Nachforschungen beschreiben. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Formen ist in diesem Fall, dass in der Kriminalliteratur die Frage nach dem Täter möglichst lange unbeantwortet bleibt, in der Verbrecherliteratur diese dagegen zügig und innerhalb weniger Seiten oder Abschnitte aufgelöst wird, teilweise sogar schon in der Überschrift. Die Figur des Verbrechers nimmt also in beiden Konzeptionen durchaus eine andere Rolle ein. In der Verbrecherliteratur, die auf realen Fakten beruht, ist die Konzeption des Täters zudem bereits vorgegeben. Vor dem Hintergrund einer psychologischen Analyse des Täterprofils oder der gesellschaftlichen Umstände kann der Autor ein mitfühlendes und oftmals tragisches Darstellungskonzept aufbauen, oder eben die Losgelöstheit des Täters von moralischen Vorstellungen aufzeigen. Von diesen beiden Konzepten übernimmt der moderne Krimi meist nur die zuletzt genannte Darstellungsform, denn wenn der Spannungsaufbau im Vordergrund steht, so bleibt wenig Platz für eine dezidierte Darstellung des fiktiven Täters und seiner sozialen Umstände, da dies den eigentlichen Handlungsfluss nur unnötig verlangsamen würde. In der Kriminalliteratur wird vielmehr durch Überlegungen, Beobachtungen und Nachforschungen der Detektivfigur so lange ein Täterprofil entwickelt, bis es zu einem der Beschuldigten passt. Hierbei ist der Kontrast zwischen Gut und Böse wichtiger als eine psychologische Analyse, weshalb die Beweggründe der Verbrecher in dieser Erzählstruktur meistens niederer Natur sind. Daher werden diese Figuren in ihrem verbrecherischen Tun häufig als Einzelgänger dargestellt, um ihre soziale Abkehr zu verdeutlichen 1 . Es geht somit in der Kriminalliteratur hauptsächlich darum, den Täter zu stellen, nicht etwa seine Taten soziokulturell zu erklären. Das Täterprofil ist Mittel zum Zweck, denn es ist Teil der Lösung des Rätsels. Seine Verurteilung und die damit verbundenen Kon- 1 Moretti, Franco: Signs Taken for Wonders: Essays in the Sociology of Literary Forms. London : Verso Edition, 1983. S. 134-135: „A good rule in detective fiction is to have only one criminal. This is not because guilt isolates, but, on the contrary, because isolation breeds guilt. [...] The criminal adheres to others only instrumentally: for him association is merely the expedient that allows him to attain his own interests.“ 74 <?page no="87"?> sequenzen werden in der trivialen Version deshalb ausgespart, da sie eine dezidierte Beantwortung dieser Frage erfordern würden. Es geht hauptsächlich darum, dass er gefasst wird 2 . Somit bietet der Verbrecher in diesem literarischen Umfeld auch eine große Projektionsfläche für viele menschliche Ängste, die durch die Konzeption gezielt befeuert werden können 3 . Besonders im Detektivroman wird großen Wert darauf gelegt, dass Schuld eben nicht kollektiv sein kann, sondern Resultat eines schlechten Charakters des Täters ist 4 . Eine differenzierte Persönlichkeitsgestaltung zeichnet somit die anspruchsvolle Verbrechensliteratur aus und findet sich hauptsächlich in der Verbrecherliteratur. Wie die Bezeichnung schon ausdrückt, geht es hier um größere Zusammenhänge als nur die der Tat. Dieses Konzept ist stets ein Appell an die Gesellschaft, tiefer zu blicken und einen Verbrecher nicht im Vorhinein als schlechten Mensch zu betrachten, was nur darüber erreicht werden kann, wenn ein Zusammenhang zwischen der Welt des Lesers und der Welt des Täters hergestellt werden kann 5 . Es wird mit dieser Darstellung definiert, 2 Gerber 1971, S. 415: „Das Schlimmste, was demnach denkbar wäre, ist, daß irgendein einziger Verbrecher dem Arm der Justiz entgehen könnte. Damit dies nicht geschieht, dazu sind die Sleuths da, wenn die Polizei versagt hat. Das sagt Sherlock Holmes selbst. Diese Mentalität und diese Gedankengänge liegen mehr oder weniger gut kaschiert allen Kriminalromanen zugrunde.“ 3 Ebd., S. 416-417: „Am Falle von James Bond können wir auch sehr klar erkennen, was für Verbrecher eigentlich gehetzt werden. Was gehetzt wird, sind gar keine wirklichen Verbrecher, sondern Gespenster, denen man Menschengestalt gibt. [...] Das heißt: Es sind reine Angstphantasien. Die Angstphantasien haben aber wie immer ihre reale Wurzel. [...] Statt die Lage nun aber intelligent zu analysieren und das Beste daraus zu machen, wozu Flemming unfähig ist, projiziert er seine existentiellen englischen Ängste englischen Ängste aus der Laterna Magica seiner Seele überlebensgroß gespenstisch an die Wände und behauptet dann dies sei eine verbrecherische Verschwörung des internationalen Ausländertums, vor allem der Eurasiaten, die es umzulegen gelte. Vor allem müssen die internationalen Ausländer daran glauben, die die englische Staatsbürgerschaft erworben haben. Man kennt diese Methode. Hitler verfuhr genau gleich, nur reichte sein Talent leider nicht aus, seine Sündenbockprojektionen in Bestsellerkriminalromane umzuwandeln.“ 4 Moretti 1983, S. 135: „Detective fiction, however, exists expressly to dispel the doubt that guilt might be impersonal, and therefore collective and social.“ 5 Kaiser, Günther: Kriminologie. Heidelberg: C.F. Müller Verlag, 1997. S. 95: 75 <?page no="88"?> was eine strafbare Verhaltensweise ist 6 und wird damit „ein ebenso wichtiges wie folgenreiches Mittel zur Verhaltenskontrolle“ 7 , denn „der Verbrecherbegriff [ist] nach Zeit und Raum, Ort und Inhalt des Sozialsystems verschieden“ 8 . Die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung hängt offenbar davon ab, daß die als unverzichtbar erachteten Normen immer wieder öffentlich demonstriert, daß die Grenzen, die dem Individuum gezogen sind, um Gesellschaft überhaupt erst zu ermöglichen, verdeutlicht werden. 9 Diese Betrachtungsweise kann leicht mit dem Whodunit verbunden werden, denn die Tatsache, dass jemand gesucht wird, der für seine Taten zur Rechenschaft herangezogen werden muss, markiert die Gesetzesübertretung deutlich und ermöglicht eine vereinfachte Personenkonzeption des Täters. In der frühen Verbrecherliteratur des 18. Jahrhundert, die auf realen Fällen beruhte, spielt noch ein anderer Aspekt der Täterbeschreibung eine entscheidende Rolle. Es waren Rechtsgelehrte und Juristen, die diese Texte verfassten und dies oftmals aus gutem Grund taten. Denn in ihrer Arbeit stellten sie fest, dass die gängigen Untersuchungs- und Verhörmethoden keineswegs dazu dienen konnten, die Wahrheit herauszufinden und Unschuldige aufgrund falscher Vermutungen leiden mussten. Zudem plädierten sie stets für einen menschlichen Umgang mit dem kriminell gewordenen Täter, der in der damaligen Zeit nicht selbstverständlich war. Mit der abnehmenden Macht der Kirche im 18. und 19. Jahrhundert gerieten „Auch soll nicht verkannt werden, daß zugespitzt die Gesellschaft den Abweicher braucht und daß immer wieder der Appell an die Mitverantwortung der Gesellschaft notwendig ist.“ 6 Kaiser 1997, S. 123: „Seit ihren Anfängen kennt die menschliche Gesellschaft Handlungen, die wir ‚Verbrechen‘ nennen. Derartige Verhaltensweisen stehen auch seit langer Zeit im allgemeinen Erkenntnisinteresse. [...] Mit Gesellschaft und Kultur haben sich auch Inhalt und Zahl der als strafbar betrachteten Verhaltensweisen gewandelt.“ 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 76 <?page no="89"?> so die Methoden der Inquisition immer mehr in Verruf, die jahrhundertelang direkte Auswirkungen auf die juristische Urteilsfindung hatten, besonders ihr massiver Einsatz diverser Foltermethoden 10 . Es durfte nicht mehr nur darum gehen, einen Verdächtigen notfalls mit Folter zum Täter werden zu lassen und ihn zu liquidieren, sondern die Wahrheit zu finden und ihm selbst im Straffall die Chance auf gesellschaftliche Rehabilitierung zu ermöglichen 11 . Zudem musste dahingehend differenziert werden, ob ein Täter aus Not handelte oder aus Vorsatz das Verbrechen wählte, damit dies Einfluss auf das Strafmaß haben konnte 12 . Die Verbrechensliteratur im Zeitraum zwischen 1782 und 1855 spiegelt diese Entwicklung wider, denn auch die fiktive und auf Unterhaltung ausgelegte Kriminalliteratur dieser Zeit enthält noch Spuren der Auseinandersetzung mit dieser Frage, die in der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur zu finden ist. Somit kann die frühe Verbrechenliteratur dahingehend differenziert werden, ob sie die Frage nach dem Whodunit oder die Frage nach dem Whydunit in den Vordergrund stellt. 10 Siehe dazu Kapitel 5.2. 11 Kaiser 1997, S. 235-236: „Das Bild des Rechtsbrechers und das Verständnis ihm gegenüber bestimmen auch den Umgang mit ihm. Die Persönlichkeit des Täters einfach als „black box“ zu betrachten, und d.h. ihn als Erkenntnisgegenstand zu vernachlässigen, führte zum Wirklichkeitsverlust. Dies wäre nicht nur lebensfremd, sondern würde ebenso zu inhumanen, ungerechten und präventiv unerwünschten Ergebnissen führen. [...] Bedeutung und Verbreitung des täterorientierten Forschungsansatzes beruhen vor allem auf der Einsicht, daß Persönlichkeitsfaktoren und Verhalten beeinflußbar sind.“ 12 Ebd., S. 236-237: „Die traditionelle Kriminologie, obwohl sie von Anbeginn um Verbrechertypologien bemüht war, fragte eigentlich nicht nach den Abhängigkeiten vom Verbrechensbegriff und nach dessen Rückwirkungen auf das Bild von der Täterpersönlichkeit. Unabhängig von Schwere und Häufigkeit des Rechtsbruchs waren alle Delinquenten in gleicher Weise „Verbrecher“. Dabei blieb gleichgültig, ob sie wegen eines Verbrechens, eines Vergehens oder einer Übertretung straffällig geworden, ob sie Erstbestrafte oder Rückfalltäter waren.“ 77 <?page no="90"?> 3.2 Whydunit: Das Motiv des Verbrechens und die Suche danach Analog zu dem viel zitierten Whodunit lässt sich der Begriff Whydunit bilden, der in der Verbrecherliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts ein zentrales Element darstellt und es ermöglicht, deutlich die Verbrechervon der Kriminalliteratur abzugrenzen. Das Whydunit lässt sich auf zwei Arten gestalten, da eine kriminelle Tat im Kleinen und im Großen betrachtet werden kann 13 . Dabei können durchaus beide Aspekte dargestellt werden, doch meistens ist es so, dass auf eine der beiden folgenden Ausgestaltungsmöglichkeiten ein besonderer Akzent gelegt wird. 1. Psychologische Ausgestaltung : Die Frage nach dem Grund, warum jemand zu einem Täter wird, lässt sich am differenziertesten auf der psychologischen Ebene beantworten. Besonders die Verbrecherliteratur operiert häufig auf dieser Ebene und versucht eine psychologische Erklärung zu gewinnen. In Bezug auf das Strafmaß hat die Antwort auf diese Frage in der Rechtsprechung eine ganz besondere Bedeutung. Daher findet sich diese Art der Ausgestaltung in den Prozessberichten oder Anekdoten der Rechtsgelehrten wieder. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, und darüber hinaus, ging es oftmals nur darum, die Schuld oder Unschuld eines bereits durch die Gesellschaft im Vorfeld verurteilten Täter zu belegen, indem die Tortur oder die Festungshaft verhängt wurde. 2. Soziale Ausgestaltung : Unter der sozialen Ausgestaltung soll die Tatsache verstanden werden, dass mit der Analyse für die Gründe einer Tat der Täter nicht nur als Individuum betrachtet, sondern auch seine soziale Umgebung in den Mittelpunkt 13 Schönhaar 1969, S. 197: „So zeichnen sich innerhalb der Baugesetze des Kriminalschemas bei aller Gemeinsamkeit des erzähltechnischen Formenbestandes und des in sich geschlossenen Umrisses sehr verschiedene, ja gegensätzliche Möglichkeiten der Handhabung und Sinngebung detektorischen Erzählens ab, die jeweils zu berücksichtigen sind, wenn es gilt, die Entfaltung des Strukturmusters in konkreten literarischen Einzelgestalten zu erkennen und sichtbar zu machen [...].“ 78 <?page no="91"?> gerückt wird. Wie schon weiter oben erwähnt, sind die Täter aus schicksalhaften, tragischen oder anderen Gründen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Dies muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass jemand zum Verbrecher wird, aber es kann dazu führen, dass sich diese Menschen losgelöst von der Gesellschaft fühlen und dementsprechend eher dazu bereit sind, ihre Regeln zu brechen. Eine solche soziale Ausgestaltung findet sich ausgeprägt in der sozialen Verbrechensliteratur, die im Stil von Eugène Sues „Geheimnisse von Paris“ verfasst wurde 14 . Hierbei wird ein verbrecherisches Umfeld dargestellt, in dem Menschen leben, denen diese Art des „Broterwerbs“ zuwider ist. Diese Personen kontrastieren in ihrem Verhalten diejenigen, die am Verbrechen Gefallen finden und keinerlei Skrupel haben. Dennoch können auch die moralisch gefestigten Menschen in diesen Umständen nicht überleben, ohne das Gesetz zu brechen. Dieser Druck, der über die soziale Ungerechtigkeit generiert wird, kommt in dieser Form deutlich zum Tragen. Durch die Etablierung der Kriminalliteratur, deren großer Erfolg die Verbrecherliteratur in den Hintergrund rückte, entwickelte sich auch die Betrachtung des Täters mehr zu einem stereotypischen Handlungselement 15 , was sich bereits an der Kriminalliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen lässt. Die Entscheidung des Autors, seine Akzentsetzung auf das Whodunit oder das Whydunit zu legen, hat daher Auswirkungen auf die gesamte Struktur und die inhaltliche Ausgestaltung des Verbrechens. So dient die Frage nach dem Täter in der Verbrecherliteratur dazu, die näheren Hintergründe der Tat zu beschreiben. In der Kriminalliteratur ist die Perspektive 14 Siehe dazu Kapitel 10.2. 15 Berger 1988, S. 21: „Das Verbrechen ist aus der Sphäre einer persönlichen oder gesellschaftlichen Katastrophe in die Qualität einer weitgehend wertneutralen, lediglich zu klärenden Angelegenheiten übergeführt worden; der Verbrecher verkörpert nicht mehr den miserablen oder mitleidverdienenden oder sympathiefordernden Outsider, sondern vor allem, wenn nicht ausschließlich, die Instanz, die ein Geheimnis (eben daß er der Verbrecher ist) in ihrem Besitz hält und die im übrigen alles Interesse daran hat, daß dieses Geheimnis nicht gelüftet wird.“ 79 <?page no="92"?> entgegengesetzt: Dass der Täter ein Verbrecher ist, ist eine Tatsache. Viel entscheidender ist, wer er ist und somit wird dem Auffinden der Person mehr Gewicht zugemessen als den Gründen seiner Tat. Daher kann es als wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Texten der Verbrechensliteratur gewertet werden. 3.3 Das Opfer des Verbrechens Dies lässt sich ebenfalls über die Frage nach der Opferrolle verdeutlichen. In der Verbrecherliteratur wird der Täter durch die spezielle Perspektive in die Nähe eines Opfers gerückt, so wie es auch in der Konzeption der Tragödie zu erkennen ist. Der Täter kann ein Opfer seiner Umstände, seines Schicksals und der Willkür anderer sein, die aber in der Gesellschaft als Unschuldige dastehen. Seit dem 2. Weltkrieg entwickelte sich hierzu ein eigenes Forschungsgebiet, die Viktimologie, welche von dem deutschen Kriminologen Hans von Hentig und dem Rumänen Benjamin Mendelsohn begründet wurde 16 . In der Kriminalliteratur ist dagegen wieder die Beziehung andersherum zu sehen. Im Leben des Opfers liegt der Schlüssel zur Lösung des verrätselten Verbrechen. Durch die Herausarbeitung wichtiger Umstände im Leben des Opfers ergeben sich Bezüge zur Tat und zu Hintergründen, der Verbrecher selbst tritt in den Hintergrund und wird zu einem Statisten, der die gesamte Handlung überhaupt erst auslöst 17 . Dabei können diejenigen Personen als verdächtig erscheinen, die ein besonderes Interesse am Besitz oder am Ableben des Opfers haben. Dabei werden diese Aspekte erst nach und nach enthüllt, damit dieser Hintergrund Teil des Rätsels werden kann. 16 Kaiser 1997, S. 297: „Überall wird die Rolle des Opfers erst in neuerer Zeit problematisiert und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch erforscht.“ 17 Berger 1988, S. 21: „Er [der Verbrecher] tritt an den Rand des Geschehens, wie übrigens auch sein Opfer, das oft nicht einmal auftritt oder doch nur kurz als handelndes Subjekt vorgestellt wird, dessen kompositorische Funktion darauf beschränkt ist, auslösendes Moment für die Recherche zu sein, und dessen Psyche und vorangegangene Existenz vor allem insofern von Bedeutung sind, als sie Hinweise auf das Motiv geben, das dem Verbrechen zugrunde liegt, und damit zur Lösung des ‚Falls‘ beitragen können.“ 80 <?page no="93"?> Die Detektivfigur muss schließlich die Aufgabe übernehmen, die verschiedenen Handlungsstränge logisch mit Indizien und Vermutungen zu verknüpfen. In diesem Fall spielt das Geständnis auch in der modernen Kriminalliteratur noch eine wichtige Rolle, denn die Detektivfigur kann diese Zusammenhänge nur rekonstruieren, schlussendlich muss ihm aber der Verdächtige seine Ausführungen bestätigen. In der frühen Kriminalliteratur ist die diesem Geständnis vorangehende Deduktion wesentlich kürzer ausgeführt, weshalb dem Geständnis auf den ersten Blick eine wesentlich wichtigere Rolle zukommt als im modernen Krimi. In der Verbrecherliteratur dagegen ist die eindeutige Trennung zwischen Opfer und Täter aufgehoben. Der Täter ist häufig selbst das Opfer, sodass die Opfer in diesen Texten nur die Rolle von Statisten einnehmen. Die eigentlichen Opfer einer kriminellen Tat spielen in der Verbrecherliteratur nur dann eine Rolle, wenn sie Anteil an der kriminellen Laufbahn des Täters haben 18 . Hier scheint, wie schon im Vergleich zwischen dem Whodunit und dem Whydunit, eine spiegelbildliche Konzeption vorzuliegen, die aus der entgegengesetzten Perspektive beinahe zwangsläufig entsteht. Weber weist nach, dass die Archetypisierung der „Schurkengestalt“ bereits in der Romantik vollzogen wird 19 . Der Beginn dieser Transformation ist ungefähr dort anzusetzen, wo die auf realen Fakten basierenden Verbrechen nach und nach von der Darstellung fiktiver Verbrechen in der Kriminalliteratur abgelöst wurde, was sich an den im Folgenden vorgestellten Werken von Schiller und Kleist deutlich zeigen lässt. So liegt in der Beziehung zwischen Opfer und Täter die alleinige Grundlage für eine rationale Deduktion in der fiktiven Kriminalliteratur, die durchaus durch übernatürliche Erscheinungen oder Zufälle ausgelöst werden 18 Dies ist beispielsweise der Fall in Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“. Hier erschießt Wolf seinen Rivalen Robert aus Rache dafür, dass er ihn mehrfach ins Gefängnis gebracht hat. Alle anderen Opfer seiner kriminellen Handlungen werden nicht näher beschrieben. 19 Weber 1991, S. 83: „Der Wandel im Weltbild der Autoren [der Romantik] läßt sich in ihren Romanen ablesen an der Aufwertung der Schurkengestalt, die zunehmend archetypische Statur annimmt, und am Funktionswandel des Peiniger-Opfer-Verhältnisses, das, aufgrund des Bedeutungszuwachses, den der Schurke erfährt, von einer linearen in eine dialektisch-reversible Beziehung übergeht.“ 81 <?page no="94"?> kann. Dabei ist dieses Verhältnis ein zweckmäßiges, denn es ist mit dem Aspekt des Rätsels verbunden. So wird deutlich, warum der Verbrecher in den beiden Untergattungen ganz verschiedenartig gezeigt wird. Eine ausführliche Analyse der sozialen oder psychologischen Hintergründe einer Tat interessiert denjenigen Leser nicht übermäßig, der diese Art von Literatur hauptsächlich des Rätselspaßes wegen liest. Wird in der Verbrecherliteratur dieser Aspekt vernachlässigt, so kann sie schnell zu einem flachen und ausdruckslosen Konstrukt verkommen. In der Mitte liegt wahrscheinlich das literarische Optimum, denn die aus literarischer Sicht bessere Kriminalliteratur greift auch heute noch diesen Aspekt auf, um den Täter als Persönlichkeit zu konstruieren und ihn nicht zu einem reinen Stereotyp verkommen zu lassen. Auch hier ist wiederum die Intention ausschlaggebend für die Gestaltung. Somit spielt die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer durchaus eine wichtige Rolle für die Stringenz der Erzählung. Durch Distanz zur Figur des Täters wird ein möglichst flaches Opfer-Täter-Profil erzeugt und das Rätsel rückt in den Vordergrund. Durch Empathie mit dem Täter wird eine möglichst strukturierte Persönlichkeitszeichnung des Täters erzeugt, was auch in der Kriminalliteratur zur Darstellung von Gesellschaftskritik genutzt werden kann. 3.4 Das Rätsel und der Leser als Teil der Erzählung Das Rätsel in der Verbrechensliteratur kann in vielerlei Hinsicht ausgeführt werden: Wer ist der Täter, wie wurde die Tat begangen, wie findet die Detektivfigur den Schlüssel zur Lösung, warum wird jemand zum Täter oder welches Verbrechen wird er begehen, wenn die Erzählung mit einer Schilderung seiner Lebensgeschichte einsetzt. Es ist keineswegs so, dass nur die Darstellung der Suche nach dem Täter spannend und verrätselt gestaltet werden kann. Man kann vielmehr zwischen zwei Aspekten des Rätsels in der Verbrechensliteratur unterscheiden: der Divination und der Deduktion. Sie unterscheiden sich besonders in Bezug auf die Richtung, in die der Leser denken 82 <?page no="95"?> muss, denn die Divination erzwingt Mutmaßungen, die die Zukunft der Erzählung betreffen, die Deduktion dagegen erschließt sich nur über die Vergangenheit innerhalb der Erzählung. Auch in diesem Fall können die beiden verschiedenen Gestaltungsweisen den zwei großen Spielarten der Verbrechensliteratur zugeordnet werden. In der Verbrecherliteratur spielt besonders die Divination eine große Rolle. Dabei bezieht sich die hier verwendete Definition dieses Begriffs auf die Ausführungen von Schiller in seinem Vorwort zu „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ 20 . Der Leser ist in diesem Fall gespannt, in welche Richtung sich das tragische Schicksal der Hauptfigur entwickeln wird, die in ihrem sozialen Abstieg gezeigt wird. Beginnt die Darstellung der Verbrecherlaufbahn vom Ende her, so rückt die Deduktion in den Vordergrund, die in dieser literarischen Form meist vom Erzähler geleistet wird. Hier wird dem Leser das Rätsel aufgeklärt, wie es zu dieser Tat kommen konnte. Quantitativ überwiegen in diesem Bereich die Texte, die das Hauptaugenmerk auf die Divination legen, weil hierüber Verständnis für den Verbrecher generiert werden kann, da der Leser seinen Weg in die Kriminalität praktisch mitverfolgt und das schlimme Ende bereits erahnen kann. In der Kriminalliteratur dagegen spielt die Deduktion eine wichtigere Rolle. Sie wird meist nicht von einem Erzähler geleistet, sondern durch eine homodiegetische Figur, mit der der Leser bei seinen Schlussfolgerungen konkurrieren kann. Dennoch wird auch die Deduktionsgabe gefordert, denn neben der Antwort auf die Frage nach der Lösung eines Rätsels ist die Frage, wie es gelöst wird, von entscheidender Bedeutung. Kommt der Leser bei seinen eigenen Überlegungen ins Stocken, so kann er abwägen, welche Schritte die Detektivfigur unternehmen muss, um das Rätsel zu lösen. Man kann daran erkennen, dass beide Aspekte Teil eines Rätsels sein können und genau so werden sie in den jeweiligen Texten auf- 20 Schiller, Friedrich: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller. Erster Theil. Jena: Christ. Heinr. Cuno´s Erben, 1792. Vorrede, o.S.: „Man erblickt hier den Menschen in den verwickeltesten Lagen, welche die ganze Erwartung spannen, und deren Auflösung der Divinationsgabe des Lesers eine angenehme Beschäftigung gibt.“ Siehe dazu Kapitel 6.2. 83 <?page no="96"?> gebaut. Damit soll vor allem die irrige Annahme widerlegt werden, dass nur die moderne Kriminalliteratur Teile der Verbrechensdarstellung verrätselt. Die oben genannten W-Fragen erfordern allerdings eine ganz eigene Gestaltung der Auflösung. Um die Frage nach dem warum beantworten zu können, waren wichtige Entwicklungen innerhalb des Rechtssystems und eine grundlegende Überarbeitung der Betrachtung des Verbrechers in der realen Welt nötig. Diese Entwicklung begleitete die Verbrecherliteratur des 18. Jahrhunderts. Alle anderen Fragen konnten nur durch die Einführung moderner Untersuchungsmethoden beantwortet werden, die in gewisser Weise auf den früheren Modifikationen des Rechtssystems aufbauen, da erst mit der Einführung des Indizienbeweises solche Argumente zulässig wurden 21 . Obwohl Joseph Bell als der Erfinder der modernen Forensik gilt, dessen berühmtester Schüler an der Universität Doyle war, lässt sich beispielsweise eine Auseinandersetzung mit Geheimschriften wiederum, wie sie Poe auch liebte, bereits im 18. Jahrhundert aufzeigen 22 . Überhaupt ist es problematisch, den Aspekt einer modernen Forensik als Grundvoraussetzung für die Entstehung des Erzählkonzeptes des modernen Krimis heranzuziehen, da eine wissenschaftliche und logische Betrachtung eines Kriminalfalls schon vor der industriellen Revolution möglich war 23 . Auch das Rätsel und seine Verbindung mit der Literatur ist keineswegs ein Produkt des modernen Zeitalters und der scheinbaren analytischen Überlegenheit der modernen Wissenschaften, denn die Logik ist keine neue Errungenschaft der modernen Zeit. Schönhaar grenzt den von ihm so benannten „Verbrecherroman“ 21 Siehe dazu Kapitel 5.2. 22 Breithaupt, Justus F.: Anweisung zum Dechifriren oder die Kunst, verborgene Schriften aufzulösen. Helmstädt: Christian Friedrich Weygand, 1755. 23 Alewyn 1971, S. 191: „Das führt uns zur Prüfung eines weiteren Versuchs, die Entstehung des Detektivromans aus dem Geist des 19. Jahrhunderts zu erklären. Dieses Jahrhundert, hat man gesagt, hat die exakten Wissenschaften zum Sieg geführt. Es hat als ein Kind der Aufklärung das Dunkel verscheucht, das bis dahin über allen Gebieten des Lebens und des Denkens lagerte. Es hat sich vorgesetzt, durch planmäßiges Sammeln und logisches Ordnen von Fakten die Wirklichkeit zu erklären. [...] Wir wollen wiederum nicht auf die schreckliche Simplifikation eingehen, die dieser Theorie zugrunde liegt [...].“ 84 <?page no="97"?> dahingehend ab, dass er unverschlüsselt erzählt und deshalb bei den Untersuchungen zum Kriminalschema keine Rolle spielt 24 . Dies stimmt nicht wirklich, denn die Verschlüsselung liegt in diesem Fall auf einer anderen Ebene, die die Divination anspricht. Bereits Schiller betont, dass auch diese Konstruktion eine „angenehme Beschäftigung“ ist, denn auch aus dieser Perspektive ergibt sich ein Rätsel, bei dem der Leser Vermutungen anstellt. Allerdings geht es dabei nicht um die Frage wer etwas tut, sondern was die zentrale Figur tun wird oder wie es schließlich zu seinem Verbrechen kommt. Dies wird meist bereits im Titel angedeutet oder in der Einleitung des Textes kurz erläutert. Das Schema zeigt, wie die juristisch-anthropologische Verbrecherliteratur verschiedene Techniken anwenden kann, die ebenfalls ein verschlüsseltes Erzählen zulassen, auch wenn es keineswegs denselben Stellenwert hat, wie in der Kriminalliteratur. Der Bereich des Howdunit bietet sogar sowohl die Möglichkeit der Divination („Durch welche Tat wird die Hauptfigur zum Verbrecher? “), wie auch die der Deduktion, wenn der Bericht erst nach der Tat einsetzt 25 . Dabei steht es praktisch gleichberechtigt auf der selben Ebene wie das Whydunit, denn die Divination bezieht sich ausschließlich auf die Erzählstruktur, deren Inhalt dann über die beiden Möglichkeiten der Ausgestaltung der Frage nach dem warum ausgeführt wird. Der Autor kann dabei wählen, ob er die Struktur dem Inhalt oder den Inhalt der Struktur unterordnet. In der Kriminalliteratur steht bekanntlich das Whodunit im Vordergrund. Auch hier gibt es auf der Ebene des Howdunit die zukunftsgerichtete Perspektive, wie die Person, mit der die Aufklärung des Rätsels verbunden ist, den Fall löst, und die rückblickende Perspektive, wie sich die Tat genau abgespielt hat. Interessanterweise ist somit die Divination im modernen Krimi keineswegs verloren gegangen, allerdings wird sie der Deduktion untergeordnet. Sie bezieht sich nun nicht mehr auf das Handeln des Täters, sondern in besonderer Weise auf das Handeln des Detektivs. Es interessiert den Leser, was die Detektivfigur tut, um Informationen zu generieren und wie sie damit schlussendlich das Rätsel lösen kann. In diesem Zusammenhang ist das Zitat von 24 Schönhaar 1969, S. 35. 25 Z.B. bei Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Andreas Bichel, der Mädchenschlächter. Siehe dazu Kapitel 5.6.1. 85 <?page no="98"?> Abb. 8: Möglichkeiten der Verrätselung in der juristischanthropologischen Verbrecherliteratur Schiller gleichwertig anwendbar. Denn es geht hier wie dort und generell in der Verbrechensliteratur, um das große Rätsel Mensch 26 . Dabei ist das Spiel von Divination und Deduktion 27 nur möglich, wenn die bekannte Struktur des modernen Krimis eingesetzt wird. Die Verrätselung der eigentlichen Handlung wird, neben der Lösung desselben, in Bezug auf dem modernen Krimi als gattungsdefininerend bezeichnet 28 . In der älteren Verbrecherliteratur spielte das 26 Nesser, Håkan: Münsters Fall. 6. Auflage. München: btb Verlag, 2002. S. 54: „Aber vielleicht war das einfach so, vielleicht wusste man einfach nicht mehr über die anderen? ‚Der Mensch ist ein Rätsel‘, hatte Edward [...] immer mal wieder gesagt. Ein verfluchtes, unlösbares Rätsel [...]! “ 27 An dieser Stelle soll noch erwähnt werden, dass der Bereich der Deduktion noch weiter untergliedert werden kann, was aber im vorliegenden Kontext keine weitere Bedeutung hat. Vgl. zu Peirces Unterscheidung zwischen Deduktion, Induktion und Abduktion: Seibert, Thomas-Michael: Das Verschwinden des abduktiven Schlusses.. In: Linder, Joachim; Ort, Claus- Michael: Verbrechen - Justiz - Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1999. S. 101-116. 28 Lits 1999, S. 09-10: «Nous avons parlé jusqu‘à présent de roman policier pour utiliser l´étiquette la plus communément admise. Mais cette dénomination 86 <?page no="99"?> Abb. 9: Möglichkeiten der Verrätselung in der modernen Kriminalliteratur ne nous satisfait guère dans les termes qu´elle utilise et ne correspond pas exactement à l´objet d´étude que nous avons retenu, à savoir ce que nous conviendrons d´appeler le récit d´énigme criminelle du domaine francophone. [...] Nous avons préféré la formule ‚récit d´énigme‘ à ‚récit à énigme‘ que l´on rencontre sous la plume de certains critiques parce qu´elle nous semble mieux s´insérer dans un paradigme contenant les catégories du roman d´aventures, du roman de science-fiction ou du roman de détection, et parce que cette préposition ‚de‘ marque bien la détermination permettant de spécifier à quel type de récit le lecteur est confronté, ce qui en constitue la base essentielle. Enfin, ce choix empêche la succession peu heureuse des trois syllabes centrales du syntagme ‚ récit à énigme‘, occurence aussi rare en français que dissonante.“ (Hervorhebung M.B.). Vgl. auch Ebd., S. 89-90: „Si l´énigme est au centre de nos existences, elle est aussi au coeur de toute narration, comme le rappelait Jacques Dubois ci-dessus. [...] S´il semble exagéré de dire que le roman policier trouve son origine en Inde ou en Grèce, puisque celui-ci a des traits propres comme le raisonnement inductif appuyé sur des relevés d´indices ou sur la logique pure ainsi que la reconnaissance explicite du personnage de détective, il est cependant vrai que ce type de récit se rattache à une forme primitive remontant aux origines des civilisations, à ce qu´André Jolles appelle des ‚formes simples‘. L´ une de celles-ci, pour lui proche du mythe, est la devinette. [...] Clandestinité du crime et énigme du criminel ne sont plus de Petites Formes, elles ont 87 <?page no="100"?> Rätsel als kompositorisches Element dagegen nicht dieselbe Rolle, denn es waren juristische Texte, die von Juristen verfasst wurden, die weder Schriftsteller waren, noch dem Leser ein Rätsel präsentieren wollten. Die Divination erfüllte hierbei vielmehr die Aufgabe, sich Gedanken über das Schicksal des Täters zu machen und seinen Leidensweg in gewisser Weise mitzuerleben. Erst Schiller, dessen Konzepte der Verbrechensliteratur viele Bereiche der modernen Kriminalliteratur betreffen, setzte diesen Aspekt verstärkt dazu ein, um ein Rätsel aufzubauen, auch in seiner Verbrecherliteratur. Dadurch, dass die Beantwortung der Frage nach dem was oder warum möglichst lange herausgezögert wurde, konnte so die Spannung gesteigert werden. Dies lässt sich im Verlauf der Entwicklung der juristischanthropologischen Verbrecherliteratur beobachten und ist Teil der Literarisierung, die in gewisser Weise der Vorläufer des anders gestalteten Rätsels in der Kriminalliteratur war. Das, was beiden Konstrukten gleich ist, ist die Tatsache, dass das Rätsel der Verbrechensliteratur eine dynamische Verbindung zwischen Text und Leser herstellt. Hierbei kann der Autor besonders im Bereich der Kriminalliteratur wählen, ob er dieses Rätsel als passiven oder aktiven Leseprozess gestaltet. Die Gestaltungsform kann dabei zur Abstufung der literarischen Qualität innerhalb der Kriminalliteratur herangezogen werden. So ist hochwertige Kriminalliteratur auf eine aktive Beteiligung des Lesers bedacht, der selbst mit seiner Neugierde und Wissbegierde zum Teil der Erzählung wird, indem er jedes Detail, jede Spur, die der Autor ihm zwischen den Zeilen präsentiert, finden und zeitgleich mit der Detektivfigur zu des Rätsels Lösung kommen möchte. Dies erfordert einen akribischen Aufbau und eine genaue Abschätzung der Wirkung von Infornationen. Demgegenüber lässt sich Kriminalliteratur aufzeigen, welche die Spannungskurve als wichtiger erachtet und eine Detektivfigur einsetzt, welche aktiv, eventuell durch interne Fokalisierung, dem Leser große Teile der Deduktion abnimmt. pris de l´étendue, elles sont devenues le grand Récit du roman policier. On y trouve deux figures : celle du malfaiteur qui chiffre son identité et son méfait, mais ouvre dans ce chiffrement la possibilité même de la découverte celle du détective, du découvreur qui résout la devinette et franchit la clôture.» 88 <?page no="101"?> 3.5 Der Zufall und das Schicksal Eines der ältesten literarischen Hilfsmittel, um das Rätsel in Bezug auf den Täter eines Verbrechens aufzulösen, ist der Zufall, womit auch unabhängig von einer Person schlussendlich dem Leser eine Lösung präsentiert werden kann. Da im hier untersuchten Zeitraum bis 1855 die polizeilichen Untersuchungsmethoden noch weit von dem entfernt sind, was wir heute unter einer lückenlosen Aufklärung und einer wissenschaftlichen Forensik verstehen, spielt der Zufall eine wichtige Rolle in der frühen Verbrechensliteratur. Dies resultiert aus einer völlig anderen Weltsicht, die diese Zeit bestimmte 29 . So spielt in der frühen Verbrechensliteratur neben dem Zufall das Schicksal und das Eingreifen höherer Mächte zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit eine wichtige Rolle . Da all dies nicht greifbare Größen darstellen, konfrontieren sie den Autor bei ihrer Verwendung mit einer schwierigen Aufgabe, da bei einer schlechten Einbeziehung die Erzählung unglaubwürdig wird. Es war also für die damaligen Autoren nicht einfach, die Schopenhauerschen Ansichten 30 bezüglich des Zufalls zu berücksichtigen und einen adäquaten Einsatz des Zufalls zu realisieren, der zu einer starren und unwahrscheinlichen Konstruktion führen kann. Der Autor muss das „Zufälligste“ so erscheinen lassen, dass es sich dem Leser wirklich als „ein auf entfernterem Wege 29 Beyer, Hugo: Die moralische Erzählung in Deutschland bis zu Heinrich von Kleist. Hildesheim: Verlag Dr. H. A. Gerstenberg, 1973: „Zufälle haben den Charakter von Prüfungen. Dadurch, daß man sein Geschick auf sich nimmt, erfüllt sich das eigene Schicksal. Die Erlebnisse vollziehen sich oft nach der theologischen Stufenfolge von Versuchung, Erniedrigung und Erhöhung.“ 30 Schopenhauer, Arthur: Transzendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen. In: ders. (Autor); Löhneysen, Wolfgang von (Hrsg.): Parerga und Paralipomena. Sämtliche Werke. Bd. IV. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1989. S. 243-272. Hier: S. 248: „Wäre nun die Gabe des zweiten Gesichts so häufig, wie sie selten ist; so würden unzählige Vorfälle, vorherverkündet, genau eintreffen und der unleugbare faktische Beweis der strengen Notwendigkeit alles und jedes Geschehenden, jedem zugänglich, allgemein vorliegen. Dann würde kein Zweifel mehr darüber bleiben, daß, sosehr auch der Lauf der Dinge sich als rein zufällig darstellt, er es im Grunde doch nicht ist, vielmehr alle diese Zufälle selbst, [...] von einer, tief verborgenen Notwendigkeit [...] umfaßt werden, deren bloßes Werkzeug der Zufall selbst ist.“ 89 <?page no="102"?> herangekommenes Notwendiges“ 31 darstellt. Köhler definiert es noch eindeutiger: „Der Zufall allein entscheidet, was aus dem Überschuß an Möglichkeiten, die ihrerseits mit Notwendigkeit bestimmt sind, realisiert wird.“ 32 Die Forderung des Realismus, daß die Kunst der Wirklichkeit entsprechen müsse, hat vor allem Friedrich Theodor Vischer (1807-87) in seinen kunsttheoretischen Schriften zu Ende gedacht. Ausgehend von Hegel, der das Schöne als die ‚Idee in der begrenzten Wirklichkeit‘ sieht, kommt er zu einer immer tiefer werdenden Kluft zwischen der Wirklichkeit und Wahrheit und bezeichnet als reinste Wirklichkeit den Zufall [...]. 33 Damit sollte also Doyles Aussage aus einem Interview mit der „Westminster Gazette“ im Jahr 1900 34 durchaus kritisch betrachtet werden, denn der Autor verbirgt in seinem Konzept den Zufall nur geschickter. Wie sonst kann es „möglich“ sein, dass Holmes im richtigen Moment einen Aufsatz über absurde Forschungsthemen wie Spazierstöcke und Zigarettenasche gelesen hat, der „zufälligerweise“ in diesem speziellen Moment zur Lösung des Rätsels beiträgt 35 ? Damit löst der Autor heute noch die Verrätselung des Kriminalfalls mindestens an einer Stelle mit dem Zufall auf, nur ist dieser nicht mehr ausdrücklich als solcher markiert, wie es noch in der frühen Verbrechensliteratur der Fall war. Der Urtyp des modernen literarischen Detektivs entsteht daher aus der Notwendigkeit, die Zufälle möglichst real zu 31 Schopenhauer Parerga und Paralipomena IV, S. 247. 32 Köhler, Erich: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München: Fink, 1973. S. 102. 33 Glaser, Hermann; Lehmann, Jakob; Lubos, Arno: Wege der deutschen Literatur. Eine geschichtliche Darstellung. 12. durchgesehene und erweiterte Auflage. Berlin: Ullstein Verlag, 1962. S. 233. 34 Berger 1988, S. 24-25. 35 Köhler 1973, S. 116-117: „Die der Dichtung eigentümliche Fiktionalität ist erfundene Wahrheit und darum nichts weniger als Lüge. Souverän faßt sie zerstreutes Mögliches zusammen, wählt aus, konzentriert es im selbstgewählten Zufall, realisiert in der Fiktion Möglichkeiten, die in der Wirklichkeit nicht aktualisiert werden, und die doch wesentliche Elemente dieser Wirklichkeit und der ihr innewohnenden Notwendigkeit sind.“ 90 <?page no="103"?> kompensieren, denn es entsprach nicht mehr dem modernen Fortschrittsgedanken, ein logisch lösbares Rätsel offensichtlich durch den Zufall aufzudecken. 3.6 Die Figur des Detektivs Die Figur des Detektivs ist in vielen Beiträgen zum Thema der modernen Kriminalliteratur das wichtigste formbestimmende Element 36 . Wie bereits aufgezeigt wurde, wird damit das große Feld der Verbrechensliteratur stark eingeschränkt 37 , was kaum noch eine historische Betrachtung der Entwicklung dieser Literaturgattung zulässt. Quantitativ ist dies aus heutiger Sicht vertretbar, aber es bildet eben nur eine Darstellungsmöglichkeit des Themas neben vielen ab. Auf struktureller Ebene lässt sich viel klarer nach der Person fragen, mit der das induktive Schlussfolgern verknüpft ist, wenn keiner chronologischen Ordnung gefolgt wird, und wie diese Person fokalisiert wird. Régis Messac reduziert die Figur des Detektivs sogar nur auf sein Handeln und betont das Vorhandensein eines simplen induktiven Schlussfolgerns als Grundlage der modernen Kriminalli- 36 Schönhaar 1969, S. 36: „Der nur scheinbar exakte Ansatz der eigentlichen Detektiverzählung um 1840 hängt überdies eng mit der fast einhelligen Annahme zusammen, das unabdingbare Kennzeichen einer jeden solchen Erzählung sei die Mittelpunktsgestalt des beamteten oder privaten Detektivs als „Gattungsträger“, wie erst Edgar Allan Poes bewußt in diesem Sinn konstruierte Figur des C. Auguste Dupin ihn ermöglicht habe.“ 37 Vgl. z.B. Ackermann, Kathrin: Von der philosophisch-moralischen Erzählung zur modernen Novelle. Contes und nouvelles von 1760 bis 1830. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann GmbH, 2004. S. 273: „Von einer echten Kriminalerzählung, wie sie mit E. A. Poe entsteht, unterscheidet sich La Vieille Marthe [von Madame de Tercy] vor allem durch das Fehlen eines Detektivs.“ Siehe dazu auch Leonhardt 1991, S. 20-21: „Skurrile Mordgeschichten ähneln in ihrem straffen Handlungsablauf eher dem modernen Krimi als die breitangelegten Romane eines Wilkie Collins. Doch fehlt ihnen die Gestalt des Detektivs. Er ist überflüssig, denn das Geschehen bewegt sich geradlinig auf eine Schlußpointe zu, die es meist offenläßt, ob ein Hüter des Gesetzes eingreifen wird. Ein ähnliches Bauschema haben viele der kurzen Kriminalgeschichten, die sich heute neben dem Kriminalroman steigender Beliebtheit erfreuen.“ 91 <?page no="104"?> teratur 38 , was, so Lits, zuerst dazu dient, die Spannung oder Angst beim Leser möglichst lange aufrechtzuerhalten. Die französische Literaturwissenschaft nennt diese Art der Schlußfolgerung serendipity, bzw. zadiguisme 39 , also nach den Werken, die ihrer Meinung nach den Grundstein dieses literarischen Modells legten. Die deduktive Auflösung muss also nicht von der allgemein bekannten Figur eines Detektivs oder eines Polizisten übernommen werden, sondern kann durchaus von anderen handelnden Personen der Erzählung ausgeführt werden, die an der Aufdeckung eines Tathergangs beteiligt sind. Ersetzt werden kann diese Person dann durch erzähltechnische Tricks, wie das Eingreifen einer höheren Macht oder des simplen Zufalls, der ja, wie schon beschrieben, nur eine andere Ausführung dieses erzählerischen Tricks ist. Das, was die Texte dann grundlegend voneinander unterscheidet, ist die Tatsache einer bewussten Initiation der Verbrechersuche und der Grund für diese bewusste Initiation. Dennoch empfiehlt es sich, eher nach dem Element der Detektion 40 zu fragen und wie dieses literarisch ausgestaltet wurde, um eine größere Bandbreite von Texten miteinander vergleichen zu können. Aus diesem Grund wird im Stammbaum der Verbrechensliteratur das dénouement betrachtet, das auf mehrere Arten und Weisen und unabhängig von einer Figur im Text vollzogen werden kann. So ergibt sich deutlicher, wie die erzähltechnische Funktion eines Detektivs anderweitig besetzt werden kann. Grundsätzlich ist die Konzentration auf die Detektivfigur gut nachvollziehbar, denn untrennbar mit der Darstellung eines Verbrechen ist das Bedürfnis 38 Lits 1999, S. 32. 39 Ebd. Siehe dazu Kapitel 9.4. 40 Dieser Vorschlag stammt von Dorothy L. Sayers, vgl. Schönhaar 1969, S. 36. Auch Bloch entfernt sich von einer zu starken Fixierung auf die Figur eines Detektivs. Ebd., S. 43: “Um diese Art des Erzählens von der üblichen Fixierung des Schemas auf eine Heldengestalt zu unterscheiden, spricht Bloch an einer anderen Stelle von ‚dem Detektivroman ohne Detektiv‘ (54). Terminologisch schlägt er vor, ‚alles namentlich Detektivhafte‘ zu scheiden von dem, was er ‚das Detektorische‘ nennt (52) [...] die Begriffsprägung selbst ist als überaus glücklich anzusehen, denn sie erlaubt einen Zugang zum Kriminalschema, ohne uns auf eine bestimmte Figur und auf die triviale oder unterhaltende Detektivliteratur festzulegen.“ 92 <?page no="105"?> nach der Aufklärung desselben verbunden. Der Detektiv ist die literarische Personifikation der Sehnsucht des Menschen nach Sicherheit in einer unberechenbaren Welt. Die Gattungsstruktur des modernen Krimis kann somit als eine Erzählung zwischen dem „Bruch und Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts“ 41 definiert werden. Innerhalb dieser beiden Pole wird das Verbrechen durch die Untersuchung (enquête) intellektuell bewältigt und durch die poursuite das soziale Gleichgewicht wieder hergestellt 42 . Die Gewichtung der beiden Aspekte kann hierbei recht unterschiedlich sein. Dabei meint poursuite die eigentliche Handlung, die die Verfolgung, den Kampf und Flucht des Verbrechers darstellt. Schulz-Buschhaus empfiehlt dafür den englischen Begriffaction. Dabei ist gerade der Begriffpoursuite nützlich, wenn man von der grundsätzlichen Konzeption eines um den Whodunit konzipierten Erzählapparates ausgeht. Denn diese Frage, die nur durch die enquête, also durch logische Deduktion entschlüsselt werden kann, ist Auslöser der gesamten Handlung, die zu einer Verfolgung (poursuite) dieser Person führt, was das englische Wort nicht so eindeutig darstellt. Darüber hinaus ist eine Verfolgung nur dann möglich, wenn sich beide Bereiche vereinen und somit in beiden Bereichen ein progressives Verhalten erkennbar ist. Hilfreicher ist es, wenn man die kriminologische enquête unabhängig von diesen Aspekten als geschicktes Spiel mit der Fokalisierung betrachtet. Genau hier nimmt die externe Fokalisierung der Detektivfigur eine wichtige Rolle ein, da die Deduktion meist nur von außen betrachtet wird. Dies ist essentiell für den Spannungsbogen. Im Falle einer internen Fokalisierung, wie zum Beispiel bei den meisten Kriminalkommissaren, wird zwar das kriminologische Vorgehen aufgezeigt, doch an den wichtigen Stellen können dem Leser gezielt Informationen versagt werden, um das Rätsel nicht zu schnell aufzulösen. Dies wird als Fair-Play-Rule bezeichnet, die besagt, dass der Leser nur dann bei der Enträtselung mit der Detektivfigur konkurrieren kann, wenn er über gewisse Aspekte des Wissens der Person Bescheid weiß, die die Untersuchung hauptsächlich leitet. Dennoch entsteht Spannung nur 41 Definition von Jean-Pierre Collin, zitiert nach Schulz-Buschhaus 1975, S. 02. 42 Ebd. 93 <?page no="106"?> über die „planmäßige Verdunklung des Rätsels“, dessen Erhellung durch die aufklärende Figur geleistet wird und „die am Schluß einer völlig unvorhergesehenen, sensationellen Erhellung Platz macht“ 43 , was eigentlich nur über eine externe Fokalisierung oder eine gewisse Einschränkung des Informationsflusses möglich ist, der durch den Einsatz von möglichst realistischen Detektivfiguren erreicht wird, die eben keineswegs über scheinbar unmenschliche Fähigkeiten verfügen. Aus dem Lesen der Spuren entwickelt sich meist langsam das soziale Gefüge hinter Opfer und Täter 44 , ohne das die Spuren nicht zu deuten sind. Darüber hinaus gibt es meist mehrere Verdächtige, die durch kleine Tests geprüft werden 45 . Dieses testweise Vorgehen wird von Brecht in der Nähe des wissenschaftlichen Handelns einsortiert: Es geht um die Überprüfung einer Hypothese mit wissenschaftlichen Versuchsmethoden. Die Analyse der jeweiligen Ausarbeitung ermöglicht es, reine Unterhaltungsliteratur, die die gesamte Handlung dem Rätselaufbau unterordnet, von Texten mit sozialem Inhalt abzugrenzen. Es sind auch Mischformen möglich, so dass man an dieser Stelle von Schwerpunkten der Darstellung der enquête sprechen kann. Grundsätzlich lässt sich über die Frage nach dem Motiv beim Leser ein Verdachtsmoment kreieren und falsche Spuren auslegen, denn jeder, der ein Motiv für die Tat haben kann, ist grundsätzlich verdächtig. Das äußere Ende dieses Aspektes wird durch Werke wie „Mordmethoden“ 46 von Mark Benecke abgedeckt. Hier wird dann ohne Spannungsaufbau die forensische Aufklärung von Verbrechen dargestellt, was im Bereich der Kriminalliteratur das Pendant zu den psychologischen Betrachtungen der Verbrecherliteratur darstellt und quasi das Handwerk dahinter reflektiert. Die Figur, die das Rätsel enthüllt, kann vom Autor relativ frei 43 Schulz-Buschhaus 1975, S. 04. 44 Nesser Münsters Fall, S. 05: „Für den gemeinen Mann ist es das Wichtigste, zu begreifen, dass Handlungen Konsequenzen haben. Für einen Detektiv, dass sie Ursachen haben.“ Dabei steht dieses Zitat in einer interessanten Nähe zum Konzept der frühen Verbrechensliteratur und der Frage nach dem Whydunit. 45 Brecht 1971, S. 319. 46 Benecke, Mark: Mordmethoden: Neue spektakuläre Kriminalfälle erzählt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt. Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag, 2002. 94 <?page no="107"?> gestaltet werden, doch gibt es einige Aspekte, die bei der Gestaltung häufig genutzt werden. Häufig steht sie, wie auch der Verbrecher, etwas außerhalb der Gesellschaft 47 und zeichnet sich durch ihren eigenen Kopf aus, womit sie in einen Kontrast zu einer Person mit zu schematischem Denken gesetzt werden kann. Dabei wird die Figur, die das dénouement leistet, meist mit einer Privatperson besetzt, die das übernimmt, woran die Polizei scheitert. Hierbei spielt sicher die heimliche Befriedigung des Wunsches eine Rolle, dass die Aufklärung eines Verbrechens nicht nur von der Polizei geleistet werden kann, die häufig schlicht und ergreifend überfordert ist. Eine solche Heldenfigur weckt Vertrauen und kann jederzeit und überall auftauchen. Dies vermittelt dem Leser ein gutes Gefühl von Sicherheit. Damit werden die staatlichen Instanzen durch die Figur eines Detektivs kontrastiert 48 und repräsentieren in der Anfangszeit des modernen Krimis meist auch eine wesentlich fortschrittlichere Vorstellung von Gerechtigkeit, die sie durch ihr Handeln zu etablieren suchen 49 . Die beiden Urväter des modernen Krimis konzipierten die Persönlichkeit ihrer Detektivfigur recht einseitig, was Resultat des durchstrukturierten Rätselkonstruktes war. Holmes bittet seinen Freund Watson sogar in der Erzählung „Fünf Apfelsinenkerne“, ihn als Mensch zu charakterisieren. Dem wiederum fällt nichts anderes ein, als dessen Wissen und seinen Hang zur körperlichen Vergiftun- 47 Gerber 1971, S. 411: „...die menschliche Kraft, die den Verbrecher zur Strecke bringt, wie Alewyn und andere richtig betonen, [ist] ein Außenseiter, ein Amateur [...].“ 48 Alewyn 1971, S. 191: „Was bedeutet es, wenn die Detektivromane mit so auffallender Einmütigkeit gerade diesen Außenseitern den Erfolg zuerkennen, den sie der Polizei vorenthalten? Gewiß nicht ein Vertrauensvotum für die staatlichen Institutionen und auch nicht ein Bekenntnis zu einem gesellschaftlichen Konformismus. Die Vermutung drängt sich vielmehr auf, daß gerade diese Abweichungen von der sozialen und seelischen Norm den Erfolg des Detektivs erklären.“ 49 Schönhaar 1969, S. 53: „Bei näherem Zusehen vertreten und restaurieren auch die Exzentriker unter den Detektiven ein Gerechtigkeitsideal, das vielleicht nicht immer mit dem Rechtszustand, stets aber mit der Rechtsvorstellung von Gesellschaft und Zeitalter der jeweiligen Produzenten und Konsumenten trivialer und unterhaltender Kriminalgeschichten übereinstimmt [...].“ 95 <?page no="108"?> gen mittels Tabak und Kokain zu nennen 50 . Der Grund für diese Konzeption ist, dass die Detektivfigur in ihrer ursprünglichen Gestaltung fast ausschließlich eine erzähltechnische Komponente war und, entgegen der Möglichkeiten, auch teilweise heute noch so gestaltet wird. Eine wirkliche Personenkonzeption wird dabei zugunsten der Spannungskurve aufgegeben und die Figuren verkommen zu „Bahnhofsautomaten“ 51 , die sich „im luftleeren Raum“ 52 bewegen. Daher erfährt man fast nichts über das, was aus einer Person eine Persönlichkeit macht: das bisherige Leben, die Familie, die Träume, die Liebe, etc. Und so fragt sich der leitende Beamte in einem Krimi recht naiv: „Wie kommt es nur, dass das Leben anderer sich so glasklar darstellt, während das eigene sich hartnäckig jeder Bewertung und Reflexion entzieht? “ 53 Diese Figuren werden innerhalb dieses auf Spannung ausgelegten Konzepts gebraucht, um schnell und ruckartig die Handlung zu bestimmen, das Tempo zu erhöhen oder zu drosseln, den Informationsfluss zu bestimmen und dem Leser gleichzeitig stets das Gefühl zu vermitteln, dass es eine fast schon göttlich anmutende Instanz in dem Chaos gibt, welcher sie sich anvertrauen oder mit der sie um die Wette rätseln können. So ist es kein Wunder, dass das damalige Konzept von Glauser abwertend als Schlaumeier mit Psychologenblick 54 bezeichnet wird, das immer eine Lösung ermöglicht: ein moderner Deus ex Machina 55 . Glausers Kritik an der Dichotomie 50 Doyle, Arthur Conan: Fünf Apfelsinenkerne. In: Berger, Alice und Karl Heinz (Hrsg.): Die Abenteuer von Sherlock Holmes. Sämtliche Sherlock- Holmes-Erzählungen I. Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1988. S. 158-183. Hier S. 174. 51 Glauser Offener Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘, S. 217. 52 Ebd. 53 Nesser Münsters Fall, S. 81. 54 Glauser Offener Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘, S. 215: „Die Lösung blühet ihm als Blümlein am Wege. Das Blümlein Lösung steckt sich der Schlaumeier aufs Hütelein oder verziert mit ihm sein Knopfloch und wandert weiter, anderen Taten zu.“ 55 Doyle Fünf Apfelsinenkerne, S. 173-174: „Der ideale Denker wäre imstande, wenn ihm einmal eine einzige Tatsache in ihrer ganzen Tragweite vorgestellt worden ist, daraus nicht nur die Kette der Geschehnisse abzuleiten, die zu ihr hinführt, sondern auch alles, was sich künftig daraus ergeben kann. 96 <?page no="109"?> der Einteilung in gute und böse Menschen, die durch dieses überzeichnete Konzept entsteht, ist durchaus berechtigt. Dies erklärt die ganz spezielle Personenkonzeption des Wachtmeister Studer, dessen Persönlichkeit wesentlich differenzierter und menschlicher aufgebaut wird und dem daher auch schon mal Kommissar Zufall zur Seite steht 56 . Ein wichtiger Wesenszug des Detektivs ist zudem die Fähigkeit, sich in den Täter hineinversetzen zu können 57 . Diese emphatische Komponente findet sich ausgeprägt im Bereich der Verbrecherliteratur, nur eben unter einem anderen Aspekt. Was in der Verbrecherliteratur dazu dient, das Strafmaß eines bekannten Täters zu definieren, findet in der Kriminalliteratur Verwendung, um den Täter zu entlarven. Damit unterscheidet sie der Grund der Wahrheitsfindung, nicht aber die Tatsache, dass es um die Herausarbeitung der wahren Zusammenhänge geht 58 . Der Grund für diese intrinsische Motivation ist in der juristisch-anthorpologischen Verbrecherliteratur von Feu- [...] Das Denken vermag Probleme zu lösen, an denen alle jene verzweifeln, die eine Lösung mit Hilfe ihrer Sinne suchen. Um die Kunst des Denkens jedoch auf den höchsten Gipfel zu führen, wäre es nötig, daß der Denker imstande ist, alle Fakten zu nutzen, die ihm zur Kenntnis kommen, und dies wiederum, wie Sie einsehen werden, setzt den Besitz umfassenden Wissens voraus, was selbst in diesen Tagen der freien Bildung und der Enzyklopädien eine ausgesprochene Seltenheit ist.“ 56 Diese Konzept und sogar die interne Fokalisierung wird beispielsweise viel später auch von Henning Mankell bei der Konzeption der Figur Kurt Wallander aufgegriffen. 57 Wallace, Edgar: Neues vom Hexer. In: ders.: Der Hexer, Neues vom Hexer, Der schwarze Abt, Der grüne Bogenschütze. München: Random House GmbH, 2005. S. 159-311. Hier: S. 274: „Um ein erfolgreicher Detektiv zu sein, braucht man im Grunde keinen überragenden Verstand, man muß aber die Fähigkeiten haben, sich in die Seele und in den Zustand des Mannes zu versetzen, den man fangen will. Die größten Detektive sind immer diejenigen gewesen, die sich vollständig der Denkweise ihrer Gegner anpassen konnten.“ 58 Alewyn 1971, S. 191: „Unbestreitbar handelt es sich hier um einen Prozeß der Wahrheitsfindung. Am Anfang steht ein Rätsel, am Schluß erfolgt die Lösung, und das Thema des Romans ist nichts als die Suche nach dieser Lösung, und ein großes [sic] Teil der Spannung leitet sich daraus ab. Empirie und Logik, die Mittel des wissenschaftlichen Denkens, sind auch die, mit denen der Detektiv operiert. Es gilt, viele verstreute und versteckte Spuren so miteinander zu kombinieren, daß daraus ein lückenloser Zusammenhang entsteht.“ 97 <?page no="110"?> erbach und bei einem Detektiv des modernen Krimis derselbe: Es herrscht ein latentes Misstrauen den staatlichen Instanzen gegenüber. Feuerbach wusste um die Probleme, die korrupte Richter und machtgierige Menschen in hohen Positionen in der Rechtsprechung mit sich brachten. Auch er war ein Außenseiter, so wie viele der Detektive, die später in der fiktiven Welt dieses Ungleichgewicht zwischen den Menschen wesentlich einfacher ausgleichen konnten 59 . Bereits die erste bekannte Detektivfigur C. Auguste Dupin sieht in diesen Missständen den Grund zum eigenen Handeln 60 . Allerdings muss 59 Alewyn 1971, S. 191: „Was bedeutet es, wenn die Detektivromane mit so auffallender Einmütigkeit gerade diesen Außenseitern den Erfolg zuerkennen, den sie der Polizei vorenthalten? Gewiß nicht ein Vertrauensvotum für die staatlichen Institutionen und auch nicht ein Bekenntnis zu einem gesellschaftlichen Konformismus. Die Vermutung drängt sich vielmehr auf, daß gerade diese Abweichungen von der sozialen und seelischen Norm den Erfolg des Detektivs erklären.“ 60 Poe, Edgar Allan: Der Doppelmord in der Rue Morgue. In: ders. : Erzählungen in zwei Bänden. Mit den Zeichnungen von Alfred Kubin. Band 1. München: Nymphenburger Verlagshandlung GmbH, 1965.S. 223-264. Hier: S. 239: „Der vielgerühmte Scharfsinn der Pariser Polizei ist nur Schlauheit, weiter nichts. Sie folgt bei ihrem Vorgehen keiner anderen Methode als der, welche der Augenblick ihr eben eingibt. Sie handelt nach einer bestimmten Anzahl von Regeln, die nicht selten ihrem Zweck so schlecht entsprechen, daß man unwillkürlich an jenen Herrn erinnert wird, der seinen Schlafrock verlangte, um die Musik besser hören zu können. Die erreichten Erfolge sind ja zuweilen überraschend groß, doch verdankt sie dieselben meist nur ihrem Fleiß und ihrer Rührigkeit. Wo diese beiden Eigenschaften nicht ausreichen, mißlingen alle ihre Anstrengungen. Vidocq zum Beispiel war äußerst geschickt im Erraten, beharrlich und ausdauernd. Aber da sein Denken nicht geschult war, geriet er in einem fort in Irrtümer, in denen er dann seiner Natur gemäß noch hartnäckig verharrte. [...] Die Wahrheit ist nicht immer in einem Brunnen versteckt. [...] Die Wahrheit liegt nicht in den Tälern, in denen wir sie suchen, sondern auf den Berggipfeln, auf denen wir sie suchen sollten.“ Vgl. dazu auch Poe Der Doppelmord in der Rue Morgue, S. 264: „Mir genügt es, daß ich ihn auf seinem eigentlichsten Gebiet besiegt habe. Übrigens darf man sich nicht wundern, daß mein Freund das Rätsel nicht selbst löste. Er ist zu schlau, um tief sein zu können. Seine Weisheit ist ganz Kopf und ohne Leib - oder höchstens hat sie Kopf und Schultern wie ein Stockfisch. [...] Und ich schätze ihn besonders wegen der Neigung, der er seinen Ruf, ein Genie an Scharfsinn zu sein, verdankt ich meine seine Vorliebe: ‚de nier ce qui est, et d´expliquer ce qui n´est pas‘, wie es in Rousseaus ‚Nouvelle Héloise‘ einmal heißt.“ 98 <?page no="111"?> man festhalten, dass bei Sherlock Holmes oder Dupin nicht etwa Mitgefühl und soziale Verantwortung eine Rolle spielen 61 , sondern sie die scheinbar unlösbaren Fälle als spielerische und intellektuelle Herausforderung betrachten 62 . Durch die Bindung des dénouements an eine Figur des Textes entstanden einige Stereotypen, die sich über einen langen Zeitraum erhielten und ein wichtiges Mittel der Leserbindung sind. Diese Entwicklung lässt sich bereits in Bezug zu den Serienhelden setzen, die in der Literatur ab dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt wurden, besonders die berühmten Figuren der Räuberromane 63 . Interessan- 61 Moretti 1983, S. 135: „He [the detective] is not moved by pity for the victim, by moral or material horror at the crime, but by its cultural quality : by its uniqueness and its mystery.“ 62 Poe Der Doppelmord in der Rue Morgue, S. 223: „Die geistigen Fähigkeiten, welche man gewöhnlich die analytischen nennt, sind selbst, ihrem ganzen Wesen nach, der Analyse sehr schwer zugänglich. Wir beurteilen sie nur nach ihren Wirkungen. Unter anderem wissen wir von ihnen, daß sie, wenn sie in ungewöhnlich hohem Grade vorhanden sind, ihrem Besitzer ein Born außerordentlicher Genüsse sein können. Wie ein starker Mann sich an seiner physischen Tüchtigkeit berauscht und Übungen, die seine Muskeln in Tätigkeit setzen, vor allem liebt, so hat der Analytiker seine höchste Freude an jener geistigen Tätigkeit, die entwirrt und löst. Selbst die trivialsten Beschäftigungen, sofern sie ihm nur Gelegenheit geben, sein Talent zu entfalten, bereiten ihm Vergnügen. Er ist ein Freund von Rätseln, Hieroglyphen und Geheimnissen und zeigt bei der Lösung derselben einen Grad von Scharfsinn, der dem gewöhnlichen Verstande übernatürlich erscheint. Und seine Resultate, zu denen er doch durch rein methodisches Vorgehen gelangt ist, haben in der Tat den Anschein von Intuition.“ 63 Riha, Karl: Nachwort. Der Roman vom Räuber Rinaldini sein Autor, sein historisches Vorbild, seine Wirkung. In: Vulpius, Christian August: Rinaldo Rinaldini der Räuberhauptmann. Romantische Geschichte. Mit Illustrationen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karl Riha. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1980. S. 541-552. Hier: S. 549: „Daß bereits diese Originalfassung in inhaltlicher und formaler Hinsicht zahlreiche Wiederholungen gezeigt hatte, die jetzt erst recht kaum zu vermeiden waren, störte offensichtlich nicht, im Gegenteil: die volle Ausbeutung des Stereotyps bildet ja gerade das Wesensmerkmal dieser Art von Literatur und stellt ein entscheidendes Moment der von ihr angestrebten Leserbindung dar. Ähnliche Vorgänge lassen sich gerade im Bereich der Trivialliteratur des neunzehnten und später unseres Jahrhunderts immer wieder beobachten: die Ausbildung von Serienhelden und fester, auf bestimmte Leserschichten bezogener Romangenres, die in beinah schon unendlichen Heft- und 99 <?page no="112"?> terweise stellt sich ihr bekanntester Vertreter, Rinaldo Rinaldini, an mehreren Stellen als ziemlich schlechter, bzw. denkfauler Detektiv dar und die Aufklärung von unerklärlichen Hintergründen geschieht meist durch Anwendung von Gewalt oder durch den Zufall 64 . Bevor es eine (literarische) Detektivfigur geben konnte, musste zuerst auch ein literarischer Dialog entstehen, der neue Erkenntnisse in diesem Bereich und vor allem viele Fallbeispiele publizierte. In gewisser Weise sind damit die frühen juristisch-anthropologischen Veröffentlichungen die Basis für die literarische Weiterführung der Auseinandersetzung mit Verbrechen und Gerechtigkeit in der fiktiven Verbrechensliteratur. Der Beginn der modernen Kriminalistik ist damit in diesen Texten zu suchen, die die Basis für alle weiteren Entwicklungen waren. Abstrakt gesagt muß man die kulturellen Techniken beherrschen, um die durch sie hervorgebrachten „symbolischen Formen“ zu lesen und zu verstehen. Dabei gewährt die Vernunft eine gewisse Ermäßigung, als man vieles im Denken haben kann, ohne es im Leben sein zu müssen. Um die Spuren eines Verbrechers zu lesen, muß man nicht Verbrecher sein, sondern ihn nur imaginieren. Aber man muß diese Spuren lesen gelernt haben anhand „aufgeklärter“ Verbrechen. 65 3.7 Ein erster Ausblick An dieser Stelle sollen nun die theoretischen Betrachtungen der Erzählstruktur und ihrer Elemente beendet werden, mit denen gezeigt Broschürenreihen auf den Markt geworfen werden, liegt auf diesem Weg.“ 64 Vulpius, Christian August: Rinaldo Rinaldini der Räuberhauptmann. Romantische Geschichte. Mit Illustrationen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karl Riha. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1980. S. 304-305: „Rinaldo fand keinen Beruf, sich über ein Geheimnis den Kopf zu zerbrechen, welches in seiner jetzigen Lage gar keinen Enträtselungsreiz für ihn haben konnte; er hielt sich, viel zu glücklich, an die Gegenwart, die ihn alles leicht vergessen lassen konnte, was geschehen war.“ Ebd., S. 261: „“O! daß ich jetzt nur an der Spitze von zwanzig der Meinigen stünde! ich wollte alle diese Rätsel gewiß lösen.“ 65 Stoellger, Philipp: Genese und Grenzen der Lesbarkeit. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. S. 226. 100 <?page no="113"?> werden sollte, dass es zwar eindeutige Unterschiede zwischen der Konzeption der frühen Verbrechensliteratur und der Konzeption des modernen Krimis gibt, es sich aber wesentlich mehr Gemeinsamkeiten entdecken lassen als bisher angenommen. Ebenso lassen sich einige Elemente eines Bereiches der Verbrechensliteratur in spiegelverkehrter Konzeption im anderen Bereich entdecken. Dabei beruhen die Gemeinsamkeiten auf einer Weiterentwicklung von Ideen, die in den frühen Formen der Verbrechensliteratur entworfen wurden. Bereits im theoretischen Bereich lassen sich somit Vermutungen anstellen, an welchen Stellen der moderne Krimi ein Fortführung von Ideen und Konzepten der frühen Verbrechensliteratur ist. Schönhaar folgert aus den Überlegungen Blochs, dass es wichtig ist, „typische Merkmale der gedanklichen und formalen Struktur des Kriminalschemas als eines Baumusters in der Erzählkunst nicht aus der konkreten Detektivliteratur seit Edgar Allan Poe abzuleiten, sondern sie vielmehr mit aller Entschiedenheit in dem voraufgegangenen halben Jahrhundert aufzusuchen.“ 66 Diesem Ansatz möchte sich diese Arbeit anschließen, um im Folgenden über einen kurzen Exkurs in die frühe internationale Verbrechensliteratur hin zur Textanalyse der deutschsprachigen Verbrechensliteratur zwischen 1782 und 1855 überzuleiten. Dabei steht auch die Textauswahl an dieser Stelle vor einem wesentlich größeren Umfang an aufschlussreichen Texten, als bisher angenommen wurde 67 . Hinzu kommt, dass sich bei der Betrachtung der Verbrecherliteratur intensiv auf den modernen Krimi konzentriert wird, dessen einzelne, zudem meist nur inhaltliche, Bestandteile seziert und analysiert werden, ohne sie auf vorherige literarische Entwicklungen zu beziehen 68 . Nun soll im folgenden 66 Schönhaar 1969, S. 43. 67 Schädel 2006 (I), S. 07: „Es gibt keine Bibliographie des Genres bis zu seinem Ursprung, obwohl die Literaturwissenschaft sich mit dem Kriminalroman immer mehr beschäftigt. [...] Ich behaupte hier nicht, daß dies nun wirklich alle Titel sind, die je in diesem Genre erschienen sind. Ich sehe auch nicht im Entferntesten die Möglichkeit einer Komplettbibliographie, dafür ist der Zeitrahmen zu groß, sowie die Menge der ‚Romane‘, die man nur mittels Lesen als Kriminalromane identifizieren könnte.“ 68 Gerber 1971, S. 417: „Wo liegt nun aber der eigentliche Ursprung des Kriminalromans? Woher kommt er in der Entwicklung dessen, was man leider etwas einseitig Geistesgeschichte nennt. [...] Diese Frage wird meist gar nicht 101 <?page no="114"?> Kapitel an ersten Textbeispielen gezeigt werden, dass Teile des Konzepts noch viel weiter als die Verbrechensliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts zurückreichen. gestellt, sondern man treibt lieber das, was man etwa Gattungsgeschichte nennt. Die Gattung ist da, oder sie ist nicht da. Ist sie da, so wird sie seziert und die Teile werden fein säuberlich auf den Seziertisch gelegt. Hin und wieder wird die Frage aber doch gestellt, so zum Beispiel bei Alewyn.“ 102 <?page no="115"?> 4 Vorformen der Verbrechensliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts 4.1 Frühe Formen der Verbrechensliteratur Die Darstellung von Verbrechen und Gesetzesübertretungen lässt sich bereits seit den Anfängen der Literaturgeschichte nachweisen 1 , so auch schon in der Bibel. Adam und Eva brachen das Gesetz Gottes und mussten dafür die Konsequenzen tragen, auch ihr Sohn Kain erschlug seinen jüngeren Bruder Abel und wurde dafür von Gott mit dem Fluch der Heimatlosigkeit bestraft 2 . In den Apokryphen der Bibel, im Buch Daniel 3 , lässt sich dann sogar die Darstellung der ersten literarischen Detektivfigur nachweisen, wenn man, wie Bloch und andere vorschlagen, vom Detektorischen ausgeht. So kann Daniel die Verleumdung Susannas widerlegen 4 , indem er die beiden lüsternen Greise durch Spurensicherung und Spurenauswertung überführt. Auch in den Dramen der Antike lässt sich mehr als ein Mord entdecken. Die Orestie-Trilogie von Aischylos ist dabei eines der bekanntesten Beispiele. Sie handelt von der Geschichte von Orest, der auf Wunsch Elektras und nach einem Spruch des Orakels von 1 Buchloh & Becker 1978, S. 7-8. 2 Gen 4,11-12: „Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“ 3 Diese Geschichte ist nicht in der hebräisch-aramäischen Bibel enthalten und zählt damit zu den apokryphen Schriften der hebräischen Bibel. Da die katholische Bibeltradition sowohl auf die griechische Septuaginta wie auch auf die lateinische Vulgata zurückgeht, die diese Perikope enthalten, ist sie Teil der deutschsprachigen Einheitsübersetzung. Martin Luther ordnete diese Erzählung dagegen den Apokryphen des alten Testaments zu. 4 Dan 13,1-64. 103 <?page no="116"?> Delphi Blutrache an seiner Mutter und ihrem neuen Mann Aigisthos nimmt. Da er mit dem Muttermord ein soziales Tabu gebrochen hat, wird er verstoßen und von den Rachegöttinnen verfolgt, bis er von seiner Tat gereinigt ist. Erst eine neue Verhandlung auf dem Areopag in Athen bewirkt seine Begnadigung. Hier ist eine transzendente Instanz das wichtige erzählerische Element, um die Erzählung aufzubauen und schließlich zu beenden. In der „Aeneis“ von Vergil, den „Historien“ von Herodot und dem Ödipusstoff, der für Ernst Bloch der „Urstoffdes Detektorischen schlechthin“ 5 ist und uns an anderer Stelle nochmals begegnen wird, lassen sich ebenfalls frühe Formen und Elemente der modernen Verbrechensliteratur nachweisen 6 . In den auf realen Begebenheiten beruhenden Überlieferungen aus der römischen Zeit findet sich ebenfalls ein besonderes Werk der Verbrechensliteratur. Im Jahr 80 v. Chr. wird Sextus Roscius ungerechterweise des Mordes an seinem Vater beschuldigt. Der Mord erwies sich schnell als politisch motiviert, weshalb keiner der bekannten Anwälte in Rom sich mit einer Verteidigung selbst in Gefahr bringen wollte. Der damals noch junge Jurist und Politiker Marcus Tullius Cicero aber erkannte die Möglichkeit, sich mit diesem Fall einen Namen zu machen und setzte sich mutig für die Verteidigung des jungen Sextus Roscius ein. In seiner berühmten Rede auf dem Forum in Rom 7 stellt er zuerst die These auf, dass Lucius Cornelius Chrysogonus als Drahtzieher in Frage kommen konnte, da er durch den Tod von Roscius dessen Vermögen vereinnahmen durfte 8 . Mit klaren Worten weist er die Zuhörer darauf hin, dass die eigentlichen Täter anklagen, das Opfer aber als Vatermörder verleumdet wird: „Es klagen die an, die über das Vermögen des Angeklagten hergefallen sind; es verteidigt sich der, dem sie außer seinem Unglück nichts gelassen haben. Es klagen die an, für die die Ermordung des Vaters des Sextus Roscius vorteilhaft war; es verteidigt sich der, dem der Tod des Vaters nicht nur Trauer, sondern auch bittere Armut 5 Bloch 1971, S. 335. 6 Buchloh & Becker 1978, S. 6. 7 Cicero, Marcus Tullius: Pro Sex. Roscio Amerio oratio. Rede für Sex. Roscio aus Ameria. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1976. 8 Ebd., S. 11 & S. 59-61. 104 <?page no="117"?> gebracht hat.“ 9 Er benennt die beiden wirklichen Mörder 10 und weist im Folgenden akribisch nach, dass der Sohn seinen Vater nicht töten konnte: Der Sohn war auf den Gütern in Ameria, sein Vater aber wurde in Rom ermordet. Zudem erhält nicht der Sohn zuerst die Nachricht von der Ermordung, sondern sein Feind, Capito 11 . Um ihre Tat zu verschleiern, wurde der Name des Opfers nachträglich auf eine bereits geschlossene Proskriptionsliste gesetzt 12 . Mit seiner lückenlosen Rekonstruktion des Tathergangs kann Cicero einen Freispruch bewirken und belegen, dass es in der Anklageschrift nicht den geringsten Beweis gibt, der einer näheren Nachforschung standhält. Dabei kritisiert er die Richter und den Ablauf des Verfahrens sehr deutlich, vor allem, dass die beiden Leibsklaven des Ermordeten nicht verhört werden dürfen: „Alles, ihr Richter, ist in dieser Sache jämmerlich und empörend [...].“ 13 Im Rückblick merkte er selbst an, dass er bei seiner Rede im jugendlichen Überschwang wohl etwas dramatisiert habe. Dies aber rückt seine Ausführung in die Nähe der berühmten Auflösungen im Kaminzimmer der modernen Krimis, in denen ein überzeugender Redner (= Detektiv) alle Verdächtigen versammelt und den wahren Schuldigen entlarvt. Damit ist dies ein seltenes Beispiel für eine Kriminalerzählung, die auf realen Fakten basiert, und durch ein personengebundenes, rationales dénouement aufgelöst wird 14 , das fast den gesamten Umfang des Textes beansprucht. Doch selbst wenn man nicht ganz so weit zurück geht, so kann man ab dem 16. Jahrhundert das Aufkommen von Sammlungen beobachten, die bekannte Rechtsfälle zusammenfassten. Diese Werke waren zwar eigentlich für den Gebrauch in Rechtsfragen gedacht, doch schon bald zeigte sich, dass die außergewöhnlichen Fälle ein weitaus größeres Publikum ansprachen, als gedacht. Pierre Boaistuau, der sich auch Pierre Launay nannte, gilt als der Erfinder der histoire tragique (tragische Geschichte) und der histoire prodigieuse (außergewöhnliche Geschichte). Es handelte sich bei seinen tragi- 9 Cicero Pro Sex. Roscio Amerio oratio, S. 17. 10 Ebd., S. 21 & S. 123. 11 Ebd., S. 21-23. 12 Ebd., S. 125-131. 13 Ebd., S. 79. S. a. S. 119-121. 14 Im Stammbaum als Kr4 bezeichnet. 105 <?page no="118"?> schen Geschichten, die 1559 als Sammlung veröffentlicht wurden, um Übersetzungen und Bearbeitungen von Texten des Italieners Matteo Bandello, die „Geschichten von Verbrechen, Gewalttaten und Gesetztesüberschreitungen bereit [hielten], die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegenüber der moralischen Novelle als innovativ wahrgenommen wurden“ 15 . Berühmt wurde die Sammlung vor allem auch deshalb, da sie eine Erzählung mit dem Titel „Rhomeo et Julietta“ enthielt. Sie gilt heute als wahrscheinliche Vorlage für Shakespears berühmte Tragödie, die ja ebenfalls im weitesten Sinne der Verbrechensliteratur zugeordnet werden kann. 1605 veröffentlichte der Franzose François Rosset seine „Histoires tragiques“, in denen spektakuläre Kriminalfälle wiedergegeben wurden, die „für die juristische Ausbildung ebenso wie zum Zweck schierer Unterhaltung“ 16 gedacht waren. Mitte des 17. Jahrhunderts verfasste der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer das Werk „Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte“ (1650-52) 17 . Der lange Untertitel des Buches zeigt erstaunlicherweise bereits eine enorme Formenvielfalt, die von Erzählungen über Gedichte, Sinnsprüche und Scherzfragen bis hin zu Berichten reicht. Das Werk ist ein früher Beleg für die beginnende Auseinandersetzung mit diesem Inhalt in verschiedenen literarischen Formen. Doch der juristische Wahrheitsgehalt dieses Werkes scheint keiner wissenschaftlichen Überprüfung standzuhalten. So veröffentlichte der Österreicher Matthias Abele von und zu Lilienberg in Steyr bereits ein Jahr später das Werk „Metamorphosis Telae Judiciariae: Das ist: Seltzame Gerichts-Händel“ (1651). Das Titelblatt des Werkes verrät bereits, dass sich hier spöttisch auf Harsdörffer bezogen wird 18 , was ein Gedicht am Anfang 15 Ackermann 2004, S. 280-281. 16 Košenina 2009, S. 190. 17 Harsdörffer, Georg Philipp: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord- Geschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten. Mit vielen merckwürdigen Erzehlungen / neu üblichen Gedichten / lehrreichen Sprüchen / scharpffsinnigen / artigen / Scherzfragen und Antworten / ? / Verdolmetscht und mit einem Bericht von den Sinnbildern / wie auch hundert Exempeln derselben als einer neuen Zugabe / aus dem berühmsten Authoribus 5. Auflage. Hamburg: Johann Naumann, 1666. 18 „Matthiam Abele / von Lilienberg / der hochlöbl. fruchtbringenden Gesellschaft Mitgenosssen. Mit Röm. Kais. Maj. Freyheit nicht nachzudrucken.“ 106 <?page no="119"?> des Werkes belegt. Während Harsdörffer den Philosophen Anicius Manlius Boethius zitiert 19 , bezieht sich Abele auf einen lateinischen Spruch 20 , der sich ähnlich auch in der Lutherbibel und bei Hans Sachs finden lässt. Im Gegensatz zur juristischen Perspektive argumentiert Harsdörffer in seinen Berichten über das Verbrechen aus einer christlichen Position heraus. An den Beispielen zeigt er allerlei Sündenfälle auf, die nicht gerade zurückhaltend beurteilt werden. Er vergleicht dies mit einem „Schauspiel“, das dem der Römer gleicht. Ursache allen Übels ist dabei für ihn „der Meister dieser Mordspiele (Editor) [...] der Mörder und Lügner von Anfang / der leidige Satan / welcher die Jugend mit Wollüsten / das männliche Alter mit Ehrgeiz / die bejahrten mit der leidigen Geltgeitz auf den Schauplatz dieser Welt führet / und verführet.“ 21 Abele kritisiert Harsdörffer nicht nur für seine mangelnde Rechtskenntnisse, sondern auch dafür, ein solches Werk einem Herrscher zu widmen 22 . In seiner Vorrede erklärt er ironisch, dass er sich vom Verfassen religiöser Literatur abgewandt hat. Diese hat er eigentlich gewählt, in „der tröstlichen Zuversicht / ich werde / bey dieser Gottseligen und andächtigen Welt / gar reich damit werden. Aber weit gefehlt! diese innere Herzens-Seuffzer seynd anjezo meine Beutel-Seuffzer [...].“ 23 Damit verweist der Autor bereits darauf, dass die auf ein großes Publikum zugeschnittenen Erzählungen Harsdörffers finanziell gesehen wesentlich erfolgreicher 19 Das Zitat stammt aus den Consolationis Philosophiae, die Boethius 524 n. Chr. im Gefängnis von Pavia als Gefangener des Gotenkönigs Theoderich schrieb. Es bedeutet, wörtlich: „(Die) überwundene Erde, (die) Sterne schenkt.“ Interpretiert werden kann dies so, dass der Mensch erst dann wirklich frei sein kann, wenn er gelernt hat, die Schwierigkeiten des Lebens zu akzeptieren. 20 Lilienberg verwendet nur die letzten beiden Worte des Ausspruchs: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! “ Er bedeutet: Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende! 21 Harsdörffer Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte, S. 2 der „Zuschrifft“. 22 Lilienberg, Matthias Abele von: Metamorphosis Telae Judiciariae: Das ist: Seltzame Gerichts-Händel. 4. Auflage. Nürnberg: Michael Endters, 1661. o.S. Zitat aus: „Kurze Erklärung des Titels“: „Der Zettel ist der Fleiß / der Eintrag ist die Kunst / und dienet das Gewerb zu grosser Herren Gunst / bedeckt die Traurigkeit / geleitet in den Reisen: und solches Kunstgewerb wird sich hier wircklich weisen.“ 23 Ebd., Seite 1 der Vorrede. 107 <?page no="120"?> als seine Verbrechensdarstellungen mit juristischem Schwerpunkt waren, was sich an der Auflagenzahl nachweisen lässt. Schon der Titel verrät, dass es sich bei Abele um wirkliche juristische Literatur handelt, da er die Berichte mit den „gleichsfalls seltsam erfolgten Gerichts-Aussprüchen“ zusammen abdruckt. Der erste große literarische Erfolg auf diesem Gebiet waren die Sammelbände des französischen Rechtsgelehrten François Gayot de Pitaval (1673-1743), der in den Jahren zwischen 1734 und 1743 seine Sammlung der Causes célèbres et intéressantes in zwanzig Bänden veröffentlichte, die zur Blaupause einer erfolgreichen juristischanthropologischen Verbrecherliteratur wurden. Sie waren seit ihrer Veröffentlichung zudem eine wichtige Inspirationsquelle für Vertreter der Kriminalliteratur. Unter anderem dienten die Fälle der Marquise de Brinvilliers und der Catherine Monvoisin E.T.A. Hoffmann als Vorlage für seine Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“. Dabei griffer nur einige wenige Elemente dieser Verbrecherkarrieren auf und verband sie mit der fiktiven Geschichte um den Mörder René Cardillac. Besonders am Pitaval ist, dass hier echte Fälle vorgestellt und keine fiktiven Verbrechen beschrieben wurden. Dies wird teilweise als „truecrime Literatur“ 24 bezeichnet. Dieser Begrifferfuhr im Laufe der Zeit eine Begriffsveränderung, die ebenfalls einen Hinweis darauf gibt, wo die Ursprünge der modernen Kriminalliteratur zu finden sind. So verstand man im 20. Jahrhundert unter diesem Begriff Werke der Kriminalliteratur, die den Wahrheitstopos ausgiebig nutzen, ohne wirkliche Fälle zu berichten und eine Pseudo-Realität abbildeten 25 . Der französische Pitaval wurde unter anderem von Schiller und anderen Mitarbeitern ins Deutsche übersetzt und bearbeitet, wobei bereits bei der Übertragung einige Umstrukturierungen der Form vorgenommen wurden 26 . Auch in Deutschland fand diese Literaturform großen Anklang und wurde besonders von August Gottlieb Meißner mit entwickelt, der sich in seinen „Skizzen“ (1778-1796) mit Verbrecherschicksalen auseinandersetzte 27 . Er veränderte dabei bewusst die Form und verkürzte die teilweise sehr umfangreichen juristischen 24 Schädel 2006 (I), S. 08 25 Siehe dazu Kapitel 12.2. 26 Siehe dazu Kapitel 6.3. 27 Siehe dazu Kapitel 5.3. 108 <?page no="121"?> Ausführungen, womit er eine knappe und für jeden gut lesbare Form der Verbrecherliteratur kreierte, die heute wieder erfolgreich von Ferdinand von Schirach genutzt wird 28 . Noch bis ins 19. Jahrhundert spielt diese Literaturform eine bedeutende Rolle in der Literaturgeschichte. Bekanntestes Beispiel aus dem deutschen Sprachraum ist „Der neue Pitaval“ von Julius Eduard Hitzig und Wilhelm Häring 29 , der als „eine Sammlung der interessantesten Kriminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit“ untertitelt wurde und in 60 Bänden (! ) zwischen 1842 und 1890 bei Brockhaus erschien. Willibald fertigte sogar einen „Reise-Pitaval“ (1856) an. 1858 erschien der „Volks-Pitaval“ von Friedrich Arnold Steinmann, hinzu kamen der „Lustige Berliner Pitaval“ (1888) oder „Der Pitaval der Gegenwart“ (1903 ff.). Auch der bekannte Reporter Egon Erwin Kisch verfasste ein „Kriminalistisches Reisebuch“ (1927) und den „Prager Pitaval“ (1931). Ebenfalls regional eingeschränkt 30 sind „Der Sächsische Pitaval“ (1861-1862), der „Wiener Pitaval“ (1924) sowie der „Pfälzer Pitaval“ (1996), der erst Ende des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurde. Interessant für die vorliegende Fragestellung und innerhalb des gewählten Zeitraums sind die Werke von Paul Anselm von Feuerbach und Theodor Gottlieb von Hippel, auf die in Kapitel 5.5 und 5.6 eingegangen wird. Ähnliche Werke, die zur damaligen Zeit bekannt waren, stammen von Jacob Friedrich Abel 31 und dem Kriegsrat und Dichter Karl Friedrich Müchler 32 , um nur einige wenige aus dem deutschen Sprachraum zu nennen. An dieser Stelle sei bereits auf die ausführliche Bibliographie in Kapitel 15 verwiesen, die einen eindrucksvollen Überblick über die Masse an Literatur gibt, die in der Zeit zwischen 1650 und 1875 sich mit der literarischen Darstellung von Verbrechen auseinandersetzte. In der modernen Literatur finden sich noch heute Fortführungen des Ansatzes von Pitaval. Besonders hervorzuheben ist dabei Truman 28 Siehe dazu Kapitel 5.9. 29 Künstlername: Willibald Alexis. 30 Dies ist eine Fokusierung, wie sie sich auch in den Regionalkrimis von zum Beispiel Jacques Berndorf heute nachweisen lässt. 31 Abel, Jacob Friedrich: Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben. (1787). 32 Müchler, Karl Friedrich: Criminalgeschichten. (1792). 109 <?page no="122"?> Capote, dessen Bestseller-Roman „Kaltblütig: Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen“ (1969) auf dem wahren Verbrechen an der Familie Clutter beruht. Dabei stellt er nicht nur die Tat dar, sondern erläutert auch die Lebensgeschichte der beiden Mörder Perry Edward Smith und Richard Eugene. Mit seinem Werk wollte Truman vor allem beweisen, dass ein auf wahren Umständen beruhender Bericht mit erzähltechnischen Mitteln durchaus so spannend wie ein moderner Krimi gestaltet werden kann und begründete damit das neue Genre des „New Journalism“. Norman Mailer suchte für seinen Roman „Gnadenlos“ Kontakt mit dem Verbrecher und Schriftsteller Jack Abbott und setzte sich sogar für dessen Freilassung ein 33 . Abbott hatte Norman angeboten, über seine Erfahrungen als Inhaftierter zu schreiben, aus dem Briefwechsel mit Mailer entstand dann das Werk „Mitteilungen aus dem Bauch der Hölle“. Auch einige Filme, wie „Sommersby“ (1993), der auf dem Bericht über Martin Guerre beruht, und „Michael Kohlhaas“ (2013), der die von Kleist bereits zwischen 1808 und 1810 literarisierte Geschichte von Hans Kohlhase aufgreift, basieren auf Berichten aus dem Pitaval. Bei Julian Schmidt findet sich 1876 der Verweis auf das Werk von Jodocus Temme, der neben einigen fiktiven Werken wie „Der Bluthund“ (1820) und „Die Ermordung des Bankdieners Boisseliers“ (1842) auch Werke veröffentlichte, die auf wahren Begebenheiten beruhende Kriminalfälle zum Thema hatten, diese aber gezielt ausgestalteten. Der erste Sammelband aus dem Jahr 1858 verweist deshalb darauf, dass diese Geschichten mit „humoristischer Färbung“ erzählt werden 34 , da er durch eine aktenmäßige Darstellung nur „Grausen und Abscheu“ erzeugt hätte: „Dadurch unterhält man weder, noch belehrt man. Ich aber wollte beides, vorzüglich belehren durch Unterhaltung“ 35 , stellt er deutlich im Vorwort seiner Sammlung 33 Kurz nach seiner Entlassung beging Abbott aber im Streit einen Mord, wegen dem er zum Tode verurteilt wurde. 34 Temme, Jodocus: Berliner Polizei- und Criminalgeschichten in humoristischer Färbung. (1858). 35 Zitiert nach Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie-Geschichte- Analyse. 2. durchgesehene und erweiterte Auflage. München: Winkler Verlag, 1983. S. 10. 110 <?page no="123"?> heraus. Schmidt steht dieser Literaturform aber skeptisch gegenüber und weist darauf hin, dass die Größe einer Auflage nichts mit der Wirkung zu tun haben muss, denn „die Wirkung hängt nicht davon ab, auf wie viele sie sich erstreckt, sondern wer diese sind“ 36 . Dennoch zeigt die Auflagengröße sehr wohl den Publikumsgeschmack, was sich an der großen Zahl an Veröffentlichungen in dieser Sparte belegen lässt 37 und der bei der Betrachtungsweise des distant reading durchaus von Bedeutung ist. Neben dem Pitaval und den anderen bereits erwähnten Werken des französischsprachigen Raums lassen sich noch weitere Texte entdecken, die weit vor Poe interessante Darstellungsformen des Verbrechens anzubieten hatten. Als bekanntestes Beispiel wird das dritte Kapitel aus Voltaires „Zadig“ aufgeführt, bei dem Zadig durch logisches und induktives Denken das verschwundene Pferd und den entlaufenen Hund des Königshauses wiederfindet 38 . Auch Fanny Messageot Mme de Tercys „La Vieille Marthe“ und P.-F. Mervilles „Le Panier d´argenterie“ (1829), das bereits im selben Jahr zu einem „mélodrame anecdotique en 3 actes“ von Jacque-André Naigeon transponiert wurde, sowie Balzacs „Une ténébreuse affaire“ (1841) und „Maître Cornélius“ (1832) thematisieren das Verbrechen auf eine neuartige Weise. Wie auch in Deutschland tauchen hier nur verstreut einige Elemente des modernen Krimis auf, ohne sich jedoch zu diesem besonderen Erzählkonstrukt zu verbinden. Das Interesse für den modernen Detektivroman war dann einige Jahre später klar zu erkennen: Baudelaire übersetzte bereits 1855 Poes Kurzgeschichten nochmals neu, die erst 1846 ins Französische übertragen worden waren. Doch selbst außerhalb dieser spezifischen Form der Verbrecherliteratur lassen sich Gattungen aufzeigen, in denen bereits einige Elemente des modernen Krimis zu finden sind. Als eine der wichtigsten Formen diesbezüglich gilt hierbei der Schauerroman, da sich beispielsweise bei Wilkie Collins die Technik der falschen Fährten nachweisen lässt, wobei in der folgenden Primärtextanalyse belegt werden kann, dass dieser erzähltechnische Griffbereits in früher 36 Zitiert nach Marsch 1983, S. 11. 37 Siehe dazu die Bibliographie in Kapitel 15. 38 Siehe dazu Kapitel 9.4. 111 <?page no="124"?> erschienenen Werken nachweisbar ist 39 . Doch die Liste ist, je nach Auslegung noch viel länger: Schauer-, Räuber-, Abenteuer- und Verschwörungsromane, Schelmenliteratur, der pikareske Roman, die Geheimbunderzählung, moralische Erzählungen, aber auch die gothic novel aus England und das Märchen können im Zusammenhang mit der Entstehung des Poeschen Krimikonzeptes herangezogen werden. Dabei variieren die Argumente stark, in welcher Weise diese Werke einen Einfluss hatten. Der Schauerroman und die gothic novel berichten von Untoten, die ihren Tod gerächt haben wollen, da sie meist einem Mord zum Opfer fielen. Der Räuberroman dagegen präsentiert meist romantische Geschichten um furchtlose und trotzdem edelmütige Verbrecher. Zudem lässt sich im Räuberroman die Entstehung eines Serienhelden zeigen, der später eine zentrale Rolle in der Kriminalliteratur einnehmen wird. Die Geheimbunderzählung und Verschwörungsromane thematisieren den Aspekt von verborgenen Machenschaften, die sich häufig in den modernen Thrillern nachweisen lassen, die moralische Erzählung dagegen Aspekte, die auch von der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur thematisiert werden. Grundsätzlich geht die Forschung davon aus, dass die moderne Kriminalerzählung in den angelsächsischen Ländern entstanden ist und sich von dort aus weiter verbreitet hat 40 . Aber auch hier sind die aufgeführten Beispiele keine Vorläufer des modernen Krimis im wirklichen Sinne, sondern enthalten nur einzelne Strukturelemente, 39 Leonhardt 1990, S. 19: „Eines verdanken alle späteren Krimi-Autoren dem Verfasser des „Mondstein“ und der „Frau in Weiß“: Wilkie Collins ist der Erfinder des erzähltechnischen Tricks, falsche Fährten auszulegen, damit der Verdacht auf immer wieder andere Personen gelenkt wird, ein Trick, ohne den der klassische Kriminalroman nicht lebensfähig wäre. [...] Mit Humor, leiser Ironie und einer immer spürbaren Kritik an den sozialen Verhältnissen seiner Zeit versteht er es, wie sein Freund Charles Dickens, Menschen durch das geschriebene Wort lebendig werden zu lassen. Das besondere Bauschema der beiden Romane ist dazu angetan, diese Kunst mit Bravour vorzuführen. Anstelle einer fortlaufend erzählten Handlung berichten eine Reihe von Augenzeugen über das Verbrechen und seine Begleitumstände. Jede Person hat ihren eigenen Standpunkt, ihre eigene Sichtweise und ihren eigenen Stil.“ 40 Vgl. z.B. Gerber 1971, S. 404. 112 <?page no="125"?> die später im Gesamtkonstrukt unabdingbar wurden 41 . Ein ganz eigenständiges Werk ist beispielsweise „Murder Considered as One of the Fine Arts“ (1827) von Thomas De Quincey. Das Werk ist in drei Teile gegliedert und bietet neben einer Vorlesung 42 , der Beschreibung einer Sitzung des „Mordliebhaber-Clubs“ 43 bis hin zu akribischen Beschreibungen verschiedener Morde mit Nullfokalisierung 44 auch viele Details des Herausgebers von „The Collected Writings of Thomas de Quincey by David Masson, emeritus professor of english literature in the university of Edinburgh“ 45 , die an heutige Werke von Kriminalbiologen erinnern. Auch der englische Schauerroman des 18. Jahrhunderts enthielt viele erzählerische Elemente, die später in der modernen Kriminalliteratur eine wichtige Rolle einnehmen sollten. Solche Elemente wurden bereits ausführlich bei Ann Radcliffes „The Mysteries of Udolpho“ (1794), Matthew Gregory Lewis „The Monk“ (1796) oder Wilkie Collins „The Woman in White“ (1860) nachgewiesen. Demgegenüber stehen die Vertreter, die den Ursprung dieser Erzählform in der Literatur des 19. Jahrhunderts vermuten. Innerhalb dieser Gruppe gibt es diejenigen, die seine Genese aus den spezifischen Denkansätzen der Romantik heraus begründen 46 , 41 Leonhardt 1990, S. 18: „Es muss offenbleiben, ob das Plot, wie Dickens es geplant hatte, unseren Vorstellungen von einem Kriminalroman nahegekommen wäre. [...] Da ist ein Geheimnis, um dessen Aufklärung sich mehrere Menschen und auch die Polizei bemühen. Es gibt einen engen Kreis von Verdächtigen, falls es denn Mord war, auch genügend Indizien für eine zweite Theorie, den aus eigensüchtigen Motiven nur vorgetäuschten Mord. Auch Thomas De Quinceys „Der Rächer“ („The Avenger“; 1838) trägt Züge des Kriminalromans. Es ist die geradlinig und spannend erzählte Geschichte um eine unheimliche Mordserie, der Schauplatz eine kleine deutsche Stadt. Die Polizei verfolgt viele Spuren, doch keine führt zum Ziel, da ein Motiv fehlt. Nicht ihre Ermittlungen schließen den Fall ab, sondern das freiwillige Geständnis des Mörders. Der Titel verrät das Motiv. [...] Das üppig wuchernde Rankenwerk überdeckt während langer Passagen die eigentliche Kriminalhandlung [...] und behindert die Entwicklung eines geradlinigen Plots, wie es für die Geschichten moderner Krimi-Autoren typisch ist.“ 42 De Quincey, Thomas: Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet. Berlin: Autorenhaus Verlag, 2004. S. 11-50. 43 Ebd., S. 53-68. 44 Ebd., S. 71-127. 45 Ebd., S. 131-151. 46 Alewyn 1971, S. 202: „Damit sind die literarische Herkunft und die geistige 113 <?page no="126"?> denen wiederum diejenigen Forscher gegenüber stehen, die nur wage Ansätze einer solchen Literaturform in der Romantik erkennen. Die Bezüge Alewyns zur angelsächsischen demokratischen Mentalität und der (deutschen) Romantik scheinen beispielsweise Gerber als zu weit hergeholt 47 , thematisieren aber durchaus einen interessanten Aspekt bezüglich der möglichen Genese dieser Gattung. Ganz besonders der Aspekt des Wunders in den Erzählungen der Romantik scheint ihm hierbei als unwiderlegbares Gegenargument zu gelten 48 . Problematisch ist hierbei, dass der große Erfolg des Krimis nach seiner Erfindung zuerst ausblieb 49 . Heimat des Detektivromans gesichert. Er ist ein Kind nicht des Rationalismus und des Realismus, sondern der Romantik. Damit kann auch die Frage nach seinem Wesen neu gestellt werden und die Frage nach dem Grund der Faszination, die von ihm ausgeht. Weit entfernt, die alltägliche Wirklichkeit, die vernünftige Ordnung und die bürgerliche Sekurität zu sichern, dient er vielmehr, diese zu erschüttern.“ Auch Schönhaar basiert seine These zu einem Großteil auf den Gedanken der Romantik, besonders in Bezug auf seine Definition der Verbrechensliteratur dieser Zeit, die das „Problem der Zweideutigkeit der Welt und des Menschen“ (Schönhaar 1969, S. 64.) widerspiegelt. 47 Gerber 1971, S. 420: „Seien wir deshalb etwas vorsichtiger und sagen: Die Herkunft des Kriminalromans aus der Romantik oder anderswoher ist nicht gesichert und noch zu erforschen, aber nicht so einfach über literarische Vater-Kindschaft, sondern auch in etwas dunkleren Tiefen. In Berlin und auch in der deutschen Romantik würde ich mich dabei nicht allzu lange aufhalten. Vielmehr würde ich mir zuerst einmal sagen: Poe hat den Kriminalroman zur Hälfte erfunden. [...] Conan Doyle hat den Kriminalroman ganz erfunden.“ 48 Ebd., S. 419: „Beim Detektiv ist es anders. Er hat wache, hellwache Sinne, und er registriert die Abweichung vom Normalen untrüglich, aber nicht um das Wunder zu finden, sondern jede Abweichung ist verdächtig. [...] Ja, der Detektiv ist geradezu der Antipode des romantischen Künstlers. Hoffmann beginnt mit der banalen Oberfläche und findet dahinter das Wunder. Dem Detektiv wird dagegen zuerst ein Wunder vorgelegt, der Detektiv schnüffelt mißtrauisch daran herum, denn wenn es etwas gibt, woran er nicht glaubt, dann ist es das Wunder. Er phantasiert also nicht tagelang gefesselt in den Straßen herum irgend etwas zusammen, sondern analysiert kritisch distanziert.“ 49 Ebd., S. 408: „Denn die Detektivgeschichten von Poe hatten wenig Erfolg und machten nicht Schule. Sie zeigten einen neuen Typus an, aber sie bildeten diesen Typus selbst noch nicht. Poe war der Prophet der Kriminalgeschichte, aber nicht ihre Epiphanie. [...] Erst Sherlock Holmes schlug ins allgemeine 114 <?page no="127"?> Daher ist es durchaus berechtigt, auch in der deutschen Literatur nach solchen Elementen zu forschen. Es scheint nämlich so, dass gerade im hier behandelten Zeitraum die Darstellung bestimmter inhaltliche Motive in vielen verschiedenen Strukturexperimenten ausprobiert wurde, von denen nur die populärsten überlebten. So hat sich beispielsweise die umfangreiche Darstellung von Selbstmördern wie bei Spieß (Carl Josef August Hofheim) 50 scheinbar nicht bewährt, als literarisches Motiv ist es aber in einem der wichtigsten Werke des Sturm und Drangs zu finden, nämlich in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. 4.2 Der Bezug zur antiken Tragödie In diesem nun zugegebenermaßen weitgefassten Traditionszusammenhang der Verbrechensliteratur des 18. und 19. Jahrhundert muss auch kurz auf eine andere alte Darstellungsform eingegangen werden, die unter anderem von Mord, Tod und Raub handelt und von der die moderne Kriminalliteratur ebenfalls einige Konzeptelemente entlehnt hat: die antike Tragödie. Genette weist darauf hin, dass Aristoteles selbst fordert, dass die Handlung auch ohne Inszenierung „beim bloßen Anhören der Geschehnisse Jammer und Schaudern hervorrufen“ 51 solle, womit er belegt, dass „das tragische Thema vom dramatischen Modus losgelöst und von der einfachen Erzählung übernommen werden kann, ohne deshalb ein episches Thema zu werden“ 52 . Friederike Lichius belegt ebenfalls in ihren Studien, dass sich Bewußtsein ein und zeugte links und rechts in unabsehbarer Folge eine den Markt überschwemmende Flut von mehr oder weniger originellen Nachkommen.“ Auch Alewyn betont diese Tatsache. Alewyn 1971, S. 186: „Nach allgemeiner Ansicht ist der Detektivroman nicht viel mehr als ein Jahrhundert alt. Der Amerikaner Edgar Allan Poe gilt für den Entdecker seiner Formel und seine Murders in the Rue Morgue [...], 1841 erschienen, für das klassische Muster der Gattung. Ihren Triumphzug trat sie allerdings erst fünfzig Jahre später unter der Führung von Sherlock Holmes an, des von Conan Doyle in London kreierten Meisterdetektivs.“ 50 Spieß, Christian Heinrich: Biographien der Selbstmörder. (1785-1789). 51 Genette, Gérard: Einführung in den Architext. Stuttgart: Verlag Jutta Legueil, 1990. S. 26. 52 Ebd. S. a. ebd.: „So gäbe es also Tragik außerhalb der Tragödie, wie es zweifellos Tragödien ohne Tragik gibt, oder zumindest solche, die weniger 115 <?page no="128"?> zwischen der Konzeption des Schauerromans und dem Drama Bezüge herstellen lassen 53 . Daher soll nun kurz auf die Bezüge zwischen der modernen Kriminalliteratur und der antiken Tragödie eingegangen werden. Auf den ersten Blick lassen sich bereits Experimente mit dieser Darstellungsform sowohl auf formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene nachweisen, beispielsweise bei Schillers Konzeptentwürfen „Die Polizei“ und „Die Kinder des Hauses“ 54 . Die Autoren der Verbrecherliteratur des 18. Jahrhundert erkannten sehr wohl bereits, dass so manche Anekdote „für eine Ballade und theatralische Bearbeitung vielleicht kein undankbarer Stoffgewesen wäre“ 55 . Alewyn rückt das Erleben des Lesers bei der Lektüre eines modernen Krimis in die Nähe der Katharsis 56 . Boyle weist nach, dass es nach der Klassik eine Veränderung der Rezeption des Dramas gab, das nun auch gelesen wurde und somit nicht mehr ausschließlich für die Theaterbühnen konzipiert wurde 57 . Diese allmählich einsetzende Transformation tragisch sind als andere.“ 53 Lichius, Friederike: Schauerroman und Deismus. Frankfurt a. M.: Verlag Peter Lang GmbH, 1978. S. 77 ff. 54 Siehe dazu Kapitel 6.5. 55 Meißner, August Gottlieb: Die Seelen-Folter. Geschichten von Unstern und Aberwitz. Herausgegeben von Hanne Kulessa. Erzählungen und Kriminalgeschichten aus der Gesamtausgabe in 36 Bänden, Wien 1813-14. Darmstadt und Neuwied: Sammlung Luchterhand Bildbuch, 1984. S. 27: „Folgende Anekdote [„Französischer Justizmord“], die für eine Ballade und theatralische Bearbeitung vielleicht kein undankbarer Stoffgewesen wäre, ist, so viel ich weiß, noch nirgends gedruckt und ungezweifelt wahr, denn ich verdanke sie der Erzählung eines Augenzeugen, der den Unglücklichen selbst zum Tode führen sah.“; Ebd., S. 56-57: „Daß Zeugen und Richter durch den Anschein verführt werden können, einen Unschuldigen für schuldig zu erkennen, dieser Fall mag leider nur allzu oft sich zutragen. [...] Einst (es mag nun an die vierundzwanzig Jahre sein! ), als man wieder an gedachtem Orte eine solche Tragikomödie begangen hatte, fand man gegen Morgen, mitten auf der Straße, unweit einem der besuchtesten Weinhäuser, einen Grenadier entseelt und ganz in seinem Blute schwimmend.“ 56 Alewyn 1971, S. 187. 57 Boyle 2009, S. 19: „Die öffentliche literarische Gattung, in der sich am präzisesten die zwiespältigen Realitäten des Lebens in der Wachstumszone widerspiegelten und die gegen Ende des Jahrhunderts einen Punkt der Vollkommenheit erreichte, den man im nachhinein als ‚klassisch‘ anerkannt hat, war das poetische Drama - das Drama, welches, obwohl es aufführbar 116 <?page no="129"?> findet ihren Vorläufer im bürgerlichen Trauerspiel. Die im 18. Jahrhundert in Frankreich auftretende Gattung rückt, im Gegensatz zur klassischen Tragödie, die einen exemplarischen adligen Helden in den Mittelpunkt stellt, eine bürgerliche Hauptfigur in den Mittelpunkt der Handlung, die ein schicksalhaftes und tragisches Ende erfährt. Bis dahin wurde dem Bürgertum die Fähigkeit des tragischen Erlebens abgesprochen, und so traten bürgerliche Figuren nur in Komödien auf. Durch diese Auflösung der sozialen Schichten in einer der formalsten Literaturformen wurde gutes menschliches und moralisches Verhalten unabhängig vom gesellschaftlichen Stand etabliert. Darin spiegelte sich die Veränderung der gesellschaftlichen Position des Bürgertums seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wider, das sich nun erhob und Gleichberechtigung forderte. Die Verbrechensliteratur stellte besonders die Gestaltung der sozialen Rangfolge der Dramatik in Frage, indem sie aufzeigte, dass Recht immer noch in Abhängigkeit vom sozialen Status gesprochen wurde. Die absolute Loslösung von dieser sozialen Komponente erfolgte dann in der Literatur erst mit der Detektivfigur, die juristischer und gesellschaftlicher Willkür unwiderlegbare Argumente entgegenstellte und daher als Gegenpol zur teils trostlos agierenden Polizei konzipiert wurde. Doch unabhängig von diesen gesellschaftlichen Aspekten sind die strukturellen Übereinstimmungen oftmals explizit in den prosaischen Texten markiert. Und so ruft von Hippel in seinem „Beytrag über Verbrechen und Strafen“ aus: „Wie viel Farce bey der Civiljustizausübung! wenn dagegen bey den rechtlichen Trauerspielen die Seele gehoben wird, war und aufgeführt wurde, seine weiteste Verbreitung und Wertschätzung als gedrucktes Buch fand. Die dramatische Form spiegelte die politische und kulturelle Vorherrschaft des Fürstenhofs wider, denn keines der zahlreichen Theater in Deutschland war ein rein kommerzielles Unternehmen. Alle waren sie auf die eine oder andere Form von staatlichen Subventionen angewiesen, und selbst in der Zeit der Revolution dienten sie größtenteils immer noch ihrem ursprünglichen und hauptsächlichen Zweck, den Herrscher zu unterhalten. Wenn diese Dramen jedoch als Buch verbreitet wurden, als Deutschlands Äquivalent des englischen Romans, weil sie sowohl wahrhaftig als auch kommerziell erfolgreich waren, dann spiegelten sich darin die Ambitionen des Bürgertums auf eine eigenständige, am Markt ausgerichtete Kultur.“ 117 <?page no="130"?> um Leben und Tod aus dem rechten Gesichtspunkt zu fassen und zu beurtheilen um mit Menschen als Menschen bekannt zu werden! “ 58 Selbst Poe spricht im ersten modernen Krimi vom „Trauerspiel in der Rue Morgue“ 59 . Die besten Geschichten, aber auch die tragischsten, schreibt bekanntlich das Leben und nirgends wird dies so deutlich wie in der Verbrechensliteratur. Allerdings ist das echte Leben eben grundverschieden zu den Darstellungen auf der Bühne, was man nicht nur aufgrund der Kleidung erkennt: „Ihren Anzug hätt ein Modejournal vielleicht anders angegeben; mir indeß kam es vor, daß Personen, die ein Todesurtheil anzuhören haben, eben so erscheinen müssen, in der wirklichen Welt nämlich auf dem Theater wird es freylich anders gehalten - Hier fiel für Schauer und Hörer der Vorhang, die Thüren wurden geschlossen [...].“ 60 Dorothy Sayers, die bekannte Erschafferin des Lord Peter Wimseys, hielt 1935 in diesem Zusammenhang einen bemerkenswerten und humorvollen Vortrag in Oxford 61 , in dem sie eindrucksvoll erläuterte, wie schon Aristoteles sämtliche Ansprüche an die Konzeption des modernen Krimis formulierte. Sie vertritt damit einen ähnlich weitgefassten Ansatz wie Ernst Bloch, für den der Ödipusstoffder „Urstoffdes Detektorischen schlechthin“ 62 ist. Nun, für jeden, der die ,Poetik‘ unvoreingenommen liest, ist es klar, daß Aristoteles weniger ein Kritiker seiner zeitgenössischen Literatur als ein Prophet der Zukunft war. [...] Aber was er zuinnerst wünschte, war eine gute Detektivgeschichte [...]. Er hatte einen kräftigen Appetit auf das Grausame. 63 Aristoteles benennt zwei „naturgegebene Ursachen“ 64 , die die Dichtkunst hervorgebracht haben: Nachahmung und die Freude an der 58 Hippel, Theodor Gottlieb von: Ein Beytrag über Verbrechen und Strafen. Zweyte unveränderte Auflage. Königsberg: Friedrich Nicolovius, 1797. S. 06. 59 Poe Der Doppelmord in der Rue Morgue, S. 233: „Das Trauerspiel in der Rue Morgue! ! ! “ 60 Hippel Ein Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 15. 61 Sayers, Dorothy : Aristoteles über Detektivliteratur. Vortrag in Oxford am 5. März 1935. In: Vogt 1971 (I), S. 123-138. 62 Bloch 1971, S. 335. 63 Sayers 1971, S. 123. 64 Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1982. S. 11. 118 <?page no="131"?> Nachahmung. Dabei benennt er ganz konkret die seltsame Faszination, die von eigentlich so ablehnenswerten Dingen wie dem Verbrechen in literarischer Form ausgehen: „Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.