Frühe sprachliche und literale Bildung
Sprache lernen und fördern im Kindergarten und zum Schuleintritt
0509
2016
978-3-7720-5595-9
978-3-7720-8595-6
A. Francke Verlag
Ingrid Barkow
Claudia Müller
Der Band befasst sich mit sprachlichen Lernprozessen in der frühen Kindheit, insbesondere im Hinblick auf den Erwerb bildungssprachlicher und literaler Kompetenzen. Der Bildungsauftrag, der inzwischen auch an Kindertageseinrichtungen für Kinder zwischen 0 und 6 Jahren herangetragen wird, verlangt nach einer Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte, die in diesen Einrichtungen tätig sind. Die Beiträge richten sich an Personen, die in der akademischen Ausbildung dieser Fachkräfte Diagnose- und Förderkompetenzen im sprachlichen Bereich fachlich fundieren und reflektieren.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8595-6 Barkow/ Müller (Hrsg.) Frühe sprachliche und literale Bildung Ingrid Barkow/ Claudia Müller (Hrsg.) Frühe sprachliche und literale Bildung Sprache lernen und fördern im Kindergarten und zum Schuleintritt Der Band befasst sich mit sprachlichen Lernprozessen in der frühen Kindheit, insbesondere im Hinblick auf den Erwerb bildungssprachlicher und literaler Kompetenzen. Der Bildungsauftrag, der inzwischen auch an Kindertageseinrichtungen für Kinder zwischen 0 und 6 Jahren herangetragen wird, verlangt nach einer Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte, die in diesen Einrichtungen tätig sind. Die Beiträge richten sich an Personen, die in der akademischen Ausbildung dieser Fachkräfte Diagnose- und Förderkompetenzen im sprachlichen Bereich fachlich fundieren und re ektieren. <?page no="1"?> Frühe sprachliche und literale Bildung <?page no="3"?> Ingrid Barkow/ Claudia Müller (Hrsg.) Frühe sprachliche und literale Bildung Sprache lernen und fördern im Kindergarten und zum Schuleintritt <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem, alterungsbeständigem und holzfreiem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8595-6 Umschlagabbildung: Lorelyn Medina © 2011 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Ingrid Barkow & Claudia Müller-Brauers Einleitung ................................................................................................................ 7 I Spracherwerbsprozesse im mehrsprachigen Kontext Monika Karas Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte auf die Fast-Mapping-Leistungen von Vorschulkindern mit Deutsch als Zweitsprache ......................................................................................................... 11 Zeynep Kalkavan-Aydin Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorleseinteraktionen beim Übergang von der Kita in die Grundschule - Eine Untersuchung in mehrsprachigen Kontexten unter besonderer Berücksichtigung metasprachlicher Äußerungen........................................................................................................... 27 II Förderung bildungssprachlicher und schriftbezogener Fähigkeiten im Elementarbereich Ulrike Sell Kompensation sozialer Ungleichheit durch frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit? ............................................................................. 47 Aline Lenel & Monika Knopf Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? Die Bedeutung alltäglicher Schriftpraxis im Kindergarten für den Leseerwerb in der Zweitsprache ..... 63 Dieter Isler & Gabriela Ineichen Gespräche im Kindergarten - Erwerbskontexte schulischbildungssprachlicher Fähigkeiten ...................................................................... 81 Nicole Neumeister Sachtextkompetenz im Vorschulalter ................................................................ 97 III Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften Barbara Geist Sprachförderempfehlungen der Grundschule. Vergleich der sprachlichen Fähigkeiten und sprachbiografischen Faktoren von mehrsprachigen Kindern ................................................................................................................ 117 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis 6 Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits Sprachförderung im Elementarbereich eine Herausforderung für pädagogische Fachkräfte ................................................................................... 133 Daniel Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma Sprachförderkompetenz in der Grundschule messen: Konzeption und Pilotierungsergebnisse ....................................................................................... 149 Claudia Neugebauer Fachpersonal qualifizieren - Videocoaching und Weiterbildung zur Prozessqualität der Sprachförderung im Elementarbereich ......................... 165 Autorenverzeichnis ............................................................................................ 179 <?page no="7"?