“ 65 Obwohl ihm „keine besseren Krimis zum Studienobjekt als die schmutzigen Verwicklungen in der Familie des Agamemnon, keine wissenschaftlicheren Mordmethoden als den vergifteten Pfeil Philoktets oder die etwas unwahrscheinlichen medizinischen Requisiten in Gestalt von Medeas Kessel“ 66 zur Verfügung standen, bleibt für Sayers „die ‚Poetik‘ der beste Leitfaden für die Abfassung solcher Werke“ 67 . Ihrer Argumentation liegt die mutige, aber vertretbare These zugrunde, dass sich die Essenz des Detektivromans damals in der literarischen Form der Tragödie darstellte. Die Katharsis, so Sayers weiter, ist der Grund für die eigentümliche Faszination dieses Genres, „Mitleid und Furcht“ sollen den Leser, respektive Zuschauer, von derartigen Affekten reinigen. Da für eine Katharsis auch Schönheit vorhanden sein muss, so steht der Detektiv für eben diese Komponente: „Also sollte man darauf bedacht sein, daß bei Erregung verwerflicher Leidenschaften das literarische Verfahren sie durch die Besinnung auf emotionale und intellektuelle Schönheit sogleich sublimiert.“ 68 Aristoteles sieht bezüglich des Aufbaus der Tragödie sowohl im Mythos als auch in den Charakteren den „Ursprung“ und die „Seele“ 69 derselben. Die Handlung sollte vom Umfang her so angemessen sein, dass sich der Leser am Ende der Erzählung noch an den genauen Verlauf erinnern kann 70 . Auch dieses Element lässt sich im Folgenden 65 Aristoteles Poetik., S. 11. S. a. S. 33: „Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles.“ 66 Sayers 1971, S. 124. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 126. 69 Aristoteles Poetik, S. 23. 70 Sayers 1971, S. 127. Vgl. dazu Aristoteles Poetik, S. 27. Innerhalb der Kriminalliteratur haben sich eigene Formen herausgebildet, wie der Thriller, welche vom Aufbau und der Konzeption der Handlung so angelegt sind, 119 <?page no="132"?> gut nachweisen, da man beobachten kann, wie die teilweise umfangreichen Darstellungen der Verbrecherliteratur, wie zum Beispiel bei Feuerbach, kürzeren Versionen weichen, wie bei Meißner, und sich dadurch sowohl der Aufbau als auch die Sprache und Darstellung zu verändern beginnt. In Verbindung mit den Entwicklungen der Novelle legte dies den Grundstein für eine kompakte Form der Kriminalliteratur, die sich schon bei Müllners „Der Kaliber“ nachweisen lässt. Eine Ausdehnung der Handlung über ihre Möglichkeiten hinaus, so Aristoteles weiter, führt dazu, dass die Autoren gezwungen werden, die Reihenfolge zu zerreißen 71 . Die Beschränkung auf die zentralen Handlungselemente und deren Anordnung muss so weit gehen, „daß das Ganze sich verändert und in Bewegung gerät, wenn ein einziger Teil umgestellt oder weggenommen wird.“ 72 Diese Umfangsbeschränkung, und damit die Einheit der Handlung, kann unter anderem dadurch gewahrt werden, dass Aspekte der handelnden Figuren, welche nicht direkt in einem Zusammenhang mit dem zu entwickelten Plot stehen, ausgelassen werden 73 . Dennoch weist Sayers darauf hin, dass es beispielsweise die Wiedergabe wahrer Ereignisse erfordert, „zu den bekannten Tatsachen Erfindungen [hinzu] zu fügen, um diese wahren Ereignisse wahrscheinlich aussehen zu lassen“ 74 . Ein Trick, den die angebliche true-crime -Literatur des 20. Jahrhunderts ausgiebig nutzte. Doch schon im „Geisterseher“ von Schiller 75 und vielen anderen Werken des hier behandelten Zeitraums findet sich eine interessante Vermischung von realen und fiktiven Informationen. Dabei ist zu beachten, dass bei erfundenen Aspekten „das Unmögliche, aber Wahrscheinliche vorzüglicher [ist] als das Mögliche, das unglaubhaft ist“ 76 . Gerade die Balance zwischen diesen beiden Aspekten ist es, dass sie einen wesentlich größeren Umfang einnehmen können, wie ein reiner Detektivroman. Die Länge gilt hier sogar als Unterscheidungsmerkmal. 71 Dies lässt sich an Marguerite Mercier oder Die Räuber von Wangenheim nachweisen. Siehe dazu Kapitel 5.8. 72 Sayers 1971, S. 128. Vgl. dazu Aristoteles Poetik, S. 29: „Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht Teil des Ganzen.“ 73 Z.B. die Schulzeit, Elternhaus, o.Ä. 74 Sayers 1971, S. 129. 75 Vgl. dazu Kapitel 6.4. 76 Ebd. 120 <?page no="133"?> weshalb sich die Auseinandersetzung mit kriminalistischen Inhalten so faszinierend und vielschichtig gestalten lässt. Für Aristoteles ist es dabei gleichwertig, ob eine Handlung wahr oder erfunden ist, solange sie „glaubwürdig ist“ und „Vergnügen“ 77 bereitet. Der Umschlag der Handlung kommt am besten durch eine harmartia zustande, was einen Fehler des Betroffenen bezeichnet 78 und alle Personen der Handlung betreffen kann. Dies kann in der Verbrechensliteratur beispielsweise der Detektiv sein, der in seinen Untersuchungen Fehler macht, oder eine unschuldige Person, die zum Beispiel durch einen Streit mit dem Opfer selbst zum Verdächtigen wird. Auch der Täter offenbart sich durch eine Unachtsamkeit oder durch einen kleinen Fehler, der sich später als fatal herausstellt. Sayers weist darauf hin, dass solche Peripetien der Geschichte „Bewegung [verleihen] und erwecken im Leser abwechselnd Furcht, Mitleid und ähnliche Gefühle“ 79 , diejenigen menschlichen Empfindungen also, die als Grundlage der Katharsis gesehen werden. Zudem arbeitet Sayers ganze fünf Typen von Entdeckungen heraus, die für Aristoteles die Lösung einer Erzählung ausmachen können und die im Folgenden helfen können, sowohl die Auflösung der Verbrecher-, als auch der Kriminalliteratur voneinander zu unterscheiden 80 . Aristoteles fordert, dass man „passende Täuschungen“ einsetzen soll, welche aber angebracht sein müssen 81 . Dies entspricht im weitesten Sinne der sogenannten Fair-Play-Rule des modernen Krimis. Diese führen den Leser zum „transcendentalen Paralogismus“ 82 , das, was Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ als erste Klasse 77 Aristoteles Poetik, S. 31. 78 Sayers 1971, S. 131. Vgl. dazu Aristoteles Poetik, S. 39. 79 Sayers 1971, S. 130-131. 80 Ebd., S. 131-132: 1) Entdeckung, die der Autor selbst gemacht hat; 2) Entdeckung aufgrund von Indizien; 3) Entdeckung durch Erinnerungen; 4) Entdeckung durch Schlußfolgerung; 5) Entdeckung durch Fehlschluss des Gegners. Sayers bezeichnet diesen letzten Punkt als „Entdeckung durch Bluff “ (Ebd., S. 132). Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Detektiv jemanden mit falschen Aussagen dazu bringt, sich selbst zu verraten. 81 Aristoteles Poetik, S. 53: „Es gibt auch eine Art, die auf einem Fehlschluß des Zuschauers beruht.“ 82 Kant, Immanuel (Autor); Adickes, Erich (Hrsg.): Kritik der reinen Vernunft. Mit einer Einleitung und Anmerkungen. Berlin: Mayer und Müller, 1889. S. 326. 121 <?page no="134"?> der „dialektischen Vernunftschlüsse“ 83 bezeichnet. Dies sind für ihn Schlussfolgerungen, zu denen die Vernunft notwendigerweise neigt und dies wird, gerade im Detektivroman, häufig eingesetzt. Dabei kann der Autor bei seinem Konzept damit spielen, indem er die offensichtlichste Lösung mit der falschen Spur, die unwahrscheinlichste Lösung aber mit dem wahren Täter verknüpft 84 . Bei der Gestaltung der handelnden Personen greifen die Verfasser der modernen Verbrechensliteratur ebenfalls gerne auf die Konzepte des Griechen zurück. Die positiven Charaktere der Handlung müssen für Aristoteles edel und angemessen sein, da eine Katharsis nur über die Identifikation mit tüchtigen Menschen möglich ist 85 . Es darf keineswegs gezeigt werden, wie „Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben“, da dies für ihn die „untragischste aller Möglichkeiten ist“ 86 . Dies wurde lange Zeit so gedeutet, dass nur Personen der oberen Gesellschaftsschicht diese Werte vertreten können. Wie schon weiter oben ausgeführt, kann dies abstrakt betrachtet auch auf eine Figur bezogen werden, die sich durch ihre überlegenen geistigen Fähigkeiten auszeichnet und sich aktiv für Aufklärung und Gerechtigkeit einsetzt. Zudem müssen die Figuren glaubwürdig sein 87 . Übertreibt der Autor beispielsweise die Charakterzeichnung, so kann es schnell ins Absurde umschlagen, was durchaus als gewolltes Stilmittel eingesetzt werden kann 88 , im Normalfall ist dieser Effekt eher nicht erwünscht. Drittens sollen die Charaktere wirklichkeitsnah, also realistisch, gestaltet sein 89 . Dabei muss an den Vorwurf erinnert werden, den beispielsweise Glauser Doyle und seinen Nachahmern machte. In den Anfangstagen des modernen Krimis waren die Figuren mehr ein Teil der Erzählstruktur als eigenständige und komplex gezeichnete Persönlichkeiten. Da 83 Kant Kritik der reinen Vernunft, S. 326. 84 Aristoteles Poetik, S. 83-84: „Homer hat den übrigen Dichtern auch besonders gut gezeigt, wie man Täuschungen anbringen muss. [...] Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist.“ 85 Ebd., S. 47. 86 Ebd., S. 39. 87 Ebd., S. 47. Aristoteles bezeichnet dies als „Angemessenheit“. 88 So zum Beispiel bei der „Markus-Cheng-Reihe“ von Heinrich Steinfest. 89 Aristoteles Poetik, S. 47: „Das dritte Merkmal ist das Ähnliche.“ 122 <?page no="135"?> dies stets als unglaubwürdig kritisiert wurde, mussten die Figuren ausgestaltet werden, was sich deutlich an der Entwicklung der Darstellung des Detektivs im 20. Jahrhundert nachweisen lässt. Auch hier war die frühere Kriminalliteratur wesentlich glaubwürdiger, da in manchen Fällen die Unauflösbarkeit eines Kriminalfalls so stehen gelassen wurde, statt sie mit einer überzeichneten Figur oder durch eine überkonstruierte Situationen aufzulösen. Schließlich ist die letzte Anforderung an die Personen, dass die Charaktere von Anfang bis Ende der Erzählung einheitlich gestaltet werden müssen 90 . Die wichtigste Bemerkung von Aristoteles in Bezug auf den modernen Krimi nennt Sayers zuletzt: „Viele freilich verknüpfen gut und lösen schlecht auf.“ 91 Denn für Aristoteles ist „der wichtigste Teil [...] die Zusammenfügung der Geschehnisse“ 92 . Seine grundsätzliche Feststellung, dass sich die Tragödie so lange weiterentwickelte und verfeinerte, bis sie ihre optimale Form erlangt hatte, gilt ebenso für die Entwicklung der Verbrechensliteratur hin zur Form des modernen Krimis und kann in einen Zusammenhang mit den Überlegungen Morettis gestellt werden: „...sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte.“ 93 Die Kunstfertigkeit eines Werkes, das eine solche Struktur schließlich nutzt, muss immer individuell bestimmt werden, damit sich eine negative Einschätzung „nicht gegen die Dichtkunst, sondern gegen die Kunst des Interpreten“ 94 wendet. In diesem Sinne darf auch keineswegs das Erzählkonzept eines modernen Krimis abgelehnt werden, sondern immer nur eine schlechte Umsetzung desselben. 90 Aristoteles Poetik, S. 47: „Das vierte Merkmal ist das Gleichmäßige.“ 91 Sayers 1971, S. 138. Vgl. dazu Aristoteles Poetik, S. 59: „Viele schürzen den Knoten vortrefflich und lösen ihn schlecht auf; man muß jedoch beides miteinander in Übereinstimmung bringen.“ 92 Ebd., S. 21. 93 Ebd., S. 15. 94 Ebd., S. 95. 123 <?page no="136"?> 4.3 Moritaten Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle kurz auf die besondere Form der Moritat eingegangen werden, die eine frühe und in der Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert beliebte sowie weit verbreitete Darstellungsform von realen und fiktiven Verbrechen war. Da sie inhaltlich damit in den vorgegebenen Bereich dieser Arbeit passt, strukturell im vorliegenden Kontext aber kaum Besonderheiten zu bieten hat, wird dieser Bereich in der Primärtextanalyse ausgespart. Dennoch soll sie an dieser Stelle Erwähnung finden, da sie bei der Darstellung der frühen Formen der Verbrechensliteratur meist ausgeklammert wird. Reste dieser Form lassen sich in den beiden hier vorgestellten Gedichten von Chamisso 95 und Schiller 96 wiederentdecken. Der Ursprung der Bänkelsängerei lässt sich nicht eindeutig festlegen. Sie stammt aus einer Zeit, in der unser heutiges Zeitungswesen weitestgehend unbekannt war und Bücher nicht im heutigen Umfang genutzt werden konnten, sowohl aus bildungstechnischen, wie auch aus finanziellen Gründen. Ihr Ursprung reicht mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurück und kann in gewisser Weise über ähnliche Darstellungsformen, wie dem Gauklertum, bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden 97 . Nachrichten wurden entweder von reisenden Händlern, Wandergesellen oder Jahrmarktschreiern weiterverbreitet, oder eben durch die Bänkelsänger weitergetragen, die ihre Informationen hauptsächlich auf öffentlichen Märkten preisgaben. Damals schon hatte „der wohlige Schauer über die Abgründe und Klüfte der Seele, die Verstrickungen menschlicher Leidenschaften und das Gefühl der Sicherheit, dem sich der Nichtbetroffene hingeben konnte“ 98 , große Anziehungskraft auf das Publikum. Ähnliche Wirkungseffekte werden dem modernen Krimi zugeschrieben und finden sich, wie weiter oben ausgeführt, auch in Form der Katharsis in der anti- 95 Siehe dazu Kapitel 5.7. 96 Siehe dazu Kapitel 6.1. 97 Pinson, Roland W. (Hrsg.): Nachwort. In: ders. Moritaten und Bänkellieder bekannter Verfasser. Bayreuth: Gondrom Verlag, 1982. S. 551-553. Hier: S. 551: „Dies bezeugen bildliche Darstellungen schon aus dem sechzehnten Jahrhundert.“ 98 Ebd. 124 <?page no="137"?> ken Tragöde. In der deutschen Sprache scheint es interessanterweise so, als könne man die Bezeichnung dieser Literaturform auf das deutsche Wort „Mordtat“ zurückführen, doch etymologisch geht sie wahrscheinlich auf das lateinische und französische Wort für „Moral“ zurück, da die Moritat neben der Befriedigung der Sensationslust der Zuhörer diesen durchaus moralische Inhalte vermittelte 99 . Diese Texte wurden nicht nur öffentlich mit Hilfe von Bildtafeln vorgetragen, sondern wurden von den Bänkelsängern in Form von kleinen achtseitigen Heftchen verkauft, die Text, Lied und einen Titelholzschnitt beinhalteten. Dabei sollten vor allem die Bilder dabei helfen, „die manchmal komplizierten Zusammenhänge menschlichen Wirkens und Tuns zu vereinfachen“ 100 und waren gleichzeitig Kaufanreiz, sogar für Analphabeten. Ihre Blütezeit erlebte die Bänkelsängerei vor allem im 18. und 19. Jahrhundert. Allergrößter Beliebtheit erfreuten sich landauf landab die Mordgeschichten, wobei die Aktualität zugunsten sorgfältigster Schilderung zumeist verdrängt wurde. Das minderte ihre Wirkung auf ihr Publikum keineswegs, stillten sie doch die Neugierde, die große Antriebskraft im menschlichen Leben überhaupt. Schließlich ist nichts so interessant wie das Leben anderer Leute. Und das galt damals ebenso wie heute. 101 Die Sammlung von Pinson zeigt dabei so knapp wie umfassend auf dem Titelblatt die Themenbereiche der Moritaten an: „Liebe, Mord und Schicksalsschlag“. Dabei wurden auch bekannte Texte wie „Die Leiden des jungen Werthers“ neu besprochen 102 , womit aufgrund der traurigen Aktualität zur damaligen Zeit versucht werden sollte, junge Leute vom Freitod abzuhalten. Häufig findet sich die Darstellung eines Kindsmordes, so zum Beispiel bei Friedrich Theodor 99 Pinson 1982, S. 551: „Die Bedeutung des Wortes ‚Moritat‘ ist unklar. Neben verschiedenen Theorien wurde versucht, einen Zusammenhang zwischen dem mittellateinischen ‚moritates‘ (Moral) bzw. der französischen ‚moralité‘ (Moral) herzustellen.“ 100 Ebd., S. 552. 101 Ebd. 102 Nicolai, Friedrich: Eine entsetzliche Mordgeschichte von dem jungen Werther. In: Pinson 1982, S. 169-175. 125 <?page no="138"?> Vischers „Leben und Tod des Joseph Brehm, gewesten Helfers zu Reutlingen, am 18. Juli 1829“ 103 , oder eines Affektmordes, meist aus Eifersucht. Bei Brehm wird, wie bei Schillers „Kindsmörderin“, die wahre Geschichte eines Kindsmörders in Versform dargestellt, der sein uneheliches Kind aus Geiz zuerst 17 Stunden fesselt und schließlich umbringt. Dabei wird überaus deutlich die Hinrichtung dargestellt, um das Publikum möglichst stark zu schockieren und damit solchen Verbrechen vorzubeugen. Ein außergewöhnliches Beispiel stammt von einem unbekannten Verfasser, der in der Moritat „Schauderhafte und greuliche Moritat, welche sich am 5. November 1835 zwischen Pfingsten und dem Klinkertore zu Augsburg wirklich zugetragen hat“ 104 davon berichtet, wie ein von einer Dirne abgewiesener Heiratsantrag einen jungen Soldaten dazu bringt, sich selbst zu töten. In seinem Abschiedsbrief gibt er als Schuld für seinen Tod die „Sprödigkeit“ der Frau an, woraufhin diese hingerichtet wird. Auch hier findet sich das zentrale Element der Kritik an sozialen und juristischen Umständen, speziell daran, dass diejenigen rechtlos sind, die außerhalb der sozialen Norm leben (müssen). Es ist klar, dass sich diese Erzählstruktur wenig dazu eignete, große Spannung aufzubauen, sondern eher dazu diente, über den Inhalt größtmöglichen Eindruck auf den Zuhörer zu machen. Dennoch ist die Form deshalb im vorliegenden Kontext interessant, da sich immer wieder kritische Stimmen isolieren lassen, die zeigen, wie sich dieser Inhalt für die Integrierung von Gesellschaftskritik eignet. So findet sich bei Johann Wilhelm Ludwig Gleim mehrfach der Appell, den Gefühlen ihre Berichtigung nicht abzusprechen, da sie sonst zu Straftaten führen 105 . In seiner Moritat mit dem umfassenden Untertitel „Traurige und betrübte Folgen der schändlichen Eifersucht - Wie auch heilsamer Unterricht, daß Eltern, die ihre Kinder lieben, 103 Vischer, Friedrich Theodor: Leben und Tod des Joseph Brehm, gewesten Helfers zu Reutlingen, am 18. Juli 1829. In: Pinson 1982, S. 232-242. 104 Anonym: Schauderhafte und greuliche Moritat welche sich am 5. November 1835 zwischen Pfingsten und dem Klinkertore zu Augsburg wirklich zugetragen hat. In: Pinson 1982, S. 291-292. Aus dem Lahrer Rommersbuch von 1862. 105 Glem, Johann Wilhelm Ludwig: Traurige und betrübte Folgen der schändlichen Eifersucht.; Damon und Ismene.; Die durch den Teufel bestrafte Sybille. In: Pinson 1982, S. 58-66, S. 67-69 und S. 70-76. 126 <?page no="139"?> sie zu keiner Heyrat zwingen, sondern ihnen ihren freyen Willen lassen sollen; enthalten in der Geschichte Herrn Isaac Veltens, der sich am 11ten April 1756 zu Berlin eigenhändig umgebracht, nachdem er seine getreue Ehegattin Marianne und derselben unschuldigen Liebhaber jämmerlich ermordet“, der schon in an dieser Stelle auf den wahren Hintergrund der Darstellung hinweist, berichtet er die Geschichte einer jungen Liebe zwischen Marianne und Leander, welche durch den Willen der Eltern unterdrückt wird. Sie wird stattdessen mit einem wohlhabenderen Mann verheiratet. Der Autor hebt deutlich die Willkür und den Machtanspruch der Eltern hervor: „Du willst ihn nicht? Ich muß nur lachen, Sagt drauf Mama! Wir wollen dir den Willen machen, Ich und Papa.“ 106 Nachdem sie ihrer Mutter ihre Liebe zu Leander gestanden hat, wird sie, da die Eltern andere Pläne verfolgen, in ein Kloster gesperrt. Dort wird sie von ihrer Mutter mit einem gefälschten Brief getäuscht, der belegen soll, dass sich Leander mit einer anderen verlobt hat. Die Hochzeit wird arrangiert und alle, nur nicht die Braut, freuen sich darauf. Die Hochzeitsnacht gleicht einer Vergewaltigung, „wie man ein Lamm zur Schlachtbank führet“ 107 , und ihre Mutter beschimpft sie noch, als sie ihre Scham bemerkt. Eines Tages kommt ein Händler und gibt sich, als der Ehemann auf die Jagd gegangen ist, als Leander aus und gesteht seine ungebrochene Liebe. Er wird von ihr abgewiesen, doch möchte er noch einmal ihre Hand halten. In dieser Situation findet sie der rückkehrende Ehemann und bringt beide um. Seine ermordete Gattin erscheint ihm daraufhin immer wieder und in geistiger Umnachtung bringt er sich schließlich selbst ums Leben. Auch Gleims Moritaten „Damon und Ismene“ und „Die durch den Teufel bestrafte Sibylle“ sind ein moralischer Appell und ein Aufruf zum Verständnis, gleichsam ein Plädoyer für eine echte Pädagogik. 4.4 Kriterien der Werkauswahl Die bisherigen Ausführungen konnten eine erste Vorstellung davon vermitteln, wie weit gefasst der literaturhistorische Zusammenhang 106 Glem Traurige und betrübte Folgen der schändlichen Eifersucht, S. 59. 107 Ebd., S. 61. 127 <?page no="140"?> der Darstellung von Verbrechen betrachtet werden kann. Es wäre wissenschaftlich nicht vertretbar, diese reichhaltige Ausgestaltung eines literarischen Stoffes zu ignorieren und in Bezug auf die moderne Kriminalliteratur ohne einen differenzierten Blick auf die literarische Entwicklung der Verbrechensliteratur im Allgemeinen und auf die Verbrecherliteratur im Speziellen zu argumentieren. Damit nicht von vorneherein Werke ausgeschlossen wurden, die sich bei näherer Betrachtung durchaus als wichtig bei der Klärung der Frage nach der literaturhistorischen Entwicklung herausstellen konnten, war zu Beginn der Forschungen das einzige Argument der Werkauswahl, das die zu analysierende Literatur ein oder mehrere Verbrechen thematisierte, ganz unabhängig von der Form. Bald schon stellte sich heraus, dass sich so viele Werke dieser Fragestellung zuordnen ließen, dass der Zeitraum verkleinert und die Anzahl der hier behandelten Werke begrenzt werden musste. Zudem mussten sie anhand eindeutiger Kriterien voneinander unterschieden werden, was zur Entwicklung des in Kapitel 2.2. vorgestellten Stammbaums führte. Bei der finalen Werkauswahl wurde darauf geachtet, dass sie die wichtigsten Aspekte der in diesem Schema aufgezeigten Unterscheidungsmöglichkeiten belegen. Zudem lassen sich durch die Differenzierung der Erzähltechnik des modernen Krimis einzelne Elemente desselben in verschiedenen Werken nachweisen. Der terminus ante wurde im Vergleich zu Schönhaar 108 etwas nach hinten verschoben und der Beginn der Forschungen auf die erste Hochzeit der deutschsprachigen Verbrecherliteratur gelegt, die sich um die 80er Jahre des 18. Jahrhunderts in Deutschland abzeichnete. Nach einer ersten Unterscheidung in Verbrecher- und Kriminalliteratur wurden dann diejenigen Texte ausgewählt, an denen man im historischen Vergleich einen oder mehrere Aspekte erkennen kann, die im späteren modernen Krimi eine wichtige Rolle einnehmen. Dies betrifft sowohl inhaltliche wie auch 108 Schönhaar 1969, S. 58: „Einen terminus ante für die Auswahl solcher Beispiele stellt für uns zunächst das Jahr 1840 dar, seit dem sich dank dem Geniestreich von Edgar Allan Poe detektorisches Erzählen einseitig auf den Typus der Detektivgeschichte einzuschränken begann, bis es schließlich zu einem der Hauptzweige trivialer und gehobener Unterhaltungsliteratur erstarrte, der mit seinen früher entstandenen Parallelformen in der Erzählkunst nur noch Äußerlichkeiten gemein hat.“ 128 <?page no="141"?> strukturelle Elemente. So soll die Hypothese bewiesen werden, dass alle Elemente, die später bei Poe und Doyle zu einer typischen fiktionalen Kriminalerzählung zusammengefasst wurden, in verschiedenen Werken zuvor entwickelt und ausprobiert wurden. Die Arbeit steht damit vor zwei großen Problemen. Auf der einen Seite muss der Bereich der Verbrechensliteratur vor diesem weit gefassten Ansatz begrifflich neu definiert und erarbeitet werden. Dies wurde in den vorangegangenen Kapiteln versucht. Doch nur eine recht großflächige Betrachtung von Primärtexten lässt es dann auch zu, diese Vermutungen zu belegen. Hinzu kommt, dass, um diese Texte wirklich verstehen zu können, zu diesen Betrachtungen die gesellschaftlichen und kriminologischen Entwicklungen hinzu gezogen werden müssen, die ebenfalls Auswirkungen auf die Entwicklung der Darstellung dieses Themas in der Literatur hatten 109 . Die hier vorgestellten Texte wurden dann um die Bibliographie erweitert 110 , die die intensive Auseinandersetzung mit diesem literarischen Thema bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts belegt. Sie zeigt auf, wie viele weitere Werke in diesem Zusammenhang noch gesichtet, klassifiziert und behandelt werden können. Diesem Spagat zwischen distant und moderatem close reading kann man auf der einen Seite nur mit einer gewissen Verknappung begegnen, die es kaum zulässt, sämtliche Feinheiten der Texte darzustellen. Daher wurde sich meistens auf eine Betrachtung der inhaltlichen und strukturellen Aspekte konzentriert, deren Darstellung die Entwicklung hin zum modernen Krimi aufzeigen soll. Auf der anderen Seite soll diesem Problem mit dieser großen Bibliographie begegnet werden, die jeden Interessierten dazu einlädt, die Texte zu lesen, zu analysieren und ein weiteres Teil dieses großen Puzzles zu lösen, denn die Forschung zur Entwicklung dieses Erzählstoffes in der deutschsprachigen Literatur steht noch am Anfang. Eine genauere Textbetrachtung ist bei der vorliegenden Fragestellung unumgänglich, um die Theorie an konkreten Beispielen zu überprüfen, statt Allgemeinplätzen den Vorrang zu geben. Stets soll im folgenden das begrifflich Präzisierbare und an überlieferten Textstrukturen Überprüfbare den Vorrang vor 109 Siehe dazu Kapitel 5.2, 8 und 10. 110 Siehe dazu Kapitel 15. 129 <?page no="142"?> dem bloß Hypothetischen erhalten. Dies kann dazu führen, daß überkommene Denkgewohnheiten, die den genannten Kriterien nicht standhalten, in Frage gestellt werden müssen. 111 Dies führt zwangsläufig zu eine notwendigen Überarbeitung bestehender Begriffe. Tomasek fordert sowohl den vorsichtigen Umgang mit dem allgemeinen Verständnis von literarischen Gattungsbezeichnungen wie auch die Überprüfung der Teilbereiche, die sich herausbilden lassen, und auf welchem Weg diese Teilbereiche den heutigen Gattungsbegriffkonstituiert haben 112 . Seine Bemerkungen zur Gattungsfrage des Rätsels gelten in besonderer Weise auch für den Krimi, zumal das Rätsel ja in besonderer Weise mit der Kriminalliteratur verknüpft ist. Diese Arbeit möchte zwei grobe Fehleinschätzungen aus der Welt räumen: 1. Es gab keine ausgiebige Auseinandersetzung mit diesem Thema in der deutschsprachigen Literatur des 18.und 19. Jahrhunderts 113 . 2. Dieser Inhalt ist zwangsläufig mit einer trivialen Darstellungsweise verbunden 114 . 111 Tomasek 1994, S. 04. 112 Ebd., S. 05. 113 Viele Forscher weisen auf einige wenige Werke bekannter Autoren hin, ohne bei ihren Recherchen in die Tiefe zu gehen. So weist Leonhardt auf „eine Reihe [von] großen Mordgeschichten aus der Feder deutscher Dichter“ (Leonhardt 1990, S. 21.) hin, präzisiert aber diese Einschätzung nicht weiter: „Deutschland kann nicht wie England, Frankreich und die Vereinigten Staaten auf eine lange Tradition des Kriminalromans zurückblicken. Eine Reihe von großen Mordgeschichten aus der Feder deutscher Dichter zeigen jedoch, daß es nicht an den Grundlagen für eine Entwicklung der Gattung fehlte. Friedrich Schiller beginnt seine Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ (1792) mit allgemeinen Überlegungen, die an die im gleichen Jahr erschienene Vorrede zum ‚Pitaval‘ erinnern [...].“ (Ebd.) Anmerkung hierzu: Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ stammt bereits aus dem Jahr 1786 und wurde ursprünglich unter dem Titel „Verbrecher aus Infamie“ herausgegeben. 114 Dies verdeutlicht beispielsweise die Einschätzung von Wolfgang Menzel, welcher in seinem Werk „Deutsche Literaturgeschichte“ (2. Auflage von 1836) 130 <?page no="143"?> Darüber hinaus soll belegt werden, dass diejenigen Elemente, die der modernen Krimi nutzte, nicht neu waren, sondern schon vorher in der Literatur eingesetzt wurden. Dies lässt sich nur erklären, wenn von der Präsenz des Detektivs auf seine Erzählfunktion geschlossen wird, damit nicht nach einer Figur gesucht wird, die es historisch noch nicht geben konnte. Ebenfalls soll nicht versucht werden, das spezifische Schema aufzusuchen, was Poe und Doyle erschufen, denn auch das lässt sich nicht entdecken. Es sollen vielmehr die einzelnen Elemente, die dabei eine Rolle spielen, abstrahiert und in ihrer Entwicklung anhand einzelner Textbeispiele aufgezeigt werden. Grundsätzlich sollen dafür möglichst viele Texte in, soweit möglich, chronologischer Reihenfolge aufgearbeitet werden, ohne einen speziellen Anspruch an die Struktur zu stellen, sondern die spezifische Struktur aus den jeweiligen Texten abzuleiten 115 . Besonders der Forderung Schönhaars, „den Gesetzen und Bauformen des Erzählens innerhalb der gewählten Beispiel selbst nachzugehen“ 116 , möchte sich die vorliegende Arbeit anschließen, da die teilweise unbekannten Texte in Vergessenheit geratener Autoren sich heute am besten aus sich heraus verstehen und sich so zentrale inhaltliche Elemente isolieren lassen, die einen interessanten Zusammenhang zwischen Inhalt und Struktur herstellen. Durch die beiden ausschließlichen Einschränkungen in Bezug die Kriminalgeschichten Meißners auf eine Stufe mit den Räuberromanen stellt, die er wiederum zusammen mit den Ritter- und Geisterromanen als trivial einstuft. Diese Trivialität setzt er in eine Beziehung zu einer breiten Publikumswirkung. Vgl. dazu Marsch 1983, S. 08. Dabei versteht Menzel auf der anderen Seite die teilweise erschreckenden Inhalte als „natürliches Gegengift gegen die Sentimentalität“ (Zitiert nach ebd., S. 09.) und die Darstellung als Ausdruck gegen die „zahmen Sitten und einengenden Vorurtheile der Zeit“ (Ebd.). Hierbei ist für ihn der Hauptaspekt dieser Erzählungen die Auflehnung gegen willkürliche und ungerechte sittliche Normen, unter denen hauptsächlich die unteren Schichten zu leiden haben. 115 Schönhaar 1969, S. 37: „Diese Feststellungen liefern jedoch ebenfalls keine Anhaltspunkte für die Struktur des Schemas in der hohen Erzählkunst selbst, denn entweder gelten sie der Schwestergattung Kriminalerzählung wie im Fall des Michael Kohlhaas -, oder sie beschränken sich darauf, Vorstufen für die Detektivgestalt und für das Detektivverfahren ausfindig zu machen und auf das spätere Poesche Modell zuzuschneiden, statt den Gesetzen und Bauformen des Erzählens innerhalb der gewählten Beispiel selbst nachzugehen und nach seiner Sinnstruktur zu fragen.“ 116 Ebd. 131 <?page no="144"?> auf Inhalt und Zeitraum ergibt sich ein breites Spektrum an Texten, die auch ohne den Gattungsträger des Detektivs 117 umfassend als Verbrechensliteratur bezeichnet werden können. Eine Ausnahme bietet das Schaffen von Schiller und Kleist. Nicht nur dass beide diesen Inhalt explizit in verschiedenen Formen und Darstellungsweisen ausprobierten, Kleist bezog sich ganz augenfällig auf diese Werke Schillers und entwickelte die Struktur weiter und zeigt damit eine Vorgehensweise auf, die sich in ganz besonderer Weise bis heute in der Verbrechensliteratur nachweisen lässt. Dabei können Teile des Werks dieser beiden Autoren als Beleg für die Vermutung herangezogen werden, dass um 1800 herum die Weiterentwicklung der auf realen Fakten basierenden Verbrecherliteratur hin zur fiktiven Kriminalliteratur einsetzte. Grundlage für die Textauswahl war das Werk „Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur 1796-1945 im deutschen Sprachraum“ von Mirko Schädel 118 , die die einzige umfassende Bibliographie ihrer Art zur deutschsprachigen Verbrechensliteratur ist, die auch Texte vor 1841 mit einschließt. Auf eine Anfrage hin bestätigte Schädel, dass viele seiner als Kriminalliteratur zugeordneten Werke bisher inhaltlich noch nicht überprüft sind, da der Umfang für einen kleinen Forscherkreis nur schwer zu bewältigen ist. Seine Auswahl erfolgte über die Titel der Werke, die damals besonders in den Leihbibliotheken eine spezielle Aussagekraft hatten, um möglichst viele Leser 117 Schönhaar 1969, S. 36: „Der nur scheinbar exakte Ansatz der eigentlichen Detektiverzählung um 1840 hängt überdies eng mit der fast einhelligen Annahme zusammen, das unabdingbare Kennzeichen einer jeden solchen Erzählung sei die Mittelpunktsgestalt des beamteten oder privaten Detektivs als ‚Gattungsträger‘, wie erst Edgar Allan Poes bewußt in diesem Sinn konstruierte Figur des C. Auguste Dupin ihn ermöglicht habe. Obwohl diese geläufige historische und gattungstheoretische Definition der Detektivgeschichte im engeren Sinn auf einem äußeren Inhaltskriterium beruht und weder über gehaltliche Hintergründe noch über formale Züge Auskunft erteilt, hat man sie nur gelegentlich und vorsichtig modifiziert. So tritt etwa bei Dorothy L. Sayers an die Stelle des Detektivs das Element der Detektion als bestimmend für die Gattung. Ihr Vorschlag reicht jedoch nicht aus, um die Aufmerksamkeit von der stereotypen Heldenfigur weg und auf die spezifische Erzählstruktur des Kriminalschemas hin zu lenken [...] Es bleibt bei äußerlich inhaltlichen Kriterien [...].“ 118 Schädel 2006 (I) & (II). 132 <?page no="145"?> schnell über den Inhalt der Bücher zu informieren 119 . Die Titelwahl und ihre spezifische Information wurde mit der Industrialisierung und dem immer billiger werdenden Buchdruck durch die übermäßigen Titelblattgestaltungen nur noch verstärkt. Dies führte zu der absurden Tatsache, dass ab einem gewissen Zeitpunkt teilweise mehr Arbeit auf das Titelblatt als auf den eigentlichen Text verwandt wurde 120 . Dennoch beschränkt Schönhaar seine Auswahl, wie der Titel schon verrät, auf Werke der fiktiven Kriminalliteratur 121 . Bei der Recherche nach Werken der Verbrecherliteratur diente mir die Homepage des inzwischen verstorbenen Wissenschaftlers Dr. Joachim Linder 122 . Vom ursprünglichen Ansatz der Arbeit ausgeschlossen wurde der Räuberroman, der zwar im vorgestellten Stammbaum unter Vf2 einzuordnen ist, das schon große Feld um einen Bereich erweitern würde, der in Bezug auf den modernen Krimi abgesehen von der Entwicklung eines Serienhelden keinerlei nennenswerte Auswirkungen hatte. Zudem ist diese literarische Untergattung der Verbrechensliteratur im deutschsprachigen Raum bereits ausgiebig 119 Dies wird anschaulich bei Jörg Schönert dargestellt. Schönert, Jörg: Zur Typologie und Strategie der Titel von Leihbibliotheksromanen am Beispiel der Schauer- und Verbrechensliteratur (1790-1860). In: Jäger, Georg; Schönert, Jörg (Hrsg.): Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens im 18. und 19. Jahrhundert. Organisationsformen, Bestände und Publikum. Hamburg: Dr. Ernst Hauswedell und Co., 1980. S. 165-195. 120 Siehe dazu Kapitel 12.2. Vgl. dazu auch Jekeli, Ina: Erregte Zeiten - Schmutz und Schund im Kaiserreich. URL: http: / / parapluie.de/ archiv/ unkultur/ schund/ , Abruf 03.10. 2011; Vgl. auch für das 20. Jahrhundert: Godtland, Eric: True Crime Detective Magazines 1924-1969. Köln: TA- SCHEN GmbH, 2008. 121 Schädel 2006 (I), S. 08: „Diese Bibliographie nennt nur erzählende Texte, weder Gedichte, reine Kinder- und Jugendbücher, Versepen, Theaterstücke noch true crime-Literatur, wie die Pitavals. Hier verzeichnet finden sich nur fiktive Texte, deren Handlung und Spannungsmoment überwiegend in der Aufklärung, der Detektion oder der Verfolgung eines Verbrechers und/ oder Entschlüsselung eines Rätsels (Mystery) bestehen. Auch verzeichnet sind Romane, die krimiähnlich sind und zur Entwicklung des Kriminalromans erheblich beitrugen, wie z.B. einige Bücher von Paul Feval. Sowie Anthologien, Heftreihen (anonyma) und Sammlungen von Erzählungen, die überwiegend krimiartig sind.“ 122 Linder, Joachim: Fallsammlungen aus der Zeit zwischen 1750 und 1930. http: / / www.joachim-linder.de/ data/ fasa.html, Abruf 02.03.2013. 133 <?page no="146"?> aufgearbeitet worden 123 . Der Grund für diesen weitgefassten Ansatz ist recht einfach. Es reicht eben nicht aus, diese Texte, besonders die der Verbrecherliteratur, nur „als bloße Vorstufen zu begreifen“ 124 , sondern man muss ihnen den Platz in der Geschichte der Verbrechensliteratur zugestehen, der ihnen gebührt. Die literarische Wiedergabe von Verbrechen ist selten eine reine Wiedergabe von Fakten, sondern stets in ihrer Struktur und dem Aufbau bearbeitet 125 und somit nicht grundsätzlich als Forschungsgegenstand abzulehnen. Zudem hat die Textanalyse ergeben, dass auch die Verbrecherliteratur noch heute eine treue Leserschaft hat und sich stets eigenständig weiterentwickelte, selbst wenn ein Großteil der Krimi-Leserschaft diese Entwicklung nicht verfolgt, da diese Texte eben ganz anders funktionieren und nicht unbedingt den typischen Krimi-Leser ansprechen. Dennoch würde er sicherlich über die vielen verschiedenen Variationen dieses literarischen Themas und die große Darstellungsvielfalt überrascht sein. 123 Z.B. bei Dainat, Holger: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland. Tübingen : Niemeyer, 1996. 124 Schönhaar 1969, S. 36: „Nahezu unmöglich ist es, Genesis und Charakteristika des Kriminalschemas von 1841 und von Poe aus nach rückwärts zu verfolgen, ohne daß man in den Irrtum verfiele, die teils vermuteten, teils auch schon nachgewiesenen Einwirkungen der europäischen Romantik auf den Amerikaner als bloße Vorstufen zu begreifen, statt sie aus sich heraus zu verstehen und zu deuten, wie es ihnen zukommt.“ 125 Gerber 1971, S. 410: „Ein Werk, das nur die Geschichte eines Verbrechens erzählt, wird man abgesehen vom Bereich des Perversen sei es besessener Art wie bei Marquis de Sade oder spielerischer Ulk wie in „Arseknik und Spitzenhäubchen“ in der ganzen Weltliteratur vergeblich suchen. Der menschliche Geist ist so beschaffen [...] daß er das Verbrechen allein zur Darstellung nicht konzipieren kann, sondern immer die Nemesis einbezieht.“ 134 <?page no="147"?> 4.5 Hinweis zur Farbgebung der grafischen Übersichten und zu den Siglen der Überschriften Im Folgenden werden Elemente der einzelnen Erzählungen in Form von grafischen Übersichten dargestellt, die sich auf die in Kapitel 2 vorgestellten Einteilungen beziehen. Die Farbwahl der Darstellungen entspricht derjenigen, die für die Darstellung der Erzählelemente der Verbrechensliteratur in Kapitel 2.1 genutzt wurde. Abb. 10: Übersicht über die Farbgebung der grafischen Darstellungen Die in den Überschriften der einzelnen Textanalysen vermerkten Siglen beziehen sich auf den Stammbaum der Verbrechensliteratur, der in Kapitel 2.2.1 (Verbrecherliteratur) und 2.2.2 (Kriminalliteratur) erläutert wird. Eine Grafik mit dem kompletten Stammbaum findet sich in Kapitel 12.1. 135 <?page no="148"?> 5 Formen und Facetten der Verbrecherliteratur 5.1 Einleitende Überlegungen zur Verbrecherliteratur Quantitativ wird die erste Hälfte des hier behandelten Zeitraums von der Verbrecherliteratur bestimmt, die auf realen Fällen basiert. Besonders der Bereich der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur war im 18. Jahrhundert sehr populär. Auch über die erste Hochphase am Ende des 18. Jahrhunderts hinaus lässt sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ein großes Interesse an dieser Gattung nachweisen. Der größte Teil dieser Werke berichtet auf Grundlage von realen juristischen Fällen, die, je nach Autor und Absicht, in einem gewissen Grade transponiert wurden. Dabei handelt es sich um eine Transposition, bei der aus gerichtlichen Unterlagen gut lesbare Texte erarbeitet wurden, weshalb die Werke im Untertitel den Zusatz „aus gerichtlichen Akten gezogen“ oder „aus dem Tagebuch eines Richters“ vermerkten. Heute noch kann diese Literaturform wirkliche Erfolge feiern, wobei sich an der Arbeitsweise der Autoren kaum etwas geändert hat. Schirach erklärte in einem Interview, dass er die Fälle so bearbeiten musste, „dass nur die Essenz der Fälle die gleiche ist“ 1 . Dies hat auf der einen Seite mit seiner Schweigepflicht zu tun, auf der anderen Seite mit der Tatsache, dass erst die Bearbeitung der Gerichtsakten die ganze Dramatik einer Situation hervorhebt: 1 Sylvester, Regine: Schuld und Sühne. Interview mit Ferdinand von Schirach. Berliner Zeitung, 17.10.2009. http: / / www.berlinerzeitung.de/ archiv/ jeder-kann-zum-verbrecher-werden--wenner-an-seinem-empfindlichsten-punkt-getroffen-wird--sagtferdinand-von-schirach--und-beschreibt-die-rechtskultur-alsduenne-schicht--die-uns-vom-chaos-trennt--ein-gespraech-mitdem-anwalt-und-autor-schuld-und-suehne,10810590,10673426.html , Abruf: 18.04.2011. 136 <?page no="149"?> Die Gerichtsakten sind nur das „Skelett eines Prozesses“ 2 . Historisch betrachtet steht die juristisch-anthropologische Verbrecherliteratur in der Tradition der mittelalterlichen Prozessberichte. Im Unterschied zu dieser bietet diese Textform im Wirkungskreis der Aufklärung aber Platz für die epochentypische Kombination aus Unterhaltung, Wissen und gesellschaftskritischen Bemerkungen. Innerhalb der Verbrecherliteratur kann man daher diejenige Literatur, die explizit für die Nutzung von Rechtsgelehrten ausgelegt war 3 , von derjenigen unterscheiden, die die eigentlichen Akten transponierte, bearbeitete und die Texte an ein größeres Lesepublikum anpasste 4 . Grundsätzlich diente diese Art der Literatur auch in bearbeiteter Form nur in zweiter Instanz der Unterhaltung. Der Hauptaspekt lag darauf, Probleme aus der täglichen Arbeit eines Anwalts oder Richters darzustellen und eine öffentliche Diskussion über die Beurteilung des Täters oder eines Falls anzuregen. Diese konnte dann zum Beispiel auf religiöser 5 , juristischer 6 oder moralischer Ebene geführt werden. Allen Texten dieser Sparte ist aber gemein, dass sie nicht nur das Verbrechen thematisierten und erzählten, sondern auch die Motivation des Täters, das Motiv und den Handlungshergang mit einbezogen. Diese Grundkonzeption erforderte, dass ein großer Teil der jeweiligen Erzählung dem Ablauf des Gerichtsprozesses gewidmet wurde. 2 Ebd. 3 Z.B. in extremer Form bei Pfister, Friedrich: Merkwürdige Criminalfälle mit besonderer Rücksicht auf die Untersuchungsführung. 5 Bde. (1814-1820); S.a. Pfyffer, Kasimir; Gilgen, Johann Baptist zu: Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Criminalrechtsfälle aus der deutschen Schweiz, mit belehrenden Anmerkungen in Rücksicht auf die Untersuchungsführung. Vorzüglich bearbeitet für Untersuchungsbeamte pp. der deutschen Schweiz. (1846). 4 Z.B. Kerndörffer, Heinrich August: Magazin schrecklicher Ereignisse und fürchterlicher Geschichten. (1803-1805). 5 Z.B. Miedke, F.: Gottes Finger, wahrnehmbar in den wunderbar gefügten Entdeckungen von Meineiden, Mordtaten, Verschwörungen und anderen geheimen Verbrechen... Abendunterhaltungen.(1842). 6 In diesen Bereich fallen alle Arbeiten, die in der Tradition des „Pitaval“ verfasst wurden, z.B. Wolffeldt, M. v.: Mittheilungen aus dem Strafrecht und dem Strafprocess in Livland, Ehstland und Kurland durch actenmässige Darstellung merkwürdiger Verbrechen und geführter Untersuchungen über die Strafrechtsverfassung der Provinz Livland.(1844). 137 <?page no="150"?> Es diente neben der Präjudiz dazu, Kritik zu üben und über die exemplarische Darstellung von unrechtmäßiger Verurteilung Unschuldiger oder unmenschlicher Behandlung von Verdächtigen Defizite des Rechtssystems aufzuzeigen. Besonders die Methoden der Untersuchung, insbesondere der Folter, und die Tatsache, dass die Auslegung des Rechts lange Zeit vom gesellschaftlichen Stand abhing, wurde in diesen Texten immer wieder thematisiert und aus Gründen der Zensurumgehung möglichst objektiv beschrieben. Viele Prozesse scheiterten weniger an den fehlenden forensischen Arbeitsmethoden, sondern eher an moralischen Verfehlungen und dem menschlichen Unverständnis der Untersuchungskommissionen und Richter. Unverhohlene Kritik an diesen Umständen konnte aber in dieser Zeit schnell den Arbeitsplatz oder sogar die Freiheit kosten, weshalb hierbei von den Verfassern, die meist selbst als Rechtsgelehrte arbeiteten, eine recht diplomatische Beschreibung und Darstellungsform gewählt oder auf eine konkrete Autorenangabe verzichtet wurde. Von den auf realen Fällen basierenden Texten der juristischanthropologischen Verbrecherliteratur sind Darstellungen abzugrenzen, die zwar auf realen Ereignissen basieren, aber eine über den juristischen Aspekt hinausweisende Intention des Autors verfolgen, sei es die tragische Darstellung eines Einzelschicksals 7 oder die Herausarbeitung eines sozialen oder psychologischen Schwerpunkts. Dafür verkürzten manche Autoren im Vergleich zu den Texten des Pitavals diese Form um die teilweise umfassenden Beschreibungen der juristischen Belange, was ihnen Platz für zahlreiche weitere Variationen des Stoffes ließ. Mit genau dieser Änderung des Konzeptes setzte die Literarisierung der realen Fälle ein, die den Weg hin zur fiktiven Kriminalliteratur öffnete 8 . Meißner nutzte schon ab 1778 die Form 7 Durch die Konzentration auf eine tragische Figur konnte vor dem Hintergrund des persönlichen Schicksals eine neue Bewertung von Verbrechern erreicht werden. Vgl. Glaser, Lehmann, Lubos 1962. S. 343: „Wert und Würde des Menschlichen entwachsen dem ureigenen Bezirk des Persönlichen; dieser ist aber auch der Bereich tragischer Verstrickungen.“ 8 Marsch 1983, S. 08: „Faktizität, Genauigkeit und Objektivität wurden durch individuelle Motivationen des Autors überblendet. Die Betonung einer interessanten Darstellungsweise, der psychologischen Analyse, der Beschreibung der Gesellschaft und ihrer Resonanz, des Effektes durch grelle Farben oder der puren Sensation veränderte bereits den ‚wahren‘ Stoff und 138 <?page no="151"?> der „Skizze“, die er unter anderem in seinen „Geschichten vom Unstern und Aberwitz“ 9 einsetzte und die deutlich die Spuren einer an eine breit gefächerte Leserschaft angepasste Transposition erkennen lässt 10 . Dennoch enthielt selbst dieses Konzept an einigen Stellen konkrete Kritik an den Methoden der Justiz. In der Erzählung „Die Seelenfolter“ 11 wird beispielsweise nur andeutungsweise auf die Taten des Räubers Moses Hoyum eingegangen, aber viel umfassender, wie er durch Folter seiner Geliebten zu einem Geständnis gebracht wird. Strukturell lässt sich ein klassischer Text aus dem Bereich der Verbrecherliteratur, besonders aus dem Bereich der juristisch-anthropologischen Konzeption, als Antithese zum modernen Kriminalroman definieren. Die eigentliche Aufklärung des Verbrechens ist meist schon geschehen und steht somit nicht im Mittelpunkt, sondern wird meist stark gerafft wiedergegeben. Hier spielt vor allem das Motiv des Verbrechens eine wichtige Rolle und wird ausführlich herausgearbeitet. Dazu kann der Autor eine Analepse nutzen, die bis zur Kindheit des Täters reichen kann. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn der Autor aufzeigen möchte, dass erst die Umstände und die Gesellschaft den eigentlich guten Menschen korrumpiert haben. Dies steht in einem großen Zusammenhang mit den Ideen Rousseaus, der in seiner Schrift „Du contrat social“ 12 zwischen dem Naturrecht und dem Einfluss des Staates auf den Menschen unterscheidet. Rousseau stellt darin die These auf, dass der Mensch frei und moralisch gut geboren wird und nur von seiner Umgebung beeinflusst zu einem Verbrecher werden kann. Allen Darstellungsformen der Verbrecherliteratur ist aber gemeinsam, dass sie bis zu einem gewissen Punkt die Erzählstruktur dem Inhalt unterordnen. Die juristisch-anthropologische Verbrecherliteratur tat dies naturgemäß in größerem Umfang, die tragische Konzeption dagegen eher weniger. Dies ist das wichtigste formale Abgrenzungsverlieh ihm eine ‚literarische‘ Qualität.“ 9 Meißner Die Seelen-Folter. Geschichten von Unstern und Aberwitz. 10 Siehe dazu Kapitel 5.3. 11 Meißner, August Gottlieb: Die Seelenfolter. In: ders. Die Seelen-Folter. Geschichten von Unstern und Aberwitz, S. 33-36. 12 Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou principes du droit politique. (1762). 139 <?page no="152"?> merkmal der Verbrecherliteratur gegenüber der modernen Kriminalliteratur. Dennoch muss dies nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Texte nicht spannend erzählt werden können, wie so oft angenommen wird. Dabei lassen sich zwei Grundkonzepte des, zugegebenermaßen moderaten, Spannungsaufbau erkennen, die in vielen verschiedenen Variationen immer wieder auftreten 13 . 1. Whydunit : Im ersten Teil des Berichtes wird das Leben des Täters und die Entwicklung seiner gesellschaftlichen Umstände bis hin zur Tat beschrieben, meist in chronologischer Reihenfolge. Der zweite Teil, der vom Umfang her länger als der eigentliche Erzählteil sein kann, behandelt dann juristische, psychologische und soziale Fragen, je nach Konzeption. Diese Verteilung wird meist dann eingesetzt, wenn sich die Motive des Täters nur über eine ausführliche Schilderung seiner Lebensumstände erklären lassen 14 . 2. Howdunit : Steht die Tat am Anfang der Erzählung, so wird dem Auffinden des Täters wesentlich weniger Platz eingeräumt. Das Hauptaugenmerk wird bei dieser Konzeption auf die gerichtliche Untersuchung und die anschließende Verurteilung gelegt. Dies wird dann eingesetzt, wenn der Fokus nicht auf dem Täter, sondern auf der Aufklärung und der Verurteilung liegt. Dies bietet sich beispielsweise an, wenn die Aufdeckung der Tat vorbildlich abgelaufen ist oder die Tat aus niederen Beweggründen ausgeführt wurde. Dabei spielt besonders der genaue Tatablauf eine wichtige Rolle, der nach und nach aufgedeckt wird 15 . Besonders der Hergang der Tat mit all ihren Details ließ sich publikumswirksam aufbauschen. Dies wurde besonders von den Bänkelsängern genutzt. Der Bereich der Bestrafung, dem im Gegensatz zum modernen Krimi eine wichtige Bedeutung zukommt, diente zudem auch als Abschreckung 16 . Ohne weitere Betrachtung bleibt 13 Siehe dazu Kapitel 3.4. 14 Siehe dazu beispielsweise Kapitel 6.2. 15 Siehe dazu beispielsweise Kapitel 5.6.1. 16 Dieser Aspekt wird ausführlich von Michel Foucault in seinem Werk Surveiller et punir (1975) dargestellt. 140 <?page no="153"?> innerhalb der Verbrecherliteratur an dieser Stelle der Bereich der journalistischen Konzeption, der nur der Vollständigkeit halber im Schema aufgeführt wird. Die journalistische Wiedergabe eines Falles behandelt seit jeher die sieben klassischen W-Fragen. Dennoch beschreibt ein Zeitungsbericht konzeptbedingt eben nur die Fakten und bietet kaum Hintergrundinformationen zum Leben des Täters und zu seinen Motiven. Kleist integrierte bereits 1810 Berichte des Polizeipräsidenten in seinen „Berliner Abendblättern“, die zwischen dem 1. Oktober 1810 und dem 30. März 1811 erschienen. Aufgrund ihrer Detailgenauigkeit und weiterer Probleme der Zeitung musste die Herausgabe der Zeitung aber schon bald eingestellt werden. Die Polizei befürchtete eine zu genaue Beschreibung ihrer Methoden, die den Verbrechern nur entgegen kam 17 . Schirach weist darauf hin, dass Zeitungsberichte fast ausschließlich das Endergebnis einer langen Verkettung von Ereignissen darstellen, meist aber schon aus Platzgründen nicht näher auf weitere Hintergründe eingehen können. Dadurch verzerrt sich die Darstellung in der journalistischen Variante 18 . Ähnlich äußert sich Meißner dazu 19 . 17 Leonhardt 1990, S. 11: „Seit es Zeitungen gibt, erscheinen dort Artikel über Verbrechen, in denen Täter und Opfer vorgestellt, der Hergang der Tat und auch das Motiv des Täters beschrieben werden. Die näheren Umstände, die zu seiner Verhaftung führen, und die Art der Bestrafung gehören mit zum Thema solcher Berichte. Sie erscheinen meist im Gerichtsteil der nicht zuletzt wegen dieser Rubrik aufblühenden Journale. Neben den sensationell aufgemachten Artikeln werden auch sachliche Prozessberichte gedruckt, die sich auf das Aktenmaterial und die Mithilfe der beteiligten Juristen gründen.“ 18 Sylvester Schuld und Sühne, (URL): „Was Sie im Buch lesen, ist nicht das, was ein Journalist herausfindet. Der Journalist wird zu einem Tatort gerufen und sieht einen Mann, der totgeschlagen worden ist. In einem Keller in Neukölln. Oder da steht: In Marzahn hat man einen Mann gefunden, der mit einem Holzpflock an die Wand genagelt wurde. Das lesen Sie. Sonst nichts. Was in der Zeitung steht, ist ein Geschehen über einen gefundenen Toten. Woher sollen Sie als Leser wissen, dass das etwas mit einer Teeschale zu tun hatte? Diese Fälle sind später nicht recherchierbar.“ 19 Meißner Die Seelen-Folter. Geschichten von Unstern und Aberwitz, S. 46: „Und ihr Aufzeichner menschlicher Begebenheiten, was gilt es, bei eben erzählter Begebenheit stand in zwölf Zeitungsblättern: ‚Den und den Tag ward gerichtet N.N.! Er hatte liederlich sein ganzes Vermögen verschwendet und dann seine Frau umgebracht.‘ Kein unwahres Wort, und doch jedes so falsch! “ 141 <?page no="154"?> Schließlich umfasst der Bereich der Verbrecherliteratur auch die auf fiktiven Fakten basierende Erzählung. Hierbei können Werke unterschieden werden, in denen der Autor gewisse moralische, soziale oder psychologische Aspekte beschreibt und Werke, die der reinen Unterhaltung dienen und die Sensation oder das Außergewöhnliche der Tat in den Vordergrund rücken. Das bekannteste Format im letzteren Bereich ist der Räuberroman, so wie er beispielsweise von Christian August Vulpius verfasst wurde. Dabei ist der Bereich zwischen der Realität und dem Fiktiven kleiner, als der Leser annimmt. Das von Carl Josef August Hofheim unter dem Namen von Christian Heinrich Spieß herausgegebene Werk „Criminalgeschichte voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu“ gibt zwar an, auf realen Fakten basierende Geschichten zu erzählen, doch schon im Vorwort schränkt der Autor diese Angabe dahingehend ein, dass er „Eine Sammlung, theils wahrer Geschichten, theils Phantasien“ 20 präsentiert. Wie auch sonst in der fiktiven Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts war der Wirklichkeitstopos eine beliebte Floskel, um eine Nähe der fiktiven Erzählung zum realen Erleben des Lesers zu bewirken. Dieser erzählerische Trick findet sich beispielsweise in Schillers „Geisterseher“ oder Müllners „Kaliber“, aber auch im Konzept der (vermeintlichen) true-crime -Literatur des 20. Jahrhunderts. Es wird angenommen, dass der Bereich der Verbrecherliteratur, besonders derjenigen, die auf realen Fakten basierte, nur eine Randnotiz der Literaturgeschichte war. Doch bis heute finden sich Formate, die man auf dieses Konzept zurückführen kann. Einer der bekanntesten Vertreter war der deutsche Journalist und Gerichtsreporter Hugo Friedländer, der zwischen 1910 und 1914 „Interessante Kriminal-Prozesse“ in zehn Bänden veröffentlichte, die vom Konzept her an den „Pitaval“ angelehnt waren. Herrmann Mostar und Robert Adolf Stemmels veröffentlichten ab 1963 ihr Werk „Berühmte Strafprozesse“ in mehreren Bänden. Auch der deutsche Schriftsteller 20 Spieß, Christian Heinrich [d.i. Carl Josef August Hofheim]; Franke, Manfred (Hrsg.): Schinderhannes. Kriminalgeschichte, voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu, 1802. Wiederaufgefunden i. J. 1977, herausgegeben, mit Dokumenten und Bildern versehen von M. Franke. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1979. S. 23 142 <?page no="155"?> Curt Riess versuchte in „Prozesse, die die Welt bewegten“ anhand 22 ausgewählter Prozesse aus zwei Jahrtausenden aufzuzeigen, wie Prozesse mit großer Publikumswirkung seit jeher die Gesellschaft geprägt und verändert haben. Viele Fernsehsendungen, besonders die sogenannten „Gerichtsshows“, die ebenfalls eine Pseudo-Realität vorspielen, beziehen sich auf diese Ursprünge. Da in Deutschland Ton- und Bildaufnahmen bei Gerichtsverhandlungen verboten sind, wird damit heute noch eine Lust des Publikums nach neuen Skandalen und kuriosen Rechtsfällen befriedigt. So wurde schon bald nach der flächendeckenden Verbreitung des Fernsehens in Deutschland „Das Fernsehgericht tagt“ im Ersten Fernsehprogramm eingeführt. Die Sendung stellte reale Fälle anhand von Gerichtsakten nach und erfreute sich zwischen 1961 und 1978 großer Beliebtheit. Diese Sendungen sind aus juristischen Gründen nachgestellt oder behandeln fiktive Fälle 21 . Doch das ist den Zuschauern meist egal, es geht um die Sensation 22 . Dabei konzentrieren sich diese Formate auf die Verurteilung des Angeklagten vor Gericht. Der Tathergang, die Ermittlungen sowie die näheren Umstände werden dabei in einer Analepse während der Verhandlung zusammengefasst wiedergegeben. Als eine neue Variante der realen Verbrecherdarstellung kann die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ betrachtet werden, die moderne Medienformen nutzt, um potentielle Zeugen zu 21 Eine entsprechende Version dieses Formates war die Fernsehsendung Der Staatsanwalt hat das Wort, die zwischen 1965 und 1991 vom Deutschen Fernsehfunk bzw. dem Fernsehen der DDR produziert wurde. Über 5 Millionen Zuschauer verfolgten bereits die erste Ausstrahlung der Sendung. Hier ging es aber nicht nur um die Sensation, sondern auch um die von Kaiser formulierte Tatsache, dass die Gesellschaft den Abweicher braucht (Kaiser 1997, S. 95), um darüber die Strafbarkeit einer Handlung zu markieren. Dies spielte auch bei der Moritat eine Rolle. So führt der Staatsanwalt Peter Przybylski eine der Folgen mit den Worten ein: „Wir werden ihnen keine Krimis vorführen. Vielmehr möchten wir sie mit den Problemen von Menschen bekannt machen, die für jeden verbindliche Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verletzt haben und mit unseren Gesetzen in Konflikt geraten sind.“ 22 Košenina 2009, S. 197: „Das neue Genre der Verbrechenserzählung sucht eine Balance zwischen Unterhaltung und Belehrung. Der Zeitschriftenherausgeber Schiller weiß beispielsweise um die Schwäche des Publikums für ‚piquante Erzählungen‘ [...].“ 143 <?page no="156"?> finden. Der größte aktuelle Erfolg aus dem Bereich der Verbrechensliteratur aber sind die Werke des deutschen Strafverteidigers und Schriftstellers Ferdinand von Schirach, die in Kapitel 5.9 kurz angesprochen werden. Sie sind erzähltechnisch eine moderne Version des „Pitaval“ oder der „Skizzen“ Meißners und zeigen, wie die juristischanthropologische Konzeption aufgrund moderner Erzähltechniken und literarischer Formate auch heute noch spannend umgesetzt werden kann 23 . Dennoch gerät dieses Genre Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des modernen Krimis in den Hintergrund der allgemeinen Wahrnehmung. Alexander Košenina weist in seinem Aufsatz über Goethes „Werther“ nach, wie die „Aufnahme der Binnengeschichte vom Bauernburschen in den Werther von 1787“ 24 einen Trend des 18. Jahrhunderts abbildet, wahre Fallgeschichten als Vorlage für fiktive Prosa zu nehmen oder direkt in die Handlung einzubinden. Selbst wenn sich der Bezug zu einer wirklichen Handlung nicht direkt nachweisen lässt, so ist der Bericht über die drei Phasen des Falls, „Verliebtheit, obsessives Begehren, Rache“ 25 , typisch für Werke im Stil Pitavals. Košenina stellt die These auf, dass Goethe diesen Fall „eben nicht nur als ‚Hebel der Handlung, Mittel der psychologischen Motivierung‘ oder zur „symbolischen Spiegelung der Haupthandlung“ einfügt, sondern sich damit auf „eine literarische Mode und ein neues Genre“ 26 bezieht. Auch wenn diese Einbindung zusammen mit der metadiegetischen Erzählung „Ferdinands Schuld und Wandlung“ aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ 27 aus dem Jahr 1795 im Werk Goethes die einzige Umsetzung dieser „literarischen Mode“ ist, so zeigt sie doch im Zusammenhang mit den Werken anderer Autoren, wie präsent dieses literarische Thema in dieser Zeit war. 23 In der modernen Popmusik gibt es sogar eine eigene Sparte, die im weitesten Sinne der Darstellung von Verbrechen zugeordnet werden kann: der Gangster-Rap. 24 Košenina 2009, S. 194. 25 Ebd., S. 191. 26 Ebd. 27 Hier greift Goethe im Gesamtkonzept der Rahmenhandlung neben der Verbrechergeschichte auch die äußerst populäre Gespenstergeschichte und das Märchen auf. 144 <?page no="157"?> 5.2 Die Verbrecherliteratur als Spiegel einer neuen Rechtsprechung Nicht nur die auf realen Fakten basierende Verbrecherliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts setzte sich mit juristischen Fragen auseinander, auch in der fiktiven Prosa lassen sich Elemente eines neuen Rechtsverständnisses und Forderungen an eine neu gestaltete Rechtssprechung finden. So deutet beispielsweise die Binnengeschichte um den Bauernburschen im „Werther“ ein modernes Rechtsverständnis an, das weiterführende Zusammenhänge einer Tat in das Urteil mit einbezieht und nicht nur die Tat an sich verurteilt. Dieser Umstand ist der naturrechtlichen Unterscheidung zwischen der imputatio juridica und der imputatio moralis geschuldet 28 . Paul Anselm von Feuerbach ergänzte diese Unterscheidung in seiner „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts“ (1799/ 1800) um die imputatio physica 29 . Dabei „handelt es sich um das Urteil, durch welches ein Subject für die Ursache eines Factums erklärt wird“ 30 . Feuerbach untersuchte zur Jahrhundertwende intensiv den Aspekt der Zurechnung und forderte, dass ein Täter nur dann voll für schuldig erklärt werden darf, wenn die Tat aus „wirklicher Freiheit“ 31 geschehen ist. Damit stellt er die Idee einer Strafminderung in den Raum, die die „psychologischen und sozialen Umstände des Verbrechersubjekts mit ins Kalkül zieht“ 32 . Auch die im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ vorgestellten Fälle oder die fiktiven Erlebnisse von Anton Reiser dienten Karl Philipp Moritz für eine exemplarische Darstellung eines modernen Rechtsverständnisses 33 . Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sich in Goethes Auseinandersetzung mit dem Thema bereits in den 80er Jahren der Übergang von der Darstellung eines realen Falls hin zu einem fiktiven 28 Košenina 2009, S. 193. 29 Feuerbachs umfassende Ausführungen zur imputatio facti und der imputatio iuris sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. dazu Sinn, Arndt: Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten: Zurechnung und Freistellung durch Macht. Tübingen: Mohr Siebeck, 2007. S. 235 ff. 30 Ebd., S. 234. 31 Ebd. 32 Košenina 2009, S. 193. 33 Ebd. 145 <?page no="158"?> Fall andeutet. Dennoch behandelt diese Darstellung die selben juristischen und humanistischen Ideen wie die auf realen Fakten basierende juristisch-anthropologische Verbrecherliteratur, wenn auch in geringerem Maße. Hier beginnt die Literarisierung des Verbrechers und des Verbrechens, die sich im nächsten Jahrhundert weiter fortsetzen sollte und die am deutlichsten in den im Folgenden vorgestellten Werken von Schiller und Kleist zu erkennen ist. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob der erzählte Fall wirklich geschehen ist oder nicht. Friedrich von Blanckenburg bezeichnet 1774 in seinem „Versuch über den Roman“ eine solche Konstruktion als Darstellung von „möglichen Menschen der wirklichen Welt“ 34 , womit die Darstellung durchaus exemplarischen Charakter annehmen kann. Dabei ließen sich viele Autoren zwar von realen Verbrechen inspirieren, gingen aber in der literarischen Darstellung weit über die ursprünglichen Fakten hinaus. So finden sich beispielsweise Morde aus Eifersucht in mehreren Werken dieser Zeit. Dennoch ist die Episode im „Werther“ und die metadiegetische Erzählung „Ferdinands Schuld und Wandlung“ nur ein sporadischer Hinweis auf die damals aufkommende literarische Mode, denn „zu groß mögen die Vorbehalte gegenüber jeder Form populärer Unterhaltungs- und Modeliteratur gewesen sein“ 35 . Am Beispiel des „Werther“ lässt sich nachweisen, dass die aufkommende Verbrechensliteratur inhaltlich in einem starken Kontrast zu den gängigen Darstellungsformen der Aufklärung stand. Schönhaar spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „das Doppelbödige und Zweideutige“ 36 in Opposition zum „optimistischen Harmonieglauben des achtzehnten Jahrhunderts“ 37 steht. Schon die Geschichten des Pitaval rüttelten an der Vorstellung, dass der Mensch durch moralische Erziehung seine Schwächen überwinden könne 38 . In „Moll 34 Košenina 2009, S. 193. 35 Ebd., S. 197. 36 Schönhaar 1969, S. 64. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 64-65: „Man könnte Methode und Absicht der Causes célèbres daher als einen Versuch verstehen, der Doppelbödigkeit, der sie gelten, durch ‚Aufklärung‘ in des Wortes allgemeiner wie spezifisch kriminalistischer Bedeutung entgegenzuwirken. Trotzdem aber bleibt es bemerkenswert, wie beharrlich sich die Rechtsfälle dem Fragwürdigen in der menschlichen Psyche und Gesellschaft zuwenden, also einem Phänomen, das - zu Ende gedacht 146 <?page no="159"?> Flanders“ (1722) von Daniel Defoe und „Jonathan Wild“ (1743) von Henry Fielding spielt die Doppelbödigkeit und der Zusammenhang mit dem Verbrechen bereits eine zentrale Rolle. Gerade Fielding erweiterte das Konzept und wandelte die Geschichte des Diebes Wild in eine beißende Satire auf den Whig-Politiker und britischen Premierminister Robert Walpole um, der unter anderem in Korruptionsskandale verwickelt war. Die von Schönhaar angesprochene „Harmonievorstellung“ bezieht sich vor allem auf die aufklärerische Idee eines moralischen Lebenswandels, welcher die Grundlage eines erfüllten Lebens darstellt. Doch die Erzählungen der Verbrecherliteratur führen dem Leser vor Augen, dass auch gerechte Menschen unter schlechten Umständen oder zum falschen Zeitpunkt dem Schicksal unterworfen sind, was eine weitaus größere Macht entfalten kann als ein korrekter Lebenswandel. Nur in seltenen Fällen hilft scheinbar eine transzendente Macht, den Unschuldigen zu retten. Vielmehr wurden lange Zeit Befragungstechniken und Untersuchungsmethoden der Inquisition übernommen und fortgeführt, die nicht das geringste mit einer Wahrheitsfindung zu tun hatten. Damit zeigt die frühe Verbrechensliteratur die großen Schwächen und Probleme der damaligen Rechtsprechung auf, die eine ähnlich verheerende Wirkung entfalteten wie der noch existierende Absolutismus. Dieser war wohl auch mitunter der Grund, warum in der Gesellschaft vor 1800 noch keinerlei Platz für eine literarische (und reale) Person war, die klüger als die Rechtsgelehrten handelte und staatliche Institutionen belehren konnte, so wie es der literarische Detektiv später tun sollte. In diesen rechtlichen Strukturen ist jedes Aufbegehren ein Zeichen für Schuld, hauptsächlich der soziale Status entscheidet über den Wahrheitswert einer Aussage. In gewisser Weise ist die fehlende Forensik in dieser Zeit nicht nur ein Abbild des wissenschaftlichen Standes, sondern auch ein Zeichen dafür, dass es ein Ungleichgewicht zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht in dieser Zeit gab. Die Waage hatte sich, aufgrund der bereits erwähnten sozialen Missstände, zugunsten des positiven Rechts geneigt, dass die soziale Vormachtstellung derer festigen sollte, die es entwarfen. Dem stellte sich nun die Philosophie der Aufklärung und erfahren - die Harmonievorstellung des Zeitalters von Grund auf infrage stellt.“ 147 <?page no="160"?> mit aller Kraft entgegen und etablierte den Mensch als ein Vernunftwesen, dem unveräußerliche Rechte von Natur aus gegeben waren 39 . Dadurch wurde der Willkür der Staatsmacht und der kirchlichen Institutionen Grenzen gesetzt. Denn Freiheit bedeutete nun, dass der Mensch dem Gesetz der Vernunft folgen muss und sich als Teil eines gesellschaftlichen Kollektivs sieht, dass nur durch die Mitarbeit aller funktionieren kann 40 . So wie Kant das Recht mit seinem Bezug auf den Menschen vom Staat emanzipierte 41 , musste sich die polizeiliche Arbeit von der starren und handwerklich geprägten Untersuchung (= Folter) loslösen. Doch dies war eine heikle Sache. Als Friedrich Spee 1631 sein Buch „Cautio criminalis seu de processibus contra Sagas Liber“ veröffentlichte, musste er dies zunächst anonym tun, um sein eigenes Leben nicht zu gefährden. In diesem Werk setzte er sich für die Abschaffung der Folter und die Beendigung der Hexenprozesse ein. Damit wandte er sich gegen die Inquisition und deren Praktiken, was einer Straftat gleichkam, denn der Einfluss der Inquisition auf den Strafprozess hat eine lange Geschichte. Dennoch gilt sein Werk heute als der Beginn der langsamen Abschaffung dieser Methoden. Die Verfahrensform des Akkusationsprozesses der frühen Neuzeit, der es dem Kläger und dem Beklagten ermöglichte eine schriftliche Anklageschrift einzureichen und einen Zeugenbeweis zu beantragen sowie eigene Zeugen zu benennen, war eine fortschrittliche Institution, die bereits im römischen und fränkischen Recht existierte 42 . Bei dieser Prozessform leitete nicht die Obrigkeit den Prozess von Amts wegen ein, sondern der Geschädigte oder dessen Verwandten klagten 39 Lange, Richard: Das Rätsel Kriminalität. Was wissen wir vom Verbrechen? Frankfurt a. M., Berlin: Alfred Metzner Verlag, 1970. S. 25: „Eine wirklich anthropologische Wendung, die Staat und Recht vom Menschen her sieht, wurde erst durch Kant vollzogen, der jenen relativierenden Utilitarismus überwand, den Menschen als Vernunftwesen aus dieser Heteronomie befreite und ihm die Autonomie des kategorischen Imperativs zuerkannte.“ Dennoch sollte es einige Zeit dauern, bis sich Kants Ideen wirklich umsetzen ließen. 40 Ebd.: „Diese [Freiheit] wird darauf beschränkt, der Willkür des Einzelnen entgegenzutreten, soweit sie die Freiheit anderer schädigt. Sittliche Beeinflussung durch staatlichen Zwang dagegen ist, weil heteronom, widersinnig.“ 41 Ebd., S. 26. 42 Ignor, Alexander: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, 2002. S. 231. 148 <?page no="161"?> den vermeintlichen Täter vor Gericht an 43 . Da beide Parteien alle Beweise selbst erbringen mussten, war die Arbeit des Gerichtes als übergeordnete Instanz auf das Urteilen beschränkt 44 . Die „Peinliche Gerichtsordnung“ Kaiser Karls V. von 1532, die auch als „Constitutio Criminalis Carolina“ bezeichnet wird, regelte im 16. Jahrhundert umfassend das gerichtliche Verfahren in Strafsachen im Alten Reich, wobei die darin festgelegten und meist tödlichen Strafen umständlich und zeremoniell vollstreckt wurden und damit eher einem Reinigungsritual als einer gerechten Bestrafung ähnelten 45 . Das Strafverfahren der Carolina vereinte den älteren Prozesstyp des Akkusationsprozess mit der neueren Form des Inquisitionsprozess 46 , der in der Folgezeit traurige Berühmtheit erlangen sollte. Allerdings war die Form des Inquisitionsprozess bereits in der Bamberger Halsgerichtsordnung (Constitutio Criminalis Bambergensis) von 1507 zu finden, für die sich der Verfasser Schwarzenberg und seine Mitarbeiter an vielen verschiedenen Rechtsquellen der damaligen Zeit orientierten 47 . Darunter war auch das Werk von Albertus Gandinus, der als „der erste Schriftsteller, der ein System des Strafrechts, des formellen wie des materiellen, zustande gebracht“ 48 hat, gilt. Darin findet sich die Idee der „inquisitio“ 49 , wobei Gandinus sich dabei wohl ebenfalls auf die Kirchenreform von Papst Innozenz III. bezieht. Mit seinen Reformen wollte Innozenz III. während seinem Pontifikat von 1198 bis 1216 die katholische Kirche reformieren, deren Grundfesten durch Häretiker und kriminelle Machenschaften wie Ämterverkauf oder Veruntreuung untergraben wurden 50 . Obwohl diese Probleme lange bekannt waren, erforderte der bis dahin gängige Akkusationsprozess, der Grundlage des damaligen kirchlichen Anklageprozesses war, dass der Kläger sämtliche Beweise erbringen musste, was besonders bei der Anklage wichtiger und einflussreicher Personen für den Kläger schnell zu einem Problem werden konnte 43 Ignor 2002, S. 43. 44 Ebd., S. 231. 45 Ebd., S. 43. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 46. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 47. 50 Ebd. 149 <?page no="162"?> und weitreichendes juristisches Fachwissen erforderte 51 . Hinzu kam, dass der Angeklagte sich durch einen Reinigungseid mit der Versicherung seiner Integrität von den Anschuldigungen befreien konnte 52 . Daher erwirkte Innozenz III., dass ein solcher Reinigungseid nur noch nach einer „inquisitio“ möglich sei, die zuerst die Hintergründe, die zu den Anschuldigungen geführt hatten, erforschte 53 . Innozenz III. begründete seine Handlungen aus kirchlicher Sicht, da er sich nicht auf juristische Autoritäten berufen konnte 54 und überzeugte damit, sodass seine Dekretale „Qualiter et Quando“ (1206) auf dem Vierten Laterankonzil 1215 ins Kirchenrecht aufgenommen wurde 55 . Es erwies sich schnell, dass diese Verfahrensform ganz besondere Vorzüge bot, auch im negativen Sinne. Friedrich II. nutzte sie als einer der ersten außerhalb des kirchlichen Kontextes, um sich damit seine politischen Gegner vom Hals zu schaffen 56 . Traurige Bekanntheit und eine bis heute pejorative Verknüpfung dieses Begriffes erlangte die Inquisition später durch die Ketzer- und Hexenverfolgungen. Im Gegensatz zum Akkusationsprozess, in dem sich Kläger und Angeklagter gleichberechtigt gegenüberstanden, wurde nun ein obrigkeitlicher Ankläger dazu eingesetzt, Klage von Amts wegen (ex officio) und im öffentlichen Interesse (Offizialprinzip) 57 zu erheben. Erzielt werden sollte hauptsächlich ein Geständnis. Der Beweis von Schuld und Unschuld konnte nur durch Zeugen erfolgen, da Sachbeweise keine Gültigkeit hatten. Die Folter entwickelte sich in diesem System zu einem wichtigen Instrument, um ungerechtfertigte Prozesse gegen vermeintliche Hexen und Ketzer überhaupt abschließen zu können. Die Scharfrichter verfügten deshalb neben einer militärischen Ausbildung über genaue Kenntnisse im Foltern und zudem über medizinisches Wissen, welches es ihnen ermöglichte, diese Folter möglichst effizient einzusetzen. Doch ist eine einseitige und auf die Hexenprozesse beschränkte Betrachtung dieser Prozessform unge- 51 Ignor 2002, S. 48. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 48-49. 54 Ebd., S. 49. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 50. 57 Ebd., S. 49. 150 <?page no="163"?> nügend. Lange Zeit wurde der traditionelle Inquisitionsprozess „als ein Produkt des Absolutismus angesehen, als dessen ‚kongeniale‘ Strafverfahrensform“ 58 , wobei das historische Verständnis für die „Eigentümlichkeiten des Inquisitionsprozesses verloren“ 59 ging. Ignor weist darauf hin, dass der eigentliche Inquisitionsprozess vielmehr alte „Traditionen wie der ‚favor defensionis‘, die Begünstigung der Verteidigung“ und die „Nebendefension“ 60 umsetzte, die bei Reformen im 19. Jahrhundert wieder abgeschafft wurden. Spezielle „Vorkehrungen zum ‚Schutz der Unschuld‘ wie die Unterscheidung von General- und Spezialinquisition und das strenge Beweisrecht“ 61 waren Teil des alten Inquisitionsprozesses. In Verruf kam diese Prozessform vor allem durch ihre Verbindung mit absolutistischen Machtverhältnissen und einem damit verknüpften Polizeistaat, der der Willkür Einzelner kaum noch Grenzen setzte. Mit der Französischen Revolution änderte sich der Strafprozess grundlegend 62 , was auch Einfluss auf die deutschsprachigen Gebiete hatte. Willkürliche Verhaftungen wurden unterbunden, zudem musste der Verdächtige durch eine Anklagebehörde angeklagt werden. Bis zur Feststellung seiner Schuld galt nun das „Prinzip ‚ne bis in idem‘ und die Unschuldsvermutung bis zur Verurteilung; dafür wurden Untersuchungs- und Strafhaft getrennt“ 63 . Selbst wenn in der folgenden Zeit der Restauration einige dieser fortschrittlichen Gedanken eingeschränkt wurden, so hatten sie doch große Auswirkungen auf die europäischen Staaten 64 und damit auf unser heutiges Rechtsverständnis. Die Diskussion um die Effizienz der Methoden, die in diesem System eingesetzt wurden, um ein Geständnis zu erhalten, blieb nicht ohne Folgen und ist durch die umfangreiche Verbrecherliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts gut dokumentiert. Sie führte dazu, dass bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die Folter 58 Ignor 2002, S. 235. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 191. 61 Ebd. 62 Schmoeckel, Mathias: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter. Köln: Böhlau Verlag, 2000. S. 77. 63 Ebd. 64 Ebd. 151 <?page no="164"?> zum Teil abgeschafft wurde. Da aber das Geständnis nach wie vor „das wichtigste Beweismittel“ 65 war und die Folter bereits am Ende des 18. Jahrhunderts als „Antiquität“ 66 galt, wurde der Kampf gegen körperlich erzwungene Geständnisse zu einem verbindenden Element der Aufklärer 67 . Doch damit die Abschaffung der Folter Bestand haben konnte, musste zuerst auch das Beweisrecht reformiert werden 68 . Es muss aber aus aktuellem Anlass darauf hingewiesen werden, dass heute noch die Folter eingesetzt wird, allerdings im illegalen Bereich und meist unentdeckt 69 . Diese Veränderungen führten zu neuen Problemen, denn die neuen „Untersuchungsmethoden“ erforderten eine Überarbeitung der juristischen Abläufe. Der Hofgerichtsrat Friedrich Nöllner befasste sich in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts ausgiebig mit Kriminalstatistiken seiner Zeit und stellte fest, dass Verbrechen, „die ihren Grund nicht in Verderbtheit und einem gänzlichen Mangel an Rechtsgefühl hätten, [...] die Ausnahme bilden“ 70 . Ebenso zeigte sich, dass die wenigsten Verbrecher „gewissermaßen durch den unwiderstehlichen Gang des Schicksals fortgetrieben, der Gerechtigkeit anheimfielen“ 71 . Nöllner wählte diese Formulierung nicht ohne Grund, denn die Auswahl der dargestellten Schicksale und Verbrechen war in der Verbrecherliteratur von ihrer Einzigartigkeit und Kuriosität bestimmt und stellte zudem bevorzugt tragische Schicksale dar. Die juristische Wahrheit sah in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts aber scheinbar anders aus, wie sich in Berichten über die neuen Formen der Kriminalität in den (Vor)städten erkennen lässt 72 . Nöllner konstatierte, dass sich die „Schar der täglich sich an Zahl, Gewandheit, Frechheit und Intensität des bösen Willens 65 Schmoeckel 2000, S. 77. 66 Ebd., S. 79. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Dianne Feinstein präsentierte 2014 einen Bericht über die Foltermethoden der CIA, der für große Aufregung sorgte und der belegt, dass die Folter zwecks Erzielung von Geständnissen keineswegs vollständig abgeschafft worden ist. 70 Ignor 2002, S. 228. 71 Ebd., S. 228-229. 72 Siehe dazu Kapitel 10. 152 <?page no="165"?> verstärkenden Verbrecher [...] mit einer mathematisch bewiesenen Regelmäßigkeit in einer Weise häufen, wie mancher philanthropisch gesinnte Freund der öffentlichen Wohlfahrt dies wohl kaum geahnt haben möchte“ 73 . Nöllner sah die Ursache dieses Ungleichgewichtes darin, dass die Untersuchungsverfahren zwar geändert wurden 74 , der Verlauf des Prozesses aber in keiner Weise daran angepasst worden war 75 . Er setzte sich daher für eine Prozessform ein, die „auf das System von Anklage, praktischen Beweisvorschriften, Öffentlichkeit und Mündlichkeit gebaut ist, verbunden mit einer Gefängnisreform“ 76 . Weitere Untersuchungen des Sozialhistorikers Dirk Blasius belegen, dass Nöllner mit dieser Einschätzung Recht hatte. In der Zeit des Vormärz lässt sich eine eindeutige Zunahme von Kriminalität erkennen, doch erkannte Blasius als Grund dafür nicht die veränderten Untersuchungsmethoden, sondern die „Armut weiter Bevölkerungskreise, die durch schwere Konjunktureinbrüche und Nahrungskrisen [...] noch verstärkt wurde“ 77 . Mehr als vier Fünftel der Eigentumsdelikte in den 40er Jahren waren zudem Holzdiebstahl, da die Menschen zum Überleben dazu gezwungen waren, dort Holz zu entnehmen, wo es nicht erlaubt war. Ignor weist darauf hin, dass dies im Zusammenhang mit dem preußischen Holzdiebstahlgesetz von 1821 zu tun hatte, das aus kapitalistischen Gründen der Waldbesitzer nun das „Sammeln von Holz zur Deckung des eigenen Lebensbedarfs unter Strafe“ 78 stellte. Die Kluft zwischen den wenigen, die viel besaßen und denjenigen, die jeden Tag um ihr Leben kämpfen mussten, wurde in dieser Zeit immer größer. Diese Veränderung der Gründe für Kriminalität spiegelt sich auch in der Verbrechensliteratur dieser Zeit wider. Nachdem die Verbrecherliteratur in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts von einer fiktiven und auf Spannung ausgelegten Kriminalliteratur abgelöst worden war, wurde nun die Darstellung sozialer Probleme und ihrer Auswirkungen auf die Straffälligkeit von 73 Ignor 2002, S. 229. 74 Abschaffung der Folter, humanere Behandlung der Gefangenen, strengere Aufsicht bei der Erzwingung von Geständnissen (Ebd.). 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 230. 153 <?page no="166"?> Menschen in den Vordergrund gerückt. Schon seit der Antike vertreten viele die Überzeugung 79 , dass ein Strafsystem nur dann effektiv ist, wenn „nicht die Grausamkeit der Strafen, sondern ihr unfehlbares Nichtausbleiben, und infolgedessen die Wachsamkeit der Behörden und die Strenge eines unerbittlichen Richters“ 80 gesichert ist, so wie es Beccaria in seinem Werk „Dei delitti e delle pene“ 1764 formulierte. Diese absolute Konsequenz soll nicht nur den Täter dazu bringen, der Gesellschaft nochmals Schaden zuzufügen, sondern auch seine Mitmenschen davon abhalten, selbst zu einem Täter zu werden 81 . Abschreckung sollte nicht mehr durch die Heftigkeit der Strafe erreicht werden, sondern durch die Tatsache, dass der Täter dem Arm des Gesetzes nicht mehr entgehen konnte. Dieses Prinzip gilt heute noch und erfordert auch eine mediale Auseinandersetzung mit dem Verbrechen. Im heutigen Strafprozessrecht gibt es drei „Hauptabschnitte des Strafverfahrens, wie es seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland nach den Regeln der StPO [...] praktiziert wird“ 82 : Ermittlungsverfahren, Zwischenverfahren und Hauptverhandlung 83 . Sie basieren auf den Veränderungen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus oben genannten Gründen gefordert und in den folgenden Jahren langsam umgesetzt wurden. Es ging um eine „Verbindung von inquisitorischem und accusatorischem Prinzip“ 84 . Das Vorverfahren sollte dabei nach der „inquisitorischen Form“, das Hauptverfahren nach der „accusatorischen Form“ 85 geführt werden. Dies bedeutet, dass die Voruntersuchungen stets im Geheimen zu führen sind und die eigentliche Anklage schriftlich festgehalten werden muss. Im eigentlichen Prozess vor Gericht aber gilt dann das Prinzip der Mündlichkeit und Öffentlichkeit und die Möglichkeit, dass beide Parteien ihre eigenen Zeugen und Beweise bestimmen können. Von dieser Verbindung der beiden Verfahrensformen verspricht man sich eine gerechte und vor allem unanzweifelbare 79 Ignor 2002, S. 194-195. 80 Ebd., S. 195. 81 Ebd., S. 194. 82 Ebd., S. 12. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 232. 85 Ebd., S. 233. 154 <?page no="167"?> Aufdeckung der wahren Hintergründe eines Verbrechens. Dies führt auf der anderen Seite dazu, dass die eigentlichen Untersuchungen in ihrem Ablauf bis zu einer Anklage geheim bleiben müssen. Eine Darstellung dieses Prozesses findet sich heute in fiktionaler Form in Form der Kriminalliteratur wider, die genau den Aspekt der geheimen Untersuchung eines Verbrechens thematisiert. Es kann damit durchaus die These aufgestellt werden, dass die Darstellung der technischen und rationalen Möglichkeiten der Untersuchungen das Vertrauen des Lesers in das bestehende Rechtssystem stärken kann und damit gleichzeitig Teil dieses Systems ist, da ihm so vor Augen geführt wird, dass sowohl der Täter seiner gerechten Bestrafung nicht entgehen kann und gleichzeitig der eigene Versuch, eine solche Straftat auszuführen, zu fatalen und unausweichlichen Konsequenzen führen würde. Auch wenn es etwas weit geht, moderne Krimis als Teil der Rechtspflege zu betrachten, so wird doch dadurch deutlich, welchem gedanklichen Zusammenhang die literarische Form der Kriminalliteratur zum Teil entsprang. Jeder „Tatbestand kann nur in Hinblick auf die Strafverfolgung richtig verstanden werden“ 86 , da sonst ein Polizist, der einen Einbrecher festnimmt, wegen Freiheitsberaubung, oder ein Arzt, der bei einer Operation die Bauchdecke des Patienten aufschneidet, wegen Körperverletzung belangt werden könnte 87 , obwohl dies eindeutig „außerhalb des Tatbestandes“ liegt 88 . Diese Tatsache weist vor allem der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur einen ganz besonderen Platz zu und zeigt, inwieweit die Verbrecher- und Kriminalliteratur zwei recht unterschiedliche, aber voneinander nicht trennbare Seiten ein und derselben Medaille darstellen. Heute spielen neben Personenbeweisen 89 vor allem die Sachbeweise 90 eine wichtige Rolle in dieser juristischen Vorgehensweise, da damit in Form einer Indizienkette die Schuld eines Täters belegt werden kann. Selbst 86 Peters, Karl: Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses. Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen, gehalten am 11. Juni 1963. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1963. S. 12. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Zeugenaussage oder Geständnis. 90 Z.B. Tatmittel/ -waffe oder Spuren. 155 <?page no="168"?> wenn ein Täter heute die Aussage verweigert, kann er mit einer unwiderlegbaren Indizienkette dennoch überführt und verurteilt werden. Darüber hinaus gibt es seit der Entwicklung der Psychoanalyse genaue Gutachten, in denen professionelle Sachverständige die Zurechnungsfähigkeit eines Täters möglichst objektiv bewerten, damit dies bei der Urteilsfindung mit einbezogen werden kann. Dies hat damit zu tun, dass „heute eine stärkere Stellung der Verteidigung im Gesamtgefüge des Strafprozesses“ 91 zu beobachten ist, als es noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Damit verbunden ist die Diskussion über die Aufhebung der Folter. Schmoeckel weist nach, dass „sich dieses Problem zeitlich und thematisch mit der grundlegenden Reform des Strafprozesses deckt“ 92 und in ganz Europa zum Thema gemacht wurde. Beccaria forderte ein „rationales Vorgehen in der Verbrechensbekämpfung, die schriftliche Fixierung der geltenden Strafgesetze (‚lex carta‘), die Beteiligung der Öffentlichkeit am Strafverfahren, die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, die Bemessung der Schwere des Delikts nach dem Schaden an der Gesellschaft und eine gerechte Proportion der Strafe zum Gewicht des Verbrechens, die Abschaffung der Todesstrafe, ferner durch mildere Strafen mehr die Verbrecher abzuschrecken und mehr das Augenmerk auf die Prävention der Straftaten zu legen“ 93 . Damit bewirkte der Autor „eine ganz Europa erfassende Welle der Beschäftigung mit diesen Rechtsgebieten“ 94 , die sich nicht nur anhand der vielen Traktate zur Reform des Strafprozesses erkennen lässt 95 , sondern sich auch in den Inhalten und der wachsenden Popularität der Verbrecherliteratur widerspiegelt. Dass es trotzdem bis heute zu großen Problemen kommen kann, belegt beispielsweise der Prozess um Amanda Knox und Raffaele Sollecito. Durch schlecht ausgebildete Polizisten kam es bei der Spurensicherung zu gravierenden Fehlern, die eine rechtskräftige Verurteilung schließlich nicht 91 Rieß, Peter: Zur Entwicklung der Verteidigung im deutschen Strafprozessrecht. In: ders.: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung. Berlin: Lit Verlag, 2012. S. 141-164. Hier: S. 164. 92 Schmoeckel 2000, S. 75. 93 Ebd., S. 75-76. 94 Ebd., S. 76. 95 Ebd. 156 <?page no="169"?> mehr ermöglichten, obwohl die beiden mit großer Sicherheit als Täter gelten. Dieses Problem wird auch von Ferdinand von Schirach im Bericht „Volksfest“ 96 beschrieben. Die Literatur, die diese Missstände abbildete und bis heute abbildet, ist somit nur ein verkleinertes Abbild der Kräfte, die an einer Reform der bestehenden Verhältnisse arbeiteten und soll an dieser Stelle in ihrem Einfluss nicht überbewertet werden 97 . Dennoch lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Verbrecherliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts ein Spiegel der sich ändernden Überzeugungen ist. Zudem diente sie vielen der damaligen Autoren als reichhaltige Fundgrube für ausgefallene Geschichten. Ohne diese Erklärungen ist die Bedeutung dieser Literatur für die inhaltliche Darstellung von Verbrechen an sich nicht zu leisten, die in den folgenden Werken aufgegriffen wird. Die Textanalyse kann belegen, in wieweit die Literarisierung von Verbrechen mit dieser Entwicklung begann und sich in den Texten nachweisen lässt. Im Folgenden sollen nun einige Beispiele aus den vielfältigen Darstellungsweisen der Verbrecherliteratur aufgezeigt werden. Dabei wurde sich hauptsächlich auf Texte konzentriert, die ein bestimmtes Motiv des Autors erkennen lassen 98 , ohne dabei aber die erzähltechnischen Elemente aus den Augen zu verlieren, die teilweise recht unterschiedlich eingesetzt wurden. 5.3 Tragische Verbrechergeschichten: August Gottlieb Meißner - Skizzen (1778-1796) Der Rechtsgelehrte und Professor für Ästhetik und klassische Literatur August Gottlieb Meißner ist einer der bekanntesten Vertreter der 96 Schirach, Ferdinand von: Volksfest. In: ders.: Schuld. 2. Auflage. München: Piper Verlag, 2010. S. 7-18. 97 Kaiser 1997, S. 161: „Besonders bei neuartigen oder seltenen Delikten, aber auch aus didaktischen Gründen greifen Forschung und Lehre auf die Schilderung von Einzelfällen zurück. [...]. Zwar verzahnen sich Kriminalität und Alltag in Fallgeschichten. Doch ist es äußerst schwierig, über Biographien oder einzelne kriminelle Karrieren kollektive Lebenswirklichkeiten zu erschließen.“ 98 Dieses Motiv wird jeweils kurz in der Überschrift des Artikels vermerkt. 157 <?page no="170"?> Verbrecherliteratur des 18. Jahrhunderts. Neben der literarischen Auseinandersetzung mit dem Verbrechen verfasste er, wie viele Autoren der Aufklärung, auch Theaterstücke und Fabeln. Bekannt wurde er unter anderem für die Herausgabe der Monatszeitschrift „Apollo“ (1793-1798), in der er zusammen mit weiteren Autoren populäre Stoffe aufgriff und weiterverarbeitete. Die darin enthaltenen Texte zielen auf ein möglichst großes Lesepublikum ab und spiegeln damit die damaligen literarische Moden und Vorlieben der Leser wider, weisen aber deutliche formale und inhaltliche Mängel auf, die wohl dem schnellen Publikationsrhythmus geschuldet sind. Die Rezensenten der „Allgemeinen Literatur Zeitung“ 99 weisen in ihrer Ausgabe vom Spätsommer 1795 darauf hin, dass Meißner recht lax mit geographischen Angaben und der Orthographie umgeht 100 . Die Texte selbst werden als „oberflächlich und alltäglich“ 101 oder „äußerst trivial“ 102 bezeichnet. Zudem lassen sich recht ausschweifende Formexperimente finden: Im ersten Heft vermischt der Herausgeber ein persisches Märchen 103 mit Berichten über einen aus religiöser Perspektive wichtigen Prozess 104 und stellt diese Erzählungen philosophischen Abhandlungen über die Moral 105 , Kriminalberichten 106 und einer Rittergeschichte 107 gegenüber. Inhaltlich ähnlich abenteuerlich zusammengestellt sind auch die anderen Ausgaben dieser Zeitschrift. Im Laufe der Publikationen ist erkennbar, dass verstärkt Kriminalliteratur mit in die verschiedenen Ausgaben aufgenommen wurde, was den damaligen literarischen Trend verdeutlicht und dem großen Erfolg seiner „Skizzen“ geschuldet war. Der Rezensent bestärkt ihn aber, die Zeitschrift aufgrund des „Interesse[s] und der Mannichfaltigkeit 99 Schütz, Christian Gottfried (Hrsg.): Bezüglich der „Apollo-Monatschrift“ von A.G. Meissner, Jan.-Jul. 1793. In: ders.: Allgemeine Literatur Zeitung vom Jahre 1795. Dritter Band. Julius, August, September. Numero 183. Jena & Leipzig: 1795. S. 26-29. 100 Ebd., S. 26. 101 Ebd., S. 28. 102 Ebd., S. 29. 103 Alexander und der Quell der Unsterblichkeit. 104 Über die Hinrichtung des Hieronymus von Prag. 105 Zwey Hauptregeln der praktischen Moral. 106 Eine Criminalanekdote. 107 Der Marienturm. Eine Rittergeschichte. 158 <?page no="171"?> der Aufsätze“ 108 fortzuführen. Dabei empfiehlt er ihm, durch eine stärkere regionale Konzentration das Lesepublikum zu vergrößern und zu binden: „Denn keine Klage über allzu große Vervielfältigung der Journale trifft diejenigen Zeitschriften, die gleichsam die Merkure gewisser Provinzen sind, und zu Repertorien für das Merkwürdige derselben dienen. Nach ihnen wird einst noch gefragt werden, wenn viele unsrer allgemeinen Journale dereinst so ungesucht seyn werden, als jetzt der Mensch, der Freund, und ähnliche aus dem fünften und sechsten Decennium unsers Jahrhunderts.“ 109 Meißner verfasste über 50 Kriminalgeschichten, die er unter dem Oberbegriff „Skizzen“ in vierzehn Sammlungen zusammenfasste und die zwischen 1778 und 1796 in drei verschiedenen Ausgaben veröffentlicht wurden. In Teilen waren sie freie Übersetzungen von Teilen aus Henry Fieldings Werk „Exemples of the interposition of Providence in the Detection and Punishment of Murders“ (1752) 110 . Meißner forderte seine Leser auf, ihm neue Stoffe für seine „Skizzen“ zu liefern, sodass ihm im Laufe der Zeit einige Fälle mündlich und schriftlich übermittelt wurden, die er dann literarisch bearbeitete 111 . Da sich viele seiner Verbrecherdarstellungen auf bekannte historische Dokumente oder Überlieferungen zurückführen lassen und er stets betonte, dass seine Erzählungen auf authentischen Fällen beruhten 112 , ist „der Grad erzählerischer Modellierung“ 113 meist ziemlich gut nachvollziehbar. Im direkten Vergleich mit dem Stil von Feuerbach oder von Hippel lässt sich zudem aufzeigen, dass hier versucht wurde, gut lesbare und auch für Nicht-Juristen ansprechende Berichte zu verfassen, die deutlich eine Transposition erkennen lassen. Meißner berichtet in seinem „Vorbericht“ zur „Skizzen“-Ausgabe von 1780, dass seine Texte selbst bei wohlwollenden Freunden auf Kritik stießen, denn „sie hielten es überhaupt, der Schwachen halber für rathsamer, von den Fehlern eines gewissen Standes ganz zu schweigen, als ihrer zu spotten“ 114 . Dies bezieht sich auf seine deutliche Kritik an Vertretern 108 Schütz Bezüglich der „Apollo-Monatschrift“ , S. 29. 109 Ebd. 110 Foltin 1977, S. 550. 111 Ebd., S. 551-552. 112 Ebd., S. 551. 113 Košenina 2009, S. 195. 114 Meißner, August Gottlieb: Vorbericht. In: ders.: Skizzen. Erste Sammlung. 159 <?page no="172"?> der Kirche, die ihre Machtposition ausnutzen sowie an Vertretern des Staates und der Gesetze, die korrupt und beeinflussbar sind: „... das, was wir für die Wage der Gerechtigkeit hielten, [ist] nichts mehr und nichts minder als eine Goldwage“ 115 . Der Autor weist daher an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass er die Verfehlungen einzelner Personen aufzeigt, ohne einen ganzen Stand diffamieren zu wollen. Dennoch kam es aufgrund dieser Kritik zu Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten am kurfürstlichen Archiv in Dresden, wo er seit Herbst 1776 arbeitete 116 . Seine publikumswirksame Darstellung brisanter allgemeinmenschlicher Fragen und die Tatsache, dass er bei der Wiedergabe der Verbrechen nicht die juristische, sondern die moralische Komponente einer Tat oder das Tragische des Schicksals des Verbrechers in den Vordergrund stellte, verschaffte ihm ein großes Lesepublikum, welches hauptsächlich aus Menschen des Bildungsbürgertums und adligen Damen bestand 117 . Seine „Skizzen“ waren ursprünglich als dreibändiges Werk geplant, doch die große Nachfrage führte dazu, dass er ganze vierzehn Bände verfasste 118 . Die Räubererzählungen, die er in diesen Sammelbänden einfügte, sollen Vulpius zu seinem Werk „Rinaldo Rinaldini“ inspiriert haben 119 . Selbst Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ könnte von seinen Texten beeinflusst sein, wie Robert Riemann vermutete 120 . So konnte Meißner sich über die Jahre hinweg eine gewisse Reputation aufbauen, selbst Beethoven soll erwägt haben, sich von ihm einen Text für ein Oratorium schreiben zu lassen 121 . Dennoch suchte er nie den großen literarischen Erfolg, sondern war mit seinem literarischen „Mittelstand“ 122 zufrieden. Meißner sah in seinen Werken vielmehr einen Beitrag zur Tübingen: C. G. Frank und Wilhelm Heinrich Schramm, 1780. o.S. 115 Meißner Vorbericht, o.S. 116 Foltin 1977, S. 535-536. 117 Ebd., S. 536. 118 Ebd., S. 545. 119 Ebd., S. 546-547. 120 Riemann, Robert: Schiller als Novellist. In: Sauer, August (Hrsg.): Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 12. Band. Leipzig und Wien: Verlag Fromme, 1905. S. 534-546. 121 Foltin 1977, S. 541. 122 Ebd., S. 543. 160 <?page no="173"?> Aufklärung und nutzte das damals in der Aufklärung gängige Konzept der Verbindung von Nützlichkeit und Unterhaltung („prodesse et delectare“). Daher kann man in seinen Erzählungen immer wieder einen „gegen Kirche und Aristokratie gerichteten Humanismus als moralisch-ethische Orientierungshilfe für seine Mit-Bürger“ 123 nachweisen. Seine späteren Texte, die er unter der Bezeichnung „Die Seelen- Folter: Geschichten vom Unstern und Aberwitz“ zwischen 1813 und 1814 veröffentlichte, lassen bereits an der Titelwahl erkennen, dass er hierbei das Verbrechen im Zusammenhang mit zwei weiteren Elementen erläuterte. „Unstern“ bezeichnet „Unglück, Unheil oder Miszgeschick“ 124 . Es bezeichnet damit ein Schicksal, dem der Mensch hilflos ausgesetzt ist. „Aberwitz“ dagegen stellt nicht das Unglück, dem man in manchen Situationen ausgeliefert ist, in den Vordergrund, sondern die geistige Krankheit, die Ursache für Verbrechen sein kann. Dies waren zwei Aspekte, die zur damaligen Zeit durchaus selten mit in die Urteilsfindung einbezogen wurden. Im Vergleich zu den „Skizzen“, welche bis 1796 erschienen, sind die knapp 20 Jahre später veröffentlichten Texte etwas länger gehalten. Die Titel einzelner Berichte belegen, dass er moralische, soziale und psychologische Aspekte der Verbrechen in den Vordergrund stellte. Titel wie „Mord an seiner Frau, um ihre Seele zu retten“ 125 , oder „Mörder, nach Uebereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Ueberzeugung, und dennoch unschuldig“ 126 zeigen, welche Intention Meißner mit seinen Erzählungen verfolgte. Er „polemisiert heftig gegen die zeitgenössische Rechtspflege: gegen die erst kürzlich abgeschaffte Folter, [...] gegen Psychoterror beim Verhör [...], gegen inhumanen Forma- 123 Foltin 1977, S. 544. 124 Grimm, Jacob & Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Nachdruck. Band 24 = Bd. 11, Abt. 3. Un - Uzvogel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984. S. 1426. 125 Meißner, August Gottlieb: Mord an seiner Frau, um ihre Seele zu retten. In: ders. Kriminal-Geschichten. 10 Teile in einem Band. Mit einem Nachwort von Hans-Friedrich Foltin. Nachdruck der Ausgabe Wien 1796. Hildesheim, New York: Olms Presse, 1977. S. 01-08. 126 Meißner, August Gottlieb: Mörder, nach Uebereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Ueberzeugung, und dennoch unschuldig. In. ders. Kriminal-Geschichten, S. 63-72. 161 <?page no="174"?> lismus [...] und gegen die rigorose Militärgerichtsbarkeit [...].“ 127 . Hinzu kommt die Darstellung sozialer Ursachen des Verbrechens 128 . In manchen Titeln wird bereits die doppelte Perspektive der imputatio juridica und imputatio moralis angekündigt, die in den Texten abgebildet wird 129 . Meißner vertrat die Überzeugung, dass man nicht „den großen Unterschied zwischen gesezlicher und moralischer Zurechnung; zwischen dem Richter, der nach Thaten, und demjenigen, der nach dem Blick ins Innerste des Herzens urtheilt“ 130 , vergessen darf. Košenina geht sogar so weit, dass er Meißner als „erfolgreichsten Anwalt der neuen Imputationslehre“ 131 bezeichnet, die „einen ungeheuren Reformschub für das frühneuzeitliche Rechtsverständnis“ 132 bedeutete. Der Jurist stellt teilweise die Verfehlungen der Richter und der Untersuchungskommissionen dar, die dazu führen, dass Unschuldige angeklagt wurden 133 . Damit umfasst seine Darstellungsmethode das gesamte Spektrum der Verbrecherliteratur. Dennoch gibt es in manchen Erzählungen durchaus eine Verrätselung oder einen kleinen Spannungsaufbau, wie man es aus dem modernen Krimi kennt, obwohl viele der Überschriften bereits Kurzzusammenfassungen waren und den Ausgang in Form einer Prolepse vorwegnahmen. Dem Autor war durchaus bewusst, welches Potential 127 Foltin 1977, S. 555-556. 128 Ebd., S. 556. 129 Košenina 2009, S. 196. 130 Ebd., S. 193. 131 Ebd., S. 195. 132 Ebd., S. 193: „Diese naturrechtliche Unterscheidung der unverbrüchlichen imputatio juridica von der imputatio moralis, die alle psychologischen und sozialen Umstände des Verbrechersubjekts mit ins Kalkül zieht, um über die Zurechnungsfähigkeit und gegebenenfalls über strafmildernde Umstände entscheiden zu können, bedeutet einen ungeheuren Reformschub für das frühneuzeitliche Rechtsverständnis.“ 133 Meißner Mörder, nach Uebereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Ueberzeugung, und dennoch unschuldig, S. 63: „Daß Zeugen und Richter durch den Anschein verführt werden können, einen Unschuldigen für schuldig zu erkennen, dieser Fall mag leider nur allzu oft sich zutragen. Aber wenn nun sogar der Angeklagte selbst einen solchen Urteilsspruch im Innersten seiner Seele für gerecht erklärt, wenn er sich mit vollster Überzeugung für den Täter einer Tat bekennt, die er nicht beging, wenn er, ganz ohne Folter und Zwang, bereit ist, durch Aufopferung seines eigenen Lebens eine Blutschuld auszusöhnen, die nicht auf seiner Seele lastet? “ 162 <?page no="175"?> diese Themen boten und wie es sich anbieten würde, die Spannungskurve der Darstellung auszubauen 134 . Meißners Version der literarischen Form der Skizze, die eine nicht eindeutig festgelegte literarische Form ist, die sich vor allem durch ihre Kürze auszeichnet 135 , war eine auf das Wesentliche reduzierte Form der (pseudo-) realen 136 Verbrecherliteratur. Damit steht er in Gegensatz zur Konzeption von Pitaval oder Feuerbach, die sich auf weniger Geschichten konzentrierten, diese aber, neben der Darstellung des Täters, sowohl erzählerisch wie auch juristisch wesentlich ausführlicher darstellten. Es lässt sich also bereits hier eine deutliche Tendenz zur Verknappung feststellen, die wichtig für die Entwicklung der modernen Kriminalliteratur wurde. Es zeigt die Konzentration auf das eigentliche Verbrechen und vor allem die Aufklärung desselben, nicht auf den Prozess oder juristische Fragestellungen. Im Gegensatz zu diesen Autoren verzichtet Meißner auf komplexe Darstellungen der Rechtslage und konzentriert sich ausschließlich auf die Verbrecher. Dabei schafft er ganz unterschiedliche Darstellungen der Delinquenten, die einen vielfältigen Blick auf das Verbrechen an sich werfen. Meißners „Skizzen“ 137 müssen klar von denen des Impressionismus 138 getrennt werden. Die Vertreter dieser literarischen Strömung nutzten diese Form als Ausdrucksmöglichkeit, um seelische Stimmungen, Sinneseindrücke und flüchtige Augenblicke festzuhalten. 134 Meißner Mord an seiner Frau, um ihre Seele zu retten, S. 6: „Wie viel hier [‚Mord an seiner Frau, um ihre Seele zu retten‘] Stoffzur Ausschmückung und Verschönerung vorrätig wäre, sieht jeder leicht. Mit Vorbeilassung alles dessen frage ich bloß: Wo ist derjenige, der mir unwidersprechlich sagen kann, daß dieser arme Inquisit gut oder böse, mitleidig oder grausam gehandelt habe? “ 135 Manche Texte, wie beispielsweise Mörder, der sich zwingt, eine Ursache zu finden (1783) sind nur drei Seiten lang, das Gerichtsurteil nimmt nur einen einzigen Absatz in dieser Geschichte ein. 136 Meißner gibt selbst an manchen Stellen an, dass er die Geschichten nur mündlich und aus zweiter Hand erfahren hat. 137 Seine ursprünglich als „Skizzen“ bezeichneten Erzählungen wurden in der hier verwendeten Ausgabe als „Kriminal-Geschichten“ bezeichnet. 138 Auch wenn dieser Epochenbegriffdurchaus kritisch gesehen werden kann, soll er an dieser Stelle für impressionistische Texte im Zeitraum zwischen 1890 und 1910 genutzt werden. 163 <?page no="176"?> Diese Form hat sich, in veränderter Weise, durchaus bis heute erhalten. Meißners „Skizzen“ aber zeigen die Einfachheit der Verbrechen auf, die problematische Verknüpfung von tragischen Schicksalen mit falschen Entscheidungen 139 und die Menschlichkeit von Fehlverhalten. Dadurch ändert er den Blick des Lesers auf den Verbrecher und setzt diabolischen und reißerischen Darstellungen von Tätern in seiner Zeit eine Betrachtungsweise entgegen, die den Leser durch die Schnelligkeit der Erzählung vor die Frage stellt: Wie hätte man selbst gehandelt, hätte man sich überhaupt anders entscheiden können? Im Folgenden sollen nun aus dem reichen Fundus an Verbrecherliteratur aus der Feder Meißners vier Erzählungen näher betrachtet werden, die sich durch Besonderheiten bezüglich der Erzählstruktur auszeichnen. 5.3.1 Der eigentliche Täter als Retter eines Unschuldigen: Die Stuzperükke (1784, Vf2) Bereits der Titel der Erzählung „Die Stuzperükke. Englische Kriminalgeschichte“ 140 zeigt an, dass Meißner in diesem Fall das Erzählerische in den Vordergrund stellt und weniger die soziale oder gesellschaftliche Kritik. Er erweitert seine narrative Instanz und präsentiert dem Leser den eigentlich Schuldigen am Ende der Erzählung durch eine externe Fokalisierung, ohne dass ihn die Anwesenden im Gerichtssaal erkennen und handeln können 141 . Dadurch wird die Aufklärung des Falls nicht durch eine Untersuchung oder ein Geständnis erzielt, sondern durch den Erzähler selbst. Durch diese besondere Konstruktion gibt es weder eine richtige Aufklärung, noch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit juristischen Aspekten. Die Kuriosität der Erzählung und die Unterhaltung des Lesers stehen deutlich im Vordergrund. 139 Diese betrifft an manchen Stellen auch diejenigen, die über ein menschliches Schicksal urteilen müssen. Vgl. dazu Meißner Die Seelen-Folter. Geschichten von Unstern und Aberwitz, S. 35-36. 140 Meißner, August Gottlieb: Die Stuzperükke. Englische Kriminalgeschichte. In: ders.: Kriminal-Geschichten, S. 118-124. 141 Ebd., S. 122: „Bei dem gegenwärtigen Verhör war der wahre Thäter vom Anfange bis zu Ende Zuschauer gewesen, hatte aber weislich geschwiegen, bis der Ausspruch der Geschworenen gefällt war.“ 164 <?page no="177"?> Der Täter ist ein Mann „von der besten Geburt“ 142 , den „Spiel, Ausschweifung oder Unfälle“ 143 in die „Notlage“ versetzen, mit vorgehaltener Pistole Reisende auf der Landstraße auszurauben. Somit handelt es sich hierbei um einen spielsüchtigen Menschen. Durch den Zufall gibt es zwei Opfer seiner Tat: den überfallenen Kaufmann und den Sohn eines reichen Esquire, der die Perücke, die der Täter bei seinem Überfall nutzte, in einem Nebenweg findet und sie aufsetzt, um damit seiner Familie einen Streich zu spielen. An einem Zollhaus aber trifft er unglücklicherweise auf den zuvor beraubten Wollhändler, der ihn aufgrund der Perücke für den Dieb hält. Auch wenn die Beute nicht bei ihm gefunden wird, so schwört der Händler, dass er ihn beraubt hat. So wird dieser angeklagt und vor Gericht gestellt. Der Leser aber ist aufgrund der besonderen Erzählhaltung bereits über den wahren Tathergang informiert, sodass er rätselt, wie der Unschuldige nun gerettet werden kann. Während der Wollhändler extern fokalisiert wird, so nutzt Meißner beim jungen Mann kurzzeitig eine interne Fokalisierung, um die Hintergründe über das Auffinden und Aufsetzen der Perücke bildhaft darzustellen 144 . Der eigentliche Dieb ist bei der Verurteilung anwesend und ist aber nur dem Leser als Täter bekannt. Er will verhindern, dass ein Unschuldiger für seine Taten bestraft wird und zieht sich nach dem Urteilsspruch ebenfalls die Perücke an. Dann stellt er sich vor den Händler und bedroht ihn. Der Händler erkennt ihn sofort wieder, wird aber durch die ganze Situation unglaubwürdig, sodass der zu Unrecht angeklagte Mann durch seine Reaktion noch freigesprochen wird. Interessant ist hierbei, dass der Eid des Händlers schwerer wiegt als die familiäre Abstammung des jungen Mannes 145 . 142 Meißner Die Stuzperükke, S. 118. 143 Ebd. 144 Ebd., S. 122: „Wenn ich dies Geniste, (dacht´er bey sich selbst) aufszte, so würde mich vielleicht unser eignes Hausgesinde, wohl gar meine leibliche Schwester nicht kennen. Ich habe ja nicht weit bis heim! Was thut´s, ich will´s versuchen.“ 145 Ebd., S. 124: „Nach englischen Gesezzen galt würklich über diesen lezten Punkt keine Frage mehr; und eben so wenig konnt´ er, nach einem schon geleisteten falschen Eide, noch einen neuen schwören, oder irgend eine Klage gegen seinen muthmaslich wahren Räuber anheben.“ 165 <?page no="178"?> Abb. 11: Verteilung der Erzählelemente in Meißner Die Stuzperükke (1784) Betrachtet man die Verteilung der Erzählelemente, so kann man deutlich erkennen, dass die Kuriosität des Falls im Vordergrund steht, während die juristischen Aspekte nur am Rande erwähnt werden. Da die eigentliche Spannung im Prozess erzielt wird, wird diesem Element der meiste Platz eingeräumt. Hier tritt der eigentliche Täter auf und rettet das unschuldige Opfer. Durch die gesamte Situation kommt der Täter schließlich ohne Strafe davon. Diese Konstruktion ist nur möglich, indem die eigentliche Erzählhaltung erweitert und variiert wird. Durch die übergeordnete Instanz des Erzählers wird der Leser mit den nötigen Informationen versorgt, sodass das Rätsel über die Frage erzielt wird, wie diese verzwickte Situation aufgelöst werden kann. Dabei wird die Spannung von der Verhaftung des Unschuldigen bis kurz vor dem Ende der Erzählung aufrecht erhalten und nicht durch die Überschrift bereits zu Beginn aufgelöst. Der Spannungsbogen umfasst somit prozentual den größten Bereich der Erzählung. Dadurch ergibt sich ein ganz besonderes Konzept, was durchaus als eigenständig in der Verbrecherliteratur zu betrachten ist. Betrachtet man die Anordnung und Verteilung der Elemente, so könnte man annehmen, dass es sich um die eines modernen Krimis handelt: Die Tat steht am Anfang, der Täter-Opfer-Beziehung und der Aufklärung 166 <?page no="179"?> Abb. 12: Verwendete Erzählelemente in Meißner Die Stuzperükke (1784) wird der größte Teil eingeräumt. Die Konsequenzen dagegen werden beinahe ganz ausgespart. Dennoch ist die inhaltliche Verknüpfung und die Fokalisierung eine völlig andere, sodass dieselbe Anordnung der Elemente zu einer ganz anderen Erzählung führt. Diese Erzählhaltung verbunden mit der speziellen Informationsverteilung ermöglicht es, auf die Analepsen und die Detektivfigur des modernen Krimis zu verzichten. Da Meißner nicht angibt, woher er diese umfangreichen und die Realität übersteigenden Informationen bezogen hat, so ist davon auszugehen, dass diese Erzählung auf Fiktion basiert oder im weitesten Sinne eine Transposition eines ihm überlieferten Berichts zu verstehen ist. 167 <?page no="180"?> Abb. 13: Spannungsaufbau in Meißner Die Stuzperükke (1784) 5.3.2 Aufdeckung durch Geständnis: Mörder, nach Übereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Überzeugung, und dennoch unschuldig (1789, Vr3) Die Erzählung „Mörder, nach Übereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Überzeugung, und dennoch unschuldig“ handelt von einem Soldaten, der nach einem durchzechten Abend mit einem anderen Soldaten in Streit gerät und am nächsten Tag schlafend und mit gezogenen Säbel auf der Leiche seines Kameraden gefunden wird. Da er sich an nichts erinnern kann und seine Waffe blutig ist, bekennt er sich zu dem Mord. Er wird zum Tode durch Erschießen verurteilt. Kurz bevor der Offizier den Befehl zum Abdrücken geben kann, wirft aber einer der Soldaten des Erschießungskommando sein Gewehr fort und bekennt sich als der wirkliche Mörder. Die gesamte Erzählung ist kurz gehalten und bietet dem Leser ein spannendes Konzept. Bereits durch die Überschrift entsteht das Rätsel, da der Leser bis zum Ende auf dem selben Wissensstand wie der unschuldig Angeklagte verbleibt. Nach einer kurzen Einführung folgt bereits die vollende Tat, wobei der genaue Tathergang aufgrund des Konzeptes ausgespart wird. Wie im klassischen Krimi wird der Leser durch die Darstellung der problematischen Täter-Opfer Beziehung in die Irre geführt und glaubt, wie der vermeintliche Täter selbst, dass der Grenadier seinen Kameraden getötet haben muss, zumal alle Umstände gegen ihn sprechen. Aufgrund der Überschrift ist aber klar, dass er nicht der Täter sein kann. Kurz vor der Hinrichtung des Unschuldigen bekennt sich der wahre Täter zu dem Mord und 168 <?page no="181"?> erklärt mit einem Selbstgeständnis, warum er dies tat. Die Konsequenz der Tat wird von Meißner in einer kurzen Zeile dargestellt, da sie juristisch eindeutig ist. Abb. 14: Verteilung der Erzählelemente in Meißner Mörder, nach Übereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Überzeugung, und dennoch unschuldig (1789) Der Aufbau und das Konzept belegen, dass diese Erzählung ausschließlich auf Spannung ausgelegt ist. Da Meißner das Rätsel bereits mit der Überschrift beginnt und erst am Ende über die Beziehung des Täters zum Opfer auflöst, hält er den Spannungsbogen nahezu über die gesamte Erzählung. Interessanterweise hat man es hier ausnahmsweise mit einem Whodunit im Bereich der Verbrecherliteratur zu tun. Abb. 15: Spannungsaufbau in Meißner Mörder, nach Übereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Überzeugung, und dennoch unschuldig (1789) 169 <?page no="182"?> Betrachtet man die Verteilung der Erzählelemente, so fällt auf, dass Meißner hier bereits dem klassischen Schema des modernen Krimis folgt und nach der Tat bewusst eine Täter-Opfer-Beziehung aufzeigt, die scheinbar des Rätsels Lösung ist. Doch der Leser ist aufgrund der Überschrift bereits darüber informiert, dass dies nicht der eigentliche Hintergrund für den Mord war und erwartet die Auflösung, die dann aber erst am Ende der kurzen Erzählung zu finden ist. Somit ist die erste Täter-Opfer-Beziehung eine falsche Spur, die selbst „Zeugen und Richter“ 146 dazu bringt, „einen Unschuldigen für schuldig zu erkennen“ 147 . Nach dem Selbstgeständnis des eigentlichen Täters dient die zweite Täter-Opfer-Beziehung dazu, die wirklichen Gründe für die Tat zu beleuchten. Auch wenn die Überschrift die eigentliche Spannung dahingehend verschiebt, dass der Leser wissen möchte, wie nun der Unschuldige gerettet wird, so ist doch die Auslegung falscher Spuren über die Täter-Opfer-Beziehung ein wichtiger Bestandteil moderner Krimis. Ebenso lässt sich am Balkendiagramm deutlich erkennen, dass in diesem Fall die juristischen Konsequenzen nur minimal erläutert werden, dafür aber der Darstellung der ersten Aufklärung, die Grundlage des Rätsels ist, und der schlussendlichen Erläuterung des wirklichen Täter-Opfer-Verhältnisses, in dem die Auflösung des Rätsels verborgen ist, ein recht großer Umfang eingeräumt wird. In dieser kuriosen Geschichte ist die Spannung wichtiger, als die Darstellung der juristischen Aspekte, eine Detektivfigur kommt aber auch hier nicht vor. Der Überblick über die verwendeten Erzählelemente zeigt nochmals, dass man es hier dennoch mit einem Text der klassischen Verbrecherliteratur zu tun hat. Die eigentliche Tat wird nicht dargestellt, dafür aber die Gründe, warum der Täter das Verbrechen begeht. Besonders ist hierbei, dass es zwei Täter-Opfer-Beziehungen gibt, die zu unterschiedlichen Konsequenzen führen. Der zu Unrecht beschuldigte Mann ist betroffen über seine Tat und nimmt die Todesstrafe an. Es scheint so, als habe er aufgrund einer Auseinandersetzung mit dem Täter diesen im Vollrausch erschlagen. Der Richter akzeptiert die Reue des Mannes und die damit verbundenen 146 Meißner Mörder, nach Uebereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Ueberzeugung, und dennoch unschuldig, S. 63. 147 Ebd. 170 <?page no="183"?> strafmildernden Umstände und wandelt die Strafe von Rädern in Erschießen um. Als sich aber herausstellt, dass langjähriger Hass und Neid auf den Besitz eines anderen zu dieser lange vorbereiteten und hinterlistigen Tat führten, so ist die entsprechende Strafe das Rädern. Abb. 16: Verwendete Erzählelemente in Meißner Mörder, nach Übereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Überzeugung, und dennoch unschuldig (1789) 171 <?page no="184"?> 5.3.3 Der Richter als Opfer: Der blutige Jeßanack (1792, Vr5) Die Erzählung „Der blutige Jeßanack“ 148 handelt von einem Prokurator, der für seine gnadenlose Eliminierung von Räuberbanden diesen Spitzennamen erhielt. Zu Beginn wird er in der Situation dargestellt, selbst einer Räuberbande in die Hände zu fallen. Kurz bevor sie das Geld entdecken, dass er mit sich führt, wird er von einem jungen Mann der Bande durch dessen Fürsprache gerettet, sodass er, ohne beraubt worden zu sein, seinen Weg fortsetzen kann. Die Räuber verlangen von ihm, dass er sich im Gegenzug dafür in seinen Recherchen und Verfolgungen mäßigen soll. Nach einigen Jahren fällt eben diese Räuberbande dem Gesetz in die Hände und der junge Mann wird schließlich als einziger aufgrund dieser Situation vor dem Tode bewahrt. Dieser Mann beteuert, niemals einen Mord begangen zu haben. Dies und die Fürsprache Jeßnacks retten ihn vor dem Tod. Hier zeigt sich anhand eines Einzelschicksals, wie dehnbar der Begriffdes Rechts war und wie es selbst die Richter bei aller Anstrengung nicht schaffen, immer gerecht zu sein. Strukturell ist diese Erzählung deshalb interessant, da sie das Opfer eines Raubüberfalls in den Mittelpunkt rückt und dessen Schicksal mit dem eines Verbrechers verknüpft. Der ersten Tat wird somit der größte Raum zugestanden, da in dieser Situation, die szenisch dargestellt wird, der Grundstein für die Täter-Opfer-Beziehung gelegt wird, die dem jungen Mann einige Jahre später das Leben rettet. Denn das eigentliche Opfer, Jeßanack, wird zu einem späteren Zeitpunkt zum Richter über den Angreifer und wird von diesem an sein Versprechen erinnert. Somit entfernt sich Meißner in dieser Geschichte recht weit von seinem eigentlichen Konzept und spart beispielsweise eine nähere Betrachtung für die Gründe des Verbrechens aus. Ebenso gibt es kaum eine Verrätselung innerhalb der Geschichte, Spannung wird nur über die szenische Darstellung des Überfalls sowie die wenig aussagekräftige Überschrift erzeugt, die keinerlei Aufschluss über den weiteren Verlauf der Erzählung gibt. Schon nach der Einleitung begreift der Leser die kurze Überschrift 148 Meißner, August Gottlieb: Der blutige Jeßanack. In: ders.: Kriminal- Geschichten, S. 131-140. 172 <?page no="185"?> und fragt sich, wo in diesem Fall das Kuriose der Erzählung zu finden ist. Dies findet sich dann erst am Ende der Erzählung, wenn die besondere Beziehung zwischen Richter und Täter klar wird. Abb. 17: Verteilung der Erzählelemente in Meißner Der blutige Jeßanack (1792) Es ist so deutlich erkennbar, dass zwischen den beiden dargestellten Taten ein Zeitraum von sechs oder sieben Jahren in Form eines kleinen Einschubs mit wenigen Worten gerafft wird. Ebenso führt diese Darstellung vor Augen, dass auch hier wieder die Darstellung der juristischen Abläufe und vor allem der Konsequenzen wie im modernen Krimi bis auf ein Minimum verkürzt wurden. Dies unterstützt den Lesefluss und konzentriert die Handlung auf die Kuriosität der Täter-Opfer-Beziehung. Dieser wird zusammen mit der ersten Tat, die Grundlage für diese Beziehung ist, daher auch am meisten Platz eingeräumt. Somit gibt es nur eine kurze Verrätselung des zweiten Verbrechens, um das Tempo der Erzählung aufrecht zu halten. Hier wird eine Räuberbande gefasst, die in das Schloss eines Grafen einbrechen will. Obwohl sie zuerst alles leugnen, bittet einer der Gefangenen, allein mit Jeßanack sprechen zu dürfen und offenbart seine Verbindung zu ihm. Auffällig ist, dass die Struktur dennoch der Erzählung „Mörder, nach Übereinstimmung aller Umstände und seiner eigenen Überzeugung, und dennoch unschuldig“ 173 <?page no="186"?> ähnelt, da hier zwei kleinere Geschichten mit jeweils spezifischen Täter-Opfer-Beziehungen zusammen gefügt werden und dadurch der Spannungsbogen bis zum Ende aufrecht erhalten werden kann. Dennoch ist die Anordnung und die Fokalisierung eine ganz andere, da es sich hierbei ausschließlich um extern fokalisierte Personen handelt. Abb. 18: Verwendete Erzählelemente in Meißner Der blutige Jeßanack (1792) Die Übersicht über die verwendeten Erzählelemente zeigt, dass die Hintergründe, warum jemand zum Verbrecher wird, in diesem Fall nicht im Vordergrund stehen. Das Opfer ist Teil der Aufklärung und der Festlegung von Konsequenzen, was zu einer schwierigen Situation führt, die nicht rechtsstaatlich aufgelöst wird. Innerhalb der Aufdeckung der Beziehung zwischen Täter und Opfer sind einige 174 <?page no="187"?> kleine Hinweise zum Hintergrund des Verbrechens zu finden. Der Räuber gibt an, dass er zwar gestohlen, nie aber einen Menschen getötet habe. Auch wusste er damals, wie viel Geld Jaßneck mit sich führte, da er ihn zuvor ausgekundschaftet hatte. Da bereits beide Verbrechen der Erzählung aufgelöst sind, kann man diese Informationen eher dem Verhältnis zwischen Täter und Opfer zurechnen, da Jeßanack dadurch in Zwang gerät. Abb. 19: Spannungsaufbau in Meißner Der blutige Jeßanack (1792) 5.3.4 Transzendente Einflussnahme: Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten (1796, Vf2) In der Erzählung „Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten“ 149 kombiniert Meißner Elemente des Schauerromans mit Elementen der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur. Der Autor erzählt die Geschichte eines Hausmeisters, der in einem Handelsunternehmen in Prag arbeitet und sich im Laufe der Zeit Nachschlüssel zum Lagerraum und der Kasse des Unternehmens beschafft. So stiehlt er immer wieder möglichst unauffällig kleinere Summen und baut sich im Laufe der Zeit ein kleines Vermögen auf. Als seine Frau stirbt, nimmt sie ihm am Totenbett das Versprechen ab, niemals wieder zu stehlen, was dieser aber nicht lange hält. Als er nun wieder einmal in der Nacht in das Lager eindringen möchte, steht vor ihm plötzlich in Lebensgröße seine verstorbene Frau und er lässt von seinem Versuch ab. Dies wiederholt sich ein 149 Meißner, August Gottlieb: Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten. In: ders.: Kriminal-Geschichten, S. 105-117. 175 <?page no="188"?> weiteres Mal, bis er beim dritten Mal all seinen Mut zusammennimmt, den Geist beiseite schiebt und von einem Diener auf frischer Tat ertappt wird und sein ergaunertes Vermögen verliert. Auch wenn die Geschichte inhaltlich den Bereich der Schauerliteratur berührt, so versucht Meißner doch für das Phänomen der Geistererscheinung eine rationale Erklärungen zu finden: „Alles dies, so schauderhaft es vielleicht für manche, ohnedem furchtsame Leser klingen mag, läßt sich doch durch ein klein wenig Seelenkunde leicht erklären, ohne daß deshalb ein wirkliches Gespenst ins Spiel zu mischen wäre.“ 150 Damit verweist er bereits auf das pathologische Verhalten des Täters, was sich auch anhand seiner Halluzinationen nachweisen lässt. Strukturell wird hierbei seine Verbrecherlaufbahn in verschiedenen Stadien dargestellt, die jeweils eine ganz eigene Erzählgeschwindigkeit aufweisen. Nach einer kurzen Einleitung folgt zuerst eine geraffte Darstellung eines nicht näher bestimmten, aber längeren Zeitraums 151 . Darauf folgt eine szenische Darstellung der letzten Stunden seiner Frau, die ihm am Totenbett das Versprechen abnimmt, nicht mehr zu stehlen. Hier drosselt Meißner das Erzähltempo so weit es geht, um diesem Versprechen den nötigen Platz einräumen zu können, da es Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Geschichte hat. Nun folgt die Darstellung der beiden ersten Versuche, nochmals zu stehlen, und der eigentlichen Tat, die ebenfalls szenisch dargestellt wird. Hier unterbricht Meißner kurz vor der Tatausführung die Erzählung und schiebt den ersten Teil der Aufklärung ein, den er in Form einer Analepse gestaltet. So ist der Leser nun darüber informiert, dass der neue Ladendiener die Diebstähle bereits bemerkt hat und nun auf der Lauer liegt, um den Hausmeister auf frischer Tat zu ertappen. Somit verschiebt Meißner an dieser Stelle die interne Fokalisierung vom Täter hin zur Person, die das Verbrechen aufklären wird. So erlebt der Leser aus der Perspektive des Ladendieners, wie der Hausmeister sich Zutritt zum Lager verschafft und Lebensmittel stiehlt. In dem Moment, in dem er schließlich Geld aus der Kasse entnehmen möchte, wird er vom Ladendiener gestellt. Man kann erkennen, dass die szenische Darstellung der Diebstahlver- 150 Meißner Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten, S. 113. 151 Ebd., S. 105: „Denn schon seit geraumer Frist...“. 176 <?page no="189"?> Abb. 20: Verteilung der Erzählelemente in Meißner Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten (1796) suche des Hausmeisters viel Umfang beansprucht und in der Mitte der Erzählung situiert ist. Somit entsteht eine Art Glockenkurve, die sich durch einen langsamen Beginn und einem langsamen Ausklang auszeichnet. Gleichzeitig wird in der Mitte der Erzählung durch die verringerte Erzählgeschwindigkeit Spannung erzeugt, denn es ist bereits aufgrund der Überschrift und einer Prolepse kurz vor seiner letzten Tat 152 klar, dass sein nächster Diebstahl nicht gut gehen wird. Auch hier gibt es aufgrund der Fokalisierung keinerlei Verrätselung des Falls. Vielmehr fragt sich der Leser, wie genau eine tote Frau Einfluss auf das Schicksal ihres Ehemanns nehmen wird und wie der Täter schlussendlich gestellt werden wird. Man kann zudem erkennen, dass hierbei eine private Instanz daran beteiligt ist, das Verbrechen aufzuklären und dies aus eigenem Antrieb tut, was ein 152 Meißner Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten, S. 112-113: „Merkwürdig aber bleibt es doch, daß dieser [der Hausmeister] so oft und so fruchtlos von seiner sterbenden Frau und von seinem eignen Gewissen gewarnte Bösewicht jetzt allerdings in sein Verderben rannt, und daß er, der vorher so oft glücklich entwischt war, gerade jetzt in einen Fallstrick kommen musste, dem er nicht mehr entgehn, und wovon ihm keine Silbe ahnden konnte.“ 177 <?page no="190"?> Abb. 21: Verwendete Erzählelemente in Meißner Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten (1796) durchaus seltenes Personenkonzept für die Verbrecher-, nicht aber für die Kriminalliteratur ist. Aufgrund des Inhaltes ist es trotz der Beteuerung des Autors, eine wahre Geschichte erzählt zu haben, durchaus unwahrscheinlich, dass sich dieser Fall so zugetragen hat. Daher wird er, wie auch die Erzählung „Die Stuzperuekke“, der fiktiven Verbrecherliteratur zugeordnet. Bereits an dieser Stelle kann man im Vergleich der verschiedenen Diagramme feststellen, dass jede der hier vorgestellten Erzählungen Meißners über ein eigenes Konzept verfügt, in denen die unterschiedlichen Elemente in ganz verschiedenartiger Weise und 178 <?page no="191"?> Abb. 22: Spannungsaufbau in Meißner Auch einer verstorbenen Frauen Winke soll man nicht verachten (1796) unterschiedlichem Umfang eingesetzt werden. Besonders sein geschickter Umgang mit der Fokalisierung und die Reduzierung auf die wesentlichen Kernelemente der Handlung ergeben interessante und gut lesbare Texte. Zusammenfassend kann man feststellen, dass seine Erzählungen sich durch eigene und keineswegs stereotype Konzepte auszeichnen, die bereits als erstes Indiz dafür gelten können, dass man es im Bereich der Verbrecherliteratur mit einer großen Vielfalt an Konzeptvarianten zu tun hat. 5.4 Verbrechen als Ausdruck innerer Krisen: Johann Wolfgang von Goethe Goethes literarische Auseinandersetzung mit dem Verbrechen ist dezent ausgedrückt überschaubar. Viel bekannter als seine beiden kleinen Anekdoten, die sich mit dem Verbrechen auseinandersetzen, ist ein falsches Zitat des ausgebildeten Juristen. So soll Goethe einst gesagt haben: „Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht selbst hätte begehen können.“ 153 Die Goethe-Forschung ist sich sicher, dass es sich hierbei um eine Maxime aus „Kunst und Altertum“ handelt 154 , die aufgrund einer falschen Übersetzung ins Englische von Emerson im Jahre 1850 und einer Rückübersetzung von Thomas Mann für seinen Roman „Lotte in Weimar“ inhaltlich 153 Mann, Thomas: Lotte in Weimar. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1958. S. 322. 154 Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen. Berlin: Holzinger Verlag, 2013. S. 507: „Man darf nur alt werden, um milder zu sein; ich sehe keinen Fehler begehen, den ich nicht auch begangen hätte.“ 179 <?page no="192"?> völlig verändert wurde 155 . Dennoch finden sich in seinem Werk als literarische Randnotiz zwei kleine Verbrechergeschichten, die das Verbrechen aus moralischer und psychologischer Perspektive beleuchten. Ein Großteil der Darstellung von Rechtsfällen wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dafür genutzt, den Lesern einen differenzierten Blick auf den Hintergrund einer kriminellen Tat und die Motivation des Täters zu vermitteln. Neu dabei war, dass keine rein juristische Betrachtung des Falls nach Akten gefordert wurde, sondern die Lebensgeschichte des Täters als Erklärungsgrund hinzugezogen wurde, um verstehen zu können, warum ein Verbrechen geschah. Diese Darstellungsform wurde schnell auch in der fiktiven Literatur aufgegriffen. Bereits in der zweiten Version des ursprünglich 1774 erschienen Werk „Die Leiden des jungen Werther(s)“ von Johann Wolfgang von Goethe lässt sich dies in der fiktiven Prosa der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts nachweisen. 5.4.1 Mord aus Eifersucht: Die Leiden des jungen Werther (1787, Vf1) In der zweiten Version des „Werther“ von 1787 fügt Goethe die im Vergleich zur restlichen Erzählung überaus kurze Binnengeschichte des Bauernburschen ein, der aus unglücklicher Liebe zu seiner ehemaligen Herrin einen anderen Knecht umbringt. Werther lernt ihn bereits zu Beginn seines Aufenthaltes in Wahlheim und noch vor der Bekanntschaft mit Lotte kennen und ist gerührt davon, mit welcher „Reinheit“ er zu lieben scheint 156 . Bereits hier äußert Werther Wilhelm gegenüber ausdrücklich, dass er „die dringende Begierde und das heiße sehnliche Verlangen“ 157 , aber auch die Zurückhaltung und Beherrschung des Bauernburschen erkennt. Damit legt der Rechtsgelehrte Goethe bereits an diesem Punkt der Erzählung den 155 Herwig, Wolfgang: Das falsche, aber verbreitete Goethe-Zitat vom ‚Verbrechen‘. In: Wachsmuth, Andreas B. (Hrsg.): Goethe. Neue Folge des Jahrbuches der Goethe-Gesellschaft. 23. Bd. Weimar: 1961. S. 352-353; 24. Bd. (1962), S. 292; 25. Bd. (1963), S. 359-362. 156 Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werther. Stuttgart: Reclams Universal-Bibliothek, 2001. S. 19. 157 Ebd. 180 <?page no="193"?> Grundstein für das Plädoyer für die Freilassung des Gefangenen, dass Werther am Ende des zweiten Buches vor dem Amtsmann und Albert halten wird. Goethe fügt die Zuspitzung des Konflikts genau an dem Punkt ein, an dem das Konzept des Briefromans durch den Einschub des fiktiven Herausgebers durchbrochen wird 158 . Der Wechsel vom homodiegetischen und intern fokalisierten Erzähler zu einem heterodiegetischen Erzähler mit externer Fokalisierung erzeugt einen kurzen Spannungsmoment, da der Leser bereits erahnt, wer den Mord begangen hat, vom Erzähler aber noch nicht voll und ganz aufgeklärt wird. So erfährt er zuerst nur, dass ein Mord geschehen ist, über den Täter gibt es aber Mutmaßungen 159 . Werther eilt sofort nach Wahlheim und stellt den inzwischen festgenommenen Täter zur Rede. Dieser offenbart dabei seine psychologische Unzurechnungsfähigkeit 160 , was Werther dazu bewegt, sich für ihn beim Amtsmann einzusetzen. Bereits zuvor berichtet ihm der Bauernbursche von einer Art Besessenheit, die ihn überkommen hat und dass er sich kurz vor seinem Rauswurf „wie von einem bösen Geist verfolgt“ 161 fühlte. Košenina weist hierbei zurecht darauf hin, dass die Ausführungen des Bauernburschen als eine umfassende Selbstentlastung zu sehen sind, denn genau diese Art der Begründung einer Straftat durch den Täter lässt sich heute noch bei straffälligen Menschen nachweisen 162 . Da Werther sich in einer ähnlichen Situation befindet, spiegeln der Mord des Bauernburschen wie auch die Begegnung mit dem verrückten Heinrich die extremen Möglichkeiten Werthers wider, die dieser hat, um die schwierige Situation aufzulösen. Auch Werther hat Mordfantasien an Albert 158 Goethe Die Leiden des jungen Werther, S. 114-121. 159 Ebd., S. 117: „Der ältere Knabe sagte ihm, es sei drüben in Wahlheim ein Unglück geschehn, es sei ein Bauer erschlagen worden! [...] Der Täter war noch unbekannt, man hatte den Erschlagenen des Morgens vor der Haustüre gefunden, man hatte Mutmaßungen: der Entleibte war Knecht einer Witwe, die vorher einen andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden aus dem Hause gekommen war.“ 160 Ebd., S. 118: „Dieser sah ihn [Werther] still an, schwieg und versetzte endlich ganz gelassen: Keiner wird sie haben, sie wird keinen haben.“ 161 Ebd., S. 95. 162 Košenina 2009, S. 191. 181 <?page no="194"?> geäußert 163 und kann daher die Beweggründe des Bauernburschen nachvollziehen. Doch er kann den Amtsmann und Albert nicht davon überzeugen, ihm bei der Flucht behilflich zu sein. Der Amtsmann hält sich nur an das Gesetz und verweist Werther darauf, dass „alles in der Ordnung, in dem vorgeschriebenen Gang“ 164 passieren muss. In dieser emotional aufgeladenen Szene repräsentiert Werther den emotionalen Aspekt einer Straftat, seine beiden Gegenüber aber das starre Gesetz, was sich nicht mit dem Täter, sondern nur der Tat auseinandersetzt. Damit ähnelt diese Passage nicht ganz ohne Grund dem einen oder anderen Bericht aus dem Pitaval. Abb. 23: Verteilung der Erzählelemente in Goethe Die Leiden des jungen Werther (1787) Die Betrachtung der Anordnung der Erzählelemente zeigt, dass Goethe der Darstellung dieser Episode vom Umfang her nur wenig Platz einräumt. Dennoch kann er ein kurzen Spannungsmoment kreieren, indem er die Tat an den Anfang stellt, aber die Aufdeckung ausspart. Verstärkt wird diese Verrätselung durch die veränderte Fokalisierung an dieser Stelle. Aufgrund der Kombination der Verrätselung mit der Täter-Opfer- Beziehung und dem Hintergrundwissen, das dem Leser bereits vorher 163 Goethe Die Leiden des jungen Werther, S. 92. 164 Ebd., S. 119. 182 <?page no="195"?> Abb. 24: Spannungsaufbau in Goethe Die Leiden des jungen Werther (1787) Hinweise zur Auflösung gegeben wurden, ist es nicht schwer zu erraten, wer der Verantwortliche ist. Dies wird dann durch Werther bestätigt. Werther erfüllt damit die Funktion der aufdeckenden Detektivfigur, ohne für die Aufklärung viel tun zu müssen. Die Kopplung der Aufklärung an eine Person und die dafür eingesetzte Fokalisierung ähnelt bereits dem modernen Detektiv, der Umfang und Aufbau der Episode ist aber nicht mit moderner Kriminalliteratur zu vergleichen. Vielmehr zeigt die Verteilung, dass diese Episode recht losgelöst vom eigentlichen Erzähltext zu betrachten ist und eher, wie schon oben erwähnt, eine Spiegelung der Handlungsmöglichkeiten Werthers ist. Die Konsequenzen der Tat werden im Gespräch mit dem Amtmann nur angedeutet, es wird Werther aber klar vor Augen geführt, dass der Täter vor ein Gericht gestellt werden muss. Besonderes Merkmal dieser Episode ist, dass Werther als freiwilliger Advocat für den Bauernburschen moderne und fortschrittliche Ansichten vertritt. Auffällig ist, dass Goethe den entscheidenden Hinweis zum Täter über die Darstellung des Täter-Opfer-Verhältnisses erzielt und diesen Hinweis bereits wesentlich früher in der Erzählung integriert, ohne ihn ausdrücklich zu markieren. Dies ist eine gängige Methode des modernen Krimis, um dem Leser Hinweise zur Lösung der Tat an die Hand zu geben. Allerdings gehört es zum Konzept, dass er diese Hinweise selbst entschlüsseln muss. Der Leser befindet sich damit auf dem selben Wissensstand wie Werther, der in dem Moment über den Täter Bescheid weiß, als nach der Tat wiederum die Beziehung zwischen Täter und Opfer kurz angesprochen wird 165 . Damit findet 165 Goethe Die Leiden des jungen Werther, S. 117: „Der Täter war noch unbekannt, man hatte den Erschlagenen des Morgens vor der Haustür gefunden, man hatte Mutmaßungen: der Entleibte war Knecht einer Witwe, die vor- 183 <?page no="196"?> sich ein modernes Konstrukt der Kriminalliteratur im „Werther“, allerdings von mikroskopisch kleinem Umfang. Abb. 25: Verwendete Erzählelemente in Goethe Die Leiden des jungen Werther (1787) Die Übersicht über die verwendeten Erzählelemente belegt, dass es hier nicht um die Befriedigung der Sensationsgier des Lesers geht, sondern diese Episode eine andere Bedeutung im Kontext einnimmt. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass auf die eigentliche Tatbeschreibung verzichtet wird, die aufgrund der Fokalisierung nur schwer integriert hätte werden können. her einen andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden aus dem Hause gekommen war.“ 184 <?page no="197"?> 5.4.2 Die moralische Dimension von Verbrechen: Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung (1795, Vf1) Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, die erstmals 1795 veröffentlicht wurden, gelten heute als „Auftakt der deutschen Novellengeschichte“ 166 . Insgesamt sieben Novellen werden hierbei von zwei Personen in einem kleinen Personenkreis erzählt. In die Rahmenhandlung dringt die politische Wirklichkeit der Französischen Revolution ein, die die anwesenden Personen durch Erzählungen für kurze Zeit vergessen wollen. Dabei greift Goethe bereits existierende Novellen auf, wandelt sie ab und ergänzt den Geschichtenfundus um eine Novelle, die der Verbrecherliteratur zuzuordnen ist, sowie um ein Märchen. Die beiden ersten Geschichten sind einer anderen populären Strömung zuzuordnen, nämlich der Schauerliteratur. Nachdem Karl zwei erotische Abenteuer erzählt hat, gibt ein Geistlicher „Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung“ 167 wieder, die als moralische Erzählung eingeordnet werden kann 168 . Der steigende Aufbau, die eigenschaftslosen Figuren 169 und die Rahmenhandlung erinnern dabei schon an die soziale Novelle, wie sie später unter anderem Ernst Dronke verfasste 170 . Auch er nutzte die Rahmenhandlung und spezielle Berufsgruppen, um einen ganz besonderen Bezug zwischen der ersten, der Erzählrunde, und der zweiten Erzählebene, den erzählten Geschichten, herzustellen. Dieselbe Erzählung wird in anderen Editionen auch als „Die Geschichte von Ferdinand und Ottilie“, „Ferdinands Schuld und Sühne“ oder „Die Geschichte von Ferdinand“ bezeichnet. Die unterschiedlichen Titel kommen daher, dass Goethe 166 Aust, Hugo: Novelle. 3. Auflage. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler, 1999. S. 67. 167 Goethe, Johann Wolfgang von: Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung. In: ders.: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH und Co., 1991. S. 67-88. 168 Aust 1999, S. 06: „In Goethes ‚Unterhaltungen‘ geht es um Geschichten, die gut erfunden und gedacht sind und die die Menschen nicht vollkommen, aber gut, interessant, liebenswürdig zeigen; überraschend für die Novellengeschichte entwickelt sich hieraus der Ehrentitel ‚moralische Erzählung‘ (und eben noch nicht ‚Novelle‘). Seitdem verbindet sich das eminente Erzählvermögen mit dem Bild der Novelle.“ 169 Ebd., S. 67. 170 Siehe dazu Kapitel 10.1. 185 <?page no="198"?> seine Novelle nicht eindeutig bezeichnet hat. Jeder dieser Titel greift einen anderen Aspekt der Geschichte auf. Da aber hier vor allem die moralische Entwicklung Ferdinands im Vordergrund steht, trifft es die Bezeichnung von Schuld und Wandlung, im Sinne einer inneren Wandlung, am besten. Der Geistliche erzählt die Geschichte eines Sohnes, welcher durch Zufall entdeckt, dass die Geldschatulle seines Vaters auf Druck an einer bestimmten Stelle immer aufspringt. Er bestiehlt von nun an seinen Vater regelmäßig, um seine Angebetete Ottilie mit teuren Geschenken zu überraschen und nutzt dabei vorsätzlich die Unordnung seines Vaters in Geldangelegenheiten aus. Der vorerst dunkle und unentschiedene Trieb 171 , wird durch die günstige Gelegenheit zum Ausbruch gebracht 172 . Die moralische Konstruktion ist an dieser Stelle deutlich zu erkennen und greift eine Konzeption vorweg, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts wichtig werden sollte. Genau diese Fragestellung spielt nämlich in der sozialen Verbrechensliteratur der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, wie beispielsweise bei Sues „Die Geheimnisse von Paris“ oder „Die Geheimnisse von Berlin“ eines anonymen Verfassers 173 . Hier gibt es Figuren, die die eigentlich durch und durch verkommene Welt um sie herum mit ihrem Verhalten spiegeln, indem sie zwar in diese Verhältnisse geboren wurden, sich aber aktiv dafür einsetzen, ihnen nicht zu unterliegen. Damit sind die Personen zwar spiegelbildlich zu Ferdinand aufgebaut, doch die Prüfung ihrer inneren Überzeugungen wird gleich gestaltet. Ferdinand wird über die interne Fokalisierung in seinen Gedanken dargestellt, er erlebt den Vater als verschwenderisch und fühlt sich gleichzeitig schlecht behandelt und mit zu wenig Geld ausgestattet. Mit diesem Konstrukt aber versucht er eigentlich nur das Bewusstsein zu verdrängen, dass er sich damit seinem Vater gegenüber schuldig macht. 171 Goethe Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung, S. 72. 172 Ebd., S. 73: „Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit zur Neigung, und jene Neigung, die wir gegen unser Gewissen befriedigen, zwingt uns, ein Übermaß von physischer Stärke anzuwenden; wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird schwer, äußerlich diese Anstrengungen zu verbergen.“ 173 Siehe dazu Kapitel 10.2. 186 <?page no="199"?> Als seine Angebetete für einige Zeit verreist ist, bekommt Ferdinand ein schlechtes Gewissen. Nun macht sich mehr und mehr der Widerwille gegen sein eigenes Verhalten breit, er fühlt sich „wie von einem bösen Geiste an den Haaren hingezogen“ 174 und beschließt dem ein Ende zu setzen, indem er seinem Vater den Defekt wie durch Zufall eröffnet und sich vornimmt, ihm so schnell wie möglich das Geld zurück zu zahlen ohne aber seine Tat zu gestehen. Goethe betont aber, dass die intrinsische Motivation, sich vom Verbrechen loszusagen, „die höchste Empfindung [ist], die der Mensch haben kann“ 175 . Kurz darauf bemerkt der Vater, dass er bestohlen wurde und spricht voller Ärger darüber mit seiner Frau. Diese nimmt nun die Funktion der aufdeckenden Detektivgestalt ein. Sie erfährt von den Geschenken, die Ferdinand Ortillen gemacht hat und will das „unglückliche Geheimnis“ 176 aufklären. Mit einer List entlockt sie dem Handelsmann Indizien, die ihren Verdacht bestätigen und stellt ihren Sohn zur Rede. Sie präsentiert ihm unwiderlegbare Indizien, woraufhin dieser alles gesteht. Doch ein Missverständnis enthebt ihn nicht vollends dem Verdacht, ein Lügner zu sein, was sich aber dann von selbst aufklärt. Die Essenz dieser kleinen Verbrechergeschichte wird an ihrem Ende auf den Punkt gebracht: Er [Ferdinand] hatte sich überzeugt, daß der Mensch Kraft habe, das Gute zu wollen und zu vollbringen; er glaubte nun auch, daß dadurch der Mensch das göttliche Wesen für sich interessieren und sich dessen Beistand versprechen könne, den er soeben unmittelbar erfahren hatte. 177 174 Goethe Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung, S. 75. 175 Ebd., S. 78: „Denn die höchste Empfindung, die der Mensch haben kann, ist die, wenn er sich von einem Hauptfehler, ja von einem Verbrechen durch eigne Kraft erhebt und losmacht. Der gute Mensch, der ohne auffallende Abweichung vom rechten Pfade vor sich hinwandelt, gleicht einem ruhigen, lobenswürdigen Bürger, da hingegen jener als ein Held und Überwinder Bewunderung und Preis verdient, und in diesem Sinne scheint das paradoxe Wort gesagt zu sein, daß eine Gottheit selbst an einem zurückkehrenden Sünder mehr Freude habe als an neunundneunzig Gerechten.“ 176 Ebd., S. 80. 177 Ebd., S. 84. 187 <?page no="200"?> Der Protagonist scheitert damit keineswegs an seinen Verfehlungen. Sein Verstand ermöglicht es ihm, einen rationalen Ausweg aus der Situation zu finden 178 . Dadurch, dass Goethe den Fokus auf den moralischen Aspekt legt, schafft er es, das Verbrechen als Prüfung zu konstruieren. Die Person Ferdinands scheint mit diesem Verbrechen zu wachsen, überhaupt scheint er erst zu lernen, wie Verbrechen generiert wird. Dadurch, dass sich der Vorfall in einem kleinen familiären Kreis abspielt, kann eine juristische Strafverfolgung entfallen, die eine solche moralische Konzeption nur schwer ermöglicht hätte. Vielmehr erkennt der Leser durch die interne Fokalisierung, dass Ferdinand nicht nur „Schuld“ auf sich lädt, sondern bereit ist, sich zu wandeln, um dieser Versuchung zu widerstehen. Nicht erst die Strafe bringt ihn dazu, und genau darin liegt der optimistisch moralische Aspekt: Er selbst schafft es, sein Unrecht zu erkennen und so zu handeln, dass die soziale Ordnung wieder hergestellt wird. Seine Strafe erlegt sich Ferdinand dann schließlich selbst auf. Er zahlt seinem Vater auch das Geld zurück, dass bloß aufgrund der Unordnung des Vaters fehlt. Denn Ferdinand leidet in gewisser Weise darunter, dass er vom Vater „eine lebhafte und gesellige Selbstbezogenheit [...], von der Mutter die Neigung zum Grübeln und den Gerechtigkeitssinn“ 179 geerbt hat. Der Zufall nimmt in dieser Erzählung eine wichtige Rolle ein. Zuerst ist er der Grund dafür, dass der Diebstahl überhaupt entdeckt wird, obwohl Ferdinand bereits dabei ist, seine Schulden zurück zu zahlen. Später ist es wiederum Zufall, dass er für ein Verbrechen angeklagt wird, was er nicht begangen hat: „Es gibt also keinerlei Zusammenhang zwischen der empirischen Welt zufälliger Ereignisse und der idealen Welt, in der das moralische Leben geführt wird das Problem des Plots in Reinkultur.“ 180 Dies stürzt den Täter in eine Krise, die er mit Gebeten zu bewältigen versucht, damit „die Welt des Zufalls und die Welt des Ideals in Harmonie“ 181 gebracht werden können. 178 Goethe Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung, S. 85: „Bei dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch bald zusammen, und die Überwindung, die ihm schon einmal gelungen war, schien ihm zum zweitenmale möglich.“ 179 Boyle, Nicholas: Goethe, der Dichter in seiner Zeit. Bd. 2, 1791-1803. C.H. Beck, 1999. S. 398. 180 Ebd., S. 399. 181 Ebd., S. 400. 188 <?page no="201"?> Diese Konzeption ist mit der Binnengeschichte verschränkt, denn die Erzählung von Ferdinand wird von einem Geistlichen erzählt. Interessant ist hierbei wieder, welche Rolle der Zufall einnimmt, und wie schließlich scheinbar transzendente Mächte dabei helfen, seine Unschuld zu belegen. Abb. 26: Verteilung der Erzählelemente in Goethe Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung (1795) Die Übersicht über die Verteilung der Erzählelemente zeigt, dass die Darstellung der Verfehlungen Ferdinands nur einen kleinen Teil des gesamten Werkes ausmachen. Dies ähnelt dabei der Verteilung in Goethes „Werther“, da auch in diesem Werk die Verbrechensdarstellung nur eine kleine Episode im Text ist. Dennoch ist der Umfang prozentual gesehen größer, denn Goethe widmet der Verbrechensdarstellung eine ganze Binnengeschichte. Der Darstellung der persönlichen Entwicklung Ferdinands wird dabei der meiste Platz eingeräumt, denn die Erzählung hat vor allem beispielhaften Charakter und konzentriert sich auf die Darstellung moralischer Aspekte. Dem Täter wird die Möglichkeit gegeben, seine Verfehlungen wieder selbst gut zu machen, indem er sich seine eigene Strafe auferlegt und dadurch einer juristischen Verurteilung entgeht. Das Rätsel betrifft in dieser Darstellung zuerst die Frage, wie er zum Täter wird, dann die Frage, wie seine Tat aufgedeckt wird. An der Übersicht über die genutzten Erzählelemente ist erkennbar, dass es sich um eine klassische Erzählung der Verbrecherliteratur 189 <?page no="202"?> handelt. Die für den klassischen Krimi typische Verrätselung der Täter-Opfer-Beziehung fehlt, ausschließlich die Divination wird von Goethe eingesetzt. Dem besonderen Verhältnis von Täter und Opfer wird der meiste Platz zugestanden. Wie schon angesprochen, wird in diesem Fall die Tat mit Selbstjustiz bestraft, bei der sich der Täter selbst seine Strafe auferlegt. Nur so kann es zu einem guten Ende kommen, eine juristische Anklage hätte den moralischen Aspekt der Erzählung aufgehoben. Abb. 27: Erzählelemente in Goethe Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung (1795) Die Aufklärung der Diebstähle wird vom Zufall in Gang gebracht, denn obwohl der Vater keinerlei Überblick über seine finanzielle 190 <?page no="203"?> Situation zu haben scheint, entnimmt Ferdinand zufällig der Schatulle eine Geldrolle mit seltenen Münzen, die später Teil der Indizienkette der Mutter werden. Die Mutter erkennt die guten Absichten und das gewandelte Verhalten ihres Sohnes und billigt es, dass der Vater nichts erfährt. Als nach diesem Konflikt der Sohn nochmals unter Verdacht gerät, scheint ihm nur noch das Gebet zu helfen, weshalb in der Übersicht auch eine transzendente Macht Teil der Aufklärung ist. Da diese Erklärung aber der gesellschaftlichen Position des Erzählers geschuldet ist und nicht explizit formuliert wird, ist dieser Teil mit einer gestrichelten Linie versehen, die auf diesen Umstand hinweist. Abb. 28: Spannungsaufbau in Goethe Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung (1795) 5.5 Öffentliche Prozesse als Mittel der Aufklärung: Theodor Gottlieb von Hippel - Ein Beytrag über Verbrechen und Strafen (1797, Vr2) Theodor Gottlieb von Hippel der Ältere wurde am 31. Januar 1741 als Sohn eines Schulrektors in Gerdauen geboren. 1756 begann er mit gerade 15 Jahren ein Theologiestudium in Königsberg und wurde bereits 1760 Hauslehrer im Hause des holländischen Justizrat Dr. Theodor Polykarp Woyt 182 . Nach einer Reise an den kaiserlichen Hof von Sankt Petersburg studierte er Philosophie bei Kant, mit 182 Wilpert, Gero von (Hrsg.): Lexikon der Weltliteratur. Bd. 1. Biographischbibliograpisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken, A-K. 3., neubearbeitete Auflage. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1997. S. 667. 191 <?page no="204"?> dem ihn später eine gute Freundschaft verband. Er wurde bald ein regelmäßiger Teilnehmer der Tafelrunden Kants, bei denen er einen Ehrenplatz hatte. Nach dem Abschluss seines Jurastudiums begann er 1765 seine juristische Karriere als Advokat und wurde 1771 Assessor am Königsberger Hofgericht. 1772 wurde er von Friedrich dem Großen zum königlichen Kriminalrat ernannt, nachdem er bereits als Kommissar in den von Friedrich eroberten polnischen Gebieten tätig gewesen war. Einige Zeit später wurde er darüber hinaus zum Direktor des Königsberger Kriminalgerichts ernannt. Als Bürgermeister und Polizeidirektor von Königsberg, zu dem er 1780 ernannt wurde, ordnete er das korrupte Verwaltungssystem neu und reorganisierte die Polizei im Sinne der Aufklärung. 1786 erhielt er den Titel „Stadtspräsident“ und wurde zusammen mit seinem Bruder und mehreren Vettern 1790 in den Reichsadelsstand erhoben 183 . Als Jurist fühlte er sich, ähnlich wie Feuerbach, in einer Doppelrolle gefangen. So musste er Urteile aussprechen, die er im Nachhinein in seinen juristischen Traktaten aus psychologischer Sicht verurteilte 184 . Bis an sein Lebensende hielt er aus Furcht vor Konsequenzen seine schriftstellerischen Tätigkeiten geheim 185 . Seine Werke, die Kirchenlieder, Romane, Lustspiele, Gedichte und philosophische Abhandlungen umfassen, zeichnen sich neben einer psychologischen Betrachtung von Verbrechern auch durch seinen Einsatz für die Rechte der Frauen aus 186 und wurden posthum von seinem Neffen Theodor Gottlieb von Hippel der Jüngere 1835 herausgegeben. Neben diesen Werken fallen besonders die „Lebensläufe nach aufsteigender Linie“ (1778) auf, in denen er sich in Form eines homodiegetischen, intern fokalisierten Erzählers in Romanform mit einer Reflektion des Schreibens auseinandersetzt. Goethe, Schiller und später Jean Paul setzten sich mit diesem Werk auseinander und ließen sich davon inspirieren. In den meisten Biographien überdeckt sein Wirken als Jurist und sein Einsatz für die Rechte der Frauen 183 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 667-668. 184 So auch in seinem 1786/ 87 verfassten und 1804 posthum veröffentlichten Werk Über Gesetzgebung und Staatenwohl. 185 Ebd., S. 668. 186 So zum Beispiel in seinen Schriften Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) und Über die Ehe (1774/ 1793). 192 <?page no="205"?> eine Erzählung, welche er als „Beytrag über Verbrechen und Strafen“ titulierte und die zwischen dem 31. Dezember 1791 187 und dem 28. März 1792 188 entstand. Bereits die ersten Seiten zeigen, dass neben der juristischen Komponente auch das Erzählerische sehr im Vordergrund steht. So wählt er die interne Fokalisierung und beschreibt am Anfang der Erzählung, wie er den Gerichtssaal verlässt, in dem gerade das letzte Urteil gegen Margarete von K- gesprochen wurde. Der folgende Bericht ist also eine große Analepse, die mit juristischen Betrachtungen verknüpft wird. Im Gegensatz zum modernen Krimi, der ebenfalls diese Technik anwendet, beginnt die Analepse aber erst nach der Verurteilung und nicht bereits nach der Tat. Somit setzt die Schilderung ganz am Ende des eigentlich zu schildernden Verbrechens ein und der Autor lässt den Leser zuerst komplett über den Tathergang, das Verbrechen und die Urteilsfindung im Dunkeln: „So bald ich frische Luft schöpfte, war der Entschluß gefaßt, Ihnen diese Scene mitzutheilen, um auch Sie - Sie mögen wollen oder nicht - in dieses Interesse zu ziehen. Es trügt mich Alles, oder Sie werden wollen.“ 189 Diese Wahl der Perspektive lässt sich auf sein schon oben erwähntes Werk zurückführen, in dem die interne Fokalisierung eine wichtige Rolle einnimmt. Als Beispiel kann hierbei eine Szene ganz zu Beginn angeführt werden, die an den späteren stream of consciousness im Stile von James Joces „Ulysses“ erinnert. Die interne Fokalisierung ist hier so ausgeprägt eingesetzt, dass man die Fragen des Soldaten, der seine Papiere überprüfen soll, nur durch die Antworten des Erzählers rekonstruieren kann: „Ich - Halt! - Ein Schlagbaum - Gut wohl recht wohl - Ein wachhabender Officier! wieder einer mit einem Achselbande zu Pferde zu Fuß von der Leibgarde von der Garde der gelehrten Republik ich ehr’ Ihre Uniform, meine Herren, und damit ich Sie der Mühe überhebe, mir die üblichen Fragstücke vorzulegen, mögen Sie wissen, daß ich, wie der Paß oder Taufschein es ausweiset, ein Schriftsteller in aufsteigender Linie bin.“ 190 Auch in diesem Werk wird diese Fokalisierung in ganz 187 Hippel Ein Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 31. 188 Ebd., S. 131. 189 Ebd., S. 03. 190 Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Berlin: Edition Holzinger, 2013. S. 05. 193 <?page no="206"?> eigenständiger Weise eingesetzt und zeigt deutlich die Transposition der ursprünglichen Informationen. Noch interessanter aber ist seine Feststellung zur Chronologie der Erzählung der Lebensläufe seines Vaters und Großvaters, die er „ Berg ab erzählen will, da wir jetzo nur Berg auf zu gehen gewohnt sind“ 191 . Diese Art der Anordnung war schon vorher bekannt, es zeigt aber, wie neue Erzählstrukturen in Textsorten angewandt wurden, die bis dahin normalerweise von einer chronologischen Anordnung gekennzeichnet waren. Dies entspricht dem modernen Kriminalroman, der ebenfalls „Berg ab“ die vorangegangene Handlung aufdeckt. Darüber hinaus wird dieser Aspekt bei der Erstellung der ersten Kriminalromane eine wichtige Rolle spielen. So beschreibt William Godwin die Arbeit an seinem Roman „Caleb Williams“ (1794) eben genau so: «J´inventai d´abord ce qui forme le troisiéme volume de mon récit, puis le second, et en dernier lieu le premier.» 192 Allerdings zeichnet sich sein kleines Werk „Beytrag über Verbrechen und Strafen“ gerade deswegen aus, dass es sich, trotz dieser Einleitung und einer starken Präsenz des Erzählers im Text, einer sachlichen Darstellung verschrieben hat und „ohne Prunk, ohne Wendung, ohne Zuthun und Abthun, ohne Ohrenbläseren, die einfachsten Facta, die eben, weil sie keinen Anstrich leiden, Wahrheit sind oder ihr am nächsten kommen“ 193 , abbilden möchte. Diese Darstellung, die einer Reporterfunktion ähnelt, soll seinem Verständnis nach „zur Sternkunde der Seelen, ich wollte Psychologie sagen, viel beytragen“ 194 . Somit fasst er den Anspruch der Aufklärer, die in diesen Texten eine Unterrichtung der Menschen sahen, treffend zusammen. Hippel plädiert dafür, dass aktuelle Fragen der Pädagogik, in der die körperlichen Strafen aus den „Dispensatorien“ ganz gestrichen werden sollen, analog auch in der Rechtssprechung erörtert werden müssen 195 . Denn, so Hippel weiter, „die Polizey hat zwey Hände: die 191 Hippel Lebensläufe nach aufsteigender Linie, S. 05. 192 Lits 1999, S. 33. Übersetzung: „Ich erfand zuerst das, was den Inhalt des dritten Band meiner Erzählung bilden sollte, dann den des zweiten und ganz am Schluss den des ersten Bandes.“ 193 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 32. 194 Ebd., S. 04. 195 Ebd., S. 05. 194 <?page no="207"?> Erziehung und die Criminaljustiz [und] die Erziehung hat ganz keinen Zweck, wenn sie nicht Strafen überflüssig zu machen beabsichtiget, die Hand indeß mag das Staatsgebilde immer behalten, nur statt des Schwerdts nehme sie das Füllhorn! “ 196 Er erörtert im Folgenden den Unterschied zwischen der Zivil- und Kriminaljustiz und betont, dass letztere ihm als Richter „Fesseln lösete, womit der Richter, vermöge einer in vielen Fällen widernatürlichen Proceßform gebunden war“ 197 . Statt dessen kann er nun die juristischen Aspekte in Einklang mit einer „auf gesunde[r] Vernunft sich gründenden Lebensphilosophie“ 198 bringen, eben genau die Grundlage eines objektiv bewertenden und der Sache verpflichteten Arbeit eines Kriminalbeamten. Der Autor steigert an dieser Stelle die Geschwindigkeit seiner Argumentation und fügt eine Anrede an den Leser ein 199 , mit der er ihn auffordert, sich selbst eine Meinung zu bilden. Nach diesen allgemeinen Betrachtungen wechselt er zu Bemerkungen, die den Richter des hier dargestellten Verfahren betreffen. Interessant ist hierbei, dass er, wie zu Beginn des Buches, nur von einer abschließenden Verurteilung der Frau spricht, aber immer noch nicht das eigentliche Verbrechen darstellt. Es ist auch an dieser Stelle sozusagen wieder eine Erzählung Berg ab mit Aussparungen von inhaltlichen Aspekten, die die Spannung erhöhen. Hippel verweist an dieser Stelle darauf, dass eine Beteiligung des Volkes an den Prozessen Grundlage für eine objektive Wahrnehmung der Verbrecher ist 200 . Da sich der Autor nun auf den Richter konzentriert, passt er auch seine erzählerische Distanz zu ihm an. Er wechselt von transponierter Rede zur Nachahmung und öffnet damit nun erzähltechnisch seinem Leser die Türen, denn nach der Verlesung des Urteils spricht die Angeklagte direkt mit dem Richter. Diese Worte, so nimmt Hippel schon vorweg, verschaffen ihm eine bessere Meinung von der Verurteilten, als bisher von ihr verbreitet wurde 201 . Interessant ist der Bezug der Worte zu den vorhergehenden Ausführungen Hippels, die 196 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 05-06. 197 Ebd., S. 08. 198 Ebd. 199 Ebd., S. 09: „Sie, mein Freund! 200 Ebd. 201 Ebd., S. 11. 195 <?page no="208"?> nun keiner weiteren Erläuterung mehr bedürfen, denn der Richter fällt sein Urteil ausschließlich aufgrund der Gesetzeslage 202 . Somit lässt der Autor die Menschen selbst unkommentiert zu Wort kommen und fügt nur eine kleine Beschreibung ihres Verhaltens hinzu. Damit entzieht er sich in gewisser Weise über die Darstellung einer direkten Bewertung der Situation, die ihm durchaus schnell zum Verhängnis werden konnte, auch wenn er seine Werke zu Lebzeiten anonym veröffentlichte. Absolut eigenständig ist die Tatsache, dass der Leser mit diesem Gespräch zum ersten Mal nun überhaupt über das eigentliche Verbrechen informiert wird. Dabei wird ihm dieses aber nicht präsentiert, sondern er muss sich aufgrund der gesprochenen Worte selbst das Verbrechen rekonstruieren 203 . Wieder spricht Hippel den Leser direkt an und verlangt ein persönliches Urteil von ihm 204 . Diese Aktivierung und Einbeziehung des Lesers ist typisch für Werke der Aufklärung, erfüllt aber nicht dieselbe Funktion wie im modernen Krimi. Vielmehr geht es hier um ein Miterleben der Situation und um das Hineinversetzen in eine Person, um die menschlichen Aspekte hinter einer Straftat zu verstehen. Nach dem Urteilsspruch stellt Hippel seine eigenen Empfindungen dar, womit er eine große Nähe zwischen Erzähler und Leser generiert 205 . Er berichtet, wie er sich dem Werk „Dei delitti e delle pene“ (1764) von Cesare Beccaria 206 widmet, auf das er sich in seinem Titel bezieht. Dieses kleine Buch, welches 1764 in Livorno erschien, setzte sich für die Aufhebung der Todesstrafe und für gerechte soziale Bedingungen ein, die Verbrechen vorbeugen sollten. Diese Lektüre bringt ihn zu eigenen Gedanken, deren „Bruchstücke“ er in einer Art innerer Monolog dem Leser auf den folgenden Seiten präsentiert und auf denen er, wie schon Beccaria, aus verschiedenen Blickwinkeln eine differenzierte Betrachtung der Todesstrafe erläutert. Hippel plädiert vielmehr für eine Wiedergutmachung, eine äußerst moder- 202 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 11. 203 Ebd., S. 11-14. Hier erinnert der Richter die Verurteilte daran, dass sie zwei Kinder getötet hat (S. 14). Wie dies geschah, wird zuerst nicht erwähnt. 204 Ebd., S. 14: „... und was sagen Sie von der Fassung dieser Person, von der viele glaubten, sie sey roh und unerzogen? “ 205 Ebd., S. 16: „...ich für meinen Theil konnte den ganzen Tag nichts mit mir im gewöhnlichen Wege der Geschäfte anfangen.“ 206 Vgl. Ebd., S. 85 und S. 95. 196 <?page no="209"?> ne Idee 207 . Ebenso verurteilt er Zwangsarbeit, „Fälle, wo man den Verbrecher zwar nicht sterben, wohl aber mehr als sterben lässt“ 208 . Er sieht in dieser Form der Staatsgewalt das Problem, dass es das Volk an die Grausamkeit gewöhnt, es gleichsam abstumpft und das Individuum sich nur noch aufgrund von Zwang scheinbar integer verhält. Dabei ist es wichtig, durch klare Abstufung der Strafen eine adäquate Bewertung der jeweiligen Übertretungen vorzunehmen. Nur da, wo das theure Leben des Menschen (etwas höheres kennen wir nicht) vom Gesetz und vom Staat in Ehren gehalten wird, respectirt selbst der unaufgeklärteste Theil der Staatsbewohner sein eigenes Leben, weil er zu seiner Selbstschätzung durchaus einen in die Sinne fallenden Maßstab haben muß. [...] Läßt der Staat seinen Bürgern merken, daß er das schreckliche Recht des Schwerdts nicht anders als die übrigen Geschäfte verwalten lasse, und daß ihm etwa eine Steuereinhebung von einem eben so großen Belang sey, als die Vollstreckung eines Todesurtheils, so verwirrt er die Begriffe, und man weiß nicht, wie man mit ihm daran ist. 209 Auch Schiller äußert sich ähnlich im 4. Brief seines Werkes „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Er möchte aufgrund der Förderung der moralischen Entwicklung jedes Einzelnen die Gesellschaft von einem „Staat der Not“ in einen „Staat der Freiheit“ 210 207 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 22-23. Vgl. dazu Mühlfeld, Stefanie: Mediation im Strafrecht: Unter besonderer Berücksichtigung von Gewalt in Schule und Strafvollzug. Schriftenreihe: Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft. Frankfurt a. M.: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002. S. 137 f.: Hierunter wird heutzutage im juristischen Sinne der „Ausgleich der Folgen der Tat durch eine freiwillige Leistung des Täters“ bezeichnet. Es geht darum, durch „Ausgleich der Tatfolgen“ den Rechtsfrieden wieder herzustellen. „Anders als bei der Mediation wird der durch die Straftat entstandene Konflikt zu Gunsten der Wiederherstellung des Rechtsfriedens in den Hintergrund gerückt.“ 208 Ebd., S. 23. 209 Ebd., S. 25-26. 210 Schiller, Friedrich (Autor); Reble, Albert (Hrsg.): Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Vierter Brief. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 1960. S. 09-12. Hier: S. 12. 197 <?page no="210"?> verwandeln. Solange der Mensch wie ein „Barbar“ 211 handelt, so zerstören die eigenen Grundsätze die Gefühle. Handelt er wie ein „Wilder“ 212 , so sind es die Gefühle, die seine Grundsätze zunichte machen. Hippel sieht diese moralische Lehrfunktion eben auch beim Staat. Er muss den Menschen sowohl zu einem eigenständigen Charakter erziehen, wie auch, im damaligen Sinne, aufklären. So entfaltet sich eine Wechselwirkung zwischen Volk und Politik. Auch wird die Gesellschaft darauf bestehen, Verbrechern die Möglichkeit einer Rehabilitierung zu geben. Für das Gegenteil findet er aber drastische Worte. Je aufgeklärter das Volk ist, je mehr besteht es auf ein Strafsystem, welches den doppelten Zweck unzertrennlich verbinde, den Schuldigen zu strafen und zu bessern - Wer sich herausnimmt, zu behaupten, ein Haufen entnervter Sclavenseelen sey leichter in Ordnung zu erhalten, irrt sich - mit jenem ädlen Volke ist, wenn man es menschlich behandelt, alles auszurichten, Sclavenseelen dagegen rührt nichts, und leider! das Beßte ist, sie wie Würmer zu zertreten [...]. 213 Es ist ihm daher ein großes Anliegen, dass zwischen Verbrechen und Strafe ein ausgeglichenes Verhältnis herrscht, das, was heute im Strafrecht unter dem Begriff „Verhältnismäßigkeitsprinzip“ bekannt ist 214 . Humboldt verweist in seinem Werk „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1792) darauf, dass der menschliche Charakter durch zu starke Beeinflussung von Außen, wie etwa zu starre staatliche Gesetze und Verordnungen, nicht moralisch besser wird, sondern dass es ihm eher schadet. Somit distanziert er sich davon, dass sich der Staat für das physische oder moralische Wohl der Bürger zu verantworten hat. Für ihn ist es ausschließlich eine Instanz, die die Bürger gegen Feinde von Außen verteidigen und Eigentum, Freiheit und Sicherheit garantieren muss. 211 Schiller 4. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 12. 212 Ebd., S. 11. 213 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 28. 214 Ebd., S. 25: „Ein Gesetz, das die Natur der Strafe nicht mit der Natur des Verbrechens ins Gleichgewicht und in die genaueste Verbindung bringt, schadet anstatt es helfen sollte [...].“ 198 <?page no="211"?> Dies bezeichnet er als „negative Rechte“. Allerdings ist für ihn die Bildung die unverzichtbare Grundlage, um dem Bürger diese Freiheit zu ermöglichen und nur das Zeitalter der Aufklärung kann, seiner Meinung nach, dies leisten 215 . Diese und ähnliche damit verbundene Argumentationen führt Hippel im Folgenden fort und beendet seine „Ideenbrocken“ 216 mit einer direkten Anrede an den Leser. Er stellt nun bewusst die Lebensgeschichte der Angeklagten in der Erzählung vor juristische Aspekte 217 , allerdings mit einem Hinweis darauf, dass er möglichst sachlich berichten möchte, damit nicht „die Einbildungskraft an der Ausführlichkeit Theil nimmt“ 218 . Der Schriftsteller steht in seinem Handeln und Darstellen konträr zur Arbeit eines Richters, denn das, „was [der Schriftsteller] bey der Sache, die er darstellen will, nicht findet, borgt er oft aus sich selbst“ 219 . Damit formuliert er die Tatsache, dass sich eine gewisse Literarisierung nicht vermeiden lässt. Hippel wünscht sich manchmal sogar, dass es den Richtern aufgegeben werden sollte, über einen Verurteilten „eine moralische Zeichnung“ zu verfassen und weiß im selben Augenblick, dass es ein Wunsch ist, „den ich von Herzen wegen that und von Rechts wegen aufgab“ 220 . Da er aber eben nicht der Richter ist, der diesen Fall zu entscheiden hat, folgt nun im weiteren Verlauf die Lebensgeschichte der Margarethe von Ka—, die er den gerichtlichen Akten entnommen hat, diesmal Berg auf und unverschlüsselt erzählt. 215 Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Leipzig: Philipp Reclam jun., circa 1885. S. 18: „Nun aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handlenden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht. Ebenso sind die Mittel, durch welche die Reform zu bewirken stände, einer fortschreitenden Bildung, wenn wir eine solche annehmen, bei weitem angemessener.“ 216 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 31. 217 Ebd., S. 32. 218 Ebd., S. 33. 219 Ebd. 220 Ebd., S. 34. 199 <?page no="212"?> Wie schon weiter oben erwähnt, zeichnen sich die beiden vorangehenden Erzählpartien vor allem dadurch aus, dass sie eine gewisse logische Fähigkeit des Lesers voraussetzen, da der Autor nicht das Geschehen darstellt, sondern nur kurze Ausschnitte möglichst distanziert und unkommentiert wiedergibt, aus denen sich der Ablauf des eigentlichen Verbrechens rekonstruieren lässt. Hippel bricht damit die klassische Konstruktion auf und kommt von der Theorie zu einem praktischen Fall, sonst geht die juristisch-anthropologische Literatur genau den entgegen gesetzten Weg. Es ist die Lebensgeschichte der zweifachen Kindsmörderin Margarethe von Ka—, die 1761 geboren wird. Mit 23 Jahren ist sie das erste Mal unehelich schwanger und verbirgt diese Schwangerschaft bis zur Geburt vor ihrer Mutter. Da sie zusammen mit vier Dienstmägden in einem Zimmer schläft, entdeckt eine davon, dass die Geburt kurz bevorsteht und lässt sich nicht davon abbringen, ihr zusammen mit einer weiteren Dienstmagd dabei zu helfen. In einer Szene gestaltet Hippel das sich ankündige Unheil durch das Bild eines Messer, dass sich Margarethe von der Dienstmagd ausleiht. Nach einem kurzen Spannungsmoment nutzt sie dieses aber nur dazu, die Nabelschnur zu durchtrennen. Margarethe bringt das Kind in der Nähe des Hauses zur Welt und möchte es direkt nach der Geburt töten 221 oder zumindest vom Haus fernhalten. Durch die Schreie des kleinen Kindes wird die Mutter Margarethes wach, die, nachdem sie alles erfahren hat, das Kind in Leinwand wickeln lässt und mit unverbundener Nabelschnur in einem mit Pelz ausgeschlagenen Kasten „ohne Pflege und Wartung“ 222 in ihrem Zimmer lässt. Am Morgen wird es auf ihren Befehl in einen Pelz gewickelt und in ein kaltes Zimmer gebracht, in dem es ohne Pflege und Nahrung verbleibt und am Abend verstorben ist. Die Mutter des Kindes vergräbt es, ohne jemanden davon zu unterrichten, an der Stelle, an der sie es bereits am Vorabend töten wollte. Da das 221 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 36: „Zwar gab die unglückliche Mutter sich alle Mühe, Barben, welche das Kind sogleich ins Zimmer tragen wollte, von diesem Gedanken abzuleiten, sie öffnete den Garten, warf sich auf die Erde und hielt mit der einen Hand das Mädchen zurück, mit der andern scharrte sie die Erde auf, „hier, Barbe, sagte sie, leg das Kind hin,“ duch wußte Barbe dieser rührenden Bitte [...] zu widerstehen [...].“ 222 Ebd., S. 38. 200 <?page no="213"?> Kind an einer Erkältung gestorben ist, so die Gutachter, wird die Mutter zu acht, die Tochter zu sechs Jahren Festungshaft verurteilt. Durch Hippels distanzierte Darstellung werden, wie schon zuvor, zwischen den Zeilen Verhältnisse sichtbar, die auf ein zerrüttetes Verhältnis zwischen Mutter und Tochter schließen lassen, aus dem sich die Unfähigkeit Margarethes erschließt, selbst eine fürsorgliche und liebende Mutter zu sein. Dies wird aber vom Autor eben nicht erörtert, da es wohl bereits schon die Schwelle berührt, an der die juristische Darstellung zu der eines Schriftstellers wird. So bleibt es nicht bei diesem Unglück: „Leidenschaft wird durch Hindernisse verstärkt, und gewinnt durch Strenge mehr Vorschub zum Ausbruch, so, daß sie so leicht keine Riegel abschreckend zu finden gewohnt ist.“ 223 In der Haft führt eine Liaison mit dem Fähnrich von J— zu einer erneuten Schwangerschaft, die sie, auch auf seine Nachfrage hin, aber vor ihm geheim hält. Da sie selbst auf die Frage des Fähnrichs ihre Schwangerschaft leugnet, scheint hier wiederum der Weg vorgezeichnet zu sein. Sie flüchtet aufgrund der einsetzenden Geburtswehen von einem Treffen mit ihrem Liebhaber und gebiert, da sie es nicht mehr in ihre Arrestwohnung schafft, im Garten davor. Das Kind bringt sie direkt in einer Grube zur Welt, sodass sie Geburt und Begräbnis in einem vollzieht. Die entsetzliche Tat verdrängend verbringt sie danach sogar noch zwei Stunden bei ihrem Liebhaber, allerdings bemerkt dieser Blutflecken und stellt sie kurz darauf zusammen mit dem Leutnant. Nach einiger Zeit gesteht sie und wird noch in derselben Nacht vernommen. Die Untersuchung der Ärzte bescheinigt, dass das Kind noch lebte und erstickt wurde. Dies, und dass sie den Vorsatz hatte, ihr Kind zu töten, wird von der Mutter aber bestritten. Das ursprünglich ausgesprochene Urteil des Stäupen und der lebenslangen Festungshaft wird in eine Todesstrafe abgewandelt. Im Folgenden zieht sich nun der Erzähler fast ganz auf eine heterodiegetische Position zurück, die seiner reinen Akteneinsicht geschuldet ist. Er beschreibt die verschiedenen Instanzen, die nun im weiteren Verlauf immer wieder zwischen Festungshaft und Hinrichtung zaudern, da die Angeklagte von ihren Rechten Gebrauch macht und immer fester darauf insistiert, dass das Kind bereits 223 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 39. 201 <?page no="214"?> tot war. Schließlich unterzeichnet der König das in die Todesstrafe abgeänderte erste Urteil. Wiederum spricht Hippel den Leser an 224 , um einen weiteren Abschnitt zu eröffnen, in dem er auf den folgenden Seiten besonders auf die Uneinigkeit des Hofhalsgerichts in Königsberg und der Kriminaldeputation des Kammergerichts in Berlin eingeht, die nur seine zuvor bereits ausgeführten Betrachtungen anhand eines realen Falls widerspiegeln und damit die Frage erörtern: „Sollte man Verbrechen, die um der Schande auszuweichen, begangen werden, überhaupt durch den höchsten Grad der Schande bestrafen? “ 225 Es folgt ein großer Abschnitt mit juristischen Überlegungen, Beispielen und Erörterungen 226 , die in der abschließenden Schilderung des Lebensendes Margarethes münden und so ein Rahmenkonzept bilden. Betrachtet man beispielweise eine typische Darstellung im „Pitaval“, so ist diese meist in einen ersten Erzählteil und daran anschließende juristische Erläuterungen getrennt, die nur äußerst selten miteinander vermischt werden. Doch Hippel verknüpft diese beiden Bereiche, abgesehen von den ausführlichen juristischen Überlegungen im Mittelteil, ändert die Reihenfolge und hebt sich ein retardierendes Moment für den Schluss auf, was die Nähe der Verbrechensliteratur zur Tragödie belegt. Das Ende wartet erzähltechnisch mit einer Überraschung auf, denn eine weitere Person setzt alles daran, das nun gefundene Urteil umzustoßen. Der Autor wechselt an dieser Stelle ohne Vorstellung der Umstände zu dem Bericht über den polnischen Kommissar von S-, der nach Berlin reist, um durch eine Heirat die Angeklagte noch vor dem Tod zu retten. Da ihm dies vom König verwehrt wird, der hier in Form eines Briefes an den Staatsminister von Goldbeck zitiert wird, beginnt er an der Prozessführung zu zweifeln und behauptet erst, dass die Angeklagte in einer ihr fremden Sprache verhört worden 224 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 46: „Muß ich nicht zuvor Ihrer Erklärung entgegen sehen, ob ich sie durch diese juristische Geschichtserzählung, wo nicht völlig, so doch mehr als durch seinen Vorgänger befriedigt habe? Von einem so rechtserfahrnen Manne, wie Sie, war mir die Bemerkung unerwartet [...].“ S. a. ebd., S. 47: „Sie haben recht, [...].“. 225 Ebd., S. 48. 226 Ebd., S. 46-115. 202 <?page no="215"?> wäre und sie der deutschen Sprache gar nicht mächtig sei. Der Dolmetscher sei darüber hinaus nicht des Dialektes mächtig gewesen, den die Angeklagte spricht. Ebenso, und hier fügt Hippel ein, dass er dieses Argument zuerst hätte nennen sollen, „weil der nichts beweiset, welcher zu viel bewiesen hat“ 227 , sei sie geistesgestört. Dies aber ist auch das Problem des Gerichts, welches sich nur auf die Akten bezieht und darüber hinaus keine Verteidigung der eigenen Urteile gegen einen offensichtlich verzweifelten Menschen anstrebt. Hippel aber zählt mehrere Punkte auf, die das Gericht entlasten und wendet sich hoffnungsvoll an den Leser: „...und auch Sie, mein Freund! werden mir beytreten [...].“ 228 Schlussendlich versucht er Margarethe noch dazu zu bewegen, all ihre Aussagen zu widerrufen. Da dies aber aufgedeckt wird, flieht er am Ende und so hat er der Angeklagten nur ein längeres Warten auf ihren Tod eingehandelt. Auch dies ist eine Kritik an den zu langen Verwaltungswegen und der Todesstrafe an sich, die den Verurteilten warten lässt und unnötig quält. Hippel berichtet in diesem Zusammenhang, dass es in Berlin sogar möglich ist, den Angeklagten als Privatperson jederzeit zu besuchen, was in manchen Fällen zu Menschenmassen führt, welche die Unglücklichen wie Tiere behandeln. Ganz zum Schluss seines Berichtes und kurz vor ihrem Tod gibt Margarethe zu, dass das Kind gelebt hat. Der Autor hat diese Information also bewusst bis zum Ende zurück gehalten und schließt den Bericht mit den Worten: „Man ist fleißig zum Grabe der von Ka— auf den katholischen Kirchhof gegangen, als ob man sagen wollte, du mustest sterben, doch! schade daß du todt bist.“ 229 Es ist an der Verteilung der Erzählelemente deutlich erkennbar, dass Hippel eine abwechslungsreiche Erzählung vorlegt, die aber dennoch den juristischen Aspekten ausreichend Platz zugesteht. Dabei steigert er den Umfang der rechtlichen Betrachtungen sukzessiv, um den Leser nicht zu überfordern. Auffällig ist, dass die Erzählung mit der Darstellung der Konsequenzen beginnt und in Form mehrerer Analepsen die Geschehnisse aufdeckt. So wird Spannung erzeugt, da auch hier wieder die Divinationsfähigkeit des Lesers geprüft wird. Hierbei geht es konkret um die Frage, was die Frau verbrochen und 227 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 119. 228 Ebd., S. 123. 229 Ebd., S. 134. 203 <?page no="216"?> wie sie die Tat ausgeführt hat. Analog zu whodunit und whydunit könnte dies als howdunit bezeichnet werden. Abb. 29: Spannungsaufbau in Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen (1797) Abb. 30: Verteilung der Erzählelemente in Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen (1797) Das Erzählschema, welches diesem Werk zugrunde liegt, ist durch eine vielseitige Abwechslung zwischen szenische Darstellungen, die die Distanz zwischen dem Text und den Geschehnissen bis hin zum Blick der Angeklagten auflösen, und Betrachtungen der bereits oben dargestellten juristischen Aspekte aus verschiedenen Blickwinkeln gekennzeichnet. Dabei fällt besonders auf, dass Hippel wesentlich 204 <?page no="217"?> empathischer als seine Kollegen die juristischen Fragen erörtert, den Leser direkt mit einbezieht, teilweise in seiner Lektüre aufweckt und dessen Fragen scheinbar antizipiert, beziehungsweise ihn mit rhetorischen Fragen konfrontiert. Deren Bezug zum dargestellten Verbrechen muss zwischen den Zeilen herausgelesen und vom Leser selbst geleistet werden. Dadurch ergibt sich eine vielschichtige Verwendung der einzelnen Elemente, die den Text trotz des Themas spannend und unterhaltsam machen. Man erkennt deutlich im Balkendiagramm, dass mit den Konsequenzen der Taten begonnen wird, bevor überhaupt klar ist, welche Tat der Verurteilung zugrunde gelegt wird. Hippel steigert den Umfang der juristischen Betrachtungen sukzessiv, womit er den Leser nach und nach an die juristischen Aspekte heranführt, ohne ihn damit zu zu überfordern. Diesen Anspruch formuliert er auch ausdrücklich im Text in Form von Appellen an den Leser 230 . Zwischen diesen immer länger werdenden Ausführungen informiert er ihn mit dem Bericht über den Tathergang und die Gründe für die beiden Kindsmorde. Dieser interessante Text ist nicht nur ein Plädoyer für das Öffnen der Türen im Gerichtssaal, es ist auch ein Appell an die Herzen der Richter, die er kommentarlos, aber aufgrund ihrer Handlungen treffend beschreibt. Sein Hadern, sein Zweifeln und seine Vorschläge zeigen, wie ihm ein individueller und adäquater Umgang mit Verbrechern am Herzen lag und wie ihn die gängigen Praktiken belasteten. Es ist damit die Darstellung der persönlichen Empfindungen eines Rechtsgelehrten 231 , der sich für ein menschenwürdiges Rechtssystem einsetzte. In seinen Argumenten lässt sich der Stand der damaligen Diskussion über Reformen des Rechtssystem deutlich erkennen. Durch seinen Stil verdeutlicht er, dass manchmal nicht nur die Fakten von Bedeutung sind. Denn dieser Text ist zwar ein juristischer, aber weit entfernt von der Sachlichkeit, mit der so mancher Richter Urteile über Schicksale fällt, die er nicht versteht oder 230 Z.B. Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 31-32: „Vorjezt nichts weiter von diesen Ideenbrocken, statt deren Sie, wie ich fast fürchte, lieber etwas von der Lebensgeschichte der von K—gelesen haben würden. [...] Dacht ichs nicht! und freylich verdienet die Geduld, die Sie mit meiner Herzergießung gehabt, Erkenntlichkeit.“ 231 Vgl. z.B. ebd., S. 131: „Auch ein Zug, der mir von der von Ka- gefällt.“ 205 <?page no="218"?> nachvollziehen möchte. In dieser Darstellung spiegeln sich ungelöste Fragen und oberflächliche Urteile, die dem Zwist der Instanzen untereinander geschuldet sind. Dadurch entwickelt der doch stellenweise recht trockene Erzählstoffeine ganz bemerkenswerte Dynamik, die, getragen von einer poetischen und lebendigen Sprache, zu einer ausgefallenen Form der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur verschmilzt. Es lassen sich hier ganz andere Techniken des Spannungsaufbaus erkennen, welche durch Ellipsen, Pausen und Einschübe erzeugt werden. Es ist nicht das Modell, in dem das Wissen des Lesers mit dem des Erzählers konkurriert, aber er muss mitraten, sich Gedanken machen, Bezüge herstellen und Lücken füllen, die der Autor ganz bewusst offen lässt. Damit lässt sich bereits hier eine bewusste Einbeziehung des Lesers nachweisen, die dadurch erreicht wird, dass er eigene Schlüsse ziehen und Beziehungen herstellen muss. Der Grund ist sicherlich ein anderer, als der, warum sich diese Technik auch im modernen Krimi finden lässt. Hier geht es um die Idee der Aufklärung, mit Literatur die geistigen Kräfte des Lesers anzuregen und zu fordern, dort um den Einsatz dieser Kräfte für die unterhaltsame Lösung eines Rätsels. Insgesamt führt er diesen Aufbau wie einen Briefwechsel mit dem Leser durch 232 , um die Nähe zwischen dem Erzählten und dem Leser noch zu verstärken. Was mit den hier eingesetzten Darstellungsmethoden nicht aufgezeigt werden kann, dennoch aber kurz Erwähnung finden sollte, ist die eigenständige Nutzung verschiedener Erzählebenen und Erzählhaltungen. Das Werk beginnt mit der szenischen Beschreibung des Momentes, als der Autor nach Verkündung des endgültigen Urteils wieder auf die Straße tritt. Er ist in diesem Moment Teil der Erzählung und als Beobachter des Prozesses ein homodiegetischer Erzähler. Doch im weiteren Verlauf tritt er zurück und muss auf die Ebene eines heterodiegetischen Erzählers wechseln, da er Dinge und Erlebnisse beschreibt, die er nicht selbst erlebt hat. Um diese Diskrepanz zwischen den beiden Erzählhaltungen nicht zu stark werden zu lassen, unterbricht er im weiteren Verlauf öfter seine Ausführungen, um den Leser direkt anzusprechen und sozusagen diese Ebene, die das Werk eröffnet, dennoch fortzuführen. So strukturiert er die 232 Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen, S. 131: „Sie wissen schon aus dem Anfange meiner Briefe ...“ 206 <?page no="219"?> vielfältigen Wechsel zwischen der Erzählebene seiner Ausführungen und der Darstellung des Lebens sowie der Verurteilung der Täterin. Dies verdeutlicht auch die Übersicht über die verwendeten Erzählelemente. Ebenso kann man hieran gut erkennen, dass Hippel das gesamte Themenspektrum nutzt, um die Gründe einer Täterschaft zu erläutern. Abb. 31: Verteilung der Erzählelemente in Hippel Beytrag über Verbrechen und Strafen (1797) 207 <?page no="220"?> 5.6 Auf dem Weg zum modernen Rechtsstaat: Paul Johann Anselm von Feuerbach - Merkwürdige Verbrechen (1808-1849) Paul Anselm Ritter von Feuerbach begann 1792 ein Studium der Philosophie, doch diesem „sokratischen Beruf, zu dem man reich oder ein freiwilliger Bettler sein muß“ 233 , musste bald ein Studium der Rechtswissenschaft Platz machen, da seine Affaire mit Wilhelmine Tröster ein Kind hervorbrachte, dass ihn zur Heirat und zum Geldverdienen zwang. Dennoch empfand er zuerst keine besondere Begeisterung für die Rechtswissenschaften, wie er in seinem „Versuch einer Selbstdarstellung“ (1833) kurz vor seinem Tod äußert 234 . Er schloss 1798 seine Studien an der Universität von Jena mit einer „Untersuchung über das Verbrechen des Hochverrats“ ab. Nach seiner Arbeit als Privatdozent nahm er 1801 eine außerordentliche Professur an der Universität Jena an, wo er als Schöffe arbeitete, ging 1802 an die Christian-Albrechts-Universität in Kiel und wiederum 1804 an die Universität Landshut. Hier wurde ihm der Auftrag erteilt, einen Entwurf des bayrischen Strafgesetzbuchs zu erarbeiten, an dem er mehrere Jahre arbeitete. Seit Feuerbach (1801) gilt das anerkannte Prinzip rechtsstaatlicher Kriminalpolitik „nullum crimen sine lege“ 235 . Seine modernen Vorstellungen von einer angemessenen Rechtsprechung zeigten sich deutlich in seinem „Entwurf zur Abschaffung der Folter“ aus dem Jahr 1806, in dem er schonungslos die Missstände in der bayrischen Kriminaljustiz darlegte. Erst 1813 stellte er das neue „Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern“ fertig, das über die Landesgrenzen hinaus eingesetzt wurde. Darin war unter anderem die förmliche Abschaffung der Folter festgelegt und generell 233 Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Versuch einer Selbstdarstellung. In: ders.: Merkwürdige Verbrechen. Frankfurt a. M.: Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, 1993. S. 383-402. Hier: S. 385. 234 Ebd., S. 384: „Denn ich empfand zu jener Zeit noch einen so heftigen Widerwillen gegen die Rechtswissenschaften, von dem ich mich offen gestanden noch heute nicht ganz frei gemacht habe, daß es mir undenkbar erschien, wie einer sich gerne mit dieser trockenen, an das Tatsächliche gehefteten Gelehrsamkeit befassen mochte.“ 235 Kaiser 1997, S. 132. 208 <?page no="221"?> die Strafpraxis menschlicher gestaltete. Darüber hinaus arbeitete er 1807 den „Code Napoléon“ in ein bürgerliches Gesetzbuch für Bayern um. Dieses wurde zwar in Teilen veröffentlicht, trat aber nie in Kraft. 1812 führte er zusammen mit zwei weiteren Juristen eine Redaktion des „Code Maximilaneus“ durch. Die kritische Grundhaltung eines Philosphen verband Feuerbach in seinen Werken immer wieder mit juristischen Fragen, wie zum Beispiel in „Anti-Hobbes oder über die Grenzen höchster Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn“ (1798). Dies führte schon zu Beginn seiner Karriere zu Auseinandersetzungen mit dem Staat und seiner Familie. Sein angespanntes Verhältnis zu seinem Vater, dem er seine Heirat lange verschwieg und der ihn in seinem zweiten Studium nur widerwillig mit etwas Geld unterstützte, besserte sich, als er nach „mehreren Hungerjahren“ 236 als Dozent der Rechtswissenschaften in Jena eine Stelle an der Universität Kiel erhielt. Die dort verbrachten knappen drei Jahre bezeichnete er rückblickend als „die glücklichste oder doch wenigst unglückliche Periode“ 237 seines Lebens. Obwohl er eigentlich nicht Jurist sein wollte, so empfand er inzwischen eine gewisse Neigung für seinen neuen Beruf. Aus „dem Drang, eine größere Rolle zu spielen“ 238 , wechselte er an die kurfürstlich bayrische Universität zu Landshut. Da er sich im Vergleich zu Kiel in Bayern extrem unwohl fühlte, versuchte er dies mit einem erhöhtem Arbeitspensum zu kompensieren. Zu seinen wenigen Freunden gehörte in dieser Zeit Elisa von Recke, die unter anderem durch ihr Werk über die Machenschaften von Cagliostro bekannt wurde 239 . Er veröffentlichte in dieser Zeit das Lehrbuch des deutschen Rechts, überarbeitete das Strafgesetzbuch Bayerns und setzte sich hierbei erfolgreich für die Abschaffung der Folter ein, wandte sich gegen qualvolle Todesarten, Verstümmelungen und Brandmarken und versuchte, leider erfolglos, das Hinrichten durch den Strang durch die Guillotine zu ersetzen. Wie schon Hippel 236 Feuerbach Versuch einer Selbstdarstellung, S. 385. 237 Ebd., S. 387. 238 Ebd. 239 Recke, Charlotta Elisabeth Konstantina von der: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen. (1787). Siehe dazu Kapitel 6.3. 209 <?page no="222"?> forderte er eine Abstufung der Bestrafungen und die Angemessenheit derselben, um der Willkür der Richter Grenzen zu setzen. Richtiges Ebenmaß der Verbrechen und der Strafen ist das zweite Haupterfordernis der Strafgerechtigkeit. Und schließlich darf meiner Ansicht nach eine Gesetzgebung nicht die richterliche Willkür begünstigen oder möglich machen, muß aber dem vernünftigen richterlichen Ermessen innerhalb bestimmter Grenzen die gehörige Freiheit lassen, wie dies alles von mir beobachtet worden ist. 240 Auch die Öffentlichkeit der Rechtsprechung wurde von Feuerbach durchgesetzt. Die immerwährenden Anfeindungen und die Ablehnung seiner Überarbeitung des „Code Napoléon“ zehrten an seinen Kräften und aufgrund seines Engagements für die Befreiung Europas von der Herrschaft Napoléons wurde sein Schreiben unter Zensur gestellt. Er schaffte es schließlich mit Hilfe eines Fürsprechers, Bayern zu entkommen und in Bamberg Anstellung zu finden. Dort fand er die Zeit, einige der spektakulären Fälle zu Papier zu bringen, die ihm in seiner Laufbahn bereits begegnet waren 241 . Nach drei Jahren in Bamberg wechselte er nach Ansbach, wo ihm der „merkwürdigste Kriminalrechtsfall in allernächster Nähe“ 242 in Form des Findlings Kaspar Hauser begegnete, der nach dem ersten Mordanschlag zusammen mit Philip Henry Earl Stanhope von ihm betreut wurde. Seine Recherchen über die Herkunft des Kindes machten ihn wiederum zu einer Zielscheibe der Politik, heute gilt seine sogenannte Erbprinztheorie aufgrund von Gentests als nicht haltbar. An seinem 240 Feuerbach Versuch einer Selbstdarstellung, S. 390. 241 Ebd., S. 394: „Als langjähriger Begutachter der Gnadengesuche, die vor den König kamen, hatte ich Gelegenheit gehabt, verschiedene merkwürdige Kriminalrechtsfälle kennen zu lernen. In meiner neuen Eigenschaft qua Appellationsgerichtspräsident fand ich Muße und Gelegenheit, diese Sammlung fortzusetzen. Hatte ich die ersten merkwürdigen Fälle nach Art der Causes célèbres et intéressantes des alten französischen Rechtsgelehrten Pitaval bereits in München herausgegeben, so ließ ich nun von meiner neuen Wirkungsstätte eine Fortsetzung unter dem Titel Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen in zwei Bänden erscheinen.“ 242 Ebd., S. 395. 210 <?page no="223"?> zweiten Sohn musste er später zusehen, wie ein Unschuldiger wegen angeblicher demagogischer Umtriebe verhaftet wurde und sich zweimal in den insgesamt 14 Monaten Haft versuchte das Leben zu nehmen 243 . Bei seinem Tod hinterließ er 1833 acht Kinder, von denen ganz besonders der Philosoph Ludwig Andreas Feuerbach bekannt wurde. Interessanterweise veröffentlichte Feuerbach einen seiner ersten Texte in Meißners Monatsschrift „Apollo“, die in recht unregelmäßigen Abständen in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts erschien, denn inhaltlich lag das Hauptaugenmerk der Zeitschrift auf „Mannichfaltigkeit und Nutzbarkeit“. Die Aufsätze beschäftigten sich mit den „schönen Wissenschaften, der Naturkunde und der Geschichte [...], weswegen es auch den Namen Apollo trage, der als Musengot, als Arzt, und als Augur Vorsteher dieser Wissenschaften sey, und als Lenker des Sonnenwagens einen wichtigen Einfluss auf alles habe, was periodisch sey“ 244 . Feuerbachs Vita gibt nur ansatzweise Aufschluss über die vielschichtige und moderne Persönlichkeit Feuerbachs. Dazu können zwei weitere Texte herangezogen werden, die Feuerbach selbst verfasste: die „Selbstdarstellung“ (1795) als zwanzigjähriger 245 und optimistischer Mensch, die seinem kritischen „Versuch einer Selbstdarstellung“ (1833) gegenübersteht, den er kurz vor seinem Tode verfasste. Am Beginn seiner Karriere offenbart er sich als Mann mit hohen Zielen und großen Ansprüchen an sich selbst: „Ich will immer besser werden, ich will mich des hohen Namens: Mensch würdig machen, und, um dies ausführen zu können, muß das: Erkenne Dich selbst 243 Feuerbach Versuch einer Selbstdarstellung, S. 398: „Abgezehrt und totenbleich, die Gesichtszüge entstellt, den Blick noch irr und wild, mit geschwollenen Füßen und lahmer Hüfte erhielt ich ihn endlich wieder, nachdem entschieden worden war, daß nichts gegen ihn noch dazu vorliege, das seine Verhaftung hätte rechtfertigen können. Nebenbei bemerkt, nachdem man ihn volle vierzehn Monate wie einen Mörder und Räuber behandelt und an Gemüt und Leib zum Krüppel gemacht hatte.“ 244 Schütz 1795, S. 26. 245 Im Text selbst aber gibt er an, dass er „schon 18 Jahre alt“ (Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Selbstdarstellung. In: ders.: Merkwürdige Verbrechen, S. 379-382. Hier: S. 380.) ist. Daher muss der Text mindestens auf 1794 datiert werden. 211 <?page no="224"?> der Führer auf meinem Weg zur Tugend sein.“ 246 Er bekennt sich dazu, dass er „von Natur [...] einen großen Hang zu allen Arten des Lasters“ 247 hat und seinen „überwiegenden Hang zum Bösen“ 248 nur durch sein „besseres Selbst“ 249 in Schach halten kann. Dabei ist es vor allem sein Jähzorn, der ihn so ergreifen kann, „daß ich mich kaum enthalten kann, mit tödtlichen Waffen auf meinen Gegner loszugehen“ 250 - erstaunliche Geständnisse eines der größten Juristen des 19. Jahrhunderts. Dennoch formuliert er damit bereits früh die moderne Erkenntnis der Psychologie, dass in jedem Mensch die Anlage verankert ist, schlechte Dinge zu tun und beispielsweise zu einem Mörder zu werden 251 . Der gesunde Mensch aber besitzt eine ausreichend große Hemmschwelle, die ihn davon abhält, diesen niederen Beweggründen nachzugehen. Ein Verbrecher aber, und besonders ein Mörder, ist aufgrund pathologischer Umstände nicht dazu imstande, diese Grenze aufrecht zu halten. Dabei erinnert er in gewisser Weise an Werthers „Karriere“ als Advokat derer, die von ihren Affekten zu einem Mord getrieben werden. Wie er, so erkennt auch Feuerbach die große Macht der Gefühle und Leidenschaften, die nur durch „Wille“ und „Vernunft“ gezügelt werden können. Der junge Feuerbach bekennt sich dazu, dass er „in den Jahrbüchern der Menschheit als großer Mann [...] glänzen“ 252 möchte. Dies ist ihm in gewisser Weise gelungen, denn seine Verdienste sind nicht zu leugnen und werden in jedem Werk über die Entwicklung der modernen Rechtsprechung entsprechend gewürdigt. Er stellte sich mit seinen Ansichten mutig gegen die Willkür und Macht der Richter und des Staates, was ihm nicht nur einmal große Probleme bescheren sollte. Nicht nur das, sondern auch Probleme mit seinen Verlegern führten dazu, dass Feuerbach im Laufe der Zeit das Interesse an seinen Verbrechensdarstellungen verlor und „es nicht mehr vor Augen 246 Feuerbach Selbstdarstellung, S. 379. 247 Ebd. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd., S. 380. 251 Dies wird beispielsweise auch von Schirach formuliert. Vgl. dazu Sylvester Schuld und Sühne, (URL). 252 Feuerbach Selbstdarstellung, S. 379. 212 <?page no="225"?> sehen und nur ungern daran erinnert“ 253 wurde. So konnte erst 1849 posthum eine wirkliche Überarbeitung seines Werkes „Merkwürdige Criminalrechtsfälle“ aus dem Jahr 1808 und 1811 254 erscheinen. Im Vorwort zur Auflage von 1849 betont der Jurist Dr. C. I. A. Mittermaier, dass sich die Berichte Feuerbachs vor allem dadurch auszeichnen, dass sie „nicht nur in dem Studierzimmer der Gelehrten, sondern auch hier und da sogar in den Boudoirs der eleganten Lesewelt“ 255 gerne gelesen wurden. Mittermaier weist darauf hin, dass manche der Texte aus den frühen Jahren „in zerstreuten Mußestunden ganz umgearbeitet“ 256 wurden, da viele Texte der ersten beiden Bände sich vor allem dadurch auszeichneten, dass sie keine ausgestaltete Literatur, sondern Zusammenfassungen eines Falles für Ämter oder den König waren, die „oft noch allzusehr mit dem von der Geschäftseile aufgeregten Staube bedeckt, unter des Setzers Hand“ 257 kamen. Ganz besonders „das eigentümliche Gemisch von Gefühlen, Neigungen, Vorstellungen und Gewohnheiten“ war für den Verfasser von ganz besonderer Bedeutung. Interessant ist zudem, dass Hermann Hesse in seinem Werk „Mordprozesse“ 258 drei der vier Erzählungen Feuerbachs Ausgabe von 1808 entnahm. Strukturell bilden Feuerbachs Berichte die gesamte Bandbreite der Elemente eines Verbrechens ab und verknüpfen diese mit einer genauen Sicht auf den Täter 259 . Aus diesem Grund trägt seine frühe Sammlung zurecht den Hinweis auf eine „aktenmäßige Darstellung“. Dennoch finden sich einige Texte, die wesentlich mehr sind als nur das und von denen im Folgenden drei Stück näher betrachtet werden 253 Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen. Dritte unveränderte Auflage. (Einzig vollständige Original- Ausgabe.) Frankfurt a. M.: Georg Friedrich Heyer´s Verlag, 1849. S. III. 254 Teil 1: 1808, Teil 2: 1811. 255 Feuerbach Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, S. III. 256 Ebd., S. IV. 257 Ebd. 258 Das Werk Mordprozesse war der 5. und damit letzte Band seiner Reihe „Merkwürdige Geschichten“, die er 1922 veröffentlichte. Die anderen vier Bände dieser Sammlung haben allerdings nichts mit Verbrecherliteratur zu tun. 259 Ebd., S. V: “... die Besonderheit des Gemüthszustandes und des Betragens eines Verbrechers vor, während und nach der Begehung seiner Missethat [...].“ 213 <?page no="226"?> sollen. Hans Magnus Enzensberger vergleicht seinen Stil mit dem von Kleist und stellt fest: „Es ist seltsam, daß die Literaturgeschichte diesen Autor ignoriert und daß man ihm nie den Rang eines klassischen Erzählers eingeräumt hat.“ 260 Aus diesem Grund lässt Enzensberger in seiner Ausgabe im Titel den Zusatz „aktenmäßige Darstellung“ wegfallen. Mittermaier weist in seinem Vorwort darauf hin, dass Feuerbach mehr als genug Stofffür seine Berichte hatte. Ganz im Sinne der Aufklärung, dass Literatur nützen und unterhalten solle, deklariert er den Inhalt als Ergebnis vom „erheiternden und belehrenden Geschäfte mancher Mußestunden“ 261 , die „nicht dem blos um seinen Tagelohn arbeitenden Handwerker der Justiz, aber dem denkenden, zumal für die Gesetzgebungswissenschaft arbeitenden Rechtsgelehrten, dem Seelenforscher und dem Gerichtsarzte, dem Moralisten, wie dem Pädagogen, nicht unwillkommen sein, und hin und wieder selbst demjenigen, der nur geistige Unterhaltung sucht, einige Befriedigung gewähren können“ 262 . Gerade der letzte Zusatz zeigt, dass das Lesepublikum weit über den Kreis der Juristen und Rechtswissenschaftler hinausging. Dennoch verfolgt die Sammlung von 1849 eher praktische Aspekte, weshalb die Anordnung der Texte „nach gewissen Gesichtspunkten, theils nach der stufenweisen Größe der Verbrechen und der in denselben kund gegebenen Bosheit ihres Thäters, theils nach dem Prinzip des Gegensatzes oder der Verwandtschaft und Aehnlichkeit“ 263 erfolgte. Im ersten Kapitel der Ausgabe von 1849, das er mit „Werth der Kenntniß der Rechtsübung für die Gesetzgeber“ überschreibt 264 , betont Feuerbach, dass seine Berichte sowohl „einen reichhaltigen Stoff “ liefern wie auch „eine herrliche Quelle der Belehrung dem Gesetzgeber“ 265 sind. Damit betont er auf der einen Seite ihren literarischen Wert, auf der anderen Seite sind sie Belege für seine juristischen Thesen. Denn besonders durch seine vehemente Ablehnung der Fol- 260 Feuerbach Merkwürdige Verbrechen, Zitat vom Pappschuber der limitierten Ausgabe aus der Reihe „Die Andere Bibliothek“. 261 Feuerbach Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, S. VI. 262 Ebd., S. VI-VII. 263 Feuerbach Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, S. VII. 264 Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Werth der Kenntniß der Rechtsübung für die Gesetzgeber. In: ders., S. 01-47. 265 Ebd., S. 05. 214 <?page no="227"?> ter war er gezwungen, neue forensische Methoden aufzuzeigen, die einen lückenlosen Tatsachenbeweis ermöglichten. Dies findet sich in seinen Texten wieder, ganz besonders bei „Andreas Bichel, der Mädchenschlächter“ 266 und „Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre“ 267 . Er kritisiert ganz offen eine zu starre Befolgung von Regeln bei der Beweisführung und empfiehlt, diese dem jeweiligen Fall anzupassen 268 . Zudem sind seine vorgelegten Fälle aus psychologischer Sicht interessant 269 , da sie die Zurechnungsfähigkeit der einzelnen Täter prüfen. Dies muss nicht immer zu ihrem Vorteil geschehen, was die Texte damit von der tragischen Konzeption abgrenzt. Eher soll dies die untersuchenden Kräfte und die Richter darin unterstützen, ein realistisches und angemessenes Urteil zu fällen 270 . Feuerbach sieht in seinem Werk nicht nur ein Buch, dass der Fortbildung von Personen der Strafverfolgung dient, sondern durchaus der Unterhaltung dienen kann. In diesem Sinne werden die Erzählungen Feuerbachs auch für den Leser zu einem „erheiternden und belehrenden Geschäfte mancher Mußestunden“. Da Feuerbach in seinen Darstellungen Wert auf die genaue Darstellung der neuen Imputationslehre legt, wird der Grund des Verbrechens meist bereits zusammen mit dem Namen des Täters im Titel genannt. Dabei bilden einige wenige Texte eine Ausnahme, die an dieser Stelle näher betrachtet werden sollen. Normalerweise legt 266 Siehe dazu Kapitel 5.6.1. 267 Siehe dazu Kapitel 5.6.3. 268 Vgl. dazu Feuerbach Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, S. 17-21: „Erfahrungen über die Wirkungen der gesetzlichen Beweistheorien“. 269 Ebd., S. VI: „Von diesem und ähnlichen Betrachtungen geleitet, machte es sich daher der Verfasser, während seines Präsidentenamtes, zum erheiternden und belehrenden Geschäfte mancher Mußestunden, vorgekommene Kriminalfälle, welche ihm, in rechtlicher oder psychologischer oder in dieser doppelten Hinsicht, irgend merkwürdig erschienen, nachdem sie ihre richterliche Erledigung erhalten hatten, auf seinem Studierzimmer nochmals in genauere Untersuchung zu nehmen und, wenn sie die Probe hielten, entweder sogleich aus wissenschaftlichem Standpunkte zu verarbeiten oder zu diesem Behufe für günstige Zeiten auf die Seite zu legen.“ 270 Feuerbach ‘Werth der Kenntniß der Rechtsübung für die Gesetzgeber, S. 39: „Die vorliegenden Strafrechtsfälle liefern einen reichhaltigen Stofffür den Praktiker wie für den Gesetzgeber in Beziehung auf die Zurechnungsfähigkeit wegen Seelenstörungen.“ 215 <?page no="228"?> diese Art der Literatur einen übersichtlichen und sachlichen Aufbau zugrunde und folgt in der Darstellung einem mehr oder weniger chronologischen Abriss der psychologischen Entwicklung des Täters. In der damaligen Zeit waren seiner Erzählungen besonders, da er „das innere Thun und Geschehn [...] mit gleicher psychologischer Treue und Vollständigkeit vor Augen“ 271 stellt. Der besondere Reiz vieler Berichte von Feuerbach liegt beim Leser im Aufbau eines Verdachtsmomentes, der beim Leser durch gewisse Erzählstrukturen stärker stimuliert wird, als es bei den an der Handlung beteiligten Personen der Fall ist. Diese Diskrepanz bewirkt beim Leser immer das Gefühl, laut die Seiten anzurufen: Schaut genau hin, alles ist doch da! Da Feuerbach moderne Ansichten vertrat, ist dieser Spannungsmoment nicht nur der Unterhaltung des Lesers geschuldet, sondern durchaus im Sinne einer Präjudiz zu verstehen, die die Wirksamkeit seiner Methoden oder die Ablehnung überholter Praktiken in der Praxis darstellen sollte. Auch finden sich manche Fälle wieder, die einen Bezug zu schon im „Pitaval“ behandelten Fällen herstellen 272 . Seine Texte haben abseits der juristischen Komponente stets auch exemplarische Bedeutung, wie zum Beispiel die Warnung vor Gutgläubigkeit 273 . Keine der Geschichten wird durch eine detektivähnliche Figur aufgedeckt, die Geständnisse der Personen ersetzen diese Funktion. Allerdings finden sich Spuren der modernen Forensik, die die fortschreitende Entdeckung unterstützen und so gewisse Spannungsmomente erzeugen. 5.6.1 Moderne Formen der Forensik: Andreas Bichel, der Mädchenschlächter (1828, Vr4) Der Bericht über den Mörder Andreas Bichel, der erst in der umstrittenen Ausgabe von 1828 aufgenommen wurde 274 , zeichnet sich durch 271 Beneke, Friedrich Eduard: Grundlinien des natürlichen Systemes der praktischen Philosophie. 3. Bd. Allgemeine Rechtsphilosophie. Berlin, Posen und Bromberg: Verlag Ernst Siegfried Mittler, 1838. S. 276. 272 Z.B. Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Anna Margaretha Zwanziger, die deutsche Brinvillier. In: ders. Merkwürdige Verbrechen, S. 7-48. 273 Ebd., S. 07 ff. 274 Siebenpfeiffer, Hania: Böse Lust. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik. Köln: Böhlau Verlag, 2005. S. 187. 216 <?page no="229"?> eine verrätselte Erzählstruktur aus, obwohl bereits in der Überschrift des Textes der Täter genannt wird, der schon im zweiten Absatz der Erzählung in eine Verbindung mit zwei verschwundenen Mädchen gebracht wird. Da sich aber die wirkliche Aufklärung des Verbrechens hinzieht, ist diese Erzählung ein klassisches Beispiel dafür, wie mit dem Howdunit Spannung aufgebaut werden kann. Abb. 32: Spannungsaufbau in Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter (1828) Auch wenn Bichel schon von Anfang an in Verdacht steht, mit dem Verschwinden von Barbara Reisinger und Katharina Seidel zu tun zu haben, so schafft er es zuerst, die Angehörigen von seiner Unschuld zu überzeugen. Durch Zufall entdeckt die jüngere Schwester Katharinas die Kleider der Vermissten bei einem Schneider, der daraus eine Weste für Andreas Bichel fertigen soll, was sie dem Landgericht Burglenfeld meldet. Nun beginnt eine Analepse, die die näheren Umstände des Verschwindens Stück für Stück aus der Perspektive ihrer Schwester aufdeckt 275 . Nach diesem Rückgriffkehrt die Erzählung zum Nullpunkt zurück. Direkt für den nächsten Tag wird eine Untersuchung im Haus von Bichel angesetzt. Bei dessen Verhaftung kann die Schwester ein weiteres Tuch identifizieren, dass ihrer Schwester gehört, doch der vermeintliche Täter gibt an, es auf einem Trödelmarkt in Regensburg gekauft zu haben. Nun beginnt der eigentlich interessante Teil dieser Erzählung. Feuerbach beschreibt nämlich akribisch die forensischen Methoden, die die Untersuchungskommission zur Aufdeckung dieses Falles einsetzt. Im Verhör fällt zuerst das ungewöhnliche Benehmen des Verdächtigen auf 276 . Bei der Untersuchung werden weitere Indizien gefunden, 275 Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Andreas Bichel, der Mädchenschlächter. In: ders. Merkwürdige Verbrechen, S. 49-67. Hier: S. 50. 276 Ebd., S. 51: „Allein sein ganzes Benehmen, seine ausweichenden unwahr- 217 <?page no="230"?> die Bichel auch in Verbindung mit dem Verschwinden von Barbara Reisinger bringen. An dieser Stelle äußert der Erzähler: „Alles dieses deutete auf ein großes schreckliches Geheimniß. Aber noch immer fehlte es an dem Wesentlichsten, an dem Thatbestande des Verbrechens.“ 277 Auch wenn ein Verbrechen ziemlich wahrscheinlich ist, forscht die Untersuchungskommission weiter, aber nirgends ist eine „sichere Spur zu finden; überall nur schwankende Muthmaßung“ 278 . Es fehlen die wichtigsten Hinweise für die Morde: „Leichname waren nicht zu entdecken; in Bichels Wohnung nirgends Blutflecken oder andere Überreste einer gewaltsamen That.“ 279 So begleitet der Leser die Untersuchungskommission sozusagen bei der Indiziensuche. Der Beschreibung dieser Suche widmet Feuerbach den größten Teil der Erzählung. Erst nachdem diese abgeschlossen ist, fügt der Autor die Beschreibung der Taten ein. Der Gerichtsdiener nutzt bei der Aufklärung unbewusst fortschrittliche Methoden der Forensik. Bei Spaziergängen am Haus von Bichel springt sein Hund mehrfach auf den Holzschuppen zu und zeigt an, dass er etwas aufgespürt hat 280 . Der Gerichtsdiener schöpft Verdacht und lässt neben dem Schuppen graben, wo dann die ersten Leichenteile gefunden werden. Unter einem Holzhaufen kommt ein Kopf und Reste eines Torsos zum Vorschein und eine zweite Leiche wird nicht weit davon in der Erde entdeckt. Beide Leichen sind stark verstümmelt und nur eine der beiden kann noch ins Haus gebracht werden. An dieser Stelle merkt Feuerbach an, dass der Gerichtsdiener etwas voreilig gehandelt hat, da er „sogleich nach Entdeckung der ersten Spuren“ 281 das Landgericht davon in Kenntnis hätte setzen müssen, die dann weitere Schritte unternommen hätten. „Allein mit diesen und andern ähnlichen Dingen nahm man es im Jahre 1808 in Alt-Baiern noch nicht so genau“ 282 , stellt der Forensiker Feuerbach scheinlichen oder zu voreiligen Antworten, sein Stottern, seine Betroffenheit, sein bald erblassendes, bald in helle Röthe aufflammendes Gesicht verriethen nur zu deutlich die noch verborgene Schuld.“ 277 Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter, S. 52. 278 Ebd. 279 Ebd. 280 Ebd., S. 53. 281 Ebd., S. 55. 282 Ebd. 218 <?page no="231"?> resigniert fest. Das Gericht erscheint zusammen mit dem Landgerichtsarzt und zwei Wundärzten, um die Fundstelle und die Leichen zu untersuchen. Bevor Bichel zu den Funden befragt wird, erfolgt eine genaue Untersuchung des Tatortes und der Körperteile. Akribisch genau wird der Zustand der Leichen erklärt und ihre Todesursache bestimmt. Selbst die Tatsache, dass eine der Frauen noch nicht tot war, als sie zerschnitten wurde, können die Ärzte mit Sicherheit feststellen. Eine äußerst erstaunliche Beschreibung der Ergebnisse einer forensischen Untersuchung, die man in dieser Form kaum in dieser Zeit vermutet. Im folgenden Verhör leugnet Bichel zuerst weiterhin die Tat und gibt zuerst an, dass Katharina Seidel von fremden Leuten, aber in seinem Haus getötet wurde, dann, dass er sie im Streit umgebracht habe. Er vermischt in seinen weiteren Aussagen Wahrheit und Lüge und Feuerbach deutet an, dass „die umständliche Thatgeschichte“ 283 erst später im Text verraten werde. Diese Prolepse baut in diesem Fall die Spannung nicht ab, denn der Leser kann nur vermuten was vorgefallen ist und ist auf die Angaben des Erzählers angewiesen. Die Beteiligung an der zweiten Tat streitet Bichel aber ab. Nicht ohne Grund führt Feuerbach an dieser Stelle an, dass sich das Gericht „glücklicher Weise“ 284 an die Abschaffung der Tortur erinnert 285 und statt dessen eine viel wirksamere Technik einsetzt, um ein wahres Geständnis zu erhalten: Das Verhör muss in Gegenwart des Leichnams stattfinden. Diese herbe, aber effektive Maßnahme, „die bei der Berathung des Entwurfs zu jener Verordnung sehr bestritten wurde, hat sich in Baiern in unzähligen Fällen durch die Erfahrung erprobt“ 286 . Auch in diesem Fall versagt die Technik nicht. Selbst wenn sich Bichel beim Anblick der grauenhaft verstümmelten Leichen noch zuerst von der Schuld am zweiten Mord freispricht, so bekennt er sich zwei Tage später „in der Einsamkeit des Gefängnisses, unter den Schreckbildern der erregten Einbildungskraft“ 287 auch zum Mord an 283 Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter, S. 56. 284 Ebd. 285 Feuerbach nennt das Datum der Königlichen Verordnung (7. Juli 1806) und den Paragraphen (§ 21). 286 Ebd., S. 57. 287 Ebd., S. 58. 219 <?page no="232"?> Barbara Reisinger schuldig. Nach weiteren Befragungen des Täters und von Zeugen wird er zum Tode auf dem Rad verurteilt. Abb. 33: Verteilung der Erzählelemente in Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter (1828) Feuerbach verzichtet an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung des Prozessablaufes, was den Lesefluss begünstigt. Statt dessen fügt er nach dem Urteilsspruch weitere Informationen zur Person Bichel an, um die Gründe der Tat zu erklären. Er beginnt mit einer genauen Beschreibung der Person von Andreas Bichel, die unter anderem auf Angaben von Zeugen beruht. Sie zeigen ihn als einen dreisten Dieb, der bis zu dieser Tat nie gewalttätig geworden ist und der „zwar nicht das Verbrechen, aber die Gefahren des Verbrechens gescheut“ 288 habe. Feuerbach beschreibt ihn als „habsüchtigen, niederträchtigen Charakter“ 289 , wobei deutlich wird, dass in dieser Erzählung besonders die Methoden der Aufdeckung gezeigt werden sollten und kein Schicksal, dass großes Mitleid erregt. Vielmehr wird sein schlechter Charakter beschrieben, der Ursache für das niederträchtige Verbrechen war. Dies erklärt die Erzählordnung, die eine Verrätselung der Frage ermöglicht, wie der Täter die Tat begangen hat, was seine Motive waren und wie das Gericht dies aufdeckt. 288 Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter, S. 59. 289 Ebd. 220 <?page no="233"?> Abb. 34: Erzählelemente in Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter (1828) So schließt der Bericht mit einem ausführlichen Geständnis des Täters, das in weiten Teilen die Ergebnisse der Ärzte bestätigt, die die Leiche untersucht haben. Feuerbach äußert am Ende die psychologische Hypothese, dass die Art des Mordes darauf hindeutet, „daß die Geschlechtslust, wenigstens verborgen, wo nicht auf den Entschluß zum Morde, doch auf die Art der Ausführung desselben mitgewirkt habe“ 290 . Schlussendlich wird die Strafe des Räderns in die des Enthauptens geändert, und zwar „aus Rücksicht auf die sittliche Würde des Staats, welcher es nicht gemäß ist, durch Grausamkeit der Stra- 290 Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter, S. 66. 221 <?page no="234"?> fen mit der Grausamkeit und Abscheulichkeit eines Missethäters gleichsam wetteifern zu wollen“ 291 . Wie spannend diese Erzählung geschrieben ist, lässt sich anhand einer Vertonung nachvollziehen, die sich stark an Feuerbachs Vorlage und der im „Neuen Pitaval“ von Alexis und Hitzig abgedruckten Version orientiert 292 und deren Ausgestaltung die Modernität des Textes deutlich hervorhebt. 5.6.2 Von der „Ungeheuerlichkeit des Verbrechens“: Tartüffe, als Mörder (1828, Vr2) Eine aus literarischer Sicht gelungene Erzählung, die der juristischanthropologischen Konzeption zugeordnet werden kann, ist „Tartuffe als Mörder“ 293 . Diese Überschrift unterscheidet sich im Vergleich mit anderen Texten des Autors dadurch, dass sie nicht direkt den Ablauf des Verbrechens thematisiert 294 , wohl aber auch in diesem Fall wieder dem Täter bereits in der Überschrift angibt. Der gleiche Erzählstoffwird auch als „Seitenstück zu Anton Mingrat, Pfarrer zu St. Quentin“ in Hitzigs „Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten mit Ausschluß der Rheinprovinzen“ 295 und mehreren anderen Zeitschriften der damaligen Zeit erwähnt 296 . 291 Feuerbach Andreas Bichel, der Mädchenschlächter, S. 66. 292 Overkämping, Kira: Der Mädchenschlächter. URL: http: / / kulturwelle. hu-berlin.de/ der-madchenschlachter/ #t=3: 21.239, Abruf: 13.01.2015. 293 Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Tartüffe als Mörder. In: ders.: Merkwürdige Verbrechen. Frankfurt a. M.: Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, 1993. S. 229-291. 294 Vgl. z. B. Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Der Raubmörder Johann Walliser, zweimal von der Instanz entbunden, bekennt im Besserungshause sein Verbrechen und wird zum Tode verurtheilt. In. ebd.: Merkwürdige Verbrechen, S. 365-375. Dies ist eher ein Resümee, als eine Überschrift. 295 Hitzig, Julius Eduard: Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten mit Ausschluß der Rheinprovinzen. Band 2. Ferdinand Dümmler, 1825. S. 407. 296 So zum Beispiel bei Heinroth, Johann Christian August: Die Lüge; ein Beitrag zur Seelenkrankheitskunde: für Aerzte, Geistliche, Erzieher u.s.w. Leipzig: Friedrich Fleischer, 1834. S. 394-398; Theiner, Johann Anton; Theiner, Augustin: Die Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit bei den christlichen Geistlichen und ihre Folgen. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. Zweiter Band. Altenburg: Verlag der Hofbuchdruckerei, 1828. S. 1027-1028; Mohl, Robert von; Scheurlen, Carl Friedrich; Schrader, Eduard; Wächter, 222 <?page no="235"?> Feuerbach bezieht sich mit dem Titel direkt auf Molières Komödie, die ungeschminkt die zeitgenössische religiöse Heuchelei verurteilte und 1664 bei der ersten Aufführung einen wahren Skandal auslöste. Dies lässt sich auch daran nachweisen, dass er zwei Passagen aus dem Molièrschen Tartuffe 297 zitiert. Sowohl die religiöse Heuchelei als auch Missbrauch kirchlicher Ämter stehen im Mittelpunkt dieses Berichtes. Das Zölibat wird in Frage gestellt, ebenso wie die Beurteilung gewisser Geistlicher, die Feuerbach hier sarkastisch als „Kirchenhelden“ 298 betitelt. Die Geschichte des Priesters Franz Salesius Riembauer wird zuerst so erzählt, dass kein direkter Hinweis auf den bevorstehenden Mord gegeben wird. Die Überschrift und kleine Anmerkungen 299 zu dem sonst so vorbildhaften Charakters des Priesters geben dem Leser aber deutliche Hinweise, dass sich ein Konflikt anbahnt. Auch in diesem Fall ist es keineswegs eine tragische Konzeption, sondern wiederum der Einsatz des Howdunit, der beim Lesen Spannung erzeugt. Dass sich Riembauer aber selbst immer wieder im Recht, beziehungsweise als tragische Person und Opfer seiner Umstände sieht, wird nicht erst in seiner Verteidigung deutlich 300 . An dieser Darstellung kann man leicht erkennen, dass Feuerbachs Bericht mehr ist als die bloße Vermittlung von Fakten. Der Spott und die sprachliche Gewandtheit sprechen dafür. Nachdem der Leser nun über Karl Joseph Georg Sigismund von; Wächter, R.: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Band 3. Tübingen: Laupp‘sche Buchhandlung, 1827. S. 66. 297 Feuerbach Tartüffe, als Mörder, S. 234. 298 Ebd., S. 234 und S. 235. 299 Ebd., S. 229: „Was über des Knaben sittliches Betragen zu den Akten erhoben wurde, gereicht nicht so ganz zu seinem Ruhme. [...] Schon als Hirtenjunge soll er als ein böser Mensch, besonders wegen seiner Diebereien, allgemein bekannt gewesen sein [...]. Er selbst erzählt von sich, daß er als Knabe einst große Lust in sich verspürt habe, einen andern Knaben todt zu schlagen, um ihn seines Geldes zu berauben.“ 300 Ebd., S. 234-235: „Jene Verirrungen der Zärtlichkeit waren nicht seine Sünden, sondern die ‚Sünden des Cölibats‘ und seine Philosophie und theologische Moral lieferte ihm eine ganze Reihe der triftigsten Beweise dafür, daß er in Erzeugung unehelicher Kinder, als wodurch er zur Erweiterung des Reiches Gottes wesentlich beitrage, nicht nur nichts Sträfliches, sondern sogar Löbliches, dem Himmel Wohlgefälliges begehe.“ 223 <?page no="236"?> dieses ausschweifende Liebesleben eines Geistlichen zwar erstaunt ist, aber auch erfährt, dass er sich gut um seine Geliebten und die Kinder kümmert, scheint im weiteren Verlauf immer mehr die böse Seite des Priesters durch und wird durch eine interne Prolepse schon angedeutet 301 . Im weiteren Verlauf gibt es eine Szene, in der er sich mit einer seiner geschwängerten Freundinnen streitet. Hier markiert ein Gedankenstrich sozusagen den kurzen Moment, in dem er beinahe sein wahres Gesicht zeigt, es aber schafft, die Fassung zu bewahren 302 . Kurze Zeit darauf erfüllt sich aber die Andeutung des Gedankenstrichs und die Frau verschwindet. Durch diese Ellipse wird nun Spannung aufgebaut. Einige Zeit später erhält Riembauer eine Anstellung als Pfarrer zu Priel und sowohl die Mutter wie auch eine der beiden Töchter, die bei ihm angestellt sind, sterben plötzlich. Die jüngere Tochter Katharina geht in andere Dienste und fällt dort durch Panikattacken auf. Das was der Leser aufgrund der Prolepse bereits vermutet, stellt sich nun langsam konkret heraus. Allerdings stößt ihre Geschichte als Zeugin von drei Morden zuerst auf keinerlei Reaktion, weder bei den Menschen aus ihrem Arbeitsumfeld noch bei der Kirche. Diese empfiehlt ihr sogar, ihn dem Gericht Gottes zu überlassen 303 . 1813, also ganze 6 Jahre später, erstattet sie schließlich eine förmliche gerichtliche Anzeige, die sie aber, aufgrund ihres Alters, erst ein Jahr später eidlich bekräftigen kann 304 . Ihr Zeugnis enthüllt nun dem Leser erst in seinem ganzen Umfang das begangene Verbrechen. Es finden sich wiederum forensische Anmerkungen 305 . Die Geschichte ähnelt in ihrer Brutalität in diesem Abschnitt eher einem Horrorfilm als einem juristisch-anthropologischen Text 306 , wenn vom blutigen Leichnam und dem blutbesudelten Mörder mit dem Rasiermesser die Rede ist. Der angeblich vorbildliche Pfarrer schleift nachts die Leiche durch die Wohnung, um sie mehr schlecht als recht zu begraben, 301 Feuerbach Tartüffe, als Mörder, S. 236. 302 Ebd., S. 239: „Aber der fromme Priester verbot ihr, jemals wieder nach Lauterbach zu kommen, hob seinen Stock drohend auf, hieb zornig damit in die Erde und ging seines Weges.“ 303 Ebd., S. 241. 304 Ebd., S. 242. 305 Ebd., S. 243. 306 Ebd., S. 244. 224 <?page no="237"?> sodass schließlich sogar ein Knecht über einen noch herausragenden Fuß stolpert. Doch die unglaublich erscheinende Erzählung ist nicht ohne Grund so dargestellt, denn Feuerbach bezeichnet sie als „in ihrer Gräßlichkeit zugleich so seltsam, abentheuerlich und ins Ungeheure hinüberspielend, daß man beim ersten Blicke geneigt sein mochte, dieselbe eher für die Erfindung einer kranken Einbildungskraft, als für eine wirkliche Begebenheit zu halten“ 307 . Wieder ist es der soziale Status des Beschuldigten, der lange verhindert, dass er als Mörder enttarnt werden kann. An dieser Stelle endet die Darstellung der grausamen Taten des Geistlichen und geht zu einer Beschreibung der nun eingeleiteten Untersuchungen über 308 . Ihrer Länge von über 40 Seiten unterstreicht die Tatsache, dass mehr als hundert Verhöre nötig waren, die ganze 46 Foliobände füllten, um ihn zu einem Geständnis zu bewegen, nicht aber zur Reue. Er sieht sich als Opfer und sein Handeln als im Sinne der Kirche. Abb. 35: Verteilung der Erzählelemente in Feuerbach Tartüffe, als Mörder (1828) Das Verhältnis zwischen diesen beiden Teilen der Erzählung belegt aber eindeutig, dass es sich um eine Darstellung für Juristen han- 307 Feuerbach Tartüffe, als Mörder, S. 248. 308 Ebd., S. 249-290. 225 <?page no="238"?> delt, unabhängig von der sprachlichen und strukturellen Gestaltung, weshalb der Text als Vr2 eingestuft werden kann. Abb. 36: Spannungsaufbau in Feuerbach Tartüffe, als Mörder (1828) Aus literarischer Perspektive ist die Darstellung aber als durchaus eigenständig anzusehen, obwohl der Aufbau der ganz klassischen Verbrecherliteratur zuzuordnen ist. Man erkennt deutlich, dass der Aufklärung, die in diesem Fall die juristischen Untersuchungen nach den Anschuldigungen Katharinas und dem Entdecken eines Skeletts sind, der meiste Platz eingeräumt wird. Ebenso wird der einfache, aber effektive Aufbau der Erzählung deutlich, der in Kontrast mit ausschweifenden Formexperimenten wie zum Beispiel bei Hippel steht. Das, was den Text zudem so außergewöhnlich macht, ist die lange Spannungskurve, die erst mit der Aussage Katharinas aufgelöst zu werden scheint. Doch die lange Untersuchung, die den größten Teil der Erzählung einnimmt, ist so kompliziert und verwirrend, dass bis zum Ende nicht klar ist, ob der Geistliche nun wirklich die Taten so begangen hat, bzw. wie man ihn schlussendlich für seine Strafen angemessen bestrafen kann, da er jede Mitarbeit oder Reue verweigert. Die Übersicht über die genutzten Elemente zeigt, dass der Text sonst ein gutes Beispiel für die klassische Verbrecherliteratur ist, die mit einer Darstellung des Lebens des Täters beginnt. Gewisse Ereignisse im Leben des Täters führen zu einer Tat, die wiederum aufgeklärt und juristisch korrekt beurteilt werden muss. Den juristischen Aspekten wird dabei stets der meiste Umfang zugerechnet, da dies meist keine Texte zur Unterhaltung, sondern zur Erörterung juristischer Fragen sind. Am Ende des Textes finden 226 <?page no="239"?> sich dann die Konsequenzen. Obwohl Feuerbach hier diese klassische Struktur nutzt, schafft er es mit seinem besonderen Stil und seinem spannenden Konzept, daraus etwas Eigenständiges zu entwickeln. Abb. 37: Erzählelemente in Feuerbach Tartüffe, als Mörder (1828) 5.6.3 Whodunit: Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre (1829, Kr4) Diese Erzählung zeichnet sich bereits dadurch aus, dass sie, im Gegensatz zu anderen Berichten Feuerbachs, den Täter nicht im Titel nennt. Warum dies so ist, erfährt der Leser erst ganz am Ende der Erzählung, die vom Stil her kaum noch einer klassischen 227 <?page no="240"?> Verbrechererzählung im Stil Pitavals ähnelt. Sie handelt von Christoph Rupprecht, einem circa 60 Jahre alten und wohlbemittelten Goldarbeiter. Da Rupprecht weder schreiben noch lesen kann, muss er sich bei seiner Buchhaltung auf sein Gedächtnis und die Hilfe Dritter verlassen. Er wird als ein grober und gemeiner Charakter beschrieben, der mit Vorliebe Bierhäuser aufsucht, in denen er seine Freude am „Schimpfen und Beschimpftwerden“ 309 ausleben kann. Zudem ist er für seinen Geiz bekannt. Mit vielen Mitgliedern seiner Familie lebt er im Streit und „erwies [..] sich im geselligen Leben unverträglich, zänkisch, händelsüchtig, war oft in Prozesse verwickelt und hatte es daher mit vielen Menschen verdorben, ohne daß jedoch irgend Jemand als sein eigentlich erklärter Feind bekannt gewesen war“ 310 . Er pflegt die Gewohnheit, täglich ein kleines Bierwirtshaus zu besuchen, dass wegen seiner Lage in einem dunklen Gäßchen „die Hölle“ genannt wird. Nach dieser etwa eine Seite langen Einführung wird nun der Mord geschildert. Dabei wechselt Feuerbach zu einer szenischen Darstellung, die die Fokusierung ganz auf die Umstände der Tat legt. Gegen 22.15 Uhr des 7. Februar 1817 wird der Wirt, als er Bier holen geht, von einem unbekannten Mann angesprochen, der nach Rupprecht verlangt. Er bittet den Wirt, ihn an die Tür zu schicken. Kurze Zeit später geschieht dann der Überfall vor der Tür des Wirtshauses 311 . Auf die Frage nach dem Täter kann der schwer verletzte Rupprecht keine verständliche Antwort geben. Die Anwesenden verstehen auf ihre Fragen nur die Worte „schlechter Kerl“, „mit der Hacke“ und, auf die Frage eines Gastes, ob er den Täter kenne, „meine Tochter“ 312 . 309 Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre. In: ders.: Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, S. 527-549. 310 Ebd., S. 527. 311 Ebd., S. 528: „Kaum war eine Minute verflossen, als ein aus dem Hausplatze herauftönendes Röcheln und Stöhnen, gleichsam ein Gebrüll, wie von einem an der Fallsucht erkrankten Menschen, die unterdeß zurückgebliebenen Gäste aufschreckte. Alle eilten hinab. Rupprecht lag auf der Hausflur nächst der Thür, von Blut bedeckt, das besonders aus einer langen Kopfwunde hervorquoll. Ungefähr anderthalb Schuh von ihm lag sein von einem Hieb scharf durchschnittendes Käppchen auf dem Boden.“ 312 Ebd. 228 <?page no="241"?> Der Stadtgerichtsarzt und ein Chirurg behandeln den Verletzten und geben genaue Auskunft über die drei schweren Wunden, die Rupprecht am Kopf und am Rücken zugefügt wurden. Dabei ist die Genauigkeit der Angaben des Gerichtsarztes wiederum verblüffend. Er erkennt an den Wunden, dass eine von ihnen vom Sturz herrührt und dass die Tatwaffe ein Säbel gewesen sein muss, den eine geübte Hand geführt hat, was sich an dem langen und gleichmäßigen Schnitt erkennen lässt. Dieser weist darauf hin, dass „hier nicht mit dem Arm gehackt, sondern mit der Hand gezogen wurde“ 313 . Nach dieser genauen Analyse der Wunden wird der Tatort beschrieben. Das Wirtshaus liegt am Ende einer schmalen, dunklen Gasse, welche die Möglichkeit bietet, sich nachts im Schatten der Häuser zu verbergen. In die Wirtsstube gelangt man über zwei steinerne Treppen, die zu einer schmalen Tür und einem niedrigen Gang führen. Der Erzähler folgert daraus, dass der Überfall vor der Tür und nicht im Hausflur stattgefunden haben muss 314 . Die weiteren Erwägungen, die der Erzähler akribisch und in bester Detektivmanier ausbreitet, erstrecken sich insgesamt über mehr als eine Seite und rekonstruieren den Tatablauf in einem fast perfekten dénouement 315 . Bis auf eine Ausnahme: Der Täter ist nicht bekannt. Aber der Tatablauf wird so genau über verschiedene Fakten rekonstruiert, dass darüber bereits das Feld der möglichen Verdächtigen eingeschränkt werden kann. Da der Täter keinerlei Spuren hinterließ und keine Zeugen zu finden sind, kann nur das Opfer selbst darüber Auskunft geben. Als Rupprecht wieder bei Besinnung ist, gibt er an, dass er vom Holzhauer Schmidt mit einer Hacke überfallen wurde. Erkannt habe er ihn an der Sprache. Als Motiv gibt er das Wort „Handel“ an. Das Opfer kann aber aufgrund der Verletzungen nur einzelne Worte von sich geben und wiederholt immer wieder die Wor- 313 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 529. 314 Ebd.: „Hieraus ergiebt sich beinahe mit Gewißheit, daß dem R. die gefährliche Kopfwunde nicht in dieser Hausflur, sondern nur vor derselben könne zugefügt worden sein, weil der Thäter, um, wie die Wunde zeigt, so gewaltig in den Schädel einzuhauen, mit seinem Werkzeuge, besonders wenn dieses ein Säbel war, weit ausholen und von der Höhe herab seinen Streich führen mußte, wozu in der niedrigen Decke des Hausplatzes nicht wohl die Möglichkeit gegeben war.“ 315 Ebd., S. 530. 229 <?page no="242"?> te „Schmidt - Holzhauer“. Das Problem ist, dass es in der näheren Umgebung mehrere Holzhauer mit diesem Namen gibt, doch drei dieser Personen wecken die Aufmerksamkeit der Untersuchenden und werden dem Leser als mögliche Täter präsentiert. 1. Christoph Abraham Schmidt: „ein Mensch von welchem die dunkle Sage ging, daß er einmal in früheren Zeiten mit einer Diebsbande aufgegriffen und mit Zuchthausstrafe belegt worden war [...].“ 316 2. Johann Gabriel Schmidt (auch „der große Schmidt“ genannt): Dieser lebte „früher mit R. in freundschaftlichem Vernehmen [...], späterhin aber, seitdem er in einem Injurienhandel wider diesen gerichtliches Zeugniß gegeben hatte, aus dessen Gunst gefallen war; “ 317 3. Der kleine Schmidt (eigentlich Ehrhard Düringer): Dieser ist der Halbbruder des „großen Schmidt“, der von Rupprecht „wegen seiner Grobheit nicht gern gesehen wurde.“ 318 Drei Tage nach der Tat ist das Opfer nach einer Trepanation wieder so weit bei Bewusstsein, dass eine Befragung erfolgen kann. Die Untersuchung wird von der zuständigen Gerichtskommission und zwei Gerichtszeugen geleitet. Während der Befragung verliert Rupprecht seine Stimme und kann nur schwer auf die Fragen antworten. Da der Untersuchungskommission die Namen und Adressen der drei Verdächtigen bekannt sind, können sie auf diese Weise die Aussage erhalten, dass es der Schmidt sei, der auf dem „hohen Pflaster“ wohnt. Da der Zustand des Kranken immer noch bedenklich ist und seine Aussagen nur wenig Wert haben, werden am selben Abend alle drei Verdächtigen festgenommen und dem Opfer gegenüber gestellt. Dieser kann den Blick noch nicht heben und so wird der Hauptzweck der Gegenüberstellung nicht erreicht. Feuerbach beschreibt 316 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 531. In einer Fußnote wird bereits darauf hingewiesen, dass sich dieses „Sage“ später nicht bestätigt hat. 317 Ebd. 318 Ebd. 230 <?page no="243"?> daher die Reaktionen der drei Verdächtigen. Der große und der kleine Schmidt verhalten sich unbefangen, doch Christoph Abraham Schmidt scheint nervös zu sein und antwortet ausweichend auf die Frage, ob er ihn kenne. Er gibt aber als Alibi an, Freitag bis elf Uhr in der Nacht „Stiftlein“ gemacht zu haben, doch widerspricht er sich bald darauf und gibt an, von neun bis elf bei seiner Schwiegermutter gewesen zu sein. Diese Widersprüche, seine „unverkennbare Unruhe und Verlegenheit in seinem Benehmen“ 319 sowie die Aussagen des Opfers führen dazu, dass er inhaftiert wird. Am nächsten Tag stirbt Rupprecht an seinen Wunden, ohne den Täter identifiziert zu haben. Die Holzhauerbeile der drei Verdächtigen werden untersucht und auf dem von Christoph Abraham Schmidt finden sich „am Stiel in der Nähe des Eisens rothe Flecken [...], welche sich wie Blutspuren zeigten“ 320 . Auch die Länge der Klinge scheint zu den Wunden zu passen. Damit führt Feuerbach den Leser bereits bewusst in die Irre, um später um so eindrucksvoller zu zeigen, dass trotz all dieser scheinbaren Beweise der Schein trügt. Im Verhör, das szenisch dargestellt wird, gibt der Beschuldigte zu Protokoll, dass er das Opfer nicht kenne. Wieder gibt er andere Zeiten für sein Alibi an und behauptet, dass er von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends bei seiner Schwiegermutter gewesen war, um ihr zu helfen und dann eine Stunde vor seiner Frau mit seinem 1 1/ 2 Jahre alten Sohne nach Hause gegangen sei. Dort habe er sich hingelegt und sei bis zum nächsten Tag nicht mehr aufgestanden. Kurz darauf widerspricht er sich wiederum mehrfach. Bei der direkten Konfrontation mit der Leiche betont er mehrfach, dass er Rupprecht nicht kenne und auch nicht beleidigt habe. Sein Verhalten wird unprätentiös beschrieben: „Inculpat schien beim Eintritt in das Zimmer beklommen, beim Anfang der Handlung sogar erschüttert; bald aber kehrte mit den Betheuerungen der Unschuld seine ganze Festigkeit zurück.“ 321 Die Untersuchung des vermeintlichen Täters zeigt keine Spuren, in seinem Haus und bei seiner Schwiegermutter findet man „große Armuth, aber nicht das mindeste Verdächtige“ 322 . Der Beschuldigte zeigt der 319 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 532. 320 Ebd. 321 Ebd., S. 533. 322 Ebd. 231 <?page no="244"?> Untersuchungskommission darüber hinaus, dass die Flecken auf dem Beil Holzfarbe ist, die sich leicht abkratzen lässt. Auch die Waffe ist nach näherer Untersuchung nicht diejenige, mit der die Wunde zugefügt wurde. Doch die untersuchenden Ärzte glauben schließlich „den Worten des Sterbenden mehr als ihren eigenen Augen“ 323 . Bei einer Gegenüberstellung mit dem Wirt gibt dieser nach einigen Versuchen zu Protokoll, dass die Stimme von Christoph Abraham Schmidt wesentlich rauer sei, als die des Täters, die eher der einer Frau geglichen habe 324 . Die Befragung der Frau, der Schwiegermutter und der Hausfrau, bei der das Ehepaar wohnt, führen ins Leere, da diese das Alibi von Schmidt bestätigen, dass er gegen 10 Uhr abends mit seinem Kind nach Hause gekommen sei. Die recht unterschiedlichen Zeitangaben der Zeugen hängen mit der Tatsache zusammen, dass sie keine Uhren besaßen. Viele weitere andere Umstände lassen den Verdacht gegen Christoph Abraham Schmidt nicht aufrecht erhalten. Hinzu kommt, dass nun die Krankenwärter angeben, dass Rupprecht auf die Frage nach der Adresse zwei Angaben gemacht habe, und nicht nur eine. Von seinen Mitmenschen wird der Verdächtige zudem als einfältiger Mensch beschreiben, der schnell verwirrt werden kann und deshalb den Spitzennamen „Hammela“ erhielt, was soviel wie „Hammel, Schöps“ 325 bedeutet. Seine Einfältigkeit wird daher als Grund dafür angenommen, warum er sich mehrfach in Widersprüche verwickelt. Damit lösen sich nach und nach alle Verdachtsmomente gegen ihn auf 326 . Daher gehen die Untersuchungen nun den beiden anderen Schmidts nach, die zusammen mit ihren Familien in einem Haus wohnen. Mit beiden pflegte das Opfer einen guten Umgang, bis diese Beziehung durch „Händel“ gestört wurden, die Rupprecht „mit den beiden Dis- 323 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 534. 324 Ebd., S. 535. 325 Hammel bedeutet in diesem Zusammenhang „verstümmelt“ (ahd. hamal), „Schöps“ dagegen stammt von dem slavischen Wort „skopetz“. Beide Wörter bezeichnen den kastrierten Schafbock, wobei „Schöp“s eher die Dummheit, „Hammel“ die Geduld einer Person bezeichnet. Vgl. dazu Eberhards, Johann August: Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache. (1910). URL: http: / / www.textlog.de/ 38072.html, Abruf: 03.01.2014. 326 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 539. 232 <?page no="245"?> triktvorstehern Friedmann und Götz“ 327 hatte. Rupprecht hatte die beiden öffentlich und im Beisein der beiden Schmidts beleidigt, indem er „die ehrenrührigsten Aeußerungen gegen den abwesenden Distriktsvorsteher Götz, besonders gegen die Treue und Unpartheilichkeit seiner Amtsverwaltung [...] erlaubte“ 328 . Daraufhin wurde er von den beiden Vorstehern angeklagt und, auch aufgrund der Zeugenaussagen des großen und des kleinen Schmidts, zwei Tage bei Wasser und Brot eingesperrt. Er musste zudem Götz Abbitte und Ehrenerklärung ableisten. Daraufhin hatte Rupprecht versucht, seinen beiden Gegnern anzuhängen, dass diese ihm nachgeredet hätten, er habe sein Vermögen zusammengestohlen 329 , was jedoch vom Gericht abgelehnt wurde. Dennoch erweist die Untersuchung, dass auch sie, ebenso wie die beiden Schmidts, nicht die Täter gewesen sein können. So bleiben schließlich noch zwei andere Schmidts übrig, Johann und Gottfried Schmidt, die in einer der Vorstädte wohnen und ebenfalls Holzhauer sind. Dabei werden nun die Vermutungen und scheinbaren Motive immer unhaltbarer. Einer der beiden war der „Holzhauer des Schwiegersohns des Ermordeten“ 330 , doch „Bei dem ersten Schritte zeigte sich jedoch augenscheinlich, daß man auch hier auf dem unrechten Wege sich befinde.“ 331 Somit lässt Feuerbach den Leser noch einmal in die Irre laufen. Dann folgt die scheinbare Wendung, die vom Erzähler mit einem neuen Verdacht eingeleitet wird. So unermüdet unser Inquirent die Richtung, zu welcher Rupprechts Redetrümmer den Anstoß gegeben hatten, bis an ihr äußerstes, in Nichts ausgehendes Ende verfolgte: so wenig versäumte er es, sich gleichzeitig auch nach andern, ganz entgegengesetzten Seiten hin, so gut als möglich Bahn zu machen. Sogleich am Anfang der Untersuchung hatte er die Bieringerischen Eheleute, nämlich die leibliche Tochter des Rupprecht, und 327 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 539. 328 Ebd., S. 540. 329 Ebd. 330 Ebd., S. 541. 331 Ebd. 233 <?page no="246"?> ihren Ehemann, den Kürschnermeister Johann Bieringer in das Auge gefasst. 332 Kurz nach dem Überfall hatte Rupprecht die Worte „meine Tochter“ ausgerufen. Seinen Schwiegersohn pflegte er zudem als „schlechten Kerl“ zu bezeichnen. In der Tatnacht selbst wurde die Tochter ans Krankenbett ihres Vaters gerufen und sowohl sie wie auch ihr Mann schienen nicht sonderlich betroffen über den Vorfall. Bald darauf nahm die Tochter die Schlüssel zum Hause Rupprechts an sich und gab sich während der Untersuchung große Mühe, den Verdacht auf den großen Schmidt und den Distriktvorsteher Götz zu lenken 333 . Das Verhältnis der Tochter und ihres Mannes zu Rupprecht war nicht gut und noch kurz vor der Tat äußerte sich dieser abfällig über seinen Schwiegersohn Bieringer 334 . Da er nicht viel von ihm hielt, spielte er mit dem Gedanken, ihn zu enterben, was er zwei Monate zuvor seiner Tochter und seinem Vermieter mitteilte. Am Tag des Überfalls bat er seinen Vermieter, ihm Schulddokumente herauszusuchen, mit denen er zum Stadtgericht musste. Da die Papiere von Rupprecht in Unordnung waren, wurde dies aber verschoben. Doch auch dieser Verdacht, den Feuerbach akribisch und geschickt beim Leser aufbaut, führt ins Leere 335 , denn auch hier belegen Nachforschungen, dass die beiden nicht in den Mord verwickelt sein können. Letztlich forscht der Untersuchungsrichter noch bei den drei Hautboisten Mühl, Pröschl und Spitzbart eines in der Stadt liegenden Regiments, die am Tag vor der Tat wegen Geldgeschäften bei ihm gewesen waren. Obwohl auch hier kurz ein Verdacht versteht, so haben alle drei Personen ein Alibi, was bestätigt werden kann. Nun bleiben nur noch zwei unbekannte Herren übrig, die am Tag der Tat Rupprecht gegen 17.30 Uhr besuchten. Dabei bat Rupprecht den Hausbesitzer ausdrücklich, dass die Magd nicht stören solle, da er mit ihnen allein sein wolle. Die beiden Herren stellen sich wiederum als die Regimentsschneider Kleinknecht und sein Freund Körber 332 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 542. 333 Ebd. 334 Ebd., S. 543: „...der Behringer ist ein verdammter Spitzbub, der nicht vor meine Augen darf, und wenn er am Tode läge.“ 335 Ebd., S. 544: „Allein auch hier gingen alle diese Lichter und Lichtchen, eins nach dem andern in Rauch und Dunst auf.“ 234 <?page no="247"?> heraus, die ihre Schulden bei Rupprecht bezahlten. Viele weitere Personen werden überprüft, doch gegen niemand kann der Verdacht erhärtet werden. Resigniert bemerkt Feuerbach: „Zehn Jahre sind seitdem verflossen, und noch liegt das Geheimniß dieses tückischen Mordes in demselben Dunkel, das sich gleich anfangs dicht um denselben hergezogen hatte.“ 336 So löst diese Bemerkung nun endlich den Spannungsbogen auf, der bis zu dieser Stelle ausgebaut wurde. Abb. 38: Spannungsaufbau in Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre (1829) Da Feuerbach einen realen Fall abbildet, kann er keinen Deus ex Machina einsetzen, um schließlich dem Leser den Schuldigen zu präsentieren. Bis zu dieser Stelle aber ähneln die Darstellungen und die sprachlichen Mittel in frappierender Weise einem modernen Krimi. Dies lässt sich auch an der Verteilung der Erzählelemente deutlich erkennen. Deutlich zu erkennen sind die verschiedenen falschen Spuren, denen im Laufe der Untersuchung nachgegangen wird und die daher recht ausführlich beschrieben wurden. Diese werden an drei Stellen durch die Darstellung der forensischen Fortschritte oder neue Erkenntnisse über den Tathergang unterbrochen. Damit wird der Aufklärung und vor allem der korrekten Bestimmung einer Täter-Opfer-Beziehung viel Platz eingeräumt, was auch im modernen Krimi der Fall ist. Feuerbach führt am Ende der Erzählung statt einer Lösung auf, was bei dieser umfangreichen Untersuchung versäumt wurde. So hätte man direkt am nächsten Tag sämtliche Waffen der Truppen in der Nähe untersuchen müssen, um eventuelle Spuren der Tat an dem Säbel des Täters entdecken zu können. Denn es wurde zu stark an den Aussagen des Opfers festgehalten, der von einem Holzbeil sprach, 336 Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre, S. 548-549. 235 <?page no="248"?> was er jedoch, aufgrund des rekonstruierten Tatablaufs, gar nicht hätte erkennen können, da der Angriffvon hinten erfolgte. Diese ganz bemerkenswerte Verbrechererzählung Feuerbachs, die trotz ihrer fehlenden Auflösung bereits zur Kriminalliteratur tendiert, vereint mehrere Elemente des modernen Krimis in einer wahren Anekdote. Feuerbach lässt den Leser mehrfach in die Irre laufen, indem er beispielsweise Schlagwörter aus der Aussage Rupprechts in den Aufbau eines Verdachtsmomentes einfließen lässt. Auch der erzähltechnische Griff, falsche Spuren auszulegen, wird hier bereits ausgiebig angewandt. Allerdings ist das Konstrukt der Erzählung keine wirkliche dichterische Erfindung, sondern aus der Not heraus geboren: Feuerbach wusste eben auch nach zehn Jahren noch nicht, wer der Täter war. Abb. 39: Verteilung der Erzählelemente in Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre (1829) Diese Tatsache ist auch in der Darstellung der genutzten Erzählelemente markiert, bei der diese Bereiche, die bis zum Ende der Erzählung nicht aufgelöst wurden, mit gestrichelten Linien markiert wurden. Ebenso ist erkennbar, dass mehrere Täter-Opfer-Beziehungen und Versuche der Aufklärung dargestellt wurden, aber keinerlei Konsequenzen vollzogen werden können. 236 <?page no="249"?> Abb. 40: Erzählelemente in Feuerbach Der unbekannte Mörder, oder die Justiz in der Irre (1829) 5.7 Poetische Darstellung einer Verbrecherin: Adelbert von Chamisso - Die Giftmischerin (1828, Vf1) Der Naturforscher und Dichter Adelbert von Chamisso nahm seinen Künstlernamen mit Beginn der Herausgabe des „Grünen Musenalmanachs“ (1804) an, die zusammen mit Mitgliedern des „Nordsternbunds“ geschah 337 . In Berlin gehörte er den Serapionsbrüdern an, 337 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 281. 237 <?page no="250"?> einem Freundeskreis um den Schriftsteller E.T.A. Hoffmann, die sich regelmäßig in dessen Wohnung trafen und über die Kunst und andere Gegenstände diskutierten. Ebenfalls dieser Runde angehörig waren Theodor Gottlieb von Hippel der Jüngere 338 und Julius Eduard Hitzig, der sich dem Gebiet der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur widmete 339 . Zwischen 1815 und 1818 war er als Naturwissenschaftler und Kartograph Teilnehmer der Rurik- Expedition, mit der er unter anderem nach Alaska, Hawaii und Polynesien kam 340 . Bekannt sind neben seinen Reisebeschreibungen, seinen wissenschaftlichen Abhandlungen und seiner Märchenerzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1813) vor allem ein Gedichtband aus dem Jahr 1831, in dem ältere Poesie des Künstlers abgedruckt ist. Darin findet sich auch ein Gedicht über eine Giftmörderin, dass sich von seinem übrigen Werk unterscheidet. „Die Giftmischerin“ ist ein Gedicht in sechs Strophen, in dem eine Mörderin ihre eigene Leichenrede hält, kurz bevor sie hingerichtet wird. Inhaltlich bezieht sich Chamisso damit auf die Giftmorde, die sich besonders in Frankreich bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts großer Popularität erfreuten. Die Verwendung des sogenannten poudre de succession 341 konnte nur schwer und hauptsächlich durch das harte Durchgreifen der Chambre ardente eingedämmt werden, bis schließlich Verfahren entwickelt wurden, mit denen diese Gifte im Körper von Opfern nachgewiesen werden konnten 342 . Das Gedicht 338 Zum Werk seines Vaters, siehe Kapitel 5.5. 339 Hitzig gab nicht nur zusammen mit Willibald Alexis ab 1842 den „Neuen Pitaval“ heraus, sondern veröffentlichte in seinem Verlag auch Kleists „Berliner Abendblätter“, in denen Berichte über die Arbeit der Polizei abgedruckt wurden. 340 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 281. 341 Damit wird ein starkes Gift bezeichnet, dass unter anderem aus Arsenik, Antimon, Belladonna und Bleioxid bestand. Das Problematische an diesem Gemisch war, dass es geruchs-, farb- und geschmackslos war und so dosiert werden konnte, dass es erst nach Monaten wirkte. Da es so problemlos in Speisen und Getränke gemischt werden und lange Zeit nicht nachgewiesen werden konnte, fielen ihm mehrere hundert Menschen zum Opfer. Es ist aufgrund ihrer bekanntesten Nutzer auch unter dem Namen Aqua Tofana oder Eau de Brinvillier bekannt. 342 Erst 1836 entwickelte James Marsh den nach ihm benannten Test, mit dem Arsenik nachgewiesen werden konnte und mit dem der Gebrauch dieses 238 <?page no="251"?> bietet aber nur auf den ersten Blick einen morbiden Blick auf die Gefühle einer Giftmörderin vor ihrem Tod, der durch die interne Fokalisierung intensiv ist. Sie hält selbst ihre Leichenrede, in der sie ihr pathologisches Gedankenkonstrukt darstellt, dass mehreren Menschen, unter anderem ihren drei Kindern, das Leben kostete. Auf zweiter Ebene beinhaltet es aber an einigen Stellen konkrete politische und gesellschaftliche Kritik, die man an dieser Stelle kaum erwartet. Dabei ist sie so mehrdeutig ausgeführt und durch den Zusammenhang so positioniert, dass sie viel Spielraum für Interpretationen lässt. Diese Konstruktion wird verständlich vor dem Hintergrund der teilweise rigiden Zensurpolitik im 19. Jahrhunderts. Die erste Strophe kann vor diesem Hintergrund entweder als direkte Kritik am Krieg verstanden werden oder so, dass der Autor das Leben an sich mit einem Krieg vergleicht. Ich führe Krieg, wie jeder tut und soll, Gen feindliche Gewalten. Ich tat nur eben, was ihr alle tut, Nur besser; drum begehrt ihr mein Blut, So tut ihr gut. 343 Die zweite Strophe enthält eine handfeste Kritik an der Tatsache, dass die Rechtsprechung dieser Zeit noch das Recht des Stärkeren propagierte. In diesem konkreten Zusammenhang aber wirkt die Kritik wie eine weitere geistige Verfehlung der Frau, die im Folgenden darstellt, wie sie kaltblütig und lustvoll Menschen ermordet. Die Kritik daran, dass der das Recht bestimmen konnte, der in einer Machtposition Einfluss darauf nehmen kann, lässt sich aber aus dem Zusammenhang herauslösen und wird so deutlich. Es sinnt Gewalt und List nur dies Geschlecht. Was will, was soll, was heißet denn das Recht? Hast du die Macht, du hast das Recht auf Erden. Selbstsüchtig schuf der Stärkere das Gesetz, Giftes schlagartig zurückging. Siehe dazu Kapitel 8.3. 343 Chamisso, Adelbert von: Die Giftmischerin. In: Pinson, Roland W. (Hrsg.): Moritaten und Bänkellieder bekannter Verfasser. Bayreuth: Gondrom Verlag, 1982. S. 22-24. Hier: S. 22. 239 <?page no="252"?> Ein Schlächterbeil zugleich und Fangnetz Für Schwächere zu werden. 344 Eine solche Aussage war zu dieser Zeit nicht ungefährlich, zu leicht konnte der Verfasser selbst in das Fangnetz der Stärkeren geraten. Vor diesem Hintergrund versteht sich nun auch die interne Fokalisierung, denn nur so konnte er diese Kritik in den Mund einer Person legen, deren Schicksal bereits entschieden war und die als geistesgestört galt. Eine ähnliche Darstellungskonzeptionen lässt sich nicht ohne Grund in einem Gedicht des deutschen Satirikers Adolf Glaßbrenner nachweisen. In „Trägheit“ erzählt der Autor in Versen die Geschichte des Schülers Friedrich, der in der Schule ständig Dinge verwechselt und sich scheinbar nichts merken kann. Dabei haben aber seine Verwechslungen eine über sich hinausweisende Bedeutung: „ ‚Gesetze‘ nannt´er Militär, Und ‚Richter‘ die Konstabeler, Verwechselte Gewalt mit ‚Recht‘, Ja, selbst den ‚Bürger‘ mit dem Knecht, Der dumme, dumme Junge! “ 345 Der dritte Kritikpunkt in Chamissos Gedicht ist die Herrschaft des Geldes. Der Herrschaft Zauber aber ist das Geld; Ich weiß mir bess´res nicht auf dieser Welt Als Gift und Geld. 346 Betrachtet man nun diese Konstellation, so wird deutlich, dass er diejenigen Menschen, die ihre Machtposition und ihren Reichtum dazu ausnutzen, um andere zu unterdrücken, Krieg zu führen und Menschen nach Belieben zu verurteilen, auf eine Stufe mit einer Mörderin stellt. So wird vor diesem Hintergrund die Verwendung von Gift ein Symbol für all diejenigen Machenschaften, die Vertreter der oberen sozialen Schichten anwenden, um andere ins Verderben zu stürzen und damit genau das zu tun, was auch die Giftmischerin tat, nur in einem anderen Kontext. Und so endet das Gedicht mit den Worten, dass der einzige Fehler, den sie begangen hat, die Tatsache 344 Chamisso Die Giftmischerin, S. 23. 345 Glaßbrenner, Adolf: Trägheit. In: Pinson Moritaten und Bänkellieder bekannter Verfasser, S. 44-45. Hier: S. 45. 346 Chamisso Die Giftmischerin, S. 23. 240 <?page no="253"?> war, dass sie sich zu sicher fühlte 347 . Somit schließt Chamisso seine Argumentation ab, indem er in wenigen Worten aufzeigt, dass es das fehlende moralische Empfinden ist, welches den Menschen zum Verbrecher werden lässt und es dabei egal ist, ob man eine Giftmischerin, ein korrupter Richter oder ein Despot ist. Chamisso nutzt hierbei geschickt die Tatsache aus, die Foucault später in seiner Vorlesungsreihe über die Anormalen ausführte. Die staatlichen Instanzen nutzten in der damaligen Zeit die Darstellung von „Sittenmonstern“, um anhand der Darstellung von scheinbar völlig unbarmherzigen und brutalen Menschen ihre eigene Politik und Rechtsprechung zu legitimieren. Dabei ging es keineswegs um eine auf psychologischen Aspekten basierende Betrachtung des Verbrechers, sondern um dessen Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Diese Darstellung findet sich häufig in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, ganz besonders in der Schauerliteratur. Chamisso schafft es aber durch seine Darstellungsweise, die Grenze zwischen den staatlichen Instanzen und den auszugrenzenden Monstern aufzulösen und die Scheinheiligkeit dieser Argumentation anhand der damaligen Verhältnisse zu entlarven. Damit wird das Handeln der Giftmischerin zu einem „Kampf ums Überleben [...], der unter den politischen Umständen, denen sie ausgesetzt ist, anders nicht erfolgreich geführt werden kann“ 348 . Formal gespiegelt wird ihre harte innere Haltung durch die formale Strenge des Gedichtes 349 . Aufgrund des Inhaltes, der über sich hinaus auf konkrete politische und gesellschaftliche Kritik verweist, ist ein Überblick über die verwendeten Elemente des Verbrechens nicht besonders aussagekräftig. Dennoch finden sich in diesem kurzen Gedicht sämtliche Elemente der klassischen Verbrecherliteratur. Im Zentrum steht die intern fokalisierte Erzählerin, die ohne Reue ihre Taten und Motive zusammenfasst, kurz bevor sie dafür hingerichtet wird. Dadurch wird dem Leser ein bedrückendes Täterprofil präsentiert: Die Gründe für 347 Chamisso Die Giftmischerin, S. 24. 348 Holderegger, Hans: Das Glück des verlorenen Kindes. Primäre Lebensorganisation und die Flüchtigkeit des Ich-Bewußtseins. Stuttgart: J.G. Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, 2002. S. 162. 349 Ebd. 241 <?page no="254"?> die Taten sind Geld und Macht 350 . Dafür ist sie bereit, selbst ihre Familie zu opfern. Ausgespart wird die Aufdeckung, die nur kurz angedeutet wird, ohne die beteiligten Personen zu nennen 351 . Abb. 41: Erzählelemente in Chamisso Die Giftmischerin (1828) Die Taten werden ebenfalls nur erwähnt und, abgesehen vom Todeskampf ihrer Kinder, kaum beschrieben. Die eigentliche Bestrafung durch die Justiz bildet den Rahmen des Gedichtes, da die Verurteilte 350 Chamisso Die Giftmischerin, S. 24: „Hast du die Macht, du hast das Recht auf Erden. [...] Der Herrschaft Zauber aber ist das Geld; ich weiß mir bess‘res nicht auf dieser Welt Als Gift und Geld.“ 351 Ebd., S. 25: „Ich habe mich zu sicher nur geglaubt, Und büß‘ es billig mit dem eig‘nen Haupt, Daß ich der Vorsicht einmal mich begeben.“ 242 <?page no="255"?> zu Beginn und am Ende beschreibt, wie sie bereits auf dem Schafott steht, dass als gemauerte Anlage auch als Rabenstein 352 bezeichnet wurde. Die Verteilung der Erzählelemente zeigt, dass hier keine Spannung erzeugt werden soll, sondern die Brutalität der Täterin und ihrer Bestrafung als Symbol für staatlichen Machtmissbrauch zu sehen ist. Die einzige Frage, die sich der Leser in diesem Konstrukt stellen kann, ist die Frage nach den Opfern ihrer Taten. Abb. 42: Spannungsaufbau in Chamisso Die Giftmischerin (1828) Abb. 43: Verteilung der Erzählelemente in Chamisso Die Giftmischerin (1828) Aufgrund der strengen Form des Gedichtes umfasst die erste Darstellung der Konsequenz, der Motive und der Taten jeweils einen Vers. 352 Chamisso Die Giftmischerin, S. 25. 243 <?page no="256"?> Um die Brutalität der Täterin hervorzuheben, wird in die Darstellung ihrer Taten noch die Beziehung zu ihren Kindern eingefügt, die sie teilnahmslos und aus niederen Beweggründen vergiftet. Umrahmt wird das Gedicht durch die szenische Darstellung der Konsequenzen, die einer stark gerafften Analepse ihrer verbrecherischen Vergangenheit gegenübersteht. In diesem Fall lässt sich auch der Rhythmus des Gedichtes erkennen: Nach drei gleich langen Versen folgt ein kurzer, auf den wiederum der längste Vers folgt. Danach nimmt der Umfang der Verse sukzessiv ab, das Gedicht klingt aus. 5.8 Ausgestaltung eines bekannten Verbrechens in Novellenform: Franz Theodor Wangenheim - Marguerite Mercier (1846, Vr5/ Vf2) Franz Theodor Wangenheim war ein Autor, der sich bewusst an zur damaligen Zeit modernen und populären Literaturformen orientierte. Dies zeigen seine Werke, die uns heute noch überliefert sind. Neben eigenständigen Produktionen griffer teilweise auch bekannte Werke auf und arbeitete sie um, wie zum Beispiel Schillers „Räuber“. Bei dieser Transposition lässt sich aber deutlich erkennen, dass er die ursprüngliche Handlung nur in Teilen adaptierte und die Handlung um einige Konflikte erweiterte 353 . Die ursprüngliche Aussage zerfällt durch Wangenheims Neukonzeption beinahe komplett, da er wichtige Aspekte, wie beispielsweise den Tod Amalias, weglässt und sich ausschließlich auf die Gegensätzlichkeit der beiden Brüder konzentriert, um diesen Aspekt auszubauen. Da die literarische Qualität weit entfernt von der Vorlage ist und er den Bezug zum Werk Schillers scheinbar nur aus rein kommerziellen Gründen herstellt, empfiehlt es sich eher, sich einem anderen Werk Wangenheims aus dem Bereich 353 So zum Beispiel die Vorgeschichte der eigentlichen Handlung (Wangenheim, Franz Theodor: Die Räuber. Hamburg: Verlag von B. G. Berendsohn, 1837. S. 01-10.) und die Einführung Hermanns, den unehelichen Sohn des alten Moor, welcher sich mit Franz streitet (Ebd., S. 28-32.) und in Amalia verliebt ist (Ebd., S. 33-36). Zudem versucht Franz ihn gegen seinen Bruder aufzubringen. 244 <?page no="257"?> der Verbrecherliteratur zuzuwenden, das ebenfalls eine eindeutige Transposition, diesmal aber eines juristisch-anthropologischen Textes darstellt. Es soll als ein Beispiel für eine ausführliche literarische Ausgestaltung eines bekannten Verbrechens gelten, das auch im „Neuen Pitaval“ von Hitzig und Häring zu finden ist. In seiner Einleitung weist Wangenheim bereits darauf hin, dass inzwischen die Prozesse zwar öffentlich sind, die Akteneinsicht aber „nur unter dem Siegel des Dienstgeheimnisses geschehen darf “ 354 . Diejenigen Informationen, die Schriftsteller „für die Presse ausbeuten“ 355 , erzählen meist „nur die Thatsache, den Verlauf der Untersuchung und den Urtheilsspruch, ohne sich mit psychologischen Studien und der Prüfung der Sentenz zu befassen“ 356 . Davon möchte er sich mit seiner Erzählung abgrenzen. Auch hier liegt somit eine freie Adaption des eigentlichen Stoffes vor, bei der eine wahre Geschichte in ein interessantes Stück Prosa verwandelt wird, das in einigen Bereichen Erzählelemente und Spannungskonzeptionen des modernen Krimis verwendet und aufgrund der umfassenden Umarbeitung beinahe als fiktive Literatur gelten kann. Der Autor stellt das Schicksal Merciers in den Vordergrund, da er davon überzeugt ist, dass sie von allen beteiligten Personen „am wenigsten schuldig war“ 357 . Daher ändert er den Ablauf der Darstellung ab und erweitert die Handlung um mehrere Erzählelemente, die so wohl sicher nicht in den Akten zu finden waren. So beginnt die Erzählung mit einer szenischen Beschreibung dreier Mitarbeiter des Landgerichts von Chatillon, welche sich in einer Schenke treffen. In diesem Gespräch wird bereits der Verdacht geäußert, dass Mitglieder des Ordens in Miseray es mit der Keuschheit nicht ernst nehmen und dass ein Verdacht auf Kindsmord im Raume steht 358 . Ebenso werden bereits zu Beginn der Erzählung die schlechten Haftbedingung dargestellt, die durch die Charaktere des Gefängniswärters und 354 Wangenheim, Franz Theodor: Marguerite Mercier. Novelle aus der Criminal- Rechts-Pflege in Frankreich. 1697-1701. Braunschweig: Verlag von G. Meyer sen., 1846. S. III. 355 Ebd. 356 Ebd., S. IV. 357 Ebd. 358 Ebd., S. 10. 245 <?page no="258"?> Folterknecht Pierre-Torreur sowie dessen Frau personifiziert werden. Der Wärter berichtet den drei Mitarbeitern von seinem neusten Insassen, der ihn auf seine Drohungen hin körperlich angegriffen hat. Es ist der Jägerbursche Denys Hubert, ein angeblicher Wilddieb, der sich im Verhör als der Verehrer Marguerite Merciers, einer der Dienstmägde der Frau von Pivardiere, herausstellt. Die eigentliche Erzählung wird erweitert, indem mehrere Konflikte wechselweise dargestellt werden: die Liebe zwischen dem inhaftierten Jägerburschen Denys Hubert und Marguerite Mercier, die Liebschaft zwischen Frau von Pivardiere und dem Prior von Miseray und schließlich die Liebschaft zwischen Gabriele Pillad und Louis du Bouchet. Flankiert wird dies durch die Darstellung der schlechten Haftbedingungen einiger verdächtiger Personen der Erzählung. Die verschiedenen Erzählstränge werden von einem heterodiegetischen Erzähler vermittelt. Durch die direkte Wiedergabe von Gesprächen erzielt der Autor in speziellen Momenten eine direkte Nähe zum Leser, zudem fokalisiert er unterschiedlich. So wird Denys Hubert über die Fokalisierung des Stockmeisters Pierre-Torreur, der Konflikt zwischen den Eheleuten aber durch eine Fokalisierung des Hausherrn dargestellt. Somit kann man durchaus von einer Nullfokalisierung sprechen, da außerhalb der Konflikte der Plot weitergesponnen wird, ohne sich auf eine bestimmte Person festzulegen. Dies nutzt der Autor, um falsche Spuren auszulegen und den Leser möglichst lange über den wahren Ablauf des angeblichen Mordes im Unklaren zu lassen. Als der Herr von Pivardiere am Abend seiner Ankunft seine Koffer ausräumt, berichtet ihm Marguerite, dass Henry und Gregoire, die Diener seiner Frau, die ihr „wie Seiner Hochwürden gehorchen“ 359 müssen, und der Koch angeblich mit einem großen Degen in der Hand im Hof stehen. Nach einer Ellipse erfährt der Leser dann aus einem späteren Gespräch zwischen Hubert, Procurator und Vetter Marguerites, und Marguerite Mercier, dass der Hausherr in der Nacht seiner Ankunft verschwunden ist 360 . Das Einzige, was der Leser über sein Verschwinden erfährt ist, dass er mit geladenem Gewehr aus dem Zimmer schlich, um scheinbar seine Frau und 359 Wangenheim Marguerite Mercier, S. 46. 360 Ebd., S. 59. 246 <?page no="259"?> den Prior in flagranti 361 zu erwischen 362 . Damit führt der Autor den Leser bereits zu Beginn der Erzählung auf eine falsche Fährte. Nachdem am nächsten Tag der Herr von Pivadiere verschwunden ist, formuliert Hubert den Verdacht, dass dieser ermordet wurde 363 . Dieser Verdacht wird von ihm weiter genährt und es zeigt sich der nächste Konflikt, denn Hubert möchte seinen gesellschaftlichen und finanziellen Status verbessern und macht gemeinsame Sache mit dem Actuar des Langerichts Chatillon Berton. Aus dem Gespräch der beiden geht hervor, dass sie diesen Plan bereits seit langem hegen und noch mehr dahinter stecken muss. Auch diese beiden Personen erscheinen dem Leser als verdächtig, in einen Mord verwickelt zu sein. Der Prior erfährt bald darauf dieses Gerücht, das ihm von einem alten Waldmeister berichtet wird 364 . Da er unschuldig ist, beginnt er nun die Suche nach dem wirklichen Mörder und nimmt damit den Platz der literarischen Detektivfigur ein. Er entdeckt Blutlachen auf dem Boden des Speisesaals und im Schlafzimmer des Herrn von Pivadiere, nicht aber die Leiche. Obwohl diese Ereignisse sich Mitte August abspielen, dauert es noch bis Ende des Monats bis die Untersuchungskommission eintrifft. Dies soll eigentlich geheim bleiben, aber der alte Waldhüter erfährt davon und rät der Frau von Pivadiere zu fliehen. Dabei erzählt er von einem neuen Gerücht, dass ihr Ehemann in der Tatnacht erschossen worden sei. Selbst das Gewehr kann die Kommission genau beschreiben. Als sie in seinem Waffenschrank nachsehen, ist es verschwunden und auf dem Weg dorthin erkennt der alte Waldmeister Kratz- und Säuberungsspuren, wo vorher das Blut zu sehen war. Die Frau von Pivadiere folgt dem 361 Lateinische Redensart, die eigentlich „in crimine flagranti“ lautet und übersetzt soviel bedeutet wie „solange das Verbrechen noch brennt (= warm ist)“. Vgl. dazu Duden: in flagranti URL: http: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ in_flagranti, Abruf: 11.01.2015. 362 Wangenheim Marguerite Mercier, S. 47-48. 363 Ebd., S. 59: „Es ist keinem Zweifel unterworfen: der Heilige übernachtet im Schlosse, da der Hausherr nicht daheim ist, der kommt plötzlich ein ungebetener Gast! gerade zur Schmauserei, er geräth mit seiner Frau in Streit und was giebts da Besseres zu thun, als den überlästigen Ehemann auf ewig stumm zu machen! “ 364 Ebd., S. 76-79. 247 <?page no="260"?> Rat und entflieht noch in der selben Nacht, sodass die Untersuchung im Sand verläuft und statt ihr und Marguerite Mercier, die ebenfalls in dieser Nacht entflieht, das Ehepaar Hubert und Katharina Lemoine, die jüngere der beiden Dienstmädchen der Frau von Pivadiere, festgenommen werden. Es geht in dieser Erzählung nicht zentral um die eigentlich simple Auflösung des Falls, sondern darum, wie sich alle Beteiligten immer tiefer und teilweise recht unbedarft in einen Strudel aus Konflikten und kriminellen Machenschaften ziehen lassen. Mittelpunkt und Drahtzieher der Konflikte ist Berton, dessen genaue Rolle aber bis zum Schluss unklar bleibt. Einige Zeit später spürt das Landgericht Marguerite Mercier, Henry Jaquelet und Gregoire Chanson auf, die zu den anderen Gefangenen gebracht werden. Da die Untersuchungen lange dauern, stirbt nach zwei Jahren Katharina Lemoine, die jüngste der Gefangenen, im Untersuchungsarrest, obwohl sie eigentlich nur als Zeugin festgehalten wird. Kurz bevor sie stirbt, formuliert ein herbeigerufener Priester die Anforderungen an ein modernes Rechtssystem. Wahrscheinlich ist sie arm, von geringem Herkommen und da glauben die Gerichte, mit ihr nach Belieben umspringen zu können, weil der Arme selten oder niemals einen uneigennützigen Vertreter seines Menschenrechts findet, weil der Arme schon von vorn herein die schlimmste Meinung des Richters erweckt hat, da man in unseren Tagen gewohnt ist, arm und schlecht miteinander auf grauenhafte Weise zu verwechseln. [...] Was ist ein Verbrecher? Ein krankes Glied jenes Körpers, den wir die menschliche Gesellschaft nennen, ein Glied jener moralischen Person, die unser allergnädigster König in sich selbst darzustellen gesonnen ist: ein Glied des Staats. Ein krankes Glied bedarf größerer Sorgfalt und Pflege, als ein gesundes, ein krankes Glied muß man mit allen erdenklichen sanften Mitteln zu gesunden sich bemühen, ehe man zu den schmerzhaften greift, oder es von dem Körper trennt, damit es nicht anstecke. 365 365 Wangenheim Marguerite Mercier, S. 152-154. 248 <?page no="261"?> Während die eigentliche Haupthandlung ausgesetzt wird, entdeckt ein Geistlicher, dass das angebliche Opfer gar nicht tot ist, sondern unter einem falschen Namen eine neue Familie gegründet hat. So wird das Rätsel schließlich durch das Geständnis des vermeintlichen Herrn von Pivardiere aufgeklärt 366 . Kaum ist dies geschehen, so taucht ein Brief auf, indem sich aber ein Verbrecher dazu bekennt, Herrn von Pivardiere ermordet zu haben, um seinen Platz, da er ihm ähnlich sieht, einzunehmen 367 . Alle Informationen über ihn entnimmt er dessen Tagebuch. Die Erzählung endet mit der Darstellung der verschiedenen Prozesse, die sich aus der gesamten von Wangenheim überkonstruierten und verwickelten Lage ergeben. Ähnlich den Fällen im Pitaval werden, zwar stark gerafft, aber dennoch umfangreich, die gerichtlichen Abläufe beschrieben 368 , die auch wirklich stattfanden und die Wangenheim dem „Neuen Pitaval“ entnahm. Gegen Ende der Erzählung wird Marguerite Mercier und ihr Schicksal wieder in den Vordergrund gestellt. Aufgrund politischer Unstimmigkeiten und Fehler im rechtlichen Ablauf muss nun Marguerite als „Sündenbock“ dienen. Ihr wurde von ihren Herren befohlen, Meineid zu leisten, für den sie nun verurteilt wird und der die Basis für weitere ungerechtfertigte Anschuldigungen ist. Damit sollen die Fehler der Behörden und die Intrigen der Beteiligten verborgen werden 369 . An dieser Stelle übt der Autor abermals starke Kritik am Rechtssystem 370 . Er weist darauf hin, dass ein Rechtssystem nur dann funktionieren kann, wenn alle Elemente glaubwürdig und zuverlässig sind 371 , kritisiert das Verdammungsurteil über Marguerite Mercier und die Tatsache, dass, wenn die Gefängnisse überfüllt sind, den 366 Wangenheim Marguerite Mercier, S. 180-183. 367 Ebd., S. 191-195. 368 Ebd., S. 212 ff. 369 Ebd., S. 239. 370 Ebd., S. 228 ff. 371 Ebd., S. 228: „Es liegt im Interesse aller Gerichtsbehörden eines Landes, daß auch nicht eine von ihnen das Mißtrauen des Volkes unwiderlegbar verdiene; der moralische Werth des ganzen Körpers, „Gerichtspflege“ genannt, sinkt mit erstaunlicher Schnelle in den Augen des Masse, zu der man Alles rechnen muß, was vor das Gesetz gehört und somit würde kaum mehr als ein Individuum in einem monarchischen Staate von der Masse ausgenommen bleiben.“ 249 <?page no="262"?> Straftätern die Flucht ermöglicht wird. Diese schließen sich zu Diebesbanden zusammen, da ihnen die Rückkehr in die Gesellschaft nicht mehr ermöglicht wird. Damit greift Wangenheim die Darstellung des Sonnenwirts in Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ auf 372 . Die Haft, welche „eben so gut Folter für den der Freiheit gewohnten Menschen, als Daumenschrauben und spanischer Stiefel“ 373 ist, wird darüber hinaus durch Personen wie Pierre-Torreur nur noch verstärkt. Marguerite Mercier ist schon vor der Verhandlung zu Schandpfahl, Stäupen und Brandmarkung verurteilt und muss damit als einzige Person für das Verbrechen mehrerer anderer Personen büßen, die aufgrund ihrer sozialen Position ohne Schaden davon kommen. Das tragische Ende der Geschichte wird dadurch erzeugt, dass Deny Hubert inzwischen Folterknecht wurde, da es die einzige Berufswahl war, die ihm sonst noch blieb. Als er aber Marguerite erblickt, so verteidigt er sie mit einem Messer gegen den Scharfrichter und Pierre-Torreur, wofür das Liebespaar schließlich vom Volk gesteinigt wird. Am Ende des Buches wendet Wangenheim sich nochmals an den Leser und behauptet trocken: „Was ich Dir im Betreffder unglücklichen Marguerite Mercier erzählt habe, das soll Dich zur Abstraction führen, Dein Amüsement ist Nebensache.“ 374 Dadurch legt er bewusst den Schwerpunkt auf die dargestellte Kritik, die er mit seinem Ausbau der eigentlichen Ereignisse verdeutlichen möchte. Dass er dies aber eigentlich nur anbringt, um seine Erzählung literarisch aufzuwerten, indem er sie auf eine Stufe mit der hochwertigeren Verbrecherliteratur seiner Zeit stellt, liegt bei dieser Konzeption auf der Hand. Er spendet dem Leser noch einen kleinen Trost, indem er ihn darauf hinweist, dass Berton, Bonnet und Morin ebenfalls ihre gerechte Strafe durch das Schicksal erhalten haben. Vergleicht man die Transposition mit dem eigentlichen Bericht aus dem „Neuen Pitaval“, auf den sich Wangenheim sicherlich bezogen hat 375 , so kann man teilweise eine deutliche Ähnlichkeit zur Vorlage erkennen. Im Gegensatz zu seiner Transposition von Schillers „Räu- 372 Siehe dazu Kapitel 6.2. 373 Wangenheim Marguerite Mercier, S. 230. 374 Ebd., S. 246. 375 Dies lässt sich anhand der Erscheinungsdaten beider Werke und an Details belegen, die Wangenheim der Beschreibung dieses Falls entnommen hat. 250 <?page no="263"?> ber“ wurden Ablauf und Inhalt nahezu deckungsgleich übernommen und mit den entsprechenden erzählerischen Mitteln ausgeschmückt. Dabei werden Formulierungen aus der passiven Rede des Pitavals in eine der Szene angepasste Aussprache umgesetzt 376 . Der angebliche Mord wird, im Gegensatz zur Vorlage, aber erheblich ausgeschmückt. Aus dem Bericht des Pitavals geht auch hervor, dass Marguerite Mercier keineswegs „am moralischsten“ gehandelt hat, wie zuerst von Wangenheim bemerkt. Um dies überhaupt erst zu erzeugen, erschafft er die Figur des Denys Hubert, der der Grund für ihre Falschaussagen ist. Obwohl sie später aussagt, dass sie zu diesen Aussagen gezwungen wurde, bildet diese Liebesgeschichte einen fiktiven Rahmen um die auf realen Fakten basierende Handlung, der die erweiterte Handlung antreibt und ihre Motive moralischer wirken lässt. So ist ihre Falschaussage in der Darstellung im „Neuen Pitaval“ Ausgang der nutzlosen Hetzjagd auf die vermeintlichen Mörder, denn sie erfindet die Geschichte und gibt immer mehr Aspekte zum besten. Zudem wird ihre Version der Geschichte von Katharina Lemoine und François Hubert bestätigt 377 . Selbst die Autoren des „Neuen Pitaval“ bezweifeln in ihrem Bericht die Wahrheit dieser Aussagen 378 , die von 30 weiteren Zeugen, „alle Nachbar und gute Freunde der Edeldame“ 379 bestätigt wird. Wangenheim verändert allerdings die Tatsache, dass der Prior im echten Kriminalfall festgenommen wird, da auch er später von Mercier als einer der Mörder benannt wird. Während der erste Teil der Wiedergabe noch getreu übernommen wird, so ist der zweite Teil, also die Zeit nach dem Mord, anders 376 Z.B. Hitzig, J. C.; Häring, W.: Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. 4. Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1843. S. 355-356. Vgl. dazu: Wangenheim Marguerite Mercier, S. 34-45. Man erkennt am Umfang bereits, wie Wangenheim diese Szene, in der sich die beiden Eheleute kurz vor dem vermeintlichen Mord streiten, dem Spannungsaufbau zugute ausbaut und dramatisiert. 377 Hitzig & Härig Der neue Pitaval IV, S. 359-364. 378 Ebd., S. 364: „Der erwähnte François Hubert sagte aus: er habe in der Nacht eine Schuß im Schlosse und den Herrn von Pivardiere schreien gehört. (Von dem Vorwerk aus? )“ Man erkennt an diesem Zitat, dass der Neue Pitaval bereits wesentlich literarisierter ist, als seine Vorgänger. 379 Ebd. 251 <?page no="264"?> dargestellt. Man erkennt im Vergleich deutlich, dass Wangenheim dies tut, um möglichst lange den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und die eigentliche Geschichte, die immer verwirrter wird, noch zu strukturieren. So ist die Selbstdenunziation des Herrn von Pivardiere in der Transponierung von Wangenheim hinzugefügt worden, vielmehr ist es seine Frau, die Kundschafter aussendet, die diesen schließlich unter anderem Namen verheiratet aufspüren. Das Element, dass der aufgefundene Herr von Pivadiere bei Wangenheim ebenfalls ein Betrüger ist, der die Identität eines anderen angenommen hat, wird vom Autor aus der Geschichte des Martin Guerres entlehnt, die Wangenheim sicher ebenfalls kannte und die bereits im originalen Pitaval und im vierten Band des Schillerschen Pitaval abgedruckt ist. Somit ist sein Werk eine Kombination aus einer zweifachen Transposition und fiktiven Elementen. Durch seine Konzentration auf Marguerite Mercier möchte der Autor zeigen, dass der soziale Stand zu dieser Zeit darüber entschied, wie Gesetze angewandt wurden. Während Marguerite „mit bloßen Füßen, einen Strick um den Hals“, öffentlich Kirchenbuße tun muss, öffentlich entkleidet, gestäupt und gebrandmarkt wird, so werden alle anderen Beteiligten vollkommen rehabilitiert und ihr Name aus dem Gefängnisregister gestrichen. Diese Kritik am Rechtssystem ist mit der Aufklärung des Falls verknüpft und ragt vom Umfang her deutlich heraus. Bereits zu Beginn der Erzählung wird umfassend ein mögliches Täter-Opfer-Verhältnis beschrieben. Der Konflikt zwischen den beiden Eheleuten spitzt sich zu, als Herr von Pivadiere nach längerer Abwesenheit auftaucht und seine Frau mit ihrem Liebhaber beim Abendessen überrascht. Im weiteren Verlauf stellt sich heraus, dass beide Eheleute ein Doppelleben führen. Der Konflikt dient vordergründig dazu, den Leser in die Irre zu führen, der über weite Strecken der Erzählung den falschen Spuren glaubt. Hinzu kommen einige zwielichtige Gestalten, die im Hintergrund die Fäden zu ziehen versuchen, um Profit aus diesen Umständen zu ziehen. Dies ist eine weitere Straftat innerhalb der eigentlichen Handlung. An der Darstellung der genutzten Erzählelemente wird deutlich, dass Wangenheim mehrere Handlungsstränge aufbaut und am Ende zusammenführt. Daraus resultiert eine recht umfangreiche Nutzung der Erzählelemente, gleichzeitig wird die Geschichte aufgrund der 252 <?page no="265"?> Abb. 44: Verteilung der Erzählelemente in Wangenheim Marguerite Mercier (1846) „zufälligen“ Zusammenführung der Handlungsstränge und des unrealistischen Endes unglaubwürdig. Daran zeigt sich, dass eine gezielte und reduzierte Nutzung bestimmter Elemente wesentlich effektiver und glaubwürdiger zu gestalten ist, als der umfassende Einsatz möglichst vieler Elemente. Dieses gestalterische Problem findet sich in ähnlicher Form auch bei den „Geheimnissen von Berlin“ 380 . Auf der anderen Seite ermöglicht diese Konstruktion den Aufbau eines Whodunit im Bereich der Verbrecherliteratur. Damit ist deutlich erkennbar, wie sich bereits die Darstellungsmethoden im Bereich der Verbrecherliteratur am Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts gewandelt hatten, indem Elemente der Kriminalliteratur aufgenommen wurden, deren Entwicklung bereits um die Jahrhundertwende einsetzte. Dies lässt sich auch bei modernen Formen der Verbrecherliteratur nachweisen, wie beispielsweise bei Schirach 381 . Wangenheim nutzt bewusst verschiedene Fokalisierungen und Erzählstränge, um Spannung aufzubauen. So wird nach dem sich anbahnenden Konflikt der beiden Eheleute nicht etwa die Tat dargestellt, sondern ein Kapitel eingefügt, in der eine Hochzeit beschrieben wird, 380 Siehe dazu Kapitel 10.2. 381 Siehe dazu Kapitel 5.9. 253 <?page no="266"?> Abb. 45: Erzählelemente in Wangenheim Marguerite Mercier (1846) die scheinbar nichts mit den aktuellen Ereignissen zu tun hat. Erst am Ende wird der Leser begreifen, dass dies eine versteckte Spur bezüglich des Verbleibs des scheinbaren Opfers ist. Der Autor nutzt sein Erzählkonzept, um die eigentliche Tat möglichst lang zu verschleiern. Die beiden vermeintlichen Mörder sehen sich mit ungerechtfertigten Anschuldigungen konfrontiert. Ihre eigene Aufklärung führt zu nichts und der Waldhüter bringt Frau von Pivadiere dazu zu fliehen, da die Situation für sie ausweglos erscheint. Nun beginnt die Aufklärung des Falles, die sich über die gesamte Erzählung hinzieht. Ausgespart wird die eigentliche Verurteilung Marguerites, die der Autor als „eine 254 <?page no="267"?> Abb. 46: Spannungsaufbau in Wangenheim Marguerite Mercier (1846) der schwärzesten Stellen der Rechtspflege“ 382 bezeichnet. Daher gibt er der bevorstehenden Bestrafung und den unmenschlichen Haftbedingungen ungewöhnlich viel Raum, um die Ungerechtigkeit zu betonen. 5.9 Ausblick auf die heutige Verbrecherliteratur: Ferdinand von Schirach - Verbrechen (2009, Vr5) und Schuld (2010, Vr5) Dass der Bereich der Verbrecherliteratur keineswegs ausschließlich eine Vorstufe der modernen Krimis ist, sondern durchaus als eigenständige Form der Verbrechensliteratur betrachtet werden kann, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass sich die bisher vorgestellten Werke durch eine große Bandbreite an eigenständigen Darstellungsmethoden und Erzähltechniken auszeichnen, sondern auch daran, dass bis heute Werke verfasst werden, die in der Tradition der frühen Verbrecherliteratur stehen. Auch wenn sie eine eigene Sparte darstellen, deren Anhänger nicht unbedingt die typischen Krimileser sind, so ist doch der literarische Erfolg der beiden ersten Werke von Ferdinand von Schirach äußerst beeindruckend. 2009 veröffentlichte der deutsche Strafverteidiger sein erstes Werk „Verbrechen“, das in der Tradition der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts steht und im Januar 2015 bereits die 24. Auflage (! ) erfahren hat. Das Buch stand 45 Wochen auf der Bestsellerliste des „Spiegels“ und die Rechte am Werk wurden in 30 Länder verkauft. Inzwischen gibt es selbst eine Fernsehreihe des ZDFs zu 382 Wangenheim Marguerite Mercier, S. 242. 255 <?page no="268"?> diesem Werk. Auch sein Folgewerk „Schuld“ (2010) steht in Tradition mit der klassischen Verbrecherliteratur. Schirach transponierte auch reale Fälle und baute sie zu umfangreichen Romanen aus. In „Der Fall Collini“ (2011) wird der Mord am Industriellen Hans Meyer nacherzählt, doch beginnt bereits hier die Grenze zwischen Realität und Fiktionalität zu verschwimmen. Diese Technik findet sich auch in den Kurzgeschichten „Carl Tohrbergs Weihnachten“ (2012) und seinem neusten Werk „Tabu“ (2013), in dem er die Arbeit des fiktiven Strafverteidiger Konrad Biegler beschreibt, der in seiner Charakterzeichnung an einen Wachtmeister Studer oder Kommissar Maigret erinnert. Damit entwickelte er den Bereich der Verbrecherliteratur analog zu den Entwicklungen der Kriminalliteratur weiter, der mit dem Aufkommen des modernen Krimis in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung getreten war. So schließt er in gewisser Weise eine literarische Entwicklung ab, die ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert hatte. Seine beiden ersten Werke setzen sich damit auseinander, was eigentlich Schuld bedeutet und wie ein Mensch schuldig werden kann. Diese klassische Konzeption der Verbrecherliteratur ist bereits anhand der Titel erkennbar. Dabei stellt er das moderne Recht, das fast ausschließlich nach der Sachlage und den Indizien urteilt, in ein Spannungsverhältnis zu moralischen Fragen, denn „moralische Schuld spielt keine Rolle wenn es um die Frage geht, ob der Angeklagte es tatsächlich war“ 383 . Im Grunde genommen geht es um einen unterschiedlichen Wahrheitsbegriff. Der Richter verurteilt, wenn er beweisen kann, dass der Angeklagte es war. Das entscheidet er nach den Beweisen, die ihm vorliegen. [...] Das ist im normalen Leben natürlich nicht so. Dort sind die Dinge für uns wahr, die wir glauben. 384 Schirach betont in einem Interview mit Regine Sylvester, dass erst der Hintergrund einer Tat erklären kann, wie es dazu kam. Dennoch 383 Sylvester Schuld und Sühne (URL). 384 Ebd. 256 <?page no="269"?> trennt er diesen Bereich bewusst von den moralischen Aspekten 385 und vermeidet es, in seinen Anekdoten explizit darauf hinzuweisen. Aufgrund seiner dichten Erzählweise steht diese Komponente aber sozusagen stillschweigend zwischen den Zeilen und erlaubt es dem Leser nicht, unbeteiligt auf die teilweise überaus tragischen Erlebnisse zu schauen. Der Träger des Kleist-Preises 2010 schafft es in diesen Werken, sowohl erzähltechnisch Spannung aufzubauen, als auch eine deutliche Kritik an immer noch bestehenden Grenzen des modernen Rechtssystems aufzuzeigen. So sind beispielsweise in der Erzählung „Volksfest“ 386 die von Polizisten zerstörten Beweise der Grund dafür, dass die offensichtlichen Täter nicht bestraft werden können. Dies wird von dem Autor ganz explizit thematisiert: „Unser Strafrecht ist Schuldstrafrecht. Wir strafen nach der Schuld eines Menschen, wir fragen, in welchem Maß wir ihn für seine Handlungen verantwortlich machen können. Das ist kompliziert. Im Mittelalter war es einfacher, man bestrafte nur nach der Tat: Einem Dieb wurde Hand abgehackt. Und zwar immer. Es war ganz gleich, ob er aus Geldgier stahl oder weil er sonst verhungert wäre. Strafen war damals eine Art Mathematik, auf jede Tat stand ein genau festgelegtes Strafmaß. Unser heutiges Strafrecht ist klüger, es wird dem Leben gerechter, aber es ist auch schwieriger.“ 387 Dabei hat sich Schirach heute längst wegbewegt von einer zu starren Wiedergabe der gerichtlichen Fakten. Vielmehr versucht er durch eine große erzähltechnische Nähe 388 einen echten Erzähltext daraus zu formen, der aber aufgrund seiner ausgeprägten Resümees immer auf der Ebene der Berichterstattung bleibt. Hierfür nutzt er sämtliche modernen Erzähltechniken und Möglichkeiten der Fokalisierung, der Ordnung und der Tempowechsel, die er immer wieder neu arrangiert. Durch die Kürze der Texte schafft er 385 Sylvester Schuld und Sühne (URL): „Die Tat selbst kann man ja fast niemals verteidigen.“ 386 Schirach Volksfest. 387 Schirach, Ferdinand von: Der Äthiopier. In: ders.: Verbrechen. 16. Auflage. München: Piper Verlag, 2009. S. 185-206. Hier: S. 205. 388 Schirach, Ferdinand von: Tanatas Teeschale. In: ders.: Verbrechen, S. 21-42. Hier: S. 25: Hier werden zum Beispiel auditive Wahrnehmungen beschrieben. Grundsätzlich ist eben genau diese teilweise Wahrnehmung aus Sicht der beschriebenen Täter genau diesem Punkt zuträglich. 257 <?page no="270"?> es zusammen mit seinem eindrucksvollen, aber minimalistischen Stil, die Schicksale der Täter herauszuarbeiten, ohne diesen Fokus allzu stark zu betonen. Damit zwingt er den Leser, den eigentlichen Text abstrakt zu betrachten und über die eigentliche Darstellung hinaus zu interpretieren, denn jeder der Fälle thematisiert abstrakt betrachtet einen ganz speziellen Aspekt des menschlichen Zusammenlebens oder der Tragik des Lebens. Nicht umsonst steht am Ende seines ersten Werkes der Satz eines Bildes von René Magritte 389 . Manche Fälle werden erzählt und wirken durch ihre fehlende Auflösung besonders bedrohlich, da durch die spezielle Darstellungsmethode Schirachs die ganze Brutalität der Situation implizit im Raum steht 390 . Andere vermitteln dem Leser wiederum durch ihre Ohnmacht vor brutaler Willkür, menschlichen Fehlern und zu starren Reglementierungen die Resignation vor menschlicher Gewalt 391 . Teilweise nimmt er in seinen Texten, wie der Kriminalrichter bei Müllner, aus Mitgefühl selbst die Rolle der aufdeckenden Detektivfigur ein. So findet er bei einem Fall das ausschlaggebende Indiz für die Unschuld des Verdächtigen, was alle bisher übersehen haben 392 , oder kümmert sich um die Herbeischaffung von Zeugen, die im letzten Moment noch dabei helfen, Klarheit in eine Untersuchung zu bringen 393 . Im Vergleich mit Pitaval oder Feuerbach muss man aber festhalten, dass er ganz gezielt das Schockmoment herausarbeitet und mit der Sensationslust des Lesers spielt, während die älteren Texte dieses Genre immer noch einen gewissen Funktionsanspruch hatten, also als Hilfestellung für Juristen gesehen wurden. Dieser Aspekt ist nur an manchen Stellen erkennbar, wenn das Verhalten von Richtern und falsch gelaufene Untersuchungen thematisiert werden. In den intensivsten Momenten ist sein homodiegetisches und intern fokalisiertes Auftreten in Form eines Ich-Erzählers ein Beleg dafür, dass sich die teilweise absurden Geschichten wirklich ereignet haben 394 . 389 Schirach Verbrechen, S. 207: „Ceci n´est pas une pomme.“ 390 Schirach Tanatas Teeschale. 391 Schirach Das Volksfest. 392 Schirach, Ferdinand von: Summertime. In: ders.: Verbrechen, S. 89-120. Hier: S. 118-119. 393 Schirach Der Äthiopier, S. 204-205. 394 Z.B. Schirach, Ferdinand von: Die Illuminaten. In: ders. Schuld, S. 27-51. Hier: S. 49-51. 258 <?page no="271"?> Am Bericht über Stefanie Becker 395 lässt sich aufzeigen, warum diese Texte vom Aufbau her den Pitaval‘schen ähneln. Der Mord wird nicht an den Anfang gesetzt, sondern zuerst wird der eigentliche Konflikt beschrieben, der später zum Tod der Studentin führt 396 . Die Tat wird nie explizit dargestellt, sondern stets in Form eines Summarys. Diese bestehen aus einer dem Erzähler vorliegenden Akte über den Leichenfund sowie einem Gutachten der Gerichtsmedizin, die dem Leser indirekt die Tat vor Augen führen. Aus Sicht der ermittelnden Personen 397 werden Indizien aufgezeigt und das Verhalten der Verdächtigen beschrieben. In diesem Fall gibt es einen Haupt- und einen Alternativverdächtigen und Schirach erhält das Spannungsmoment bis zum Ende, indem er erst ganz um Schluss ein Indiz nennt, welches er selbst entdeckt hat und das die gesamte Situation mit einem Schlag umkehrt 398 . Trotzdem reichen die Beweise nicht, Abbas kann nicht verurteilt werden. Alle Berichte steigen immer direkt in den Handlungsablauf ein, sind stark durch die kurzen Abschnitte untergliedert und meist eine Mischung aus homo- und heterodiegetischem Erzähler. Besonders die Passagen, in denen die handelnden Personen der Fälle intern fokalisiert werden, sind erzähltechnisch eine deutliche Erweiterung des Erzählkonzeptes der Verbrecherliteratur des 18. Jahrhunderts und schaffen eine beklemmende Nähe zu den Fällen. Immer werden alle Beteiligten in ihrem sozialen Kontext umrissen und durch eine detailgenaue Beschreibung ihrer Erlebnisse und Gedanken in gewisser Weise greifbar. Das echte Leben wird so schockierender als die konstruierte Welt des Krimis und teilweise distanziert sich Schirach ausdrücklich davon 399 . Er erreicht seine starke Wirkung auf den Leser auch dadurch, dass er den erhobenen Zeigefinger der Autoren der Aufklärung vermeidet und die Geschichten so aufbaut, dass es 395 Schirach Summertime. 396 Ebd., S. 101. 397 Ebd., S. 102. 398 Ebd., S. 118. 399 Ebd., S. 102: „Witze am Obduktionstisch waren etwas für Kriminalromane.“; ebd. S. 112: „Der Satz des Kriminalkommisars, dass eine Lösung zu einfach sei, ist eine Erfindung von Drehbuchautoren. Das Gegenteil ist wahr. Das Offensichtliche ist das Wahrscheinliche. Und fast immer ist es auch das Richtige.“ 259 <?page no="272"?> keiner expliziten Zusammenfassung seiner Intention bedarf. Dennoch findet sich auch die klassische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Recht und Probleme bei dessen Anwendung in seinen Texten. Dabei unterscheidet sich die heutige Zeit vor allem dadurch, dass die Richter dem Motiv einer Tat ein wesentlich größeres Gewicht zumessen als im 18. Jahrhundert. Natürlich müssen Richter das Motiv eines Angeklagten nicht kennen, um ihn verurteilen zu können. Aber sie wollen wissen, warum Menschen tun, was sie tun. Und nur wenn sie es verstehen, können sie den Angeklagten nach seiner Schuld bestrafen. Verstehen sie es nicht, fällt die Strafe fast immer höher aus. 400 5.10 Erster Ausblick Auch wenn strukturell bedingt das Rätsel in der Verbrecherliteratur nicht den gleichen Platz einnehmen kann wie in der Kriminalliteratur, so lässt sich feststellen, dass in der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur des hier behandelten Zeitraums sowohl die Tendenz zur Verknappung wie auch eine immer stärkere Verrätselung der Texte deutlich wird. Dennoch ist der rationalen Auflösung in der auf realen Tatsachen basierenden Verbrecherliteratur allein schon durch den Realitätsanspruch der Texte eine Grenze gesetzt. Denn dies ist ein literarischer Kunstgriff, der die Wirklichkeit des Dargestellten verfälschen würde, da solche Aufklärungen, wie sie im modernen Krimi stattfinden, in der Realität vergeblich gesucht werden. Aus diesem Grund entstanden Mischformen wie bei Wangenheim, die dort fiktive Elemente einbauen, wo die Realität aufhört spannend zu sein. Was allerdings bei allen hier vorgestellten Autoren bereits deutlich erkennbar ist, ist der Auf- und der Ausbau einer Spannungskurve, indem dem Leser eben nicht, wie im Konzept Pitavals, sämtliche Erkenntnisse über ein Verbrechen notwendigerweise in der Überschrift oder direkt am Anfang der Erzählung mitgeteilt werden. An dieser 400 Schirach, Ferdinand von: Der Andere. In: ders.: Schuld, S. 69-86. Hier: S. 82. 260 <?page no="273"?> Stelle wird die Bedeutung der zuvor erläuterten Unterscheidung zwischen Verbrecher- und Kriminalliteratur deutlich. Durch diese Differenzierung lässt sich der Unterschied der Darstellungsmethoden zwischen der Verbrecher- und Kriminalliteratur beschreiben und es wird eine Entwicklung sichtbar, die man nicht erkennen kann, wenn man diese Darstellungsmethoden ausschließlich an einer Form misst, die erst nach der Entwicklung weiterer literarischer Elemente und Strukturen entstehen konnte 401 . Damit kann man zusammenfassen, dass in diesen Texten „das Verbrechen unter einem jeweils anderen Aspekt und mit einem jeweils anderen Ziel dargestellt [wird] als durch die belletristischen Erzeugnisse, die hierzuland als Kriminalroman oder Kriminalerzählung [...] firmieren.“ 402 Es gelingt den Autoren aber dennoch, ganz eigenständige Darstellungsmethoden des Verbrechens zu entwickeln, die variabler gestaltet werden können als diejenigen des modernen Krimis. Auch die Verfasser der frühen Kriminalliteratur erkannten das Potential des Erzählstoffs und die Möglichkeiten, die sich zum Spannungsaufbau boten. Dennoch war eine gewisse Zurückhaltung bei der Darstellung 403 Teil des Berufsethos derjenigen, die diese Texte verfassten und auch heute noch verfassen. Dabei zeigt der große Publikumserfolg dieser Texte, dass damit dennoch ein Bedürfnis des lesenden Publikums gestillt wurde, dem auch die spätere Form des modernen Krimis gerecht wird. Doch bis dahin waren noch weitere Entwicklungen nötig, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Die Schriftsteller der frühen Verbrecherliteratur mussten auf der einen Seite der Anziehung des „Piquanten“ gerecht werden, auf der anderen Seite Entwicklungen innerhalb der Rechtsprechung dokumentieren. 401 Leonhardt 1990, S. 13-14: „Bemerkenswert ist die immer deutlicher in den Vordergrund rückende Tendenz, durch eine bestimmte Anordnung der Tatsachen eine ungebrochene Spannungskurve zu entwickeln, so daß die Lösung des Falles dem Leser bis zum Schluß verborgen bleibt. Trotzdem sind die Prozeßberichte aus dem Pitaval und ähnlichen Sammlungen keine Vorläufer des Kriminalromans. Naturgemäß müssen manche Einzelheiten ungeklärt, andere sogar unverständlich bleiben. Nur in der Kunstform der Dichtung können sich alle Puzzlesteine des Rätselspiels zu einem lückenlosen, sinnvollen Bild zusammenfügen.“ 402 Berger 1988, S. 19. 403 Meißner Die Seelen-Folter. Geschichten von Unstern und Aberwitz, S. 46. 261 <?page no="274"?> Das neue Genre der Verbrechenserzählung sucht eine Balance zwischen Unterhaltung und Belehrung. Der Zeitschriftenherausgeber Schiller weiß beispielsweise um die Schwäche des Publikums für ‚piquante Erzählungen [...], das Bizarre und Fremde‘, etwa für ‚Meissnerische Dialoge‘ [...]; andererseits verteidigt er aber ‚die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen‘ [...].“ 404 Betrachtet man Geschichten im Stil Pitavals am Ende des hier vorgestellten Zeitraums, so erkennt man, dass eine Verrätselung bereits eingesetzt hatte. Am Beispiel der Erzählung „Klara Wendel“ 405 kann man nachweisen, dass zwar das Element der Aufklärung des Falls nicht mit einer Person verknüpft wurde, der anfängliche Aufbau aber bereits stark den ersten Krimis ähnelt. Hierbei wird die Aufdeckung des Verbrechens immer von Zeugen geleistet, was mit den damaligen Möglichkeiten einer polizeilichen Untersuchung zu tun hatte. Durch diese Darstellungsweise stellt die Erzählung das innere Seelenleben und die Motivation eines Verbrechens in den Vordergrund, nicht seine Aufdeckung. Eine solche Konzeption lässt sich später unter anderem bei den Krimis von G.K. Chesterton nachweisen 406 . Auch die Vertreter der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur greifen das „Unerhörte“ und Außergewöhnliche der Novelle auf, strukturieren aber den Erzählprozess ganz anders. Erst mit der Novelle und der damit verbundenen Verkürzung der Textlänge sowie dem Akzent auf der Verrätselung und dem verstärkten Spannungsaufbau wird der Weg für den modernen Krimi geebnet 407 . Den Übergang zwischen der extensiven Darstellung realer Verbrechen und dem Übertragen dieses literarischen Inhaltes auf fiktive 404 Košenina 2009, S. 197. 405 Hitzig, J. C.; Häring, W.: Klara Wendel. In: dies.: Der neue Pitaval IV, S. 395-448. 406 Leonhardt 1990, S. 72: „Seine Auffassung, jeder Mensch sei unter bestimmten Voraussetzungen eines Verbrechens fähig, findet sich, viel später, wieder in Kriminalromanen, die den Verbrecher und nicht den Detektiv in den Mittelpunkt stellen, so daß der Leser sich mit ihm identifizieren muß, ob er will oder nicht.“ 407 Siehe dazu Kapitel 8.2. 262 <?page no="275"?> prosaische Erzähltexte lässt sich im Werk zweier Autoren nachweisen, denen im Folgenden aufgrund der Wichtigkeit ihrer Überlegungen und Konzepte jeweils ein gesondertes Kapitel eingeräumt werden muss. Denn es lässt sich nicht nur ihre Auseinandersetzung mit dem Thema erkennen, vielmehr kann man an ihren Entwürfen nachweisen, welchen historischen Konzepten die Entstehung des modernen Krimis geschuldet ist. Dabei markieren sie den Übergang zwischen der auf Aktenmaterial basierenden Wiedergabe von Rechtsfällen hin zu fiktiven Kriminalerzählungen. Die dabei entstehende literarische Zwischenform einer auf den Leser ausgerichteten Wiedergabe von realen Geschehnissen stellt den notwendigen Zwischenschritt da, der auf dem Weg zur Kreation des modernen Krimis vollzogen werden musste 408 . So sind sowohl der „Verbrecher aus verlorener Ehre“ wie auch „Michael Kohlhaas“ nur noch entfernt an die juristischanthropologische Verbrecherliteratur angelehnt, was Schiller auch auf theoretischer Ebene thematisiert. Darüber hinaus übertragen diese beiden Autoren die Konzepte der auf realen Fakten basierenden Verbrecherliteratur in die Welt der Fiktion. 408 Marsch 1983, S. 151: „Solange es Rechtsfälle geben wird, wird es auch Berge von Aktenmaterial geben. Die Neigung, große Fälle zu rekonstruieren und in Büchern zu reproduzieren, ist in der Moderne ebenso zu beobachten wie im 18. Jahrhundert. [...] Es wird also immer die literarische Zwischenform des reproduzierten Falls geben, der einerseits auf die Authentizität des wirklich Geschehenen, andererseits aber auch auf das Interesse des Lesers Rücksicht nimmt. Diese doppelte Rücksichtnahme führt wie erläutert zur Fiktion.“ 263 <?page no="276"?> 6 „Der andere Schiller“: auf der Suche nach neuen Textformen und Erzählstrukturen für eine Darstellung „menschlicher Irrungen“ Schillers Werk spielt in der Forschung zur Verbrechensliteratur eine überaus interessante Rolle. Im Gegensatz zu anderen Autoren seiner Zeit scheut er sich nicht, das Verbrechen zum zentralen Element mehrerer Werke zu erheben, die allesamt eine ganz herausragende Rolle in der Verbrechensliteratur seiner Zeit einnehmen 1 . Schon sein erstes Drama „Die Räuber“ brach mit den alten Konzepten und stellte das Verbrechen in den Mittelpunkt der Handlung. Von da an begleitete ihn dieses Thema, mit dem er sich auf struktureller Ebene in vielerlei Formen auseinandersetzte 2 . Sein Werk deckt sowohl den 1 Süselbeck, Jan: Scheiß=Schiller! Arno Schmidt über den Klassiker. URL: http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id= 8140&ausgabe=200505 , Abruf: 23.05.2013: „Der Klassiker sei zwar ein ‚großer Mann, gern zugegeben; aber was sind seine Stücke, unvoreingenommen betrachtet, mehr, als dialogisierte causes célèbres, d. h. berühmte Kriminalfälle? ‘ Mit dem Krimigenre konnte sich Schmidt bekanntlich nie anfreunden, weswegen er brutale Schiller-Plots wie in ‚Die Räuber‘ oder ‚Jungfrau von Orleans‘ abkanzelt: ‚Daß Schiller heute, bei uns, der gesuchteste Drehbuchautor für Mord- und Räubergeschichten wäre, kann doch nur ein Denkfauler oder ein Germanist abstreiten.‘ Andererseits wendet der Kritiker diesen Aspekt an anderer Stelle positiv: ‚Schiller war wesentlich morbider und radikaler, als der von seinen nationalen Schlagworten hingerissene Bürger sich normalerweise einzugestehen wagt! Hätte es zu seiner Zeit schon den Kriminalroman gegeben (zu dem er nebenbei im ‚Geisterseher‘ einen unverächtlichen Anfang gemacht hat), er hätte darin excelliert! “ 2 Leonhardt 1990, S. 13: „Die Frage, wieweit die Darstellung von Verbrechen in der Literatur gerechtfertigt ist, beschäftigte ihn [Schiller] bis zu seinem 264 <?page no="277"?> Bereich der Verbrecherwie auch der Kriminalliteratur ab, zudem versuchte er sich an Rätseln und theoretischen Auseinandersetzungen mit diesem Thema. Dennoch stand er diesem Bereich seines Schaffens durchaus kritisch gegenüber und brach manche Konzeption ab, die in ihrer Fortführung zu ganz eigenständigen Ergebnissen gekommen wäre 3 . „Die Räuber“, Schillers erstes Drama, welches Ende Juni 1781 in einer Auflage von 800 Stück gedruckt wurde 4 , thematisiert die Verbrecherlaufbahnen von zwei Brüdern. Schon hier spürt man bereits die konstruktive Auseinandersetzung mit der literarischen Struktur der Verbrechensdarstellung, denn es existieren zwei verschiedene Fassungen, die im Untertitel den Schwerpunkt anders setzen: Ein „Lesedrama mit dem Untertitel Schauspiel und [...] eine Bühnenfassung mit dem Untertitel Trauerspiel.“ 5 Beide Versionen wurden 1782 nochmals von Schiller überarbeitet 6 . In ungewöhnlicher Weise wird in diesem Werk mit tradierten Normen und Werten gebrochen, indem die Verkörperung des Bösen auf zwei Ebenen dargestellt wird: durch die Taten der Personen und durch die Darstellungen der Abgründe der menschlichen Seele auf beiden Seiten, die durch die Innensicht der Monologe aufgezeigt wird 7 . Dabei verzeichnet Schiller in seiner Vorrede zu diesem Werk, dass er aufgrund einer „Fülle ineinandergedrungener Realitäten“ es nicht „in die allzuenge Pallisaden des Tod. Im Jahr 1802 veröffentlichte er seinen Aufsatz „Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Literatur“. In dieser kleinen Schrift findet sich der bemerkenswerte Satz, der moralisch verwerflichere Mörder sei für die ästhetische Darstellung in der Dichtung ‚brauchbarer‘ als ein Dieb.„ 3 Schönhaar 1969, S. 13: „Besondere Aufmerksamkeit darf dabei das Erzählschaffen Schillers beanspruchen, weil in ihm der Vorgang einer bewußten Aufnahme des Kriminalschemas in den Bereich der Erzählkunst zum erstenmal sichtbar wird, dann freilich vorzeitig abbricht.“ 4 Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen. München: Verlag C.H. Beck, 2010. S. 178. 5 Sautermeister, Gert: Die Räuber. Ein Schauspiel (1781). In: Luserke-Jaqui, Matthias (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, 2005. S. 01-45. Hier: S. 01. 6 Ebd., S. 02. 7 Alt 2010, S. 180. 265 <?page no="278"?> Aristoteles und Batteux einkeilen konnte“ 8 . Der Inhalt, so Schiller weiter, aber ist es, warum sein Schauspiel von den Bühnen verbannt werden wird, denn er bedingt das Auftreten von Charakteren, deren Tugend beleidigt und deren Sitten empören 9 . So musste er das Stück den teilweise persönlichen Wünschen des Intendanten des Mannheimer Hoftheaters, Wolfgang Heribert von Dalberg, anpassen und „zahlreiche >bühnengerechte< Änderungen“ 10 vornehmen, damit es in Mannheim aufgeführt werden konnte. Dazu zählte auch, dass die Zeit der Handlung von der Gegenwart ins Mittelalter verlegt wurde 11 , um den „aktuellen politischen Sprengstoffder Räuber [zu] entschärfen“ 12 . Schiller orientierte sich bei der Konzeption von „Die Räuber“ an Christian Friedrich Daniel Schubarts Erzählung „Zur Geschichte des menschlichen Herzens“ (1775), aus der er die gegensätzliche Konzeption der beiden Brüder entlehnte 13 . Doch er entwickelte diesen Aspekt weiter und vertiefte ihn im Gegensatz zu Schubart in seinem Werk. Schillers Intention war es, durch seine Darstellung die guten Menschen durch die bösen zu schattieren. Wer das Laster stürzen will, muss zuerst „seine nächtlichen Labyrinthe durchwandern“ 14 und sich damit der umgekehrten Katharsis aussetzen, indem er sich in Empfindungen hineinversetzt, „unter deren Widernatürlichkeit sich seine Seele sträubt“ 15 . In seiner Vorrede merkt Schiller an, dass Franz Moor durch seine Gottlosigkeit und Verachtung der Menschheit gegenüber, Karl Moor dagegen durch eine Bitterkeit der unidealistischen Welt gegenüber gekennzeichnet ist. Schiller zeichnet seine Charaktere genau, denn Karls Narzissmus und das damit verbundene Verhalten ist keineswegs nur dem Bruch mit seinem Vater geschuldet, sondern seiner gesamten Erziehung 16 . Auch Franz 8 Schiller, Friedrich: Die Räuber. 4. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004. S. 09. 9 Ebd. 10 Sautermeister 2005, S. 01. 11 Ebd., S. 01-02. 12 Ebd., S. 02. 13 Ebd., S. 03. 14 Ebd., S. 10. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 04. 266 <?page no="279"?> handelt als Zweitgeborener und von der Natur aus benachteiligter Bruder aufgrund einer lebenslangen ungleichen Behandlung 17 . Somit handeln beide Brüder zwar aus unterschiedlichen Gründen, doch die „gemeinsame despotische Willkür“ 18 lässt auf ähnliche psychologische Gründe für ihre Taten schließen. Dabei wählte Schiller nicht umsonst zuerst die Version des Lesedramas, denn hier kann man als Leser „ jene Doppelperspektive entwickeln, die der Gestalt des Franz Moor angemessen ist“ 19 und die es dem Leser ermöglicht, Franz nicht nur als Täter, sondern, ganz in Tradition der damaligen juristischanthropologischen Verbrecherliteratur, bis zu einem gewissen Grad auch als Opfer seiner Umstände zu verstehen. Der Autor nennt es daher eine moralische Schrift, denn „das Laster nimmt den Ausgang, der seiner würdig ist“ 20 . Dies bezeichnet Alt als das funktional operierende Böse, welches Bestandteil einer „Dramaturgie der sittlichen Abschreckung“ 21 ist und ebenso über ein „funktionales Begründungsmuster“ 22 erklärt werden kann. Lessings Forderung, „daß allein der Entwurf eines mittleren Charakters den kathartischen Zweck der Tragödie sicherstellt“ 23 , lehnt er mit diesem Entwurf vehement ab, vielmehr entwickelt er in seiner Vorrede den Anspruch an den Leser, sich dieser umgekehrten Katharsis zu unterziehen, die ja doch nur der Schatten der normalen Katharsis ist. Schiller sucht nach einer möglichst stimmigen Darstellung des Bösen und der Verfehlung, die für ihn genau die gleiche Darstellungssorgfalt benötigt wie das Gute, um sich seine dramaturgische Existenz zu verdienen 24 . Ebenso stellt Schiller mit den beiden Brüdern zwei Ursachen, die Böses generieren, gegenüber. Auf der einen Seite steht der Ehrgeiz Franz‘, auf der anderen Seite „Vermessenheit und Sturz“ 25 bei Karl. Dies sind die Gründe für „die Perversion 17 Sautermeister 2005, S. 04. 18 Ebd., S. 05. 19 Ebd., S. 25. 20 Schiller Die Räuber, S. 14. 21 Alt 2010, S. 181. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 182. 24 Ebd., S. 182. 25 Ebd., S. 188. 267 <?page no="280"?> aufgeklärter Mündigkeit“ 26 , die sich bei beiden feststellen lässt und gleichzeitig verbindendes Element zwischen den beiden Brüdern ist, obwohl sie scheinbar antagonistisch konzipiert sind 27 . Beiden Brüdern ist zu eigen, dass durch ihre Handlungen der Sinn des Lebens schwindet. Dies gilt nicht nur für Franz, der darüber verzweifelt und sich selbst umbringt 28 , sondern auch für Karl, der durch sein Handeln jede Rückkehr in die Gesellschaft verspielt hat und dessen Leben nur noch den materiellen Wert besitzt, der auf seinen Kopf ausgesetzt ist. Daher liefert er sich einem armen Tagelöhner aus, um so seinem Tod einen letzten Sinn zu geben. Das Besondere an Schillers Drama ist, dass er „die soziale Randgruppe der Räuber zu einem zentralen Handlungsträger macht“ 29 . Damit stellte er ein „soziales Phänomen“ 30 in den Vordergrund, das später in der Unterhaltungsliteratur ein beliebtes Thema wurde und ihm aus Berichten seines Lehrers Jakob Friedrich Abel bekannt war, dessen Vater an der Verurteilung und Bestrafung des Sonnenwirts beteiligt war. Diesem Verbrecher widmete Schiller seinen „Verbrecher aus verlorener Ehre“, ein Werk, das 1786 unter dem Titel „Verbrecher aus Infamie“ erschien 31 . Riemann sieht sogar Parallelen zu Meißner bezüglich des Stils dieser Erzählung 32 . In seinem Aufsatz „Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Literatur“ aus dem Jahr 1802 formuliert Schiller wesentlich später nochmals den literarischen Vorteil, den die Darstellung von Verbrechen aus moralischer Sicht mit sich bringt. Ein Mensch, der stiehlt, würde demnach für jede poetische Darstellung von ernsthaftem Inhalt ein höchst verwerfliches Objekt sein. Wird aber dieser Mensch zugleich Mörder, so ist er zwar moralisch noch viel verwerflicher, aber ästhetisch wird er dadurch wieder um einen Grad brauchbarer. Derjenige, 26 Brittnacher, Hans-Richard: Die Räuber. In: Koopmann, Helmut (Hrsg.): Schiller Handbuch. Stuttgart: Kröner-Verlag, 1998, S. 326-353. Hier S. 333. 27 Alt 2010, S. 188. 28 Sautermeister 2005, S. 06. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Siehe dazu Kapitel 6.2. 32 Vgl. dazu Riemann 1905. 268 <?page no="281"?> der sich (ich rede hier immer nur von der ästhetischen Beurteilungsweise) durch eine Infamie erniedrigt, kann durch ein Verbrechen wieder in etwas erhöht und in unsre ästhetische Achtung restituiert werden. Diese Abweichung des moralischen Urteils von dem ästhetischen ist merkwürdig und verdient Aufmerksamkeit. 33 Dies rührt laut Schiller daher, dass ein Diebstahl eine „kriechende, feige Gesinnung“ 34 anzeigt, die in der Phantasie des Lesers oder Zuschauers mit niederen Beweggründen verbunden sind. Ein Mord aber zeigt „wenigstens den Schein von Kraft, wenigstens richtet sich der Grad unsers Interesse, das wir ästhetisch daran nehmen, nach dem Grad der Kraft, der dabei geäußert worden ist.“ 35 Alt aber weist zurecht darauf hin, dass es vor allem um die pervertierte Autonomie geht, die als zentrale Macht zur Triebfeder des Bösen wird. Dabei wird die Vorrede der „Räuber“ zum „Ordnungsrahmen [...] den das nachfolgende Spiel im Zusammenhang seines radikalen Gedankenexperiments zerstört“ 36 . Genau dieser Wechsel zwischen Ordnung und Zerstörung derselben ist Teil dessen, was die Faszination des modernen Krimis ausmacht, nur dass hierbei vom Chaos zur Ordnung geleitet wird und nicht, wie bei Schiller, in umgekehrter Reihenfolge. Darüber hinaus stellt er fest: „Sobald wir aber anfangen zu zittern, so schweigt jede Zärtlichkeit des Geschmacks.“ 37 Die Auseinandersetzung mit den dunklen Trieben des Menschen beschäftigte Schiller schon früh. Nachdem er auf Befehl des Herzogs bereits mit 14 Jahren eine militärische Laufbahn einschlagen musste, begann er 1773 auf der Militärakademie „Karlsschule“ in Stuttgart ein Rechtsstudium. Zwei Jahre später wechselte er das Studienfach 33 Schiller, Friedrich: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Literatur. In: Rötzer, Hans Gerd (Hrsg.): Texte zur Geschichte der Poetik in Deutschland von M. Opitz bis A.W. Schlegel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982. S. 376-381. Hier: S. 379. Hervorh. im Original. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Alt 2010, S. 190. 37 Schiller Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Literatur, S. 380. 269 <?page no="282"?> und studierte fortan Medizin 38 . Als junger Mann faszinierten ihn die Werke des Sturm und Drangs, die nach einer gleichberechtigten Darstellung von Empfindung und Verstand strebten. Schon 1776 begann er sein Drama „Die Räuber“ zu schreiben, doch noch viel aufschlussreicher als diese Tatsache ist seine (dritte) Dissertation, die er 1780 unter dem Titel „Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ einreichte und veröffentlichte 39 . Ihn beschäftigte seit jeher die Tatsache, dass ein vernunftbegabtes Wesen wie der Mensch zu unfassbar bösen und moralisch verwerflichen Taten fähig sein kann. Schillers gesamtes Werk, insbesondere die philosophischen Schriften, ist bestimmt von dem quälenden ‚Urerlebnis‘ jenes Zwiespalts im Menschen, ein intelligentes, geistiges Wesen und ein animalisches Wesen zugleich zu sein. [...] Es geht ihm dabei nicht darum, etwa den tierischen Pol dieser ‚feindlichen‘ Doppelnatur zu bekämpfen, sondern er sucht nach Wegen der Versöhnung. 40 Dabei lässt sich in seiner Darstellung des Verbrechens erkennen, dass diese „Versöhnung“ durch Verständnis und Dialog erreicht werden kann. Stets versucht er die dargestellten Verbrechen aus psychologischer und anthropologischer Sicht zu erläutern, um dem Leser zu verdeutlichen, dass eine zu oberflächliche Beobachtung einer kriminellen Tat zu falschen Erkenntnissen führen kann. Sein medizinisches Werk argumentiert ebenfalls aus philosophischer Sicht, reflektiert aber durchaus modern „den anthropologisch begründbaren Zusammenhang zwischen der entstehenden ‚Erfahrungsseelenkunde‘ und 38 Wilpert, Gero von (Hrsg.): Lexikon der Weltliteratur. Bd. 2. Biographischbibliograpisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken, L-Z. 3., neubearbeitete Auflage. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1997. S. 1351. 39 Schiller, Friedrich: Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Stuttgart: Christoph Friedrich Cotta, 1780. 40 Schafarschik, Walter: Der andere Schiller. In: Erziehungskunst. Ausgabe 69, (2005), Nr. 7/ 8. S. 772-776. Hier: S. 774. 270 <?page no="283"?> einer somatisch orientierten ‚Arzneiwissenschaft‘ “ 41 . Somit ist er einer der frühen Ärzte, die einen Zusammenhang zwischen körperlichen Krankheitszeichen und dem Seelenleben des Patienten herstellen. Noetzel weist aber darauf hin, dass die Forschung urteilt, dass sich in seinen medizinischen Schriften „kein einziger Gedanke [fände], der über die zeitgenössische Medizin [...] hinausreichte“ 42 . Auch wenn dies aus medizinischer Sicht richtig sein mag, so lässt sich diese Differenzierung zwischen Geist und Materie, zwischen Vernunft und der „thierischen Natur“ des Menschen mehrfach in seinem Werk nachweisen und gilt in besonderer Weise auch für seine Betrachtung des Verbrechers, dessen Handlungen er nicht per se verurteilt, sondern sie stets in einen Zusammenhang mit seiner persönlichen Geschichte, seiner moralischen Entwicklung und der Beeinflussung durch die Gesellschaft erörtert 43 . In seinen Vorworten fordert er daher stets den Leser auf, sich auf dieses Wechselspiel einzulassen und den Täter nicht aus einer vermeintlich höheren moralischen Position zu verurteilen. Er stützt seine medizinischen und literarischen Überlegungen anfangs auch auf die Ausführungen seines Philosophielehrers Jacob Friedrich Abel, der im zweiten Band seines Werks „Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben“ ebenfalls zwei Verbrechergeschichten einfügt, um seine philosophischen Thesen zu belegen. Im Vorwort zu diesem Werk fordert er wie Schiller, dass die „Lebensbeschreibungen“ der Kranken eine wesentlich größeren Aufmerksamkeit erfordern, als ihnen bisher gewährt wurde. Seine Bitte an den Geschichtsschreiber, auch bei einem Verbrecher das Moralische seines Handelns hervorzuheben, sodass es „tief in das Herz des Lesers eindringt“ 44 , scheint er 41 Noetzel, Wilfried: Friedrich Schiller - Philosoph und Mediziner. In: Eirund, Wolfgang; Heil, Joachim (Hrsg.): Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Ausgabe 1/ 2009. Themenschwerpunkt „Gut und Böse“. URL: http: / / www.izpp.de/ fileadmin/ user_upload/ Ausgabe-1-2009/ 9- Noetzel_Schiller.pdf, Abruf: 12.06.2012. S. 01 - 15. Hier S. 01. 42 Ebd., S. 03. 43 So zum Beispiel auch in Kabale und Liebe. 44 Abel, Jakob Friederich: Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben. Zweiter Theil. Stuttgart: Erhardische Buchhandlung, 1787. Vorrede, o.S.: „Weißheit ist nur wichtig, sofern sie unsere Empfindungen, Neigungen und Handlungen bestimmt. Auch zu dieser 271 <?page no="284"?> programmatisch von Schillers prosaischer Verbrecherliteratur übernommen zu haben, mit der er im Jahr zuvor mit dem „Verbrecher aus verlohrener Ehre“ begonnen hatte und die wenig später ihre Fortsetzung in der Bearbeitung des „Pitaval“ finden sollte. Doch nicht nur aus philosophischer Sicht stellt Schillers Auseinandersetzung mit dem Verbrechen ein Novum dar. Er kann rückblickend als der erste deutschsprachige Autor gesehen werden, der sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal mit der gesamten Bandbreite der Darstellung von Verbrechen auseinandersetzte. So versuchte er sich neben der lyrischen Darstellung von Verbrechen 45 und der auf wahren Begebenheiten beruhenden Verbrechergeschichte 46 auch an der Entwicklung eines „Krimitheaters“ 47 , verfasste eine thrillerähnliche Erzählung 48 und modelliert die teilweise schwerfällig erzählten Texte des „Pitaval“ zu novellenähnlichen Erzählungen um, die viele verschiedene Fokalisierungen und Ordnungsexperimente beinhalten 49 . Die unterdrückte Vorrede von „Die Räuber“ belegt zudem, dass dieses Werk ursprünglich als „Lesedrama“ konzipiert worden war 50 , was die These belegt, dass sich seine Auseinandersetzung mit Verbrechen im Bereich der Prosa teilweise als eine Erweiterung des Konzept der klassischen Tragödie deuten lässt. In der später verfassten Vorrede zu „Die Räuber“ fordert er: „Man nehme dieses Schauspiel für nichts anders, als eine dramatische Geschichte, die die Vortheile Absicht muß der Geschichtsschreiber sein möglichstes beytragen, indem er nicht nur die Begebenheiten gerade von der moralischen Seite darstellt, oder den Leser durch eingestreute Reflexionen selbst auf diese hinleitet, sondern indem er auch alles, was auf Moral Beziehung hat, mit dem Reiz und mit der Wärme und Stärke ausdrückt, die, selbst aus dem innersten des Herzens entsprungen, eben so tief in das Herz des Lesers eindringt.“ 45 Siehe dazu Kapitel 6.1. 46 Siehe dazu Kapitel 6.2. 47 Siehe dazu Kapitel 6.5. 48 Siehe dazu Kapitel 6.4. 49 Siehe dazu Kapitel 6.3. 50 Schiller, Friedrich: Unterdrückte Vorrede. In: Grawe, Christian: Friedrich Schiller - Die Räuber. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2009. S. 172-176. Hier: S. 173: „Ich kann demnach eine Geschichte Dramatisch abhandeln, ohne darum ein Drama schreiben zu wollen. Das heißt: Ich schreibe einen dramatischen Roman, und kein theatralisches Drama. Im ersten Fall darf ich mich nur den allgemeinen Gesezen der Kunst, nicht aber den besondern des Theatralischen Geschmacks unterwerffen.“ 272 <?page no="285"?> der dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen, benuzt, ohne sich übrigens in die Schranken eines Theaterstücks einzuzäunen [...].“ 51 Ebenso findet sich das Element des Rätsels in Schillers Werk. In seiner Nachdichtung des tragikomischen Märchens „Turandot“ von Carlo Gozzi erweiterte Schiller das Element des Rätsels, indem er insgesamt siebzehn verschiedene Rätsel 52 schrieb, die er in den jeweiligen Aufführungen einbaute. Auch sein Freund Goethe steuerte ein Rätsel zur zweiten Aufführung am 2. Februar 1802 bei 53 . Das eigentliche Konzept von Gozzi beinhaltete nur drei Rätsel, die die chinesische Prinzessin Turandot jedem Freier stellt. Schillers Konzept zeigt, wie das Rätsel von ihm bereits in das Gesamtkonzept eines literarischen Werkes integriert wurde. Es ging zudem um die Einbeziehung des Publikums 54 , das während den Vorstellungen große Freude am Miträtseln hatte. Dies ist zugegebenermaßen ein recht weit hergeholter Zusammenhang, da die Rätsel an sich nichts mit Verbrechen zu tun hatten, doch sie erinnern in seltsamer Weise an Vorlieben Edgar Allan Poes. Hinzu kommen seine Übersetzungen eines Manuskriptes aus Denis Diderots „Jacques le fataliste et son maitre“ (1773-1775) 55 und eine Erzählung von Jacques Vincent 51 Schiller Die Räuber, S. 09. 52 Vgl. dazu o.V.: Die Turandot-Rätsel und andere Schwierigkeiten. URL: http: / / www.gereimt.de/ spiele/ turandot/ , Abruf: 21.11.2012. 53 „Ein Bruder ist’s von vielen Brüdern, In allem ihnen völlig gleich, Ein nötig Glied zu vielen Gliedern, In eines großen Vaters Reich, Jedoch erblickt man ihn nur selten, Fast wie ein eingeschoben Kind, Die andern lassen ihn nur gelten, Da wo sie unvermögend sind.“ Lösung: der Schalttag. 54 Eine Idee, die später ein wichtiger Teil des epischen Theaters Brechts werden sollte. 55 Denis Diderot, Denis: Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache. Aus dem Französischen von Friedrich Schiller. (Aus einem Manuscript des verstorbenen Diderot gezogen.). Tekolf weist aber auf Schillers Bearbeitung hin. Schiller, Friedrich (Autor); Tekolf, Oliver (Hrsg.): Schillers Pitaval. Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, verfaßt, bearbeitet und herausgegeben von Friedrich Schiller. Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag, 2005. S. 399: „Die Quelle, aus der Schiller einen Auszug übersetzt hat, ist Denis Diderots (1713-1784) „Jacques le fataliste et son maitre“ (entstanden 1773-1775). [...] Die erste frz. Ausgabe des Auszugs [Denis Diderot: Exemple singulier de la vengeance d´une femme. Conte moral. Ouvrage posthume de Diderot. Paris: Desenne 1793] ist eine 273 <?page no="286"?> Delacroix, die sein Interesse an dieser Literaturgattung belegen. Damit lassen sich bereits auf der Ebene des distant reading viele Elemente und vor allem literarische Vorgehensweisen in seinen Werken nachweisen, die besonders in der modernen Kriminalliteratur wichtig wurden. Seine Werke zeigen ebenfalls das Bestreben, die Personenkonzeption der antiken Tragödie an die veränderten Lesegewohnheiten anzupassen. Dies versuchte er nicht nur im Bereich der Verbrechensliteratur, sondern auch in seiner historischen Drama- Triologie „Wallenstein“ 56 , in der sich zudem der bemerkenswerte Satz findet: „Man hat Exempel, daß man den Mord liebt und den Mörder straft.“ 57 Das Prosawerk Schillers scheint ironischerweise so im Schatten seiner dramatischen und lyrischen Dichtung zu stehen 58 , wie Doyles sonstige Erzählungen im Schatten seiner Sherlock-Holmes-Geschichten. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass Werke wie „Der Geisterseher“ für Schiller kaum mehr waren als Mittel zum Zweck, eben gut und vor allem langfristig bezahlte Projekte. Die Forschung scheint sich dagegen zu sträuben, diesen Inhalt in seinem Werk zu akzeptieren, denn so gerät der Autor scheinbar in eine gefährliche Nähe zu Kitsch und Trivialität. Besonders seine auf echten Begebenheiten beruhende Verbrecherliteratur ist eine „rhetorisch überhöhte Berichterstattung über den Rückübersetzung des Schillertextes. [...] Diese Zwischenteile hat Schiller getilgt und auch sonst bearbeitend in den Text eingegriffen.“ 56 Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Band V. Erzählungen, Theoretische Schriften. 8., durchgesehene Auflage. München: Carl Hanser Verlag, 1989. S. 890: „Sein Wallenstein-Drama hatte nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen der epischen und dramatischen Gattung in Frage gestellt, sondern auch das Verhältnis von Stoff und Form und im Anschluß an seine Überlegungen zur griechischen Tragödie das von Individualität und Idealität im Drama überhaupt. [...] Nicht zufällig ist in dieser Zeit der Suche nach den adäquaten Gattungsgesetzen auch schon von einem neuen Tragödienstoffe die Rede, der vielleicht schon die Braut von Messina betraf, zumal sich Schiller damals ausführlicher mit dem Ödipus Rex beschäftigte.“ 57 Schiller, Friedrich (Autor); Stock, Frithjof (Hrsg.): Wallenstein‘s Tod. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000. S. 153-293. Hier: S. 271. 58 Zeller, Bernhard: Nachwort. In: Schiller, Friedrich: Der Verbrecher aus verlorener Ehre und andere Erzählungen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH und Co., 1999. S. 67-75. Hier: S. 67. 274 <?page no="287"?> besonderen Fall, dem in seiner moralischen Wirkung exemplarische Bedeutung zukommt“ 59 . Zudem versucht er immer wieder, bestehende Muster zu ändern, umzukehren oder gar zu widerlegen 60 , wozu eben neben der Form auch der Inhalt zählt. Dabei verliert sich Schiller, ungeachtet des Themas, keineswegs in einer trivialen Darstellung. Seine Überlegungen können noch heute so manchem modernen Krimiautor zeigen, wie viel Potenzial dieser Inhalt bei einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Struktur bietet. In Schillers Verbrechensliteratur wird auch die zeitgenössische Tugend- Laster Dichotomie aufgebrochen, die vielen seiner Zeitgenossen noch als unauflösbar galt. Dem Leser der Schillerschen Verbrecherliteratur wird unmissverständlich vor Augen geführt, welch starken Einfluss die Gesellschaft auf das Schicksal eines Einzelnen haben und wie der Ausgestoßene zu ihrem tragischen Opfer werden kann, selbst unabhängig von dem vorherigen Lebenswandel. ‚Moral‘ lässt sich entdecken (und heilen) in ‚Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten‘ [...], mithin nicht in den Schaustücken bewährter Tugend oder bestraften Lasters, überhaupt nicht in der Sicherheitszone unanfechtbarer Normenkonformität, sondern vor allem im Ausnahmezustand individueller Tat und utopischer Forderung an die Gesellschaft [...]. Schillers ‚Schule der Bildung‘ entwertet die schauerlich-schrecklichen ‚Relationen‘ über Schandtat, Verfolgung, Folter, Reue und Hinrichtung des Verbrechers [...], indem sie im Geist des aufgeklärten Präventivdenkens eine erzählerische Anatomie jener Faktoren gibt, die zur Tat führen, und somit das vermeintlich unverrückbare Verhältnis von Täter, Opfer und Jäger neuinterpretiert. 61 59 Zeller 1999, S. 70. 60 Aust 1999, S. 61. 61 Ebd. 275 <?page no="288"?> 6.1 Aus der Perspektive einer Täterin: Die Kindsmörderin (1782, Vf1) Schillers Gedicht „Die Kindsmörderin“ entstand wahrscheinlich gegen Ende des Jahres 1781 und erschien zum ersten Mal in der „Anthologie auf das Jahr 1782“ 62 . Dieses Thema war zur damaligen Zeit literarisch präsent und wurde von vielen Autoren aufgenommen 63 . Im Gegensatz zu anderen Autoren aber behandelte Schiller dieses Thema in diesem Fall in Bezug auf die Geschlechterrolle und nicht in Bezug auf die gesellschaftliche Position 64 . In seinem Gedicht „Die Kindsmörderin“ stellt er, wie später auch Chamisso 65 , eine Mörderin dar, die kurz vor ihrem Tode ihr Schicksal retrospektiv passieren lässt. Dabei ist die Konzeption allerdings eine vollkommen andere als bei Chamisso. Es ist die klassische Betrugsgeschichte eines jungen Mannes, der eine junge Frau mit Lügen betört und sie, als sie schwanger wird, verlässt. In ihrer ganzen Verzweiflung weiß sie sich nicht anders zu helfen, als dass sie das Neugeborene umbringt, auch um es vor den sozialen Folgen seiner unehelichen Geburt zu bewahren. Schillers Darstellung der Beweggründe reicht von Liebe, über Eifersucht bis hin zu Rache 66 . Der „Sozialappell“ 67 steht dabei im Vordergrund, nicht etwa die ästhetische Qualität 68 . Gefangen zwischen „Liebe und - Verzweiflungswahn“ 69 weiß Luise keinen anderen Ausweg und sieht ihr Todesurteil als Erlösung. Dabei ist die Darstellung durchaus ungewöhnlich, denn sie wertet nicht und gesteht der Frau zu, dass sie aufgrund sozialer Umstände ein 62 Luserke-Jaqui, Matthias: Die Kindsmörderin (1782). In: Luserke-Jaqui, Matthias (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, 2005. S. 255-256. Hier: S. 255. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Siehe dazu Kapitel 5.7. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Schiller, Friedrich: Die Kindesmörderin.. In: Pinson, Roland W. (Hrsg.): Moritaten und Bänkellieder bekannter Verfasser. Bayreuth: Gondrom Verlag, 1982. S. 192-195. Hier: S. 193. 276 <?page no="289"?> Kind tötet, damit es nicht der gesellschaftlichen Diffamierung als unehelicher Bastard ausgesetzt wird 70 . Schiller folgt hierbei dem grundlegenden Konzept seiner Verbrechensliteratur, das versucht, die Leser in eine Lage zu versetzen, in die sie normalerweise nicht kommen, um ihre moralischen Prinzipien zu überprüfen. Er plädiert dafür Mitleid zu empfinden 71 , da er grundsätzlich keinen Menschen über den anderen stellen möchte, sondern dazu auffordert, die Gründe ihrer Verfehlung zu verstehen. Wehe! -Menschlich hat dies Herz empfunden! Und Empfindung soll mein Richtschwert sein! Weh! Vom Arm des falschen Manns umwunden Schlief Luisens Tugend ein. 72 Schiller überträgt damit bereits 1782 seine Neukonzeption der Katharsis in ein Gedicht. Zudem verwendet er, wie später Chamisso und Schirach, eine unkommentierte interne Fokalisierung der Verurteilten, die es ihm ermöglicht, den Leser dicht an das Dargestellte heranzurücken und ihn zu einer über die eigentliche Lektüre hinaus gehenden Auseinandersetzung mit dem Inhalt zwingt. Diese Wahl der Fokalisierung entspricht seinem Anspruch an die Darstellung des Verbrechens, die er dazu nutzt, andere Seiten der Existenz möglichst wertfrei aus einer menschlichen Perspektive zu betrachten. Somit wird der Darstellung der Täter-Opfer-Perspektive den größten Umfang eingeräumt. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei nicht um das Opfer der eigentlichen kriminellen Tat handelt (das tote Kind), sondern um die Frau, die durch das rücksichtslose Verhalten ihres Liebhabers zu dieser Tat getrieben wird. Sie empfindet sich als das eigentliche Opfer und wünscht ihrem Liebhaber, dass „des Kindes grasser Sterbeblick“ 73 ihn nicht mehr ruhen lässt. Die Frau spricht andere Frauen an und ermahnt sie, sich ihr Leben als negatives Beispiel zu nehmen und „Männerschwüren“ 74 niemals 70 Luserke-Jaqui 2005, S. 256. 71 Schiller Die Kindsmörderin, S. 192: „Weinet um mich, die ihr nie gefallen, Denen noch der Unschuld Lilien blüh´n, Denen zu dem weichen Busenwallen Heldenstärke die Natur verlieh´n! “ 72 Ebd., S. 193. 73 Ebd., S. 194. 74 Ebd., S. 195. 277 <?page no="290"?> Abb. 47: Verteilung der Erzählelemente in Schiller Die Kindsmörderin (1782) zu trauen. Somit „wirbt [sie] gezielt um Verständnis“ 75 für ihre Tat. Der Grund dafür scheint nicht nur Verzweiflung, sondern auch eine zeitweilige geistige Umnachtung gewesen zu sein 76 , sodass Schiller hiermit ein für die Kürze des Textes recht komplexes Täterprofil erschafft. Die Aufklärung des Falls wird vollständig ausgespart, man erfährt nur, dass es die staatliche Instanz ist, die die Täterin zur Rechenschaft zieht 77 . Innerhalb des Gedichtes wechselt sich die Darstellung des Täters regelmäßig mit Darstellungen der Tat ab. Die Konsequenz ihrer Tat wird, ähnlich wie später bei Chamisso, nur angedeutet. Diese Darstellung endet kurz vor der Ausführung der Strafe. Auch die Rahmenhandlung wird erzähltechnisch genauso aufgebaut wie in „Die Giftmischerin“: Kurz vor ihrem Tod steht die Verurteilte bereits auf dem Richtplatz und berichtet mit einer stark gerafften Analepse, warum sie dorthin gekommen ist. Somit bildet auch hier die szenische Darstellung kurz vor der Hinrichtung den 75 Luserke-Jaqui 2005, S. 256. 76 Schiller Die Kindsmörderin, S. 194: „...hier umstrickte mich die Hyder - Und vollendet war der Mord.“ 77 Ebd., S. 195: „Schrecklich pocht´schon des Gerichtes Bote, Schrecklicher mein Herz! “ 278 <?page no="291"?> Abb. 48: Erzählelemente in Schiller Die Kindsmörderin (1782) erzähltechnischen Rahmen des Gedichtes, da sie am Anfang und am Ende zu finden ist. In diesem Fall betrifft der Spannungsaufbau das Element der Divination. Wiederum analog zum Whodunit kann man hierbei von einem Whydunit sprechen, denn den Leser interessiert ihre Motivation und die Umstände der Tat. Beides wird nach und nach im Wechsel aufgedeckt und erläutert. 279 <?page no="292"?> Abb. 49: Spannungsaufbau in Schiller Die Kindsmörderin (1782) 6.2 Weg des Verbrechens: Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte (1786) / Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786, Vr4) Die Grundkonzeption von Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ kündigte der Autor bereits 1784 in der „Rheinischen Thalia“ an. Hier äußerte er seinen Plan, ein Werk mit dem Titel „Gemälde merkwürdiger Menschen und Handlungen“ zu verfassen 78 . Sein kryptischen Notizen deuten bereits darauf hin, dass er sich dabei auf seine erste Verbrechererzählung bezog. 1786 veröffentlichte er seine ursprünglich als „Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte“ betitelte Erzählung vom Sonnenwirt 1786 im zweiten Heft der Thalia. Damit folgt er dem Projekt seines Philosophielehrers Abel von der Stuttgarter Karlsschule, der kurz zuvor im zweiten Band seiner „Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben“ die Lebensgeschichte von Friedrich Schwahn veröffentlichte 79 , die Schiller nun transponierte und literarisch ausbaute, da Abel bei seiner Darstellung einen eher „ juristischen >Relationalstil<“ 80 ver- 78 Zeller 1999, S. 70. 79 Abel, Jakob Friederich: Lebens-Geschichte Fridrich Schwans. In: ders.: Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben II, S. 01-86. 80 Košenina, Alexander: Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte (1786) / Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1792). In: Luserke-Jaqui, Matthias (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, 2005. 280 <?page no="293"?> wandte. Abel konnte aus erster Hand berichten, denn sein Vater war der Vaihinger Amtsmann gewesen, der den Sonnenwirt am 6. März 1760 festnehmen ließ und das Verhör leitete 81 . Viel interessanter als die eigentliche Erzählung, die eine nicht verschlüsselte, chronologisch erzählte Darstellung der Verbrecherlaufbahn von Christian Wolf ist, ist das Vorwort, in dem Schiller Teile der Konzeption der modernen Kriminalliteratur definiert, diese aber aus Überlegungen zur Verbrecherliteratur generiert. Hier lässt sich bereits seine „eigentliche Programmatik für sein Erzählen vom Verbrechen“ 82 erkennen, die sich vor allem durch die lebendigen „Synergien zwischen unterschiedlichen Diskursen“ aus den Bereichen Jurisprudenz, Anthropologie, Ästhetik, Literatur, Moral, Theologie und Politik auszeichnet 83 . Schiller fordert in seinem Vorwort ausdrücklich eine genaue Auseinandersetzung mit dem Seelenleben eines jeden Verbrechers, welches als Leser in Ruhe betrachtet werden kann. Der Autor sieht in der Lektüre von Geschichten, die die Verirrungen des Menschen darstellen, die Möglichkeit Herz und Geist seiner Leserschaft zu unterrichten, damit diese sich vor solchen Situationen schützen kann. Diese Idee wird beispielsweise später von Alewyn aufgegriffen, für den das Lesen des Krimis davor schützt, selbst zum Verbrecher zu werden. Schiller empfiehlt, die genauen psychologischen Zusammenhänge zu erfassen und damit „manche Erfahrung aus diesem Gebiete in seine Seelenlehre herübertragen und für das sittliche Leben [zu] verarbeiten“ 84 . Hier setzt er sich ganz bewusst mit der Frage auseinander, wie dieser Inhalt dazu genutzt werden kann, nicht bloß das Sensationsbedürfnis der Leser zu befriedigen, sondern ihn in einen Kontext zu stellen, der weit über das eigentlich Erzählte hinausweist. Doch bevor er das leisten kann, steht der Autor vor einem Problem. Zwischen der heftigen Gemütsbewegung des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird, herrscht ein so widriger Kontrast, S. 305-311. Hier: S. 306. 81 Košenina 2005, S. 305. 82 Ebd., S. 306. 83 Ebd., S. 306-311. 84 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 05. 281 <?page no="294"?> liegt ein so breiter Zwischenraum, dass es dem letztern schwer, ja unmöglich wird, einen Zusammenhang nur zu ahnden. Es bleibt die Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser, die alle Möglichkeit einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet und statt jenes heilsamen Schreckens, der die stolze Gesundheit warnet, ein Kopfschütteln der Befremdung erweckt. 85 Hier, so Schiller weiter, erhebt sich der Leser über den Verbrecher, er sieht ihn als „Geschöpf fremder Gattung an“ 86 und statt zu belehren, dienen diese Erzählungen nur noch der reinen Befriedigungen der Neugier. Genau an dieser Stelle splittet er bereits die Verbrechensliteratur (wie auch ihre Leser) 87 in zwei Darstellungsmodi auf, die bis heute gelten: den reißerischen und den literarischen, bzw. philosophischen Modus. Und genau danach lassen sich heute noch gute von, im literarischen Sinne, schlechten Krimis differenzieren. Er distanziert sich von Autoren, die „das Herz ihres Lesers durch hinreißenden Vortrag bestochen haben“ 88 und grenzt sein Konzept davon ab: „An seinen [des Verbrechers] Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten. Er sucht sie in der unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele und in den veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten, und in diesen beiden findet er sie gewiss.“ 89 Aus diesem Grund unterdrückte er in den späteren Ausgaben den ursprünglichen Titel und ersetzte das Wort „Infamie“ durch „verlorene Ehre“. Damit rückt er den Aspekt in den Vordergrund, dass der Verlust der Selbstkontrolle kein Resultat eines grundsätzlich ehrlosen und heimtückischen Charakters ist, sondern Resultat einer Ausgrenzung aus der Gesellschaft. 85 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 06. 86 Ebd. 87 Ebd.: „Entweder der Leser muss warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.“ Oder noch weitaus deutlicher: ebd., S. 07: „Den Träumer, der das Wunderbare liebt, reizt eben das Seltsame und Abenteuerliche einer solchen Erscheinung; der Freund der Wahrheit sucht eine Mutter zu diesen verlorenen Kindern.“ 88 Ebd. 89 Ebd. 282 <?page no="295"?> Košenina weist darauf hin, dass ein Jahr zuvor bereits Moritz mit seinem psychologischen Roman „Anton Reiser“ den Blick auf die „innere Geschichte“ des Menschen lenkte 90 und eine Figur erschuf, die „weder im Verbrechen noch im Selbstmord“ 91 endet. Er betont auch, dass zu diesem Zeitpunkt die dargestellten „sozialen Außenseiter, die zum Studienobjekt der neuen Anthropologie werden“, nicht zufällig aus der Unterschicht stammen, wobei Schiller die Verbrechen der oberen Gesellschaftsschichten besonders in seiner Edition des Pitavals aufgreift 92 . Moritz war daher überrascht, dass im „Verbrecher aus verlorener Ehre“ einige der Darstellungen der Empfindungen des Verbrechers denen seiner Hauptfigur ähnelten 93 . Schillers Plädoyer für die Seelenkunde und der direkte Angriffauf die Überheblichkeit eines Lesers, der abschätzig von oben herab auf den Verbrecher schaut 94 , waren einzigartig und bis dahin im besten Sinne unerhört. Er fordert dass jedem Verbrecher, nach einer auf der Überprüfung seiner Motive beruhenden angemessenen Strafe, die Möglichkeit der Rehabilitation gegeben werden muss 95 . Daher präsentiert er dem Leser nach diesem Vorwort eine „Leichenöffnung seines Lasters“ 96 , welches die Menschheit und, wenn möglich, auch die unterrichten soll, die die Gerechtigkeit vertreten 97 . Die eigentliche Erzählung wird nach dem Vorwort knapp eingeleitet und zu Beginn von einem heterodiegetischen Erzähler mit externer Fokalisierung erzählt. Dieser berichtet dem Leser davon, dass Wolf 90 Košenina 2009, S. 195. 91 Ebd. 92 Siehe dazu beispielsweise Kapitel 6.3.2. 93 Ebd., S. 308. 94 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 08: „Wenn ich auch keinen der Vorteile hier in Anschlag bringe, welchen die Seelenkunde aus einer solchen Behandlungsart der Geschichte zieht, so erhält sie schon allein darum den Vorzug, weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrecht stehende Tugend auf die gefallne herunterblickt [...].“ 95 Ebd.: „... weil sie [die Seelenkunde] den sanften Geist der Duldung verbreitet, ohne welchen kein Flüchtling zurückkehrt, keine Aussöhnung des Gesetzes mit seinem Beleidiger stattfindet, kein angestecktes Glied der Gesellschaft von dem gänzlichen Brande gerettet wird.“ 96 Ebd. 97 Ebd. 283 <?page no="296"?> zum Wilddieb wurde, um seine Geliebte Johanne zu beeindrucken. Nachdem er das erste Mal mit einer Geldstrafe davonkommt, wird er beim zweiten Mal für ein Jahr in das Zuchthaus der Residenz eingewiesen 98 . Beide Male ist es sein Nebenbuhler Robert, der ihn der Obrigkeit anzeigt. Wolf wird nach seinem Gefängnisaufenthalt von der Gemeinschaft verstoßen, niemand möchte ihn einstellen und so wird er, vom Hunger getrieben, zum dritten Mal ein Wilddieb und erneut von Robert verraten. Die Gründe seiner Gesetzesübertretung werden bei der Urteilsfindung nicht mit einbezogen 99 , „die seit Samuel Pufendorf geforderte naturrechtliche Trennung und Aufwertung der moralischen gegenüber der juristischen Zurechnung einer Tat (imputatio moralis vs. imputatio juridica)“ 100 kommt in den Prozessen nicht zum tragen. So wird ihm das Zeichen des Galgen auf den Rücken gebrannt und ein Exempel an ihm statuiert, indem er zu drei Jahren Festungshaft verurteilt wird. Nach diesen Jahren aber ist er ein gebrochener Mensch, der keinerlei Möglichkeiten mehr hat, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Er betritt die Festung als „Verirrter“ und verlässt sie als „Lotterbube“ 101 . Grund dafür war seine gemeinsame Inhaftierung mit Mördern, Dieben und Vagabunden 102 . Ab dieser Stelle wechselt die Erzählhaltung von einem heterodiegetischen zu einem homodiegetischen Erzähler mit interner Fokalisierung, ganz im Sinne des Autors, welcher in die Seele des Angeklagten schauen lassen will. Der Leser rückt damit in die Nähe seines Verhörs vor Gericht, denn Schiller gibt vor, es so zu erzählen, „wie er nachher gegen seinen 98 Dabei erinnert sein Motiv interessanterweise an Die Geschichte von Ferdinands Schuld und Wandlung, in der Ferdinand seinen Vater bestiehlt, um seiner Geliebten Geschenke kaufen zu können. Allerdings konzipiert Goethe seine Novelle so, dass Ferdinand an seinem Verstoß moralisch wachsen kann, Schiller dagegen kann diese Option nicht wahrnehmen. Siehe dazu Kapitel 5.4.2. 99 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 11: „Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Beklagten.“ 100 Košenina 2005, S. 307. 101 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 11. 102 Ebd. Dieses Problem der Strafanstalten wird unter anderem auch in Die Geheimnisse von Berlin (1844) anhand der Geschichte von Marianne thematisiert. Siehe dazu Kapitel 10.2. 284 <?page no="297"?> geistlichen Beistand und vor Gerichte bekannt hat“ 103 . Als er in seine Heimatstadt zurückkehrt, wird er von allen gemieden. Tief enttäuscht fragt er: „Bin ich denn irgendwo auf der Stirne gezeichnet, oder habe ich aufgehört, einem Menschen ähnlich zu sehen, weil ich fühle, dass ich keinen mehr lieben kann? “ 104 Doch nicht nur die soziale Ausgrenzung, auch persönliche Schicksalsschläge erwarten ihn nach seiner Festungshaft. Seine ehemalige Geliebte Johanne begegnet ihm als kranke Prostituierte, seine Mutter ist tot und sein Erbe an die Schuldner gefallen. Wolf gibt sich ab diesem Moment seinem Schicksal hin 105 nun wird aus Not Vorsatz. Und so entwickelt sich seine Verbrecherlaufbahn vor den Augen des Lesers, die durch „das durch den Nebenbuhler Robert vertretene und befeuerte System unverhältnismäßiger Strafen“ 106 verstärkt wird. Wolf ermordet in einer günstigen Situation Robert, bestiehlt die Leiche, flüchtet durch die Wälder und schließt sich Räubern an, deren Hauptmann er bald wird. Dabei bietet ihm die Gesellschaft der Verbrecher diejenige Akzeptanz, die ihm in der normalen Gesellschaft verwehrt wurde 107 . An dieser Stelle schaltet sich der heterodiegetische Erzähler wieder ein und rafft einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr, denn „das bloß Abscheuliche hat nichts Unterrichtendes für den Leser“ 108 . Damit distanziert sich Schiller ganz bewusst von der reißerischen und naiv-idyllischen Darstellungen des Räuberromans. Er berichtet, wie die anfängliche Euphorie abebbt und das wirkliche Leben und vor allem sein Gewissen - Wolf einholt. Besonders der Mord an Robert lastet schwer darauf. Diesem Moment, der sein gesamtes weiteres Schicksal besiegelt, widmet Schiller daher besonderen Umfang. Hier reduziert er die Erzählgeschwindigkeit und berichtet eindringlich und teilweise im unmittelbaren Präsens 109 von den unterschiedlichen 103 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 11. 104 Ebd., S. 13. 105 Ebd., S. 15: „Ich wollte Böses tun, so viel erinnere ich mich noch dunkel. Ich wollte mein Schicksal verdienen.“ 106 Košenina 2005, S. 308. 107 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 25: „Die Welt hatte mich ausgeworfen wie einen Verpesteten hier fand ich brüderliche Aufnahme, Wohlleben und Ehre.“ 108 Ebd. 109 Košenina 2005, S. 308. 285 <?page no="298"?> Empfindungen Wolfs vor, während und nach der Tat. Überhaupt schwankt er stets „zwischen seiner tierischen und geistigen Natur“ 110 , da er kein von Natur aus schlechter Mensch ist. Später wendet sich Wolf daher in einem Brief, welcher vom Erzähler 111 eingefügt wird, an seinen Landesherrn und beteuert, dass er das Laster hasst und sich feurig nach Rechtschaffenheit und Tugend sehnt 112 . Da dieser, wie auch zwei weitere Briefe unbeantwortet bleiben, entscheidet er sich dafür, als Soldat in preußische Dienste zu treten, um sich zumindest auf diese Weise wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Auf seinem Weg dorthin wird er aber in einer Stadt festgenommen. Für das Gespräch Wolfs mit dem Richter wechselt Schiller zu einer szenischen Darstellung und tritt als Erzähler damit weit zurück. Bis auf einen Einschub werden zwei Gespräche zwischen dem Richter und Wolf wieder gegeben und die Erzählung endet mit einer Selbstanklage Wolfs, der sich als der „Sonnenwirt“ zu erkennen gibt. Allein dieses offene Ende zeigt, dass Schiller ganz bewusst den realen Erzählstofftransponierte und zu einer wirklichen Erzählung ausbaute, die nur noch wenig mit den juristisch-anthropologischen Texten seiner Zeit zu tun hatte. Die vielen von ihm eingesetzten Erzähltechniken wie der innere Monolog, der Dialog, der Brief, die Erinnerung, das Geständnis sowie die indirekte und erlebte Rede zeigen, dass er einen Text erschaffen wollte, der den Leser mithilfe verschiedener technischer Griffe möglichst nah an das Dargestellte heranrücken sollte. Die verschiedenen Fokalisierungen helfen dabei, das im Vorwort formulierte Konzept auch auf der Ebene der Erzählstruktur umzusetzen und die Taten aus verschiedenen Perspektiven und unter verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten. Schiller bezweckte mit seiner Darstellung wie auch viele andere Autoren der Verbrecherliteratur, „das öffentliche Bewusstsein zum Motor von Rechtsreformen zu machen“ 113 . 110 Košenina 2005, S. 308. 111 An dieser Stelle, wie auch schon zuvor, tritt der Erzähler in der ersten Person Singular nahe an den Leser heran. Dies verdeutlicht, dass der heterodiegetische Erzähler auf der ersten Erzählstufe berichtet, die Darstellung aus der Perspektive Wolfs auf der zweiten Erzählebene anzusiedeln ist. 112 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 27. 113 Košenina 2005, S. 310. 286 <?page no="299"?> Abb. 50: Verteilung der Erzählelemente in Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) Die Übersicht über die Verteilung der Erzählelemente belegt, dass Schiller in diesem Fall die psychologische Entwicklung des Täters in den Vordergrund stellt. Schiller beschreibt sein Schicksal distanziert, doch soll die Darstellung der Reue des Sonnenwirtes dazu beitragen, dass die Personenkonzeption nicht einseitig gerät. Den eigentlichen Taten wird wesentlich weniger Raum zugestanden. Die umfangreichste Darstellung einer verbrecherischen Tat ist der Mord an Robert, da er weitreichende Konsequenzen für den weiteren Lebenslauf von Wolf hat. Doch auch hier bemüht sich Schiller, ihn nicht als gefühlloses Monster darzustellen, sondern Wolfs Zweifel an seiner Tat und das Zurückschrecken vor dem Ausrauben des Toten mit einzubeziehen. Zudem werden diese Taten von zwei umfassenden Beschreibungen der psychologischen Entwicklung des Täters eingerahmt. Die beiden Seiten der Psychologie des Täters zwingen den Leser dazu, das Menschliche in Wolf zu sehen und sich mit den Gründen seiner Taten auseinander zu setzen. Interessant ist, dass in diesem Fall die Taten zuerst von einer privaten Instanz aufgelöst werden, die Gründe für die detektivische Arbeit Roberts sind aber eher niederer Natur. Durch die Wahl der Fokalisierung und die damit verbundene Konzentration auf das Leben Wolfs fällt die eigentliche Aufklärung der Fälle aber praktisch weg, da der Leser stets über alle Umstände informiert ist. 287 <?page no="300"?> Abb. 51: Erzählelemente in Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) Somit gibt es auch in diesem Fall keine wirkliche Verrätselung, vielmehr ist hier, wie von Schiller im Vorwort seiner Pitaval-Ausgabe gefordert, die Divination Hauptbestandteil des Spannungsaufbaus. Diese Technik bringt den Leser dazu, sich schon während der Lektüre darüber klar zu werden, welchen Weg Wolf wohl einschlagen wird. Dadurch, dass Schiller die Erzählung mit dem Geständnis Wolfs beendet, wird der Spannungsbogen der Divination bis zum Ende gehalten. 288 <?page no="301"?> Abb. 52: Spannungsaufbau in Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 6.3 Geheimnis ohne Aufklärung: Der Geisterseher (1786-1798, Kf3) Diese Erzählung Schillers gilt in der Forschung als einer der Vorläufer der modernen Kriminalliteratur. Sie scheint nur schwer in das übrige Schaffen Schillers einzuordnen und wird meist als bloßer Broterwerb des Autors angesehen. Das Werk wurde zwischen 1786 und 1789 verfasst, wobei die Entstehung von längeren Unterbrechungen und Veränderungen des Konzeptes geprägt war 114 . Veröffentlicht wurde es in Schillers Zeitschrift „Thalia“ und in drei verschiedenen Buchausgaben, die zwischen 1789 und 1798 erschienen 115 . Der heutigen Textform liegt meist die dritte Ausgabe von 1798 zugrunde. Dann weist daher zurecht darauf hin, dass „die Leser heute einen Text in der Hand [halten], der von Schiller dreimal überarbeitet und zweimal in seiner Gesamtkonzeption umgestaltet wurde“ 116 , sodass man das Werk nicht als eine „einheitliche Gesamtkomposition“ 117 betrachten kann. Schiller stand nach dem überraschenden Erfolg vor der Frage, ob er sich nun der einträglichen Romanschriftstellerei zuwenden sollte oder das historische Buchprojekt „Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Verschwörungen“ fortführen sollte, das er 1786 zusammen mit seinem Freund Ludwig Ferdinand Huber entwickelt 114 Dann, Otto: Der Geisterseher (1787-1798). In: Luserke-Jaqui 2005, S. 311- 315. Hier: S. 311. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Ebd. 289 <?page no="302"?> hatte 118 . Da sich der Autor für letzteres entschied, ruhte vorerst die Arbeit am „Geisterseher“. Mit diesem Projekt und seinen Versuchen einer Fortsetzung war Schiller nicht besonders glücklich, wie der vielzitierte Brief an Körner vom 6. März 1788 belegt. Schließlich erkannte er, dass er finanziell gesehen von einer Buchausgabe nur profitieren würde 119 und bemühte sich um den Abschluss des Werkes. Dabei verfasste er, wie schon oben erwähnt, mehrere Versionen und Ausgaben, sodass man heute von keiner Ausgabe des „Geistersehers“ mit Sicherheit behaupten kann, dass sie die endgültige Fassung dieses Werkes darstellt 120 . „Der Geisterseher“ erzählt die Geschichte eines Betrugs, der von mehreren homodiegetischen Erzählern berichtet und nur an ganz wenigen Stellen von einem heterodiegetischen Erzähler unterbrochen wird 121 . Dieser Bruch mit der Erzählhaltung markiert den Übergang vom ersten zum zweiten Buch und war sicherlich der Tatsache, dass der Text als Fortsetzungsroman erschien, geschuldet. Durch diese künstliche Einschränkung des Sichtfeldes wird von Anfang an Spannung erzeugt und der eigentliche „Held“ der Erzählung, der Prinz von **, in eine Distanz zum Leser gerückt, welche Spannung erzeugt. Diese wird aber in gewisser Weise direkt zu Beginn und am Ende des ersten Buches in Bezug auf den Inhalt durch Prolepsen abgebaut, die den tragischen Ausgang der Erzählung vorweg greifen. Dennoch schafft der Autor es über die Fokalisierung, die ganze Erzählung hindurch den Spannungsbogen aufrecht zu halten. Hinzu kommt auch hier wieder die Divination, die durch die wenig aussagekräftigen Prolepsen aktiviert wird. Doyle nutzte in vielen der Erzählungen um Sherlock Holmes ebenfalls diese spezielle Fokalisierung und Chronologie. Watson berichtet retrospektiv und aus seiner Perspektive die Abenteuer mit seinem Freund. Dabei ist genau die Möglichkeit des Spiels mit der Nähe und Ferne zum Held der Geschichte der Aspekt, 118 Dann 2005, S. 312. 119 Ebd., S. 313. 120 Ebd., S. 313. 121 Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O**. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH und Co., 1996. S. 83: „...fährt der Graf von O** fort...“, ebd., S. 85: „...fährt der Graf von O** zu erzählen fort...“ 290 <?page no="303"?> der die Erzählung verrätselt und spannend macht. Ergänzt wird dieses Rahmenkonzept von weiteren Erzählern: dem Sizilianer, Civitella, der Baron von F***, der Graf von O** und Schiller selbst 122 , wodurch dem Leser mehrere „Wirklichkeitsebenen“ 123 präsentiert werden. Damit dieses Konzept aufgehen kann, muss der „Leser des Geistersehers [...] gleichsam einen still schweigenden Vertrag mit dem Verfasser machen, wodurch der letztere sich anheischig macht, seine Imagination wunderbar in Bewegung zu setzen, der Leser aber wechselseitig verspricht, es in der Delikateße und Wahrheit nicht so genau zu nehmen.“ 124 Damit formuliert Schiller genau das, was später beim modernen Krimi als Vertrag zwischen Autor und Leser (fair play rule gelten sollte. Vom Konzept her ist der „Geisterseher“ aus kriminalliteraturhistorischer Sicht 125 in gewisser Weise die Spiegelung von Schillers Konzepts einer auf realen Fakten basierenden Verbrecherliteratur, indem eine „Authentizitätsfiktion“ 126 erschaffen wird, die durch ihre Realitätsnähe besonders ausdrucksstark auf den Leser wirkt. Erzielt wird diese Pseudorealität durch den Einsatz von scheinbar realen Namen, deren Träger durch Abkürzungen geschützt werden, sowie dem Abdruck von Briefen und Schillers Auftritt als Herausgeber dieser Dokumente und Informationen. Dabei bildet dieses Konstrukt die Bühne „für die verwirrenden Inszenierungen von Schein und Sein“ 127 . Auf der anderen Seite ist die Figur des Armeniers mit ziemlicher Sicherheit an die reale Person des Graf Cagliostro angelehnt, über dessen unredliche Machenschaften Elisa von der Recke 1786 schrieb 128 . Darauf bezog sich ein württembergischer Prinz, „der auf 122 Dann 2005, S. 314. 123 Ebd. 124 Brief vom 12. Februar 1789 an die Schwestern von Lengefeld, zitiert nach ebd. 125 Dann weitere Interpretationsansätze der Forschung, so zum Beispiel das gesellschaftliche Interesse an Magie, Geisterbeschwörungen und Geheimgesellschaften oder dem Schicksal des Prinzen als ein Gegenentwurf zum Absolutismus. Vgl. ebd. 126 Hurst, Matthias: Rationalismus und Irrationalismus in Literatur, Film und Fernsehen 1789-1999. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 2001. S. 145. 127 Ebd., S. 146. 128 Dann 2005, S. 312. 291 <?page no="304"?> der Basis einer aufgeklärten Grundposition dennoch Verständnis für >spekulative Philosophie< und Geistererscheinungen zu erkennen gab“ 129 . Beide reale Personen können somit einen gewissen Anteil an Schillers fiktivem „Geisterseher“ haben. Viele Aspekte des dargestellten Geistersehers finden sich in der Maiausgabe 1786 der „Berlinische Monatsschrift“, in der von der Recke die Betrügereien von Cagliostro darstellt. In der gleichen Zeitschrift finden sich auch Artikel über die Verbreitung des Katholizismus, in dem die Angst vor der Unterwanderung durch die Jesuiten mitschwang, sowie ein Artikel über Venedig und die Staatsinquisition. Im Juli 1786 findet sich in derselben Zeitschrift ein Bericht über den Prinz Friedrich Heinrich Eugen von Württemberg, der aus religiösen Gründen den Kontakt zu Geistern für möglich hielt. Somit kann es durchaus sein, dass Schiller sich verschiedener Stoffe dieser bekannten Zeitschrift bediente und diese in seinem „Geisterseher“ verarbeitete 130 . Auch dies entspricht seinem Konzept der Authentizitätsfiktion, da er sämtliche Stoffe literarisch transformierte und damit in einen weiteren Zusammenhang stellt, als sie ursprünglich standen. Vergleicht man den „Geisterseher“ mit der von Schiller am stärksten literarisierten und auf wirklichen Fakten beruhenden Erzählung „Verbrecher aus verlorener Ehre“, so wird deutlich, wie Schiller Elemente seiner auf realen Fakten basierenden Verbrecherliteratur auf sein Konzept einer fiktiven Kriminalliteratur übertragen hat. Wird die Erzählung über Friedrich Schwahn bereits im Untertitel als „Eine wahre Geschichte“ markiert, so erzählt der Graf von O** eine Begebenheit, von der er Augenzeuge war und für deren wahrheitsgetreuen Inhalt er sich verbürgt 131 . Diese einleitende Wirklichkeitsbeteuerung findet sich auch in der späteren Kriminalliteratur, wie zum Beispiel 129 Dann 2005, S. 312. 130 Mayer 1996, S. 223: „ Der Geisterseher bindet diese Gretchenfrage der Aufklärung in die Spannung zwischen Protestantismus und Katholizismus ein: Der Prinz konvertiert am Ende und gibt damit den Anspruch auf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.“ 131 Schiller Der Geisterseher, S. 07: „Reine, strenge Wahrheit wird meine Feder leiten; denn wenn diese Blätter in die Welt treten, bin ich nicht mehr und werde durch den Bericht, den ich abstatte, weder zu gewinnen noch zu verlieren haben.“ 292 <?page no="305"?> bei Laurids Kruse 132 . In beiden Erzählungen geht es um „Verirrungen“ des Geistes 133 sowie um Affekte und Leidenschaft, die den gesunden Menschenverstand teilweise außer Kraft setzen. Dort wo der Sonnenwirt vom Leben und seiner Position in der Gesellschaft betrogen wird, wird der Prinz von ** aufgrund seiner Position in der Gesellschaft durch die Machenschaften eines jesuitischen Geheimbundordens betrogen. Die Rolle, die Schiller im Vorwort des „Verbrechers aus verlorener Ehre“ vom Leser fordert, wird auch im „Geisterseher“ am Ende des ersten Buches als Anspruch an den Leser formuliert. Nicht alle [...] die in dem Augenblicke, wo ich dieses schreibe, vielleicht mit Hohngelächter auf seine Schwachheit herabsehen und im stolzen Dünkel ihrer nie angefochtenen Vernunft sich für berechtigt halten, den Stab der Verdammung über ihn zu brechen, nicht alle, fürchte ich, würden diese erste Probe so männlich bestanden haben. 134 Eine weitere Parallele lässt sich zu der Tatsache ziehen, dass der tragische Held bereits das Zeitliche gesegnet hat und die Erzählung damit einen exemplarischen Status annimmt, ganz wie er es auch in der Vorrede der Pitaval-Ausgabe fordert 135 . Selbst die Darstellung 132 Siehe Kapitel 9.3. 133 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 05.; Schiller Der Geisterseher, S. 07. 134 Schiller Der Geisterseher, S. 83. Vgl. dazu: Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 08: „...weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrecht stehende Tugend auf die gefallne herunterblickt...“. 135 Schiller Der Geisterseher, S. 84: „Sein schreckliches Schicksal ist geendigt; längst hat sich seine Seele am Thron der Wahrheit gereinigt, vor dem auch die meinige längst steht, wenn die Welt dieses lieset; [...] aber zur Steuer der Gerechtigkeit schreib´ ich es nieder: Er war ein edler Mensch, und gewiß wär´er eine Zierde des Thrones geworden, den er durch ein Verbrechen ersteigen zu wollen sich betören ließ.“ Vgl. dazu: Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 08: „Unsre Gelindigkeit fruchtet ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henkers Hand aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und es ist möglich, auch die Gerechtigkeit.“ 293 <?page no="306"?> der Inquisition und ihrer von Schiller stets abgelehnten Methoden findet einen Platz in der Geschichte. Der Autor kombiniert in seinem Konzept verschiedenen Sorten von Populärliteratur 136 , stellt aber die Forderung an sein Konzept, dass der Leser einen Nutzen daraus ziehen kann. Auch dies findet sich in seiner Vorrede des Pitavals 137 , in der er fordert, dass sich gute Autoren diese Strukturen zu eigen machen können, um das Herz und den Kopf des Lesers positiv zu beeinflussen. Aus diesem Grund findet das Übernatürliche zwar einen Platz, kann aber durch rationale Erklärungen aufgelöst werden, da die Ursache von scheinbar übernatürlichen Phänomenen stets menschlicher Natur ist 138 . Doch die Hauptperson der Geschichte, der Graf von O**, ist aufgrund seiner Überzeugungen zwischen diesen beiden Welten gefangen, was ihm schlussendlich zum Verhängnis wird, da er vom Übernatürlichen so fasziniert ist, dass er ihm vor dem Realen den Vorzug gibt. Am Ende des ersten Buches 139 stehen der Graf von O** und der Prinz vor der Möglichkeit, als erstes literarisches Detektivduo zu agieren und die gesamten Hintergründe der Verbrechen aufzuklären, die dem Prinzen wie ein Wunder vorkommen. Dies, so bemerkt der Graf, ist das Resultat einer bigotten und knechtischen Erziehung, die im Prinzen „religiöse Melancholie“ erzeugte, die wie eine „Erbkrankheit“ 140 in der ganzen Familie zu finden ist und der Nährboden für die Beeinflussung durch die Mitglieder des Geheimbundordens bietet und zudem eine rationale Aufklärung des Falles verhindert. Der Graf von O** stellt fest, dass die beiden Erscheinungen Gaukelspiele gewesen 136 Geheimbund- und Schauerroman sowie verschiedene Elemente der Verbrechensliteratur. 137 Siehe dazu Kapitel 6.3.1. 138 Hurst 2001, S. 196-197: „Der Geisterseher lebt von der Atmosphäre der Verunsicherung und Bedrohung, die die Schauerliteratur insgesamt auszeichnet, doch er erweitert das traditionelle Gattungskonzept, indem der Schrecken nicht im fernen Mittelalter angesiedelt ist, sondern in der zeitgenössischen Realität, und indem dieser Schrecken keine Größe ist, die dem Menschen als irrationales Phänomen konträr gegenüber steht, sondern Manifestation einer destruktiven Energie, die dem Menschen substantiell und existentiell innewohnt.“ 139 Diese Episode war Teil der zweiten Folge, die im April 1788 erschien. Vgl. dazu Dann 2005, S. 313. 140 Schiller Der Geisterseher, S. 85. 294 <?page no="307"?> sind „und aus diesem Einverständnis sollen alle jene wunderbaren Zufälle sich erklären lassen, die uns im Laufe dieser Begebenheit in Erstaunen gesetzt haben“ 141 . Das Problem aber ist, dass sich nicht alle Begebenheiten umfassend aufklären lassen und der Graf den Prinzen somit nicht restlos überzeugen kann 142 . An dieser Stelle aber blüht der Prinz plötzlich und ein einziges Mal auf und erklärt seinem verdutzten Gegenüber, dass er sich versucht fühlt, „zu diesem Wunder einen natürlichen Schlüssel aufzusuchen oder es lieber gar von allem Schein des Außerordentlichen zu entkleiden“ 143 . Er bietet sogar zwei verschiedene Lösungen des Problems an und erläutert im Folgenden sein persönliches dénouement der Ereignisse, das so gar nicht zu seiner sonstigen Personenkonzeption zu passen scheint. Doch der Graf von O** ist nicht überzeugt davon, dass dem als Detektiv agierenden Prinzen die Lösung „als Blümlein am Wege“ 144 blüht und zweifelt an seinen Thesen, was der Prinz mit den folgenden Worten quittiert: Wie? Sie erschrecken also vor dem Wunderbaren weniger als vor dem Gesuchten, dem Ungewöhnlichen? [...] Aber ich gebe Ihnen zu, daß meine Mutmaßung gekünstelt ist; ich gestehe, daß sie mich selbst nicht befriedigt. Ich bestehe nicht darauf, weil ich es nicht der Mühe wert halte, einen künstlichen und überlegten Entwurf zu Hülfe zu nehmen, wo man mit dem bloßen Zufall schon ausreicht. 145 Ob der Graf von O** mit seinem Einwand damit selbst zum Teil des Problems wird, klärt Schiller nicht auf, denn der Text bietet nicht am Ende, wie im Krimi üblich, eine Bestätigung der Thesen, wie sie beispielsweise durch eine Festnahme und ein Geständnis des Armeniers geleistet werden könnte. Und obwohl er nur einen kleinen Schritt davon entfernt ist, der erste Detektiv der Literaturgeschichte 141 Schiller Der Geisterseher, S. 80. 142 Ebd.: „...und was hilft uns der Schlüssel zu allen übrigen, wenn wir an der Auflösung dieses einzigen verzweifeln? “ 143 Ebd., S. 80-81. 144 Glauser Offener Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘, S. 215. 145 Schiller Der Geisterseher, S. 82-83. 295 <?page no="308"?> zu werden, beendet er seine kurze Laufbahn mit den Worten: „Die Zeit wird dieses Geheimnis aufklären oder auch nicht aufklären aber glauben Sie mir, Freund [...] ein Mensch, dem höhere Kräfte zu Gebote stehen, wird keines Gaukelspiels bedürfen, oder er wird es verachten.“ 146 Schiller hätte im Folgenden auf das dénouement des Prinzen eingehen können, was allerdings einen völlig neuen Erzählstrang erfordert und die eigentliche Handlung in den Hintergrund gedrängt hätte, da der Betrug des Prinzen so nicht mehr möglich gewesen wäre. Auch im weiteren Verlauf werden die Hintergründe für das Schicksal des Prinzen nicht vollständig aufgelöst, wohl aber die Handlung mit einem „eindrücklichen, realistisch-entzauberten Abschluss“ 147 zu Ende gebracht. Dies ist in den meisten Buchformen nicht mehr so eindeutig zu erkennen, da der eigentliche Abschluss als „Siebenten Brief “ eingefügt 148 und das „Philosophische Gespräch“ ans Ende der Erzählung gestellt wird. Im Folgenden ist es das schwärmerische Seelenempfinden des Prinzen, das nach und nach seine rationalen Fähigkeiten überdeckt. Der Graf von O** beschreibt nun nur noch den langsamen sozialen und psychischen Verfall und wie der Prinz immer mehr in den Strudel der Intrigen hineingezogen wird, bis er schließlich, zeitweise von seiner Familie verstoßen, vollkommen in den Fängen des Armeniers gefangen ist und niemand mehr Verbindung zu ihm aufnehmen kann. Selbst der Graf von O** wird abgewiesen, als er den Prinzen sehen will, die restliche Geschichte erfährt er schließlich am Sterbebett von F***. Mit diesem Kunstgriffschließt Schiller an dieser Stelle die brüchig gewordene Erzählstruktur ab und schafft es, trotz alledem einen Bogen zum Beginn der Geschichte zu schlagen und den homodiegetischen Erzähler in seiner Position korrekt darzustellen. Aus den Notizen des Autors geht hervor, dass er sich nicht besonders gut mit der Praxis einer fortschreitenden Veröffentlichung anfreunden konnte, da er im Nachhinein keinerlei Modifikationen des Konzepts vornehmen konnte. Er war sozusagen in seiner eigenen Geschichte gefangen, denn mehr als einmal äußert er den Wunsch, die Arbeit daran abzubrechen oder das Konzept von Grund auf überarbeiten 146 Schiller Der Geisterseher, S. 83. 147 Dann 2005, S. 314. 148 Ebd. 296 <?page no="309"?> zu können. Die Möglichkeit, diese Erzählung zum ersten modernen Krimi auszubauen, war mit dieser Episode am Ende des ersten Buches durchaus gegeben, aber ziemlich sicher nie ein entscheidender Teil des Konzeptes. Schillers Erzählung spiegelt eine gesellschaftliche Mode wider, die in gewisser Weise als Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung entstand und in der Romantik auch in der Literatur ihren Platz fand. In geschlossenen Gruppen widmete man sich der Geisterbeschwörung und dem Übersinnlichen 149 . In den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts erschienen daher viele Schriften, die Hypnosen, Geisterbeschwörungen und Zauberkünste beschrieben, wovon sich manche durchaus kritisch mit dem Thema auseinandersetzten 150 . Auch Adalbert von Hanstein äußert die Vermutung, dass Schiller das Werk von von der Recke kannte. Zudem traf Schiller bereits 1781 selbst auf Cagliostro und widmete ihm im gleichen Jahr einen Aufsatz mit dem Titel „Calliostro - Viel Lärmens um nichts“ in den „Nachrichten zum Nutzen und Vergnügen“. Die Frage nach der Grenze zwischen Leben und Tod findet sich auch in der zeitgleich entstehenden Schauerliteratur in England wieder, mit der Schiller aber erst 1798 151 in Berührung kam. Im 149 Mayer, Mathias: Nachwort. In: Schiller Der Geisterseher, S. 219-242. Hier: S. 220: „Gerade mit der bloßen Vernunft konkurrierende Formen der Erkenntnis erfreuten sich in diesen Jahren vor der Französischen Revolution einer erstaunlichen Beliebtheit, die sich vornehmlich in abgeschlossenen Zirkeln formierte.“ 150 So zum Beispiel von Semler, Johann Salomo: Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, mit eigenen vielen Anmerkungen herausgegeben. Frankfurt und Leipzig: 1775; Bekker, B.: D. Christian August Crusius‘[...] Bedenken über die Schröpferischen Geisterbeschwörungen mit antiapokalyptischen Augen betrachtet von D. Baltasar Bekker, dem jüngern. Berlin: 1775; Wiegleb, Johann Christian: Die natürliche Magie, aus allerhand belustigenden und nützlichen Kunststücken bestehend. Zweyte und vermehrte Auflage. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai, 1782; Funk, Christlieb Benedict: Natürliche Magie oder Erklärung verschiedner Wahrsager und Natürlicher Zauberkünste. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai, 1783; Recke, Charlotta Elisabeth Konstantina von der: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai, 1787. 151 Mayer 1996, S. 224. 297 <?page no="310"?> Gegensatz zu dieser Strömung entsteht das Gespenstische und das Übernatürlich allein im Kopf des Prinzen und wird zur gegebenen Zeit stets rational aufgelöst. Wer aber schlussendlich hinter den politischen Intrigen und Verwicklungen steckt, bleibt im Dunkeln, denn es fehlt der literarische Deus ex Machina, die Detektivfigur. Es ist von daher falsch, den Roman der Schauerliteratur zuzuordnen. Wohl findet man den „Einbruch des Übernatürlichen und Spukhaften in eine reale, nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit funktionierende Welt“ 152 , aber genau der „Widerspruch zur taghellen Aufklärung“ 153 wird zwar der Spannung wegen erzeugt, nicht aber erhalten. Auch wenn die zweite Geistererscheinung unaufgelöst bleibt, so kann sie in diesem Zusammenhang dem Leser nur schwer als eine solche erscheinen. Daher ist die Hinrichtung 154 , die wiederum die gnadenlose Bösartigkeit der Menschen zeigt, vor allem im Kontext der Inquisition, ein schrecklicheres Grauen als jede Geistererscheinung des Textes. Während der Arbeit an dem zweiten Teil des „Geistersehers“ beginnt Schiller an seinem Konzept zu zweifeln 155 . In seinem Brief vom 17. März 1788 an Körner bezeichnet er das Werk als „Schmiererei“ 156 , obwohl besonders in diesem Jahr sich ein großer Erfolg einstellt. In einem Brief vom 01. Oktober 1788 plant er dann wieder, das Buch umfangreich zu Ende zu bringen. Die Arbeit an den Gedichten „Die Götter Griechenlands“ und „Die Künstler“ aber lassen ihn wieder das Interesse daran verlieren und erst Anfang 1789 entwirft er das „Philosophische Gespräch“, welches der Versuch zu sein scheint, seine theoretischen Gedanken, die ihm weitaus mehr bedeuten als spannende Prosa zu schreiben, in das Werk einzubringen. Dies misslingt ihm aber, denn das Gespräch ist zu langatmig und hemmt in der ursprünglichen Konzeption den Spannungsaufbau. Im Laufe der Zeit wird es immer mehr gekürzt, in den meisten Ausgaben sogar erst 152 Mayer 1996, S. 224. 153 Ebd. 154 Schiller Der Geisterseher, S. 15. 155 Schiller, Friedrich: An Körner. 06. März 1788. In: ders. (Autor); Fricke (Hrsg.) Briefe, S. 164: „Dem verfluchten Geisterseher kann ich bis diese Stunde kein Interesse abgewinnen; welcher Dämon hat ihn mir eingegeben! “ 156 Ebd., S. 166. 298 <?page no="311"?> ganz ans Ende gestellt. Das eigentliche Problem liegt für Schiller in der Tatsache, dass er im Nachhinein keinerlei Korrekturen mehr am Gesamtkonstrukt vornehmen kann, da die vorherigen Kapitel bereits veröffentlicht wurden 157 . Schillers Problem war es wahrscheinlich, dass er zu viele verschiedene Aspekte und zu viele literarische Strömungen zu einem großen Ganzen zusammenfügen wollte. Auch wenn es ihm 1788 gelang „in eine planlose Sache Plan zu bringen, und so viele zerissene Fäden wieder anzuknüpfen“ 158 , scheiterte sein Versuch, spannende Prosa mit tiefgreifenden philosophischen Fragen zu kombinieren, wahrscheinlich daran, dass er das Werk nicht mehr rückwirkend überarbeiten konnte. So bricht er im selben Monat die Arbeit am „Geisterseher“ ab, um sich unter anderem seiner Geschichtsprofessur in Jena zu widmen. Es folgen mehrere Überarbeitungen und Kürzungen, vor allem des philosophischen Gesprächs und, nach der dritten Buchausgabe 1797, beendet er seine Arbeit daran, da er bereits zu lange an diesem Werk schreibt, wie er am 26. Juli 1800 seinem Verleger Friedrich Gottlieb Unger mitteilt. Im Nachhinein scheint es so, als wäre der selbstkritische Schiller später vom Erfolg seines Werkes überholt worden, denn die Wirkung des „Geistersehers“ war beeindruckend. Es gab Fortsetzungen 159 , eine diegetische Neufassung der Geschichte 160 oder aus der Sicht des jesuitischen Geheimbundordens (1833), welche bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts fortgeführt wurden 161 . Das Werk floss auch in 157 Schiller, Friedrich: An Körner. 09. März 1789. In: ders. (Autor); Fricke (Hrsg.) Briefe, S. 198-201. Hier: S. 198: „Hätte mich der Geisterseher bis jetzt für sich selbst als ein Ganzes interessiert, oder vielmehr, hätte ich die Teile nicht früher expedieren müssen, als dieses Interesse am Ganzen in mir reif geworden ist: so würde dieses Gespräch gewiß diesem Ganzen mehr untergeordnet worden sein. Da jenes aber nicht war, was konnte ich anders, als das Detail meinem Herzen und meinem Kopfe wichtig machen, und was kann der Leser unter diesen Umständen mehr von mir verlangen, als daß ich ihn mit einer interessanten Materie auf eine nicht geistlose Art unterhalte.“ 158 Schiller, Friedrich: An Gottfried Körner. Weimar, 15. Mai 1788. In: ders. (Autor); Jonas, Fritz (Hrsg.): Schillers Briefe. Stuttgart: Deutsche Verlags- Anstalt, 1893. S. 61-63. Hier: S. 63. 159 U.a von Emanuel Follenius (1796). 160 Von Morvell, C. (W.F.A. Vollmer). 161 Vgl. dazu Bußmann, Walter: Schillers „Geisterseher“ und seine Fortsetzer. Ein Beitrag zur Struktur des Geheimbundromans. Dissertation. Göttingen 299 <?page no="312"?> Arbeiten von Tieck, Hoffmann, Keller und Hofmannsthal ein 162 . Abb. 53: Verteilung der Erzählelemente in Schiller Der Geisterseher (1786- 1798) Eine Analyse der verwendeten Erzählelemente und deren Anordnung zeigt, dass es sowohl mehrere Konflikte, wie auch mehrere Rätsel gibt, die nicht alle vollständig aufgelöst werden. Bereits zu Beginn wird die undurchsichtige Person des Armeniers vorgestellt, der in einem unbekannten Verhältnis zu seinem Opfer, dem Prinz, steht. Wer er genau ist, wird im Verlauf der Geschichte nicht vollends aufgeklärt, doch er ist es, der den Prinzen betrügt und ihn zuerst schützt, dann aber mit seinen Machenschaften ins Verderben stürzt. Somit ist die Täter-Opfer-Beziehung zwischen diesen beiden Personen ein wichtiges Element der Handlung, da viele der merkwürdigen Erlebnisse mit ihm in Verbindung gebracht werden können und er über scheinbar unbegrenztes Wissen und Macht verfügt. Selbst für andere Betrüger, wie beispielsweise den Sizilianer, ist er eine schwer einzuschätzende Person, die ihm Angst macht 163 . Seine Machenschaften gehen so weit, dass er jeden Verdacht stets von sich abzulenken weiß, sodass er am Ende der unglücklichen Situation selbst die beiden Prinzen 1960. 162 Mayer 1996, S. 231. 163 Schiller Der Geisterseher, S. 45-67. 300 <?page no="313"?> Abb. 54: Spannungsaufbau in Schiller Der Geisterseher (1786-1798) gegeneinander aufbringt und der Prinz von **d** bei dem Duell schwer verletzt wird. Diesen Zusammenhang kann man als Leser nur erahnen, denn die Situation wird nicht vollständig aufgelöst. Alle Indizien, die man während der Lektüre dem Text entnehmen kann, deuten aber darauf hin. Schiller hätte sich bei einer Fortführung an dieser Stelle aufgrund der komplizierten Verknüpfungen und der teilweise unklaren Verhältnisse der Personen untereinander sogar die Möglichkeit eines double twist 164 geboten. Im ersten Buch suchen der Prinz und der Graf von O** noch aktiv nach einer Auflösung der Ereignisse, doch es fällt ihnen schwer, die Erlebnisse rational zu erklären sowie verlässliche Zeugen und Spuren zu finden. Der Aufklärung wird ein großer Umfang eingeräumt, doch führt sie leider nicht zu einem Ergebnis, sondern zu einer Veränderung des Verhaltens und der Einstellung des Prinzen. Im weiteren Verlauf liegt somit das dénouement zu gewissen Teilen beim Leser, denn die handelnden Personen des Textes geben sie auf. Der Leser aber ist aufgrund der Anordnung der Ereignisse, der damit 164 Mayer 2002, S. 122: „...überraschende Wendung, die ein Geschehen nimmt, nachdem sich dem Leser doch bereits eine dem Anschein nach überzeugende Lösung dargeboten hatte.“ 301 <?page no="314"?> verbundenen Divination und den ungelösten Rätselfragen in die Aufdeckung eingebunden. Ihre Beantwortung beschäftigt ihn aufgrund der Erzählstruktur bis zum Ende des Textes. Auch die zuvor dargestellte Beziehung zwischen Opfer und Täter führt nicht unbedingt dazu, dass Klarheit in die gesamte Situation gebracht wird, sondern erreicht aufgrund der nicht greifbaren Person des Armeniers genau das Gegenteil. Ebenfalls erkennbar ist, dass in Bezug auf die Taten nur die vermeintliche Geisterbeschwörung dargestellt wird, sonst aber nur die Geschichte eines Betrugs erzählt wird, dessen konkrete Konsequenzen sich im Verlauf der Erzählung langsam herausstellen. Aufgrund der internen Fokalisierung von Personen, die abgesehen von der gespielten Geistererscheinung nicht direkt in den Betrug verwickelt oder von einer näheren Betrachtung ausgeschlossen sind 165 , wird dabei nicht präzise beschrieben, wie dieser Betrug vollzogen wird, sondern in Form stark geraffter Analepsen dem Zuschauer präsentiert. Selbst der versuchte Betrug des Sizilianers und seiner Mittelsmänner wird aufgrund der undurchsichtigen Aktivitäten des Armeniers zunichte gemacht, bevor er ganz vollzogen werden kann. So besteht das zweite Buch ausschließlich aus der Darstellung des Prinzen, der als Opfer der ihn umgebenden Kriminellen langsam aber sicher immer tiefer in verschiedenen Intrigen verwickelt wird, bis sein gesellschaftlicher Stand ruiniert ist. Doch was genau zwischen dem 10. Brief und der Flucht des Prinzen aus Venedig geschieht, wird in Form einer recht umfangreichen Ellipse offen gelassen und nur ungenau angedeutet. Wichtig für die Betrachtung des Werks im Zusammenhang mit der Verbrechensliteratur ist aber der oben dargestellte Bezug zur Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“. Die Unterscheidung zwischen einer reißerischen Darstellung und einer „Schule der Bildung“ erklärt, warum Schiller überhaupt mit seinem Werk derart haderte und warum er das philosophische Gespräch einfügte, um nicht bloß des Lesers Neugier zu befriedigen 166 . Im Gegensatz zum „Verbrecher 165 F** beschwert sich darüber, dass er den Prinzen von ** nur noch zum An- und Auskleiden sieht und er nur aus einer entfernten Perspektive beschreiben kann, was genau passiert. Vgl. z.B. Schiller Der Geisterseher, S. 98. 166 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 06. 302 <?page no="315"?> aus verlorener Ehre“ ist der Prinz hier aber das Opfer von Intrigen, nicht etwa der Gesellschaft, so wie Wolf es ist. Dennoch bringt ihn dies dazu, unredlich zu handeln und sich immer tiefer in sein Unglück zu stürzen, bis er sich nur noch voll und ganz denjenigen ausliefern kann, die sein Unglück mitgestaltet haben. Doch auch hier ist es die Dichotomie von Tugend und Laster, die zentral für die Darstellung ist, mit der Schiller „den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrecht stehende Tugend auf die gefallne herunterblickt“ 167 so sein Konzept. Aus diesem Grund widmet er der Darstellung des Opfers und der Gründe seiner Verfehlungen den größten Teil der Erzählung, sodass man es hierbei mit einer gespiegelten Version seines Konzeptes vom „Verbrecher aus verlorener Ehre“ zu tun hat, bei dem das Opfer Teil seines eigenen Verderbens ist. Charakteristisch für die hier vorgestellten Texte Schillers ist, dass sein Erzählkonzept stets diese Perspektive in den Vordergrund stellt und ihr den größten Umfang widmet. Dies lässt sich anhand der Balkendiagramme erkennen, die für diese Texte angefertigt wurden. Speziell an seiner Darstellung ist, dass die Rolle von Opfer und Täter nie so eindeutig ausgeführt ist, wie man es von der modernen Unterhaltungsliteratur gewohnt ist. Dies entspricht seinem besonderen Entwurf einer Verbrechensliteratur, die deutliche Zeichen der juristisch-anthropologischen Darstellung der Aufklärer des 19. Jahrhunderts trägt, aus erzähltechnischer Perspektive diese Darstellung aber modern und vielseitig weiterentwickelt, wie sich unter anderem auch anhand der verschiedenen Rätsel belegen lässt, die er im „Geisterseher“ einfügt. Die Übersicht über die genutzten Erzählelemente muss in diesem Fall in zwei Teile aufgesplittet werden, da es zwei Verbrechen innerhalb der Erzählung gibt, die nicht miteinander in Verbindung stehen und daher nicht innerhalb einer Übersicht dargestellt werden sollten, um Missverständnisse zu vermeiden: der Betrug der vermeintlichen Geisterbeschwörung, die schnell aufgedeckt wird, und der eigentliche Betrug am Prinzen, dessen Verursacher nicht aufgedeckt werden. Seine Auseinandersetzung mit diesem Stoffblieb nicht an dieser Stelle stehen, sondern findet sich schlussendlich in seiner Ausgabe 167 Schiller Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 08. 303 <?page no="316"?> Abb. 55: Erzählelemente in Schiller Geisterseher (1787-1789): der Betrug der vermeintlichen Geisterbeschwörung des Pitavals und Fragmenten eines Krimi-Theaters wieder, die einen weiteren Bereich abdecken und seinen letzten Versuch belegen, diesen Stoffnicht als „Halbbruder des Dichters“ 168 , sondern ihn auch in Form eines Dramas aufzuarbeiten 169 . 168 Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5. München: Carl Hanser Verlag, 1962. S. 693-779. Hier: S. 740: „Was selbst der Dichter, der keusche Jünger der Muse, sich erlauben darf, sollte das dem Romanschreiber, der nur sein Halbbruder ist und die Erde noch so sehr berührt, nicht gestattet sein? “ 169 Siehe dazu Kapitel 6.5. 304 <?page no="317"?> Abb. 56: Erzählelemente in Schiller Geisterseher (1787-1789): der eigentliche Betrug am Prinzen 6.4 Eine literarische Ausgestaltung: Schillers Pitaval (1792-1795) Auch in seiner Übersetzung und Bearbeitung 170 von verschiedenen Erzählungen der französischen Pitaval-Ausgabe nutzt Schiller verschiedene Erzählformen und -strukturen, da er die ursprünglichen 170 Schillers Ausgabe beruht auf der Neuübersetzung von Friedrich Immanuel Niethammer (Vgl. dazu Košenina 2005, S. 309). Der vollständige Titel lautet: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller. 305 <?page no="318"?> Texte zusammen mit anderen, nicht näher benannten Mitarbeitern übersetzte und bearbeitete. Noch interessanter als die eigentlichen Erzählungen aber ist die berühmte „Vorrede“ 171 , die sich nicht konkret auf die Texte der Ausgabe bezieht, sondern sich, wie auch schon im „Verbrecher aus verlorener Ehre“, auf theoretischer Ebene mit der literarischen Darstellung von Verbrechen auseinandersetzt. 6.4.1 Konzepte der Verbrechensliteratur: Vorrede In seiner „Vorrede“ stellt Schiller einen grundlegenden Vorteil der Unterhaltungsliteratur heraus, die er zuerst ganz wertfrei als „Klasse von Schriften, welche eigentlich dazu bestimmt ist, durch die Lesegesellschaften ihren Zirkel zu machen“ 172 , definiert: „Das immer größer werdende Bedürfnis zu lesen“ 173 , so der Autor, könnten gute Schriftsteller dazu nutzen, „Kopf oder das Herz der Leser“ zu bessern. Statt dessen aber wird diese Leselust von „mittelmäßigen Scribenten und gewinnsüchtigen Verlegern“ 174 ausgenutzt, um „geistlose, Geschmak- und Sittenverderbende Romane, dramatisierte Geschichten, sogenannte Schriften für Damen und dergleichen“ 175 zu veröffentlichen. Grund für den Erfolg dieser „Geburten der Mittelmäßigkeit“ 176 aber ist die Tatsache, dass der Mensch einen Hang zu „leidenschaftlichen und verwickelten Situationen“ 177 hat, den diese Literatur zu befriedigen versucht. Doch Schiller will aus der Not eine Tugend machen. Was wäre, so fragt er, wenn man diese Techniken nutzen würde, um 171 Leonhardt 1990, S. 12: „Für die Geschichte des Kriminalromans ist seine kurze Vorrede wichtiger als der ganze ‚Pitaval‘. Schiller erwähnt keinen der berühmten Fälle der Sammlung, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Was ihn bewegt, sind nicht die Einzelheiten, es ist eine grundsätzliche Überlegung. Er verteidigt einen Lesestoff, der, wie viele glauben, nur die niedrigsten Instinkte des Menschen anspreche.“ 172 Schiller, Friedrich: Vorrede. In: ders.: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller. Erster Theil. Jena: Christ. Heinr. Cuno´s Erben, 1792. o.S. 173 Ebd. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Ebd. 177 Ebd. 306 <?page no="319"?> „zum Vortheil der guten Sache davon Gebrauch zu machen“ 178 ? Eine durchaus berechtigte Frage, die auch in der heutigen Zeit nichts an Bedeutung verloren hat. Auch Karl von Moor ekelt sich vor dem „Tintenkleksenden Sekulum“ 179 , das eine ganz andere Literatur hervorzubringen scheint, als die Vertreter der klassischen Literatur es gerne sehen und Roller erzählt scherzhaft von seinem vermeintlichen Plan, sein Geld als Vielschreiber zu verdienen 180 . Schon allein, wenn ein triviales Werk den Zweck erfüllen könnte, „das Nachdenken des Lesers auf würdige Zwecke zu richten“ 181 , so wäre viel erreicht, meint Schiller. Seine „Vorrede“ ist nichts anderes als ein „Zeugniß“ für die „Brauchbarkeit“ der Fälle, die in dieser Ausgabe präsentiert werden. Besonders die Tatsache, dass sich diese realen Fälle „an Interesse der Handlung, an künstlicher Verwicklung, und Mannigfaltigkeit der Gegenstände bis zum Roman erheben“ 182 , zeichnet die Erzählungen aus, die aber auch, was Schiller nicht erwähnt, erst durch die Bearbeitung ihre volle literarische Wirkung entfalten. Seine Ausführungen skizzieren in perfekter Weise die Essenz der Verbrecherliteratur dieser Zeit und seine strukturellen Hinweise deuten bereits an, in welche Richtung sich dieser Erzählstoffein halbes Jahrhundert später entwickeln sollte: Man erblickt hier den Menschen in den verwickeltesten Lagen, welche die ganze Erwartung spannen, und deren Auflösung der Divinationsgabe des Lesers eine angenehme Beschäftigung gibt. 183 Auch wenn hier Leidenschaften, Intrigen und Betrug geschildert werden, so lassen sich doch die „Triebfedern“ dieser Taten erkennen, 178 Schiller Vorrede, o.S. 179 Schiller Die Räuber, S. 31. 180 Ebd., S. 46: „Wie wärs, dacht ich, wenn ihr euch hinseztet, und ein Taschenbuch oder einen Almanach, oder so was ähnlichs zusamensudeltet, und um den lieben Groschen recensirtet, wie´s wirklich Mode ist? “ 181 Schiller Vorrede, o.S. 182 Dies führt dazu, dass manche Erzählungen schon romanhaften Umfang annehmen. Vgl. dazu Schiller, Friedrich: Die Besessenen zu Loudun oder die Geschichte des Urban Grandier. In: ders.: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit I, S. 01-213. 183 Schiller Vorrede, o.S. 307 <?page no="320"?> wenn der Kriminalrichter im Stande ist, „tiefe Blicke in das Menschen- Herz zu thun“ 184 . So enthüllt der Kriminalprozess, im Gegensatz zu einem normalen Bericht, „das Innerste der Gedanken, und bringt das versteckteste Gewebe der Bosheit an den Tag“ 185 , was sowohl wichtig für die Menschenkenntnis wie auch für eine menschliche Behandlung der Täter ist. Damit wird zudem der juristische Wert dieser Fälle von Schiller betont. Um diese so gepriesenen Vorzüge des Stoffs deutlich herauszuarbeiten, mussten sie literarisch bearbeitet werden. Zu den beiden wichtigsten Elementen gehört der Wechsel der Fokalisierung 186 und die Beeinflussung des Informationsflusses, um „die Erwartung aufs höchste zu treiben“, indem die „lezte Entwicklung“ so lange wie möglich versteckt wird - ein erzähltechnischer Trick, der im modernen Krimi eine ganz besondere Rolle einnimmt. Schiller weist am Ende seiner Vorrede zudem darauf hin, dass der juristische Teil, der in manchen Werken der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur durchaus den größeren Platz einnehmen konnte und den Lesefluss unterbrach, aus Gründen der Lesbarkeit und mit Rücksicht auf ein größeres Lesepublikum gekürzt wurde 187 . Dabei wird dennoch, wie schon ausgeführt, die Form dem Inhalt untergeordnet 188 . Seine Pläne, nach den ersten vier Bänden auch Fälle aus anderen Ländern aufzunehmen, um „diese Sammlung zu einem vollständigen 184 Schiller Vorrede, o.S. 185 Ebd. 186 Ebd.: „Ihre Verfasser haben, wo es angieng, dafür gesorgt, die Zweifelhaftigkeit der Entscheidung, welche oft den Richter in Verlegenheit sezte, auch dem Leser mitzutheilen, indem sie für beide entgegengesezte Partheien gleiche Sorgfalt und gleich große Kunst aufbieten [...]. 187 Ebd.: „Eine treue Uebersetzung der Pitavalischen Rechtsfälle ist bereits in derselben Verlagshandlung erschienen und bis zum vierten Bande fortgeführt worden. Aber der erweiterte Zweck dieses Werks macht eine veränderte Behandlung nothwendig. Da man bei dieser neuen Einkleidung auf das größere Publikum vorzüglich Rücksicht nahm; so würde es zweckwidrig gewesen sein, bei dem juristischen Theil dieselbe Ausführlichkeit beizubehalten, die das Original für Rechtsverständige vorzüglich brauchbar macht.“ Schiller bezieht sich dabei auf eine Ausgabe des deutschen Regierungsadvocat Carl Wilhelm Franz herausgegebene Ausgabe (1782-1787) 188 Ebd.: „Durch die Abkürzungen, die es unter den Händen des neuen Uebersetzers erlitten, gewann die Erzählung schon an Interesse ohne deswegen an Vollständigkeit etwas einzubüßen.“ 308 <?page no="321"?> Magazin für diese Gattung zu erheben“ 189 , ist irreführend, denn viele der vorgestellten Fälle stammen aus Frankreich. 6.4.2 Aus der Perspektive eines Opfers: Das ungleiche Ehepaar (1795, Vr3) Aus erzähltechnischer Sicht ragt besonders die letzte Erzählung aus dem vierten Band des Schillerschen Pitavals heraus, die als „Das ungleiche Ehepaar“ bezeichnet ist und die am deutlichsten eine literarische Ausgestaltung erkennen lässt. Die hier vorgefundene und für einen Pitaval seltene Erzählhaltung ist wohl der Grund, warum sie scheinbar ganz versteckt am Ende des letzten Bandes steht 190 . Sie resultiert aus der Tatsache, dass am Beginn der Erzählung ein Brief der Betroffenen abgedruckt wird, der den größten Teil der Erzählung ausmacht. Es findet sich die interne Fokalisierung des Opfers schon in der deutschen Übersetzung von 1748 191 . Vergleicht man aber diese Übersetzung mit der Ausgestaltung im Schillerschen Pitaval, so lässt sich die Bearbeitung deutlich erkennen. Im Gegensatz zur Vorlage verzichtet Schiller auf das Vorwort des ursprünglichen Herausgebers. Darin wird der Leser darüber informiert, dass es sich um eine Schrift handelt, die dem Gericht übergeben wurde. Dadurch, dass dies im Pitaval von Schiller erst gegen Ende der Erzählung erwähnt wird, tritt „die leichte Schreibart, welche sie belebet“ 192 , deutlicher hervor. Dem „feinen und artigen Scherz“ 193 des Ursprungstextes wird durch die Bearbeitung allerdings wesentlich mehr Ausdruck verliehen. Diese Erzählung sticht somit auf den ersten Blick besonders durch die interne Fokalisierung einer homodiegetischen Erzählerin heraus, die den ironischen und bissigen Unterton ihrer Geschichte unterstützt, der erst mit der Überarbeitung eingefügt wurde. So steht die 189 Schiller Vorrede, o.S. 190 Schiller, Friedrich: Das ungleiche Ehepaar. In: ders. Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit IV, S. 420-454. 191 Pitaval, François Gayot de: Die übelgepaarten Eheleute. In: ders.: Erzählung sonderbarer Rechtshändel, sammt deren gerichtlichen Entscheidung. Aus dem Französischen übersetzt. Vierter Theil. Leipzig: Gottfried Kiesewetter, 1748. S. 358-387. 192 Ebd. 193 Ebd. 309 <?page no="322"?> Perspektive des Opfers im Vordergrund, da über ihre Wahrnehmung das vereitelte und eigentlich nie stattgefundene Verbrechen erzählt wird. Die Erzählerin Anne Christine von Gomes berichtet, wie sie mit 16 Jahren mit dem 65 Jahre alten und blinden, aber reichen Roman von Ringlin verheiratet wird, der Präsident des elsässischen Conseil souverain ist. Ihre Familie glaubt, dass es nur „Geld und Ansehen“ 194 brauche, um glücklich zu werden und so musste sie gehorchen. Ihr Leben ist von Anfang geprägt von dem großen Misstrauen ihres Ehemannes und so wird sie stets im und außerhalb des Hauses von dessen alten Diener Picard verfolgt, der sie auch in den Augenblicken nicht verlässt, „wo die Wohlanständigkeit keine Zeugen gestattet“ 195 . Nachdem sie sich durch List der „kindischen“ und „lächerlichen“ Leidenschaft ihres Ehemannes entzieht 196 , ist es bald aber seine Eifersucht, die ihr das Zusammenleben unerträglich macht 197 . Die Verwandten Ringlins nähren dessen Misstrauen, da sie Einfluss auf die Zukunft der Familie und vor allem Zugriffauf das Vermögen haben möchten. Die alte Magd Mariane, die bereits drei Kinder vom alten Ringlin hat, wird ihm wieder zugespielt, um seine Gelüste zu befriedigen. Voller Spott stellt an dieser Stelle das junge Mädchen fest: Gern möchte ich hier einige Auftritte übergehen, und einen Vorhang über Begebenheiten ziehen, denen selbst die strengste Decenz in der Erzählung das Anstößige nicht ganz benehmen kann. Allein, die Vertheidigung meiner gerechten Sache erlaubt es nicht meiner Bedenklichkeit dieses Opfer zu bringen. 198 194 Schiller Das ungleiche Ehepaar, S. 420. 195 Ebd., S. 421. 196 Ebd., S. 422. 197 Ebd., S. 422-423: „Herr von Ringlin bildete sich ein, alle jungen Wollüstlinge hätten sich verschworen mich zu bestürmen [...]. Schon schien ihm die Gefahr über seinem Haupte zu schweben. Er verdoppelte seine Wachsamkeit. Ich konnte keinen Schritt im Hause, selbst nicht in meinem Zimmer, thun, ohne ihm Rechenschaft davon ablegen zu müssen. Er deutete das unschuldigste Wort. Kurz alles, selbst mein Stillschweigen, war ihm verdächtig.“ 198 Ebd., S. 425. 310 <?page no="323"?> Kurze Zeit nach seinen erneuten Schäferstündchen mit der Magd, „die Alter und Ausschweifung fast verstümmelt hatten“ 199 , fallen der jungen Frau die häufigen Besuche des Baders auf, deren Hintergrund sich schnell aufklärt. Von Filzläusen befallen 200 hält er Mariane „einen harten Vortrag“ 201 , der alsbald zu Beschimpfungen und Schlägen führt. Doch die Magd setzt sich zur Wehr: „Es entstand ein förmlicher Zweikampf, das Gefecht ward immer hitziger, beide Parteien erhoben ein mörderisches Geschrei. [...] Mit viel Mühe brachte man die Kämpfer auseinander.“ 202 Die junge Frau reagiert geistesgegenwärtig und ermöglicht es der Magd, den Raum über eine Leiter zu verlassen, um ihren Ehemann nicht zum Gespött der Stadt zu machen. Da der Plan der Verwandten damit gescheitert ist, beginnen diese bald wieder mit Verleumdungen der jungen Frau. Nachdem Herr von Ringlin zwei Schlaganfälle erlitten hat, beziehen seine Verwandten Quartier im Haus der Familie, woraus sich neue Konflikte ergeben. Dies führt so weit, dass die junge Frau zu ihren Verwandten flüchten muss. Doch schon bald wird sie um ihre Rückkehr gebeten. Kurz vor ihrer Rückreise aber eröffnet ihr die Köchin des Hauses, dass Ringlin sie ermorden will 203 . Sie zeigt diesen Vorfall dem Gouverneur von Colmar an, vor dem die Köchin ihre Aussage wiederholen muss, doch dieser kann nichts tun, worauf sie beschließt ins Kloster zu gehen. Nun beginnt der juristische Teil der Erzählung, der wiederum literarisiert wiedergegeben wird. Madame Poireau, eine der Verwandten, empfiehlt Ringlin die junge Frau wegen der Geschlechtskrankheit und einem vermeintlichen Gespensterspuk anzuzeigen. Hinzu kommen weitere unbegründete Anschuldigungen, die davon zeugen, dass „hier eigentlich die Erben das Wort führen“ 204 , da in der Klageschrift 199 Schiller Das ungleiche Ehepaar, S. 425. 200 Ebd.: „Eine Menge kleiner garstiger Thiere, die sich nur bei schmutzigem Pöbel aufhalten und deren Namen man in guter Gesellschaft nicht einmal hört, hatten eine Völkerwanderung vorgenommen und waren bei dem Herrn Präsidenten mit einer solchen Wuth eingefallen, daß er nicht aufhören konnte, sich bald hier bald dort zur Wehre zu sezen.“ 201 Ebd., S. 426. 202 Ebd. 203 Ebd., S. 439-440. 204 Ebd., S. 444. 311 <?page no="324"?> deutlich die „Spuren ihrer Feindschaft, ihres Eigennutzes und ihrer geheimen Absichten“ zu finden sind 205 . Zudem wird die Klage bei einer Gerichtsstelle übergeben, wo Ringlin großen Einfluss ausüben kann und all seinen Anträgen vorerst stattgegeben wird. Als Zeugen für ihren angeblichen Ehebruch werden diejenigen Bediensteten eingesetzt, die wegen des Gespensterspuks bereits inhaftiert sind 206 . Dennoch gibt die junge Frau nicht kampflos auf und ergreift die Eigeninitiative, um sich gegen die falschen Anschuldigungen, die unehrlichen Machenschaften und das korrupte System durchzusetzen. Besonders das Amt, das ihr Ehemann inne hat, führt bereits im Vorhinein zu einem rechtlichen Ungleichgewicht. Diese, vom Stand und gesellschaftlichen Ansehen abhängige Rechtsprechung, ist in dieser Erzählung der Hauptanklagepunkt der jungen Frau 207 . So zwingen die Ankläger den Vater der Frau zu einem Vergleich, bei dem sie geschieden wird, alle Rechte aufgeben muss und bis zum Tode von Ringlin auf eigene Kosten in einem Kloster unterbringen muss. Da sie erst 18 Jahre alt ist, kann sie, obwohl sie Beweise in den Händen hält, die ihre Unschuld beweisen und die Willkür aufzeigen, mit der sie behandelt wurde, keine rechtsgültigen Schritte unternehmen. So stellt sie resigniert die Frage: Allein wo soll ich Recht finden? Kann ich vor dem Richterstuhle des höchsten Gerichts im Elsaß die schuldige Gerechtigkeit wohl erwarten? Hier, wo sowohl die Verwandten des Herrn von Ringlin, die meine Unterdrückung so sehr interessiert, als auch er selbst, den stärksten Einfluß haben? 208 Gegen Ende der Darstellung wird dem Leser deutlich, dass die bis dahin ausgeführte Erzählung als „Schutzschrift“ an den König gesandt worden ist, um die Hilfestellung des Parlaments von Paris zu erbitten. Mit Ende dieser Mitteilung wechselt die Erzählhaltung zu einem heterodiegetischen Erzähler mit einer externen Fokalisierung 205 Schiller Das ungleiche Ehepaar, S. 444. 206 Ebd.: „Die Art, wie diese zwei Hauptzeugen angeworben wurden, zeigt hinreichend, wie geschickt das ganze Zeugenverhör gewesen sei, die Wahrheit zu entdecken.“ 207 Ebd., S. 449-450. 208 Ebd., S. 452-453. 312 <?page no="325"?> auf die Hauptperson, der den weiteren Verlauf des Rechtsstreits zusammenfasst. Obwohl sie „günstiges Gehör“ 209 findet, wird der Prozess beendet, da Ringlin kurz darauf stirbt. Es ist erkennbar, dass diese Erzählperspektive auch gewählt wurde, um das tragische Schicksal der jungen Frau deutlich aufzuzeigen, was mit einer externen Fokalisierung nicht in gleicher Weise gelungen wäre. Dadurch werden dem Leser intensiv die Empfindungen und das Erleben der Frau geschildert, aber auch ihr Humor, mit der sie diese eigentlich unerträgliche Situation meistert. Dieser ironische und spöttische Grundton steht in einem starken Kontrast zu den übrigen Geschichten, die das Geschehen relativ distanziert und sachlich darstellen und wurde vom Bearbeiter in der Pitavalausgabe Schillers deutlich herausgearbeitet. Die Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft wird überaus kritisch und fragwürdig aufgezeigt, denn sie kann sich kaum gegen die willkürlichen Beschuldigungen zur Wehr setzen. Ihre spitzzüngigen Bemerkungen scheinen wie eine Abrechnung mit der verlogenen Umwelt der Hauptperson. Diese Erzählung ist unterhaltsam zu lesen, was Schillers Idee einer Kombination von Unterhaltung und Bildung am nächsten von allen Erzählungen dieser Sammlung kommt. In diesem Fall kann der Text dem Bereich Vr3 zugeordnet werden, allerdings gibt es hierbei statt der Konzentration auf den Täter die Konzentration auf das Opfer. Dies wird durch die Fokalisierung erzielt. Durch die besondere Konzeption und den Inhalt entzieht sich diese Erzählung aber in gewisser Weise den gewählten Darstellungsmethoden wie die Übersicht über die Verteilung der Erzählelemente zeigt. Auf der einen Seite gibt es kein richtiges Verbrechen. Die beiden Eheleute führen zwar ein Leben voll Streit und Missgunst, in dem darüber hinaus die Familie des Ehemanns durch Lügen und Intrigen der jungen Ehefrau das Leben enorm erschwert. Der geplante Mord ist allerdings nicht nachweisbar, für diese Bedrohung gibt es zudem nur eine einzige Aussage. Da es weder eine Tat, noch ein über häusliche Streitereien hinausgehende Konfliktsituation gibt, so reduziert sich die Darstellung auf das problematische Opfer-Täter-Verhältnis. Das Opfer leidet zwar unter der Situation, doch ein richtiges Ver- 209 Schiller Das ungleiche Ehepaar, S. 454. 313 <?page no="326"?> brechen ist hier nicht nachzuweisen. Durch die interne Fokalisierung des Opfers liegt der Fokus auf ihrer tragischen Situation, die sie erleiden muss. Der Prozess ist zudem ungerecht, da der Ehemann aufgrund seines gesellschaftlichen Status keine Konsequenzen zu fürchten braucht. Die Ehefrau wird dagegen um all ihre Rechte gebracht, da sie als junge Frau scheinbar keinerlei Chancen gegen diese Übermacht hat, die gegen sie steht. Daher fehlt auch eine wirkliche Aufklärung. Der Leser kennt aufgrund der Fokalisierung die genauen Umstände, sodass die Perspektive in diesem Fall die Aufdeckung ersetzt. Somit ist diese Erzählung aufgrund ihrer Fokalisierung und ihrer Reduzierung auf wenige Elemente besonders im Bereich der Verbrecherliteratur. Abb. 57: Verteilung der Erzählelemente in Schiller Das ungleiche Ehepaar (1795) Dementsprechend übersichtlich gestaltet sich die Darstellung des Spannungsaufbaus. Auch hier wird wieder die Divinationsfähigkeit des Lesers gefordert, doch der eigentliche Reiz der Erzählung liegt in ihrem besonderen Stil. Die Übersicht über die genutzten Erzählelemente zeigt nochmals, dass nur die Täter-Opfer-Beziehung dargestellt wird. Diese Erzählung soll vor allem als Beispiel für die Literarisierung realer Fälle dienen, die auch bei anderen Berichten dieser Ausgabe 314 <?page no="327"?> Abb. 58: Erzählelemente in Schiller Das ungleiche Ehepaar (1795) erkennbar ist. Der Vergleich bestätigt die Vermutung, dass wahrscheinlich mehrere Autoren an den vier Bänden mitgearbeitet haben, da unterschiedliche Stile, Erzählkonzepte und Strukturen verwendet wurden. So nutzt der Bearbeiter der „Geschichte von Joseph Vallet“ den erzähltechnischen Trick, gegen Ende der Handlung sämtliche Tatsachen ins Gegenteil zu verkehren, was alle Schlüsse, die der Leser während seiner eigenen Divination gezogen hat, als falsch erklärt. Dies ist ein Beispiel dafür, dass der Bearbeiter, der in diesem Fall wahrscheinlich Schiller selbst war, den Spannungsbogen bis zum Schluss der Erzählung aufrecht erhält, wie er es in der „Vorrede“ 315 <?page no="328"?> fordert. Grund für diese Vermutung ist eine Anmerkung Schillers 210 . Inhaltlich bemühen sich die Autoren besonders, die Tortur als Mittel der Wahrheitsfindung zu kritisieren 211 und grundsätzlich zu einer humaneren und rationaleren Urteilsfindung aufzufordern. Die Fälle werden immer durch den Zufall oder ein Selbstgeständnis aufgeklärt, da es noch keine zentrale Detektivfigur als Erzählelement geben konnte. Der Stofffür eine solche Geschichte war allerdings ausreichend vorhanden. So finden sich beispielsweise in der „Geschichte der alten Kaufmannswitwe“ schon zu Beginn der Mord, das blutige Messer und die Leiche, die eine Halskrause und ein Büschel Haare ihres Mörders in der Hand hält, was als scheinbar eindeutige Indizien zum vermeintlichen Täter führt. Dennoch geht es in keiner der Erzählungen ausschließlich um die Unterhaltung des Lesers, sondern stets um eine über sich hinausweisende Bedeutung. Abb. 59: Spannungsaufbau in Schiller Das ungleiche Ehepaar (1795) 210 Schiller Schillers Pitaval, S. 284: „Anstatt des unvollständigen Fragments, das hier in dem Original steht, wollte ich lieber gleich die ganze Geschichte, wie sie im 8ten Theil der Pitavalschen Rechtsfälle erzählt wird, hier einrücken.“ 211 Ebd., S. 276: „Wir wollen hier noch einige Geschichten hinzufügen, zum Beweis, wie unbrauchbar dieses grausame Mittel sei, die Wahrheit zu entdecken.“ 316 <?page no="329"?> 6.5 Schillers Konzeption eines Krimi-Theaters: Die Fragmente Die Polizei und Die Kinder des Hauses (posthum 1805, Kf3) Nach dem Abschluss seiner Arbeit an der Wallenstein-Triologie fasste Schiller den Entschluss, ein breit angelegtes Drama zu konzipieren, das in der französischen Hauptstadt Paris spielen sollte. Dabei schwebte ihm vor, „das soziale und moralische Phänomen der großstädtischen Gesellschaft“ 212 abzubilden, in dem ein scheinbar übermächtiger und überaus gut organisierten Polizeiapparat agiert. Nach seiner Arbeit am Wallenstein war Schiller „von dem obligaten historischen ermüdet“ 213 und suchte „seine Fabel in dem Felde der freyen Erfindung“ 214 , bemerkt Goethe in seinem Brief vom 22. März 1799 an J. H. Meyer 215 . Im Mittelpunkt dieses Konzeptes sollte ein vermeintlich übermenschlicher Polizeichef stehen, der jedes Verbrechen aufklären kann und der mit einem Konzept verknüpft ist, das an einen modernen Polizeikrimi erinnert. Es kommt ein Fall vor, wo jemand durch die Allwissenheit desselben [des Polizeiminsters] in Erstaunen und Schrecken gesetzt wird, aber einen schonenden Freund an ihm findet. [...] Die Polizei erscheint hier in ihrer Furchtbarkeit, selbst der Ring des Gyges scheint vor ihrem alles durchdringenden 212 Schiller, Friedrich (Autor); Fricke, Gerhard; Göpfert, Herbert G. (Hrsg.): Sämtliche Werke. Dritter Band. Dramatische Fragmente, Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen. 6., durchgesehene Auflage. München: Carl Hanser Verlag, 1980. S. 941. 213 Goethe, Johann Wolfgang von (Autor); Stein, Philipp (Hrsg.): Goethe- Briefe. Mit Einleitungen und Erläuterungen. Band IV. Berlin: Verlag Otto Elsner, 1903. S. 239. 214 Ebd. 215 Schiller Sämtliche Werke III, S. 941-942: „Gegen Ende und nach Abschluss der Arbeit am ‚Wallenstein‘, in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts, hat Schiller sich mit diesen Plänen beschäftigt. Das geht aus Tagebucheintragungen Goethes vom 22. und 26.3.1799 hervor, die Gespräche mit Schiller über ‚Tragödie und Komödie mit einem Polizeisujet‘ und über ‚das tragische Sujet des entdeckten Verbrechens‘ notieren.“ 317 <?page no="330"?> Auge zu schützen. Ein Mörder wird so von ihr durch alle seine Schlupfwinkel aufgejagt und fällt endlich in ihre Schlingen. 216 Dieser Polizeikommissar erteilt seinen Untergebenen ausführliche Anweisungen, wie beispielsweise ein verschwundenes Kästchen wieder gefunden werden kann, nämlich durch die Beachtung des Wegs, den der Dieb genommen hat, Fußstapfen, die er hinterlassen hat und Ähnliches 217 . Über hundert Jahre später später wies Brecht in seinem Aufsatz „Über die Popularität des Kriminalromans“ 218 darauf hin, dass es Genuß bereitet, „Menschen handelnd zu sehen, Handlungen mit faktischen, ohne weiteres feststellbaren Folgen mitzuerleben“ 219 . Denn, so Brecht weiter, „die Menschen des Kriminalromans hinterlassen nicht nur Spuren in den Seelen ihrer Mitmenschen, sondern auch in ihren Körpern und auch in der Gartenerde vor dem Bibliothekszimmer. Der Mensch im wirklichen Leben findet selten, daß er Spuren hinterläßt. [...] Das Leben der atomisierten Masse und des kollektivisierten Individuums unserer Zeit verläuft spurenlos. Hier bietet der Kriminalroman gewisse Surrogate.“ 220 Schillers Plan, verschiedene Individuen im Kontext der urbanen Großstadt und des Verbrechens darzustellen, entspricht diesen Überlegungen Brechts zum modernen Krimi. Schiller orientierte sich bei seinem Konzept des Polizeichefs an der realen Person Marc-René d´Argensons, der unter Ludwig XIV. zwischen 1697 und 1720 Chef und Organisator der Pariser Polizei war 221 . Auch die Idee eines Abbildes dieser großen und vielfältigen Metropole als Lebensraum fand sich bereits im Werk „Tableau de Paris“ (1781) von Louis Sébastien Mercier, der in 1049 Kapiteln (! ) die verschiedenen Aspekte des Lebens in dieser Großstadt schilderte 222 . 216 Schiller, Friedrich: Die Polizei. In: ders. Sämtliche Werke III, S. 190-201. Hier: S. 193. 217 Ebd., S. 198. 218 Brecht 1971. 219 Ebd., S. 317. 220 Ebd., S. 317-318. 221 Schiller Sämtliche Werke III, S. 941. 222 Damit nahm Mercier bereits inhaltlich einen Teil der Konzeption der Mystères de Paris vorweg, allerdings stellte er diesen Inhalt in einer gänzlich anderen Erzählstruktur dar. Mercier ist interessanterweise zudem Autor 318 <?page no="331"?> Schiller kannte dieses Werk und vermerkte Notizen daraus in seinem Fragment von „Die Polizei“. Strukturell entspricht seine Konzeption dem analytischen Drama, dessen Urform Sophokles Drama „König Ödipus“ ist und stets auf ein in der Vorgeschichte liegendes Ereignis Bezug nimmt, das sukzessiv aufgedeckt wird. Dieses Konzept wird daher von den Vertretern des historisch-deskriptiven Ansatzes als einer der wichtigsten Vorläufer des modernen Krimis betrachtet. Schillers inhaltliche Überlegungen klingen wie der Konzeptentwurf eines modernen Krimis: Die Handlung soll von einem Mörder berichten 223 , eine Gewalttat wird in einem der Polizei schwer zugänglichen Hause verborgen und zudem wird ein Leichnam gestohlen 224 . Der Autor fordert eine logische Stringenz und eine schlussendliche Auflösung, die an die klassischen Kaminzimmersituationen der Krimis von Agatha Christie oder Conan Doyle erinnern 225 . Im fünften Akt sollen schließlich alle Fäden zusammen laufen und in der Stube des Polizeikommisars, in der dann alle eingezogenen Personen zu finden sind, das „Dénouement“ 226 stattfinden. Damit nicht genug: Die Auflösung soll nicht nur die Täter entlarven, sondern die voneinander scheinbar unabhängigen Handlungen miteinander verbinden. Wie aber, fragt sich Schiller an dieser Stelle, soll dies im gesamten Stück umgesetzt werden, ohne „daß zu große Zerstreuung entsteht? “ 227 Selbst die Kritik an den unzureichenden Methoden der Polizei, die der spätere Detektivroman mit seiner Hauptfigur verband, findet sich in seinem Konzept 228 . Dennoch ist es nicht nur die Polizei, die die des Romans L’an deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fût jamais (1771), der als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Science-Fiction Literatur gesehen wird und eine Zeitreise der Hauptfigur aus dem Paris des Jahres 1769 in das Paris von 2440 erzählt. 223 Schiller Die Polizei, S. 192 224 Ebd., S. 193. 225 Ebd., S. 190: „Ein leitender Faden muß da sein, der sie alle verbindet, gleichsam einer Schnur, an welche alles gereiht wird; sie müssen entweder unter sich oder doch durch die Aufsicht der Polizei miteinander verknüpft sein, und zuletzt muß sich alles, im Saal des Polizeileutnants, wechselseitig auflösen.“ 226 Ebd., S. 199. Man beachte die Bezeichnung! 227 Ebd. 228 Ebd., S. 193: „Auch die Nachteile der Polizeiverfassung sind darzustellen. 319 <?page no="332"?> Verbrecher stellt, sondern auch „das Verhängnis“ 229 , bzw. die Nemesis. Auch das Grundkonzept der „Geheimnisse von Paris“ (1844) von Eugène Sue findet sich beinahe deckungsgleich in seinen Notizen. Seine Idee von einem „durch viele Familien verschlungenes Verbrechen, welches bei fortgehender Nachforschung immer zusammengesetzter wird, immer andre Entdeckungen mit sich bringt“ 230 , ist ein zentrales Element von Sues Werk und sämtlichen Nachahmungen seines Konzeptes, wie zum Beispiel „Die Geheimnisse von Berlin“ 231 . Dabei ist es vor allem die dialektische Gegenüberstellung von Moral und Schuld, die Schiller auch bei dieser Konzeption verfolgt. Es [das Verbrechen] gleicht einem ungeheuren Baum, der seine Äste weitherum mit andren verschlungen hat, und welchen auszugraben man eine ganze Gegend durchwühlen muß. So wird ganz Paris durchwühlt, und alle Arten von Existenz, von Verderbnis etc. werden bei dieser Gelegenheit nach und nach an das Licht gezogen. Die äußersten Extreme von Zuständen und sittlichen Fällen kommen zur Darstellung, und in ihren höchsten Spitzen und charakteristischen Punkten. Die einfachste Unschuld wie die naturwidrigste Verderbnis, die idyllische Ruhe und die düstre Verzweiflung. 232 Schiller schreibt in den Notizen zu „Die Polizei“, dass er zwischen einem Lustspiel und einem Trauerspiel schwankt 233 . Dabei hat er immer den Leser im Sinn, der niemals Furcht empfinden soll 234 , was aber auch erklärt, warum er schlussendlich sein Vorhaben nicht zuende geführt hat: Blut, Leichen und Giftpulver lassen sich schlecht mit einem Lustspiel kombinieren, besonders da er brutale Mittel der Polizei nicht darstellen wollte. Da keine endgültige Form des Die Bosheit kann sie zum Werkzeug brauchen, der Unschuldige kann durch sie leiden, sie ist oft genötigt, schlimme Werkzeuge zu gebrauchen, schlimme Mittel anzuwenden.“ 229 Schiller Die Polizei, S. 193. 230 Ebd. 231 Siehe dazu Kapitel 10.2. 232 Ebd., S. 193-194. 233 Ebd., S. 196. 234 Ebd. 320 <?page no="333"?> Theaterstücks vorliegt, kann in diesem Fall keine Übersicht über die Anordnung der Erzählelemente erstellt werden. Schiller vermerkt zudem in seinem Entwurf ganze zwölf verschiedene Kriminalfälle, die er in diesem Stück unterzubringen beabsichtigte, doch fehlt die Ausarbeitung der eigentlichen Handlung und der Beziehungen zwischen den Personen, sodass eine Übersicht über die verwendeten Erzählelemente oder dem Spannungsaufbau reine Spekulation wäre. Strukturell ist sein Dramenentwurf aus zweierlei Hinsicht wichtig für die Rekonstruktion der Entwicklung deutschsprachiger Verbrechensliteratur. Erstens schwebte ihm eine moderne Adaption des Ödipus-Konzeptes vor, da in der Handlung ein zurückliegendes Verbrechen fortschreitend enthüllt werden sollte. Zweitens übertrug er dieses Konzept auf moderne Verhältnisse und in moderne Lebensräume. Zusammen mit der übermächtigen Figur des Polizeichefs legte er damit den Grundstein für die Konzeption eines Krimi-Theaters, die er leider nicht zu Ende führen konnte, aber bemerkenswert fortschrittlich war. Doch schon bald merkte Schiller, dass sein Konzept recht weitläufig wurde, was ihn dazu zwang, sowohl die Form wie auch den Inhalt zu reduzieren 235 , bis er schließlich die Arbeit daran aufgab und Teile dieses Entwurfs in seinen zweiten Versuch eines Krimi-Theaters einfließen ließ, dass er mit „Narbonne“, bzw. „Die Kinder des Hauses“ betitelte, und den er um die Jahrhundertwende entwarf. Im Mittelpunkt dieses Konzeptes steht der in einer französischen Provinzstadt 236 lebende Louis Narbonne, der seinen eigenen Bruder 235 Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Band II. Dramen II, Dramenfragmente. München: Winkler-Verlag, 1968. S. 836-837: „Das Drama [„Die Polizei“] war von Anfang an sehr breit angelegt. Aber die gewaltigen Proportionen seiner Pläne und die große Fülle des Darzustellenden dürften ihn bald abgeschreckt haben; jedenfalls hatte er vor, die Tragödie zur sehr viel bescheideneren Komödie umzuformen. Das Ganze sollte nun nicht mehr in der Weltstadt Paris spielen, sondern in einem kleineren Ort. Schließlich reduzierte sich alles auf einen Diebstahl und seine Verfolgung. Das wiederum schien Schiller wohl zu wenig zu sein, und so ergänzte er die eine Handlung durch eine andere, was aber die Konturen der geplanten Komödie vollends verwischte. Ein Ende ist nicht skizziert. Einiges aus diesem Projekt ist jedoch in den Plan zu den Kindern des Hauses eingegangen.“ 236 Schiller Die Kinder des Hauses. In: ders. Sämtliche Werke III, S. 201-219. Hier: S. 205: „Bordeaux, Lyon oder Nantes“. 321 <?page no="334"?> vergiften lässt, um das Erbe an sich zu ziehen. Den Verdacht lenkt er auf seinen eigenen Sohn, der am selben Tag aus anderen Gründen fliehen muss 237 . Damit ist „der Held der Tragödie [...] ein sicherer und mächtiger Bösewicht [...], den die Reue und Gewissensbisse nie anwandeln“ 238 , der nach außen hin aber den Schein wahrt und von seinen Mitmenschen „für einen exemplarischen Mann gehalten“ 239 wird. Damit besetzt Schiller den Platz der Hauptfigur mit einem nur scheinbar ehrenwerten Mann, der das Ehrenwerte der zentralen Figur in der klassischen Tragödie wie eine Maske aufsetzt 240 . Schiller erschafft so den perfekten Mörder, der auch in einem modernen Krimi seinen Platz gefunden hätte 241 und die Leser, respektive Zuschauer, in die Irre geführt hätte. Nach „sechs oder acht Jahren“ 242 will er sogar Victoire heiraten, die Frau, die eigentlich für seinen Sohn bestimmt war. Schiller setzt in diesem Entwurf einen anderen erzähltechnischen Griffein, um das Verbrechen aufzudecken: die Nemesis. Dabei legt Schiller aber Wert darauf, dass es so aussehen muss, „als wenn das Schicksal unmittelbar es dirigierte, obgleich das Zutreffen jedes einzelnen Umstands hinreichend motiviert sein muß.“ 243 Der Bösewicht selbst soll daher, so die Überlegung Schillers, die Aufdeckung seiner Verbrechen durch eine unbedachte Handlung auslösen. In einer ersten Überlegung ist dies ein Brief, den er aus Versehen an die falschen Person schickt 244 , in seinen weiteren Überlegungen der Diebstahl von Schmuck, für dessen Aufklärung er die Polizei einschaltet. Dann kommen all seine schrecklichen Verbrechen 237 Schiller Die Kinder des Hauses, S. 201. 238 Ebd., S. 203. 239 Ebd. 240 Ebd.: „Er ist ein verständiger, gesetzter, sich immer besitzender, sogar zufriedener Bösewicht. Die Heuchelei ist nicht bloß eine dünne Schminke, der angenommene Charakter ist ihm habituell, ja gewissermaßen natürlich geworden, und die Sicherheit, in der er sich wähnt, läßt ihn sogar Großmut und Menschlichkeit zeigen.“ 241 Eine ähnliche Konzeption, wenn auch wesentlich brutaler, lässt sich in Bret Easton Ellis‘ Werk American Psycho (1991) nachweisen. 242 Ebd., S. 201. 243 Ebd., S. 204. 244 Ebd.: „Es kann sein Unstern wollen, daß er einen Brief falsch überschreibt, oder zwei Briefe, welches zwei höchst fatale Folgen für ihn hat.“ 322 <?page no="335"?> ans Tageslicht: Mord, Verschwörung und Kindesentführung. Sein Konzept sieht vor, dass im Moment der Aufdeckung „alles schon verhängnisvoll bereit liegt und nur auf den Anstoß wartet“ und „daß gerade diese Aufrufung der gerichtlichen Macht diesen Anstoß gibt, der jene Ereignisse herbeiführen konnte“ 245 . Charakterlich gespiegelt wird Narbonne durch einen jungen Mann namens Saintfoix, den er als Waise aufgenommen hat und der im Laufe der Jahre 246 zu einem stattlichen jungen Mann heranwächst, der sich durch „ein treffliches Naturell des Kopfs und Herzens, zugleich aber auch [durch] einen gewissen Adel und Stolz“ 247 auszeichnet. Er ist, wie sich später herausstellt, eines der beiden Kinder des ermordeten Bruders Narbonnes. Als Narbonne Schmuck gestohlen wird, den dieser für seine junge Braut bestimmt hat, fällt der Verdacht bald auf Saintfoix. Die Polizei stellt Nachforschungen an, die bald schon zu der bei einer Zigeunerin lebenden Adelaide führen, die eigentlich die Nichte Narbonnes ist, die dieser aber für tot hält. Ein kostbares Stück, das sie besitzt, erregt den Verdacht der Polizei und so kommen immer mehr ineinander verstrickte Handlungsfäden zusammen, die Narbonne bald als den Mörder entlarven und die eigentlichen rechtmäßigen Erben ans Tageslicht bringen. Diese Idee findet sich ebenfalls bei Sue und den „Geheimnissen von Berlin“. Auch hier werden die entführten Kinder aufgrund von Schmuck identifiziert. Das Außergewöhnliche an Schillers Konzept ist es, dass er die Handlung erst nach den Verbrechen Narbonnes einsetzen und sie mit einem weiteren Verbrechen, dem Diebstahl des Schmucks, beginnen lassen will. So liegt das Verbrechen bereits im „Rücken der Geschichte“ und „muß ans Licht gebracht werden“ für Bloch ein typisches „Kennzeichen“ der Form des Detektivromans 248 . Damit entwirft Schiller den interessanten Plan, ein Drama mit zwei Verbrechen zu gestalten, wobei der Einsatz der Polizei bei der Aufklärung des Schmuckdiebstahls zur Aufklärung des anderen Verbrechens führt 245 Schiller Die Kinder des Hauses, S. 209. 246 Schiller vermerkt aber, dass zu Beginn des Stücks Saintfoix bereits ein junger Mann ist und sein Verhältnis zur zukünftigen Frau Narbonnes und anderen weiblichen Personen geklärt wurde. 247 Ebd., S. 206. 248 Bloch 1971, S. 327. 323 <?page no="336"?> und die scheinbar ehrenwerte Person Narbonnes in seiner ganzen Hinterträchtigkeit ans Licht bringt. Dies ist vor allem deshalb interessant, da Schiller damit das Problem löst, wie er die Initiation der Verbrechersuche gestalten kann. Die Nemesis nimmt hier den Platz des Auftraggebers oder die intrinsische Motivation der Detektivfigur ein, die im modernen Krimi Auslöser der Aufdeckung ist. Der Zuschauer sollte vom Anfang bis zum dénouement über den wahren Charakter Narbonnes im Unklaren gelassen 249 und gezielt in die Irre geführt werden, sodass er glaubt, in Narbonne das Opfer zu sehen 250 . Dennoch kann er im Laufe der Handlung über rationale Schlussfolgerungen seine eigenen Schlüsse ziehen. Dabei ist es vor allem Victoires sonderbares Grauen 251 , das sie Narbonne gegenüber empfindet, und immer mehr Indizien, wie zum Beispiel das Verhalten Madelons und der Zigeunerin, die es dem Zuschauer ermöglichen, am Rätsel teilzunehmen. Schiller konzipiert dieses Drama trotz des modernen Inhaltes klassisch. Die Tatsache, dass im dritten Akt die Geschwister entdeckt werden und sich durch das Geständnis der Zigeunerin Narbonne als der eigentliche Übeltäter herausstellt, ist die Peripetie der Handlung. Sie betrifft aber keineswegs einen Helden, sondern das Schicksal des Verbrechers wandelt sich und die finale Auflösung beginnt. Im vierten Akt ist das retardierende Element der Mord an Madelon, der aber nicht verhindern kann, dass sie ihr Wissen vor ihrem Tod an einen Dritten weitergibt. So präsentiert dann Pontis im letzten Akt den gestohlenen Schmuck, der von Narbonnes Meuchelmörder entwendet wurde, indem er eine geheime Tür zum Zimmer nutzte. Narbonne wird, nach einem vergeblichen Selbstmordversuch, dem Gericht übergeben. Das Tragische liegt für Schiller im Umstand, „daß etwas Furchtbares, was man nicht erwartet, etwas noch viel 249 Schiller Die Kinder des Hauses, S. 203: „Anfangs liegt die Sache so, daß man glauben muß, jenem sei großes Unrecht geschehen, daß man sich dafür interessiert, ihn gerächt zu sehen.“ 250 Ebd., S. 218: „Aber sein Ruf ist so fest gegründet, daß selbst die Nemesis daran zu scheitern scheint. Die Kinder sind gefunden, seine Vertraute ist von seiner Hand ermordet, er selbst ist mit blutigem Messer gefunden, und noch fällt es keiner Seele ein, ihn zu beargwohnen. Die Kinder verehren ihn, er soll sogar im Besitz ihres Erbteils bleiben etc. etc.“ 251 Ebd., S. 206. 324 <?page no="337"?> Abb. 60: Mögliche Nutzung der Erzählelemente in Schiller Die Kinder des Hauses (posthum 1805) Schlimmeres“ 252 ans Licht bringt. Im Gegensatz zu „Die Polizei“ ist die Angst des Zuschauers Teil des Konzeptes: „Es ist nur nötig, daß in der Exposition dem Zuschauer alles verraten werde, damit die Furcht immer herrsche.“ 253 Bezüglich der Todesursache reichen seine Überlegungen von Gift, über „ein glühend Eisen in den Schlund“ 254 bis hin zu einer scheinbar natürlichen Todesursache. Dennoch scheint dieser Entwurf wesentlich 252 Schiller Die Kinder des Hauses, S. 218. 253 Ebd., S. 203. 254 Ebd., S. 202. 325 <?page no="338"?> stringenter, da er den Personenkreis deutlich reduziert und die Handlung überschaubarer gestaltet. Als problematisch erweist sich aber die Gestaltung der Beziehung der einzelnen Personen untereinander. Schiller notiert selbst am Ende seines Entwurfs in der Auflösung, dass es einige „Unwahrscheinlichkeiten“ 255 in diesem Konstrukt gibt. Daher finden sich in seinen Unterlagen weitere Konstrukte um diesen Personenkreis. Seine Arbeit an diesem Stück endet ein Jahr vor seinem Tod. Es bleibt damit unklar, ob er eine Fertigstellung anstrebte. Allerdings ist dieser Entwurf im Vergleich zu „Die Polizei“ soweit ausgearbeitet, dass er zumindest eine Vermutung darüber zulässt, welche der Elemente Schiller genutzt und in welcher Reihenfolge er sie angeordnet haben könnte. 6.6 Zweiter Ausblick An dieser Stelle verlangt die Darstellung eine erste Zäsur. Schillers Auseinandersetzung mit der literarischen Darstellung des Verbrechens und seine vielfältigen Ansätze, von denen einige ein halbes Jahrhundert später sowohl im modernen Krimi wie auch in den Entwürfen von Sue zu ihrer vollen Entfaltung kommen sollten, markieren den Übergang von einer auf realen Fakten basierenden Verbrecherliteratur hin zu einer fiktiven Kriminalliteratur. Auch wenn Schillers Einfluss auf diese Entwicklung im Nachhinein nur schwer bestimmt werden kann, so zeigt doch sein Ringen mit dem Stoff, dass die althergebrachten Formen nicht mehr den sich ändernden Lebensumständen entsprachen. Dies wird besonders bei seinem Entwurf von „Die Polizei“ deutlich. Die Tatsache, dass er diesem Inhalt viel mehr abgewinnen konnte als nur den juristischen oder reißerischen Aspekt, kann als Beleg dafür gesehen werden, dass er das Potential dieses Inhaltes und seine Konsequenzen für die Form klar erkannte und damit seiner Zeit weit voraus war. Keineswegs soll an dieser Stelle versucht werden, Schiller zu einem Krimiautor oder dergleichen zu erklären. Vielmehr schließen sich diese Ausführungen Schafarschik an, der zurecht feststellt, dass man „selten den ganzen Schiller vor sich“ habe, „sondern immer nur 255 Schiller Die Kinder des Hauses, S. 209. 326 <?page no="339"?> Ausschnitte oder Akzentuierungen, die die jeweilige Zeit und deren ‚kulturtragende‘ Schichten meinen für sich nutzen zu können“ 256 . Auch die Betrachtung von Schillers Schaffen im Bereich der Verbrechensliteratur stellt nur einen kleinen Teil seiner Arbeit dar, der aber lange Zeit nur am Rande behandelt wurde und einige Ideen beinhaltet, die man weder dem Autor, noch dieser Zeit zugerechnet hätte. Schillers Werk ist nach wie vor vielfältig interpretierbar. Seine Darstellung des Spannungsfeldes zwischen der „Macht von Menschen und der Ohnmacht von Menschen“ 257 , beschäftigt den „poetischen Kriminologen“ 258 immer wieder und macht seine Auseinandersetzung auch heute noch verständlich. Schillers Auseinandersetzung mit dem Verbrechen in der Literatur hatte großen Einfluss auf einen jungen Autor, der sich kurz vor Schillers Tod dazu aufmachte, dessen Fackel weiterzutragen: Kleist. 256 Schafarschik 2005, S. 772. 257 Ebd. 258 Ebd., S. 773. 327 <?page no="340"?> 7 Der „Beschwörer des Grässlichen“: Kleists Auseinandersetzung mit der Kriminalität Auch in Kleists Werk lässt sich eine deutliche Auseinandersetzung mit der literarischen Darstellung des Verbrechens nachweisen, wobei bereits auf den ersten Blick deutliche Parallelen zur Verbrechensliteratur Schillers erkennbar sind. So steht „Michael Kohlhaas“ 1 dem „Verbrecher aus verlorener Ehre“, die „Familie Schroffenstein“ und „Der zerbrochene Krug“ 2 Schillers „Räubern“ und seinen Konzepten eines Krimi-Theater gegenüber. Es lässt sich sogar im weitesten Sinne auch ein Zusammenhang zwischen Kleists „Zweikampf “ und Schillers „Geisterseher“ herstellen, da beide teilweise fiktionales Verbrechen in Prosa darstellen und die rationale Aufklärung eines Verbrechens beinhalten. Ebenso lässt sich eine Beziehung zwischen den Polizeiberichten der „Berliner Abendblätter“ und Schillers „Pitaval“-Edition herstellen. Diese Zeitung erschien zwischen dem 1. Oktober 1810 bis 30. März 1811 und wurde von Julius Eduard Hitzig verlegt und von Kleist herausgegeben. Dort druckte Kleist unter anderem auch Berichte der Polizei ab, die sich rasch großer Beliebtheit erfreuten. Sein Bericht über „Die Geistererscheinung“, der im 63. bis 66. Berliner Abendblatt zu finden ist (15.-19. März 1811), zeigt eine ähnliche 1 Diese Novelle beruht auf der wahren Begebenheit des Kaufmanns Hans Kohlhase (1500-1540), der 1532 auf einer Reise nach Leipzig mit Untertanen des Grundherrn Günther von Zaschwitz in Streit geriet, da diese ihm zwei seiner Pferde abnahmen, die er angeblich gestohlen hatte und er seinen Weg zu Fuß fortsetzen musste. Im Laufe der folgenden Zeit eskalierte der Streit um die Pferde und Kohlhase sagte Zaschwitz und dem Kurfürstentum Sachsen die Fehde an, woraufhin er mehrere Überfälle beging, bis er 1540 gefasst und in Berlin hingerichtet wurde. 2 Dieses Lustspiel entsprang allerdings nicht einem gezielten Konzept, sondern einem Wettstreit. Siehe dazu Kapitel 7.2. 328 <?page no="341"?> Auseinandersetzung mit dem (vermeintlich) Übernatürlichen wie in Schillers „Geisterseher“ und war die letzte Erzählung, die Kleist für die Abendblätter lieferte. Schließlich nutzte er dieselbe Erzählperspektive für die „Marquise von O...“, wie sie in „Das ungleiche Ehepaar“ in Schillers Pitaval zu erkennen ist. Doch Kleist kopierte keineswegs nur die Entwürfe Schillers, sondern baute sie zu einer ganz eigenständigen Version der Verbrechensliteratur aus 3 , von denen im Folgenden drei Werken näher betrachtet werden sollen, denn es lassen sich in seinen Texten drei verschiedene Darstellungsweisen des Bösen erkennen, die von Alt in seinem Werk „Ästhetik des Bösen“ aufgezeigt werden. Die Spannung dieser Werke entspringt einer nicht immer ganz leichten Trennung zwischen „Gute“ und „Böse“, die eher „Formen des Dritten, das weder das eine noch das andere, vielmehr das Prinzip der Differenz selber ist“ 4 . Ein Grund für die Manifestation eines Übels, so Alt, ist die Unlauterkeit. Unter diesem Begriffversteht er, dass sich affektive Erregung und kalter Wille zu einem explosiven Gemisch verbinden können 5 , die die Vernunft völlig außer Kraft setzen kann, so wie es in der „Familie Schroffenstein“ ausgeführt wird. Eine andere Möglichkeit kann die Gebrechlichkeit des Menschen sein, worunter Alt die Tatsache versteht, dass sich viele Gewalttaten und Verbrechen recht simpel auf Willensschwäche und Kontrollverlust zurückführen lassen 6 . Schließ- 3 Borcherdt, Hans Heinrich (Hrsg.): Schiller und die Romantiker. Briefe und Dokumente. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Heinrich Borcherdt. Stuttgart: J. G. Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger, 1948. S. 98-99: „Denn das ist vielleicht das stärkste Zeichen von Schillers Einwirkung auf Kleist, daß sich nicht nur motivliche Berührungen bis in dessen letzte Werke beobachten lassen, sondern fast alle seine großen Dichtungen um die gleichen Problemstellungen kreisen wie jene Schillers, sie aber zugleich ins spezifisch Kleistische umbiegen und damit gerade das eigenartige Phänomen Kleistscher Dramatik erzeugen. [...] Überall ist wie bei Schiller die Tendenz zu einer rein plastischen Verbildlichung zu erkennen, andererseits schwingt schon hier in der Sprache das Bedürfnis nach musikalischer Beweglichkeit mit, die zu der romantischen Stilkunst hinüberleitet.“ So ist auch sein Konzept der „Maquise von O..“ außergewöhnlich, da es ein Verbrechen aus der Opfer-Perspektive darstellt, das im Laufe der Erzählung durch das Geständnis des Täters aufgelöst wird. 4 Alt 2010, S. 199. 5 Ebd., S. 198-199. 6 Ebd., S. 198. 329 <?page no="342"?> lich gibt es bei Kleist die Darstellung der reinen Bösartigkeit, welche im Sinne des Missbrauchs einer sittlichen Maxime zu verstehen ist, die, wie im Michael Kohlhaas, „eine unbedingte Bereitschaft zur moralischen Grenzverletzung dokumentiert“ 7 , die Heimtücke des Mörders Rotbart erklärt und in Teilen im „Geisterseher“ aufzufinden ist. Bei Schiller ist es beispielsweise die Konzeption von Narbonne, die diese Darstellung verfolgt. 7.1 Unlauterkeit: Verbrechen aus moralischer Überzeugung - Familie Schroffenstein (1803, Kf1/ Kf3) Auch Kleist stand vor der Frage, wie er das Verbrechen in der dramatischen Form darstellen konnte. Wie schon Schiller entwarf er sowohl eine Tragödie (sein Erstlingswerk aus dem Jahr 1803, „Familie Schroffenstein“), wie auch eine Komödie („Der zerbrochene Krug“), die beide das Verbrechen thematisieren und an denen er zeitgleich arbeitete. Ursprünglich als anderthalbseitiger Entwurf unter dem Titel „Die Familie Thierrez“, dann in Form einer ausgearbeiteten Fassung unter dem Titel „Die Familie Ghonorez“ geplant, hatte er die Arbeit daran wohl Anfang des Jahres 1802 in der Schweiz aufgenommen 8 . Das Werk wurde anonym publiziert und bald nach der Veröffentlichung uraufgeführt, bevor es für längere Zeit wieder in Vergessenheit geriet und in stark abgeänderten Version aufgeführt wurde 9 . Wie auch in den Fragmenten Schillers bricht Kleist bei der Konzeption von „Familie Schroffenstein“ mit den Aristotelischen Einheiten von Zeit, Raum und Handlung. Den Schauplatz der Handlung verlegte er im Laufe seiner Ausarbeitung zuerst von Frankreich nach Spanien, dann ins Schwabenland. Kleist orientierte sich in dieser Zeit 7 Alt 2010, S. 199. 8 Gerrekens, Louis: Die Familie Schroffenstein. In: Breuer, Ingo (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler‘sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, 2009. S. 27-33. Hier: S. 27. 9 Ebd. 330 <?page no="343"?> stark an den Werken Shakespeares, was sich in Bezug auf die Handlung und die Darstellung von Gewalt auf der Theaterbühne zeigen lässt. Dennoch ist dieser Bezug nicht ganz eindeutig nachweisbar, was unter anderem an dem „hochkomplexen Geschehen“ 10 liegt. Das Stück handelt von der Familie Schroffenstein, die sich vor langer Zeit bereits in zwei miteinander verfeindete Zweige aufgespalten hat, die voneinander getrennt auf den Stammsitzen Rossitz und Warwand leben. Grund für das tiefe Misstrauen und die erbitterte Feindschaft beider Zweige ist ein Erbvertrag, der im Falle des Aussterben einer Linie der anderen sämtliche Besitztümer zusagt. Dies wird stets von allen Familienmitgliedern als Grund für Zwischenfälle herangezogen, auch wenn der Konflikt belanglos ist 11 . Die Tragödie beginnt mit einem Mord. In der ersten Szene stehen die Familienangehörigen der Rossitzer Linie um den Sarg des jüngsten Sohnes Peter, welcher tot und mit verstümmeltem kleinen Finger aufgefunden wurde. Die Täter scheinen ohne Zweifel zwei Männer der Warwand Linie zu sein, die mit einem blutigem Messer neben dem toten Kind aufgefunden wurden, als dieses von den Angehörigen der Rossitzer Linie entdeckt wird. Damit wird der Zuschauer direkt zu Beginn mit einem Mord konfrontiert, der, wie im modernen Krimi und bei Schillers „Narbonne“, „im Rücken der Geschichte liegt“ 12 . Kleist lenkt den Zuschauer bereits in der ersten Szene auf diese, wie sich nachher herausstellt, falsche Spur 13 . Völlig blind vor Wut erklärt Rupert: „Denn nicht ein ehrlich offner Krieg, ich denke, Nur eine Jagd wirds werden, wie nach Schlangen.“ 14 So ist selbst das Motiv der Jagd 15 an dieser Stelle ein zentrales Element, nur wird diese aus völlig anderen Beweggründen und mit völlig anderer Absicht ausgeführt. Ebenso wird der Tod des jungen Philipp Schroffenstein 10 Gerrekens 2009, S. 27. 11 Ebd., S. 28. 12 Bloch 1971, S. 327. 13 Kleist, Heinrich von: Die Familie Schroffenstein. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1980. S. 04: „Aus dem Staube, Aufwärts blickt’ er, Milde zürnend den Frechen an; Bat, ein Kindlein, Bat um Liebe. Mörders Stahl gab die Antwort ihm.“ 14 Ebd., S. 06. 15 Vgl. dazu Gerbers Idee von der „Jagd“ im modernen Krimi: Gerber 1971, S. 414. 331 <?page no="344"?> erwähnt, welcher sich kurz zuvor zugetragen hat und für den es ebenfalls keine Erklärung gibt, um die falsche Spur zu verstärken. Doch bereits hier erscheint ein erster Fürsprecher, Jeronimus, welcher in seinem Gespräch mit seinem Neffen Ottokar die zu oberflächliche Verurteilung und die Racheabsichten kritisiert 16 . Im weiteren Verlauf wird Jeronimus die Rolle des Detektivs einnehmen, steht daher aber von Anfang an unter dem Verdacht, unrechtmäßig Partei für die Familie Warwand zu ergreifen. Motiviert werden die übermäßigen Rachegefühle durch den Erbvertrag zwischen den beiden Familien. Dies ist das erste vermeintliche Indiz bezüglich der Familiengeschichte des Opfers, welches Jeronimus von einem Kirchenvogt erfährt. Dieser erzählt ihm darüber hinaus, dass einer der angeblichen Mörder bereits am Tatort getötet wurde, der andere den Mord auf der Folter gestanden hat 17 . So werden zuerst gezielt falsche Indizien ausgelegt: Jeronimus beschuldigt Sylvester, dass es in seiner Nähe „wie Bei Mördern“ 18 stinkt, worauf dieser in Ohnmacht fällt. Dies hat deshalb die Bedeutung einer Spur, da in dieser Zeit körperliche Reaktionen bei Verhören noch als Beweis für Schuld galten. Ebenso wird ein älterer Mordverdacht des verstorbenen Philipp, der angeblich von der Familie Rossitz vergiftet wurde, als Auslöser für diesen Mord aufgeführt 19 . Sylvester, der von Beginn als der Täter und Drahtzieher im Verdacht steht, wird dem Zuschauer oder Leser immer wieder als potentieller Mörder dargestellt 20 , indem er zu seinem Gärtner bemerkt: „Ausreißen ist ein froh Geschäft, Geschiehts um etwas Besseres zu 16 Kleist Die Familie Schroffenstein, S. 07: „Denn nie ward eine Fehde So tollkühn rasch, so frevelhaft leichtsinnig Beschlossen, als die eur´.“ 17 Ebd., S. 12. 18 Ebd., S. 29. 19 Ebd., S. 21-22. 20 Schneider, Manfred: Die Inquisition der Oberfläche. In: Neumann, Gerhard: Heinrich von Kleist. Kriegsfall - Rechtsfall - Sündenfall. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag, 1994. S. 107-126. Hier: S. 110: „Sylvester, dessen Namen vom Gefolterten genannt wurde, muß sich angesichts dieser Ballung von Wahrheitsgaranten selbst für schuldig halten: 1. Die Täter wurden, wie ein alter Rechtsbegrifflautet, auf ‚handhafter Tat ertappt‘; 2. einer hat auf der Folter gestanden; 3. der Deliquent hat im Augenblick des Todes gestanden, wo nach alter Vorstellung kein Mensch lügt.“ 332 <?page no="345"?> pflanzen.“ 21 Die gesamte Situation ist durch den Erbvertrag völlig vergiftet, alle erscheinen nach und nach dadurch als potentielle Mörder, denn jeder hätte dafür ein Motiv. Zudem konzipiert Kleist eine grausame Welt, in der Mord als alltägliches und angebrachtes Mittel verstanden wird 22 . Dadurch entwickeln sich mehrere Situationen, die auf groteske Art und Weise den Mord als Mittel zum Zweck legitimieren 23 . Es wird Gewalt eingesetzt, noch bevor die Situation erkannt ist 24 , was dazu führt, dass selbst „verschiedenen Vermittlungs- und Klärungsversuche [...] die Lage letztlich nur noch verschlimmern“ 25 . Jeronimus ist dennoch der Einzige, welcher eine andere Todesursache in Betracht zieht, vorerst aber zu einem falschen Ergebnis kommt, das dennoch nicht einer gewissen Rationalität entbehrt 26 . In diesem Wirrwarr glaubt selbst Sylvester ab einem bestimmten Punkt, dass er selbst der Mörder sein könnte auch wenn er sich nicht mehr erinnern kann 27 . Erst Ottokar wird im weiteren Verlauf herausbekommen, dass der Junge beim Spielen ertrunken ist und der Finger von Ursula, einer Totengräberswitwe, abgetrennt wurde, um einen Zaubertrank zu brauen. Ihm fällt als Einziger auf, dass der Leiche an beiden Händen der kleine Finger fehlt, der doch für einen Mörder nur schwer von Bedeutung sein kann 28 . Um seine These zu stützen, sucht er am Tatort 21 Kleist Die Familie Schroffenstein, S. 22. 22 Ebd., S. 32: „O Mein Gott, so brauch ich dich ja nicht zu morden.“ 23 Ebd., S. 33: „Agnes. - Du sprachst von Mord. Ottokar. Von Liebe sprach ich nur.“ 24 Ebd., S. 43-45. So schätzt Jeronimus die Situation falsch ein, als Johan mit Agnes spricht und verletzt Johan. So bemerkt Ottokar später: „Hätte nur Jeronimus in seiner Hitze nicht Den Menschen mit dem Schwerte gleich verwundet Es hätte sich vielleicht das Rätsel gleich Gelöst.“ (Ebd., S. 59) 25 Gerrekens 2009, S. 28. 26 Kleist Die Familie Schroffenstein, S. 49: „Ei möglich wär es wohl, daß Ruperts Sohn, Der doch ermordet sein soll, bloß gestorben, Und daß, von der Gelegenheit gereizt, Den Erbvertrag zu seinem Glück zu lenken, Der Vater es verstanden, deiner Leute, Die just vielleicht in dem Gebirge waren, In Ihrer Unschuld so sich zu bedienen, Daß es der Welt erscheint, als hätten wirklich Sie ihn ermordet um mit diesem Scheine Des Rechts sodann den Frieden aufzukünden, Den Stamm von Warwand auszurotten, dann Das Erbvermächtnis sich zu nehmen.“ 27 Ebd., S. 50. 28 Ebd., S. 61-62: „Weißt Du, was ich tun jetzt werde? Immer ists Mir aufge- 333 <?page no="346"?> nach Spuren und nach Zeugen. Durch seine Recherchen deckt sich auch auf, dass die Warwandlinie unschuldig am Tod Peters ist. Das Problem aber ist, dass Ottokars Aufdeckungen den tragischen Ausgang nur noch beschleunigen 29 . Bevor auch Jeronimus dem wütenden Mob zum Opfer fällt, berichtet er Rupert, dass Sylvester unschuldig ist, was dieser aber nicht glauben will. Inzwischen ist Ottokar in der Hütte angekommen und sucht nach Zeugen des Verbrechens. Die Tochter des Hauses Barnabe ist dabei, einen Kindesfinger für einen „Glücksbrei“ zu kochen 30 . Hier erfährt er nun von ihr den wahren Tatverlauf 31 . Obwohl er nun das „Unbegriffne“ 32 verstanden hat, kann die Situation aufgrund des alles lähmenden Hasses nicht umschlagen, eine Herstellung der „sozialen Ordnung“ ist nicht möglich, da sie auch zuvor nicht existiert hat. Erst als die gesamte Situation an grotesker Tragik kaum mehr zu überbieten ist, erscheint Ursula, die Mutter Barnabes, mit der entscheidenden Aussage, die die anwesenden Personen vorerst beruhigt. Sie berichtet, wie sie das ertrunkene Kind gefunden und warum sie den Finger abgeschnitten hat. Sie endet mit den Worten: „ ´s ist abgetan, mein Püppchen. Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.“ 33 Ihr Auftreten wird spöttisch von Johann bewertet: „Du spielst gut aus der Tasche. Ich bin zufrieden mit dem Kunststück.“ 34 Alle Verbrechen, die in diesem Trauerspiel begangen werden, geschehen aus einer falschen Vorstellung von Vergeltung und der daraus angeblich entstehenden Gerechtigkeit. Dies zeigt sich in der Versöhfallen, daß an beiden Händen Der Bruderleiche just derselbe Finger Der kleine Finger fehlte. - Mördern, denk Ich , müßte jedes andre Glied fast wichtiger Doch sein, als just der kleine Finger. Läßt Sich was erforschen, ists nur an dem Ort Der Tat. Den weiß ich. Leute wohnen dort, Das weiß ich auch. - Ja recht, ich gehe hin.“ 29 Gerrekens 2009, S. 28. 30 Kleist Die Familie Schroffenstein, S. 89. 31 Ebd., S. 90-91. 32 Ebd., S. 91: „Es ist genug. Du hast gleich einer heilgen Offenbarung Das Unbegriffne mir erklärt.“ Vgl. auch ebd., S. 97: „Noch faß ich dich nur halb doch laß dir sagen Vor allen Dingen, alles ist gelöset, Das ganze Rätsel von dem Mord, die Männer Die man bei Peters Leiche fand, sie haben Die Leiche selbst gefunden, ihr die Finger Aus Vorurteil nur abgeschnitten.“ 33 Ebd., S. 113. 34 Ebd., S. 114. 334 <?page no="347"?> nung der beiden Väter, die zum Abbild der Verblendung beider Familien gerät. Im Affekt werden die Morde begangen, doch zwanghafte Überzeugungen halten sie davon ab, Reue zu empfinden. Ihre Seele ist ihnen ein „verschloßner Brief “, denn nicht aus Böswilligkeit geschehen die Verbrechen, sondern aus entfesselten Affekten heraus. Dabei ist es vor allem die fehlende Einsicht für alternative Handlungsmöglichkeiten, die es den Akteuren unmöglich macht, ihre althergebrachten und unüberprüften Handlungsmuster aufzugeben. Es ist vor diesem Hintergrund ein starkes Bild, dass ein Blinder und eine alte abergläubische Frau am Ende Handlungsalternativen aufzeigen und dem Morden ein Ende setzen. Damit spiegelt sich in ihrem Handeln das, was Kleist als Grundlage für das Vermeiden dieser Zustände annimmt. Es braucht seelische Reinheit und einen gewissen Grad der Selbsterkenntnis, um Affekten vorzubeugen und durch geistesgegenwärtiges Handeln selbst in scheinbar eindeutigen Situationen richtig zu handeln, da sie sich im Nachhinein als falsch wahrgenommen darstellen können. Allerdings bietet er diese Auflösung am Ende nicht an, vielmehr wird den beiden Vätern scheinbar wiederum im richtigen Moment die richtige Tatsache präsentiert, die sie uneingeschränkt übernehmen. Die Kälte dieser Handlungen ist deprimierend, der Tod der Unschuldigen noch nutzloser, da hierdurch keinerlei Erkenntnis gewonnen wird. Die Macht der Familienstrukturen frisst sich in die Seelen und Köpfe der Protagonisten fest, ein Überdenken ist nicht mehr möglich, „ jegliche Form einer ungebrochenen Interpretation der Verhältnisse erweist sich als verhängnisvoller Irrtum“ 35 . Dabei verhalten sich die einzelnen Familienmitglieder im Bezug auf ihre Sippe integer, das aber genau führt zu den Verbrechen, die vor diesem Hintergrund als gerechtfertigt betrachtet werden. Es ist ein „Theater der Grausamkeit“, welches besonders durch die Grundlosigkeit des Übels schockiert 36 , weshalb die Forschung dieses Werk Kleists lange ignorierte 37 , bevor sie erkannte, dass der Autor hier bereits zahlreiche Themen miteinander verband, „die nachher leitmotivisch sein Gesamtœuvre prägen sollten“ 38 . Sowohl bei der äu- 35 Alt 2010, S. 202. 36 Ebd., S. 204. 37 Gerrekens 2009, S. 28-29. 38 Ebd., S. 29. 335 <?page no="348"?> ßeren Gestaltung und der Ansiedlung im Mittelalter wie auch bei der Darstellung von Mord und familiären Zwisten greift Kleist klassische Motive der damaligen Unterhaltungsliteratur und des englischen Theaters auf. Seine Darstellung ist hierbei so erdrückend, dass der Kontrast zwischen den erhabenen Träumen und der erniedrigenden Wirklichkeit 39 deutlich hervortritt. Kleists makaberes Spiel mit den Erwartungen führt zu etwas, was sich in diesem Zusammenhang als théatre noir 40 bezeichnen ließe. Gerrekens weist darauf hin, dass in der endgültigen Version nur noch von einem Großvater die Rede ist und somit auch Inzest eine Rolle bei den schwierigen Familienverhältnissen spielt 41 . Doch die ersten Zuhörer, denen er sein Theaterstück vorlas, mussten aufgrund der Groteske und der überzogenen Situationen dermaßen lachen, dass er kaum noch weiterlesen konnte 42 . Kleist nutzt hierbei Elemente der „Verstellung, Verkleidung und Verwechslung. Eigentlich sind es Trümpfe der Komödie [...].“ 43 , welche die Grenze zwischen Tragik und Absurdität verschwimmen lassen. Er zeigt damit auf, dass das Paradies der Liebe und die Hölle des Satanischen 44 immer nebeneinander existieren und die „Logik der Rache“ 45 kein vernünftiges Auflösen zulässt. Die Handlung baut die Spannungskurve bis zum Schluss aus und lässt den Zuschauer auch aufgrund der Unberechenbarkeit der handelnden Charaktere bis zum Ende angespannt zurück, denn auch die Auflösung des Verbrechens stellt keine soziale Ordnung her. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass in der Darstellung der schwer erfassbaren Realität 46 eine Nachwirkung der sogenannten Kant-Krise Kleists zu erkennen ist 47 : „Die Wirklichkeit erscheint selbst den gutwilligen Figuren stets in 39 Vgl. Hohoff, Curt: Nachwort. In: Kleist, Heinrich von: Die Familie Schroffenstein. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1980. S. 115-120. Hier: S. 116. 40 Als Allegorie zum film noir und roman noir. 41 Gerrekens 2009, S. 29. 42 Hohoff 1980, S. 117. Zschokke berichtet 40 Jahre später: „Als uns Kleist eines Tages sein Trauerspiel vorlas, ward im letzten Akt das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft, wie auch des Dichters, so stürmisch und endlos, daß bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen Unmöglichkeit wurde.“ 43 Ebd., S. 118. 44 Ebd., S. 119. 45 Ebd. 46 Gerrekens 2009, S. 29. 47 Ebd. 336 <?page no="349"?> doppeldeutiger Form, so dass sie immer einer Interpretation bedarf.“ 48 Dadurch laufen die Figuren stets Gefahr, eine Situation falsch zu interpretieren, was fatale Konsequenzen mit sich bringt. Abb. 61: Spannungsaufbau in Kleist Die Familie Schroffenstein (1803) Auch der Leser wird in dieses Problem hineingezogen, da er denselben Unsicherheiten wie die handelnden Figuren ausgeliefert ist 49 . Damit verbunden ist das Problem, dass die Wirklichkeit sprachlich nicht sicher erfasst werden kann 50 , wie häufige Missverständnisse zwischen den Personen belegen. Selbst das Gefühl als untrügliche Wahrnehmung kann in dieser festgefahrenen Situation nicht weiterhelfen 51 . So bietet das Ende keinerlei Hoffnung auf eine Besserung der Situation, denn selbst Liebe und Glaube können in diesem gewaltdurchsetzten Konstrukt nicht bestehen 52 . Der Schluss ist grundsätzlich „verschieden von dem, was traditionell von einer Tragödie oder einem Trauerspiel erwartet wird“ 53 , weshalb es trotz der Bezeichnung von Kleist durchaus als „scheinbares Trauerspiel“ 54 bezeichnet werden kann. Auch seine Verwandtschaft mit dem analytischen Drama, das in der vorliegenden Fragstellung eine wichtige Rolle einnimmt, ist nur auf 48 Gerrekens 2009, S. 29. 49 Ebd., S. 33. 50 Ebd., S. 30. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 31. 53 Ebd., S. 32. 54 Ebd. 337 <?page no="350"?> den ersten Blick haltbar 55 . In dieser frühen „Genre-Dekonstruktion“ 56 ist durch die Verweigerung der Beantwortung essentieller Fragen und der fehlenden Wiederherstellung einer sozialen Ordnung aber eine bemerkenswerte Modernität erkennbar 57 . Abb. 62: Verteilung der Erzählelemente in Kleist Die Familie Schroffenstein (1803) Die Handlung des Stücks setzt nach dem Tod von Peter ein. Da ein Mord vermutet wird, beginnt die „Aufklärung“, die eigentlich nur Rache ist, da nur wenige der Personen überhaupt nach dem wahren Hintergrund des Todesfall fragen, sondern ungeprüft von einem Verbrechen ausgehen. Doch nicht nur die Familie Rossitz hat einen Toten zu beklagen, sondern auch die Familie Warwand, die um Philipp trauert und ebenfalls ein Verbrechen hinter seinem Tod vermutet. Dieses Rätsel wird aber mit dem Ende des Stücks nicht aufgeklärt. Die Verteilung der Erzählelemente zeigt, dass der Konflikt zwischen den beiden Familien im Zentrum der Darstellung steht. Was im Balkendiagramm nicht erkennbar ist, ist die Tatsache, dass auch in den Bereichen, in denen die Aufklärung markiert ist, der Konflikt zwischen beiden Parteien deutlich zu erkennen ist. Aufgrund 55 Gerrekens 2009, S. 33. 56 Ebd. 57 Ebd. 338 <?page no="351"?> der Konzeption Kleists gibt es keinerlei rechtliche Konsequenzen für die Morde, denn juristische Aspekte sind komplett ausgeklammert. Abb. 63: Erzählelemente in Kleist Die Familie Schroffenstein (1803) 7.2 Gebrechlichkeit: Verbrechen aus Kontrollverlust und Probleme der Rechtsprechung - Der zerbrochene Krug (1806, Vf2) In der Vorrede, die nur im Manuskript und nicht in der Buchausgabe von 1811 zu finden ist, verweist der Autor auf seine Erinnerung an 339 <?page no="352"?> einen Stich von Jean-Jacques Le Veau 58 , der eine Szene vor Gericht zeigt, in der es um einen zerbrochenen Krug geht. Dieses Konstrukt scheint auf den ersten Blick verwandt mit dem Wahrheitstopos in anderen Werken dieser Zeit zu sein. In seiner „Selbstschau“ (1842) berichtet Heinrich Zschokke, dass die ursprüngliche Idee zu diesem Lustspiel 1802 einem Wettkampf zwischen ihm, Kleist und Ludwig Wieland entsprang. In Zschokkes Zimmer in Bern hing der Stich, den Kleist in der Vorrede erwähnt. Aufgabe des Wettkampfes war es, dass jeder der drei das Thema des Bildes in einer anderen Form ausgestaltete. Wieland übernahm die Satire, Zschokke die Erzählung und Kleist das Lustspiel. Ebenfalls verdeutlicht die Vorrede, dass er Teile seiner Konzeption Sophokles‘ „König Ödipus“ entnahm, ein Werk, das in extensiven Definitionen von Verbrechensliteratur immer wieder auftaucht und, wie schon erwähnt, als Blaupause des analytischen Dramas gilt, da es sich durch seine aufdeckenden Rückwendungen auszeichnet. Über Umwege gelangt das Manuskript von „Der zerbrochene Krug“ in die Hände Goethes, der am 28. August 1807 an Adam Müller schreibt: „Der zerbrochene Krug hat außerordentliche Verdienste, und die ganze Darstellung dringt sich mit gewaltsamer Gegenwart auf. [...] Das Talent des Verfassers, so lebendig er auch darzustellen vermag, neigt sich doch mehr gegen das Dialektische hin; wie er es denn selbst in dieser stationären Prozeßform auf das wunderbarste manifestiert hat.“ 59 Aus diesem Wettbewerb entstand eine Verbrecherkomödie, die mit der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur kokettiert und durch die doppelte Besetzung der Position des Richters, der gleichzeitig auch der Täter ist, eine ganz eigene Form der Verbrecherliteratur entwirft. Damit verkehrte Kleist das Konzept des Ödipus in sein Gegenteil. Ödipus sucht nach dem Mörder seines Vaters, ohne zu wissen, dass er es selbst ist, Adam dagegen weiß, dass er der Täter ist, gibt aber vor, diesen zu suchen. Damit „erschüttert [Kleists Werk] auf spielerische Weise Sicherheiten des aufklärerischidealistischen Verständnisses von Subjekt, Sprache und Recht“ 60 58 Im Original von Louis-Philibert Debucourt. 59 Kleist, Heinrich von: Der zerbrochene Krug. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH und Co., 2001. S. 116-117. 60 Schneider, Helmut J.: Die Familie Schroffenstein. In: Breuer, Ingo (Hrsg.): 340 <?page no="353"?> und bietet einen Gegenentwurf zu den teilweise überhöhten Darstellungen moralischen Handelns in der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur. Ebenso ist die Darstellung durchaus als Kritik an der traditionellen Gesellschaft, in der die „patriarchale Autorität“ 61 , wie auch das gesellschaftliche Konstrukt an sich, unantastbar blieb und „unter den Verhältnissen der traditionalen [sic] Gesellschaft das Spiegelbild im Kleinen der landesherrlichen und göttlichen Macht darstellt“ 62 . Selbst die Aufdeckung des Verbrechens führt nicht zu einer Auflösung dieser Verhältnisse, sondern zur Reintegration des Täters und damit zur Bestätigung der bestehenden Verhältnisse, auch wenn Adam ein anderes Amt einnehmen wird. Obwohl Kleist wahrscheinlich bereits 1802 mit der Arbeit an diesem Lustspiel begonnen hatte und das Stück 1808 uraufgeführt wurde, erschien die Druckfassung des Werkes erst 1811, was wohl unter anderem der schlechten Aufnahme durch das Publikum bei der ersten Aufführung geschuldet war 63 . Ursprünglich als Einakter konzipiert, teilte Kleist das Stück auf Vorschlag von Goethe in drei Akte auf. Erst ein Jahrzehnt nach Kleists Tod wurde das Werk auf den deutschen Bühnen überaus populär und zählt heute zu den bekanntesten des Autors. „Der zerbrochene Krug“ kann dem analytischen Drama zugeordnet werden. Es geht vordergründig um ein harmloses Problem, nämlich einen zerbrochenen Krug, der Frau Marthe Rull gehört, der Mutter von Eve. Diese verdächtigt den Verlobten ihrer Tochter, Ruprecht. Doch dieser berichtet, dass er am Abend zuvor einen Eindringling im Haus überrascht hat, der bei seiner Flucht eben diesen Krug vom Fensterbrett warf. Symbolisch steht die Darstellung des zerbrochenen Kruges für die scheinbar verlorene Unschuld von Eve, womit das eigentliche Verbrechen thematisiert wird. Keineswegs harmlos ist, dass Adam die junge Eve sexuell erpresst und scheinbar nur durch die herbeieilende Person von weiteren Handlungen in diese Richtung abgehalten wurde. Die Kleist-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler‘sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, 2009. S. 33-41. Hier: S. 36. 61 Schneider 2009, S. 37. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 33-34. 341 <?page no="354"?> analytische Form wird durch die Gerichtsverhandlung erzeugt, durch die Situation geht es aber nicht darum den Schuldigen aufzudecken, sondern die wahren Tatumstände zu verschleiern 64 . Damit geht es zudem um das Verbrechen des Amtsmissbrauchs 65 . Das Böse und die Grenzverletzung im „Zerbrochenen Krug“ entsteht nicht durch eine vorsätzliche Schlechtheit der Charaktere, sondern durch ein soziales Geflecht, welches ähnlich wie bei der Familie Schroffenstein, Teil einer sozialen Ordnung ist, in der der Richter eine höhere Position einnimmt, dabei aber der eigentliche Schuldige ist. Somit verhandelt er „seinen eigenen »Fall« im mehrfachen Sinn dieses Wortes“ 66 . Dass er diese Position inne hat, erzeugt aufgrund der Umstände keine Integrität, vielmehr bildet „die Insuffizienz des moralischen Willens [...] den Ursprung des Bösen“ 67 . Der Richter Adam, der eigentlich „Licht“ in die Sache bringen soll, tut alles, um den Fall zu verschleiern. Der Leser braucht aber nicht lange, um das Rätsel zu lösen. Darüber hinaus sind sich alle Beteiligten in großen Teilen sicher, wie sich die Geschichte abgespielt hat, doch die Erhaltung des sozialen Gefüges geschieht auch in diesem Fall bewusst. Die Perücke spiegelt als Bestandteil und sichtbares Zeichen der juristischen Amtstracht das unrechtmäßige Verhalten Adams, da es zum Hauptindiz des Falls wird und schlussendlich selbst die Bestrafung vorzunehmen scheint: „Wie die Perücke ihm den Rücken peitscht.“ 68 , bemerkt Frau Marthe trocken. Statt einer ernsthaften Bestrafung peitscht der zu Unrecht verdächtigte Ruprecht die Richterrobe aus. Damit folgt Kleist wieder einem ähnlichen Konzept wie Schiller in „Die Kinder des Hauses“, da ein Verbrechen, der zerbrochene Krug, ein anderes ans Licht bringt, Adams Angriffauf Eves Virginität 69 . Der Verursacher will um jeden Preis die Aufdeckung der Wahrheit verhindern, schafft dies aber nicht. Alt sieht die Quintessenz der Komödie in der „Zerstörung der dichotomischen Ordnungen, die es 64 Schneider 2009, S. 34. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Alt 2010, S. 207. 68 Kleist Der zerbrochene Krug, S. 96. 69 Vgl. Alt 2010, S. 206. 342 <?page no="355"?> traditionell erlauben, von Gut und Böse zu sprechen“ 70 . Die durch Walter und Licht vertretene „analytische Vernunft“ steht nur bedingt im Gegensatz zum Verhalten Adams, da beide leicht zu beeinflussen sind und Walter schon froh ist, wenn die Ausübung des Rechts „erträglich“ 71 ist. Mit seinem hinkenden Fuß erinnert Adam nicht umsonst an den christlichen Teufel und den Sündenfall 72 , auch sein verunstaltetes Gesicht ist Zeichen seiner „verletzten Integrität“ 73 . Licht kündigt zu Beginn des Stücks den Besuch des Herrn Gerichtsrat Walter aus Utrecht an und warnt Adam davor, da er bereits am Tag davor Richter und Schreiber suspendiert hat. Der Gerichtsrat Walter reist zur Rechtspflege in Auftrag des Obertribunals in Utrecht durch die Provinz und soll bloß beobachten, nicht strafen und „find ich gleich nicht alles, wie es soll, Ich freue mich, wenn es erträglich ist“ 74 . Nach dieser Nachricht bricht Panik bei Adam aus. Als er sich anziehen möchte, bekommt er aber seinen geschwollenen Fuß nicht in seine Stiefel und seine Magd kann die Perücke nicht finden, die er, nach ihren Angaben, nicht mehr anhatte, als er am Abend zuvor blutig nach Hause kam. Damit werden dem Zuschauer bereits mehrere Indizien präsentiert, die im weiteren Verlauf den wahren Täter entlarven. Adam gibt an dieser Stelle bereits zu erkennen, dass er nur das Amt inne hat, aber keinerlei Vorstellungen von den damit verbundenen Pflichten. Da sich bereits die Kläger zum Gerichtstag versammelt haben, muss sich Adam ohne Perücke ihren Anliegen widmen. Der Verlust der äußerlichen Zeichen seiner richterlichen Würde, seine Verletzungen und sein Zustand geben dem Zuschauer bereits Aufschluss darüber, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Durch die spezielle und szenische Darstellung erfährt man über den Tathergang zuerst nur so viel, wie Frau Marthe wahrgenommen hat. Diese gibt an, am Vorabend um 11 Uhr Männerstimmen und Geräusche eines Tumultes im Zimmer ihrer Tochter vernommen zu 70 Alt 2010, S. 209. 71 Kleist Der zerbrochene Krug, S. 17. 72 Schneider 2009, S. 35. 73 Ebd., S. 36. 74 Kleist Der zerbrochene Krug, S. 17. 343 <?page no="356"?> haben. Als sie dorthin kam, lag der Krug zerbrochen am Boden und Ruprecht war im Raum. Dieser gibt aber an, dass der Krug von jemand anderem zerbrochen wurde, der kurz zuvor aus dem Zimmer entflohen ist und beschimpft Eve, die sich in ihren Lügen verstrickt. Selbst der Gerichtsrat erkennt schnell, wer der Täter ist 75 . Damit entspricht die Konstruktion äußerlich gesehen der Ausgangslage in „Die Familie Schroffenstein“. Auch hier wird bereits zu Beginn eine Situation beschrieben, die ganz eindeutig den Täter identifiziert, da dieser am Tatort war, als das Verbrechen entdeckt wurde. Erst später stellt sich heraus, dass er unschuldig ist. Im Gegensatz zur „Familie Schroffenstein“ wird aber die falsche Schuldzuweisung ganz bewusst ausgeführt. Aufgrund der Perspektive und der eindeutigen Indizien (Perücke, Kopfverletzung, Spuren im Schnee) kann der Zuschauer bereits längst den wahren Tathergang rekonstruieren. Dies ist aber in dieser speziellen Konzeption eben nicht die Grundlage eines Kriminalfalls, sondern einer Komödie. Daher geht es hierbei weniger um einen Spannungsaufbau, als vielmehr um konkrete Kritik am Amtsmissbrauch in Form einer scherzhaften Darstellung. Dennoch entspricht diese literarische Vorgehensweise der Fair-Play-Rule, da der Autor dem Zuschauer sämtliche Indizien präsentiert. Auch Ruprecht erzählt den Tathergang aus seiner Perspektive und berichtet, wie er Eve am Abend besuchen will und bei seiner Ankunft auf einen Nebenbuhler trifft. Als er die Tür eintritt, flieht der andere durch das Fenster. Obwohl er sich zuerst im Spalier vor dem Fenster verfängt und von Ruprecht mit einer Türklinke geschlagen wird, kann er entfliehen, indem er seinem Verfolger Sand in die Augen wirft. Als Eve verhört wird, droht ihr Adam bereits, bevor sie sich äußern kann und bemerkt: „Die Jungfer weiß, ich wette, was ich will.“ 76 Nachdem sich das Schauspiel weiter hinzieht, merkt der Gerichtsdiener: „Ich spüre große Lust in mir, Herr Richter, Der Sache völlig auf den Grund zu kommen.“ 77 Dies versucht er über 75 Kleist Der zerbrochene Krug, S. 36: „Wenn Ihr selbst Den Krug zerschlagen hättet, könntet Ihr Von Euch ab den Verdacht nicht eifriger Hinwälzen auf den jungen Mann, als jetzt. -“ 76 Ebd., S. 46. 77 Ebd., S. 51. 344 <?page no="357"?> das Geständnis Eves zu erreichen, die dies aber ablehnt 78 . So wird das Tribunal zum Platz für Unrecht, an dem die Wahrheit negative Konsequenzen für das Opfer hat. Der Vater Ruprechts bemerkt, dass Eve von einem „schändlichen Geheimnis“ weiß, das sie „aus Schonung“ 79 nicht erzählt. Die Situationskomik entsteht in diesem Fall aus der simplen Tatsache, dass Adam es stets zu verhindern weiß, dass weitere Zeugen, wie Frau Brigitt, und verschiedene Indizien, wie die gesuchte Perücke, die diese im Spalier vor dem Fenster Eves gefunden hat, den Raum innerhalb der Verhandlung erhalten, der diesen Informationen zusteht. Obwohl Adam sich nun kaum mehr dem aufkeimenden Verdacht entziehen kann, nutzt er immer noch seine Position als Richter und verurteilt Ruprecht zu Gefängnis. Da bekennt Eve, dass es Adam war, der den Krug zerbrochen hat und fordert Ruprecht auf, ihn vom Tribunal zu werfen. Adam flieht, Ruprecht verprügelt nur seinen Mantel. Im Nachhinein kommt zutage, dass Adam Papiere gefälscht hat, um Eve zu erpressen, es endet mit der Flucht Adams, der aber zurückgeholt werden soll, um in anderer Position wieder eingesetzt zu werden. Damit auch hier bis zum Schluss der soziale Schein gewahrt bleibt, entschließt sich Frau Marthe dazu, ihren zerbrochenen Krug eben in Utrecht beim Gericht anzuzeigen. Damit zeigt Frau Marthe nicht nur, dass die soziale Ordnung erhalten bleibt, auch ihr Glaube an Gerechtigkeit leidet durch diese Situation nur bedingt. Schließlich ist es ja der Vertreter des Tribunals in Utrecht, der Adam gegen besseres Wissen nicht von seiner Position verdrängen will. Diese Unveränderbarkeit der handelnden Personen findet sich auch in der „Familie Schroffenstein“ und zeigt, dass die Figuren in abstrakter Weise für die Kritik an einer bestimmten Idee oder Überzeugung stehen. Sie wirken eher wir Marionetten, deren Charakter festgelegt ist und deren Handeln keinerlei Spielraum außerhalb ihrer Gedanken- 78 Kleist Der zerbrochene Krug, S. 51: „Und nicht das ganze Garnstück kann die Mutter, Um eines einzgen Fadens willen, fordern, Der, ihr gehörig, durchs Gewebe läuft. Ich kann hier, wer den Krug zerschlug, nicht melden, Geheimnisse, die nicht mein Eigentum, Müsst ich, dem Kruge völlig fremd, berühren. Früh oder spät will ich´s ihr anvertrauen, Doch hier das Tribunal ist nicht der Ort, Wo sie das Recht hat, mich darnach zu fragen.“ 79 Ebd., S. 54. 345 <?page no="358"?> welt zulässt. Dabei entsteht dieses Verhalten aus der Tatsache, dass die Personen glauben, sich so verhalten zu müssen. Dies erinnert an Kleists Überlegungen zu Marionetten, die er in seinem Essay „Über das Marionettentheater“ 80 festhält: „Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgendein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.“ 81 In gewisser Weise lässt sich dies auch auf die Figuren dieser beiden Werke Kleists übertragen, denn es fehlt ihnen an Bewusstsein, was dazu führt, dass sie ihre Überzeugungen, die sie ungeprüft ihrer Umwelt entnehmen, in keinster Weise überprüfen. Interessant an diesem Lustspiel ist, dass dem Zuschauer bereits früh im Text Möglichkeiten gegeben werden, den zuerst unbekannten Tathergang aufzulösen. Zuerst weist die Magd darauf hin, dass Adam am Vorabend bereits verletzt war und keine Perücke mehr trug, als er nach Hause kam. Adams Bemerkungen sich selbst gegenüber verraten ihn schon früh 82 . Als ihn Licht in seinen Gedanken unterbricht, ist die Doppeldeutigkeit seiner weiteren Worte unüberhörbar. Er bezeichnet Eve als „Herzens-Evchen“ und bemerkt, dass, wenn Walter den Schuldigen herausbekommt, er ein Schuft ist 83 . Abb. 64: Spannungsaufbau in Kleist Der zerbrochene Krug (1806) 80 Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: ders.: Der Zweikampf, Die heilige Cäcilie, Sämtliche Anekdoten, Über das Marionettentheater und andere Prosa. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2002. S. 79-87. 81 Ebd., S. 80. 82 Kleist Der zerbrochene Krug, S. 26: „Verflucht! Ich kann mich nicht dazu entschließen-! - Es klirrte etwas, da ich Abschied nahm -“ 83 Ebd., S. 45. Vgl. z.B. auch ebd., S. 55: „Ich bin kein ehrlicher Mann.“ 346 <?page no="359"?> Kleist betont mit der Verrätselung des Verbrechens die Tatsache, dass die Situation vor Gericht eigentlich auf den Kopf gestellt ist. Der Richter ist eigentlich der Täter, der angebliche Täter nur der Sündenbock. Eines der Opfer läuft wiederum Gefahr, selbst bestraft zu werden, wenn es die Wahrheit aussagt. Schlussendlich geht es keineswegs um die Wiederherstellung einer sozialen Ordnung, vielmehr wird auch hier die gestörte soziale Ordnung bestätigt und weiter aufrecht erhalten. Diejenige Person, die eigentlich den Schaden hat, muss sich an andere Instanzen wenden. Somit lässt sich hier zwar ein Whodunit nachweisen, doch die Funktion ist eine völlig andere als im modernen Krimi. Abb. 65: Verteilung der Erzählelemente in Kleist Der zerbrochene Krug (1806) Die Übersicht über die Verteilung der Erzählelemente zeigt, dass der Aufklärung der Tat der meiste Raum gewidmet wird. Durch die vorangestellte Beschreibung des Täters und die eingeschobene Darstelllung seines Verhältnisses zu Eve werden dem Leser Hinweise zur Lösung des Rätsels gegeben, das erst ganz am Ende aufgelöst wird. Hierbei, so wie auch in anderen Texten Kleists 84 ist es auffällig, wie das Wissen des Lesers dem der handelnden Personen voraus ist und diejenigen Akteure, die die Aufklärung leisten sollen, die 84 Beispielsweise in Die Marquise von O.... 347 <?page no="360"?> Zeichen nicht sehen wollen oder falsch deuten: „Kleists Welt ist übervölkert von solchen unfähigen Kommissaren.“ 85 Dies ist sozusagen die Umkehrung des klassischen Verhältnisses in der modernen Kriminalerzählung, in der es eben darum geht, den Leser weniger wissen zu lassen als die handelnden Personen, damit der Rätselcharakter erzeugt werden kann. Abb. 66: Erzählelemente in Kleist Der zerbrochene Krug (1806) 85 Schneider 1994, S. 120. 348 <?page no="361"?> 7.3 Bösartigkeit: Moralische Grenzverletzung und eine Spurensuche - Der Zweikampf (1811, Kf1/ Kf3) Die Novelle „Der Zweikampf “ zeichnet sich durch die Darstellung einer älteren Rechtsordnung aus, in der der Schwur und das Gottesurteil in Form eines Zweikampfes noch ausschlaggebend für die Urteilsfindung waren 86 . Kleist selbst sah aber weniger den rechtlichen Aspekt als zentrales Element seiner Erzählung, sondern schlug dafür, wie auch für andere seiner Novellen, den Titel „moralische Erzählung“ vor, denn er mied den Novellenbegriff. Dennoch empfahl Wilhelm Grimm 1812 nach dessen Tod, diese Erzählungen als Novelle zu bezeichnen, da sie viele zentrale Elemente des Novellenkonzepts des 19. Jahrhunderts enthält 87 . Auf der anderen Seite äußert sich eben derselbe despektierlich zu seiner ‚Kriminalgeschichte‘, zudem gab es im 19. Jahrhundert erhebliche Vorbehalte gegenüber Kleists Novellenform 88 . Elemente seiner Erzählung entlehnt Kleist der Chronik des französischen Dichters und Chronisten Jean Froissart. Dieser veröffentlichte 1811 in den „Berliner Abendblättern“ die Anekdote „Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs“ 89 . Allerdings erweitert 86 Schneider 1994, S. 110-111: „Aber das altdeutsche Recht kannte zwei Verfahren der Reinigung: Beide entwickelten präzise die Form, die in der Kleistschen Postszene zum Zuge kam: Schwur und Verstärkung, ja Bekräftigung des Schwurs. Solche Bekräftigung konnte einmal, wie etwa in Kleists Erzählung Der Zweikampf, durch ein Gottesurteil erfolgen. Das Zweikampf-Ordal wurde aber bereits im Mittelalter weitgehend abgeschafft. Eine zweite Möglichkeit bestand darin, Eideshelfer zu engagieren. Deren Funktion hieß: für die Wahrheit des Schwurs in der Weise einzustehen, daß sie erklärten, der Schwörende sei glaubwürdig.“ 87 Aust 1999, S. 76: „Es verdienen diese Dichtungen vorzugsweise Novellen genannt zu werden, im eigentlichen Sinne dieses Wortes; denn das wahrhaft Neue, das Seltene und Außerordentliche in Charakteren, Begebenheiten, Lagen und Verhältnissen wird in ihnen dargestellt, mit einer solchen Kraft, mit einer so tiefen Gründlichkeit und anschaulichen, individuellen Leben, daß das Außerordentliche als so unbezweifelbar gewiß und so klar einleuchtend erscheint wie die gewöhnlichste Erfahrung.“ 88 Ebd. 89 Kim, Hee-Ju: Der Zweikampf. In: Breuer, Ingo (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler‘sche Verlagsbuchhandlung 349 <?page no="362"?> er sie um eben jene Elemente, die den späteren modernen Kriminalroman ausmachen: ein düsterer Schauplatz, ein Mordfall, die Verzahnung von Mordfall und Zweikampf und die Abänderung der Vergewaltigung in einen Verdacht 90 . Hinzu kommt die „doppelte Verrätselung des Geschehens durch die Liebesintrige der Kammerzofe und der trügerische Ausgang des Gottesurteils“ 91 . „Der Zweikampf “ erzählt zuerst die Geschichte vom Herzog Wilhelm von Breysach, der Ende des 14. Jahrhunderts von einem unbekannten Schützen heimtückisch im Dunkel seines eigenen Parks ermordet wird. Dieser Mord steht ganz am Anfang der Erzählung, der Täter ist zunächst unbekannt. Ein Verdachtsmoment gegen den Halbbruder des Herzogs, Graf Jakob der Rotbart, wird bereits im ersten Satz der Novelle aufgezeigt. Da der Herzog kurz zuvor seinen unehelichen Sohn Philipp vom Kaiser als legitimen Erben eingesetzt hat, fällt die Krone an Philipp und nicht an Rotbart. Da Philipp aber noch nicht volljährig ist, wird zuerst dessen Mutter als Vormund und Regentin eingesetzt. Obwohl der Verdachtsmoment, dass Graf Rotbart der Mörder ist, direkt zu Beginn aufgezeigt wird, wird dem Leser dieser Verdacht nicht bestätigt, vielmehr wird eine falsche Spur ausgelegt, die in eine andere Richtung zu weisen scheint 92 . Dennoch schürt im weiteren Verlauf die Darstellung des Lebenswandels Jakobs einiges Misstrauen beim Leser, das aber vorerst nicht bestätigt wird. Vielmehr bemüht sich Jakob, seine beiden Söhne, welche „in der bestimmten Hoffnung der Thronfolge erzogen worden waren [...], mit kurzen und spöttischen Machtsprüchen zur Ruhe“ 93 zu bringen und zwingt sie dazu, der Beisetzung und Trauerfeier ihres und Carl Ernst Poeschel Verlag, 2009. S. 143-149. Hier: S. 142. 90 Marsch 1983, S. 156. 91 Kim 2009, S. 142-143. 92 Kleist, Heinrich von: Der Zweikampf. In: ders.: Der Zweikampf, Die heilige Cäcilie, Sämtliche Anekdoten, Über das Marionettentheater und andere Prosa. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2002. S. 03-39. Hier: S. 04: „Jakob der Rotbart verschmerzte, in kluger Erwägung der obwaltenden Umstände, das Unrecht, das ihm sein Bruder zugefügt hatte; zum Mindesten enthielt er sich aller und jeder Schritte, den letzten Willen des Herzogs umzustoßen, und wünschte seinem jungen Neffen zu dem Thron, den er erlangt hatte, von Herzen Glück.“ 93 Ebd. 350 <?page no="363"?> Onkels beizuwohnen. Ebenso lehnt er alle Ämter und Würden ab, die ihm angeboten werden und erscheint dem Volk als großmütiger und gemäßigter Mensch. Erstaunlich ist nun, dass die Herzogin es als zweite Regentenpflicht ansieht, „wegen der Mörder ihres Gemahls, deren man im Park eine ganze Schar wahrgenommen haben wollte, Untersuchungen anzustellen, und prüfte zu diesem Zweck selbst, mit Herrn Godwin von Herrthal, ihrem Kanzler, den Pfeil, der seinem Leben ein Ende gemacht hatte“ 94 . Damit wird sie zur ersten Detektivin der deutschsprachigen Literaturgeschichte, allerdings mit einer kurzen Karriere. Denn obwohl Kleist die Spurensuche im Folgenden ausgestaltet, so ist sie doch nicht das zentrale Element der Handlung. Der auf den ersten Blick gewöhnlich erscheinende Pfeil lässt verschiedene Rückschlüsse zu. Seine Konstruktion ist „auf befremdende Weise, zierlich und prächtig“ 95 gearbeitet und wird genau beschrieben. Die ersten deduktiven Rückschlüsse sind die, dass er einem vornehmen und reichen Mann gehören muss, „der entweder in Fehden verwickelt, oder ein großer Liebhaber von der Jagd war“ 96 . Damit gibt Kleist dem Leser die Möglichkeit, diese Rückschlüsse mit der zuvor getanen Beschreibung von Jakob zu vergleichen 97 und mit den Deduktionen der Witwe des Herzogs von Breysach zu konkurrieren. Die eingravierte Jahreszahl zeigt, dass er erst vor kurzem gefertigt wurde und so wird der Pfeil an alle Werkstätten in Deutschland geschickt, um den Meister zu finden, der ihn gedrechselt hat, um den Namen des Auftragsgeber zu erfahren. Nach fünf Monaten erhält der Kanzler Godwin die Nachricht, dass er von einem Pfeilmacher in Straßburg vor drei Jahren für den Grafen Jakob den Rotbart gefertigt worden war. Darüber ist Godwin so betroffen, dass er diese Nachricht mehrere Wochen zurückhält, da er es nicht glauben kann, dass dieser der Mörder seines Halbbruders gewesen sein soll. Godwin stellt weitere Nachforschungen an und erfährt „zufällig“ durch einen 94 Kleist Der Zweikampf, S. 05. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 04: „Er beschrieb den Abgeordneten [...] wie er seit dem Tode seiner Gemahlin, die ihm ein königliches Vermögen hinterlassen, frei und unabhängig auf seiner Burg lebe; wie er die Weiber der angrenzenden Edelleute, seinen eignen Wein, und, in Gesellschaft munterer Freunde, die Jagd liebe [...].“ 351 <?page no="364"?> Beamten der Stadtvogtei, dass der Graf nur selten seine Burg verlässt, in der besagten Nacht aber abwesend war. Als die Herzogin davon erfährt, befiehlt sie „von der Anzeige schlechthin bei den Gerichten keinen Gebrauch zu machen“ 98 , um die Freundschaft mit dem Graf nicht zu gefährden, da sie es für einen Irrtum oder eine Verleumdung hält. Damit wird hier, wie auch schon im „Geisterseher“, die rationale Aufdeckung eines Verbrechens nicht konsequent zu Ende geführt. Wieder schreckt die Person, die die Deduktion führt, vor ihren eigenen Schlussfolgerungen zurück. Um Gerüchten vorzubeugen, setzt sie den Grafen aber über die Ergebnisse ihrer Nachforschungen in Kenntnis. Anfangs wehrt er sich gegen die Anschuldigungen, ergibt sich aber nach einer zweiten Lektüre dem Boten und bittet, als Gefangener zur Herzogin gebracht zu werden. Allerdings hindern ihn seine Freunde gewaltsam an diesem Schritt und setzen zusammen ein Schreiben an die Herzogin auf, in dem freies Geleit gegen eine Bürgschaft von 20.000 Mark bis zu seiner Gegenüberstellung mit dem Tribunal gefordert wird. Die Herzogin wendet sich an den Kaiser, der allem zustimmt und den Graf vorlädt. Nach diesen einführenden Erläuterungen und der ebenso kurzen wie spannenden Einführung, die das Rätsel weiter aufbaut, wechselt Kleist zu einer kurzen szenischen Beschreibung, indem die Worte, genauso wie die Mimik und das Auftreten vor dem Tribunal genau geschildert und wiedergegeben werden. Kleist versetzt damit den Leser in die Rolle eines Zuschauers, der bis zum Ende der Novelle immer wieder in die Irre geführt wird, wobei selbst der Täter gewisse Fehlschlüsse zieht, die erst am Ende aufgelöst werden. Vor dem Tribunal verteidigt sich der Graf und führt als Argument auf, dass er doch „von seiner Gleichgültigkeit gegen Krone und Szepter Proben genug gegeben hat“ 99 . Als Alibi führt er an, dass er zur Zeit des Mordes heimlich bei der Witwe Frau Wittib Littegarde von Auerstein war, der Beweis ist ein Ring ihres verstorbenen Ehemanns, den er „zum Andenken an die verflossene Nacht, aus ihrer Hand empfangen zu haben versicherte“ 100 . Als die Witwe vorgeladen wird, erschrickt sich ihr alter Vater dermaßen über die angebliche Verfehlung seiner 98 Kleist Der Zweikampf, S. 06. 99 Ebd., S. 09. 100 Ebd., S. 11. 352 <?page no="365"?> Tochter, die bis zu diesem Zeitpunkt „die unbescholtenste und makelloseste Frau des Landes war“ 101 , dass er kurz darauf stirbt. Der Erklärung der Witwe, die angibt, den Ring auf einem Spaziergang verloren zu haben, wird kein Glauben geschenkt, besonders da der Graf bereits öfter um ihre Gunst angehalten hat. Da sie keinen Zeugen vorbringen kann und gerade in dieser Nacht ihre Zofe wegen einem Besuch ihrer Eltern abwesend war, glaubt ihr Bruder Rudolf nicht an ihre Unschuld und verjagt sie. Da sie weiß, dass sie „ohne Beistand, gegen einen solchen Gegner, als der Graf Jakob von Rotbart war, vor dem Gericht zu Basel nichts ausrichten würde“ 102 , wendet sie sich an einen Freund, den Kämmerer Herr Friedrich von Trota. Dieser verspricht ihre Unschuld zu beweisen und nimmt sie in seiner Burg auf. Wiederum wird die Spannung vergrößert, denn er bricht nach drei Tagen nach Basel auf, „ohne sich über die Art und Weise, wie er seinen Beweis vor Gericht zu führen gedachte, auszulassen“ 103 . Inzwischen haben sich auch die Herren von Breda, die Brüder der Witwe Littegarde von Auerstein an die Richter von Basel gewandt, um von diesen die Entfernung des Namens ihrer Schwester aus der Geschlechtstafel des Breda´schen Hauses zu fordern und sie zu enterben. Obwohl dies für die Richter nicht möglich ist, wird aufgezeigt, wie sich vor diesem Hintergrund die positive Position des Grafen in der öffentlichen Meinung festigt und die Richter dazu bringt, die Klage sofort aufzuheben und ihn feierlich freisprechen. Kurz bevor dies geschieht, erscheint Herr Friedrich von Trota und bittet sich, „auf das allgemeine Recht jeden unparteiischen Zuschauers gestützt“ 104 , den Brief der Herrn von Breda zur Durchsicht aus, den er zerreißt und ihn mit dem Grafen mit der Aufforderung zum Zweikampf ins Gesicht wirft. Da die weltlichen Gerichte es nicht vermögen, so will er die Schuldlosigkeit Frau Littegardes durch das Gottesurteil beweisen 105 . So wird die „Aufklärung des sonderbaren Geheimnisses“ 106 in die 101 Kleist Der Zweikampf, S. 10. 102 Ebd., S. 14. 103 Ebd., S. 16. 104 Ebd., S. 18. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 18-19. 353 <?page no="366"?> Hände Gottes gelegt, der „durch den heiligen Ausspruch der Waffen [...] die Wahrheit unfehlbar ans Licht bringen würde“ 107 und im Zweifelsfall den Scheiterhaufen für den Grafen oder den Herrn von Trota bedeutet. Der Zweikampf wird im ersten Moment für den Grafen Rotbart entschieden, da er seinen Gegner zu Boden zwingt und ihn schwer verwundet, er selbst aber nur eine kleine Wunde davon trägt. Frau Littegarde wird, wie ihr verwundeter Verteidiger, ins Gefängnis gebracht. Trotzdem erholt sich Herr von Trota schnell und glaubt an eine falsche Auslegung des Richtspruchs. Was kümmern mich diese willkürlichen Gesetze der Menschen? Kann ein Kampf, der nicht bis an den Tod eines der beiden Kämpfer fortgeführt worden ist, nach jeder vernünftigen Schätzung der Verhältnisse für abgeschlossen gehalten werden? und dürfte ich nicht, falls mir ihn wieder aufzunehmen gestattet wäre, hoffen, den Unfall, der mich betroffen, wiederherzustellen, und mir mit dem Schwert einen ganz andern Spruch Gottes zu erkämpfen, als den, der jetzt beschränkter und kurzsichtiger Weise dafür angenommen wird? 108 Währenddessen zieht sich Frau Littegarde komplett zurück und verweigert jeden Besuch, aber Herr von Trota verschafft sich trotzdem Zutritt. Sie bittet ihn inbrünstig zu gehen und enthüllt, dass der Richtspruch wahr ist, denn sie glaubt nun selbst an ihre Schuld, die sie scheinbar auf sich genommen hat, als sie bei einem Fest auf der Burg des Grafen war und sie, als sie sich schlafen legen wollte, eine förmliche Liebeserklärung ohne Namen neben ihrem Bett fand. Beide Brüder verdächtigten den Grafen, können aber nichts ausrichten und reisen noch am selben Abend ab. Dies ist ihre Schuld, so glaubt die Frau, die Gott mit seinem scheinbar eindeutigen Urteil aufgezeigt hat. Herr von Trota aber bittet sie, weiter an ihre Unschuld zu glauben 109 . 107 Kleist Der Zweikampf, S. 20. 108 Ebd., S. 25. 109 Ebd., S. 31: „Wo liegt die Verpflichtung der höchsten göttlichen Weisheit, die Wahrheit im Augenblick der glaubensvollen Anrufung selbst, anzuzeigen und 354 <?page no="367"?> Dennoch werden beide „wegen sündhaft angerufenenen göttlichen Schiedsurteils“ 110 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Dabei fordert der Kaiser die Anwesenheit des Grafen, da sein Misstrauen gegen ihn nicht vollkommen besiegt ist. Dieser aber leidet so sehr an der Wunde, die ihm im Zweikampf zugefügt wurde, dass ihm die Hand und schließlich der Arm amputiert werden muss. Die Ärzte können schließlich nicht mehr aufhalten, dass sich sein ganzer Körper in Fäulnis auflöst und der Prior des Augustinerklosters fordert ihn nochmals auf, im Angesicht seines Todes die Wahrheit einzugestehen. Dieser schwört auf das heilige Sakrament die Wahrheit seiner Angaben und gibt seine Seele der ewigen Verdammnis preis, sollte er lügen. Zusammen mit der weiteren Aussage eines Turmwächters des Schlosses, der angibt, dass der Graf in der besagten Nacht im Breda´schen Schloss war, kommt der Prior zu einem gewagten, aber logischen Schluss, der schlussendlich des Rätsels Lösung ist: Es muss eine Täuschung durch eine dritte Person vorliegen 111 . Wie auch in anderen Werken der Kriminalliteratur dieser Zeit ist es die Figur des Geistlichen, der es als Einziger vermag, einen möglichst sachlichen Blick auf die Zusammenhänge zu werfen, da er sich außerhalb dieser sozialen Gebilde und damit außerhalb der gesellschaftlich indoktrinierten Überzeugungen befindet 112 . Diese korrekte Schlussfolgerung leitet nun das kurze Ende der Erzählung ein und bildet damit den Rahmen der Erzählung, wobei „dieser Zusammenführung der beiden Handlungsstränge [...] in der Forschung gravierende Kompositionsschwächen vorgehalten“ 113 wurde. Der Vorwurf hierbei war, dass nur Rotbart nicht als einziger Schnittpunkt beider Themenkreise genügt und dadurch die Logik auszusprechen? [...] deine Unschuld wird, und wird durch den Zweikampf, den ich für dich gefochten, zum heitern, hellen Licht der Sonne gebracht werden! “ 110 Kleist Der Zweikampf, S. 31. 111 Ebd., S. 33. 112 Diese Figur, die sich für die Unschuld von zu Unrecht Verurteilten einsetzt, tritt beispielsweise bei Laurids Kruse in Der krystallene Dolch (Siehe dazu Kapitel 9.3.) oder in Die Bernsteinhexe (1843) von Wilhelm Meinhold auf. Diese Konzeption findet sich später in einer Figur wie Pater Brown von G. K. Chesterton wieder. 113 Kim 2009, S. 143. 355 <?page no="368"?> der Erzählung nicht mehr schlüssig ist 114 . Betrachtet man diese Erzählung aus der Sicht des modernen Krimis, so ist das falsche Alibi Rotbarts und die Unbedachtheit, dem Täter sein eigenes Mordwerkzeug zur Verfügung zu stellen, recht unglaubwürdig. Durch die ungleichmäßige Gewichtung der beiden Erzählstränge rückt die eigentliche Aufklärung des Mordes in den Hintergrund, sodass Rotbart kurz vor seinem Tod ein Geständnis ablegen muss 115 , damit die Handlung aufgelöst werden kann. Abgesehen von diesen Problemen ist die Erzählung aber deshalb im vorliegenden Zusammenhang so interessant, da Kleist hierbei das Strukturmodell des fünfaktigen Dramas auf eine kurze Erzählung übertrug und die Erzählung in fünf Teile aufgliederte 116 . 1. Die Darstellung der verfeindeten Brüder und die Mordtat, die zu einem Verdacht und der Anklage vor dem kaiserlichen Gericht in Basel führt. Das Alibi von Rotbart führt zur ungerechtfertigten Anklage Littegardes. 117 2. Situation der Witwe und die familiären und sozialen Konsequenzen der Anschuldigung. Auftritt des Kämmerer Friedrich von Trota, der an ihre Unschuld glaubt und sein Leben für sie riskiert 118 : „Damit sind, wie in der klassischen Dramaturgie üblich, Handlung und Gegenhandlung, Protagonist und Antagonist formiert. 119 3. „Kulminationspunkt des Konflikts“ 120 : Darstellung des Zweikampfs und seines Ausgangs. 4. Retardierendes Moment: Genesung des Kämmerers von Trota, während Rotbart dem Tod nah ist. 114 Kim 2009, S. 143. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 143-144. 117 Ebd., S. 143. 118 Ebd. 119 Ebd., S. 143-144. 120 Ebd., S. 144. 356 <?page no="369"?> 5. Invertierung des Strukturmusters der rettenden Peripetie 121 : Aufgrund des „sündhaft angerufenen göttlichen Schiedsurteils“ 122 werden Littegarde und Friedrich zum Tode verurteilt. Nur durch das plötzliche Geständnis der Kammerzofe und dem damit verbundenen Geständnis Rotbarts können beide Rätsel aufgelöst werden. Abb. 67: Verrätselung in Kleist Der Zweikampf (1811) Dies kann durchaus als Bestätigung der These von Sayers gelten 123 , zudem orientiert sich Kleist deutlich am analytischen Drama. Wiederum ist es das Whodunit, dass durchgehend Spannung aufbaut, selbst wenn die Herkunft des Pfeils schon am Anfang der Erzählung enträtselt wird. Während der Aufklärung kommen sämtliche Elemente des „kriminalistisch-juristischen Verfahrens“ 124 zum Tragen: Indizien, Alibis, Zeugen-Aussagen, Geständnisse.“ 125 Hinzu kommt die rationale Analyse der Tatwaffe, die von Littegarde geleistet wird. Dennoch wird diese rationale Konzeption nicht fortgeführt, sondern die »Auflösung des fürchterlichen Rätsels« ins Irrationale eines Gottesurteils“ 126 verschoben, die als „eine absolute, außermenschliche Letztinstanz [...] nur ein Produkt der eigenen Ratlosigkeit ist und auf der dezisionistischen Übertragung der ihnen selbst nicht möglichen Rechtsfindung auf den bloßen Zufall beruht.“ 127 Auch das „zufällige“ Stolpern Friedrichs ist Teil dieses Konstrukts 128 . 121 Kim 2009, S. 144. 122 Kleist Der Zweikampf, S. 31. 123 Siehe dazu Kapitel 4.2. 124 Kim 2009, S. 145. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ebd. 357 <?page no="370"?> Der wahre Zusammenhang wird nun stark gerafft durch die Erzählstimme wiedergegeben. Kleist wählt in diesem Fall den Erzähler als diejenige Instanz, die durch ihr Wissen dem Leser ein dénouement präsentieren kann 129 . Er berichtet, dass der Graf mit der Kammerzofe der Frau von Littegarde ein Verhältnis hatte, bevor dieser sich in ihre Herrin verliebte. Darüber wird die Kammerzofe eifersüchtig und schreibt dem Grafen Briefe, in denen sie sich als ihre Herrin ausgibt und ihn Nachts empfangen will. Sie empfängt ihn verschleiert, verbringt die Nacht mit ihm und gibt ihm am nächsten Tag als Beweis für ihre Identität den Ring. Hier endet die interne Analepse, der Ursprung der Informationen wird aber erst am Ende aufgezeigt. Diese Informationen stammen von der Kammerzofe selbst, die aufgrund eines Diebstahls entlassen wird und zu ihren Eltern zurückkehrt. Da es sich nach einiger Zeit zeigt, dass sie schwanger ist, gibt sie als Vater den Grafen an und entdeckt die gesamte Geschichte ihrer Mutter. Als die Eltern vor Gericht Unterhalt vom Grafen für das Kind fordern, so wird dieses Geständnis dem Gericht zu Basel bekannt und so ist es ein „Brief mit der gerichtlichen Aussage des Mädchens“, der „zur Auflösung des fürchterlichen Rätsels“ 130 führt. So werden die beiden Unschuldigen im letzten Moment vor dem Scheiterhaufen gerettet, der Kaiser aber ist entsetzt über die Fehlbarkeit des göttlichen Gerichts. Dass diese Fehlbarkeit wiederum durch die Figur eines Geistlichen verdeutlicht wird, der durch rationales Überlegen zur Lösung des Rätsels gelangt, entspricht Kleists Idee einer marionettenhaften Konzeption der übrigen Figuren. Ihr Handeln basiert auf zu starren Überzeugungen, die nicht der Realität entsprechen und die nur Gültigkeit haben, da sie niemand in Frage stellt. Der rational argumentierende Prior, ein Vertreter Gottes auf Erden, kommt der Wahrheit näher, als es das abergläubische Ritual tut. Graf Rotbart selber aber verweist auf die Tatsache, dass der Herr von Trota trotz drei tiefer Wunden wieder gesund ist und er selbst an einer kleinen Wunde stirbt. Dann erst, „falls ein Ungläubiger noch Zweifel nähren sollte“ 131 , gibt er zu, dass er seinen Halbbruder durch 129 Kleist Der Zweikampf, S. 33-36. 130 Ebd., S. 36. 131 Ebd., S. 37. 358 <?page no="371"?> einen Mittelsmann ermorden ließ und stirbt sofort, nachdem er sein Geständnis ausgesprochen hat. Der Kaiser aber ändert die Statuten des geheiligten göttlichen Zweikampfes dahingehend, dass die Schuld dadurch nur unmittelbar ans Tageslicht kommt, „wenn es Gottes Wille ist“ 132 . Auch hier wird, obwohl aus einer rationalen Perspektive alles dafür spricht, die gestörte soziale Ordnung keineswegs aufgelöst, sondern aufrecht erhalten. Obwohl sich die Herzogin in Teilen als Detektivin bemüht, so löst sie durch ihre Nachforschungen doch nur den eigentlichen Konflikt aus und führt diese Rolle nicht weiter. Denn der Zweikampf dient weniger einer Ermittlung des Täters, sondern soll die „Wahrhaftigkeit der Aussagen“ belegen 133 . Es geht hierbei nicht zentral um den Aufbau von Spannung und eine unterhaltsame Verrätselung des Tathergangs. Vielmehr beschäftigt Kleist im Zusammenhang der Darstellung von Verbrechen stets die Frage, wie den Menschen Gerechtigkeit widerfahren kann und wer das Recht behütet 134 . Dabei kommt der Autor zu einem ernüchternden Ergebnis, denn „weder der Gottesnoch der menschliche Rechtsstaat führt zu verlässlichen Lösungen.“ 135 Diese Grundkonzeption des Verhältnisses von Gerechtigkeit und ihre Wiederherstellung kann, so Raue, in einer logischen Fortführung nur zu einer Eigeninitiative außerhalb dieser Strukturen führen 136 . Eine Aufgabe, die später die Detektivfigur übernehmen sollte. 132 Kleist Der Zweikampf, S. 39. 133 Marsch 1983, S. 160: „Der Zweikampf dient somit nicht der Ermittlung des Schuldigen im Mordfall, sondern der Feststellung der Wahrhaftigkeit der Aussagen. Er ist folglich nicht Teil der Beweisführung im detektivischen Prozess.“ 134 Raue, Peter: Kleists Rechtsdenken. In: Haller-Nevermann, Marie; Rehwinkel, Dieter: Kleist ein moderner Aufklärer? Göttingen: Wallstein Verlag, 2005. S. 133-146. Hier: S. 133: „Was hält der ‚Beschwörer des Grässlichen‘ (Lessing) für Recht, was für gerecht? Wer hütet das Recht? Welches Recht: das göttliche (Zweikampf ) oder das irdische (Der Zerbrochene Krug ) soll gelten? [...] Der Gegenstand des Rechtes, die Frage nach der Gerechtigkeit auf dieser Welt ist der Kern vieler seiner Arbeiten.“ 135 Ebd., S. 138. 136 Ebd., S. 139: „Wo die Anwendung des Rechtes zum groben Unrecht führt, drängt es die menschliche Natur, die Gerechtigkeit selbst wiederherzustellen. Ein Mann sieht rot kann dann die Folge sein.“ 359 <?page no="372"?> Die doppelte Verätselung des Falls wird durch die gezielt eingesetzten Täter-Opfer-Beziehungen unterstützt. Kleist präsentiert bereits in den ersten Sätzen des Buches Rotbart als potentiellen Täter. Nachdem die Nachforschungen der Herzogin dies unterstützen, offenbart sich aber ein weiteres Geheimnis, dass mit Rotbarts Alibi verknüpft ist. Da dem Leser sonst keine weiteren Hilfen an die Hand gegeben werden, kann er nicht mehr aktiv miträtseln, sodass er die Auflösung abwarten muss. Darüber hinaus beschränkt Kleist die Informationen so ein, dass der Leser daraus keine weiteren Schlüsse ziehen kann. Abb. 68: Erzählelemente in Kleist Der Zweikampf (1811) 360 <?page no="373"?> Abb. 69: Verteilung der Erzählelemente in Kleist Der Zweikampf (1811) 361 <?page no="374"?> 8 Überlegungen zu den Voraussetzungen einer Kriminalliteratur 8.1 Aspekte der Schauerliteratur Die frühe Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts weist teilweise deutliche Bezüge zur Schauerliteratur auf, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in England entstand und deren Einflüsse sich auch in der Schwarzen Romantik in Deutschland erkennen lassen. Bloch betont, dass besonders ihre Darstellung der Schauplätze eine zeichnerische Grundlage für den Detektivroman war: „Der Spuk ist ihm weggefallen, doch vom Schauerroman her hat er [der Detektivroman] die Farben für seine öden Häuser, für Falltüren und ward nicht mehr gesehen, ja bereits für docks, East End, flickering lamps.“ 1 Nicht umsonst geht man in der Forschung des englischsprachigen Kriminalromans stets davon aus, dass dessen Ursprünge bereits bei Ann Radcliffes „The Mysteries of Udolpho“ (1794), Matthew Gregory Lewis „The Monk“ (1796) oder Wilkie Collins „The Woman in White“ (1760) zu finden sind. Oft steht ein Verbrechen im Zentrum der Erzählung, so auch bei einem der ersten Werke der gothic novel, in „Castle of Otranto“ (1764) von Horace Walpole 2 . Analysiert man deutschsprachige Texte im Zeitraum zwischen 1800 und 1850, so lassen sich auch hier einige Spuren der englischen Schauerliteratur entdecken. In einer Vermischung 1 Bloch 1971, S. 324. 2 Vieregge, André: Nachtseiten. Die Literatur der Schwarzen Romantik. Frankfurt a. M.: Lang, 2008. S. 15-16: „Im Zusammenhang mit der Entwicklung des film noir hat auch der roman noir augenscheinlich eine Bedeutungsänderung erfahren, die ihn mittlerweile eher mit einer düsteren Form der Detektivgeschichte assoziiert, wie sie ihre Vorläufer in Eugène Sues Mystères de Paris (1842-1843) fand. Allerdings kann die Gothic-Novel ebenfalls als Vorläufer der Kriminal- und Detektivromane angesehen werden, deren Strukturen sich bereits im Castle of Otranto (1764) erkennen lassen.“ 362 <?page no="375"?> mit der Kriminalliteratur nehmen dabei die Verstorbenen die Rolle des Deus ex Machina ein und helfen dabei, Verbrechen aufzuklären: „Die Geister greifen ein, um usurpiertes Gut dem rechtmäßigen Erben zurückzuerstatten, also buchstäblich um die durch einen Giftmord und ein fingiertes Testament verrückte Ordnung wieder zurechtzurücken.“ 3 Im Gegensatz zur späten Schauerliteratur ist das Werk von Walpole vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich der Text inhaltlich noch der Aufklärung verpflichtet fühlt. Spätere Werke deuten bereits das Übernatürliche und die Irrationalität an, die in der Romantik wichtiges inhaltliches Element der Literatur werden sollte 4 . Wichtig sind diese Texte im vorliegenden Zusammenhang aber vor allem deshalb, da ein Verbrecher in den Mittelpunkt der fiktiven Handlung gerückt wird 5 . Vieregge stellt fest, dass sich besonders in der ‘gotischen‘ Schauerliteratur zudem eine „zunehmende Hinwendung zur logischen Erklärbarkeit“ 6 abzeichnet. Differenzierter wird dieser für die vorliegende Untersuchung so wichtige Aspekt bei Weber dargestellt. Und auch bei Ann Radcliffe noch ist letztlich der vernünftige Kosmos der wirkliche! Das Übernatürliche erweist sich im ‚explained supernatural‘ als Phantasieprodukt jener, die begabt sind mit einer überstarken Sensibilität, die sie in Visionen und Ängste verstrickt, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Das Übernatürliche ist bei Ann Radcliffe gleichsam 3 Weber 1991, S. 10. 4 Ebd., S. 15-16: „Die Aufklärung, der das Übernatürliche und Wunderbare als Aberglaube verdächtig war, hatte der dichterischen Phantasie Zügel angelegt. Klassizistische Ästhetik hält sich ans Wirkliche, Alltägliche und die Durchschaubarkeit des Wirklichen. Selbst die Psyche gilt ihr als prinzipiell kalkulierbar. [...] Was die klassizistische Ästhetik aussparte, das Dunkle, Abgründige im Seelenleben, wird in der Romantik bevorzugter Gegenstand ihres Spiels mit dem Möglichen. Die Schauerromantik, deren Anfänge vorromantisch sind, teilt mit der Romantik den anti-aufklärerischen Impuls.“ 5 Ebd., S. 19: „Ihm [Horace Walpole] verdanken wir den Schurken als Helden im Roman, eine agonale, dramatische Handlungsstruktur, insofern der schurkische Held unter außergewöhnlichen, sprich übernatürlichen Umständen sich beweisen muß und, als für die Gattungsentwicklung vielleicht wichtigstes Moment, das Interesse am Leiden des Schurkens.“ 6 Vieregge 2008, S. 16. 363 <?page no="376"?> Ausdruck einer neurotischen Bewußtseinsqualität. Obwohl sie mit dem ‚explained supernatural‘ den gotischen Schauder domestiziert, hat sie doch schon den Weg gewiesen zu seiner Verinnerlichung. 7 Im Kontext der Kriminalliteratur ist der Schauerroman auch deshalb interessant, da man ihn in Bezug auf das Erleben des Lesers damit vergleichen kann. Eng verbunden mit seiner Struktur ist eine „Angst-Lust des Lesers“ 8 , die Anziehungskraft des „delightful horror“ vor dem Erhabenen 9 , ähnlich wie bei der Kriminalliteratur. Es ist unter anderem die Angst und die Bedrohung, die sie charakterisiert und dem Leser ein spannendes Lesevergnügen ermöglicht. Weber hebt in ihrer Argumentation hervor, dass Literatur, die Angst erschafft, „stets auch die Möglichkeit der Bewältigung von Angst und Gefahr mitliefert“ 10 . Es geht vor allem darum, dass das Opfer von seiner Rolle erlöst wird 11 . Dabei bezieht sie sich auf eine interessante Annahme von Richard Alewyn, der feststellt, dass das Aufkommen literarischer Angst als Indiz dafür gesehen werden kann, dass sich eben diese Angst aus dem Leben zu verflüchtigen scheint 12 . Somit nutzt die Schauerliteratur Naturgewalten wie das Gewitter, Nacht, Wald und Gebirge, da auf der anderen Seite Blitzableiter, elektrisches Licht und die Zersiedelung eben diese alten Bedrohungen in gewisser Weise bewältigt haben 13 . Analog kann man dies auf die fiktive Kriminalerzählung übertragen und ihr Spiel mit der Angst 7 Weber 1991, S. 61. 8 Ebd., S. 115. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 119: „ Eine Möglichkeit der Einübung in Gefahr und damit des Produzierens einer Angst-Lust bot von jeher die Literatur.“ 11 Ebd., S. 124. 12 Ebd., S. 119. Vgl. dazu Alewyn, Richard: Die literarische Angst. In: Ditfurth, Hoimar von (Hrsg.): Aspekte der Angst. Starnberger Gespräche 1964. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 1965. S. 24-36. Hier: S. 36: „Angst im Leben hatte es immer gegeben, solange es Menschen gegeben hatte. In der Literatur tritt sie erst zu dem Zeitpunkt auf, in dem sie aus dem Leben zu verschwinden beginnt. Die durch die Aufklärung (und durch die Sekurisierung des öffentlichen Lebens im modernen Staat) vertriebene Angst sucht eine Zuflucht und findet sie in der Literatur.“ 13 Weber 1991, S. 119. 364 <?page no="377"?> des Lesers aufgrund von hintertriebenen Bösewichten und ungeklärten Kriminalfällen historisch mit der Entstehung eines modernen Polizeiapparates und Rechtssystemen in Verbindung bringen. Das Spiel mit der Angst und ihr Grund ist bis heute umstritten, der Mensch habe eben ein „unentbehrliches Gefühl nach Angst“ 14 , stellt Weber fest. Schon Goethe äußerte sich in seiner berühmten „Novelle“ kritisch zur Tatsache, dass die Diskrepanz zwischen dem eigenen Leben und den Katastrophen, die anderen Menschen geschehen, das Gefühl von Sicherheit geben kann. Es ist wunderbar, versetzte der Fürst, daß der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. Drinnen liegt der Tiger ganz ruhig in seinem Kerker, und hier muß er grimmig auf einen Mohren losfahren, damit man glaube dergleichen inwendig ebenfalls zu sehen; es ist an Mord und Todschlag noch nicht genug, an Brand und Untergang, die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen wollen eingeschüchtert sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen wie schön und löblich es sei frei Atem zu holen. 15 14 Weber 1991, S. 120. 15 Goethe, Johann Wolfgang von: Novelle. In Borchmeyer, Dieter; Dewitz, Hans-Georg; Huber, Peter; Jaumann, Herbert; Neumann, Gerhard; Wiethölter, Waltraud (Hrsg.): Goethes Werke, Jubiläumsausgabe. 2. Band: Dramen, Novellen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. S. 515 - 534. Hier: S. 521. Auch im Neuen Pitaval von Brautlacht wird das Bild des Tigers wieder aufgegriffen. Vgl. dazu Brautlacht, Erich (Hrsg.): Der (neue) Pitaval. Sammlung berühmter Kriminalberichte. Ausgewählt und eingeleitet von Erich Brautlacht. Darmstadt: Fachverlag Dr. N. Stoytscheff, 1956. S. 100: „Der Verteidiger mag im Recht sein, daß etwas Dämonisches in dem Kind gelegen, daß es nur aus Freude am Verbrechen, aus reiner Mordlust vergiftet hat, daß sie das Gift ihrem nächsten Verwandten reichte, weil sie hier die beste Gelegenheit fand. Es wird an den vielfach aufgestellten Satz erinnert, daß die höchste Grausamkeit mit der höchsten Sinnlichkeit in der Regel verschwistert sei. [...] Weder Eigennutz, weder Eitelkeit, weder Rachsucht noch sonst etwas von alledem, was wir gewöhnlich als die Triebfedern begangener Verbrechen erblicken, hat sie zu ihrer scheußlichen Tat bewegt, sondern einzig und allein die Lust des Tigers, der aus Vergnügen mordet.“ 365 <?page no="378"?> 8.2 Die Veränderungen des Buchmarktes und der literarischen Formen Eng verbunden mit der Frage nach der Entwicklung der Darstellungsformen des Verbrechens in der Literatur ist die Entwicklung des Buchmarktes in den deutschsprachigen Gebieten. Dabei ist es auffällig, wie groß die Zahl an Schriftstellern, die auf Deutsch schrieben, bereits im 18. Jahrhundert war. In Deutschland gab es im 18. Jahrhundert eine größere Zahl von Schriftstellern pro Kopf als irgendwo sonst in Europa, etwa einen auf 5000 Bewohner. Die ersten Kapitalisten, die einzigen Privatunternehmer des Landes, die vor 1800 eine Massenproduktion von Gütern für einen Massenmarkt betrieben, waren seine Verleger. 16 Damit ein Buch allerdings wirklich erfolgreich werden konnte, musste es gewisse Leseerwartungen seines Publikums berücksichtigen und sowohl die Staatsdiener als auch das Bürgertum ansprechen. Boyle kommt zu dem Schluss, dass es für diejenigen Autoren, die von ihrer literarischen Arbeit leben wollten, nur schwer möglich war, „über die wahren Kräfte zu schreiben, die das Leben in Deutschland prägten, und zugleich Themen zu behandeln, die einer breiten Leserschaft vertraut und wichtig waren“ 17 . Als Ergebnis dieser Zwickmühle nennt er „Belanglosigkeit und Verfälschung“ als Grundvorraussetzung für literarischen Erfolg 18 . Derjenige Autor, der in seinen Werken die wirklichen Probleme ansprach, musste zwangsläufig „esoterisch und arm bleiben“ 19 . Wirklich frei in Bezug auf den Inhalt konnten sich in diesem System vor allem die Beamten literarisch betätigen. Da ihre Grundexistenz finanziell durch ihr Gehalt abgesichert war, konnten sie die Schriftstellerei als Freizeitbeschäftigung ausüben, ohne sich hauptsächlich an der Gewinnmaximierung orientieren zu müssen 20 . 16 Boyle 2009, S. 15. 17 Ebd., S. 18. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 18-19. 366 <?page no="379"?> Viele Autoren, besonders im Bereich der Verbrechensliteratur, nutzten diese kommerziellen Strukturen, um sie mit alternativen Inhalten zu füllen und anhand des Verbrechens einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und das Rechtssystem zu werfen. Besonders in der frühen fiktiven Kriminalliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich dies deutlich erkennen. Ihr Problem war allerdings, dass Kritik sie schnell ihren Arbeitsplatz kosten konnte, den der Staat finanzierte. Daher schrieben die Autoren unter Pseudonymen oder verzichteten ganz auf die Angabe der Autorenschaft. Bereits im 18. Jahrhundert setzte eine rasche Steigerung der Buchproduktion ein, welche sich nach 1815 extrem schnell ausweitete 21 . Aufgrund seiner Modelle kann Moretti nachweisen, dass ab circa 1820 sich die interne Struktur des Buchmarktes verändert und durch die Herausbildung von „Nischen für spezialisierte Leser und spezielle Genres“ 22 sich der „Universalist“ 23 zu einem Leser mit gewissen Vorlieben für bestimmte Themen und Erzählstrukturen entwickelt. Die Buchproduktion zielt auf die städtische Arbeiterschaft des zweiten Viertels des 19. Jahrhunderts ab, oder auf die jungen Männer und auch Frauen der ihnen nachfolgenden Generation. Mit diesen spezialisierten Produkten wird erstmals jener viel umfassendere Prozeß sichtbar, der zur Jahrhundertwende schließlich in die langfristigeren ‚Großnischen‘ des Detektivromans und der Science-fiction münden wird. 24 Mit dieser Veränderung wurde eine Neustrukturierung des Buchmarktes nötig, die eine andere Form der Zusammenarbeit und Abhängigkeit zwischen Autoren, Verlegern, Buchhändlern und Lesern bewirkte. In Zeitschriften, Almanachen, Taschenbüchern und ähnlichen Formen konnten junge Autoren nun ihre Arbeiten veröffentlichen und 21 Kittstein, Ulrich: Das literarische Werk Wilhelm Hauffs im Kontext seiner Epoche. In: Kittstein, Ulrich (Hrsg.): Wilhelm Hauff. Aufsätze zu seinem poetischen Werk. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2002. S. 09-43. Hier S. 11. 22 Moretti 2009, S. 16. 23 Ebd. Dies bezeichnet einen Leser, der einen weitgefassten literarischen Geschmack hat und grundsätzlich keine Lektüre ablehnt. 24 Ebd. 367 <?page no="380"?> teilweise sogar damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Vorher war man, wenn man kein eigenes Kapital besaß, von Geldgebern abhängig, die der oberen Gesellschaftsschicht angehörten und somit Kritik an diesem gesellschaftlichen Ungleichgewicht keineswegs finanziell unterstützen wollten. Damit war die Öffnung des Buchmarktes gleichzeitig die Basis für die Veröffentlichung kritischer Thesen und eben auch von Unterhaltungsliteratur, die soziale Missstände darstellte. Zudem förderten diese Publikationsformen insbesondere die kleineren Gattungen wie Novellen, Erzählungen, Skizzen und journalistische Arbeiten 25 . Nun war es die stetig wachsende Konkurrenz, die unter den Berufsschriftstellern den Anpassungsdruck stark erhöhte 26 und retrospektiv durch die Bevorzugung bestimmter Themen und Darstellungsweisen Aufschluss über Präferenzen des Publikums geben. Dieser Arbeit liegt die Vermutung zugrunde, dass die Darstellung des Verbrechen so lange in verschiedenen Erzählstrukturen ausprobiert wurde 27 , bis sich eine Form herauskristallisierte, in der man diesen Inhalt optimal umsetzen konnte. Die am Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschenden Textgattungen entsprachen nicht mehr den veränderten Lesegewohnheiten der Bevölkerung, denn das Publikum zeigte nun ein großes Interesse an Kolportagenliteratur und Sensationsromanen. Der Bericht, das Fragment, die Kurzerzählung, die Novelle, der Roman, bzw. der Fortsetzungsroman und damit verbunden das Feuilleton verdrängten die bis dahin gängigen Publikationsformen. Die Werke, die durch die Kolporteure verbreitet wurden, mussten zudem zwei Dinge erfüllen: Sie brauchten einen aussagekräftigen Titel und sie durften aufgrund gesetzlicher Beschränkungen nicht mehr als acht Bogen umfassen, was 128 Seiten entspricht. Dies führte dazu, dass beliebte Inhalte dieser äußeren Form angepasst wurden. Damit entwickelte sich ein finanziell bedeutsamer Markt, der schnell erkannt und ausgiebig beliefert wurde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte er sich zu einem großen Wirt- 25 Kittstein 2002, S. 13. 26 Ebd., S. 12. 27 Bericht, Fragment, Kurzerzählung, Novelle, Roman, bzw. Fortsetzungsroman und damit verbunden das Feuilleton. 368 <?page no="381"?> schaftszweig entwickelt 28 Doch die Vertriebsstruktur führte schon bald dazu, dass der Markt völlig überflutet wurde und teilweise auf die Herstellung der Titelblätter mehr Zeit verwendet wurde, als auf die Ausgestaltung des Inhaltes 29 . Besonders die Novelle, die von ihrer Konzeption, der Länge und der inhaltlichen Gestaltung her gut diesen Veränderungen entsprach und mit vielen verschiedenen Inhalten gefüllt werden konnte 30 , wurde zu einer beliebten Form. Eine Bedeutungsverengung des Begriffs findet erst ab 1760 statt. Bis dahin wurde diese Bezeichnung meist noch schimpfwortartig für schlechte literarische Produktionen verwandt 31 . Die heutige Definition der Novelle geht häufig auf diejenige von Goethe zurück, obwohl seine schlicht als „Novelle“ betitelte Erzählung erst 1828 und somit lange nach der für die Novelle produktiven und bedeutenden Phase der Romantik erschien. Es war vor allem die „unerhörte Begebenheit“, die von ihm zu einem zentralen inhaltlichen Abgrenzungsmerkmal erhoben wurde. Aber bereits zuvor und während der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten 28 Jekeli Erregte Zeiten - Schmutz und Schund im Kaiserreich, URL: „Und das Geschäft blühte. Die Gesamtzahl der in Deutschland vertriebenen Kolportageromane wird auf 2000-2300 geschätzt, in der Hochzeit in den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es rund 200 Verleger speziell in diesem Gewerbe. Um 1900 waren rund 26000 Personen in der Kolportage beschäftigt (gegenüber 22000 im gesamten restlichen Buchhandel). Denn es ließ sich gutes Geld verdienen: Allein der berühmte Scharfrichter von Berlin - Sensations-Roman nach Acten, Aufzeichnungen und Mittheilungen des Scharfrichters soll einen Umsatz von drei Millionen Mark gemacht haben; der Gesamtumsatz der Branche wurde von Zeitgenossen auf jährlich 50 Millionen Mark geschätzt, eine Zahl, die kritisch betrachtet werden muß, aber doch auf die Größenordnung hindeutet, mit der wir es zu tun haben.“ 29 Ebd.: „Diese schier unglaubliche Häufung an Spannungsmomenten ist sicher nicht der alleinige Grund für den durchschlagenden Erfolg der Heftchen. Hinzu kam ein hervorragendes Marketing - es war auf absolute Marktdurchdringung gerichtet, modern und aggressiv. Auf die bunten Umschläge und Titelbilder wurde oft mehr Mühe verwandt als auf die Texte selbst (die denn auch nur selten hielten, was der reißerische Titel versprach).“ 30 Ackermann 2004, S. 274, Fußnote 275: „Die Detektivgeschichte ist der Inbegriffder modernen Novelle, die von der Struktur eines Ereignisses her entworfen ist und immer, mehr oder weniger, von diesem vorweggenommenen Ausgang aus zum Anfang hin zurückentwickelt wird.“ (H. Schlaffer, Poetik der Novelle, S. 61). 31 Aust 1999, S. 18-19. 369 <?page no="382"?> sich die Autoren intensiv auf theoretischer Ebene mit dieser Form auseinander, weshalb es mehrere uneinheitliche Definitionen dieser Gattung gibt. Wichtig für die vorliegende Fragestellung ist die Erkenntnis, dass viele der typischen Merkmale dieser Gattung entscheidenden Einfluss auf das Konzept des modernen Krimis hatten. Er ist, abgesehen von den größeren Formen wie dem erst im 20. Jahrhundert entwickelten Thriller und den romanhaften Werken, die moderne Weiterentwicklung der Novelle. Die in diesem Zusammenhang wichtigsten Gattungsmerkmale der Novelle sind die „unerhörte Begebenheit“, die im Gegensatz zum Roman eingeschränkte Zahl an Personen und Schauplätzen, der Wendepunkt, der die gesamte Handlung beeinflusst und ins Schicksalhafte verkehrt 32 und ihre strenge Form, die mit einer gut lesbaren, mittleren Textlänge verknüpft wurde. Auch die zielorientierte Straffung der Handlung, die Dominanz des Ereignishaften und der Wahrheits- und Repräsentanzanspruch im Rätselhaften 33 finden sich im modernen Krimi. Die Konzentration auf ein Thema, in dem Fall das Verbrechen, ähnelt dem Leitmotiv, das in der sogenannten „Falkentheorie“ von Paul Heyse eine wichtige Rolle spielt. In gewisser Weise bereitet bereits die juristisch-anthropologische Literatur des 18. Jahrhundert einen wichtigen Aspekt der Novelle vor. Sie berichtet vom Unerhörten und Außergewöhnlichen, auch aus einer retrospektiven Erzählsituation heraus, aber mit einem anders strukturierten Erzählvorgang. Die Verkürzung der Textlänge und die Tatsache, dass bei den vielen Novellen dieser Zeit das unerhörte Ereignis meist am Anfang steht, lässt bereits einen wichtigen Aspekt der Erzählstruktur der verrätselten Kriminalliteratur erkennen. Viele der damaligen Autoren setzten sich ganz bewusst auf theoretischer Ebene mit dieser Form auseinander und entwarfen ganz unterschiedliche Konzepte. Erstaunlich an dieser Tatsache aber war, dass die erneute Reglementierung des künstlerischen Schaffens durch die Novelle in einem 32 Diese von Ludwig Tieck formulierte These wird hauptsächlich dramaturgisch verstanden und kann als eine Übertragung der Peripetie in die Prosa erklärt werden. 33 Killy, Walther; Meid, Volker (Hrsg.): Literaturlexikon. Band 14: Begriffe, Realien, Methoden. Les-Z. München: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1993. S. 170. 370 <?page no="383"?> seltsamen Kontrast zur längst überwundenen Regelpoetik steht 34 . Mit der Etablierung der Novelle stand den Autoren aber vor allem eine neue Form zur Verfügung, die mit vielen verschiedenen Inhalten gefüllt werden konnte und einer immer größeren Schar an Schriftstellern ganz neue Möglichkeiten eröffnete 35 . Dabei ging es oftmals um die Literarisierung von alltäglichen, wahren oder volkstümlichen Geschichten, die in dieser Form einen besonderen Reiz entfalten konnten. Die Kürze der Formen erzwang beinahe eine spannende und kompakte Gestaltung, denn eines der äußerlichen Hauptmerkmale der Novelle ist die einer Erzählung mittlerer Länge 36 . Dabei verweist Aust auf die Tatsache, dass dieser Umstand kein willkürlich festgelegtes Schema ist, sondern den „Verwendungszusammenhängen entspringt, die hauptsächlich durch den Umfang motiviert sind (Zeitungen, Taschenbuch; zyklische Verbindbarkeit, Sammelbarkeit; Lesehunger nach den ‚vielen kleinen Sachen‘).“ 37 Auch die Kolportagenromane entsprachen diesen neuen Ansprüchen. Beide Formen eigneten sich zudem perfekt, um finanziell optimal vermarktet zu werden 38 und das Verbrechen in einer gut verdaulichen Dosis zu präsentieren. 34 Aust 1999, S. 21. 35 Ebd., S. 15: „Die Novellenproduktion und die geschichtliche Kontinuität der Form erscheinen im Lichte dessen, was die alte Poetik ‚imitatio‘ nannte.“ 36 Ebd., S. 08: Ungefähre Werte für diese Angabe sind 75 bis 150 Taschenbuchseiten, bzw. 20 000 bis 40 000 Wörter, Lesezeit zwischen 5 Minuten und 1 Stunde. 37 Ebd. 38 Jekeli Erregte Zeiten - Schmutz und Schund im Kaiserreich, URL: „Doch mit dem Wandel der vormodernen zur modernen Gesellschaft, funktional differenziert, arbeitsteilig, industrialisiert, entstand auch eine neue Form der Trivialliteratur: die Massenliteratur, industriell produziert und den Erfordernissen des kapitalistischen Marktes angepaßt. Der wachsende Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, die Einführung der Gewerbefreiheit und neue Reproduktionsverfahren und Vertriebsformen öffneten den Weg für einfallsreiche und risikofreudige Unternehmer, die mit dem stets weiter wachsenden Markt der Neuleserschaft experimentierten. Heraus kam eine Literaturform, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Markt dominierte - der Kolportageroman: Man nehme einen endlos langen Roman, zerhacke ihn in 20-200 Häppchen zu je 8-48 Seiten (meist waren es 24 oder 32), versehe diese mit einem reißerischen Titelbild und bringe sie auf dem uralten Vertriebsweg der Kolportage unters Volk.“ 371 <?page no="384"?> Diese Einschränkung kann auch so betrachtet werden, dass die kompakte Darstellung und Besinnung auf das Wesentliche ein „Ausdruck gestalterischen Willens und Könnens“ 39 darstellt. Diese Form strebt danach, keine überflüssigen Elemente bei der Handlungsführung und Gestaltung einzusetzen, um ein kompaktes und intensives Leseerlebnis zu generieren. Der Autor ist dadurch gezwungen, sich auf eine Begebenheit zu konzentrieren, die in Form einer Situation, eines Ereignisses, einer Begegnung oder einer Gestalt auftreten kann 40 . Die Novelle ist damit ein interessantes Derivat, dass neben den künstlerischen Entwicklungen auch aus Veränderungen der Lesegewohnheiten und Produktionsmöglichkeiten entstand 41 . Dabei mussten neue Erzähltechniken entwickelt werden, die dieser kurzen Form entsprachen. Es bot sich somit an, die Ordnung aufzulösen und über einen intensiven Moment, einen Ausschnitt aus einem Leben, verkürzte Rückblicke in Form von Prolepsen zu gestalten, die es ermöglichten, den Umfang zu reduzieren und gleichzeitig Spannung und Verrätselung zu generieren. Zusammen mit der Außergewöhnlichkeit des Dargestellten, dass das Leben der handelnden Personen intensiv beeinflusst, war es das literarische Derivat, was perfekt zu den neuen Ansprüchen des Lesepublikums und zur Darstellung von Verbrechen passte. Welche Textsorten das Lesepublikum bevorzugte, lässt sich heute am besten über die Leihlisten der damaligen Bibliotheken bestimmen. Untersuchungen zu den Texten der Leihbibliotheken im 18. und 19. Jahrhundert werden heute als „Philologie ohne Texte“ 42 39 Aust 1999, S. 08. 40 Ebd., S. 11. 41 Ackermann 2004, S. 327: „In dem für diese Arbeit relevanten Zeitraum vor 1830 ist die Trennung zwischen dem ‚Literarischen‘ und dem ‚Nicht- Literarischen‘ noch nicht in dem Maße evident, wie es uns aus heutiger Perspektive erscheinen mag. Dies erhellt u.a. aus dem Aufstieg der Novelle im Medium der Zeitschrift. In der Novelle hatte sich seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine große Bandbreite von Spannungstechniken entwickelt (Arnaud, Sade, Genlis, X. de Maistre, A. Dumas u.a.*), die dazu beitrugen, daß die Novelle von den Zeitschriften als Mittel der Leserbindung entdeckt wurde beinahe ein Jahrzehnt, bevor die Presse mit dem Feuilletonroman ein noch effizienteres Instrument zur Aufrechterhaltung der Abonnements lancierte.“ 42 Schönert 1980, S. 165. 372 <?page no="385"?> bezeichnet, da ein großer Teil der Bestände während „Schmutz- und Schund-Kampagnen“ entweder zerstreut oder vernichtet wurde 43 . Übrig blieben Bibliothekskataloge, anhand derer man heute die Titel mit der Technik des distant reading analysieren und dann nach Exemplaren recherchieren kann, um diese einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf das Verhalten der Leser, ihre Lektüre-Interessen und ihre Lesemotivation ziehen 44 . Obwohl Schönert die Ergebnisse seiner Recherchen als Hypothesen bezeichnet 45 , so bestätigten sie, dass die Schauer- und Verbrechensliteratur als Kernbereiche des Sensationsromans einen wichtigen Platz im literarischen Produktionsgefüge des Zeitraums zwischen 1790 und 1860 einnahmen. Anhand der Bestandslisten der Bibliotheken lässt sich nachweisen, dass es eine „Übernahme, bzw. Umakzentuierung bewährter Lektüre-Interessen und Verfahren der Textkonstruktion“ 46 gab. Hinzu kam, dass im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Unterhaltungslektüre immer gesellschaftsfähiger wurde. Um das immer größere werdende Nachfrage der „Vielleser“ zu befriedigen, zeichneten sich einige Autoren besonders dadurch aus, dass sie sich zu wahren „Polyscibenten“ (Vielschreibern) emporschwangen, die wenig Wert auf die Qualität, dafür eher auf die Quantität legten. Andere wiederum nutzten dieses kreative Umfeld und die neuen Möglichkeiten der Veröffentlichung und erschufen so „unbeabsichtigt“ Werke, die sich schließlich auch noch gut verkauften. So berichtet Jodocus Temme über die Entstehung seines ersten Werkes „Der Bluthund“, dass er während seiner Studentenzeit mit einem Freund die Idee hatte, zusammen ein Buch zu schreiben, bei dem sie „gemeinsam Inhalt und Plan“ 47 entwickelten, dann aber einer die ungeraden, der andere die geraden Kapitel schrieb, ohne dass sie sich über den Inhalt und die Struktur austauschten. 43 Schönert 1980, S. 165. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 167. 47 Temme, Jodocus: Meine Laufbahn als belletristischer Schriftsteller. In: ders.: Lesebuch. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Walter Gödden und Siegfried Kessemeier. Köln: Nyland, 2004. S. 07-16. Hier: S. 07. 373 <?page no="386"?> Wir führten es aus, hatten nachher beim Vorlesen nur wenig zu ändern, zu ergänzen oder zu streichen; sandten das Manuskript an Gottfried Basse in Quedlinburg, mit dem Titel Der Bluthund, unter irgend einem fingierten Autornamen, den ich vergessen habe, erhielten dafür ein hübsches Honorar, mit einem sehr aufmunternden, schmeichelhaften Schreiben, worin unsere Arbeit als eine gelungene belobt und wir aufgefordert wurden, bald wieder etwas Ähnliches einzusenden [...]. 48 Dieser Bericht zeigt, welcher Markt in der damaligen Zeit zur Verfügung stand und wie er von vielen jungen Autoren in ähnlicher Weise bedient wurde. Auch inhaltlich spiegelten die Werke eine veränderte Weltsicht und eine weniger transzendente Betrachtung des Lebens wider, sodass die Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der Menschheit auf eine andere Art und Weise erfolgen musste. Der Mensch sah sein Leben nicht mehr als von Gott bestimmt an, sondern erlebte die verschiedenen Begebenheiten als Schicksal oder Zufall 49 , dem er selbstbewusstes und selbstbestimmtes Handeln entgegen setzen konnte, bis zu den Grenzen seiner Möglichkeiten und Kräfte. Zudem gab es ein immer größer werdendes Interesse an neuen Nachrichten aus der weiten Welt. Der Aspekt des Unerhörten kann sich somit auch auf „zeitgenössische Aktualität“ 50 beziehen, wobei es ausreicht, wenn der Bezug zur Wirklichkeit des Lesers möglich ist. Selbst eine im Mittelalter spielende Geschichte kann auch 200 Jahre später noch eine gewisse Bedeutung haben, doch schon bald wurde dies zugunsten von aktuellen Inhalten aufgegeben. Kaum ein Inhalt bot immer wieder den perfekten Stofffür dieses literarische Konstrukt wie das Verbrechen. Neben dem Unerhörten und Neuen, war auch das (vermeintlich) Wahre der Geschichte 51 ein essentieller 48 Temme Meine Laufbahn als belletristischer Schriftsteller, S. 08. 49 Aust 1999, S. 09: „Als Erlebnis in diesem ‚passiven‘ Sinn steht es im Gegensatz zur Aktivität des Handelns und begründet das Bild der Novelle als einer sogar weltanschaulich bestimmbaren Form. Denn gerade Geschehnisse, die nicht als selbstverantwortet erscheinen, sondern ‚begegnen‘, stellen das Substrat eines Lebenssinns dar, in dem Zufall und Schicksal, Einbruch und Wende, Bestimmung und Notwendigkeit ihren charakteristischen Ort einnehmen [...].“ 50 Ebd., S. 10. 51 Ebd., S. 11. 374 <?page no="387"?> Bestandteil der Unterhaltungsliteratur. Dies ist ein weit verbreiteter erzähltechnischer Griff, der sich immer wieder entdecken lässt. Dazu zählt beispielsweise die Fiktion von Decknamen für Familien, Städte und Länder, die dem Leser eine nicht existierende Realität suggerieren, seine Imagination stimulieren und ihn so zum Rätseln bringen. Schlaffer bemerkt, dass jede Novelle immer auch eine Grenzüberschreitung enthält. Dabei geht es um eine Grenze, die innerhalb einer Gesellschaft aufgestellt wurde und meist mit dem Gesetz, egal ob mit dem moralischen oder dem gesellschaftlichen, verbunden ist 52 . Daher ist die oben aufgestellte These, dass das Konzept der Novelle durchaus bereits in der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur Anwendung fand, nicht so weit hergeholt, wie es scheint. Dieser Bezug ist deshalb so interessant, da das Wort ‚Novelle‘ ursprünglich aus dem juristischen Bereich stammt und ein Nachtragsgesetz bezeichnet 53 . Erinnert man sich nun an die Tatsache, dass sich aus jeder der bereits vorgestellten Erzählungen Kritik an Missständen der Gesetzgebung herauslesen lassen, so sind die Berührungspunkte unübersehbar. So fordert Aust zu Recht, dass die These von Benno von Wiese, nämlich die Frage, ob die „Spezialbedeutung tatsächlich nichts mit der literarischen Verwendung des Wortes zu tun hat [...]“ 54 , gebrauchsgeschichtlich untersucht werden muss. Die ersten 50 Jahre des 19. Jahrhunderts zeigen in der Retrospektive eine deutliche Verlagerung der Wahrnehmung der Welt und der Gesellschaft, die sich hin zu einer wissenschaftlichen und damit rationaleren Betrachtung entwickelte. Zuerst noch blockiert durch die großen Umwälzungen und Probleme, die mit Napoleon über Europa kamen, lässt sich ab dem Beginn der 20er Jahre das Aufkommen 52 Ackermann 2004, Fußnote 298, S. 280: „Vergl. H. Schlaffer: ‚Es gibt, auch nach Boccaccio, keine Novelle, die nicht eine Gesetzesübertretung enthielte. Das ‚unerhörte Ereignis‘ bedeutet immer das Überschreiten einer Grenze, die die Gesellschaft ihren Mitgliedern gezogen hat.‘ (S. 26) Die Grenzüberschreitung ist nicht einfach ein ‚Thema‘ der modernen Novelle, sondern bedingt erst ihre Form. Sie muß nicht thematisiert werden, sondern kann auf verschiedene Art und Weise realisiert erscheinen, u.a. durch den Paroxysmus.“ 53 Aust 1999, S. 18. 54 Ebd. 375 <?page no="388"?> einer hochwertigen und überaus interessanten deutschsprachigen Kriminalliteratur auf dem Buchmarkt feststellen, die nach und nach den großen Erfolg der Verbrecherliteratur zu überflügeln begann und auch außerhalb des deutschsprachigen Raums großen Anklang fand. Zuerst noch stark beeinflusst von der Vorliebe für das Übernatürliche der Romantik, später dann von den sich extrem verändernden sozialen Umständen 55 beeinflusst, lassen sich einige Werke entdecken, deren Inhalte nur auf den ersten Blick bloß finanziellen Aspekten geschuldet sind 56 . Vielmehr blühte eine farbenfrohe und vielfältige Buchkultur auf, deren mannigfaltige Vertreter sich längst nicht mehr ausschließlich an den großen Autoren der vergangenen Jahrhunderte orientierten, sondern neue Wege und Darstellungsformen einer unterhaltsamen Buchproduktion selbst definierten. Der hier behandelte Zeitraum ist daher nicht ohne Grund von einer großen Zahl Novellen geprägt, die eine interessante inhaltliche und strukturelle Bandbreite aufweisen. Besonders die Novelle eignete sich optimal für eine Darstellung des Verbrechens, wie im Folgenden gezeigt wird. Nicht nur die Form entsprach den neuen Vorlieben des lesenden Publikums, auch die Inhalte konnten daran angepasst werden und führten dazu, dass die bis dahin populären Inhalte der Vergangenheit nach und nach verschwanden 57 . 55 Vgl. Kapitel 10. 56 Boyle 2009, S. 24: „Da sich Urheberrechte jetzt durchsetzen ließen, wurde die Literatur selbst zu einem Geschäft, das sich auszahlte, und Romane und Theaterstücke mit so eindeutig bourgeoisen Themen wie Geld, Materialismus und sozialer Gerechtigkeit emanzipierten sich von der Sphäre des Trivialen und verbanden die Schriftkultur Deutschlands eine Zeitlang mit der seiner Nachbarn in Westeuropa.“ 57 Schönert 1980, S. 166: „In den Leihbibliothekesbeständen dominieren zunächst die Schauerromane („Geister-, Ritter- und Klosterromane“; ab 1830 zeichnet sich eine Verschiebung zugunsten der „Criminal-Literatur“ ab, die bereits Mitte der vierziger Jahre diesen Bereich bestimmt, während die Schauerliteratur unter Abgabe ihrer Funktionen an die Kriminalfälle, Kriminalgeschichten, Verbrecherbiographien und -memoiren immer mehr aus den Anschaffungslisten verschwindet. Vor allem nach 1850 dürfte dann bei den Verlagen und „gediegenen“ Leihbibliotheken der Ausverkauf der konventionellen „Ritter- und Räubergeschichten“ zu Schleuderpreisen eingesetzt haben.“ 376 <?page no="389"?> 8.3 Die Anfänge der modernen Forensik Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung einer Detektivfigur in der Literatur und dem Fortschritt des Indizienverfahrens sowie der Forensik ist nicht so eindeutig, wie teilweise angenommen 58 . Die meisten Forscher sind der Meinung, dass erst mit der Einführung fortschrittlicher kriminalistischer Untersuchungsmethoden die literarische Figur eines Dupins oder Holmes entstehen konnte, weil vorher die Indizien durch Tatzeugen ersetzt wurden 59 . Bloch weist allerdings selbst darauf hin, dass die Einführung des Indizienverfahrens ein langsamer Prozess war und erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Der französische Forscher Messac widmet seiner umstrittenen These 60 , dass die Entwicklung der Detektiverzählung nur in Verbindung mit den damals neu entstehenden wissenschaftlichen Vorgehensweisen erklärt werden kann, eine eigene Untersuchung 61 . Dennoch war es Poe durchaus möglich, schon vorher schon seine bekannten Kriminalerzählungen zu verfassen, in denen die Person, mit der das dénouement verknüpft ist, mit rationalen Argumenten und einem unverstellten Blick auf die Situation den Fall lösen kann. Dass das Wort detective erst Mitte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts auftauchte, ist ein relativ schwacher Beweis 62 , denn eine zu 58 Ackermann 2004: Fußnote 272, S. 273: „Ein wichtiger Faktor für die Entstehung der Kriminalliteratur ist die Einführung wissenschaftlicher Methoden in der Polizeiarbeit.“ 59 Bloch 1971, S. 323. 60 Buchloh & Becker 1978, S. 06-07: „Aber nur wenige Kritiker können Messac hier folgen [...].“ 61 Vgl. dazu Messac, Régis: Le ‚Detective Novel‘ et l´ influence de la pensée scientifique. Genève: Slatkine Reprints, 1975. 62 Leonhardt 1990, S. 26-27: „Das Wort Detektiv (aus dem englischen ‚detective‘) gab es noch nicht. Als 1843 in London die Sondereinheit der ‚Detective Police‘ gegründet wurde, war das Wort ganz neu und wurde zunächst nur als Adjektiv verwendet. [...] Erst vier Jahre später (1856) taucht das Wort als Substantiv auf, als Abkürzung für einen Beamten der Detective Police, deren Aufgabe es war, Verbrechen aufzudecken oder zu enthüllen - ‚to detect‘. [...] Ein neues Wort entsteht, wenn ein neues Phänomen eine besondere Benennung erfordert. Die berufsmäßige Aufklärung von Verbrechen gibt es noch gar nicht so lange, wie man es sich gerne vorstellt. In der frühen Strafrechtspflege war nur eines ausschlaggebend für eine Verurteilung: das Geständnis des Angeklagten. Gestand er die Tat nicht, war Gewalt das 377 <?page no="390"?> starke Konzentration auf die reale Existenz einer solchen Figur vernachlässigt die Tatsache, dass man viel eher die literarische Funktion der Detektivfigur innerhalb der Erzählstruktur verstehen und nach den Ursprüngen dieser Technik suchen muss. Zumal bietet es in diesem vorliegenden Zusammenhang keinerlei Vorteile, die Entwicklung des englischen Wortes zu analysieren, was sich erst nach dem hier behandelten Zeitraum im englischen Sprachgebrauch durchsetzte und von dort nach Deutschland gelangte. Im deutschen Sprachraum hilft in diesem Zusammenhang die etymologische Betrachtung des Wortes „Polizei“ nicht wirklich weiter, das ursprünglich für die öffentliche Verwaltung genutzt wurde, da es vom griechischen Wort politeia (Verfassung eines Stadtstaates) bzw. polizeia (gemeinschaftliche Tätigkeit) abstammt. Die Entwicklung des Wortes „Polizei“ in der deutschen Sprache ist zudem nicht ganz eindeutig rekonstruierbar, da die Autoren dieses Wort in verschiedenen Kontexten unterschiedlich nutzten und unser heutiges Wort mit diesem Sprachgebrauch nur noch wenig zu tun hat. Wie auch in Frankreich gab es Anfang des 19. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Gebieten einen zweigeteilten Polizeiapparat. So findet sich beispielsweise bei Christian Dietrich Grabbe in dessen Werk „Don Juan und Faust“ (1828) die Aussage Don Juans: „Jetzt merkt wohl! Es gibt ’ne hohe Polizei und eine niedere - Die hohe ist die klügste - denn die niedere Beachtet das nur, was Vergehen ist, Die hohe achtet nur auf das, was nutzt.“ 63 Damit unterscheidet Grabbe bereits 1828 zwischen der heutigen Polizei als Ermittlungsbehörde und der älteren Polizei, die wirksamste Mittel, die Sache zu klären und damit ein Urteil zu ermöglichen. [...] Als erstes europäisches Land schaffte Preußen im Jahr 1740 nach einer Kabinettsorder Friedrichs II. die Folter ab. [...] Nach der Abschaffung der Folter wurde es notwendig, neue Methoden für die Aufklärung von Verbrechen zu entwickeln. Und schließlich fand man auch ein Wort für die Männer, die die neuen Aufgaben zu erfüllen gelernt hatten. Die ersten Detektive begannen ihre mühevolle Erforschung des Neulands.“ Dabei widerlegt sich Leonhardt selbst in ihrer Argumentation. Leonhardt 1990, S. 16: „Im ‚Bow Street Runner‘ [1827] ist das Bild des modernen Detektivs in groben Umrissen vorgezeichnet. Er war geübt in der genauen Beobachtung seiner Kundschaft, suchte am Tatort nach Spuren, verhörte Zeugen und zog Schlußfolgerungen aus den Ermittlungen.“ 63 Grabbe, Christian Dietrich: Don Juan und Faust. Zweite Auflage. Frankfurt a. M.: Joh. Christ. Hermann´sche Verlagsbuchhandlung, 1862. S. 144. 378 <?page no="391"?> hauptsächlich für die Herstellung und den Erhalt der öffentlichen Ordnung zuständig war. Bei Grabbe tritt zudem ein Signor Rubio auf, der Don Juan wegen zwei Mordfällen verhaften will und ihn in dieser Sache befragt. Als er erfährt, dass er unter dem Schutz des Papstes steht, lässt er allerdings direkt die Anklage fallen. Dies kann als Beleg dafür gesehen werden, dass die Figur der Polizei in der Verbrechensliteratur schon früh kritisch gesehen wurde 64 . Die französische Literaturforschung hat an dieser Stelle den Vorteil, dass sie vom „roman policier“ spricht, der auch den Detektivroman mit einschließt und, im Gegensatz zur deutschen Forschung, nicht über das Wort „Detektiv“ stolpert. Zudem war die Entwicklung des Polizeiapparates und der Untersuchungsmethoden unterschiedlich in den verschiedenen Ländern und kann nicht ohne weiteres von England oder Frankreich auf die deutschsprachigen Länder übertragen werden 65 . Auch dies spielt eine eher untergeordnete Rolle bei der Betrachtung der Entwicklung einer Erzählstruktur und Techniken des Erzählens. Die Frage nach der Etymologie des Wortes Polizei kann in diesem Fall nur begrenzt aufzeigen, wie sich diese staatliche Institution im Laufe der Zeit entwickelt hat. Zudem ist die Figur des literarischen Detektivs seit ihrer Einführung in der Erzählung „Doppelmord in der Rue Morgue“ als ein Gegenentwurf zu den langsam agierenden staatlichen Institutionen zu sehen. Der Erfolg der Ermittlungen hing zu dieser Zeit von schlecht ausgebildeten und meist völlig überforderten Beamten ab, die mit ihren mäßigen Untersuchungsergebnissen nur wenig dazu beitrugen, das Bild der Polizei zu verbessern. Dies führte in der Frühphase der Kriminalliteratur dazu, dass dieser Gegensatz auch schon als Legitimation für Selbstjustiz gesehen wurde 66 . In den hier vorgestellten Texten 64 Siehe dazu Kapitel 10.2. 65 Z.B. zur Entwicklung in Frankreich: Lits 1999, S. 34: „On peut d´ailleurs constater que c´est à cette époque que se constitue un élément du corps social amené de par sa nature même à jouer un rôle majeur dans les histoires policières : la police. Ce n´est en effet qu´en 1829 qu´apparaissent les sergents de ville en uniforme dans les rues de Paris, qu´en 1851 que toutes les polices de France sont placées sous l´autorité du Minstère de la Police générale.“ Vgl. dazu auch: Feix, Gerhard: Das große Ohr von Paris. Fälle der Sûreté. 3. Auflage. Berlin/ DDR: Verlag Das Neue Berlin, 1979. 66 Leonhardt 1991, S. 14: „Zu einer Zeit, da die sachliche Beschreibung unge- 379 <?page no="392"?> werden die Beamten der polizeilichen Untersuchungskommissionen als „Kriminalbeamte“ bezeichnet, was für im Namen des Staates operierende Kräfte steht, die Verbrechen bekämpfen und aufklären sollten. Dies war keineswegs eine Erfindung der Neuzeit, doch erst im 20. Jahrhundert verfügten sie über effektive forensische Methoden. Im Entwurf von Doyle ist es daher nicht nur die Rationalität, die den handelnden Detektiv auszeichnet, sondern auch seine wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden, die Doyle von seinem Lehrer Joseph Bell an der Edinburgher Universität vermittelt wurden, allerdings außerhalb des kriminalistischen Kontextes. Damit war selbst Doyle noch seiner Zeit voraus. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts arbeiteten die Kriminologen noch mit der Verbrecherkartei, die nach den Ideen von Alphonse Bertillon aufgebaut war und anhand von verschiedenen Körpermaßen Verbrecher katalogisierte. Dieses System war nicht besonders effektiv, wurde aber lange Zeit genutzt, da die anderen Methoden auch keine besseren Ergebnisse erbrachten. Als 1891 von ersten Ermittlungserfolgen aus Lateinamerika berichtet wurde, die aufgrund der neu eingeführten Analyse von Fingerabdrücken erzielt wurden, blieb man in Deutschland dennoch dieser Untersuchungsmethode gegenüber lange Zeit skeptisch. 1892 verfasste der britische Naturforscher Francis Galton sein Werk „Fingerprints“, das diese Methode aus wissenschaftlicher Perspektive erläuterte und ihren Nutzen für die polizeiliche Arbeit aufzeigte. Im März 1903 ordnete schließlich Paul Koetig, Polizeipräsident von Dresden und ausgebildeter Kriminalpolizist, eigenständig an, dass ab sofort Hautleistenabdrücke anzuwenden seien, was rasch Erfolge erzielen konnte 67 . Personen wie Vidocq hatten die Vorzüge dieser wöhnlicher Verbrechen eine große Lesergemeinde fand, war die Darstellung todbringender Leidenschaften auch in der Literatur weit verbreitet. Das Thema Mord, so alt wie die ältesten Dichtungen, die wir kennen, ist aus den Werken der großen Dichter nicht wegzudenken. [...] In vielen berühmten Mordgeschichten spielt die Aufklärung des Verbrechens eine Rolle. In der Literatur des 19. Jahrhunderts wird die Ordnungsmacht des Staates, die sich gerade erst etablierende Polizei, häufig in das Geschehen einbezogen. Wenn es um die persönliche Rache eines einzelnen geht [...] kommt der Polizei eine eher negative Rolle zu; ihr Versagen dient als Rechtfertigung der Selbstjustiz.“ Vgl. dazu die Figur Rodolphes in „Die Geheimnisse von Paris“. Siehe dazu auch Kapitel 10.2. 67 Benecke Mordmethoden, S. 18: „Bis heute sind Fingerabdrücke die häufigsten 380 <?page no="393"?> Technik aber bereits 70 Jahre zuvor erkannt und eingesetzt. Wirklich etabliert wurde diese Methode erst nach dem Diebstahl der Mona Lisa, die 1911 bei Restaurierungsarbeiten von Vincenzo Peruggia aus dem Louvre entwendet wurde. Obwohl die Polizei bereits seit 1908 seine Fingerabdrücke besaßen, konnte er erst im Dezember 1913 anhand eines Fingerabdrucks auf dem Glas, das ursprünglich das Gemälde schützen sollte, überführt werden. Mit diesem spektakulären Diebstahl wurde die Bertillonage endgültig durch die Daktyloskopie ersetzt. Aber egal welche neue Methode eingeführt wird, ihre Wirksamkeit und vor allem die Einschätzung der Grenzen derselben können erst nach einem gewissen Zeitraum eindeutig festgestellt werden. Auch heute kann eine ungerechtfertigte Verurteilung nicht ganz ausgeschlossen werden, obwohl die forensischen Methoden inzwischen weit entwickelt sind. Dabei ist es vor allem der Mensch, der einer vollkommen systematischen und rationalen Aufklärung selbst im Weg steht, wie Benecke anmerkt 68 . In der heutigen Zeit ist die Figur des übermenschlichen Detektivs, wie er zu Beginn kreiert wurde, absurder denn je. Die Begeisterung für den technischen Fortschritt hat einer realistischeren Betrachtung Platz gemacht, die Glauser schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts forderte. Es bietet sich also aus literaturwissenschaftlicher Sicht eher an, diesen Aspekt im hier analysierten Zeitraum zu vernachlässigen und statt dessen anhand der Erzählstruktur zu argumentieren. Schaut man nun noch genauer hin, so kann man feststellen, dass selbst die erste Detektiverzählung gar nicht vom Detektiv spricht, sondern ihr Hauptaugenmerk, wie schon weiter oben angemerkt, auf den Rätselcharakter legt 69 . Die Einbeziehung dieses Aspektes in der Tatortspuren; sie machen gut drei Viertel aller anfallenden Spuren aus.“ 68 Benecke Mordmethoden, S. 19: „Aber auch jenseits neuer Kriminaltechniken können Ermittler unerwartet auf Granit beißen. Zeugenaussagen können beispielsweise derart von Erinnerungslücken, Fehlwahrnehmungen und Vorurteilen geprägt sein, dass sie kaum verwertbar sind. Umgekehrt kommt es vor, dass psychisch auffällige Menschen, deren Aussagen oft nicht ernst genommen werden, die einzig richtige Spur liefern.“ 69 Gerber 1971, S. 409: „Die übliche Einordnungskategorie für Poes Detektivgeschichten lautet ‚Tales of Ratiocination‘: Erzählungen von der logisch ableitenden Denkkraft. Wenn man einen solchen Titel nur schon von ferne 381 <?page no="394"?> Unterscheidung wird beispielsweise im Beitrag von Ira Tschimmel geleistet 70 . Inwieweit die Literatur der wirklichen Entwicklung forensischer Methoden sogar voraus war, belegt wiederum eine der Kriminalerzählungen von Poe. Seine Deduktionen in „Das Geheimnis der Marie Rogêt“ (1842), einem zur Zeit der Niederschrift ungelösten Kriminalfall, erwiesen sich im Laufe der Zeit als richtig 71 . Damit war Poe in seinem Denkansatz den gängigen Untersuchungspraktiken den entscheidenden Schritt voraus und bezog sich zudem noch auf reale Fälle ein Relikt aus den frühen Tagen der Verbrechensliteratur. Daher ist die bedingungslose Verknüpfung von wissenschaftlichem Fortschritt und der Entstehung der modernen Kriminalliteratur abzulehnen. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel aus Weiterentwicklungen sowohl der literarischen Darstellungsformen wie auch der Forensik. Die Idee einer rationalen Aufklärung von Verbrechen als eine ausschließliche Denkleistung des 19. Jahrhunderts zu erheben ist falsch, denn schon die Gründung des britischen Geheimdienstes lässt sich auf das Ende der 60er Jahre des 16. Jahrhunderts festlegen. Einer der Mitbegründer, Sir Francis Walsingham, beschäftigte Spione und vereitelte mehrere Attentate auf Elisabeth I. Seine Agenten waren zudem darin geübt, heimlich Korrespondenzen abzufangen und zu hört, versteht man sogleich, warum Poes Kriminalerzählungen keine richtige Breitenwirkung zu entwickeln vermochten.“ 70 Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung. Eine vergleichende Untersuchung zu Werken von Christie, Simenon, Dürrenmatt und Capote. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 1979. Die Autorin unterscheidet zum Beispiel zwischen dem a-realistischen Rätselroman und dem realistisch ambitionierten Kriminalroman. 71 Osterwalder, Sonja: Düstere Aufklärung: Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell. Wien: Böhlau, 2011. S. 38: „Die Geschichte [The Mystery of Marie Rogêt.] bildet in zweifacher Hinsicht eine Ausnahme: zum einen handelt es sich um einen realen, zur Zeit der Niederschrift ungelösten Verbrechensfall, zum anderen kommentiert zumal in der zweiten, überarbeiteten Version der Erzählung der Autor selbst das Geschehen und liefert aus der Not heraus bemerkenswerte Hinweise auf die Methode des Detektivs. Bereits mit The Murders in the Rue Morgue griff Poe auf eine tatsächliche Begebenheit zurück, die er allerdings großzügig umänderte und radikalisierte. Mit der zweiten Dupin-Geschichte nimmt sich der Autor ein aktuell in den Zeitungen debattiertes Verbrechen nicht nur zum Vorbild, sondern erhebt auch den Anspruch, auf dem Feld der Literatur den realen Mordfall gelöst zu haben.“ 382 <?page no="395"?> entschlüsseln oder Handschriften zu fälschen. Sie infiltrierten sich in gegnerische Truppenverbände und ausländische Kaufmannsgemeinschaften, um geheime Informationen zu generieren. Walsingham und seinen Spionen ist es zu verdanken, dass unter anderem die Throckmorton- und die Babington-Verschwörung aufgedeckt werden konnten. Nachdem Sophie Charlotte Elisabeth Ursinus Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Ehemann, die Tante und den Geliebten mit Arsenik vergiftete und fast auch ihr Diener von ihr mit Gift ermordet worden war, kam es zu einem aufsehenerregenden Prozess. Nachweislich hatte Ursinus größere Mengen Arsenik gekauft, jeweils kurz bevor es zu den Todesfällen kam. Im Gerichtsverfahren wurde eine genaue Untersuchung der Leichen angeordnet, die von dem Chemiker Martin Heinrich Klaproth und seinem Assistenten Valentin Rose durchgeführt wurden. Sie konnten aber keine unwiderlegbaren Nachweise erbringen, dass die drei Personen vergiftet worden waren, es konnte aber auch nicht ausgeschlossen werden. Ihnen standen die Urteile der Gerichtsärzte gegenüber, die von natürlichen Todesursachen ausgingen. Schlussendlich wurde sie des Mordes an ihrem Mann und ihrem Liebhaber freigesprochen und in Zusammenhang mit dem Tod ihrer Tante mit einer Verdachtsstrafe belegt. Für den Mordversuch an ihrem Diener aber wurde sie zu lebenslanger Festungshaft verurteilt, die nach dreißig Jahren aufgehoben wurde. Im Nachhinein gilt dieser Fall als ein Beispiel dafür, dass die wissenschaftlichen Methoden nicht besonders ausgereift waren und die Autorität einzelner Personen noch immer mehr Gewicht hatte als logische Argumente. Dies erkennt man bei der Anerkennung der Todesursachen in dieser Untersuchung. Während die Tante von Ärzten ohne besondere Reputation untersucht wurde, wurden die beiden Männer von bekannten und angesehenen Ärzten untersucht, die den wissenschaftlichen Beweis eines unbedeutenden Chemikers nicht anerkannten. Rose war darüber so empört, dass er 1806 einen gut funktionierenden Nachweis für Arsenikvergiftungen entwickelte. Doch erst 1832 wurde mit der Marshschen Probe ein Verfahren etabliert, dass wirklich zuverlässige Ergebnisse lieferte. Ab diesem Zeitpunkt gingen Mordanschläge mit Arsenik rapide zurück. Daran kann man erkennen, dass sich erst gesellschaftliche Strukturen ändern mussten, bis die rationale Aufklärung von Fällen wirkliche 383 <?page no="396"?> Auswirkungen auf Prozesse haben konnte. Doch auch lange vor Poe und Doyle arbeiteten viele Menschen daran, zuverlässige Methoden zu entwickeln und mit Verstand Kriminalfälle aufzudecken. 384 <?page no="397"?> 9 Strukturelemente des modernen Krimis 9.1 Rationale Aufklärung von Unheimlichem: E.T.A. Hoffmann - Das Fräulein von Scuderi (1819-1820, Kf1/ Kf3) E.T.A. Hoffmann entstammt einer Familie, in der die juristische Arbeit Tradition hatte. Einer seiner engsten Freunde war zudem Theodor Gottlieb von Hippel, Sohn des bekannten Juristen Theodor Gottlieb von Hippel der Ältere 1 , der ihm bis zu seinem Tode freundschaftlich verbunden blieb. Später sollte er einen wichtigen Vertreter der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur kennen lernen, Eduard Hitzig 2 , der ebenfalls ein enger Freund wurde. Wie sein Klassenkamerad Hippel begann Hoffmann 1792, ganz in der Tradition seiner Familie, ein Studium der Rechte in seiner Geburtsstadt Königsberg, wo er 1795 das erste Staatsexamen erfolgreich abschloss 3 . 1798 ging er nach dem zweiten Staatsexamen für das Referendariat nach Berlin 4 , wo er bald schon mit vielen verschiedenen Künstlern in Kontakt kam und 1800 das Assessorexamen abschloss. Obwohl Hoffmann seiner beruflichen Arbeit stets in vollem Umfang nachkam, so ließ er es sich nicht nehmen, nebenbei als bildender Künstler, Musiker und Schriftsteller aktiv zu werden. Für seine Karikaturen wurde er 1802 nach Plosk (Polen) strafversetzt 5 , die Übernahme eines Zitates aus richterlichen Akten in seinem Kunstmärchen „Meister Flo“ bewirkte, dass disziplinarische Maßnahmen gegen ihn verhängt wurden, die bis zu seinem Tod am 25. Juni 1822 andauerten. Inspiriert wurde er bei seiner literarischen Arbeit unter anderem durch die Werke 1 Siehe dazu Kapitel 5.5. 2 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 674. 3 Ebd., S. 673. 4 Ebd. 5 Ebd. 385 <?page no="398"?> des englischen Schauerromans, speziell von Matthew Gregory Lewis „Gothic Novel“ „The Monk“, ein Werk, das als einer der frühen Vorläufer der modernen Kriminalliteratur gilt. Umgekehrt beeinflussten seine Werke wiederum Edgar Allan Poe, Dostojewski sowie andere russische Kriminalschriftsteller 6 . Die Novelle „Das Fräulein von Scuderi“ ist Teil einer Sammlung von 19 Erzählungen, Novellen und Märchen, die zwischen 1819 und 1821 in vier Bänden unter dem Titel „Die Serapionsbrüder“ in Berlin erschien. Die Serapionsbrüder tragen sich in der Rahmenhandlung gegenseitig die Geschichten vor. Dabei gehen die verschiedenen Figuren vermutlich auf den Autor selbst und einige seiner Freunde zurück, mit denen er sich regelmäßig zum literarischen Austausch traf 7 . Vermutet wird hierbei, dass hinter den erzählenden Personen neben Hoffmann selbst auch Julius Eduard Hitzig, Karl Wilhelm Salice-Contessa, David Ferdinand Koreff und evenuell Friedrich de la Motte Fouqué und Adelbert von Chamisso zu erkennen sind. Die wichtigste Komponente dieser Rahmenhandlung aber ist, dass die Teilnehmer der Gesprächsrunde gewisse Ansprüche an ihre literarische Produktion stellen. Die Ereignisse um das Fräulein von Scuderi gehen auf historische Vorgänge zurück, welche von Voltaire in seinem „Siècle de Louis XIV.“ (1751) und von Johann Christoph Wagenseil (1633-1705) in dessen Chronik der Stadt Nürnberg berichtet werden. Weitere Personen des Textes beruhen ebenfalls auf realen Personen, wobei einige von ihnen, wie die Giftmischerin Marquise de Brinvillier, nur als Randfiguren auftreten oder erwähnt werden 8 . Bereits die erste Veröffentlichung 6 Leonhardt 1990, S. 24. 7 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 674. 8 Leonhardt 1990, S. 24: „Der einzige deutsche Dichter neben Goethe, Schiller und Heinrich Heine, dessen Einfluß auf die Literatur über die Grenzen hinwegreichte, ist E.T.A. Hoffmann. Seine Erzählungen, in denen das Ungewöhnliche und das Schaurige aus dem Alltäglichen erwächst, beeinflußten unter anderem E.A. Poe und Dostojewski wie auch die frühen russischen Kriminalschriftsteller. Seine berühmteste Mordgeschichte ist die Novelle ‚Das Fräulein von Scudery‘ (1819). Angeregt hatte Hoffmann ein Prozeßbericht aus dem ‚Pitaval‘, doch er verknüpfte die Gestalt der Marquise de Brinvilliers, einer berüchtigten Giftmischerin, nur lose mit der Haupthandlung. Schauplatz des Geschehens um eine Serie von mysteriösen Mordfällen ist das Paris des 17. Jahrhunderts. In leidenschaftlich bewegten Szenen 386 <?page no="399"?> war erfolgreich, sodass es in der Folgezeit mehrere Auflagen gab. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Transposition 9 verfasst, welche das Rätsel hervorhob und den Text zu einem Theaterstück umwandelte. Die Handlung spielt im Herbst des Jahres 1680 in Paris zur Zeit des Königs Ludwig XIV und setzt medias in res ein. Eines Abends kommt ein junger Mann zum Haus der Madame Scuderi und bittet lautstark um ein Gespräch mit ihr, das ihm die Kammerfrau aber nicht erlaubt. Dabei ist er vermummt und bewaffnet, sodass Martiniere einen Überfall befürchtet. Auch der Leser bleibt bis zum Ergreifen der Flucht des Mannes über dessen Absichten im Unklaren. Dieser aber stürmt wieder aus dem Haus und hinterlässt ein Päckchen für Madame Scuderi. Dieses trauen sich Baptiste und Martiniere nicht zu öffnen, da sie einen Giftanschlag fürchten, was zu dieser Zeit in Paris mehrfach geschah. Hier fügt Hoffmann eine weitere Erzählebene 10 ein und berichtet über die verschiedenen Giftmischer und -anschläge, die damals die Bevölkerung in Atem hielten. Dabei bezieht er sich auf reale Namen und Fälle, die er wiederum aus verschiedenen Werken, unter anderem aus dem Pitaval, entnommen hatte. Diese Darstellung verknüpft er aber damit, die Chambre ardente und la Regnis als leitende Person der Untersuchung einzuführen. Der Wechsel dieser Erzählebene zu der, auf der die eigentliche Erzählung situiert ist, erfolgt so übergangslos, dass die Fiktion der eigentlichen Handlung und der Bericht über die damalige Realität der Giftmorde miteinander verschmelzen und so die Illusion einer wahren Begebenheit erzeugt wird 11 . Nach diesem Wechsel nähert sich die Darstellung wieder dem entwickelt sich allmählich ein Bild des Mörders, dessen Identität erst auf den letzten Seiten enthüllt wird.“ 9 Ludwig, Otto: Das Fräulein von Scuderi. In: Ludwigs Werke, erster Band. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1898. 10 Hoffmann, E.T.A.: Das Fräulein von Scuderi. Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH und Co., 2002. S. 08-12. 11 Ebd., S. 12-13: „Während nun auf dem Greveplatz das Blut Schuldiger und Verdächtiger in Strömen floss, und endlich der heimliche Giftmord seltner und seltner wurde, zeigte sich ein Unheil andrer Art, welches neue Bestürzung verbreitete. Eine Gaunerbande schien es darauf angelegt zu haben, alle Juwelen in ihren Besitz zu bringen.“ 387 <?page no="400"?> Nullpunkt der Erzählung, an dem die Szene im Haus der Scuderi verlassen wurde. Paris wird nicht nur von Giftmorden erschüttert, auch eine „Gaunerbande schien es darauf angelegt zu haben, alle Juwelen in ihren Besitz zu bringen“ 12 . Argenson, der Polizeiminister, ist hilflos gegenüber diesem Mörder und Desgrais, ein Mitarbeiter der Maréchaussée (Polizeitruppe des Ancien Regimes ), versucht durch Doppelgänger den Täter zu erwischen. Dies gelingt ihm fast, nur verschwindet der Täter im letzten Moment wie ein Geist durch eine Mauer. Hier verlangsamt Hoffmann das Tempo der Geschichte durch ein Gespräch zwischen Argenson und la Regnis 13 . Ganz Paris glaubt nach dieser Geschichte an ein Werk des Teufels. Argenson möchte daraufhin den König davon überzeugen, einen Gerichtshof mit noch mehr Macht und Strafrecht zu ernennen, der sich nur mit diesen Verbrechern befassen soll. Dies lehnt der König aber ab, da er überzeugt ist, der Chambre ardente bereits genug Macht übertragen zu haben. Schließlich wird der König mit einem Gedicht überzeugt, welches im Namen der gefährdeten Liebhaber überreicht wird 14 . Zufällig ist die Scuderi in der Nähe und sie antwortet, als sie nach ihrer Meinung zu den Vorfällen gefragt wird, den Satz, der im weiteren Verlauf immer wieder eine Rolle spielt: : „Un amant qui craint les voleurs, n´est point digne d´amour.“ 15 Dies bringt den König dazu, eine Entscheidung zu treffen: „Keine blinde Maßregel, die den Unschuldigen trifft mit dem Schuldigen, soll die Feigheit schützen; mögen Argenson und la Regnie das Ihrige tun! “ 16 Diese Worte sind im weiteren Verlauf wie Hohn, denn blinde Maßregeln, die Unschuldige treffen, werden einer der zentralen Kritikpunkte der Erzählung. Hier endet der Einschub und mit einer Ellipse, die im weiteren Verlauf auf einen bis einige Tage beziffert wird, und die Erzählung erreicht wieder den Nullpunkt. Am nächsten Tag wird der Scuderi alles berichtet, aber im Gegensatz zu ihren Dienern argumentiert sie rational, dass der nächtliche Besucher kein Mörder oder Räuber sein kann. Im Kästchen, das der 12 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 13. 13 Ebd., S. 14-16. 14 Ebd., S. 17. 15 Ebd., S. 18. 16 Ebd. 388 <?page no="401"?> junge Mann dagelassen hat, findet die Scuderi kostbaren Schmuck und einen Zettel, auf dem die Juwelendiebe 17 ihren Dank dafür aussprechen, dass Madame Scuderi mit ihrem Ausspruch die Männer wieder dazu ermuntert hat, weiterhin ihre Frauen zu besuchen und ihnen Geschenke zu machen. Sie wendet sich an Madame de Maintenon, welche direkt erkennt, dass es sich um Schmuck aus der Werkstatt Cardillacs handelt. Sie beschreibt ihn als einen Meister seines Fachs, aber als überaus verschroben und merkwürdig. So kann er sich kaum von seinem Schmuck trennen und verkauft ihn schließlich nur widerwillig, teilweise aber gegen Aufpreis oder nach einer Drohung. Dieses Verhalten von Künstlern, die sich nicht von ihren Kunstwerken trennen können, wird heute als Cardillac-Syndrom bezeichnet. An dieser Stelle wird nun die Person Cardillacs eingeführt, dessen Beschreibung von Anfang an das Misstrauen des Lesers weckt 18 . Cardillac wird gerufen, erkennt den Schmuck als den seinigen an, aber statt dass er den Schmuck wieder an sich nimmt, tritt er als scheinbarer Verehrer auf und bittet Madame de Scuderi ihn zu behalten. Alle amüsieren sich über diese Annäherung, nur die Scuderi ist beunruhigt. Ihre Bemerkungen über den Goldschmied deuten bereits an, dass er ein dunkles Geheimnis zu verbergen scheint 19 . So werden dem Leser durch Andeutungen bereits Hinweise auf den Täter geliefert. Nach diesen Ereignissen erfolgt in der Erzählung wieder eine lange Ellipse von mehreren Monaten. Die Scuderi überquert gerade mit einer Kutsche die Pont Neuf, als der junge Mann von damals zur Kutsche drängt und ihr einen Brief gibt. Darin wird sie aufgefordert den Schmuck schnellstens mit einer erfundenen Begründung Cardillac zurückzugeben, damit kein Unglück geschieht. Sonst, so der Schreiber, der von Martiniere als der Überbringer des Kästchens erkannt wird, will er sich vor ihren Augen umbringen. Diese Bitte aber kann sie nicht 17 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 20: Der Brief ist unterzeichnet mit „Die Unsichtbaren“. 18 Ebd., S. 24: „...lacht wie der Teufel...“; ebd., S. 25: „Nun sprach er, indem ein hässliches Lächeln auf seinem roten Antlitze gleißte...“. 19 Ebd., S. 28: „Und nun hat selbst Cardillacs Betragen, ich muss es gestehen, für mich etwas sonderbar Ängstliches und Unheimliches. Nicht erwehren kann ich mir einer dunklen Ahnung, dass hinter diesem allem irgendein grauenvolles, entsetzliches Geheimnis verborgen [...].“ 389 <?page no="402"?> erfüllen und so kommt sie erst am übernächsten Tag dazu, Cardillac aufzusuchen, doch es ist bereits zu spät: Cardillac ist ermordet worden, als Täter wird sein Gehilfe Olivier Brusson verdächtigt. Scuderi nimmt dessen Verlobte, die Tochter Cardillacs, die immer wieder seine Unschuld beteuert, bei sich auf und hat Mitleid mit dem Mädchen. Diese berichtet ihr bereits, dass Olivier mit ihrem sterbendem Vater in der Nacht zurück kam und dass dieser von einem Unbekannten erdolcht wurde. Olivier ist währenddessen in Haft und leugnet alle Anschuldigungen. Die Scuderi wendet sich an den Präsidenten der Chambre ardente, der ihr aber zu verstehen gibt, dass die Fakten gegen ihn sprechen. Die Frage nach dem Motiv aber lässt den Zuschauer bereits vermuten, dass hier etwas nicht stimmt. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Scuderi in dem jungen inhaftierten Mann denjenigen wieder erkennt, der ihr das Päckchen und den Brief überreicht hat. Olivier bittet darum, der Scuderi alles allein zu gestehen. Obwohl sie zuerst ablehnt, da sie nicht als Helferin des „Blutgerichts“ dienen möchte, wird ihr vor Augen geführt, dass er nur ihr gestehen möchte und sonst direkt der Tortur ausgesetzt wird 20 . Betrachtet man diese Darstellung, so ist die Kritik am Rechtssystem deutlich erkennbar. Nur in dieser besonderen Situation wird auf die Folter verzichtet und Olivier kann wie ein „freier Mensch“, dessen Schuld noch nicht bewiesen ist, vor sie treten, um ein wahrhaftes und „zwangloses“ Geständnis abzulegen, dass im Haus der Scuderi geschieht und nicht in den Kerkern. Diese Vorgehensweise wird von Desgrais mit einem abschätzenden Tonfall bedacht, denn diese Behandlung gilt nicht als Grundrecht, sondern als Ausnahme. Obwohl die Scuderi nichts mit dem „Blutgericht“ zu tun haben möchte, ist sie bereits in dieses perfide Geflecht aus Grausamkeit und Angst 20 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 43: „ ‚Vielleicht‘, versetzte Desgrais mit einem feinen Lächeln, ‚vielleicht, mein Fräulein, ändert sich Eure Gesinnung, wenn Ihr Brusson gehört habt. Batet Ihr den Präsidenten nicht selbst, er sollte menschlich sein? Er tut es, indem er dem törichten Verlangen Brussons nachgibt, und so das letzte Mittel versucht, ehe er die Tortur verhängt, zu der Brusson reif ist. [...] in der Stille der Nacht, ohne alles Aufsehen bringt man Olivier Brusson wie einen freien Menschen zu Euch in Euer Haus. Nicht einmal belauscht, doch wohlbewacht, mag er Euch dann zwanglos alles bekennen.‘ “ 390 <?page no="403"?> hineingezogen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als im Sinne der Menschlichkeit dieser Bitte nachzukommen 21 . Nicht die bewusste Recherchen der Scuderie lösen nun das Rätsel der Verbrechen auf, sondern eine Analepse in Form der Erzählung Oliviers. Darin wird deutlich, dass er kein Mörder ist und dass Cardillac die Verbrechen begangen hat. Zudem hat er ihn erpresst und zu seinem Mittäter gemacht. Doch in seiner Erzählung erhält Olivier die Spannung, indem er das Geheimnis nicht direkt preisgibt 22 , doch ist er im Erzählkonstrukt die treibende Kraft der Auflösung, da durch ihn „die Entdeckung eines Geheimnisses“ 23 vollzogen wird. Cardillac verweist selbst darauf, dass nicht etwa Nachforschungen, sondern das Schicksal Olivier bei der Aufklärung des Verbrechens halfen, bei dem die Polizei ratlos ist, und gesteht ihm die Hintergründe seiner Morde 24 . An dieser Stelle werden nun einige schauerromantische Elemente integriert, die eine ernsthafte soziologische oder psychologische Analyse des Verbrechers nicht zulassen und die gesamte Erzählung trotz der Einbindung wirklicher Tatsachen eindeutig als literarisches Konstrukt markieren. Cardillac berichtete damals Olivier von seiner Mutter, die, als sie mit ihm schwanger war, aufgrund einer Juwelenkette einem Kavalier erliegt, den sie zuvor abgelehnt hatte. Als er sie an einen stillen Ort führt und in die Arme schließt, stirbt er plötzlich und die Mutter Cardillacs ist in den steifen Armen des Toten gefangen, bis sie schließlich nach lautem Rufen befreit 21 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 44: „Die Scuderi sah tief sinnend vor sich nieder. Es war ihr, als müsse sie der höheren Macht gehorchen, die den Aufschluss irgendeines entsetzlichen Geheimnisses von ihr verlange, als könne sie sich nicht mehr den wunderbaren Verschlingungen entziehen, in die sie willenlos geraten.“ 22 Ebd., S. 46: „Ich bin nicht vorwurfsfrei, die Chambre ardente kann mich mit Recht eines Verbrechens zeihen; aber, so wahr ich selig zu sterben hoffe, sei es auch durch des Henkers Hand, rein bin ich von jeder Blutschuld, nicht durch mich, nicht durch mein Verschulden fiel der unglückliche Cardillac! “ 23 Ebd. 24 Ebd., S. 54: „Was der feinsten Schlauigkeit Desgrais‘ und seiner Spießgesellen nicht gelang zu entdecken, das spielte dir der Zufall in die Hände. Du hast mich geschaut in der nächtlichen Arbeit, zu der mich mein böser Stern treibt, kein Widerstand ist möglich. [...] Dein böser Stern hat dich, meinen Gefährten, mir zugeführt. An Verrat ist, so wie du jetzt stehst, nicht mehr zu denken. Darum magst du alles wissen.“ 391 <?page no="404"?> wird. Dieser Moment, so Cardillac weiter, ist der, als sein „böser Stern“ aufgeht und in ihm „eine der seltsamsten und verderblichsten Leidenschaften entzündet“ 25 und ihn bis zu einem gewissen Grad zu einer tragischen Figur werden lässt: Mit dem Verlust der Tugend seiner Mutter, verliert er bereits vor seiner Geburt seine eigene Unschuld. Diese verhängnisvolle Situation führt dazu, dass er seit seiner Kindheit zwanghaft wertvollen Schmuck, Gold und Juwelen stiehlt, die ihn magisch anziehen. Um dieser Neigung etwas Positives abzugewinnen, wird er Goldschmied. Trotzdem kann er kaum schlafen und es lässt ihm keine Ruhe, wenn er ein Schmuckstück ausgehändigt hat. Als er dann ein Haus kauft und ihm der Verkäufer die geheime Tür zeigt, treiben ihn Nachts Stimmen und Albträume dazu, die Kunden zu töten und ihnen den Schmuck wieder zu rauben. Nur so kann er Ruhe empfinden 26 . Diese Manie führt so weit, dass er Olivier sogar auf das Kruzifix den Eid schwören lässt, nach dessen Tod alle Schmuckstücke zu vernichten. Damit werden die verbrecherischen Handlungen Cardillacs nicht wirklich anhand seiner psychologischen Störung erklärt, sondern durch eine Situation in der Vergangenheit, die wie ein Fluch auf ihm lastet 27 . Damit ähnelt diese Konzeption durchaus der des analytischen Dramas. Diese Situation macht es aber beinahe unmöglich, das Verbrechen rational aufzulösen, da die Beweggründe Cardillacs nicht rational zu erklären sind. Dennoch lässt sich sein Verhalten durchaus als manisch bezeichnen und so löst sich das Unheimliche seines scheinbaren Schicksals, wie auch sein Fluchtweg, durch rationale Betrachtung auf. Dies ist die Besonderheit dieser Erzählung und findet sich als erzählerisches Element beispielsweise in „The Hound of the Baskervilles“ (1901-1902). Doyle bezog sich in diesem Roman auf reale Begebenheiten und die Legende eines Geisterhundes, die ihm ein Anwohner des Dartmoors erzählt hatte. Während der Arbeit 25 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 55. 26 Ebd., S. 57: „Dies getan fühlte ich eine Ruhe, eine Zufriedenheit in meiner Seele, wie sonst niemals. Das Gespenst war verschwunden, die Stimme des Satans schwieg.“ 27 Ebd., S. 60: „Gestehen kann ich wohl, dass eine tief innere Stimme, sehr verschieden von der, welche Blutopfer verlangt wie ein gefräßiges Raubtier, mir befohlen hat, dass ich solches tue.“ 392 <?page no="405"?> an seinem Werk erkannte Doyle aber, dass die Geschichte nicht ohne den Kunstgriffeiner Detektivfigur geleistet werden konnte, obwohl er seine bekannte Figur bereits einige Jahre zuvor ad acta gelegt hatte. Hoffmann hatte diese Option nicht und nutzte daher ein ausgeklügeltes Erzählkonstrukt, um die Spannung möglichst lange zu erhalten und den Einsatz des Schicksals möglichst real zu gestalten. So konnte er dem Leser ein literarisches Rätsel mit Anleihen des Schauerromans präsentieren, dass dieser in Teilen selbst lösen konnte. Die Kontrastfigur zu Cardillac ist Madame von Scuderi. Vor der hohen Tugend der Scuderi, so Cardillac, erbleicht selbst sein böser Stern kraftlos, denn sie verkörpert das, was er nicht mehr sein kann. Dies ist der Grund, warum er ihr den Schmuck durch Olivier überreichen lässt, der schon bei der Erwähnung ihres Namens sich fühlt, „als würden schwarze Schleier weggezogen, und das schöne, lichte Bild meiner glücklichen frühen Kinderzeit ginge wieder auf in bunten, glänzenden Farben“ 28 . Hier ist also wiederum eine spiegelverkehrte Konzeption, denn die glückliche Kindheit Oliviers war die Basis für das eigentlich tugendhafte Verhalten Oliviers, der sich der Liebe wegen und aus Erpressung zum Komplizen machen lässt. Die Scuderi ist zwar nicht diejenige Figur, die das Rätsel löst, doch setzt sie sich nach dem Bericht Oliviers dafür ein, dass die Wahrheit von der Untersuchungskommission und dem König überprüft und schließlich akzeptiert wird. Sie vertritt mit ihren Handlungen einen modernen Rechtsstaat und bildet damit das Gegenstück zur Chambre ardente, die auf die Folter vertraut, und der Willkür des Königs in Rechtsdingen. Die Scuderi ist damit die einzige wirkliche moralische Autorität der Erzählung, die wirklichen Einfluss auf die Handlung nimmt. Allerdings forscht sie nicht aus eigenem Antrieb, sondern wird gegen ihren Willen in diese Untersuchungen verstrickt. Diese Figur ist an die reale Person der Madelein de Scudery angelehnt, die im 17. Jahrhundert lebte und eine Reihe von Heldenromanen, meist Schlüsselromanen, verfasste, die zeitgenössische Personen darstellen 29 . Diese waren in und außerhalb Frankreichs sehr populär. Einige der Personen ihrer Werke waren an reale Personen angelehnt und deshalb für das Publikum von großem Interesse. Hoffmann erzeugt 28 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 59. 29 Ebd. (Anmerkungen), S. 77. 393 <?page no="406"?> in diesem Werk ebenfalls mit realen Personen und Schauplätzen eine ganz besondere Stimmung und erschafft damit einen ausdrucksstarken Kontrast zwischen der brutalen Methoden der Chambre ardente und der klugen Scuderi, die den Kriminalfall mit glücklichen Zufällen, aber auch mit dem Kopf und ihrem Herzen auflöst. Neben der Scuderi, den Giftmördern, den Vertretern der Chambre ardente und Louis XIV. bindet der Autor Françoise d´Aubigné als Figur ein, die nach dem Tod ihres Mannes, dem Dichter Paul Scarron, in den Stand der Marquise de Maintenon erhoben wurde und zuerst Mätresse, ab 1684 dann die Gattin von Louis XIV. war. Hoffmann greift damit in gewisser Weise ihre Arbeitsweise auf, um Missstände der Politik und des Rechtssystems anhand einer Geschichte darzustellen, die er im 17. Jahrhundert ansiedelt. Diese Figur spiegelt somit seine Grundkonzeption des Werkes wider, reale Personen und Ereignisse mit fiktiven Handlungen zu verknüpfen. Problematisch an den Bemühungen der Scuderi ist aber, dass sowohl Olivier 30 wie auch der Graf von Miossens aus verschiedenen Gründen nicht aussagen wollen. Damit wandelt Hoffmann in gewisser Weise das Howdunit der juristisch-anthropologischen Verbrecherliteratur ab, indem im Folgenden der Leser darüber im Unklaren gelassen wird, wie die Scuderi es fertigbringen wird, den jungen Mann zu befreien. Denn durch die gesamte Situation wird mit dem Gespräch zwischen Olivier und der Scuderi aus der Kriminalerzählung plötzlich eine Verbrechererzählung, selbst wenn der Leser weiß, dass Olivier unschuldig ist. Zusammen mit dem Advokaten Pierre Arnaud d´Andilly 31 unternimmt die Scuderi nun im weiteren Verlauf mehrere Schritte, um die Wahrheit durchzusetzen, doch zeigt sich der Jurist als ein ängstlicher Vertreter der bestehenden Verhältnis- 30 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 64: „Was Oliviers heldenmütigen Entschluss betreffe, ein Geheimnis, das sich auf die Tat beziehe, mit ins Grab nehmen zu wollen, so tue es ihm leid, dass die Chambre ardente dergleichen Heldenmut nicht ehren könne, denselben vielmehr durch die kräftigsten Mittel zu brechen suchen müsse. Nach drei Tagen hoffe er in dem Besitz des seltsamen Geheimnisses zu sein, das wahrscheinlich geschehene Wunder an den Tag bringen werde.“ 31 Hier könnte sich Hoffmann auf die reale Figur des Robert Arnauld d’Andilly bezogen haben, ein französischer Conseiller d’État des 17. Jahrhunderts. 394 <?page no="407"?> se 32 . Von einem Gnadengesuch beim König rät er ihr dringend ab 33 . Hoffmann kritisiert an dieser Stelle zwei Punkte der Rechtsprechung, die im 17. Jahrhundert außerhalb der Hexenprozesse durch die Untersuchungsmethoden der Inquisition zu einem eigenen Verbrechen wurden. In diesem unfairen und unmenschlichen Konstrukt war ein Angeklagter einer Person wie la Regnie unter dem Deckmantel einer angeblichen Wahrheitsfindung schutzlos ausgeliefert. Selbst Helfer und nützliche Zeugen konnten leicht in Verdacht geraten, Komplizen zu sein. Nur die Überzeichnung der Moralität der Scuderi gibt ihr in diesem Moment die Berechtigung, sich für Olivier einzusetzen 34 , ohne selbst in Verdacht zu geraten. Der Graf von Miossens, der Cardillac in Notwehr erdolcht hat, will nicht aussagen, da la Regnie „sein Messer gern an unserer aller Kehlen setzte“ 35 . Auf der anderen Seite nützen schlussendlich die besten Beweise nichts, wenn der König sich nach Gutdünken entscheidet und dem Willen des Volkes und damit dem Zorn des Mobs entspricht. Die Untersuchung und der gesamte Prozess wird zu einer Farce - Aufschub ist das Einzige, was in diesem Moment helfen kann 36 . Es folgt eine weitreichende Prolepse, die alle weiteren Schritte 32 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 65: „Er bewies der Scuderi, dass die auffallendsten Verdachtsgründe wider Brusson sprächen, dass la Regnis Verfahren keineswegs grausam und übereilt zu nennen, vielmehr ganz gesetzlich sei, ja dass er nicht anders handeln könne, ohne die Pflichten des Richters zu verletzen. Er, d´Andilly, selbst getraue sich nicht durch die geschickteste Verteidigung Brussons von der Tortur zu retten. Nur Brusson selbst könne das entweder durch die genaueste Erzählung der Umstände bei dem Morde Cardillacs, die dann vielleicht erst zu neuen Ausmittelungen Anlass geben würden.“ 33 Ebd.: „Der König wird nimmer einen Verbrecher der Art begnadigen, der bitterste Vorwurf des gefährdeten Volks würde ihn treffen. Möglich ist es, dass Brusson durch Entdeckung seines Geheimnisses oder sonst Mittel findet, den wider ihn streitenden Verdacht aufzuheben. Dann ist es Zeit, des Königs Gnade zu erflehen, der nicht darnach fragen, was vor Gericht bewiesen ist, oder nicht, sondern seine innere Überzeugung zu Rate ziehen wird.“ 34 Ebd., S. 74: „Doch [...] wen die Tugend selbst in Schutz nimmt, mag der nicht sicher sein vor jeder bösen Anklage, vor der Chambre ardente und allen Gerichtshöfen der Welt! “ 35 Ebd., S. 67. 36 Ebd., S. 68. 395 <?page no="408"?> zusammenfasst, um die Unschuld Oliviers zu belegen 37 und die dann mit einem Satz wieder die Erzählung an den Nullpukt der Erzählung heranrückt 38 . Obwohl nun mehrere Beweise vorliegen, liegt es immer noch in der Gunst des Königs, Oliviers Unschuld anzuerkennen. Dies aber stellt ein Problem da, da sein Zorn alle Vernunft überdeckt und seine Mätresse Maintenon den Grundsatz pflegt, „dem König nie von unangenehmen Dingen zu reden“ 39 . So erscheint die Scuderi in feinen Kleidern und mit dem kostbaren Schmuck Cardillacs beim König und erzählt eine neue Halbwahrheit, wohlwissend dass ihr Aussehen und das Dramatische ihrer Ausschmückungen hier mehr wert sind, als die Wahrheit 40 . Nun folgt eine Pause in der Erzählung 41 , die andeutet, dass nun endlich eine echte Untersuchung in Gange kommt. So erfährt die Scuderi über d´Aindilly, dass der König eine lange geheime Unterhaltung mit Miossens hatte, dass der vertrauteste Kammerdiener und Geschäftsträger des Königs Bontems mit Brusson gesprochen hatte und in einer Nacht zusammen mit ihm und weiteren Personen in Cardillacs Haus gewesen war, um lange darin zu forschen. Dennoch ändert dies kaum etwas an der Tatsache, dass la Regnie und der König dazu genötigt werden, ihren Fehler einzugestehen und dies nur ungern tun 42 . Schlussendlich wird Olivier 37 Der Graf besucht Olivier im Gefängnis um sich von dessen Identität zu überzeugen und erzählt eine Halbwahrheit. Er berichtet la Regnie, dass er den Mord beobachtet hat, aber weder Olivier, noch er einer der Täter ist. So wird die Tortur ausgesetzt und weiter geforscht. 38 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 69: „Graf Miossens befolgte genau, was d´Andilly geraten, und es geschah wirklich, was dieser vorhergesehen.“ 39 Ebd. 40 Ebd., S. 70: „Der König, hingerissen von der Gewalt des lebendigsten Lebens, das in der Scuderi Rede glühte, gewahrte nicht, dass von dem gehässigen Prozess des ihm abscheulichen Brussons die Rede war, vermochte nicht ein Wort hervorzubringen, konnte nur dann und wann mit einem Ausruf Luft machen der innern Bewegung. Ehe er sich´s versah, ganz außer sich über das Unerhörte, was er erfahren und noch nicht vermögend alles zu ordnen, lag die Scuderi schon zu seinen Füßen und flehte um Gnade für Olivier Brusson.“ 41 Ebd., S. 73: „Mehrere Tage vergingen, ohne dass der Scuderi von Olivier Brussons Prozess nur das Mindeste bekannt wurde. 42 Ebd., S. 73-74: „So viel war also gewiss, dass der König selbst dem wahren Zusammenhange der Sache nachforschen ließ, unbegreiflich blieb aber die lange Verzögerung des Beschlusses. La Regnie mochte alles aufbieten, das 396 <?page no="409"?> vom König freigesprochen und für die Umstände entschädigt. Die ganze Geschichte aber bleibt der Öffentlichkeit bis auf ein paar Ausnahmen geheim, der König erlässt eine öffentliche Bekanntmachung im Namen der Kirche, in der ein angeblicher Sünder den geraubten Schmuck der Kirche übergeben hat, und der den Überlebenden zurückgegeben wird. Der Rest fällt an die Kirche und mit diesen Worten endet die Erzählung. Abb. 70: Spannungsaufbau in Hoffmann Das Fräulein von Scuderi (1819- 1820) Die Novelle ist geprägt durch einen heterodiegetischen Erzähler und eine externe Fokalisierung auf die Person der Scuderi. Durch diese künstliche Beschränkung wird Spannung aufgebaut und lange gehalten 43 . Erst im Laufe der Erzählung wird „der Abstand des Wissens von Rezipient und Erzähler verringert [...], und zwar dem Erkenntnisgewinn der Scuderi folgend.“ 44 Mehrere Rätsel erzeugen den Spannungsbogen: Wer ist Olivier und welche Rolle spielt er in Opfer, das ihm entrissen werden sollte, zwischen den Zähnen festzuhalten. Das verdarb jede Hoffnung im Aufkeimen." 43 Dies bezieht sich nur auf die Erzählhaltung der Novelle, nicht auf ihren Bezug zum dem Gesprächskreis. 44 Baldin, Sarah: Geniale Mörder: Süskinds ‚Parfum‘ und Hoffmanns ‚Fräulein von Scuderi‘ im Vergleich. Hamburg: Diplomica Verlag, 2010. S. 10. 397 <?page no="410"?> Bezug auf die Diebstähle und Morde, wer begeht die Diebstähle und Morde (Whodunit) und, nachdem diese beiden Rätselfragen beantwortet sind, wie wird es die Scuderi schaffen, seine Unschuld zu beweisen (Divination). Die Beschreibung Cardillacs enthält bereits einige Hinweise für den Leser, dass er etwas mit den Morden und Diebstählen zu tun hat. Sein seltsames Verhalten bei der Schmuckübergabe 45 zeigt bereits, dass er unter psychischen Problemen leidet. Später wird sich herausstellen, dass dies der Grund für die Verbrechen ist. Die eigentliche Aufklärung durch die Chambre ardente führt zu falschen Ergebnissen, da Oliviers Täterschaft aufgrund der Umstände scheinbar unanfechtbar ist. Parallel dazu stellt die Scuderi Nachforschungen an, da ihre Ermittlungen zum vermeintlichen Täter den Schluss zulassen, dass er keinen Mord begangen hat, sondern ein anderes Geheimnis hinter dem Tod Cardillacs verborgen ist. Deutlich zu erkennen ist, dass der Aufdeckung ungewöhnlich viel Platz eingeräumt wird, weshalb das Werk beim Lesen von seiner Erzählstruktur her durchaus an einen modernen Krimi erinnert. Abb. 71: Verteilung der Erzählelemente in Hoffmann Das Fräulein von Scuderi (1819-1820) 45 Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, S. 23. 398 <?page no="411"?> Die Verteilung der Erzählelemente zeigt, wie die Aufklärung und Täter-Opfer-Beziehungen abwechselnd eingesetzt werden, um das Rätsel Stück für Stück aufzulösen. Dabei wird der Beschreibung Cardillacs am meisten Raum zugestanden, da hierin Hinweise für den Leser versteckt sind, dass er der Täter ist. So „entfaltet sich das für detektorisches Erzählen charakteristische Geflecht von aufbauenden und teilauflösenden Rückwendungen, versteckten Hinweisen und falschen Spuren, bis die Rätsel sich schließlich aufklären“ 46 . Vom Umfang ragt deutlich die Aufklärung der wahren Tatumstände und die Durchsetzung eines rechtsstaatlichen Prozesses hervor, was die Erzählung in diesem Teil in die Nähe der Verbrecherliteratur rückt. Dadurch wird nach Beendigung der ersten Rätselfragen die Spannung aufrecht erhalten, da sich der Prozess lange hinzieht und viele Dinge im Geheimen geschehen, bzw. das Problem nach eigenem Ermessen des Königs gelöst wird. Kastenbauer sieht darin sogar einen Beleg dafür, dass „Das Fräulein von Scuderi“ nicht „nach dem regulativen Prinzip aufgebaut ist, Informationen nachzuholen, um Rätsel und Konflikte zu lösen“, vielmehr handelt es sich hierbei um „eine Umgehung von Konflikten“ 47 . Die genutzten Erzählelemente belegen, dass die Täter-Opfer-Beziehung und die Aufklärung in mehrere Teile gesplittet wurden und das Modell bereits stark dem des modernen Krimis ähnelt. So werden die Opfer der Raubüberfälle bereits zu Statisten degradiert, da ihre Lebensgeschichte den Erzählfluss nur unnötig hemmen würde. Selbst wenn die Verbrechen mit einem freiwilligen Geständnis aufgelöst werden, so setzt sich doch eine private Instanz dafür ein, dass diese Aufdeckungen den König erreichen und von ihm akzeptiert werden. 46 Schönhaar 1969, S. 127. 47 Kastenbauer, Georg: Anwenden und Deuten. Kripkes Wittgensteininterpretation und die Goethezeit. München: Herbert Utz Verlag, 1997. S. 212. 399 <?page no="412"?> Abb. 72: Erzählelemente in Hoffmann Das Fräulein von Scuderi (1819-1820) 9.2 Kriminalfall im Schauerroman: J. Albiny - Die unheimlichen Gemächer in dem Schlosse Lovel, oder: Das enthüllte Verbrechen (1824, Kf2/ Kf3) Zum Autor von „Die unheimlichen Gemächer in dem Schlosse Lovel“ lassen sich keinerlei biographische Angaben finden, zudem ist nicht bekannt, ob er seine Werke unter einem Pseudonym schrieb. Diese Ausgangslage gilt heute für viele Werke dieser Zeit, die von unbekannten Amateurschriftstellern verfasst wurden und nur in kleinen 400 <?page no="413"?> Auflagen erschienen, die zudem im Laufe der Zeit vernichtet wurden. Weitere Werke aus seiner Feder zeigen, dass er gezielt die Darstellung von Verbrechen aufgriff 48 . Er gehört somit sicherlich zur Gilde der damaligen „Vielschreiber“ 49 , Werke von ihm werden unter anderem in Pustkuchens Fortsetzung von Goethes Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" 50 und in einem Leipziger Repertorium aufgeführt 51 . Die Erzählung zeichnet sich dadurch aus, dass kriminalistische Elemente mit dem Aufbau einer Spannungskurve und mit anderen literarischen Formen wie dem Ritter-, Helden- und Schauerroman verbunden werden. Bereits der Titel deutet darauf hin, dass in der Erzählung ein Verbrechen aufgedeckt wird. Als Harclay, ein alter Kämpfer, in seine Heimat zurückkehrt, findet er alle seine Verwandten und Freunde tot. Er sucht einen alten Freund auf, der in einem Schloss wohnt. Bereits auf seiner Reise dorthin 48 Weitere Werke von ihm tragen beispielsweise Titel wie Herzlande von Rappoltstein oder die Verbrecherin aus Eifersucht; das Strafgericht und der Reinsteiner. (1824) oder Der Verurtheilte und sein Richter oder seltsame Begebenheiten eines Findlings und seiner Aeltern. (1829). 49 Davon zeugen neben der Anzahl von Werken weitere Titel derselben: Der schwarze Ritter mit geschlossenem Visire oder: das furchtbare Strafgericht: ein Nachtstück aus Deutschlands Mittelalter (1828), Die Bastardbrüder oder der Fluch der Geburt; Ein romantisches Gemälde (1825), Das graue Felsenmännchen: Ritter- und Räubergeschichte aus dem Mittelalter (1823), Der Zwerg vom Berge oder die Spukgeister im Zauberschlosse: Eine nordische Sage aus der Vorzeit (1825), Der wandernde Schatten oder die Mahnung aus der Todtengruft und andere Geschichten aus dem Mittelalter (1824), Heinrich von Lindenhorst oder die erfüllte Wahrsagung (1824). 50 Pustkuchen, Johann Friedrich Wilhelm: Wilhelm Meisters Meisterjahre. Zweiter und letzter Theil. Quedlinburg und Leipzig: Gottfried Basse, 1824. Die Empfehlung beruht wahrscheinlich nur darauf, dass beide Werke bei Gottfried Basse erschienen. Pustkuchen veröffentlichte sein Werk unter dem Pseudonym „Glanzow“ und integrierte darin Kritik an Goethe. Seine Fortsetzung hatte großen Erfolg und lief eine Zeitlang selbst Goethes Fortsetzung den Rang ab. Als der Autor hinter dem Pseudonym enttarnt wird, wird er von Goethe mit viel Spott und Hohn bedacht. Es gibt Erklärungen, die den abschätzigen Begriff „Pustekuchen“ auf diese Auseinandersetzung zurückführen. 51 Beck, Christian Daniel: Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1824. Herausgegeben von einer Gesellschaft Gelehrter und besorgt von Christian Daniel Beck. Dritter Band. Leipzig: Carl Cnobloch, 1824. 401 <?page no="414"?> fällt ihm auf, dass niemand den Mann mehr zu kennen scheint und er erfährt von einem Bauer, dass er gestorben sei und seine Frau kurz darauf ebenfalls verschieden ist. Die Umstände des Todes der Frau lassen bereits viele Fragen offen. In der Nacht, bevor er den aktuellen Besitzer des Schlosses, den Baron von Percy, trifft, hat er Albträume, in denen sein toter Freund ihm Hinweise zu geben scheint 52 . Bereits an dieser Stelle beginnt der Aufbau des langen Spannungsbogen, der durch eine Prolepse eingeleitet wird 53 . Am nächsten Tag lernt Harclay bei seinem Besuch auf dem Schloss Edmund Iwyfort kennen, der ihm als Bauernsohn vorgestellt wird 54 , sich aber durch sein Verhalten von den anderen jungen Männern deutlich abhebt und daher als Ziehsohn vom Baron des Schlosses aufgenommen wurde. Dies ist bereits ein erstes Indiz dafür, dass seine Figur mit der Handlung verknüpft ist, denn er stellt sich später als Sohn der verstorbenen Eheleute Lovel heraus. Damit beginnt das erste Rätsel der Erzählung. Nach dieser Einführung mit mehreren ungeklärten Todesfällen wird ein Zeitraum von vier Jahren gerafft 55 und es folgt eine lange eingeschobene Erzählung über den überzeichneten Charakter Edmunds, der durch sein herausragendes Wesen die anderen zu Neid und Missgunst treibt, und in besagtem Schloss wohnt. Somit ist das zu Beginn geschilderte Verbrechen zuerst in den Hintergrund gerückt und verblasst gegenüber der Erzählung von Edmund. Erst im 15. Kapitel eröffnet sich eine neue Perpektive auf die Geschichte, als im Zuge von Neubauten Edmund bemerkt, dass einige Zimmer immer verschlossen bleiben 56 . Der Mönch Oswald erklärt ihm, dass aufgrund eines Geheimnisses, das mit dem nicht mehr aus der Schlacht zurück gekehrten Lord Lovel zu tun hat, dieser Teil für immer verschlossen bleibt. Der verstorbene Lord erschien eines Nachts seiner 52 Albiny, J.: Die unheimlichen Gemächer in dem Schlosse Lovel, oder: das enthüllte Verbrechen: Eine romantische Sage aus dem mittlern Zeitalter in zwei Theilen. 1. Theil. Braunschweig: Verlag Meier, 1824. S. 18. 53 Ebd., S. 19: „Halt ein: Es soll nicht eher entdeckt werden, bis die Zeit zur Entwickelung reif ist. Erwarte geduldig die Rathschlüsse der allwaltenden Vorsehung! “ 54 Ebd., S. 23. 55 Ebd., S. 45. 56 Ebd., S. 72. 402 <?page no="415"?> Frau und offenbarte ihr, dass er ermordet wurde 57 . Der Vetter, Sir Walther Lovel, wird dem Leser an dieser Stelle als möglicher Täter präsentiert, da er sie nach dem Tod ihres Mannes als verrückt erklärt und sie ehelichen möchte 58 . Da sie sich widersetzt, wird sie in diese Gemächer verbannt und stirbt in weniger als einem Monat. Ab dieser Stelle entwickelt sich also die kriminalistische Darstellung und der Verdacht des Lesers wird durch die bisherige Erzählung unterstützt. Dieser kriminalistische Teil wird nun mit transzendenten Elementen der Schauerliteratur verknüpft. Der Vetter nimmt Güter, Schloss und Titel in Besitz, doch da es dort zu spuken beginnt, verkauft er die Gebäude an seinen Schwager, Lord Percy, der es bis zu dem Zeitpunkt der erzählten Gegenwart besitzt und als ehrenwerter Mann gilt. Auf die Frage Edmunds, was denn der Pater glaube, erwidert dieser, dass er die Aufklärung eines möglichen Verbrechens einer höheren Instanz in die Hände legt, da er niemanden unschuldig verdächtigen möchte 59 . Dies ist ein häufig verwendetes Konzept, das die Handlungen einer aufdeckenden Detektivfigur ersetzen kann. Edmund verspricht dem Pater, dieses Geheimnis nicht durch Nachforschungen zu enthüllen, sondern es Gott zu überlassen, bemerkt aber, dass der Pater ein wichtiges Geheimnis nicht verraten möchte. Nach einem Geräusch ist der Mönch plötzlich verschwunden und kurz darauf wird Edmund der schlechten Rede gegen seinen Herren angeklagt, woraufhin er sich mit der Wahrheit verteidigt und sich Lord Percy für mehrere Stunden mit dem Mönch einschließt. Am nächsten Morgen ruft er alle Beteiligten zusammen und erklärt, dass Edmund, als Strafe für „vorlautes Gespräch“, drei Nächte in den Gemächern verbringen und ihm über die Erlebnisse Auskunft geben muss. Sollte sich nichts ereignen, so soll Robert dort einziehen. In der Nacht geht Edmund in die Gemächer und fällt in einen traumähnlichen Zustand, bei dem die Verstorbenen an sein Bett 57 Albiny Die unheimlichen Gemächer I, S. 76. 58 Ebd., S. 77. 59 Ebd., S. 79: „Man hat freilich damals mancherlei, mitunter seltsame Muthmaßungen, wie auch ich die meinigen hatte; doch der Mensch ist Mensch, und kann irren - Ich mag durch mein voreiliges Urtheil keinen Unschuldigen zu nahe treten, und überlasse es der Vorsehung, die gewiß zu rechter Zeit das Verbrechen enthüllen, und den Thäter der gerechten Strafe überliefern wird.“ 403 <?page no="416"?> treten. Diese enthüllen ihm, dass er ihr Sohn ist und dass er bald diese Gewissheit erfahren wird. Er sieht das Begräbnis seiner Eltern und darauf die bevorstehende Hochzeit mit Emma. Am Morgen erwacht er unversehrt im Bett. Diese Auflösung von Verbrechen durch Informationen, die von Geistern vermittelt werden, ist typisch für den Schauerroman. Diese Angaben werden nun im Folgenden durch Gespräche mit Zeugen bestätigt. Am Abend erscheinen Joseph und der Kaplan in den Gemächern und Joseph erzählt ihm, dass der Lord in einem Hinterhalt durch seinen Vetter ermordet wurde und seine Gattin ebenfalls, wahrscheinlich durch die Hand seines Dieners Friedrich, durch Mord gestorben ist. Aus der Erzählung Josephs geht dann schließlich hervor, dass Walther Lovel der Mörder ist 60 . Kaum wird dies von Edmund und dem Kaplan ausgerufen, wird es durch eine dumpfe Geisterstimme bestätigt. Edmund schwört nun: Bei diesem meinen heiligen Schwerdte schwöre ich, nicht eher zu ruhen und zu rasten, bis das Verbrechen enthüllt, und die grause That gerächt ist. Leite Du meine Schritte, und führe mich mit Deiner Vaterhand zum sicheren Ziele. 61 Durch übernatürliche Mächte und Zeugen wird der Täter recht früh in Form von weitreichenden Analepsen entlarvt, nun folgt das bekannte Howdunit, das in der Verbrecherliteratur eingesetzt wird oder, wie schon weiter oben dargestellt, bei E.T.A. Hoffmann. Diese Verknüpfung von Divination und dénouement ist typisch für die frühe Kriminalliteratur und fällt im Laufe der Zeit immer häufiger weg, um die Frage nach dem Täter in den Vordergrund zu rücken und bis zum Ende einer Erzählung auszubauen. Dennoch wird an dieser Stelle nicht von der Kriminalerzählung in eine Verbrechererzählung gewechselt, denn neue Verstrickungen und Rätsel bewirken, dass die Untersuchungen fortgeführt werden. Edmund ist hierbei die treibende Kraft und der Kaplan betont, dass sie die „beiderseitigen Entdeckungen gegen einander erwägen und dann einen Schluß 60 Albiny Die unheimlichen Gemächer I, S. 143. 61 Ebd., S. 144. 404 <?page no="417"?> daraus folgern“ müssen 62 . Obwohl also die Initiation durch Übernatürliches in Gang kommt, so sind es doch rationale Argumente und Beweise, die den Mörder überführen. Joseph berichtet die gesamte Geschichte nochmals mit weiteren Details und beschreibt, wie er Zeuge von mehreren Gesprächen wurde, die die Schuld Walthers anzeigen. Dennoch hindert ihn eine Krankheit daran, das Verbrechen zu verhindern, denn als er genesen ist, ist die junge Witwe bereits tot. Da aber niemand ihre Leiche gesehen hat, wird der Verdacht in den Raum gestellt, dass sie überlebt hat 63 . Dieser Verdacht wurde damals von einem Zeugen bestätigt, dem Ackerknecht Roger 64 , der in der besagten Nacht eine Frau fortgehen sah. Diese Aussage wird von Walther als Geistererscheinung abgetan und dieser Flügel des Gebäudes verschlossen. Die drei Männer schließen daraus, dass die Frau auch geflohen sein kann. Anhand der körperlichen Ähnlichkeit wird der Verdacht des Lesers bestätigt, dass Edmund der verloren geglaubte Sohn Arthur Lovels sein könnte 65 . Die Männer finden bei ihren Recherchen eine Schriftrolle, die den Finder explizit zu Rache auffordert und die Mutmaßungen der drei Männer bestätigt. Die Enthüllung, ob Edmund wirklich der Sohn der Lovels ist, überlassen sie wieder Gott. Am nächsten Morgen berichtet Lord Percy von einer Erscheinung der Mutter, die ihm auftrug, Edmund mehrere Dinge auszuhändigen 66 , die auf seine hohe Geburt hinweisen, die dem Leser bereits seit Beginn der Erzählung angedeutet wird. Nach diesen Erlebnissen suchen der Mönch und Edmund Margarethe, seine angebliche Mutter, auf und nehmen sie ins Verhör 67 . Nach einigem Zögern erzählt Margarethe unter Androhung der Auslieferung an ein Gericht, dass sie und ihr Gatte ihn als gut gekleideten Findling fanden und sie bereits damals die Vermutung hatten, dass Edmund der Sohn reicher Eltern sei. Da kurz vor dem Auffinden ihr eigener Sohn gestorben war, beschließen die Eltern, niemandem vom Tod ihres Kindes zu 62 Albiny Die unheimlichen Gemächer I, S. 145. 63 Ebd.: „Ob sie auch wirklich tod (sic) ist? erwiderte der Mönch nachdenkend.“ 64 Ebd., S. 153. 65 Ebd., S. 155. 66 Ebd., S. 188. 67 Ebd., S. 212. 405 <?page no="418"?> erzählen und Edmund an seiner statt als ihr Kind zu adoptieren. Am folgenden Tag entdecken Andreas und sein Nachbar den Leichnam einer reichen Frau, der sich im Schilf unter einer Brücke verfangen hat. Aufgrund des kostbaren Schmucks und der Kleidung bekommen sie Angst, des Mordes verdächtigt zu werden und begraben die Frau heimlich. Somit wird an dieser Stelle das Schicksal Edmunds Mutter und seine eigene Herkunft aufgeklärt. Der Findling konnte aber niemals öffentlich deklariert werden, da sonst der Mord an der Frau den Findern der Leiche zugeschoben worden wäre. Anhand eines Ringes und einem Mantel kann der Mönch Edmund eindeutig als Sohn Lord Arthur Lovels deklarieren. Sie kehren zurück und nehmen Margarethe das Versprechen ab, niemandem davon zu erzählen. Edmund wird in ein Kloster geschickt und darf vorerst nicht zur Burg zurückkehren. Hier endet der erste Teil. Als Wilhelm und der Pater Oswald Edmund im Kloster aufsuchen wollen, ist dieser verschwunden und nur Pater Stephani scheint sich eines Wanderers zu erinnern. Wilhelm läuft außer sich vor Angst und Wut aus dem Kloster und gelangt in eine Gegend, die er nicht kennt, wo er Unterkunft bei einer alten Frau findet. Es stellt sich heraus, dass es die Hütte ist, in der Sir Phillip Harclay zu Beginn der Erzählung eingekehrt ist, als er den Tod seiner Freunde erfahren hat. Als Wilhelm erzählt, dass Edmund wahrscheinlich tot ist, widerspricht der Ältere und bestätigt, dass er ihn in das Kloster gehen sah, in dem er 14 Tage später nicht mehr zu finden ist 68 . Zusammen mit Johann bricht er wieder zum Kloster auf, um dieses Rätsel aufzulösen. Indessen wartet Pater Edmund im Kloster darauf, vom Prior empfangen zu werden, was erst am Abend und vor allen Ordensbrüdern geschieht 69 . Hier wird Oswald nochmals aufgefordert, zu bestätigen, dass Edmund an dem besagten Tag ins Kloster kam. Bruder Stephani unterbricht die Versammlung und präsentiert als Beweis den Brief, den Edmund damals bei sich trug. Die Reaktion des Priors macht diesen dem Leser verdächtig 70 . Zudem kann Pater Stephani die Uhrzeit und den Abend genau benennen, da er kurz vor der Ankunft Edmunds aus dem Schlaf, „wie gerufen“, geweckt 68 Albiny Die unheimlichen Gemächer II, S. 71. 69 Ebd., S. 79. 70 Ebd., S. 81. 406 <?page no="419"?> wurde. Zwei Stunden später hört er Stimmen und geht nachsehen, findet aber nur den Brief und begreift erst in diesem Moment den Zusammenhang. Plötzlich wird die Versammlung durch einen Klosterknecht gestört, kurz darauf wird ein Verletzter hereingetragen. Es ist Bruder Bernhardt, der sich von den Klostermauern gestürzt hat 71 und vom Prior als geisteskrank und depressiv beschrieben wird. Allerdings zeigt sich, dass er nur ohnmächtig ist, auch scheint er mehr zu wissen, als er preisgeben darf. Mit Waffengewalt dringen Wilhelm und Johann schließlich in das Kloster ein und entdecken Verliese, in denen sie schon von weitem Edmunds Stimme vernehmen. Dieser soll gerade von dem Novizenmeister dazu gebracht werden, dem Lovelschen Erbe abzuschwören und ein Klosterbruder zu werden 72 . Nun lösen sich sämtliche Rätsel der Geschichte auf, derer es mehr als genug gibt und die die gesamte Struktur des Textes überaus unglaubwürdig machen. Bei der Familie Wyatts, die Edmund pflegen, erfolgt die gesamte Auflösung durch die Erzählung Edmunds 73 . Wie schon bei Kleist wird die Bestätigung aller Aussagen durch einen Zweikampf belegt, bei dem Sir Walter verwundet wird und aufgrund eines Missverständnisses schlussendlich alles zugibt 74 . Neben der umfangreichen Verrätselung lassen sich einzelne Elemente herausstellen, die im modernen Krimi eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehört die Suche nach Indizien durch private Instanzen und die Irreführung des Lesers sowie das Auslegen von Spuren. So stellt sich am Ende beispielsweise heraus, dass nicht der Prior von den Verwicklungen wusste, sondern der verletzte Bruder Bernhard, der kurz vor seinem Tod den Hinweis zu den entscheidenden Beweisen gibt. Durch den sich immer wieder überlappenden Aufbau der verschiedenen Handlungen kann allerdings nur mäßig Spannung erzeugt und gehalten werden, ganz besonders konstruiert ist hierbei die mehrfache Auflösung des Verbrechens durch Geistererscheinun- 71 Albiny Die unheimlichen Gemächer II, S. 85. 72 Ebd., S. 102 ff. 73 Ebd., S. 146 ff. 74 Ebd., S. 219: „Meine Hand hat ihn nicht gemordet, doch geschah dies auf meinen Befehl. Der Himmel ist gerecht! Kinderlos steh ich an meinem Grabe, da erscheint der wahre Erbe.“ 407 <?page no="420"?> gen, Geständnisse und Zufälle. Die Aufgabe der Detektivfigur wird, wenn überhaupt, am ehesten durch Pater Oswald verkörpert, der sich für Gerechtigkeit mit Gottes Hilfe einsetzt. Der Leser ist sich früh darüber im Klaren, wer der Täter ist. Spannend ist in diesem Fall eher die Frage, wie Edmund sein rechtmäßiges Erbe antreten darf, was der Divination zugerechnet werden muss. Abb. 73: Spannungsaufbau in Albiny Die unheimlichen Gemächer (1824) Die wenigen Elemente des Kriminalschemas sind nur lose eingesetzt und wenn überhaupt, recht plump aufgelöst. Dies störte das Lesepublikum aber noch wenig, denn die Listen über Bestände der Leihbibliotheken dieser Zeit zeigen, dass diese Erzählstruktur dennoch großen Anklang fand. Einen beinahe deckungsgleichen Aufbau findet sich zum Beispiel in „Die geheimnisvollen Schlösser oder der Geist des Ermordeten“ von Theodor Hildebrand (1828). Dies ist gleichzeitig auch der eigentliche Bezug zu dem vorliegenden Thema. Man kann retrospektiv erkennen, wie in dieser Zeit durch die große Anzahl an Werken die Vorliebe für feste Erzählstrukturen mit wiederkehrenden Elementen gefestigt wurde, die später in gewisser Weise das Problem der Darstellung von Kriminalfällen wurde. Denn je mehr das Lesepublikum darauf drängte, dass bekannte Strukturen erhalten wurden, desto mehr waren die Autoren, die davon leben mussten, in der Pflicht. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert, was sich deutlich noch anhand der Bestsellerlisten und Aufsteller in Leihbibliotheken nachweisen lässt und immer auch ein Spiegel der Zeit 408 <?page no="421"?> ist. Schon Hauffs Bücherverleiher weist in seiner Skizze „Geschmack des Publikums“ darauf hin: „Die Leihbibliotheken studiere, wer den Geist des Volkes kennenlernen will.“ 75 Somit soll dies als einzelnes Beispiel für eine ganze Gruppe an ähnlichen Werken stellvertretend erwähnt werden, die die hier genannten Erzählstrukturelemente und Inhalte ganz ähnlich einsetzten und die quantitativ gesehen in der damaligen Zeit eine große Rolle spielten. Abb. 74: Verteilung der Erzählelemente in Albiny Die unheimlichen Gemächer (1824) Es lassen sich somit einige kleinere Elemente der modernen Kriminalerzählung ausmachen. Der Autor bietet dem Leser kleinere, versteckte Spuren an, die darauf hinweisen, dass Edmund eventuell in einem Zusammenhang mit Lord Lovel steht, obwohl er diesen Namen nicht explizit äußert. Harclay deutet an, dass Edmund auffallende Ähnlichkeit mit einem verstorbenen Freund hat 76 . Das Verhalten Joseph Howells 77 , einem alten Diener, der nach dem Tod Lovels vom neuen Schlosseigentümer übernommen wurde, deutet darauf hin, dass mit der Person Edmunds ein Geheimnis verknüpft ist, weshalb 75 Hinz, Ottmar: Wilhelm Hauffmit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Ottmar Hinz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1989. S. 105. 76 Albiny Die unheimlichen Gemächer I, S. 33. 77 Ebd., S. 50-52. 409 <?page no="422"?> der Darstellung dieser Person viel Platz eingeräumt wird. Abb. 75: Erzählelemente in Albiny Die unheimlichen Gemächer (1824) Der Mord am Ehepaar Lovel wird nicht direkt dargestellt, sondern gerafft in Form einer Analepse im Geständnis von Bernhard enthüllt. Das Verbrechen, was dargestellt wird, ist die Gefangennahme Edmunds durch den Novizenmeister. An der Aufklärung beider Verbrechen sind sowohl Privatpersonen, wie auch transzendente Mächte beteiligt. Die Bestrafung des Novizenmeisters wird klosterintern geregelt, selbst die Mönche erfahren nichts von den Taten des Novizenmeisters. Die Bestrafung Walters fällt gnädig aus: Das Schicksal scheint ihn bereits genug gestraft zu haben, da er in kurzer Zeit seine gesamte Familie verliert und im Zweikampf Harclay unterliegt. 410 <?page no="423"?> Walter tritt selbst von seinem Erbe zurück, weitere juristische Schritte werden nicht unternommen. Hier zeigt sich, dass die juristischen Aspekte völlig zugunsten eines Spannungsaufbaus zurück genommen wurden. 9.3 locked room mystery : Laurids Kruse - Der krystallene Dolch (1823, Kf1/ Kf3) Der Däne Laurids Kruse wurde am 6. September 1778 in Kopenhagen als Sohn des Marinekapitäns Paul Casparsen Kruse und der Generalmajorstochter Benzon de Thurah geboren 78 und schloss 1795 sein Studium der Philosophie an der Universität Kopenhagen ab. Mit zwanzig Jahren verfasst er sein erstes Drama „Emigranterne“ (1812) und gab ab 1799 für einige Zeit die Zeitschrift „Dramaturgiske Blade“ heraus. 1812 erhielt er einen Preis für seine Übersetzung von Jacques François de Chastenet de Puységurs Werk „Art de la guerre, par principes et par règles“ (1749). Im selben Jahr wurde er zum Titularprofessor ernannt. In den zwanziger Jahren ging Kruse nach Paris und Hamburg, wo er einige Zeit lebte. Während seiner Zeit in Norddeutschland traf er auf seinen Landsmann Hans Christian Andersen, der im April 1833 Norddeutschland bereiste. Dieser berichtet von diesem Treffen in seinem Reisetagebuch. Aus dem Eintrag vom 25. April 1833 geht hervor, dass er Kruse als Verfasser von Tragödien kannte, die er am Königlichen Theater in Kopenhagen gesehen hatte. Zudem hatte er dessen Buch „Sieben Jahre“ gelesen und wusste, dass in Deutschland in vielen Musen-Almanachen seine Erzählungen abgedruckt wurden. Andersen beschreibt ihn als sympathischen Mann von gutmütigem Aussehen, der „da, wie hier, so ziemlich vergessen“ 79 ist. Kruse schrieb ihm einen kleinen Spruch 78 Hügel, Hans-Otto: Untersuchungsrichter, Diebesfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1978. S. 103. 79 o.V.: Fra H.C. Andersens „Mit livs eventyr V“. Rejsen fra København til Lübeck over Travemunde 22-23. April 1833. URL: http: / / visithcandersen. dk/ eventyret-5.htm, Abruf: 09.12.2013. 411 <?page no="424"?> in sein Reisetagebuch 80 , danach verliert sich wieder die Spur. Bei seinem Tod im Februar 1839 hinterließ er ein recht umfangreiches Werk 81 , dass in der damaligen Zeit recht bekannt war 82 , heute aber fast ganz in Vergessenheit geraten ist. Im „Regensburger Wochenblatt“ vom 1. Oktober 1823 wird mitgeteilt, dass die beiden Novellen „Der krystallene Dolch und die Rose“ „so eben [...] erschienen, und an alle Buchhandlungen versandt“ 83 wurden. Die Herausgeber, die bereits „Bruchstücke“ gelesen haben, empfehlen das Werk als interessanten Roman. Die Erzählung „Der krystallene Dolch“, die vom Konzept her als Novelle bezeichnet werden kann, erscheint zusammen mit einer weiteren Kriminalerzählung Kruses, in der ein Selbstmord über die gesamte Erzählung dem Leser als Mord dargestellt wird. Kruse nutzt dafür die Tatortuntersuchung und forensische Beweise, um falsche Spuren auszulegen, bis die Übersetzung eines Dokumentes schlussendlich die wahre Todesursache aufklärt. Auch in anderen seiner Werke, wie zum Beispiel „Eid und Gewissen“, in der der stille Felix von Stiefmutter und -bruder zum Mitwissen an einem Verbrechen genötigt und damit später unter Druck gesetzt wird, ist das Verbrechen und dessen Aufklärung zum zentralen Element erhoben. Das Werk aber, dass eines der wichtigsten Elemente der ersten Detektiverzählung Poes vorwegnimmt, ist der „Krystallene Dolch“, das bereits im Untertitel als „Kriminalgeschichte“ bezeichnet wird. Die „unerhörte Begebenheit“, die Goethe 1827 in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann als wesentlichstes Merkmal der Novelle definierte, findet sich direkt zu Beginn der Novelle von Kruse 84 . 80 o.V.: Fra H.C. Andersens „Mit livs eventyr V“ : „Seien Sie, was Sie sind, bleiben Sie der Natur und der Wahrheit treu, halten Sie die Seele rein und das Herz für immer froh. Bleiben Sie Däne, wo immer auch dänisch gesprochen wird, und Europäer, wenn Sie Dänemark wieder sehen.“ 81 Hügel 1978, S. 104: „Trotz seines enormen Fleißes (Goedekes Verzeichnis seiner Werke umfaßt ohne seine früher erschienenen dänischen Schriften zu nennen - 111 Nummern) blieb seine finanzielle Lage zeitlebens mittelmäßig, zuweilen war sie sogar weniger als das.“ 82 Ebd. 83 o.V.: Regensburger Wochenblatt. Dreizehnter Jahrgang. Regensburg: Christoph Ernst Brenk´s Wittwe, 1823. S. 473. 84 Kruse, Laurids: Der krystallene Dolch. In: ders. Der krystallene Dolch und Die Rose. Hamburg: Herold, 1823. S. 03-85. Hier: S. 08: „Unsere gute Stadt 412 <?page no="425"?> Die Kriminalgeschichte wird, ähnlich wie „Maria Schweidler, die Bernsteinhexe“ (1843) von Wilhelm Meinhold, von einem Geistlichen erzählt. Seine Notizen, in denen diese Geschichte zu finden ist, werden erst nach seinem Tod gefunden, sodass die Erzählung eine große Analepse darstellt, die im Sinne Eberhard Lämmerts als aufdeckende Rückwendung bezeichnet werden kann. Auch dieses Element findet sich in Meinholds Werk. Wie andere Autoren der Kriminalliteratur bedient sich Kruse der Figur eines kirchlichen Würdenträgers als Aufklärer eines Kriminalfalls, da mit dieser Person grundsätzlich gewisse moralische Werte verbunden werden, die keine ausschweifenden Erklärungen benötigen und es damit ermöglichen, das Erzählkonstrukt knapp und übersichtlich zu gestalten 85 . Sein Amt legitimiert in gewisser Weise seine Aussagen und damit ist die Figur aus moralischer Sicht ähnlich wie die Figur der Madame de Scuderi konzipiert. Die Erzählung beginnt mit einem Vorwort, indem die Geschichte als Nachlass eines Geistlichen erklärt wird. Sein gesellschaftliches Engagement, ganz speziell die Verbesserung von Haftbedingungen, wird von seinen benachteiligten Erben bisher falsch aufgefasst, wie diese Geschichte nun beweisen soll. Sie soll sein Ansehen rehabilitieren und die üble Nachrede verstummen lassen. Damit ähnelt diese Einführung und der bereits hier genannte Wahrheitsanspruch den einleitenden Worten des „Geistersehers“. Der Leser aber versteht die ganze Tragweite und den Grund dieser Worte erst, nachdem er die Geschichte bis zur letzten Zeile gelesen hat. Somit schafft es Kruse mit diesem Kunstgriff, seiner Novelle einen stimmigen und allumfassenden Rahmen zu geben. Hier wird wieder das Whodunit mit einer die gesamte Erzählung umfassende Divination bezüglich mehrerer Fragen kombiniert. Das besondere an dieser Erzählung ist die straffe Handlungsführung und der direkte Einstieg mit einem Mord, den der Geistliche, ganz so wie die beiden Amateurdetektive bei Poe, aus der Zeitung erfährt 86 . Der Unterschied zu Poe ist aber der, dass die Tat den ist durch ein hier unerhörtes Ereigniß in Schrecken und Besorgnis versetzt.“ 85 An dieser Stelle soll nochmals auf Chestertons berühmt Figur des katholischen Pfarres „Father Brown“ verwiesen werden. 86 Kruse Der krystallene Dolch, S. 08. 413 <?page no="426"?> Abb. 76: Spannungsaufbau in Kruse Der krystallene Dolch (1823) Geistlichen persönlich betrifft, da er sowohl den Verstorbenen sowie den angeblichen Täter kennt. Seine Bekanntschaft motiviert ihn dazu, sich genauer über die Tat zu informieren, nicht etwa die Begeisterung für rätselhafte Verbrechen. Dennoch sind die Elemente, die das Whodunit konzipieren, ihrer Zeit weit voraus: Es gibt einen Toten, eine Tatwaffe und sogar eine Tatzeit, die sich an der zerquetschten Uhr des Opfers ablesen lässt. Die Leiche wird in einem geschlossenen Raum gefunden, sodass nicht klar ist, ob er sich selbst getötet hat oder getötet wurde. Die Tatwaffe ist ein äußerst seltenes Messer aus Kristallglas. Damit zeichnet sich die Erzählung nicht nur durch sämtliche Elemente des modernen Krimis aus, sondern besonders durch das locked room mystery, ein erzähltechnischer Griff, dessen Erfindung in der Literatur eigentlich stets Poe zugeordnet wird 87 . Über den Täter und die Frage, wie er in den abgeschlossenen Raum gelangt sein könnte ist zuerst nichts bekannt. Da der Geistliche über Kontakte zum Präsidenten des Kriminal- 87 Leonhardt 1990: „ ‚The Murders in the Rue Morgue‘ ist nicht nur die erste Detektivgeschichte der Weltliteratur, es ist auch die erste Darstellung eines ‚locked room mystery‘, wie die Engländer das Geheimnis um einen Mord in einem völlig verschlossenen Raum nennen. Diese verwirrende Ausgangssituation [...] klärt Dupin durch [...] ebenso einfache wie logische Überlegung [...]. Dupin kennt ihre [der Augenzeugen] Aussagen nur aus den Polizeiprotokollen und pickt sofort aus den vielen unwichtigen Einzelheiten das einzig Ungewöhnliche heraus.“ 414 <?page no="427"?> Gerichts in D*** verfügt, kann er weitere Informationen generieren 88 . Er reist bald ab, um sich vor Ort als Freund und als Testamentsvollstrecker bei der Suche nach der Wahrheit zu engagieren. Über das Motiv des Mörders werden bereits verschiedene Vermutungen geäußert 89 . Die öffentliche Anklage schwankt zwischen seiner Frau als Täterin 90 und einem Selbstmord. Der Erzähler spielt hier mit echten und falschen Spuren und fordert ausdrücklich die Beteiligung des Lesers 91 . Allerdings hilft wieder der Zufall der Aufklärung des Verbrechens auf die Sprünge 92 . Kruse baut an dieser Stelle ein scheinbar transzendentes Element ein, das auch am Ende der Erzählung eingesetzt wird, um den wirklichen Täter zu bestrafen. Während des Totenzugs wird durch den herabfallenen Sarg eine Tür entdeckt, die in das Zimmer führt, in dem der Mord stattfand 93 . Der Geistliche sucht direkt „Aufklärung darüber“ 94 . An genau dieser Stelle schließt sich am Ende der erzählerische Bogen, da an ebendieser Stelle der wirkliche Täter, Prinz Benno, durch die Kombination von plötzlich einsetzender Naturgewalt und unheimlichem Schicksal vom Pferd stürzt und an dem Geländer zu Tode kommt, an dem der Sarg kollidierte und die Tür enthüllte. Von Anfang an ist der Geistliche davon überzeugt, dass der Tod kein Selbstmord war, doch forscht er nicht etwa weiter, sondern vertraut darauf, dass die Zeit die Wahrheit ans Licht bringt. Schon bald nach der Beerdigung kommt ein zweiter Brief, der seine Vermutung bestätigt 95 . In diesem Brief, der ihn zudem als Testamentsvollstrecker 88 Kruse Der krystallene Dolch, S. 12. 89 Ebd., S. 13-14. 90 Ebd., S. 14: Es wird von einem Streit am Vorabend des Mordes berichtet, scheinbar vermisst sie Papiere im aufgebrochenen Schrank, obwohl sie es abstreitet. 91 Ebd.: „Noch einen kleinen Umstand, fügte er hinzu, kann ich nicht umhin zu erwähnen, wenn es auch nur wäre, um zu beweisen, daß selbst das kleinste Ereigniß für den scharfsinnigen Beobachter von Nutzen seyn kann.“ 92 Ebd., S. 15. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd., S. 17: „Ich war, jedoch aus anderen Gründen, derselben Meinung [dass es kein Selbstmord war], und fing schon an, mich auf die Zeit, die so oft tief Verborgenes an´s Licht bringt, zu vertrösten, als ein zweiter Brief von derselben Hand ankam.“ 415 <?page no="428"?> wieder nach D*** bittet, werden weitere Hintergrundinformationen und mögliche Motive aufgezählt, wie zum Beispiel die Rolle des Prinzen Benno und die Eifersucht des Verstorbenen. Durch Zufall wird ein weiteres Indiz entdeckt, welches sich nicht direkt einordnen lässt und mit weiteren Spuren in Verbindung gebracht werden kann, nämlich ein Knopf, dessen Pendant der Polizeipräsident am Tatort in einer Schublade gesehen hat 96 . Der Polizeipräsident lässt daraufhin eine Wäscherin verhaften, die angibt, den Knopf gefunden zu haben und ihn verkaufen wollte. Da sie aber zu weinen beginnt und in ihren Antworten stockt, so erscheint ihre Aussage verdächtig und sie wird inhaftiert. Mit diesen Informationen schließt der Brief. Die Spannung wird nun dadurch verstärkt, dass der Geistliche erst nach „weniger als 5 Wochen“ in D** ankommt und die gesamte Situation sich bereits deutlich verändert hat. Somit erfolgt nun eine interne Analepse, die diese Ereignisse zusammenfasst. An dieser Stelle wendet sich nun die Essenz der Geschichte von einer Kriminalerzählung zu einem gesellschaftlichen und politischen Statement 97 , was bisher eher mit der Verbrecherliteratur verbunden wurde. Hier kann man Spuren einer Weiterentwicklung erkennen, denn es ist eindeutig, in welcher Tradition diese Darstellung steht. Als der Geistliche eintrifft, wird bereits ein Verdächtiger in ein Gefängnis gebracht, das als menschenunwürdig beschrieben wird. Er erkennt in dem Verdächtigen seinen ehemaligen Zögling Hermann Rose. Die unmenschlichen Haftbedingungen sollen ihm ein Geständnis abpressen und ihn durch die Haft gefügig machen, statt ihn durch eine geschickte Beweisführung des Verbrechens zu überführen. Aufgrund dieser Beobachtungen wird nun der Geistliche vom Verfolger des Verbrechers zum Verteidiger des Angeklagten. Er macht sich über die Lage kundig und erhält die Zusammenfassung der Verhöre der drei Verdächtigen 98 . Insgesamt gibt es drei Verdächtige, deren verschiedene Motive dem Leser präsentiert werden: Eine alte Wäscherin, Hermann Rose und die Frau des Opfers. Ihre verschiedenen Sichtweisen, die in Form von Geständnissen präsentiert werden, nähern sich der eigentlichen Wahrheit, die erst ganz am Schluss der Erzählung 96 Kruse Der krystallene Dolch, S. 20-22. 97 Ebd., S. 24. 98 Ebd., S. 26 ff. 416 <?page no="429"?> durch das Geständnis ans Licht kommt, nur wage an. Interessant ist, dass Kruse immer wieder falsche Spuren auslegt und Hermann als den Täter präsentiert, selbst wenn der Leser durch die subjektive Wahrnehmung des Geistlichen stets den Verdacht hat, dass dies nicht des Rätsels Lösung ist. Die Gegenüberstellung der Aussagen von Hermann und seiner Frau lässt den Leser über die Wahrheit im Unklaren. Hermann verweigert darüber hinaus die Aussage in Bezug auf das bei ihm gefundene Geld 99 . Ihm gelingt nach seiner Inhaftierung eine Flucht, doch er wird schnell wieder aufgegriffen. Da er mit besseren Kleidern und weiterem Geld verhaftet wird, muss es einen Komplizen geben, der ebenfalls erst ganz am Ende der Erzählung entdeckt wird. Der Grund für seine Flucht ist aber kein Eingeständnis seiner Schuld, sondern eine unverhohlene Kritik an dem unzulänglichen Untersuchungsverfahren und den durchführenden Instanzen 100 . Die Kritik am Umgang mit dem Gefangenen wird im weiteren Verlauf hervorgehoben. Die Haftbedingungen, so der Geistliche in seinem Plädoyer 101 , gleichen bereits einer Strafe, zudem immer noch nicht klar ist, ob Hermann wirklich schuldig ist. Auch die wiederholte Verzögerung eines neuen Verhörs wird kritisiert 102 . Was die Erzählung neben dieser Kritik stets spannend hält, ist die Tatsache, dass sich immer wieder Aussagen widersprechen, wie zum Beispiel das erste Teilgeständnis Hermanns 103 und die Aussage 99 Kruse Der krystallene Dolch, S. 35. 100 Ebd., S. 36-37: „‘Weil Ihr nur mein Verderben wollt! Ich habe ja immer die Wahrheit gesagt; allein man will mir nicht glauben. Ihr könntet mich ja so jahrelang gefangen halten; wenn der Mensch nicht von den Gesetzen, sondern von Launen und Unmuth abhangen soll, da muß er ja seine Freiheit suchen! ’ Durch solche Antworten ward das Gericht gereizt, und theils aus Nothwendigkeit, weil wirklich das Gefängniß der Stadt nicht sehr fest war, theils wol auch aus Erbitterung und Ungeduld beschloß man den unterirdischen Kerker mauern zu lassen, wohin er denn auch geführt ward. Auch läßt es sich wol nicht läugnen, daß vielleicht die Hoffnung, durch die Schrecknisse eines solchen Gefängnisses [...], ja selbst durch gewisse nicht ausbleibende Krankheiten, ein endliches Geständniß herbei zu führen, sehr viel zu diesem grausamen Entschluß beitragen mochten, über welchen mein empörtes Gemüth sich vornahm, bei erster Gelegenheit meinen Freund zur Rede zu stellen.“ 101 Ebd., S. 38-41. 102 Ebd., S. 45. 103 Ebd., S. 46. 417 <?page no="430"?> der Gräfin 104 . Diese Aussagen sind in indirekter Rede wiedergegeben und bauen somit keine Nähe zu den Personen auf, da ihre Gefühle und Gedanken nur von außen erklärt werden und der Leser über die Wirklichkeit im Unklaren gelassen wird. Selbst wenn es eine ausgiebige Suche nach Indizien gibt, so fehlt in der Verhandlung doch die explizite Frage nach dem Motiv, die die gesamte Situation in ein ganz anderes Licht gestellt hätte. Nur an einer einzigen Stelle kommt dieser Aspekt zum Vorschein 105 . Vor dem Hintergrund des Wertes des gestohlenen Knopfes, der durch seine „Plumpheit“ dem Polizeipräsident auffällt, ist dies eine geradezu lächerliche Annahme. Aufgrund des fehlerhaften und mit Vorurteilen belasteten Prozesses resigniert Hermann immer mehr 106 und wird schlussendlich zu lebenslanger Festungshaft verurteilt. Eigentlich soll er auf dem Rad hingerichtet werden, aber seine Strafe wird, zum Erstaunen aller, in eine Freiheitsstrafe abgewandelt. Obwohl der Geistliche von der Unschuld Hermanns überzeugt ist, sucht er sein Heil im Vergessen und wird nicht, wie in späteren Kriminalromanen, zum privaten Untersuchungsbeamten, der nachträglich seine Unschuld anhand von Indizien und Beweisen belegt. Erst 14 Jahre später wird sich das Verbrechen aufklären. Dieser Zeitraum wird mit einer Ellipse gänzlich ausgespart 107 . Eingeleitet wird die Auflösung durch den Tod Prinz Bennos, der durch einen 104 Kruse Der krystallene Dolch, S. 49. 105 Ebd., S. 67: „Allerdings blieb es immer unerklärbar, wie der Ermordete in jenes Zimmer gekommen sey, so wie auch das, welche Ursache ihn, den vorher braven, unbescholtenen Jüngling, zu dieser Mordthat verleiten konnte? Die wahrscheinlichste, meinte der Präsident, sey die, daß er nach dem Erbrechen des Sekretärs von dem Erschlagenen überrascht worden sey; da konnte er ja den Dolch aus dem Sekretär genommen haben; doch diesem Umstande maß er keinen unbedingten Glauben bei.“ 106 Ebd., S. 66-67: „‘Laßt mich nur wieder fort, und thut mit mir was ihr wollt, ich merke wol, daß ich schon verurtheilt bin.’ Von diesem Augenblick an läugnete er selbst den Mord nicht ganz mehr, doch gestand er ihn auch nicht ein. [...] Auf eine umständliche Auseinandersetzung, wie Alles zugegangen sey, wollte er sich gar nicht einlassen. Wenn man in dieser Rücksicht in ihn drang, läugnete er den Mord standhaft. Aber alle die schon genannten zusammentreffenden Umstände sprachen laut gegen ihn, so daß man auf kleine, noch unerörterte Zweifel keine Rücksicht mehr nahm.“ 107 Ebd., S. 69. 418 <?page no="431"?> seltsamen Zufall an dem selben Eisengeländer den Tod findet, durch das sich damals die geheime Tür offenbarte. Die Kollegien-Rätin S** bittet nun den Geistlichen wieder zu sich und beichtet kurz vor ihrem Tod, dass sie immer schon mehr wusste, als sie zugegeben hat 108 . Ihre Aussage, dass erst dieser scheinbare Fingerzeig Gottes sie von der Schuld Bennos überzeugt hat, widerlegt sie selbst indirekt später 109 . Somit gibt sie zu, dass sie einen Unschuldigen geopfert hat, um ihr eigenes Ansehen zu retten. Das Motiv der Tat war, dass Prinz Benno mit dem Mord sein Verhältnis zur Kollegien-Rätin S** verbergen wollte. Die moralisch konzipierte Person des Geistlichen steht damit den egoistisch und mitleidslosen Menschen gegenüber, deren bürgerliche Verhältnisse ihn anekeln 110 . Dennoch kann auch er sich nicht den Anforderungen der Gesellschaft vollständig entziehen, denn immer noch spielt die Ehre des verstorbenen Prinz von Benno eine Rolle 111 immer noch wird die Gerechtigkeit dem gesellschaftlichen Stand untergeordnet. Dies erklärt, warum der Geistliche in den kommenden Jahren den höheren Ständen immer wieder mit Verachtung und Hass begegnet 112 . Die Tatsache, dass ihm die Kollegien-Rätin ihr Vermögen vermacht hat, und nicht etwa der Witwe Hermanns, klingt vor diesem Hintergrund schon wie Hohn, denn ihr Opfer ist wieder nur materiell. Durch diese Information schließt sich der Kreis der Erzählung, beide Rätselfragen sind aufgelöst. Die Figur Hermanns ist durchaus tragisch konzipiert, selbst wenn 108 Kruse Der krystallene Dolch, S. 72 ff. 109 Ebd., S. 79-80: „Wenn noch ein Zweifel über die Person des Mörders in meiner Brust zurückgeblieben wäre, mußte er verschwinden, als der Prinz gänzlich ausblieb, und nie mehr mein Haus betrat.“ 110 Ebd., S. 84: „Die Schickung der Vorsehung in meiner Seele erwägend, dunkelte es vor meinen Augen; die bürgerlichen Verhältnisse der Menschen ekelten mich an.“ 111 Ebd.: „Ein öffentlicher Schritt würde Alles vereitelt haben; das Andenken des Prinzen mußte in Ehren gehalten werden; meine Hoffnung beruhte allein auf der Menschlichkeit des Kommandanten.“ 112 Ebd., S. 04: „Die charakteristischen Eigenschaften des Verstorbenen, die bitteren Ausfälle, die er sich öfters gegen höhere Stände, ja selbst gegen hohe Personen, erlaubt hatte, die Verachtung, womit er bestehende Verhältnisse in der Gesellschaft erwähnte, sein Haß gegen Vorrechte und priviligierte Kasten, wurden vielfach besprochen [...].“ 419 <?page no="432"?> er aus moralischer Sicht Verfehlungen zu rechtfertigen hat. Dennoch ist er hauptsächlich ein Opfer seines Standes und der willkürlichen Macht höhergestellter Personen, sowohl die des Prinzen, als auch die der Polizei. Ebenso schweigt er aus Liebe zur Kollegien-Rätin S** bis zu seinem Tod in der Festungshaft über die Affäre und wird von ihr aus gesellschaftlichen Gründen nicht gerettet. Damit wird er zum Sündenbock für höher gestellte Personen. Der gesamte Umfang der Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt, wird dem Leser in aller Eindringlichkeit erst im letzten Satz der Erzählung deutlich. Kruse schafft es also trotz dieser Konzeption seiner Kriminalgeschichte, die die bisherigen Muster aufgreift, aber in entscheidenden Punkten stark weiterentwickelt, den Spannungsbogen bis zum Schluss aufrecht zu halten und eine in sich stimmige und neuartige Form der Kriminalerzählung zu erschaffen. Abb. 77: Verteilung der Erzählelemente in Kruse Der krystallene Dolch (1823) Die Verteilung der Erzählelemente zeigt, dass der Aufbau der Erzählung bereits einem modernen Krimi nahe kommt. Die Erzählung beginnt nach einer kurzen Einleitung mit einem Mord und schon in der Beschreibung des Opfers, das der aufklärenden Person des Geistlichen bekannt ist, versteckt sich bereits ein Hinweis auf einen möglichen Grund für den Mord (Eifersucht). Die Informationen, die der Geistliche von dem befreundeten Präsidenten des Kriminal- 420 <?page no="433"?> Gerichts erhält, verstärken den Verdacht gegen die Ehefrau des Toten. Durch die interne Fokalisierung des Geistlichen und die damit verbundenen Zeitverzögerungen sowie Informationsbeschränkungen bei der Aufklärung werden dem Leser mehrfach in Form von Analepsen Hintergründe und Informationen enthüllt und das Rätsel verstärkt. Doch erst nach vierzehn Jahren wird das Verbrechen durch Geständnisse der daran beteiligten Personen vollständig aufgeklärt, doch die Rettung für den unschuldigen Rose kommt zu spät. Der Geistliche bestätigt die ungerechten Verhältnisse, denn auch er ist der Meinung, dass das Ansehen des Prinzen gewahrt werden muss, obwohl er eine Straftat begangen hat. Abb. 78: Erzählelemente in Kruse Der krystallene Dolch (1823) 421 <?page no="434"?> Anhand der verwendeten Erzählelemente ist erkennbar, dass Kruse sämtliche Spielarten der Aufklärung nutzt. Dabei ist es nicht ganz eindeutig, ob eher der Zufall oder eine transzendente Macht bei der Aufklärung und schließlich bei der Bestrafung beteiligt ist. Die Verrätselung der Tat allerdings ist so aufgebaut wie im modernen Krimi, auch die chronologische Anordnung entspricht diesem Konzept. 9.4 Deduktive Auflösung eines Rätsels: Von Voltaires Zadig (1747, Kf3) zu Hauffs Abner der Jude, der nichts gesehen hat (1825, Kf3) Wilhelm Hauffverfasste nach seinem Theologie- und Philosophiestudium während seiner Anstellung als Hauslehrer in Stuttgart erste Novellen und ein Märchenalmanach, der 1825 veröffentlicht wurde 113 . Neben seinen Märchen wurde er aber vor allem durch seinen historischen Roman „Lichtenstein“ bekannt, der anhand einer erfundenen Figur die wahre Geschichte Herzogs Ulrich von Württemberg und dessen Kampf gegen den Schwäbischen Bund erzählte. Hauffs Werk ist geprägt von patriotischen Ansichten, die an manchen Stellen zum Nationalistischen oder, wie in „Abner der Jude, der nichts gesehen hat“, zum Antisemitischen hin tendieren 114 . Diese Entwicklung lässt sich auch an anderen Werken der Romantik belegen. Hauffs Versuch, Voltaires Erzählung in eine judenfeindliche Erzählung umzugestalten 115 , gelingt ihm aber nicht ganz, denn obwohl die Darstellung des Juden klischeehaft ist, so erzeugt er aufgrund der intellektuellen Überlegenheit durchaus Mitgefühl beim Leser 116 . Da Hauffbereits mit 24 Jahren an einem Nervenfieber verstarb 117 , beläuft sich sein literarisches Schaffen nur auf etwas mehr als zwei Jahre, in denen er aber quantitativ betrachtet viel veröffentlichte. Im Au- 113 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 624. 114 Dies lässt sich auch an seinen Erzählungen Jud Süss und Mittheilungen aus den Memoiren des Satans belegen. 115 Kittstein 2002, S. 29. 116 Ebd. 117 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 624. 422 <?page no="435"?> gust 1825 erschien sein Werk „Memoiren des Satan“, es folgten drei Märchenzyklen, eine Fortsetzung des „Satan“, der historische Roman „Lichtenstein“, die Romanparodie „Der Mann im Mond“, „Phantasien im Bremer Rathskeller“, die polemische „Controvers-Predigt“, Novellen, Prosaskizzen, Rezensionen und Korrespondenzberichte 118 . Dieser Tatsache verdankt er eine recht zwiegespaltene Rezeption: Auf der einen Seite werfen ihm einige „skrupellose Anpassung an den herrschenden Modegeschmack“ 119 vor, andere wiederum sehen in ihm einen genialen Schriftsteller, der „ein kaum faßbares Schaffenswunder“ 120 vollbrachte. Hinz weist zurecht darauf hin, dass beide Thesen die eigentliche literarische Leistung Hauffs durchaus schmälern 121 . Den jungen Hauffbegeisterten die Ritter- und Räuberromane der Leihbibliotheken, mit Vorliebe entschied er sich für diejenigen Bücher, „welche entweder keinen Rücken mehr hatten, oder vom Lesen so fett geworden waren, daß sie mich ordentlich anglänzten“ 122 . Als Mitglied der damaligen deutschen Burschenschaft „Germania“ und dem Freundschaftsbund der „Feuerreiter“ genoss er den Zusammenhalt und die Verschiedenartigkeit der Mitglieder, welche diesen Zirkeln aus politischen Gründen angehörten. Besonders bei den „Feuerreitern“ nutzte er die Gelegenheit, erste literarische Werke, in Form von witzigen Gelegenheitsgedichten und satirischen Prosatexten, seinen Freunden vorzulesen. Kittstein weist darauf hin, dass Hauffs „phänomenaler Aufstieg, sein Umgang mit den verschiedenen literarischen Institutionen und seine Strategien der Selbstdarstellung“ 123 bereits 118 Hinz 1989, S. 07. 119 Ebd. 120 Engelhard, Hermann: Wilhelm Hauff - Leben und Werk. In: Hauff, Wilhelm (Autor); Engelhard, Hermann (Hrsg.): Werke in zwei Bänden. 2. Band: Novellen, Prosa, Briefe. Stuttgart: Cotta Verlag, 1962. S. 919-945. Hier: S. 943. 121 Hinz 1989, S. 08: „Dem Autor wird die bewußte Anstrengung, dem Werk die dynamische Entwicklung abgesprochen beide stehen gewissermaßen bereits im Ansatz fertig da. Aus dem gedrängten und widerspruchsvollen Nacheinander der kurzen Lebens- und Schaffenszeit wird ein flaches Zugleich.“ 122 Klaiber, Julius: Wilhelm Hauff. In: Lindau, Paul (Hrsg.): Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift. Fünfter Band.. Berlin: Georg Stilke, 1878. S. 212-236. Hier: S. 218. 123 Kittstein 2002, S. 12. 423 <?page no="436"?> analysiert wurden, der Facettenreichtum seines eigentlichen Werks aber selten in seiner Gesamtheit dargestellt wurde. An dieser Stelle kann ebenfalls nur auf eine kleine Randnotiz seines Schaffens eingegangen werden, die aber für die vorliegende Fragestellung durchaus von Bedeutung ist. Trotz der Konzentration auf die Teilerzählung „Abner, der Jude der nichts gesehen hat“ kann damit skizziert werden, wie seine drei Märchenalmanache Themen und Umsetzungen widerspiegeln, die aufgrund seiner Arbeit als Berufsschriftsteller den Geschmack des Publikums abbildeten 124 , durchaus aber eigenständige Umsetzungen dieser literarischen Moden zeigen. Es ist für die vorliegende Fragestellung aufschlussreich, dass sich hier ein ungewollter Mord 125 , eine, wenngleich kopierte, detektivisch anmutende Deduktion bei Abner und eine Rahmenhandlung im Stil der Räuberromane 126 finden, welche neuartig bearbeitet wurden. Dennoch wäre es zu einfach, Hauffnur als einen belanglosen Polyscribenten abzutun, der literarische Moden aus finanziellen Gründen aufgriff. Auch wenn er eine Vorliebe für Populärliteratur besaß, so zeigt doch seine Satire „Der Mann im Mond“, in der er sich auf die Erzählung „Mimili“ des Trivialautors Heinrich Clauren bezieht und deren Stil durch Nachahmung lächerlich macht, dass er sich durchaus kritisch mit den populären Strömungen auseinandersetzte und seinen eigenen Stil zu entwickeln versuchte. Die Erzählung „Abner der Jude, der nichts gesehen hat“ 127 greift die „philosophische Parabel über den Gegensatz von Geist und 124 Kittstein 2002, S. 13: „Zum einen lassen sich an seinem poetischen Schaffen fast alle literarische Moden der zwanziger Jahre studieren, die Hauffimmer wieder mit sicherer Hand aufgriff und auf seine Art weiterentwickelte; zum anderen besaß er die Fähigkeit, im Medium der Dichtung auf die prägenden Erfahrungen und Ängste seiner Zeitgenossen zu reagieren und der Verunsicherung, die durch die großen Transformationsprozesse der beginnenden Moderne ausgelöst wurde, literarisch entworfene Modelle bürgerlicher Selbstverständigung und Selbstvergewisserung entgegenzuhalten.“ 125 Hauff, Wilhelm: Die Geschichte von der abgehauenen Hand. In: ders.: Romane, Märchen, Gedichte. Stuttgart: J.G. Cotta´sche Buchhandlung Nachf., 1961. S. 613-626. 126 Hauff, Wilhelm: Das Wirtshaus im Spessart. In: ders.: Romane, Märchen, Gedichte. Stuttgart: J.G. Cotta´sche Buchhandlung Nachf., 1961. S. 774-915. 127 Hauff, Wilhelm: Abner der Jude, der nichts gesehen hat. In: ders.: Sämtliche Märchen. München: Winkler Verlag, 1970. S. 140-146. 424 <?page no="437"?> Macht“ 128 von Voltaire auf, die sich im dritten Kapitel 129 des Werkes „Zadig ou la destinée - Histoire orientale“ 130 (1747) des französischen Aufklärers wiederfinden lässt. Messac bezeichnet das dritte Kapitel des „Zadig“ sogar als die erste bekannte Detektivgeschichte 131 . Zadigs geistige Fähigkeiten stehen in einem starken Kontrast zum Denken der Außenwelt und dies ist der Grund, warum er tragischerweise leiden muss. Dennoch beginnt die literaturhistorische Entwicklung dieses Erzählstoffes nicht mit Voltaire. Er bezieht sich mit seinem „Zadig“ auf das Werk „Voyages et aventures de trois princes de Sarendip“ des Chevaliers de Mailly, der, folgt man der Argumentation von Edmond Locard und Léon Lemonnier, sich auf arabische Märchen des 9. Jahrhundert, auf Texte des Talmud aus dem 3. Jahrhundert und sogar auf griechische Texte bezieht 132 , eine Ansicht, die auch Régis Messac vertritt. Von den beiden erstgenannten Texten stammen daher die Begriffe zadiguisme oder serendipity der französischen Forschung zu diesem Thema, die das induktive Erörtern eines Problemfalls und dessen Einbindung in einen Spannungsbogen bezeichnen 133 . Messac kommt das Verdienst zu, die Ursprünge des französischen roman policier ebenfalls in Texten aufzuspüren, die weit vor Poe und dem in der französischen Forschung als Vorgänger Doyles bezeichneten Schriftstellers Émile Gaboriau (1832-1873) einzuordnen sind. Ähnlich wie in der deutschen Forschung 134 wird dieser Forschungsansatz dagegen von Marc Lits abgelehnt, da allein der Ansatz bereits als unwichtig eingestuft wird und angeblich dem 128 Kittstein 2002, S. 29. 129 Voltaire: Der Hund und das Pferd. In: ders. Zadig oder das Geschick. Eine morgenländische Geschichte. Leipzig: Insel Verlag, 1950. S. 11-14. 130 Die Erzählung wurde von Voltaire zuerst als Memnon - Histoire orientale bezeichnet. Der Titel des Werkes wurde ins Deutsche frei mit Zadig oder das Schicksal eine Geschichte aus dem Orient übersetzt. Das Werk thematisiert religiösen Fanatismus und Machtmissbrauch und bezieht sich dabei auf die französische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. 131 Buchloh & Becker 1978, S. 6-7. 132 Lits 1999, S. 32. 133 Ebd. 134 So zum Beispiel Mirko Schädel, welcher die Einbeziehung von Werken wie Kafkas Prozess oder Dostojewskis Schuld und Sühne als eine künstliche Aufwertung des Genres bezeichnet, da sie „keineswegs auch nur im entferntesten Kriminalromane sind“ (Schädel 2006 (I), S. 08). 425 <?page no="438"?> Versuch dienen soll, das Genre zu legitimieren 135 . Als weiteren Text, der sich auf die Struktur des „Zadig“ bezieht, nennt Lits „Gaieté de l´amateur français“, welcher von Beaumarchais 1776 verfasst wurde. Allerdings sieht er den wirklich eindeutigsten Vorläufer der Erzähltradition Poes in William Godwins „Caleb Williams“ 136 aus dem Jahr 1794. Da er im Folgenden das 19. Jahrhundert zu seinem Forschungsgebiet erhebt 137 , soll er an dieser Stelle hauptsächlich deshalb genannt werden, da sich in diesen Diskussionen eben die gleichen Probleme und Differenzen wie in der deutschen Forschungsliteratur aufzeigen lassen. Ebenso ist es ihm ein Anliegen, die Ursprünge dieses Genres eben nicht nur in England zu verorten, sondern sie in der französischen Literatur nachzuweisen 138 . Die Erzählung „Abner der Jude, der nichts gesehen hat“ ist stark an ein Kapitel aus Voltaires „Zadig“ angelehnt. Dabei übernimmt Hauffhauptsächlich Strukturelemente und, für diese Arbeit ganz entscheidend, die darin enthaltene Deduktion, die eines Sherlock Holmes würdig gewesen wäre. Dabei verändert er aber einige Elemente. So verlegt er den Schauplatz der Erzählung nach Marokko, während Voltaires Erzählung in Babylon, also dem heutigen Irak, angesiedelt ist. Damit hat Hauffaber den orientalischen Raum beibehalten. „Zadig oder das Schicksal“, welches zuerst als „ Memnon - Histoire orientale“ betitelt war, erzählt die Geschichte eines jungen und reichen Babyloniers, der über verschiedene Stationen seines Lebens schlussendlich durch himmlische Fügung Frieden und Glück findet. Die Darstellung verbirgt hinter der märchenhaft anmutenden Erzählung handfeste Gesellschaftskritik, die durch die Ansiedlung im orientalischen Raum der Zensur möglichst wenig Angriffsfläche bot. Es geht hierbei um Willkür, Amtsmissbrauch und Habgier, 135 Lits 1999, S. 32: „De la même manière, la recherche d´origines lointaines du roman policier, longuement détaillées par Régis Messac, si elle est la preuve d´une érudition sans faille et d´une documentation remarquable, ne nous semble pas nécessaire pour identifier ou légitimer le genre étudié.“ 136 Ebd. 137 Ebd., S. 33: „Nous préférons pour notre part limiter les explications extrinsèques à l´histoire du genre et mettre l´accent, ce qui a peu été fait de manière systématique, sur les origines de celui-ci dans le substrat littéraire français du XIXe siècle.“ 138 Ebd. 426 <?page no="439"?> aber auch religiösen Fanatismus und die Frage nach Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang steht das Kapitel „Der Hund und das Pferd“ in Voltaires Werk, das die Vorlage für Hauffs Märchen ist, und im Folgenden direkt mit diesem verglichen werden soll. Mit einer Tabelle und Übersichten zur Verteilung der Erzählelemente kann deutlich aufgezeigt werden, wie die Deduktionen von Hauffaufgegriffen, inhaltlich aber in einen ganz anderen Kontext gestellt wurde. 427 <?page no="440"?> Tabellarischer Vergleich der chronologischen Reihenfolge der Erzählabschnitte von Voltaires Zadig und Hauffs Abner der Jude Voltaire Hauff 1. Scheidung und Rückzug an die Ufer des Euphrats 139 Vorstellung des erzählenden Sklavens 2. Zadigs Studium der „Eigentümlichkeiten der Tiere und Pflanzen“ 140 Beschreibung Abners, der spazieren geht 141 3. Die entlaufene Hündin der Königin 142 • auffallende kleine spanische Wachtelhündin • vor kurzem geworfen • hinkt (linker Vorderfuß) • sehr lange Ohren Das entlaufene Pferd des Kaisers 143 • bester Galoppläufer • kleiner Huf • Hufeisen aus vierzehnlötigem Silber • blonde Mähne • fünfzehn Fäuste hoch (österreichisches Maß für Pferde, = 1,58 m) • Schweif von dreieinhalb Fuß • Stangen des Gebisses aus dreiundzwanzigkarätigem Gold 139 Voltaire Zadig, S. 11. 140 Ebd. 141 Hauff Abner der Jude, S. 140. 142 Voltaire Zadig, S. 12. 143 Hauff Abner der Jude, S. 140-141. 428 <?page no="441"?> 4. Das entlaufene Pferd des Königs 144 • vortreffliches Galopp • fünf Fuß lang • kleiner Huf • Schweif von dreieinhalb Fuß • Buckel an seinem Gebiß aus dreiundzwanzigkarätigem Gold (fast rein) • Eisen aus elflötigem Silber Der entlaufene Schoßhund der Kaiserin 145 • kleine Wachtelhündin • vor kurzem geworfen • lange Ohren • Federschwanz • hinkt (rechter Vorderfuß) 5. Verurteilung durch die Versammlung des großen Desturham: Knute und lebenslängliche Verbannung nach Sibirien beide Tiere werden wiedergefunden, trotzdem Verurteilung zu einer Geldstrafe (400 Unzen Gold) 146 Verurteilung durch den Kaiser Muley Ismael: 50 Schläge auf die Fußsohlen, wird ausgeführt bevor die Tiere wiedergefunden werden, doch Abner wird sein Benehmen vorgeworfen (ebenfalls unbegründet) und nach der Deduktion werden 50 Zechinen von ihm gefordert 147 144 Voltaire Zadig, S. 12. 145 Hauff Abner der Jude, S. 141. 146 Voltaire Zadig, S. 12-13. 147 Hauff Abner der Jude, S. 142. 429 <?page no="442"?> 6. Deduktion Zadigs (vor dem Gericht) • Einleitung: „Sterne der Gerechtigkeit, Abgründe der Weisheit, Spiegel der Wahrheit, die ihr die Schwere des Bleies, die Härte des Eisens, den Glanz des Diamanten und gar große Verwandtschaft mit dem Golde besitzet, da mir verstattet ist, vor dieser erlauchten Versammlung zu sprechen...“ 148 • Spuren im Sand (Hund) • Abdrücke von Pferdehufen • sieben Fuß breiter Weg, Staub von den Bäumen gefegt (Rückschluss auf Schwanzlänge) • Gebiß an Stein gerieben (Prüfstein) • Abschürfungen an Kieseln bieten Rückschluss auf Silber Deduktion Abners (vor dem Kaiser) • Einleitung: „Großmächtigster Kaiser, König der Könige, Herr des Westens, Stern der Gerechtigkeit, Spiegel der Wahrheit, Abgrund der Weisheit, der du so glänzend bist wie Gold, so strahlend wie der Diamant, so hart wie das Eisen, höre mich, weil es deinem Sklaven vergönnt ist, vor deinem strahlenden Angesichte seine Stimme zu erheben.“ 149 • Spuren im Sand (Hund) • Spuren des Pferdes im Gehölz • Pferderasse: Tschenner • Silber am Stein • sieben Fuß weiter Baumgang, Staub von den Bäumen gestreift (Rückschluss auf Schwanzlänge) • frisch abgerissene Blätter (Höhe des Pferdes) • Büschel blonder Haare • Goldstrich an der Felswand (Probierstein) • wird vom Kaiser in seiner Deduktion unterbrochen • Strafe: 50 Stockschläge werden als 50 Zechinen verrechnet, muss weitere 50 Zechinen bezahlen 148 Voltaire Zadig, S. 13-14. 149 Hauff Abner der Jude, S. 142-144. 430 <?page no="443"?> 7. Der entlaufene Sträfling • Staatsgefangener flieht und kommt unter Zadigs Fenster vorbei: er schweigt, denn er hat erkannt „wie gefährlich es zuweilen sei, gelehrt zu sein" 150 • wird zu einer Strafe von 500 Unzen verurteilt, muss sich dafür bei seinen Richtern für ihre Nachsicht bedanken (Brauch) Der entlaufene Sträfling • bei einem weiteren Spaziergang trifft Abner auf mehrere Bewaffnete, die den schwarzen Leibschützen des Königs (Goro) suchen • er wird erkannt und soll mit seinen Fähigkeiten den Soldaten den Weg weisen: er hat aber nichts gesehen, wird zu einer Aussage gezwungen, die er auf gut Glück äußert 151 • 24 Stunden später wird er am Sabbat festgenommen und vor den Kaiser gebracht, der ihn ausschimpft und mit 100 Stockschlägen auf die Fußsohle und 100 Zechinen dafür bestraft, dass er die Soldaten in die falsche Richtung geschickt hat • der Spaßmacher bietet ihm am Ende an, dass er ihn immer eine Stunde vorher warnen kann, wenn nochmals der Kaiser etwas verliert (gegen Geld) selbst der Spaßmacher steht gesellschaftlich über ihm 150 Voltaire Zadig, S. 14. 151 Hauff Abner der Jude, S. 145. 431 <?page no="444"?> Hauffverändert die Vorlage Voltaires, die von einem heterodiegetischen Erzähler berichtet wird, in eine Erzählung, die von einem homodiegetischen Erzähler auf intradiegetischer Erzählebene vorgetragen wird. Dies geschieht in Form einer metadiegetischen Erzählung, die zusammen mit der Erzählung von den jungen Leuten und dem alten Mann in eine Rahmenhandlung um das Schicksal von Ali Banu und seinem entführten Sohn eingebettet ist. Die Überschriften weisen ebenfalls eine grundsätzlich andere Konzeption auf: Voltaire betitelt ganz simpel die Auslöser des Konflikts, Hauffdagegen betitelt die Tatsache, dass Abner eigentlich nichts gesehen hat und nur aus den Spuren den Ablauf rekonstruieren kann. Eine Änderung nimmt Hauffin Bezug auf den entlaufenen Sträfling vor. Bei Voltaire sieht Zadig den entlaufenen Sträfling, verweigert aber die Aussage, um sich zu schützen. Bei Hauffwird Abner zu einer Vermutung gezwungen, die sich als falsch herausstellt und für die er bestraft wird. Es zeigt sich im direkten Vergleich, dass Hauffdie Reihenfolge der entlaufenen Tiere vertauscht hat, sonst aber alle Beschreibungsmerkmale beibehalten und um einige kleinere Aspekte erweitert hat. So wird die entlaufene Hündin zum Beispiel noch über ihren „Federschwanz“ charakterisiert, das Hufeisen des Pferdes ist aus vierzehnlötigem statt elflötigem Silber und er gibt selbst die Größe des Pferdes an. Darüber hinaus sind es die entlaufenen Tiere der Kaiserin und des Kaisers, nicht wie bei Voltaire des Königspaars. Bei der Verteidigung Abners lassen sich sogar beinahe wörtliche Übernahmen feststellen 152 . Die Charaktere von Zadig und Abner sind grundverschieden. Während Zadig eher naiv und gutgläubig sich mit reinem Herzen den Herausforderungen der Welt stellt, wird Abner ganz typisch für antisemitischen Tendenzen der Zeit der Entstehung als schmutzig, 152 Voltaire Zadig, S. 13: „Sterne der Gerechtigkeit, Abgründe der Weisheit, Spiegel der Wahrheit, die ihr die Schwere des Bleies, die Härte des Eisens, den Glanz des Diamanten und gar große Verwandtschaft mit dem Golde besitzet, damir verstattet ist, vor dieser erlauchten Versammlung zu sprechen...“; Hauff Abner der Jude, S. 142: „Großmächtigster Kaiser, König der Könige, Herr des Westens, Stern der Gerechtigkeit, Spiegel der Wahrheit, Abgrund der Weisheit, der du so glänzend bist wie Gold, so strahlend wie der Diamant, so hart wie das Eisen, höre mich, weil es deinem Sklaven vergönnt ist, vor deinem strahlenden Angesichte seine Stimme zu erheben.“ 432 <?page no="445"?> verschlagen und nur auf Profit bedachter Händler charakterisiert 153 . Ebenfalls ist die Grundlage der Deduktionsfähigkeit in beiden Fällen verschieden. Nach seiner Trennung von seiner Frau Asora zieht sich Zadig an die Ufer des Euphrats zurück. Dort „erforschte er mit Hingebung die Eigentümlichkeiten der Tiere und Pflanzen und erwarb gar bald eine so große Scharfsichtigkeit, daß er hundert Unterschiede dort wahrnahm, wo alle anderen Menschen nur Gleichförmigkeit zu entdecken vermochten“ 154 . Dabei klammert er bewusst jegliche kommerzielle Orientierung seiner Überlegungen aus 155 . Abner dagegen kennt sich aufgrund seiner Geschäfte gut mit Tieren aus 156 . Ebenso ist seine Gewohnheit, sich nach glänzenden Dingen zu bücken, der Grund dafür, dass er den Goldgehalt des Gebisses und den Silbergehalt des Hufes bestimmen kann 157 . Schlussendlich muss er die Geldstrafe bezahlen und „während er stöhnend und seufzend eine [Zechine] nach der andern aus dem Beutel führte, jede noch zum Abschiede auf der Fingerspitze wog, höhnte ihn noch Schnuri, der kaiserliche Spaßmacher [...]“ 158 . Den dritten Konflikt, der entlaufenen Sträfling, baut Hauffinhaltlich ganz anders aus: Während Zadig den entflohenen Staatsgefangenen sieht, darüber aber schweigt, trifft Abner auf bewaffnete Männer, die den schwarzen Leibschützen des 153 Hauff Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven, S. 140: „Er schreitet einher, mit der spitzen Mütze auf dem Kopf, in den bescheidenen, nicht übermäßig reinlichen Mantel gehüllt, nimmt von Zeit zu Zeit eine verstohlene Prise aus der goldenen Dose, die er nicht gerne sehen läßt, streichelt sich den Knebelbart, und, trotz der umherrollenden Augen, welche ewige Furcht und Besorgnis und die Begierde, etwas zu erspähen, womit etwas zu machen wäre, keinen Augenblick ruhen läßt, leuchtet Zufriedenheit aus seiner beweglichen Miene; er muß diesen Tag gute Geschäfte gemacht haben; und so ist es auch.“ 154 Voltaire Zadig, S. 11-12. 155 Ebd., S. 11: „Dort befaßte er sich nicht damit, zu berechnen, wieviel Unzen Wassers in einer Sekunde unter einem Brückenbogen durchfließen, oder ob im Mausmonat ein Kubikmeter mehr Regen fällt als im Hammelmonat. Er verfiel auch nicht auf den Gedanken, Seide aus Spinnweben und Porzellan aus zerbrochenen Flaschen herstellen zu wollen [...].“ 156 Hauff Abner der Jude, S. 143: Ist es ja noch nicht vier Monate, hat mein gnädigster Kaiser einem Fürsten in Frankenland eine ganze Kuppel von dieser Race verkauft, und mein Bruder Ruben ist dabeigewesen [...].“ 157 Ebd., S. 144. 158 Ebd., S. 145. 433 <?page no="446"?> Königs suchen. Er wird von den Soldaten erkannt und zu einer Aussage gezwungen. Da er nichts gesehen hat, weist er ihnen auf gut Glück den Weg und wird, da es der falsche war, einen Tag später am Sabbat festgenommen und zu 100 Stockschlägen auf die Fußsohle und zu 100 Zechinen verurteilt. Die Geschichte endet damit, wie er unter dem Gelächter und dem Hohn des kaiserlichen Spaßmachers aus dem Palast hinkt. Selbst wenn die Erzählung Hauffs auf den ersten Blick eher wie ein Plagiat als wie eine Transposition wirkt, zeigt die genaue Betrachtung, dass er eine Art Spiegelung von Voltaires Episode aus dem „Zadig“ vorgenommen hat. Dies betrifft sowohl die Inhalte wie auch den Aufbau der Erzählung, bis hin zum Gesamtkontext. Dabei ist es demgegenüber interessant, dass er den Aspekt der Deduktion beibehalten hat, der später ja Grundlage der finalen Auflösung in den modernen Kriminalgeschichten wurde. Gustav Schwab weist kurz nach dem Tod Hauffs darauf hin, dass diese Märchen, „deren ursprünglicher Stoffzwar größtenteils nicht ihm selbst angehört, die jedoch mit so freiem Phantasiespiele behandelt und dabei doch so schön abgerundet sind, daß sie auch in dieser Beziehung unter seinen Werken obenan stehen“ 159 . Auch wenn der Autor diese Art von Texten, ähnlich wie Schiller seinen „Geisterseher“, als reine Verdienstmöglichkeit ansah, belegt die Struktur und der Vergleich, dass Hauffsich intensiv mit dem Stoff und dessen Umsetzung auseinandersetzte. In Briefen an seinen Verleger und einen befreundeten Herausgeber weist er darauf hin, dass er von diesem Honorar seine Miete bezahlen muss 160 , lehnte aber Dutzende Angebote für modische Novellen, historische Romane oder vermischte Feuilletons ab, „die ihm weit mehr Beifall und Honorar eingetragen hätten“ 161 . Dabei steht sein literarischen Schaffen wie das von Schiller zwischen den Ideen der Aufklärung, der Romantik und denen des zukünftigen literarischen Realismus 162 . In eben diesem Spannungsfeld sind die Anfänge des 159 Schwab, Gustav: Wilhelm Hauff´s Leben. In: Wilhelm Hauff, Wilhelm; Schwab, Gustav (Hrsg.): Sämmtliche Schriften. Band 1. Stuttgart 1830. S. 24. 160 Hinz 1989, S. 125. 161 Ebd. 162 Ebd., S. 136: „Sein kritischer Geist und der ausgeprägte Hang zu satirischer 434 <?page no="447"?> modernen Krimis anzusiedeln. Abb. 79: Verteilung der Erzählelemente in Voltaire Zadig (1747) Abb. 80: Verteilung der Erzählelemente in Hauff Abner der Jude (1825) Opposition weisen ihn als Erben der Aufklärung aus, sein Bemühen um die modernen Erzählgattungen und eine zuweilen unverblümt sachliche Sprache führen ihn an die Schwelle des literarischen Realismus.“ 435 <?page no="448"?> Abb. 81: Erzählelemente in Voltaire Zadig (1747) Anhand der Darstellung der Verteilung der Erzählelemente erkennt man, dass Voltaire eine symmetrische Verteilung der einzelnen Elemente einsetzte. Damit dies besser erkennbar ist, wurde in diesem Fall nur diese Episode im Balkendiagramm dargestellt, da sonst die wesentlich umfangreichere restliche Handlung die Darstellung soweit verzerrt, dass man die Besonderheiten dieser Episode nicht mehr gut erkennen kann. Sowohl die Geschichte der beiden entlaufenen Tiere, wie auch sein rationales Aufklären sind gleich lang (je 8 Zeilen). Ebenso verhält es sich mit den dargestellten Konsequenzen für seine rationale Deduktion (je 13 Zeilen). Aufgrund der Umstände wird Zadig zum Opfer falscher Beschuldigungen und der Willkür der staatlichen Instanzen. Zudem gibt es zuerst keinen Täter, denn in beiden 436 <?page no="449"?> Abb. 82: Erzählelemente in Hauf Abner der Jude (1825) Fällen sind die Tiere entlaufen. Hier ist Zadig zufällig das Opfer, da er anhand von Spuren die entlaufene Tiere genau beschreiben kann. Doch Zadig wird dann zum Täter, als er sein Wissen bezüglich des entlaufenen Sträflings zurückhält, um sich vor der Willkür der Richter zu schützen. Vergleicht man nun die Übersicht mit der Verteilung der Erzählelemente bei Hauff, so erkennt man deutlich, dass er kaum etwas außer der Anordnung der beiden entlaufenen Tiere verändert hat. Selbst die prozentuale Verteilung ist ähnlich, Haufferweitert aber den Umfang der jeweiligen Elemente. Betrachtet man nun die Nutzung der Erzählelemente bei Hauff und Voltaire, so kann man feststellen, dass Hauffdie pejorative 437 <?page no="450"?> Beschreibung des Juden eingefügt hat, die als Grund für seine angebliche Verschlagenheit zu sehen ist. Die antisemitische Argumentation schwankt dabei zwischen angeblich angeborenen Schwächen und einem bestimmten Verhalten, das dieser ethnischen Gruppe zugeordnet wird. Zadig ist dagegen ein rücksichtsvoller und ehrlicher Mensch, der erst von der Gesellschaft zu einem Verbrecher gemacht wird. Ebenfalls anders ist die Aufklärung bezüglich des entlaufenen Sträflings. Abner erfindet eine Geschichte, die von staatlichen Instanzen aufgedeckt wird, Zadig verschweigt sein Wissen, was durch eine nicht näher bezeichnete Instanz angezeigt wird, die wahrscheinlich staatlich ist. Besonders an beiden Darstellungsformen ist, dass es aufgrund der Erzählweise keinerlei Spannungsaufbau gibt, obwohl mit aufdeckenden Rückblenden gearbeitet wird. Daher entfällt an dieser Stelle die entsprechende grafische Darstellung. Die rationale Deduktion rückt die beiden Erzählungen an den modernen Krimi heran, in allen anderen Aspekten aber unterscheiden sie sich davon. Hauffs Erzählung von „Abner dem Juden“ ist in die Rahmenhandlung „Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven“ 163 (1826) eingebettet, die im „Märchenalmanach auf das Jahr 1827“ erschien und im Folgenden näher betrachtet werden soll, um die kunstvolle Einbettung der Erzählung von Abner aufzuzeigen. Von den insgesamt acht Märchen sind nur vier von Hauffselbst verfasst 164 . Hinzu kommt seine Adaption und Bearbeitung des dritten Kapitels von Voltaires „Zadig“. Dies war durchaus eine gängige Praxis und findet sich beispielsweise in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ 165 . Die Konstruktion mit einer Rahmenhandlung wandte er bei zwei weiteren Märchenalmanachen an 166 . Auf primärer Erzählebene handelt das Märchen vom Scheik von Alexandria Ali Banu, der reich ist und in einem großen Palast mit allen nur erdenklichen Reichtümern und Besitztümern lebt. Dennoch bemerkten die 163 Hauff, Wilhelm: Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven. In: ders.: Sämtliche Märchen. München: Winkler Verlag, 1970. S. 104-189. 164 Übernommen wurden Der arme Stephan von Gustav Adolf Schöll, Der gebackene Kopf von James Justinian Morier, Das Fest der Unterirdischen und Schneeweißchen und Rosenrot von Wilhelm Grimm. 165 Vgl. Kapitel 5.4.2. 166 Vgl. Die Karawane (1825) und Das Wirtshaus im Spessart (1827). 438 <?page no="451"?> Menschen, dass er trotz allem Luxus immer niedergeschlagen und unglücklich wirkt. Sie lachen ihn dafür aus, bis ihnen von einem alten Mann „mit unscheinbarem Aussehen“ 167 erzählt wird, dass ihm sein Sohn Kairam von den Franzosen geraubt wurde und seine Frau vor Kummer darüber verstarb. Er suchte ihn in Frankreich und geriet in die Wirren der französischen Revolution, kehrte aber ohne ihn nach Hause zurück. Seitdem lebt er in Trauer und versucht durch Milde gegenüber seinen Sklaven und Geschenke an die Armen bei Allah ein glückliches Schicksal für seinen Sohn zu erwirken. Ein weiser Mann prophezeite ihm, dass am 12. Tag des Ramadans, der Tag seiner Entführung, sein Sohn wiederkehren wird. Daher ist dies eine Art Festtag, an dem er jedes Mal zwölf Sklaven entlässt, die zuvor in einem Gesprächskreis einige Märchen erzählen. Die jungen Leute, die diese Geschichte erfahren haben, werden kurze Zeit darauf von dem alten Mann als Zuhörer in diesen Gesprächskreis eingeschleust, der sich später als Lehrer des entführten Sohnes entpuppt. Auf primärer Erzählebene sind es somit zwei Erzählstränge, die erzählt werden, denn neben der Erzählung über Ali Banu gibt ist es die Erzählung über die Gruppe junger Männer. Ebenso finden sich in dieser Erzählung zwei Formen der metadiegetischen Erzählung. Der Bericht des alten Mannes kann als metadiegetische Erzählung mit explikativer Funktion 168 definiert werden, die Märchen der Sklaven als dritter Typ der metadiegetischen Erzählung, die distraktive Funktion erfüllen. Es ist ein beständiger Wechsel zwischen den metadiegetischen Erzählungen und der Haupthandlung auf primärer Ebene. Hier entwickelt sich schließlich eine Nähe zwischen den jungen Männern und dem Scheich 169 , womit die zuerst voneinander unabhängigen Erzählstränge zusammengeführt werden. Das letzten Märchen, „Die Geschichte Almansor“, stellt zudem eine Verbindung zwischen der nur scheinbar metadiegetischen Erzählung und der primärer Erzählebene her, da es der verschollene Sohn ist, der seine eigene Geschichte 167 Hauff Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven, S. 106. 168 Genette bezeichnet sie als ersten Typ, welche „ein unmittelbares Kausalverhältnis zwischen den Ereignissen der Metadiegese und denen der Diegese“ herstellen. Vgl. Genette 1998, S. 166. 169 Hauff Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven, S. 172-177. 439 <?page no="452"?> erzählt. Damit ist die Erzählstruktur vielschichtig und interessant aufgebaut. Hauffflicht innerhalb der primären Erzählung Diskussionen über das Wesen des Märchens ein und arbeitet damit seine eigenen Reflektionen zu diesem Thema in die Diegese ein. Dies lässt sich an zwei Stellen der Erzählung feststellen 170 . Zuerst erläutert der alte Mann den jungen Männern den Reiz des Märchens. Für ihn ist es vor allem die Andersartigkeit der dargestellten Welt, welche durch das Zuhören „zur Wirklichkeit“ 171 wird, indem sich der „Geist am Faden einer solchen Geschichte über die Gegenwart [erhebt]“ 172 . Der alte Mann setzt sich dafür ein, dass ein Märchen andere Charaktere und Inhalte haben kann, als man normalerweise damit verbindet 173 . Er unterscheidet hierbei grundsätzlich Märchen und Erzählungen, wobei die Handlung des Märchens als „fabelhaft, ungewöhnlich, überraschend“ 174 definiert wird. Der Schauplatz wird in fremde Länder oder fremde Zeiten verlegt und beinhaltet beispielsweise Fabelwesen, die wiederum von Land zu Land unterschiedlich sind. Die Erzählung dagegen zeigt Figuren, deren Vermögen und Zufriedenheit davon abhängt, was sie selbst aus der ihnen gegebenen Situation machen oder welche sonderbare Fügungen ihnen dabei helfen, denn „wunderbar ist an ihnen meistens nur die Verkettung der Schicksale eines Menschen“ 175 . Hierbei ist es vor allem so, dass sich im Märchen das Wunderbare so sehr häuft, „daß die einzelnen Figuren und Charaktere nur flüchtig 170 Hauff Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven, S. 146-148 und S. 150-153. 171 Ebd., S. 147. 172 Ebd.: „Indem Ihr den Erzählungen der Sklaven zuhörtet, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt Ihr selbst auch mitgedichtet, Ihr bliebet nicht stehen bei den Gegenständen um Euch her, bei Euren gewöhnlichen Gedanken, nein, Ihr erlebtet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes Wunderbare begegnete, so sehr nahmet Ihr teil an dem Mann, von dem man Euch erzählte.“ 173 Ebd., S. 151. 174 Ebd. 175 Ebd., S. 152: „Bei dem Märchen liegt dieses Außergewöhnliche in jener Einmischung eines fabelhaften Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben, bei den Geschichten geschieht etwas zwar nach natürlichen Gesetzen, aber auf überraschende, ungewöhnliche Weise.“ 440 <?page no="453"?> gezeichnet werden können“ 176 , in der Erzählung dagegen ist „die Art, wie jeder seinem Charakter gemäß spricht und handelt, die Hauptsache und das Anziehende“ 177 . Dabei ist es wichtig, dass „die einzelnen Figuren richtig gezeichnet sind, und aus ihrem ganzen Wesen alles so kommen muß, wie es wirklich geschieht“ 178 . Somit stellt Hauffan ganz unerwarteter Stelle eine interessante Definition auf, wie eine moderne Erzählung zu konstruieren ist. Die primäre Erzählebene dieses Almanachs ist somit in seinen Augen als Erzählung zu bezeichnen, die einzelnen Geschichten als Märchen, wobei gerade diejenige von Abner sich seiner eigenen Definition entzieht und eher als Anti-Märchen bezeichnet werden kann 179 . Dies hat vor allem mit der antisemitischen Tendenz seiner Darstellung zu tun. Die Essenz seiner Ausführungen ist, dass der Leser besonders diejenige Literatur als unterhaltsam wahrnimmt, welche ihm eine andere Welt vor Augen führt als die, in der er lebt. Diese Distanz zwischen Dargestelltem und dem Erleben des Lesers gilt im übertragenen Sinne auch für die Welt des modernen Krimis. Eine ähnliche Konzeption der Rahmennovelle, in der ein Mordfall berichtet wird, findet sich darüber hinaus in seinem ersten Märchenalmanach „Die Karawane“ (1825) 180 wieder. In der Teilerzählung eines Mitreisenden, des griechischen Arztes Zaleukos, „Die Geschichte von der abgehauenen Hand“ 181 , erzählt dieser, wie er als junger Mann seine Geburtsstadt Konstantinopel verlässt, um sich in Paris zum Arzt ausbilden zu lassen. Als er nach einigen Jahren zurückkehrt, ist sein Vater gestorben, das Haus verödet und der letzte Teil seiner Erbschaft scheinbar gestohlen worden. Da er als Arzt nicht Fuß fassen kann, gewinnt er sein Geld als fahrender Händler und Wunderarzt in Frankreich und verkauft seltene Waren aus seiner Heimat. So gelangt er nach Florenz und wird von einem Unbekannten um Mitternacht zur Ponte Vecchio bestellt. Es erscheint ein vermummter Mann, der 176 Hauff Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven, S. 152. 177 Ebd. 178 Ebd., S. 153. 179 Vgl. dazu die Idee des Anti-Märchens von Lugowski. Siehe Kapitel 2.5.1. 180 Hauff, Wilhelm: Die Karawane. In: ders.: Sämtliche Märchen. München: Winkler Verlag, 1970. S. 12-103. 181 Hauff Die Geschichte von der abgehauenen Hand, S. 613-626. 441 <?page no="454"?> ihm befiehlt, ihm zu folgen. Da Zaleukos sich weigert, ohne weitere Informationen mitzukommen, kommt es zu einem Handgemenge, in dem nur der Mantel des Unbekannten zurückbleibt. Wenig später kommt es zu einem weiteren Treffen, bei dem der junge Mann sich nun dazu bereit erklärt, dem Unbekannten bei einem seltsamen Wunsch zur Seite stehen. Er soll den Kopf seiner angeblich vor kurzen verstorbenen Schwester abschneiden, damit ihn sein Vater, der in „fernen Landen“ lebt, noch einmal sehen kann. Er willigt ein, doch als er dies vollzieht, bemerkt er, dass die Frau noch am leben war und er sie somit getötet hat. Sein Auftraggeber ist verschwunden und er flüchtet sich in seine Wohnung, wo er bald darauf festgenommen wird, da er am Tatort Mütze, Gürtel und Messer vergessen hat. Er wird zum Tode verurteilt, doch ein ehemaliger Freund, Valetty, setzt sich für ihn ein, sodass ihm nur die linke Hand abgeschlagen wird und sein Vermögen konfisziert wird. Erst ganz zum Schluss der eigentlichen Rahmenerzählung, in die diese metadiegetische Erzählung mit explikativer Funktion eingebettet ist, wird der Fall aufgelöst, indem sich der Auftraggeber ihm nach vielen Jahren zu erkennen gibt und die familiären Hintergründe der Tat erklärt. Hier kann man also von einer Kriminalerzählung im weitesten Sinne sprechen, welche durch ein Selbstgeständnis aufgelöst wird. Der Aufbau, den Hauffhierfür wählt, erlaubt es ihm eine Spannungskurve aufzubauen und ähnlich einem Geheimbundroman zu konzipieren. Interessant ist diese Erzählung deshalb, da in ihr das Whodunit vom Mörder auf den Verursacher des Mordes übertragen wurde und erst ganz zum Schluss das Whydunit durch das Geständnis Orbasans aufgelöst wird. In seinem dritten Märchenalmanach „Das Wirtshaus im Spessart“ finden sich schließlich Elemente der Verbecherliteratur. Die Rahmenhandlung wird hierbei durch die Geschichte mehrerer Reisenden konzipiert, die sich zufällig alle zum Übernachten in einem Wirtshaus im Spessart treffen und von einer Räuberbande überfallen werden. Am Werk Hauffs zeigt sich somit, dass das Verbrechen in all seinen Facetten und Darstellungsweisen ein überaus populärer literarischer Stoffwar, der in den verschiedensten Erzählformen zum Einsatz kam. 442 <?page no="455"?> 9.5 Parodie der Verbrechensliteratur: August Graf von Platen Hallermünde - Die verhängnisvolle Gabel (1826, Kf1) Karl August Georg Maximilian Graf von Platen-Hallermünde entstammt einem alten pommerschen Adelsgeschlecht von Rügen und wurde mit 9 Jahren in München an der Offiziersschule der Bayerischen Armee aufgenommen, wo er sich für Sprachen und Geschichte begeisterte. Nach seiner Teilnahme am Frankreichfeldzug erhielt er 1818 unbefristeten Urlaub und studierte Jura und Literatur 182 . Nach einer Anstellung als Bibliothekar in Erlangen ging er freiwillig ins Exil nach Italien, wo er zurückgezogen bis an sein Lebensende lebte 183 . Der Autor, der vor allem für seine Lyrik bekannt war, verfasste einige Dramen, von denen im vorliegenden Zusammenhang eines von besonderem Interesse ist. Das Lustspiel „Die verhängnisvolle Gabel“ ist eine wirkliche Kuriosität auf dem Gebiet der dargestellten Kriminalfälle. Sie thematisiert nämlich nicht nur einen Kriminalfall, sondern befasst sich mit der literarischen Mode der Verbrechensdarstellung, die konsequent lächerlich gemacht wird. Die Betrachtung dieses Theaterstücks bringt keinerlei neue Erkenntnisse bezüglich der Entwicklung der Kriminalliteratur und beinhaltet keinerlei Spannungsaufbau, weshalb wie bei dem vorangegangenen Kapitel auf eine grafische Darstellung davon verzichtet wurde, sondern zeigt, wie ein Vertreter der klassischen Literatur dieses literarische Thema bewertete. Die Handlung beginnt mit der Anklage eines Verbrechens. Damon, der Schultheis von Arkadien, hört Phyllis, die Gattin des Schäfers Mopsus, an, die einen Diebstahl anzeigt. Es handelt sich bei den gestohlenen Gegenständen um das Besteck der Frau, das angeblich von einem Juden, der an diesem Tag durch die Stadt zog und alte Schachteln einsammelte, vom Abendbrottisch gestohlen wurde. Der Verdacht der Frau reicht aus, dass ein Schilling auf seinen Kopf ausgesetzt wird. Ihr Mann konnte den Diebstahl nicht verhindern, da 182 Wilpert 1997 (Autoren II), S. 1192. 183 Ebd. 443 <?page no="456"?> er bloß körperlich anwesend war 184 , während er davon träumte, ein Rittergut zu kaufen. Die Erklärungen der Frau quittiert Damon mit der Bemerkung, dass dies „recht den deutschen Psychologen Stoff“ gäbe 185 . Da der Gatte Phyllis eine Gabel benutzte, um sich die Zähne zu säubern, blieb nur diese übrig und wurde nicht gestohlen. Die Personen sind einseitig konzipiert, sowohl der Schultheiß, der durch seine leicht zu stimulierende Einfältigkeit empfänglich für Schmeicheleien ist 186 , wie auch die Gattin des Schäfers, die ebenso gutgläubig wie gehorsam und voller Bewunderung gegenüber Autoritäten ist. Die Untersuchung des Falls deutet bereits an, dass Äußerlichkeiten dort hinzugezogen werden, wo reine Vernunft herrschen sollte. Dabei scheinen immer wieder Vorurteile des Autors gegenüber Juden durch, die zwei Jahre später den Zwist mit Heinrich Heine auslösen sollten, den Platen wegen seiner jüdischen Herkunft angegriffen hatte. Währenddessen wird Schmuhl, der Jude, von Sirmio ins Zimmer geprügelt und Damon erkennt in ihm freudig seinen alten Studienkollegen. Daraufhin bemerkt Schmuhl trocken: „Oefters vor Gerichte stand ich, selten lief es ab so gut.“ 187 Daraufhin gibt er zu, dass er das Besteck gestohlen hat, da er Alchemist ist und Zinn und Eisen für seine Experimente braucht. Er hofft nun, dass man ihn „der Kleinigkeiten nicht beraubt“ 188 , was ihm gewährt wird, da alles, was die Wissenschaft fördern kann, erlaubt ist, so der Schultheiß. Er weist ihn darauf hin, dass er eine Gabel vergessen hat die Schmuhl ihm daraufhin im voraus „schenkt“. Ähnlich wie im „Zerbrochenen Krug“ scheinen die Positionen vertauscht und der Richter scheint kaum etwas zur Aufklärung beitragen zu wollen. Schmuhl erzählt von einem Gespenst mit dem Namen Salome, das ihm die Lage eines Schatzes verraten hat. Er erzählt ihre Geschichte und wie ihr Ehemann durch eine Gabel den Tod fand. Dann verbündet er sich mit Damon. Nachdem dieser das Zimmer verlassen hat, wirft er seine Verkleidung ab und hält eine Parabase 189 , die eine gnadenlose 184 Platen-Hallermünde Die verhängnißvolle Gabel, S. 07. 185 Ebd., S. 08. 186 Ebd., S. 09. 187 Ebd., S. 11. 188 Ebd., S. 12. 189 Ebd., S. 18 ff. 444 <?page no="457"?> Abrechnung mit den deutschen Theaterschriftstellern und ihrem Publikum ist 190 . Besonders bezieht er sich hierbei auf die Akademiker, die das Schreiben nur als Freizeitbeschäftigung betreiben 191 . Überhaupt ist das ganze Stück durchzogen von einer tiefen Häme gegen das populäre Theater, dessen Publikum und die Intendanten 192 , die Platen immer wieder in die Darstellung einfließen lässt. Sirmio hat das zuvor geführte Gespräch belauscht und eilt auf den Hof des Schäfers Mopsus, um dessen Frau dazu zu bringen, ihn den Schatz heben zu lassen und mit ihm zu fliehen. Kurz bevor dies geschieht, kehrt aber Mopsus zurück und Phyllis fasst den Plan, ihn in der Nacht zu ermorden. Als Mopsus die Kiste von Sirmio genommen und ihn verjagt hat, sie aber nicht öffnen kann, fasst er den Entschluss, Phyllis zu töten. Schmuhl erscheint verkleidet und gibt sich als Robinson Crusoe aus, um dem Schäfer von einem Gebirge zu erzählen, welches wie das Schlaraffenland ist. Mopsus ist begeistert und will dorthin mit ihm aufbrechen, lässt ihn dann aber vor der Tür stehen, um sich wieder dem Schatz zu widmen. Schmuhl ahnt etwas und beschließt, in der Nacht zurückzukehren. Der Schultheiß Damon tritt auf und spricht Schmuhl frei, statt dessen habe eine Elster das Besteck gestohlen. Damon verspricht Phyllis, der ein täglicher Leser der Meißnerschen Kriminalgeschichten 193 ist: „Ja, ich hönnt´euch einen neuern Fall entdecken, Der, als Trauerspiel behandelt, tausend Seufzer würde wecken.“ 194 . Er bezeichnet diese als Ammenmärchen und erzählt statt dessen eine Kriminalgeschichte, die mit einer Elster ihren Lauf nimmt, die einen Ehering stiehlt und die überaus albern und dumm aufgelöst wird und darüber die Zustimmung der anderen 190 Platen-Hallermünde Die verhängnißvolle Gabel, S. 18: „Doch sie wissen, daß in Deutschland, wo nur Gänse werden fett, Nichts die Bretter darf betreten, was nicht hat vor´m Kopf ein Brett [...].“ 191 Ebd., S. 19: „Keiner gehe, wenn er einen Lorber tragen will davon, Morgens zur Kanzlei mit Alten, Abends auf den Helikon: Dem ergibt die Kunst sich völlig, der sich völlig ihr ergibt, Der den Hunger wen´ger fürchtet, als er seine Freiheit liebt.“ 192 Ebd., S. 40: „Stille, stille! lerne lieber nach des Pöbels Pfeife tanzen, Und verehre tief im Staube den Geschmack der Intendanzen! “ 193 Ebd., S. 42. 194 Ebd. 445 <?page no="458"?> erhält. „Wär´es doch schon auf den Brettern! “ 195 , ruft Phyllis. Die Kritik ist unübersehbar und wird deutlich formuliert: „Genire dich nicht! thu was der Instinkt dir gebietet! Man metzelt in neuen Tragödien auch schlechtweg, nach kurzer Versuchung.“ 196 Im vierten Akt hat Mopsus bereits seine gesamte Familie umgebracht und ist mit sich und der Welt zufrieden. Die eigentliche Tat wird in der Darstellung ausgespart. Seine Zufriedenheit schafft eine entsetzliche Spannung zwischen dem was er tut, und wie er darüber denkt. Zusammen mit Schmuhl will er ans Kap der Guten Hoffnung reisen. In einem Gasthof verbringen sie in Verkleidung einer reichen Dame die Nacht. Damon erscheint, da er eine Unterkunft sucht, und wird vom Wirt über den Reichtum des Gastes in Kenntnis gesetzt. Da beschließt er, die Lady mit der Gabel umzubringen, die er zuvor bei der toten Familie von Mopsus gefunden hat. Als er vor dem Zimmer steht, kommt Mopsus heraus und erkennt sowohl die Gabel wie auch Damon. Er erschrickt, da er seinen Tod in einem Traum gesehen hat und ersticht sich selbst, da Damon ihn nicht umbringen kann. Bevor er stirbt, gibt er Anweisung, dass sich Damon und Schmuhl die Kiste teilen sollen. Als sie diese öffnen, erscheint aber nur der Geist Salome. Es stellt sich heraus, dass Salome alle betrogen hat und nur das Geschlecht von Mopsus auslöschen wollte. Das Stück endet mit Versen, die von Schmuhl vorgetragen werden und in denen er nochmals fordert, dass nur diejenigen Werke verfassen sollen, die sich dabei auf die geschichtliche Entwicklung verschiedener Formen beziehen können. Damit lehnt er pauschal die Polyscribenten und ihre Werke ab. Die Verteilung der Erzählelemente zeigt, dass er versucht deren Konzepte aufzugreifen, diese aber nicht effektiv umsetzt und sich eigentlich nur darüber lustig machen will. Platen belegt seine eigene schriftstellerische Kompetenz neben dem Einsatz von klassischen Versmaßen durch ein klar strukturiertes Konzept, das auf die Aristophanische Komödie zurückgeht und sich an den Namen der Figuren erkennen lässt. Der griechische Autor, der in etwa um 450 v. Chr. geboren wurde, war für seine Komödien bekannt, in denen er nicht nur zeitgenössische Personen lächerlich machte, sondern deren literarische Stilmittel aufgriff und verspottete. 195 Platen-Hallermünde Die verhängnißvolle Gabel, S. 45. 196 Ebd., S. 52. 446 <?page no="459"?> Dies wird von Platen an dieser Stelle aufgegriffen und fortgeführt und entspricht somit seinem Anspruch, dass man sich in seinen Werken auf die geschichtliche Entwicklung der Formen beziehen muss. Abb. 83: Verteilung der Erzählelemente in Platen Die verhängnißvolle Gabel (1826) Das Lustspiel von Platen entstand in einem relativ kurzen Zeitraum zwischen dem 19. März und dem 26. April 1826. Der Autor selbst war mehr als nur überzeugt von seinem Werk und lobte es als sein „Meisterstück“, mit dem er „in die Zunft der Unsterblichen einzugehen“ 197 glaubte und dass es „eine neue Epoche [...] in der deutschen Literatur beginnen wird“ 198 . Dabei betont Platen, dass er keine politischen Themen in seiner Komödie behandle, sondern „Theaterthorheiten“ sowie „die Scholastiker und andere Narren“ 199 darstelle, womit er sich besonders auf die romantischen Schriftsteller bezieht. Diese Darstellung sei seit Aristophanes nicht mehr in der 197 Wolf, G.A.& Schweizer, D.: Einleitung des Herausgebers. In: Platen, August Graf von; Wolf, G.A.& Schweizer, D. (Hrsg.): Platens Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Zweiter Band. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, o.J. (wahrscheinlich 1895). S. 03. 198 Ebd. 199 Ebd. 447 <?page no="460"?> Abb. 84: Erzählelemente in Platen Die verhängnißvolle Gabel (1826) Welt versucht worden 200 . Auch die Ansprachen an das Publikum in Form der Parabase orientiert sich an antiken Konzepten. Wolf und Schweizer weisen darauf hin, dass sein Werk dennoch im direkten Vergleich mit Aristophanes nicht seinen hohen Ansprüchen gerecht wird, da sich dieser besonders durch die Darstellung politischer und sozialer Missstände auszeichnete 201 . Wie sein griechisches Vorbild übte sich Platen in beißender literarischer Kritik. In diesem Punkt geben die Herausgeber zu bedenken, dass der Wirkungskreis von Platen nicht im Ansatz mit dem von Aristophanes verglichen werden 200 Wolf & Schweizer o.J., S. 03. 201 Ebd., S. 05. 448 <?page no="461"?> kann und die literarische Qualität eher im formalen Bereich zu finden ist, wobei er selbst hier an einigen Stellen hinter seinem Vorbild zurück bleibt. Platen verspottet von den Meißnerschen Verbrechergeschichten über die Schäferdichtung bis hin zur Schauerliteratur große Teile der damaligen Populärliteratur und deren in seinen Augen dilettantischen Verfasser. Doch die niederste Art der Schriftsteller sind die, so Platen, die in den Schicksalstragödien „das erschlaffte und abgestumpfte Interesse des Publikums durch jedes erlaubte und unerlaubte Mittel anzustacheln suchte“ 202 . An einem „verfluchten Tag“ oder durch einen „rein äußerlichen Gegenstand, wie ein Messer, eine Sense, einen Dolch“ 203 kommen die Figuren nun zu Schaden und begehen, „einem unwiderstehlichen Zwange folgend“ 204 , schreckliche Verbrechen. Ein Schriftsteller wie Adolf Müllner wird als „ehrsüchtig“ und „habgierig“ beschimpft, da er den großen Publikumswirkung seiner Stücke nutzte, um weitere Werke zu verfassen. Schillers, Goethes und Grillparzers 205 Einfluss auf diesen Bereich der Literatur können die Herausgeber Wolf und Schweizer nur schwer 202 Wolf & Schweizer o.J., S. 06. 203 Ebd. 204 Ebd. 205 Eigentlich bekannt für seine vielen Theaterstücke, findet sich im Werk Grillparzers auch eine Rahmennovelle, die der Verbrecherliteratur zuzuordnen ist. In Das Kloster bei Sendomir (1828) erzählt Franz Grillparzer die Geschichte zweier Boten, die in einem Kloster Herberge finden. Sie befragen einen Mönch, der ihnen Feuer macht, nach der Geschichte des Klosters. Gebaut wurde das Kloster vom Vermögen des Grafen Starschensky, der mit einer Frau verheiratet war, mit der er eine Tochter hatte. Er entdeckt aber nach einiger Zeit, dass diese nicht von ihm ist, sondern von einem ehemaligen Liebhaber seiner Frau. Daraufhin stellt er sie vor die Entscheidung, das Kind oder sich selbst umzubringen. Als die Frau das Kind töten will, wird sie vom Grafen davon abgehalten und getötet, denn seine Aufforderung war eine Prüfung der moralischen Werte seiner Frau. Danach zündete er das Gebäude an, an dessen Stelle heute das Kloster steht, gab seine Tochter in die Obhut einer fremden Familie und verschwindet. Durch einen anderen Mönch erfahren die beiden, dass der Erzähler selbst der Graf war, der sich nach diesen Ereignisse in diese Kloster begeben hat. Am nächsten Morgen reisen die beiden weiter, damit endet die Erzählung. Diese Erzählung entdeckt sich dem Leser erst am Ende als eine Verbrechererzählung, wenn sich im Spiel zwischen der Rahmenhandlung und der metadiegetischen Ebene die Deckungsgleichkeit zwischen Erzähler und Hauptfigur herausstellt. 449 <?page no="462"?> einordnen 206 . Die Wirkung seines Stückes war durchaus positiv, selbst aus dem „angegriffenen Lager erklang komischerweise sein helles Lob“ 207 , die vom Autor erwartete Langzweitwirkung blieb aber aus. In diesem Kontext kann das Stück als Beispiel dafür dienen, wie konservative Schriftsteller auf die Aufnahme des Verbrechens als literarisches Thema reagierten. Es war längst eine neue Zeit angebrochen, die einige Schriftsteller nicht wahrhaben wollten und das Thema fand sich plötzlich in literarischen Strukturen, in denen es wie ein Fremdkörper erschien. Manche konnten dies nicht wirklich akzeptieren und Platen kann als Vertreter dieser Gruppe gesehen werden, für die er an dieser Stelle stellvertretend angeführt wird. Einer der Autoren, die er heftig angriff, verfasste aber eine Kriminalerzählung, die in Bezug auf die vorliegende Fragestellung wichtig ist und die nun im folgenden Kapitel Teil der Untersuchung ist. 9.6 Anfänge der Forensik: Adolph Müllner - Der Kaliber (1828, Kf3) Amadeus Gottfried Adolph Müllner 208 war ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Kritiker, der auf Wunsch seines Vaters von 1796 bis 1798 Rechtswissenschaften in Leipzig studierte 209 . Nach Ende seines Studiums arbeitete er bis 1815 als Advokat in Weißenfels 210 . 1810 gründete er ein Laientheater 211 , für das er sechs Intrigenlustspiele nach französischen Vorlagen schrieb. Von diesen waren „Der 29. Februar“ (1812) und „Die Schuld“ 212 (1813) so erfolgreich, dass er 1815 seine Arbeit als Advokat niederlegen konnte und freier Schriftsteller wurde. Diese beiden Stücke waren bis 1830 präsent auf deutschen Bühnen und Goethe setzte sie 1814 selbst in Weimar auf den Spielplan. Die Hauptrollen dieser Stücke gehörten damals zum Repertoire 206 Wolf & Schweizer o.J., S. 07. 207 Ebd., S. 08. 208 Auch: „Modestin“. 209 Wilpert 1997 (Autoren II), S. 1063. 210 Ebd. 211 Ebd. 212 Auf diese Stücke bezieht sich Platen ganz ausdrücklich in der oben vorgestellten Kritik. 450 <?page no="463"?> reisender Virtuosen 213 . Damit begründete er die, unter anderem von Platen so kritisierte, Mode der Schicksalstragödie, die auch in den Anmerkungen der Herausgeber von Platens Werken erwähnt wird 214 . Killy bezeichnet, wie viele andere seiner Kritiker, die Konstruktion seiner Tragödien als „scheintragisch“, da sich die Katastrophen einer Beeinflussung von Außen entziehen und „an bestimmte Tage, Orte und Gegenstände gebunden“ 215 sind. Doch genau in dieser überkonstruierten Macht des Schicksals ist die Grundidee des modernen Krimis zu entdecken, die nur durch einen Deus ex Machina aufgelöst werden konnte und deren Darstellung sich eher in der Prosa als im Drama realisieren ließ. Durch die Entwicklungen der Literatur in der Romantik und aufgrund neuer Wege der Veröffentlichung tendierten die Autoren zudem eher dazu, kürzere Texte zu verfassen 216 . Ein Beispiel dafür ist „Der Kaliber“. Dies Erzählung wurde in zwölf kleinere Kapitel unterteilt, die sukzessive in Müllners Magazin „Mitternachtsblatt für gebildete Stände“ veröffentlicht wurden, das er zwischen 1826 und 1829 herausgab. In der ersten Buchausgabe von 1829 beschwert sich Müllner vor allem über diejenigen Zeitschriften, die sein Werk bereits unerlaubt nachgedruckt hatten und erklärt vor diesem Hintergrund die schnelle Veröffentlichung in Buchform. Zudem bemerkt er, dass „Der Kaliber“ besonderen Anklang bei der weiblichen Leserschaft gefunden hatte, trotz der „rechtswissenschaftlichen Spitzfindigkeiten, auf welchen sowohl die Verwicklung als der Ausgang der Geschichte beruhen“ 217 . Doch Müllner muss auch davon berichten, dass sein Plädoyer für eine öffentliche Justizausübung auf wenig Gegenliebe stieß. Gerade 213 Killy, Walther: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 8. Band. 2., vollst. überarb. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter, 2008. S. 284 214 Siehe dazu Kapitel 9.5. 215 Ebd. 216 Mayer, Heike: Nachwort. In: Müllner, Adolph: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten. Waging am See: Liliom Verlag, 2002. S. 117-125. Hier: S. 120: „In der deutschen Literatur war es nicht die Epoche großer Romane, sondern kürzerer oder längerer Erzählungen, die Zeit von Grimms Märchen, Hebels Kalendergeschichten und der Novellenkunst, die durch die Romantiker auf einen Höhepunkt geführt worden war.“ 217 Müllner, Adolph: Vorwort. In: ders.: Müllner´s Novellen. Erster Theil. Leipzig: Carl Focke, 1829. S. III-XIV. Hier: S. VII. 451 <?page no="464"?> Hitzig, einer der Herausgeber des „Neuen Pitaval“, äußerte seine Bedenken, da er um den Wirkungskreis des Autors weiß. Doch Müllner betont, dass er damit keineswegs die „Acten-Justiz“ verurteilen will und empfiehlt den Einsatz eines Schwurgerichts besonders in Fällen von „sogenannten politischen Vergehungen“ 218 Diese Erzählung setzt schnell in die Handlung ein und schon nach einer kurzen Einführung konzentriert sie sich auf einen Mord und dessen Aufklärung. Der Kriminalbeamte, der im Untertitel erwähnt wird und aus dessen Feder die fiktive Geschichte stammt, die er als homodiegetischer Erzähler präsentiert, ist wie auch seine späteren literarischen Kollegen durch die „Grille“ gekennzeichnet, eine gewisse morbide Vorliebe für das Verbrechen und dessen Aufklärung zu besitzen. So sitzt er zu Beginn der Erzählung an seinem Schreibtisch und „sehnt“ sich nach einem Mord 219 . Allerdings bewegt ihn vor allem seine Arbeit als Kriminalrichter dazu, dies zu äußern, denn sein Antrag auf militärische Unterstützung zur Säuberung des Waldes wurde abgelehnt, sodass er neues Blutvergießen durch die Räuber befürchtet 220 : „Daher meine Sehnsucht nach dem Corpus delicti eines Mordes, je kühner, grausamer und empörender, desto besser. 221 Ein erneuter Mord würde ihm endlich die gewünschte Unterstützung ermöglichen. Er versinkt in „ergötzlichen Träumen“ 222 , in denen er sich das Leben und Handeln der Räuber im angrenzenden Wald vorstellt 223 . Aus diesen Träumen reißt ihn sein Diener, der ihm Ferdinand Albus ankündigt, der einen Mord anzeigen will. Die Reaktion des Kriminalbeamten auf die Anzeige des Mords belegt, dass es doch nicht nur seine Arbeit ist, die ihn antreibt, sondern auch sein „kriminalistisches Herz“ 224 . 218 Müllner Vorwort, S. XII. 219 Müllner, Adolph: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten. Waging am See: Liliom Verlag, 2002. S. 07-08.: „Einen solchen [Mord] zu entdecken, im Scheidewalde eine mit Wunden bedeckte Leiche aufheben zu können, war mein sehnlicher Wunsch, und so paradox das auch klingen mag ich darf ihn menschenfreundlich nennen.“ 220 Ebd., S. 08. 221 Ebd. 222 Ebd., S. 09. 223 Auch die Anspielungen auf Schillers Räuber (Ebd., S. 08) und Vulpius‘ Rinaldo Rinaldini (Ebd., S. 09) deuten in diese Richtung. 224 Ebd., S. 24. 452 <?page no="465"?> Dies zeigt sich in seiner ersten Befragung von Ferdinand 225 . Diese Charakterzeichnung, die der des modernen Detektivs ziemlich nahe kommt, wird im weiteren Verlauf der Erzählung fortgeführt 226 . Das Verhör, dass zu einer ersten Ermittlung des Tathergangs dienen soll 227 , ist in direkter Rede wiedergegeben und präsentiert dem Leser Ferdiands Version des Tatablaufs. Der Ermordete ist sein Bruder, den er zu Fuß durch den Wald begleitete, da dieser in „M...“ seine Schulden bezahlen wollte. Als sich Ferdinand kurze Zeit entfernt, wird sein Bruder von einem Räuber überfallen und in ein Handgemenge verwickelt. Kurz darauf fällt ein Schuss, der den Bruder tödlich in der Brust trifft. Der Räuber flieht daraufhin. Auf dem Weg zum Schauplatz des Verbrechens kommen dem Kriminalbeamten erste Zweifel an dieser Version des Ablaufs, als Ferdinand bemerkt, dass er kurz nach den Ereignissen an einen Selbstmord dachte 228 . Dieser Verdacht, den der Leser aufgrund der Fokalisierung parallel mit dem Kriminalrichter entwickelt, wird nun systematisch verfolgt, indem die Reaktionen Ferdinands von außen beschrieben werden 229 . Nach der theatralischen Darstellung am Tatort und seiner Ohnmacht wird der Verdacht, dass Ferdinand selbst der Mörder sein könnte, konkret geäußert um den Leser auf diese Spur zu bringen: „Auch der unwürdige Verdacht, daß der Zeuge des Mordes selbst der Mörder seyn könnte, tauchte aus dem Gewirr derselben auf, und wollte sich dem Verstande aufdringen, während ihn das bewegte Gemüth mit Unwillen zurückwies. [...] Der greuliche Verdacht hatte im Grund nichts, worauf er sich stützen konnte, als das Übermaaß [sic] von dem Schmerze des Ferdinand Albus, und die Apostrophe an eine Mariane. 225 Müllner Der Kaliber, S. 10: „‘Wo? ’ frug ich rasch, und unfehlbar mit einem Tone, der ihn befremden mußte, da derselbe besser zu meiner obenerwähnten Sehnsucht nach einer Leichen-Aufhebung, als zu seinem Entsetzen passen mochte.“ 226 Ebd., S. 32: „Sie lenkte dasselbe [Gespräch] auf meinen Beruf, und indem sie nach den Mitteln fragte, durch welche ich hoffen könnte, Heinrichs Mörder zu entdecken, hob sie mich unvermerkt auf das Steckenpferd aller Criminalisten.“ 227 Ebd., S. 11-13. 228 Ebd., S. 15: „Das Eingeständniß eines solchen Gedankens [an Selbstmord] fiel mir auf. Dieser Grad von Verzweiflung schien dem Falle nicht angemessen.“ 229 Als ein Bote beispielsweise die Nachricht bringt, dass die Leiche gefunden wurde, zeigt Ferdinand keinerlei Reaktion (Ebd., S. 16). 453 <?page no="466"?> Diese mußte mir, der ich beide Brüder vorher kaum dem Namen nach gekannt hatte, nothwendig dunke seyn.“ 230 Im gleichen Atemzug aber relativiert der Erzähler seine Überlegungen als natürliche Reaktion eines Kriminalrichters 231 . Man nimmt als Leser durch die Erzählperspektive eines homodiegetischen Erzählers stets an dessen Schlussfolgerungen teil, sodass die Aufdeckung der Wahrheit wie bei „Das Fräulein von Scuderi“ an den Erkenntnisgewinn des untersuchenden Kriminalrichters gekoppelt ist. Seine Deduktionen kommen zwar zu keinem neuen Schluss, aber sie lassen Platz für Vermutungen. Bis zum Ende der Erzählung befindet sich damit der Leser auf Augenhöhe mit Kenntnissen des Kriminalbeamten, was für den Spannungsbogen von erheblicher Bedeutung ist 232 . Die Leichenöffnung und Überprüfung der Todesursache wird im Folgenden beschrieben 233 , das Terzerol, das Ferdinand verloren hat, wird aber nicht gefunden. Am nächsten Tag, noch ehe der Bote zurück sein konnte 234 , kommen die von Ferdinand bereits erwähnte Mariane und ihr Vater an, wobei der Vater durch „ungeduldige Ängstlichkeit“ 235 und das Zittern seiner Hand auffällt. Im Gespräch ergibt sich viel über Ferdinand und seine geistige Verfassung wie auch über das Verhältnis zu Mariane. Der Vater, der im weiteren Verlauf besonders durch fehlende Anteilnahme auffällt 236 , gibt schließlich den entscheidenden Hinweis, dass Mariane und Ferdinand ein Liebespaar sind 237 . Überhaupt glänzt diese Familie in ihrem Verhalten durch 230 Müllner Der Kaliber, S. 17-18. 231 Ebd., S. 18. 232 Mayer 2002, S. 123: „Mit der Form der Ich-Erzählung, die sich jeglicher vorausschauenden Hinweise auf die dem Erzähler selbst ja bereits bekannte Auflösung des Falls konsequent enthält, befindet der Leser sich jeweils auf dem gleichen Ermittlungs- und Kenntnisstand wie der Ermittler zum Zeitpunkt des Geschehens. Hieraus entsteht die Spannung der Handlung.“ 233 Müllner Der Kaliber, S. 19. 234 Ebd., S. 22. 235 Ebd., S. 23. 236 Ebd., S. 28: „Herr Brand hatte sich indessen ruhig am Fenster niedergelassen, und las in den Hamburger Zeitungen, die er dort gefunden hatte. [...] Herr Brand erhob sich mit einer Art von Unwillen über die Unterbrechung seiner Lectüre und folgte zuletzt, als ich Marianen nach dem Zimmer des Kranken führte.“ 237 Ebd., S. 26. 454 <?page no="467"?> „Abgeschmack“ 238 und übertrieben heftige Gefühlsäußerungen. Der Erzähler merkt an, dass die Reise, die ins Unglück führte, schnell beschlossen wurde, was den Verdacht gegen Ferdinand wieder aufleben lässt 239 . Auch die Tatsache, dass die Waffe nicht gefunden wird und Ferdinand der einzige nachweislich mit Schusswaffen ausgestattete Beteiligte an der Situation war, beunruhigt den Kriminalbeamten 240 . Diese Vermutung wird sich später bestätigen. Aufgrund der Ereignisse und mithilfe des nun zur Verfügung stehenden Jägerregiments wird der Wald durchsucht und eine Bande und deren Hehler in den Nachbardörfern festgenommen. Im Laufe der folgenden Monate bildet sich eine Freundschaft zwischen Mariane, Ferdinand und dem Kriminalrichter, man verkehrt regelmäßig miteinander und das Verbrechen scheint erledigt. Der Verdacht des Erzählers und der des Lesers driften auseinander 241 . Plötzlich aber bekennt sich Ferdinand zu dem Brudermord 242 , der aber, wie sich im anschließenden Bericht zeigt, im Streit und nicht vorsätzlich geschehen ist. Während aber Ferdinand nicht erkannt hat, dass nicht er, sondern ein dritter den Bruder tödlich traf, wird er von dem Sterbenden darauf hingewiesen 243 . Dieses Indiz aber kann der Leser erst bei der zweiten Lektüre erkennen. Damit setzt Müllner ein weiteres erzählerisches Element des modernen Krimis ein, den double-twist - Effekt, der als eine überraschende Wendung der Handlung dann eingesetzt wird, wenn der Leser bereits glaubt, alle Zusammenhänge richtig verstanden zu haben 244 . Um die Irreführung des Leser zu 238 Müllner Der Kaliber, S. 26. 239 Ebd., S. 30. 240 Ebd., S. 31: „Er hatte, als nächster Verwandter des Ermordeten, über dessen Leiche zu verfügen. Auch waren die Leute noch nicht zurück, die ich am Morgen in den Wald gesendet hatte, um Ferdinands Terzerol aufzusuchen. Für meine Acten war dieser Umstand von einiger Bedeutung. Es war immer ein bewaffnet gewesener Mann, welcher mir die Anzeige des Mordes gemacht hatte, ohne Auskunft geben zu können, wo dieses tödliche Werkzeug, welches er gegen den entfliehenden Räuber gebraucht haben wollte, hingekommen sei.“ 241 Mayer 2002, S. 123. 242 Müllner Der Kaliber, S. 57. 243 Ebd., S. 63: „Rette dich dich Ferdinand“, stammelte er, „dort dort ein Räuber nicht du eile! Unsere Ehre unser Name zeig´ es an, fort fort! “ 244 Mayer 2002, S. 122: „Auf dem Weg zur Auflösung fehlt bei Müllner auch 455 <?page no="468"?> vervollständigen, merkt der Kriminalrichter an, dass sich dieses Geständnis mit dem Leichenfund im Einklang befindet 245 . In seiner doppelten Rolle als Richter und Freund der Beteiligten ist nun der Erzähler plötzlich überaus befangen und versucht durch geschicktes Fragen im Verhör Ferdinand von vorsätzlichem Totschlag freizusprechen, womit er von seiner untersuchenden Funktion plötzlich zum Verteidiger wird 246 . Der Grund der Enthüllung ist überaus bemerkenswert, denn es ist ein Theaterstück des Autors selber. Müllner bezieht sich auf seine erfolgreiche Tragödie „Die Schuld“, in dem der Graf von Örindur seinen eigenen Bruder im Wald erschießt, da er sich eines Nebenbuhlers entledigen will. Der gleiche Konflikt führt in diesem Fall aber zu anderen Konsequenzen. Die Anspielung darauf und der vermutete Verdacht dürfte dem damaligen Publikum ohne weiteres verständlich gewesen sein. Der Verweis auf sich selbst geschieht mit einem Augenzwinkern des Autors, die Katharsis bringt Ferdinand dazu ein Geständnis abzulegen. Am Höhepunkt der Handlung und im Moment der Peripetie verlässt er mit dem Ausruf „Schaffot“ das Theater, flüchtet in sein Zimmer und gesteht Mariane, die hinter ihm herläuft, dass er seinen Bruder getötet hat 247 . Diese erklärt sich bereit ihn zu verteidigen, aber der Erzähler weist darauf hin, dass es in Deutschland dazu mehr baucht als Liebe 248 . Im weiteren Verlauf der Erzählung übt Müllner nun Kritik am Rechtssystem, da er ihm die Möglichkeit abspricht, unbefangen über Schuld und Unschuld zu entscheiden 249 . Damit ist der Erzähler der nicht der später besonders bei Agatha Christie unverzichtbare double twist - Effekt, jene überraschende Wendung, die ein Geschehen nimmt, nachdem sich dem Leser doch bereits eine dem Anschein nach überzeugende Lösung dargeboten hatte.“ 245 Müllner Der Kaliber, S. 62. 246 Mayer 2002, S. 123: „Damit gehört der Ermittler einem Typus an, für den es in der Geschichte der modernen Detektivgeschichte [...] zahlreiche Beispiele gibt.“ 247 Müllner Der Kaliber, S. 69. 248 Ebd., S. 71: „Er muß schriftlich vertheidiget werden, auf der todten, weißen Fläche, vor ausgetrockneten Gemüthern, vor eiskalten Actenrichtern.“ 249 Mayer 2002, S. 125: „Der Zweifel daran, ob Form und Methode des herrschenden Rechtssystem immer dazu geeignet sind, die diffizile Frage nach Schuld oder Unschuld eines Menschen zu beurteilen, das ist vielleicht der 456 <?page no="469"?> eigentlichen Geschichte eine Art Gegenentwurf zu den „Actenrichtern“, denn er sieht das juristische Verfahren durchaus als Problem an, zumal die wirklichen Hintergründe einer Verhaftung selbst bei einem Freispruch nicht an die Öffentlichkeit gelangen 250 . Die Strafe an sich wird als gesellschaftlicher Tod dargestellt, nicht nur für den Verurteilten, sondern auch für sein gesamtes gesellschaftliches Umfeld, selbst dann, wenn sich später herausstellen sollte, dass der Angeklagte eigentlich unschuldig ist 251 . Nun wird eine weitere Figur eingeführt, die ebenfalls auffällig durch einige Elemente der späteren literarischen Detektivfiguren gekennzeichnet ist, der Advokat Rebhahn. Als schrullige und kauzige Person kontrastiert er den ermittelnden Richter und diese Kombination, sowie die Hervorhebung der intellektuellen Fähigkeiten des Partners und seine Vorliebe für verzwickte Kriminalfälle 252 , erinnern an das klassische Ermittler-Duo Doyles 253 . Dazu zählt auch, dass er bereits mit allen Einzelheiten des Falles vertraut ist, als ihn der Kriminalrichter aufsucht 254 . Durch den homodiegetischen Erzähler, der dem rational agierenden und klugen Rebhahn gegenübergestellt wird, entsteht eine ähnliche erzählerische Konstellation wie zwischen Watson und Holmes. Als sie bei der näheren Untersuchung der Tatwaffe entdecken, dass der nicht abgeschossene Lauf zwei Kugeln enthält, die Waffe aber nur mit insgesamt zwei Kugeln geladen wurde, erkennt Rebhahn direkt, dass jemand anders den tödlichen Schuss abgegeben haben muss und eilt davon, um seine Vermutung zu überprüfen. Der Kriminalbeamte bleibt verdutzt zurück und muss sich Kern jener unerhörten Begebenheit dieser frühen ‘Detektiv-Novelle’“. 250 Ein Problem, auf das bereits Hippel hinweist und die Öffentlichkeit der Prozesse fordert. Vgl. Kapitel 5.5. 251 Müllner Der Kaliber, S. 101-102: „Er hatte nicht an eine rechtlich entehrende (infamirende) [Strafe], sondern an ein solche gedacht, welche in der Meinung der Menge herabsetzt. Und das thut, die Geldstrafe etwa ausgenommen, jede ; wenigstens in den Ländern der geheimen oder Acten-Justiz, wo das bestrafte Vergehen und die Umstände desselben nur Wenigen bekannt werden, und die Beschränkung der Preßfreiheit dem Sträflinge nicht gestatten, Viele damit bekannt zu machen.“ 252 Ebd., S. 75: „Prächtiger Fall! ’ rief er aus. ‘Eine Grenzlinie zwischen Absicht und Zufall, That und Unfall, wie die Schneide eines Rasiermessers.“ 253 Mayer 2002, S. 122. 254 Müllner Der Kaliber, S. 74. 457 <?page no="470"?> in zweifacher Hinsicht beeilen hinterher zu kommen. Ein Vergleich mit dem gefundenen Projektil beweist im Folgenden, dass die Kugel, die den Bruder Ferdinands umbrachte, zu groß für die angebliche Tatwaffe ist 255 . Seine Schlussfolgerungen werden schließlich durch das Geständnis einer der gefangenen Wilddiebe und die Übersendung seiner Pistole und des Siegelrings von Ferdinands Bruder bestätigt und der Fall aufgelöst 256 . Der wahre Tathergang ist in diesem Fall ähnlich absurd, wie derjenige der ersten Detektiverzählung Poes: Die Waffe Ferdinands entlud sich im Streit durch einen Schlag, war aber nicht scharf geladen. Zur gleichen Zeit feuerte der Wilddieb seine Waffe ab, dessen Projektil den Bruder tötete. Das Rätsel 257 ist damit durch ein rationales dénouement vollständig gelöst, nach anfänglichen Problemen akzeptiert Ferdinand diesen Tathergang. Die Tatsache aber, dass aufgrund des Projektils die Wahrheit herausgefunden werden konnte, war eine absolute Neuigkeit auf dem Gebiet der Kriminalistik und wurde später ein wichtiger Teilbereich der Forensik. Somit ist an dieser Stelle die Verbrechensliteratur der Realität ein Stück weit voraus, ähnlich wie es bei Poes Kurzgeschichte zum Fall der Marie Rogêt war. Ferdinand wird vom Gericht vollkommen freigesprochen und die Liebenden werden vermählt. Sie wandern nach Amerika aus, just nach Philadelphia, wo Poe von 1838 bis 1844 lebte. Die Erzählung endet mit dem Wahrheitstopos. Mariane bittet Müllner, diese Geschichte zu erzählen 258 . Dieser erzähltechnische Griffwird dann vom Autor im letzten Kapitel nochmals bestärkt. Der Aufbau der Erzählung ähnelt in vielen Aspekten dem einer klassischen Detektivgeschichte. Die typisch analytische Erzählweise folgt dem Schema „Kriminalfall - Ermittlung - Lösung“ 259 , die Lösung des Rätsels wird in Form von aufdeckenden Rückwendungen präsentiert. Der Mord steht als ein zentrales Element am Beginn der Erzählung und wird durch die Vorlieben der Erzählfigur her- 255 Müllner Der Kaliber, S. 84. 256 Ebd., S. 92-93. 257 Ebd., S. 94. 258 Ebd., S. 105: „Ich möchte wahrhaftig manchmal wünschen, daß unsere Geschichte in Deutschland bekannt, ich meine, gedruckt würde, es könnte doch für manche unbändigen Liebhaber einen Nutzen haben.“ 259 Mayer 2002, S. 121. 458 <?page no="471"?> vorgehoben. Auch die klassischen Elemente wie die Indiziensuche, die Tatortuntersuchung, die Befragung von Augenzeugen und Verdächtigen sowie der Versuch der beiden untersuchenden Personen, den Tatablauf korrekt und anhand von Beweisen zu rekonstruieren, nehmen Poes Konzept in mehreren Teilen vorweg. Deutlich zu erkennen ist, dass die Aufdeckung der Handlung durch ein kontinuierliches Spiel zwischen der Beschreibung des vermeintlichen Täters und weiteren Enthüllungen spannend gestaltet wird. Zentral für die Rätselfrage und den Spannungsaufbau ist das Whodunit, das aber nur bis zur Mitte der Erzählung gehalten wird. Dafür bereitet die frühe Aufdeckung den Weg für den Einsatz des double twist, der mit der forensischen Untersuchung verknüpft ist. Abb. 85: Anordnung der Erzählelemente in Müllner Der Kaliber (1828) Abb. 86: Spannungsaufbau in Müllner Der Kaliber (1828) Mayer weist aber zurecht darauf hin, dass die Figurenkonzeption 459 <?page no="472"?> des ermittelnden Kriminalbeamten zwar einem modernen Detektiv gleicht, sich aber deutlich von einem übermenschlich erscheinenden Holmes oder Lord Peter Wimsey unterscheidet, da er „fehlbar ist“ und sich, statt distanziert zu ermitteln, „gefühlsmäßig in seinen Fall verstrickt“ 260 . Diese Figurenkonzeption findet man später aber beispielsweise bei Glausers Kommissar Studer, dessen Erfinder die unrealistische Konzeption des modernen Krimis ablehnt. Auch wenn selbst die interne Fokalisierung und die Distanz zum Wissen Rebhahns, dass er teilweise nur in Form einer Analepse serviert bekommt, eine interessante Spannung herstellt, so sind die Wahrnehmungen und Beurteilungen stark durch die Reflexionen und Gefühle des Erzählers gefärbt und stehen teilweise in einem Gegensatz zu den Schlüssen, die der Leser zieht. Obwohl sich in Müllners Erzählung einige erzählerische Elemente des modernen Krimis nachweisen lassen, sind diese keineswegs der alleinige Kern der gesamten Konzeption. Vielmehr ist die Inszenierung der Figuren und die Handlung um die Liebenden dem Geschmack des zeitgenössischen Publikums geschuldet und steht gleichberechtigt neben dem eigentlichen Kriminalfall 261 , teilweise überdeckt dieser Erzählaspekt sogar den kriminalistischen Erzählstrang. Das Verhalten Ferdinands kann vor diesem Hintergrund durchaus als Distanzierung des Autors von seinem eigenen Publikum gewertet werden, welches die überzogenen Darstellungen des Theaters in ihre eigene Lebenswirklichkeit aufnahmen 262 . Dies führt so weit, dass Ferdinand nur mit Mühe von seiner Unschuld überzeugt werden kann und damit ein scheinbar Schuldiger von seiner Unschuld überzeugt werden muss, was die eigentliche Konzeption einer klassischen Detektivgeschich- 260 Mayer 2002, S. 122. 261 Ebd., S. 117: „Schriftstellerisch virtuos versteht Müllner es, den zeitgenössischen Leser(innen)geschmack zu bedienen, indem er dem Handlungsmuster von empfindsam-pathetischer Figureninszenierung, Gefährdung der Liebenden, bedingungsloser Hingabe und glücklichem Ausgang folgt.“ 262 Ebd., S. 118: „Auch die Figurenzeichnung des exaltierten, sich theatralisch gebärdenden, geradezu von einem Theaterwahn besessenen Ferdinand Albus kann als ein verborgen kritischer Hinweis gelesen werden: auf den geistigen Zustand einer Zeit, die charakteristischerweise eine besondere Vorliebe für melodramatische Schicksalstragödien hegt.“ 460 <?page no="473"?> te umkehrt 263 . Dies kann der Grund sein, warum „die Erzählung im Konstrukt der transnationalen Genregeschichte allenfalls eine Nebenrolle“ 264 spielt. Auch in diesem Fall werden Elemente der Kriminalliteratur mit Darstellungen der Verbrecherliteratur verknüpft, die sich besonders an der Kritik am Rechtssystem nachweisen lässt. Müllners Kritik an den bestehenden Untersuchungsmethoden und der oftmals vorschnellen Verurteilung Unschuldiger rührt daher, dass sich die Angeklagten „vor ausgetrockneten Gemüthern, vor eiskalten Actenrichtern “ 265 verantworten müssen. So bemerkt der Kriminalbeamte, dass er Schwierigkeiten erwartet, die Richter von der „Willenlosigkeit“ des Totschlags überzeugen zu können, da sie zu oft nur nach den äußerlichen Tatsachen urteilen 266 . Die Empathie, mit der der Erzähler am Schicksal Ferdinands und Marianes teilnimmt, bietet eine Gegenperspektive, die schließlich der Grund dafür ist, dass sein Leben gerettet wird, da er den Advokaten hinzuzieht, der die ausschlaggebenden Beweise entdeckt. Somit ist der eigentliche Kern der Erzählung vielmehr „der Zweifel daran, ob Form und Methode des herrschenden Rechtssystems immer dazu geeignet sind, die diffizile Frage nach Schuld oder Unschuld eines Menschen zu beurteilen“ 267 und steht damit in der Tradition der frühen deutschen Verbrecherliteratur. Erst mit der Auflösung dieses Kerns und der Unterdrückung der juristischen Aspekte gelingt es Poe, das Rätsel 263 Mayer 2002, S. 125: „In mancherlei Hinsicht reicht Müllners Novelle über das reine Schema der Detektivgeschichte hinaus, nicht zuletzt in der Umkehrung des ‚klassischen‘ Handlungselementes ‚Überführung des Schuldigen‘ - Ferdinand muss seiner Unschuld überführt werden.“ 264 Linder, Joachim: Gründungsszenen der Genreliteratur. Adolph Müllners Erzählung Der Kaliber (1828/ 1829) am Beginn der deutschen Krimigeschichte. In: Conter, Claude D. (Hrsg.): Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 2009, 15. Jahrgang. Literatur und Recht im Vormärz. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2010. S. 105-121. Hier: S. 106. 265 Müllner Der Kaliber, S. 71. 266 Ebd.: „Ich mag es Ihnen nicht verhehlen, daß es Schwierigkeiten haben könnte, den Rechtsgelehrten, die sein Urtheil fällen werden, die Willenlosigkeit seines Todtschlags begreiflich zu machen; sie haben selten einen inneren Sinn für die Anschauung des inneren Vorganges und halten mit ihrem trockenen, oft höchst beschränkten Verstande an den gröbsten Zügen der äußerlichen Thatsache und an den todten Buchstaben der Gesetze fest.“ 267 Mayer 2002, S. 125. 461 <?page no="474"?> um den Kriminalfall zum zentralen Element zu erheben und durch seine Figur des Detektivs, die in Teilen einen ihrer Vorläufer in Rebhahn hat, aufzulösen. Abb. 87: Erzählelemente in Müllner Der Kaliber (1828) Die Übersicht über die verwendeten Erzählelemente zeigt, dass das Konzept deutlich dem modernen Krimi ähnelt. Die staatliche Instanz, die die Untersuchung einleitet, wird aufgrund der persönlichen Bindung an Ferdinand und Mariane später zu einer privaten Instanz, die zusammen mit der Figur Rebhahns aus intrinsischer Motivation heraus das Verbrechen auflöst. 462 <?page no="475"?> 9.7 Mord als zentrales Element: Karl von Holtei - Mord in Riga (1855, Kf3) Als Kind einer Offiziersfamilie begann Holtei 1816 ein Rechtsstudium in seiner Geburtsstadt Breslau, das er 1819 abschloss 268 . Schon früh wurde er als Schauspieler und Verfasser von Theaterstücken aktiv und begann seine Schauspielkarriere 1816 am Schlosstheater des Grafen Johann Hieronymus von Herberstein in Grafenort, dessen Leiter er später für ganze zwölf Spielzeiten blieb. Danach nahm er eine Stelle als Direktions-Sekretär und Dramaturg am Königsstädtischen Theater in Berlin auf, später leitete er dann weitere Theater in und bei Wien 269 . Als Direktor des deutschsprachigen Theaters in Riga, der er von 1837 bis 1839 war 270 , stellte er Richard Wagner als Kapellmeister ein. Er führte ein Wanderleben als Shakespeare- Rezitator, bevor er sich 1847 bei seiner Tochter in Graz niederließ, um neben Theaterstücken auch Romane zu verfassen 271 . Holtei war unter anderem mit den Schriftstellern Joseph von Eichendorff und Gustav Freytag befreundet und traf mehrere Male auf Goethe, der ihn für seine Mundartgedichte lobte und über den er in „Goethe und sein Sohn. Weimarer Erlebnisse in den Jahren 1827-1831“ berichtete. In seinen Werken nahm Holtei stets auch Dialekte auf, was er als eine Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Adel verstand und womit er die deutsche Sprache in der Literatur gegenüber dem Französischen aufwerten wollte. Aus seinem vielseitigen Werk, das zeit- und kulturgeschichtlich interessant ist 272 , ragt im vorliegenden Zusammenhang die Erzählung „Ein Mord in Riga“ heraus, die einen Mord und dessen Aufdeckung thematisiert. Dabei steht der Mord aber nicht am Anfang der Erzählung, wie es später typisch für die Kriminalliteratur werden sollte, sondern wird ungefähr in der Mitte der Erzählung eingefügt. Zuvor wird die Verbrecherkarriere eines Bediensteten dargestellt, die später wiederum Anteil an der Auflösung des Whodunit hat. Es finden sich 268 Wilpert 1997 (Autoren I), S. 680. 269 Ebd. 270 Ebd. 271 Ebd. 272 Ebd. 463 <?page no="476"?> in dieser Erzählung Elemente des modernen Krimis wie die Spurensuche, die Tatortuntersuchung und der zu Unrecht Verdächtigte, der schlussendlich aufgrund der angeleiteten Nachforschungen eines Kriminalbeamten freigesprochen wird. Die Übersicht bezüglich des Spannungsaufbaus soll an dieser Stelle bereits dieses Konzept verdeutlichen und zeigt, dass in diesem Fall eine Verbrechergeschichte mit einer Kriminalgeschichte verknüpft wurde. Somit bietet die Erzählung wie schon bei anderen Werken dem Leser eine Kombination aus Divination und Deduktion. Abb. 88: Spannungsaufbau in Holtei Mord in Riga (1855) Die Erzählung beginnt im August des Jahres 183* und ist durch einen heterodiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung gekennzeichnet. Dieses Konzept geht so weit, dass der Erzähler in der dritten Person vom „Verfasser dieser Zeilen“ 273 spricht. Auch an weiteren Stellen stellt sich der Erzähler auf eine Stufe mit dem Leser 274 . So spricht er den Leser konkret an und gibt ihm Hintergrundinformationen zu typischen Situationen in Riga 275 oder lädt ihn zu einem Spaziergang durch die Stadt ein 276 . Dadurch erzeugt der Autor eine 273 Holtei, Karl von: Ein Mord in Riga. Prag: Verlag Kath. Herzabek, 1855. S. 23. 274 Ebd., S. 42: „...nur, vermuthen wir...“; ebd., S. 67: „Wir belauschen den braven Mann im vertraulichen Gespräche...“; ebd., S. 71: „Den Erfolg der nächtlichen Unternehmung betreffend, haben wir nichts Genügendes darüber zu berichten.“ Genette bezeichnet dies als „pseudo-diegetisch. Vgl. Genette 1998, S. 169. 275 Holtei Ein Mord in Riga, S. 74: „Fürchte dich nicht, unerfahrener Neuling, vor dem wilden Gespann, welches galopirend hinter Dir hersaus´t [...].“ 276 Ebd., S. 78-79: „Weil der Tag schön und klar ist, machen wir einen kleinen 464 <?page no="477"?> ganz besondere Stimmung und eine Vertrautheit, die in einem deutlichen Gegensatz zu den Ereignissen steht, die im zweiten Teil der Erzählung dargestellt werden. Die Rahmenhandlung der Erzählung handelt von dem Oberältesten Singwald, der mit seiner Frau aus Berlin in seine Heimat nach Riga zurückkehrt. Er übernachtet auf dieser Heimreise in Mitau bei seinem Freund Herr Zehr. Hier trifft er unter anderem den Polizeimeister von Mitau und den Herrn von Zuccalmaglio, der bereits im ersten Kapitel die altertümliche Rechtsprechung der Hanse anpreist 277 sowie den jungen Leutnant, Herr von Meitel. Am nächsten Tag setzen sie ihre Reise fort und kommen in Riga in ihr Haus zurück, wo sie bereits von dem alten Diener Isaak empfangen werden. Dieser betrachtet den neuen Diener Simeon, der den auf der Reise verstorbenen Diener ersetzt, misstrauisch und eifersüchtig 278 . Auch die Frau des Oberältesten Singwald und die Kammerjungfer Dorchen 279 hegen von Anfang an große Vorurteile gegenüber Simeon, die durch die besondere und möglichst unparteiische Erzählhaltung bis gegen Ende der Erzählung nicht aufgelöst werden. Der Verdacht, der hiermit von Anfang an beim Leser erzeugt wird, bestätigt sich dann schlussendlich. Auch in diesem Werk ist die Darstellung von Verbrechen untrennbar mit der Kritik an den herrschenden Zuständen rechtlicher Untersuchungen verknüpft. Als Singwald am Abend in einen Club geht, erfährt er hinter vorgehaltener Hand, dass der Polizeimeister von Riga wahrscheinlich bald entlassen wird, da er sich älteren Gefangenen gegenüber zu nachsichtig verhalten habe 280 . Die anwesenden Personen bemerken nur trocken, dass ein mitleidiges Herz nicht zu seinem Posten passt und ihm nicht mehr geholfen werden kann, wenn Spaziergang nach der Petersburger Vorstadt [...].“ 277 Holtei Ein Mord in Riga, S. 11. 278 Ebd., S. 20: „Isaak [...] richtete flüchtig die forschenden Augen auf Simeon, dessen elegante Jugendlichkeit ihm entschieden mißfiel [...].“ 279 Ebd., S. 21: „Von heute, als am ersten Tage ihrer Ankunft in Riga, erklärte sie sich zu Simeons entschiedener Gegnerin und trat dadurch vollständig auf die Seite ihrer Madame.“ 280 Ebd., S. 26: „Es kommt vom Archimandriten her; der Obrist soll sich bei der Verfolgung und Einkerkerung der Raskolniks nicht energisch genug benommen und namentlich einige Greise auf Bürgschaft aus den Fesseln entlassen haben, ehe noch die Untersuchung geschlossen war.“ 465 <?page no="478"?> sich Vertreter der Kirche einschalten, die zudem über gute Kontakte nach Petersburg verfügen 281 . Die Willkür und Grausamkeit spiegelt sich in einer Begegnung zwischen der Köchin Liese, Simeon und Ivan wider, der unter Tränen berichtet, dass sein Vater aus religiösen Gründen in Ketten an einen unbekannten Ort verschleppt wurde. Simeon zeigt sich verwundert, dass der Vater Ivans nicht glaubt, „was ihm befohlen wird“ 282 . Auf die erstaunte Nachfrage Lieschens gibt er an, dass es ihm leicht fällt, seinen Glauben zu wechseln, solange er einen Profit davon hat. Nun ist auch die Köchin entrüstet über den jungen Mann und beschimpft ihn als schlechten Mensch 283 . Diese Äußerung baut den Verdacht des Lesers weiter auf. Simeon, der überaus stolz auf seine neue Livree ist, kauft im Auftrag der Dame Tee in der Stadt und wird, als er aus der Tür des Ladens tritt, von einem unscheinbar gekleideten Mensch angesprochen. Dieser weiß bereits, dass er der neue Diener im Haus Singwald ist und bestellt ihm Grüße aus Tilsit. Da Simeon verneint dort jemanden zu kennen, möchte der Mann direkt weitergehen. Als er von ihm aufgehalten wird, stellt sich heraus, dass er Kutscher ist und ihm anbietet, Repetieruhren und weitere Dinge über die Grenze zu schmuggeln, damit er sie zu höheren Preisen in Riga verkaufen kann, da er so den Einfuhrzoll umgeht. Simeon geht auf das Angebot ein und beschließt, sein „Glück im Handel“ 284 zu suchen. Dafür setzte er seine ersparten Dukaten, „unter denen wirklich nur einige gestohlen waren“ 285 , ein. Dass es ihm „bequem“ gemacht wird, sieht er nicht als verdächtigen Hinweis, sondern als Angebot des Schicksals. Hiermit beginnt die kriminelle Karriere Simeons, die typisch für die Verbrecherliteratur in einen Kontext mit seiner persönlichen Entwicklung gesetzt wird. Immer weiter wird so das Misstrauen des Lesers Simeon gegenüber verstärkt. Selbst sein äußeres Erscheinungsbild und seine Herkunft, als in Moskau geborenes Kind deutscher Eltern, scheint verdächtig, sodass sich gegenüber dem Leser ein immer schlechteres 281 Holtei Ein Mord in Riga, S. 26-27. 282 Ebd., S. 31. 283 Ebd., S. 32. 284 Ebd., S. 38. 285 Ebd. 466 <?page no="479"?> Bild des jungen Mannes aufbaut. 286 Nur der Hausherr setzt sich für ihn ein, da er seine Arbeit gut verrichtet. Innerhalb der Verbrechererzählung werden nun Hinweise für den Leser eingebaut, die ihm später bei der Aufklärung des Mordfalles behilflich sein können. Simeon trifft die Muhme seiner Mutter, die nun häufig zu Besuch kommt und sich auffällig für die Verhältnisse des reichen Teehändlers Muschkin interessiert. In die Erzählung wird an dieser Stelle der neue Polizeimeister eingeführt, der sich entgegen aller Befürchtungen als netter und zuvorkommender Mann entpuppt, der seine ganze Energie darauf verwendet, Gerechtigkeit herzustellen 287 . In einem Gespräch mit seinem „umsichtigsten und gebildetsten Beamten“ 288 Pristaff Schloß, empört er sich darüber, dass im Wald um die Stadt Verbrecher hausen und alte Damen überfallen. Dieser verweist darauf, dass diese Umgebung kaum zu kontrollieren ist, es zudem ein einmaliges Ereignis war und dass die öffentliche Meinung schnell „ jeden günstigen Eindruck ruhig vergangener Jahre“ 289 verwischen kann. Eine Expedition mit Unterstützung des Militärs belegt seine Aussagen. Nur ein einziger Spaziergänger wird festgenommen und, da er verdächtig ist, festgehalten, um seine Angaben am nächsten Tag zu überprüfen. Es gelingt ihm unbemerkt zu fliehen, was Schloß eher beeindruckt als enttäuscht. Der neue Polizeimeister ist darüber sehr verärgert. Im weiteren Verlauf nimmt Pristaff Schloß die Stelle der aufdeckenden Detektivfigur ein, der Polizeimeister bleibt nur eine Randerscheinung und steht in einem Zusammenhang mit der kritischen Betrachtung des Polizeiapparates in dieser Erzählung. 286 Holtei Ein Mord in Riga, S. 44-45: „ ‚Eine gute Schule‘, sagte der Konsul, ‚aber doch gefährlich. Es mag ein gewandter Kerl sein, das zeigt sich, doch vertrauen könnt ich ihm nicht; Es liegt etwas Schlimmes in seinen Zügen.‘ “ 287 Ebd., S. 66-67: „Nur gegen die eigentlichen Übeltäter und Feinde der bürgerlichen Sicherheit, gegen Diebe und Räuber, brachte er den jungfräulichen Eifer eines im Dienste noch nicht abgenützten und müde gewordenen Mannes mit aus seiner bisherigen kleinen Umgebung, wo es nicht viel zu fangen gab, in eine Bevölkerung von siebzigtausend Seelen, die reiche Beute versprach. Er brannte auf Taten, die ihn nützlich machen, die ihn in der öffentlichen Meinung ehren sollten.“ 288 Ebd., S. 67. 289 Ebd., S. 68. 467 <?page no="480"?> Nach dieser Einführung kehrt die Erzählung zu Simeon zurück, der in der Teestube einer Badeanstalt sitzt und auf jemanden zu warten scheint. Ein „breitschultriger Mann mit mürrischem Gesicht“ und einer Tracht zwischen Soldat und Schiffskapitän tritt ein und beginnt ein Gespräch mit Simeon, dessen Inhalt durch die Fokalisierung dem Leser bewusst vorenthalten wird 290 . Doch diese Begegnung ist fatal als Simeon nach Hause zurückkehrt, wird er bereits von Zollbeamten erwartet. Frau Singwald versucht vor seinem Eintreffen das „Räthsel“ 291 selbst zu lösen. Hierbei hilft ihr Stammbauers Geständnis, der gesteht, dass er mehrere Personen denunziert hat, da die Provisionen der Denunzianten höher sind als sein Profit als Schmuggler. Es wird nun erklärt, wie das Strafsystem damit umgeht und dass ein Schleichhändler, der nicht genug Geld hat, die vierbis achtfach höheren Gebühren zu entrichten, als Leibeigener verkauft wird. Das Schicksal Simeons liegt damit in den Händen seiner Arbeitgeber, der schließlich auf Bitten seiner Frau den Betrag entrichtet. Er sieht seine Zustimmung als „reine Menschenpflicht“ 292 , doch regen sich nun bei Herrn Singwald „Bedenklichkeiten, die bald zum Argwohn wurden und auf geradem Wege zur Abneigung führten“ 293 . So erinnert er sich, dass sich Simeon praktisch in seine Dienste gedrängt hat und dass ihm die geheimnisvolle Muhme schon seit einigen Monaten verdächtig erscheint, „daß die Person unbedenklich Teilnehmerin heimlicher Durchsteckereien sei“ 294 . Er beschließt „diesen zweideutigen Menschen“ 295 , an den er nun gekettet ist, als Diener so lange zu behalten, bis dessen Schulden abbezahlt sind. Auch dies ist bereits ein Indiz, für den eigentlichen Kriminalfall, der kurz darauf geschieht. Doch Holtei fügt nun falsche Spuren ein, die den Leser auf eine verkehrte Fährte bringen sollen. So wirft Simeon dem Diener des reichen Teehändlers vor: „Aber du hast ja das volle Nest ganz in der Nähe. Dein alter Geizkragen sitzt ja im Golde bis 290 Holtei Ein Mord in Riga, S. 83: „Den Inhalt ihres Gesprächs können wir nicht verrathen.“ 291 Ebd., S. 88. 292 Ebd., S. 94. 293 Ebd., S. 95. 294 Ebd. 295 Ebd. 468 <?page no="481"?> über die Ohren. Du brauchst nur einen klugen Griffzu tun und hast mehr, wie man braucht, drei solche Ivans loszukaufen.“ 296 Simeon weiß sogar, wo der Teehändler den Schlüssel zum Kasten verbirgt, in dem er seine Reichtümer aufbewahrt, was von Ivan bestätigt wird. Simeon äußert mehrere Male den Verdacht gegenüber Isaak, dass Ivan Muschkin berauben wird, um seinen Plans, sich loszukaufen, umsetzen zu können. Nach diesem Gespräch und ab dem 11. Kapitel beginnt nun die eigentliche Kriminalerzählung, die schon im Titel angedeutet ist. Bis zu diesem Punkt dienen sämtliche Ausführungen dazu, Verdachtsmomente zu erschaffen und den eigentlichen Mordfall in die lang aufgebaute Handlung einzufügen. Am folgenden Morgen auf dieses Gespräch erscheint Muschkin nicht wie sonst üblich am Fenster, um seinen allmorgendlichen Spruch zu sprechen, und auch Ivan nicht, um sein allmorgendliches Lied anzustimmen. Erst nachdem die Kunden vergebens bei dem Teehändler anklopfen, „stieg mit dem nebelgrauen, kalten Morgenhauch eine Art schauerlicher Ahnung in den Kaffeeschwestern empor“ 297 . Als sie nach Ivan suchen, finden sie den Stall verschlossen, in dem das Pferd kläglich wiehert. Als sie an das vergitterte Fenster von Muschkins Schlafzimmer kommen, entdecken sie, dass das Gitter aus seiner Verankerung gelöst wurde, die Stäbe zersetzt und die Glasscheiben herausgebrochen sind. Mit den Worten „Hier ist Mord und Todtschlag geschehen! “ 298 alarmieren sie den Polizeibeamten, der sich bereits auf dem Weg über die Häuslichkeit Muschkins, dessen Lebensweise und Bekannte informiert und mit der Untersuchung des Tatortes beginnt. Er entdeckt, dass die Gitterstäbe mit einer ätzenden Flüssigkeit über Wochen hinweg aufgelöst worden waren und nimmt denselben Weg ins Innere wie der Einbrecher. Dort findet er den toten Teehändler Muschkin, der eindeutig einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist 299 . Die Tatwaffe, ein kleines Beil, liegt neben der Leiche auf dem Boden und wird von den Frauen als das 296 Holtei Ein Mord in Riga, S. 98. 297 Ebd., S. 104. 298 Ebd., S. 105. 299 Ebd., S. 106: „Da lag der reiche Theehändler im Blute schwimmend, mit zerschlagenem Hirnschädel, von unzähligen Wunden im Gesichte und an der Brust entstellt, auf dem Lager, ohne Zeichen des Lebens.“ 469 <?page no="482"?> Holzbeil Ivans identifiziert. Außer der eisernen Geldkasse und dem dazugehörigen Schlüssel, die beide nirgends zu entdecken sind, fehlt nichts. Keinerlei Schränke oder Türen sind aufgebrochen, was darauf hindeutet, dass die Täter genau wussten, was sie stehlen wollten. Die Untersuchung des Zimmers von Ivan zeigt, dass dieser in großer Eile aufgebrochen sein muss und bringt ein kleines Fläschchen zu Tage, welches die Flüssigkeit enthält, mit der die Eisenstäbe aufgelöst wurden. Damit scheint der Täter eindeutig festzustehen 300 . Der Pristaff Schloß sucht nun Isaak auf, mit dem Ivan am Abend zuvor in einer Kneipe war. Alle Personen im Hause des Oberältesten sind erstaunt über den Besuch, nur Simeon nicht, da er diesmal „ein gutes Gewissen“ 301 hat. Die Anwesenden werden verhört und Isaak gibt zu Protokoll, dass Ivan gestern länger als sonst beim Punsch mit ihnen saß, mehr als sonst vom Gold seines Herrn und von seinem Plan sich loszukaufen sprach und über innere Angst und Unruhe klagte. Simeon bestätigt dies, aber versichert, dass Ivan nicht in der Lage sei, eine solche Gräultat zu begehen, was der Polizist aber nicht glaubt. Dieser fasst die bestehenden Fakten in einem inneren Monolog zusammen 302 und kommt zu dem Schluss, dass Ivan Richtung Sankt Petersburg geflohen sein muss und nimmt die Verfolgung auf. Holtei fügt an dieser Stelle, ähnlich wie in den „Geheimnissen von Berlin“, die Beschreibung des Prototyps einer Detektivfigur ein. Ein Jäger, der ein längst umschlichenes Wild verfolgt; ein Habsüchtiger, der einen sichern Geldgewinn im Auge hat; ein Liebender, der seine Geliebte zu erreichen trachtet, was sind sie in ihrer leidenschaftlichen Erregung, verglichen mit dem Beamten von Talent, Berufslust, Ehrgeiz, welcher die Spur eines großen Verbrechers aufsucht? Für diesen giebt es keine Beschwerden, keine Mühseligkeiten, keine Entbehrung, keine Furcht, kein Hinderniß. Er achtet weder Gefahren noch Tod. Er sieht und hört nichts, als sein vorgestecktes Ziel. Mag auch, wie 300 Holtei Ein Mord in Riga, S. 108: „Wer der Thäter sei, darüber konnte nun wohl kein Zweifel mehr obwalten.“ 301 Ebd., S. 110. 302 Ebd., S. 113-114. 470 <?page no="483"?> in Alles, was menschlich ist, eigennützige Selbstsucht, welche Belohung oder Auszeichnung erstrebt, in solchen Eifer sich mischen, immer bleibt er verehrungswürdig, weil er öffentlicher Sicherheit, weil er dem Bestehen geselliger Ordnung gilt. 303 Damit formuliert Holtei bereits das Konzept der Herstellung einer sozialen Ordnung durch die Detektivfigur. Allerdings überlässt er es dem Pferd, die richtige Fährte zu finden, welches sich querfeldein durchschlägt, bis auch dem Polizisten sein eigenes Handeln töricht vorkommt. Er lenkt sein Pferd in eine Schlucht, die er vor kurzem noch als gutes Versteck für Räuber bezeichnet hatte. Hier stößt er auf Spuren im Schnee und findet kurz darauf eine Schubkarre, die eiserne Kasse Muschkins, welche nun leer ist, Stroh, Heu und eine Pferdedecke. Dies entspricht damit genau seinen Überlegungen zum Tathergang. Nahe an der Raserei, die gar nichts mit der detektivischen Kaltblütigkeit zu tun hat, reitet er zurück zur Straße und entdeckt bald darauf Ivan, der nun noch schneller vor ihm flieht und in den Wald entkommt, bis er schließlich vom Polizisten niedergeritten und gefesselt zurück in die Stadt gebracht wird. In seinem Bündel wird aber nichts Verdächtiges gefunden, Ivan selbst schweigt. Wieder schaltet sich der Erzähler ein und „bleibt“ zusammen mit dem Leser im Gefängnis, „um den ersten Verhören des Mörders beizuwohnen“ 304 . Er berichtet, wie Ivan der Leiche gegenüber steht und auf die Knie sinkt, dass die anderen Bewohner des Hauses die Schubkarre erkennen und Ivan das Beil als sein eigenes identifiziert. Alle weiteren Aussagen der anderen Personen werden von ihm bestätigt. Als Grund für seinen längeren Aufenthalt in der Gastwirtschaft gibt er aber an, dass Simeon ihn dazu brachte, mehr als sonst zu trinken und erst um 11 Uhr abends gehen ließ. Als er nach Hause kommt, findet er bereits alles so vor, wie es die Polizei am folgenden Tag entdeckt. Da er weiß, dass er trotz seiner Unschuld als Mörder gesehen werden wird, beschließt er zu fliehen. Er gibt an, dass er das Glasfläschen, in dem sich die ätzende Flüssigkeit befand, noch nie gesehen hat. Wieder versteckt der Autor an dieser Stelle zwischen den Zeilen ein wichtiges Indiz, das den Fall später aufklärt. 303 Holtei Ein Mord in Riga, S. 115. 304 Ebd., S. 124. 471 <?page no="484"?> In der folgenden Zeit wird Ivan in der Haft misshandelt, doch er bleibt bei seiner Aussage. Der Pristaff Schloß verhört ihn immer wieder und übertritt die Grenzen seiner Befugnisse, schwer verärgert darüber, dass sich Ivan weder widerspricht, noch bereit ist, das Versteck zu verraten 305 . Außer Simeon sehen in ihm alle den Täter, die ganze Stadt erbost sich über den „bei so früher Jugend schon so zähen Bösewicht“ 306 . Da die Polizei mit ihren Befragungen nicht weiter kommt, erlaubt sie dem Geistlichen eigene Methoden anzuwenden. Dieser beginnt damit, Ivan lange hungern zu lassen, um ihm dann, in vorgetäuschter Nächstenliebe, heimlich Brot und stark gesalzene Heringe zu bringen. Durch dieses Essen bekommt er starken Durst und am nächsten Tag wird ihm nur gesalzener Fisch vorgesetzt. Das Wasser, was ihm schließlich gebracht wird, gießt der Wärter auf den Boden, da Ivan das Essen auf den Boden geworfen hat. Abends erscheint der Geistliche mit Schreiber und dem Wärter, der wiederum Wasser bei sich hat, um ihm nun das Geständnis abzupressen, was auch gelingt, woraufhin er zu dreimaliger Geißelung, Brandmarkung und Deportation verurteilt wird. Den Beamten geht es inzwischen nur noch darum, die Sache bald zu beenden und schnell ein Urteil zu vollziehen. Diese Tatsache, sowie die geschilderten unmenschlichen Haftbedingungen sind eine eindeutige Kritik an den damaligen Umständen. Ivan befindet sich nicht nur in der ungünstigen Situation, dass alle Beweise gegen ihn sprechen, sondern seine soziale Stellung ist Grund genug, ihn des Verbrechens zu beschuldigen. Auch der Polizeibeamte Schloß vertraut darauf, dass mit dem Auspeitschen das Versteck des Geldes an den Tag kommt, damit er nicht schlecht dasteht. Er sieht sich dabei als Opfer Ivans 307 und seine bereits bei der Verfolgung angedeutete Selbstsucht ist ihm wichtiger als die Wahrheit. Die Lösung des Mordfalls wird aber schlussendlich über einen Hinweis und ein Indiz gefunden. Dorchen sucht den Pristaffauf und 305 Holtei Ein Mord in Riga, S. 130-131. 306 Ebd., S. 131. 307 Ebd., S. 156: „Weiß der Himmel, ich habe einen furchtbaren Zorn gegen die heimtückische Bestie und ich will mit Wonne sein Blut rinnen sehen. Hat er mir das Leben sauer gemacht! hat er mich gepeinigt! O, es ist ein schrecklicher Beruf, zu dem ich verdammt bin! “ 472 <?page no="485"?> „Schloß hatte in diesem Augenblicke eine jener unerklärlichen Ahnungen, wie sie den in solchen Gebieten heimischen Beamten bisweilen mit einer Art von Divination 308 erfüllen. Ein unbegreifliches Gefühl sagte ihm, daß er im Begriffe stehe, auf eine wichtige Entdeckung geleitet zu werden.“ 309 Auch hier wird trotz des seltsamen Charakters bereits in Teilen eine Figur gezeichnet, die ein untrügliches Gespür für Kriminalfälle an den Tag legt und damit teilweise einem modernen Kriminalkommissar ähnelt. Ab diesem Augenblick nimmt die Handlung an Geschwindigkeit auf und die eigentlichen Hintergründe des Mordes werden ans Tageslicht gebracht. Dorchen berichtet ihm vom erneuten Reichtum Simeons und dass sie ihn im Verdacht hat, sich dieses Geld zusammen mit „bösen Leuten“ angeeignet zu haben, wofür sie allerdings keinerlei Beweise hat. So erscheint Schloß am selben Abend noch bei Simeon, der aber auf alle Fragen Antworten und Beweise seiner Unschuld liefern kann. Der Erzähler merkt noch an, dass der Beamte, als er Simeon ohne Beweise verlassen muss, das Papier mitnimmt, in welches das Gold eingewickelt war. Simeon aber macht sich über den Polizisten lustig und zeigt durch sein Verhalten, dass er wohl etwas zu verbergen hat. Dieser Verdacht bestätigt sich am folgenden Tage, als der Polizist aufgrund des Papiers plötzlich ein unwiderlegbares Indiz in der Hand hält, dass Simeon nicht die Wahrheit gesagt hat. Das Papier belegt, dass die Dukaten nicht aus Tilsit gekommen sind, wie von Simeon angegeben, sondern von seiner Muhme Johanna Rispe. Der Beamte verkleidet und bewaffnet sich und bricht nach der Hütte der Muhme auf, die, nach weiteren Angaben, eine unbefugte Schänke am Strand in einem Blockhaus betreibt und wahrscheinlich in Schmuggelei verwickelt ist. Nun folgt das Finale der Verbrecherjagd und die endgültige Auflösung des Verbrechens und aller offenen Rätselfragen. Als er die alte Frau zur Rede stellt, versucht sie Schloß zu erstechen und verrät unabsichtlich, dass Simeon ihr Sohn ist. Schloß findet bei seiner Untersuchung der Hütte bald Beweise, dass die Frau in den Mord am Teehändler verwickelt ist. In der allgemeinen Verwirrung beim Aufbruch kommt es zur Flucht Stefans, einem Gehilfen der Frau und Mörder Muschkins, der vom Pristaff Schloß niedergeschossen wird. 308 Man beachte auch hier wieder die Wortwahl. Siehe dazu Kapitel 3.4. 309 Holtei Ein Mord in Riga, S. 157. 473 <?page no="486"?> Die alte Frau ist nach dieser Auseinandersetzung verschwunden, ein Kind am Strand gibt an, dass sie sich ertränkt hat. Stefan wird bald von den Ärzten aufgegeben, gesteht aber kurz vor seinem Tod das Verbrechen. Die Rolle Simeons war es hierbei, günstige Gelegenheiten auszuspionieren und die Stäbe anzuätzen. Darüber hinaus bezeichnet er die Stelle, an der zwei von ihnen ermordete Schmuggler liegen. Als Ivan befreit wird, bezeichnet es der Generalgouverneur als Gottes Hand, die den ungerechten Verdacht von ihm genommen hat 310 . Es ist also keineswegs das Eingeständnis eines Irrtums, sondern die Gnade Gottes, der Ivan seinen Freispruch zu verdanken hat. Die Bestimmungen des Gouverneurs sind vor diesem Hintergrund eine Farce: Ivan soll als „lebendiges Warnungszeichen für menschliche Gerechtigkeitspflege“ seinen geschorenen Schädel zeigen, damit dies als Warnung und Erinnerung „in den Herzen irdischer Richter“ bleibt. Er wird als Kutscher in die Dienste des Generalgouverneurs aufgenommen, Simeon dagegen auf Stirn und Wangen gebrandmarkt und nach Sibirien geschickt. Ihm wird die Strafe aufgebürdet, die eigentlich für Ivan vorgesehen war. Mit dem achtzehnten Kapitel endet die eigentliche Kriminalerzählung und macht Platz für eine Erklärung des Erzählers, in der die Krux der frühen Kriminalerzählung zum Ausdruck kommt und vor dem Hintergrund des modernen Krimis schon prophetisch wirkt: Ein armer Geschichten-Erzähler ist eigentlich übel daran. Was seinen Helden oder Schützlingen Uebles widerfährt [...] dies Alles soll er des Breiteren ausführen,schildern, malen, dehnen, um die verehrliche Lesewelt möglichst zu spannen. Denn der theure Leser und wunderbarlich genug! auch die schöne, zarte, huldvolle Leserin können nicht Jammer genug auf eines guten Menschen Haupt gehäuft sehen, sobald sie dessen Leben im Buche vor sich haben. 311 310 Holtei Ein Mord in Riga, S. 187. 311 Ebd., S. 192. 474 <?page no="487"?> Allerdings, so der Autor weiter, erträgt der Leser dies nur, wenn „Jenen durch Qual und Nacht ein glücklicher Ausgang winkt“ 312 und damit, wie er auch vom Polizisten verlangt, das „Bestehen geselliger Ordnung“ wieder hergestellt wird. Er beschwert sich, dass der Leser das Buch direkt zuklappt, wenn der Autor diesen Punkt überschreitet und das „schwer verdiente Glück“ und das friedliche Dasein schildert, „um nach einem andern zu greifen, wo das Elend von vorn beginnt“ 313 . Wie Sisyphos muss er neue Opfer suchen und darüber berichten, er darf keine Ruhe finden. Dieses Bedürfnis ähnelt der Leselust eines wahren Krimi-Fans, der nach der Auflösung des Verbrechens keineswegs an den Folgen der Tat für den Täter interessiert ist, oder was die handelnden Figuren in ihrem weiteren Leben erleben. Daher wirkt es aus heutiger Sicht künstlich in die Länge gezogen, wenn Holtei nun das weitere Schicksal Ivans ankündigt, das im weiteren Verlauf beschrieben wird und keinen weiteren Erkenntnisgewinn für die vorliegende Fragestellung birgt 314 und „noch ein böses Stück Lebensreise“ 315 erzählt. Vor diesem Hintergrund fordert er den Leser zum Weiterlesen auf 316 . Die Spannung in Holteis Erzählung „Mord in Riga“ entsteht vor allem durch den geschickten Aufbau mehrerer Verdachtsmomente, die sich bestätigen oder als falsch herausstellen, sodass der Leser schlussendlich nicht mehr weiß, was er glauben soll. Von Anfang an wird Simeon als schlechter und verrufener Mensch dargestellt, dem jedes Mittel zum Zweck vertretbar ist, solange es ihm einen Vorteil verschafft. Dies wird ihm später zum Verhängnis. Nach seiner Verfehlung im Hause Singwalds aber scheint er geläutert und wirkt so, als würde er nun den Gaunereien abschwören. Der Mord und der Diebstahl fallen somit nicht auf ihn zurück, sondern auf 312 Holtei Ein Mord in Riga, S. 193. 313 Ebd. 314 Ebd., S. 194: „Was würden, auch die bis hierher geneigt gebliebenen - Leser wohl sagen, wenn sie zu spüren anfingen, daß der neunzehnte und zwanzigste Abschnitt dieses Büchleins keinen andern Zweck verrathen, als unseres ehrlichen Ivan´s behagliche Existenz im Singwald´schen Stalle mit sichtbarer Vorliebe für den guten Jungen an ihnen vorüber zu führen? [...] Nun, fürchten Sie nichts, Hochgeehrte! Gar so schlimm ist es nicht.“ 315 Ebd. 316 Ebd. 475 <?page no="488"?> Ivan, den Simeon zudem als einzige Person für unschuldig erklärt. Erst mit der Aussage Dorchens wittert der Leser wieder, dass dieser Eindruck falsch ist, was sich im weiteren Verlauf dann bestätigt. Die Bestrafung für seine Beteiligung an einem Mord steht aber in keinem Verhältnis zu seinen Taten, da er die Strafe erhält, die dem eigentlichen Mörder zukommen sollte. Dies unterstreicht die Belanglosigkeit des Verfahrens, dass eigentlich nur darauf abzielt, schnell einen Täter zu bestimmen und möglichst publikumswirksam zu verurteilen. Auch der Charakter des Pristaff Schloß ist zwiespältig gezeichnet. Eigentlich mit durchaus positiven Eigenschaften ausgestattet, gelingt es ihm nicht, seinen Egoismus zu überwinden und eine für ihn kaum vorstellbare Wirklichkeit zu akzeptieren. Die Auflösung geschieht nicht, um einen Unschuldigen zu retten, sondern um sein Ansehen zu etablieren. Holtei gibt seinem Leser zwar falsche Spuren, aber nur wenig Hinweise an die Hand, die ihm helfen könnten, das Rätsel selbst aufzulösen. Die einzigen Hinweise, die der Leser aber erst bei einer zweiten Lektüre erkennen kann, sind in der Beschreibung des Verhaltens Simeons versteckt. Ivan ist als tragische Figur im brutalen und unrechten Verfahren hoffnungslos der Willkür seiner Häscher ausgeliefert. Da alle Argumente gegen ihn sprechen, werden seine eigenen Erläuterungen als Lüge abgetan, obwohl man das Geld nicht bei ihm findet. Nur die Tortur, die bezeichnenderweise von einem Geistlichen ausgeübt ist, zwingt ihn schließlich zu einem Geständnis und erinnert an die schrecklichen Vorgehensweisen der Inquisition, die solche Handlungen mit scheinreligiösen Argumenten legitimierte. Dazu gehört, dass der Beweis seiner Unschuld vom Gouverneur als das Wirken Gottes bezeichnet wird. Holtei kombiniert somit in seinem Werk die Verbrechergeschichte über Simeon mit der Kriminalgeschichte über Ivan, die miteinander verwoben sind. Seine Detektivfigur ist darüber hinaus weniger an einer Auflösung des Rätsels interessiert, sondern misst seinem eigenen Ansehen einen wesentlich größeren Stellwert zu. Allerdings ist es besonders das ausgeprägte Element der Irreführung, dass die gesamte Erzählung in die Nähe des modernen Krimis rückt. Dabei ist Holteis Konzept für einen spannenden Krimi viel zu weitläufig, was er selbst gegen Ende thematisiert. Dem Autor geht es um mehr als nur Sozialkritik und die 476 <?page no="489"?> Darstellung von Verbrechen. Seine Erzählung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie in Form von mehreren Einschüben viel Wissen über die Kultur, das Leben und die Gesellschaft dieser Zeit in Riga und der Umgebung vermittelt. Dies ähnelt in gewisser Weise dem realistischen Ansatz von Erzählungen im Stil Sues, wie zum Beispiel die Wiedergabe und Erklärung von regionalen Sprachgewohnheiten und der Nutzung von nicht immer geläufigen Bezeichnungen wie „Pristaff “ 317 . Diese Doppelfunktion der Erzählung wird interessanterweise ausdrücklich von ihm formuliert, er scheint beinahe enttäuscht darüber, diese Informationen in die Darstellung eines populären Stoffes einbetten zu müssen, da er „sich nach Ruhe sehnt, ohne sie jemals genießen zu können“, da die Leselust des Publikums kaum zu bewältigen scheint und sich die meisten Leser zudem durch eine gewisse Oberflächlichkeit auszeichnen. Damit setzt er ein moderates Konzept der Unterhaltungsliteratur um, das nach mehr strebt als nur der reinen Sensation. Seine kulturellen Informationen, aber auch seine Kritik an den Methoden der Justiz und der Behandlung niederer sozialer Schichten sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Abb. 89: Anordnung der Erzählelemente in Holtei Mord in Riga (1855) 317 Diese Bezeichnung wird oftmals mit dem Amt des Procurators gleichgesetzt. 477 <?page no="490"?> Man erkennt an der Verteilung der Erzählelemente, dass zwar der Aufdeckung viel Raum zugestanden wird und so die Spannung lange aufrecht erhalten wird, dass aber das Gesamtkonzept durch mehrere Handlungsstränge ausschweifend wird. Besonders die weitere Lebensgeschichte Ivans, die der Erzähler an das Ende stellt, passt nicht wirklich ins Gesamtkonzept, da es weit über das hinausgeht, was der Titel andeutet. Die Darstellung der Familie Singwald durchbricht ebenfalls eine stringente Darstellung des eigentlichen Konfliktes und bewirkt, dass die gesamte Handlung weitläufig wird und vom zentralen Thema abschweift, das im Titel des Werkes angedeutet ist. Es scheint so, dass der Autor bewusst einen publikumswirksamen Titel wählte, dieser Episode aber im Vergleich zu anderen Werken der Kriminalliteratur wesentlich weniger Raum zugesteht. Setzt man dies in einen Zusammenhang mit seinen Ausführungen über das schwere Los eines Autors, so kann man die Vermutung äußern, dass er dieses Thema als Mittel zum Zweck nutzte, um kulturelle Darstellungen und Kritik am Polizeiapparat möglichst publikumswirksam aufzubereiten. Der Überblick über die verwendeten Erzählelemente zeigt zudem, dass durch die Kombination von Verbrecher- und Kriminalliteratur recht viele Elemente genutzt wurden. Zudem werden die einzelnen Erzählstränge immer wieder durchbrochen und an anderer Stelle fortgeführt. Dennoch hat man es bezüglich der Binnenerzählung um den Mord am Teehändler mit der klassischen Abfolge von Mord - Verdacht - Spurensuche - Aufklärung zu tun. Greift zuerst noch die verständnisvolle Darstellung des Täters bezüglich seiner Karriere als Schmuggler, so wird diese bezüglich des Mordes hinfällig. Wie im modernen Krimi verwandelt sich Simeon in der Darstellung zu einem gnadenlosen Täter, der zwar nicht direkt am Mord beteiligt ist, seinen niederen Zielen aber ohne Bedenken ein Menschenleben opfert. Diese Verschiebung der Täterbeschreibung innerhalb der Erzählung deutet bereits an, dass im weiteren Verlauf der Entwicklung der Verbrechensliteratur die Täter immer mehr zu stereotypen Figuren werden. Die Darstellung der Hintergründe ihrer Taten dient nicht mehr länger wie in der Verbrecherliteratur dazu, Verständnis für Täter zu generieren, sondern eindeutig die Täterschaft zu belegen. Diese Verschiebung in der Darstellung der Täter lässt sich bei Holtei 478 <?page no="491"?> Abb. 90: Erzählelemente in Holtei Mord in Riga (1855) innerhalb einer Erzählung aufzeigen. Die Erzählung zeigt auch auf, dass verschiedene Erzähltechniken und Elemente der modernen Kriminalliteratur vorhanden waren, ihre Kombination aber zu einem völlig anderen Ergebnis führte, als bei den Autoren wie Poe und später Doyle. Für einen spannenden Krimi hätte Holtei die Erzählung mit dem Mord am Teehändler beginnen lassen und mit aufdeckenden Rückwendungen frühere Verfehlungen Simeons aufzeigen müssen. Daher soll seine Erzählung als Beleg dafür dienen, dass nicht nur der Einsatz bestimmter Figuren und Elemente den modernen Krimi auszeichnet, sondern die spezifische Anordnung dieser Elemente. Auf der anderen Seite belegen die in diesem Kapitel vorgestellten Werke, 479 <?page no="492"?> dass all diese Elemente existierten und von Poe und Doyle in ein möglichst effektives Erzählkonzept gebracht wurden. 480 <?page no="493"?> 10 Die Darstellung sozialer Probleme in der Verbrechensliteratur des Vormärz Gegen Ende des hier behandelten Zeitraums verändert sich die Verbrechensliteratur ein weiteres Mal und nimmt verstärkt die Thematisierung sozialer Probleme in die Darstellung auf. Durch die sich enorm verändernden Lebensumstände und die rasant anwachsenden Großstädte verlagerte sich die Kriminalität und erfuhr eine völlig neue Organisation. Mit der aufkommenden Industrialisierung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzte 1 , war der Verelendungsprozess ganzer Bevölkerungsschichten verbunden, der durch eine willkürliche Lohnpolitik der Unternehmer bewirkt wurde 2 und dem die Menschen aufgrund fehlender sozialer Absicherung hilflos ausgeliefert waren. Dabei wurden diese sozialen Probleme, die neben der Verelendung auch zu einem rapiden Anstieg der Kriminalfälle führten, vom System selbst bedingt. Denn der nun entstehende Markt, der von den Unternehmern bedient wurde, kannte weder Moral, noch Skrupel. Aber sie [die Unternehmer] handelten auch deshalb absolut egoistisch, weil ‚der Markt‘ sie selbst dazu zwang und weil es der Schicht dieser Entrechteten gegenüber keine moralischen Hemmungen gab; ‚der Markt‘ läßt solche nicht zu, er ist als mechanischer Vorgang absolut amoralisch, d.h. aber für den 1 Die industrielle Revolution wird von Hubert Kiesewetter auf das Jahr 1815, von Friedrich-Wilhelm Henning dagegen auf das Jahr 1835 datiert. 2 Schweppenhäuser, Hans Georg: Das soziale Rätsel in den Wandlungen der Individuen und der Gesellschaften der Neuzeit. Dornach (Schweiz): Philosophisch-Anthroposophischer Verlag am Goetheanum, 1985. S. 172. Dies bezieht sich auf England, der Autor vermerkt aber, dass sich der Verelendungsprozess in ähnlicher Weise in Deutschland vollzog (Ebd., S. 173). 481 <?page no="494"?> Umgang der Menschen miteinander unmoralisch. Die Bevölkerungsschichten, die in solchem Zusammenhang entwurzelt und in die industrielle Tätigkeit hineingezwungen wurden, erfuhren ihre ‚Befreiung‘ aus den alten Lebensverhältnissen, in denen sie noch bis dahin, wenn auch primitiv, so doch in alte Ordnungnen und Vorstellungen eingebettet waren, als einen furchtbaren Abstieg in die physische Verelendung und Dekadenz. [...] In früheren Epochen waren solche Verelendungen auch da, aber sie hatten andere unindividuelle Motivierungen und ihre Grenzen bestimmten religiöse Vorstellungen und der festgefügte hierarchische oder ständische Charakter der Gesellschaft in ihren organischen natürlichen Verbänden. 3 Der Arbeiter musste funktionieren oder wurde gnadenlos ausgetauscht und stand damit am Rande seiner Existenz. Zudem waren die Gesetze dieser neuen kapitalistischen Gesellschaft noch unbekannt, was zu schwerwiegenden Fehlern seitens der Besitzer der Industriebetriebe führte 4 . Diese Missstände wurden im Laufe der Zeit erkannt und durch die später geschaffene Sozialgesetzgebung in manchen Bereichen entschärft, doch bis zum ersten Band von Marx‘ „Kapital“ (1867) und darüber hinaus war es noch ein weiter Weg zu sozialer Gerechtigkeit. Die Armut in den Städten, die sich ganz besonders in den verwahrlosten Vierteln am Stadtrand zeigte, schien grenzenlos und nicht zu bewältigen zu sein. Der psychische Druck, der aus dieser Situation entstand, wurde zudem völlig unterschätzt. Ein Bericht an die preußische Regierung aus dem 19. Jahrhundert, der über die Zustände im rheinischen Industriebezirk berichtete, stellte beispielsweise lapidar fest, dass es einen Zusammenhang zwischen materieller und geistiger Armut gebe und man an der Verwahrlosung der physischen Gestalt eine verwahrloste sittliche und geistige Bildung erkennen könnte 5 . Solche Berichte taten ihr üb- 3 Schweppenhäuser 1985, S. 172-173. 4 Ebd., S. 181: „Was die sozialen Probleme erst heraufführte, war, daß die Vorstellungen vom tauschwirtschaftlichen Marktvorgang in das technischindustrielle Zeitalter mit seiner Arbeitsteilung und seiner Produktion von Halbfabrikaten und Investitionsprodukten sozusagen gedankenlos hineinrutschten.“ 5 Ebd., S. 173-174. 482 <?page no="495"?> riges, um die verarmten Bewohner der berüchtigten Viertel an jedem sozialen Aufstieg zu hindern. Das generelle Misstrauen gegenüber den Arbeitern und die damit verbundenen Repressalien der Polizei führten 1830 zur sogenannten „Schneiderrevolution“. Es ist wie der Einbruch einer neuen Barbarei innerhalb einer ‚christlichen‘ Welt. Wir charakterisieren es als diese paradoxe Situation: Der Liberalismus, der den Menschen befreien will durch ‚Aufklärung‘; der die Menschenrechte verkündet, die auf angeborenem und unveräußerlichem Recht des einzelnen Menschen beruhen, dem Naturrecht; wodurch seine Freiheit gegenüber der Staatsgewalt abgesichert werden soll; der Liberalismus, der damit zum Gleichheitsprinzip für alle Individuen vor dem Recht kommt; der gleichzeitig die Humanität zu seiner geistigen Grundlagemacht derselbe Liberalismus schafft allgemein als Wirtschaftsliberalismus im sozialen Leben für heutige Begriffe unmögliche Zustände sozialer Verelendung ganzer Volksschichten, wie sie Zola in ‚Germinal‘ für die gleiche Zeit der Industrie-Entwicklung in Frankreich schildert. 6 Der Pauperismus, ein zeitgenössischer Begriff, der die Verarmung großer Bevölkerungsgruppen in der Frühindustrialisierung beschreibt, wurde zu einer „Dauererscheinung“ und gleichzeitig zu einem „soziologischen Begrifffür den neuzeitlichen Kapitalismus“ 7 . Durch die damalige Gesellschaft ging schon bald ein großer Schnitt, der die Bevölkerung in zwei Klassen teilte: Auf der einen Seite standen die, die „Eigentum an Produktionsmitteln, an Kapital, Sachgütern und Bildung“ 8 besaßen, auf der anderen Seite standen die Arbeiter, die unter schlechten Arbeitsbedingungen und zu geringfügigen Löhnen ihr Dasein fristeten und von diesem Eigentum ausgeschlossen waren. Schweppenhäuser betont, dass besonders die Tatsache, dass die europäische Gesellschaft zuvor noch eine Rechtsgleichheit 9 aller Menschen verkündet hatte, dieser Tatsache einen makabren Beigeschmack verlieh. 6 Schweppenhäuser 1985, S. 174. 7 Ebd., S. 175. 8 Ebd. 9 Ebd. 483 <?page no="496"?> Während dem Vormärz wuchs die europäische Bevölkerung in den Jahren zwischen 1815 und 1848 um ganze 60 Prozent an. Lebten 1815 schon 200.000 Menschen in Berlin, so waren es 1848 knapp doppelt so viele. Besonders diese Stadt war umgeben von großen Fabriken des Textilgewerbes, der Maschinenfabrikation oder anderer industrieller Zweige. Im Laufe der Zeit bewirkte die stetige Zuwanderung in die Stadt eine extremes Überangebot an Arbeitskräften, was zu einer schamlosen Ausnutzung der Arbeiter zu Hungerlöhnen unter unmenschlichen Umständen führte. Gerade die durch die Kartoffelfäule zwischen 1845 und 1849 ausgelöste Hungersnot, an der im am schlimmsten betroffenen Irland jeder Fünfte starb, führte dazu, dass viele Menschen verarmten oder an Hunger litten, auch weil sie ihre Pachtverträge nicht mehr erfüllen konnten und aus ihren alten Wohnsitzen vertrieben wurden. In Berlin kam es im April 1847 zur sogenannten „Kartoffelrevolution“, bei der es zu Plünderungen und Übergriffen auf Marktstände, Bäckereien und Fleischereien kam. Auslöser war die Tatsache, das