> Ingrid Barkow & Claudia Müller-Brauers Einleitung Nach Bekanntwerden der Ergebnisse internationaler Schulleistungsuntersuchungen (PISA; IGLU) sieht die Sprachdidaktik das Potential einer vorschulischen Sprachförderung in einem neuen Licht. Didaktische Angebote zur sprachlichen und literalen Bildung werden als geeignete Mittel betrachtet, um Kinder in jungen Jahren an Schriftlichkeit hinzuführen, sie auf die sprachlichen Erwartungen der Schule vorzubereiten und sprachlichen Entwicklungsverzögerungen frühzeitig entgegenzuwirken. Mit diesen Veränderungen in der gesellschaftlichen und bildungspolitischen Wahrnehmung des Elementarbereichs sehen sich pädagogische Fachkräfte mit neuen Anforderungen konfrontiert. Ihre Aufgabe besteht nicht nur darin, didaktische Konzepte in der Förderpraxis umzusetzen. Von ihnen wird auch zunehmend erwartet, die verschiedenen sprachlichen Fähigkeiten und Entwicklungsstände von Kindern adäquat zu erfassen und bei Bedarf passgenau zu fördern (vgl. auch Müller/ Zeller 2015). Die Forderung nach einer professionellen sprachlichenBildung im Kindergarten stößt allerdings auf ein Praxisfeld, das gegenwärtig in verschiedener Hinsicht von Heterogenität gekennzeichnet ist. Zum einen können die institutionellen Förderbedingungen im Vorschulbereich (Zeit, Ausstattung, Personal etc.) je nach Träger der Kindertageseinrichtung stark variieren, zum anderen weisen auch die länderspezifischen curricularen Vorgaben, die in die Konzeptionen der Einrichtungen einfließen, eine große Bandbreite auf. Heterogenität besteht außerdem in Bezug auf die konzeptionellen Vorschläge, die die Fachkräfte gegenwärtig auf dem sprachdidaktischen Markt vorfinden und welche, vergleichbar mit dem Primarbereich, implementiert werden, ohne dass eine empirische Überprüfung vorausgegangen wäre (vgl. auch Müller 2014). Schließlich lassen sich auch bei der Sprachdiagnose je nach Einrichtung und administrativer Zugehörigkeit beträchtliche Unterschiede im Einschätzungsvermögen und der Anwendung diagnostischer Instrumente durch die Fachkräfte dokumentieren (vgl. Müller et al. 2014). Diese Divergenz in der Diagnosekompetenz trifft auch auf diejenigen LehrerInnen zu, die zusammen mit den vorschulischen Fachkräften die Schuleingangsphase gestalten und häufig weder in ihrem Studium noch in Fortbildungsangeboten auf diese Aufgaben umfassend vorbereitet werden. Wir erachten es als zentral, nicht nur das Kind und dessen sprachliche Entwicklungsverläufe in den Blick zu nehmen, sondern auch die Personen, in deren beruflichen Verantwortungsbereich die Unterstützung der früh- <?page no="8"?> Ingrid Barkow & Claudia Müller-Brauers 8 kindlichen Sprachlernprozesse und Literalitätsentwicklung fällt. Professionalisierung von Fachkräften in der Frühpädagogik zielt auf deren Wissen über Sprache und Spracherwerb (einschließlich Zweitspracherwerb) und auf die Komponente ihres Handelns auf den Feldern Sprachdiagnose und Sprachförderung. Entsprechend nimmt der Band Frühe sprachliche und literale Bildung - Sprache erwerben und Sprache fördern im Kindergarten und zum Schuleintritt das sprachliche und frühe literale Lernen von Kindern aus zwei Perspektiven in den Blick: Erstens thematisiert er aus einer spracherwerbsbezogenen Sicht die sprachlichen Lernprozesse, die dem schulischen Schriftspracherwerb vorausgehen und darunter vor allem diejenigen, die zur frühen Literalitätsentwicklung zählen. Zweitens beleuchtet er unter Einbezug empirischer Kenntnisse die gegenwärtigen Förderbedingungen in Kindergarten und Kindertagesreinrichtung und deren Kopplung mit der Schuleintrittsphase. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf den Diagnose- und Förderfähigkeiten der Fachkräfte, die an dieser Schnittstelle tätig sind. Ziel des Bandes ist es, Leerstellen in der gegenwärtigen vorschulischen Sprachbildung aufzuzeigen und die zukünftige inhaltliche und administrative Ausrichtung des Elementarbereichs vor diesem Hintergrund neu zu diskutieren. Unser Dank gilt allen AutorInnen, die zur Fertigstellung dieses Bandes beigetragen haben, sowie Lisa Porps, M.Ed-Studierende der Ruhr-Universität Bochum, für die Erstellung des Layouts. Literatur Müller, C., Zeller, S. (2015): Spielen & Lernen - die Schriftsprache begreifen. DAZ- Förderkonzept „Mit Kindern das System der Sprache entdecken“ mit zahlreichen Praxismaterialien. Donauwörth: Auer. Müller, A. et al. (2014): Was ist Sprachförderkompetenz? Fachwissen und Handlungskompetenz von pädagogischen Fachkräften in der vorschulischen Sprachförderung. In: Lütke, B. & Petersen, I. (Hgg.): Deutsch als Zweitsprache: erwerben, lernen und lehren. Beiträge aus dem 9. Workshop "Kinder mit Migrationshintergrund. Stuttgart: Klett Fillibach, S. 247-262. Müller, C. (2014): Lesen- und Schreibenlernen im DaZ-DaF-Kontext - frühe schriftsprachliche Förderung hat viele Facetten. In: Frühes Deutsch 31, S. 23-24. <?page no="9"?> I Spracherwerbsprozesse im mehrsprachigen Kontext <?page no="11"?> Monika Karas Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte auf die Fast-Mapping- Leistungen von Vorschulkindern mit Deutsch als Zweitsprache 1 Einleitung In der psycholinguistischen und sprachdidaktischen Forschung wird dem Wortschatz eine zentrale Rolle bei der Rezeption und Produktion von Sprache zugeschrieben. Eine Reihe von Studien konnte zeigen, dass der Wortschatzumfang sowie die Qualität lexikalischer Repräsentationen im engen Zusammenhang mit Leseverstehensleistungen, kognitiver und begriflicher Entwicklung, Register- und Textsortenwissen sowie Grammatikerwerb stehen (Kurtz/ Vasylyeva 2014; Steinhoff 2009). Lexikalische Kompetenz ist somit für den Bildungserfolg maßgeblich und bedarf vor allem bei mehrsprachigen und monolingualen Kindern aus sog. bildungsfernen Familien einer systematischen Förderung (Appeltauer 2004). Dabei stellt der Wortschatzerwerb sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht eine Erwerbsaufgabe beträchtlichen Ausmaßes dar. Wie Studien zum Wortschatzumfang zeigen, verstehen Kinder mit sechs Jahren bereits zwischen 9.000 und 14.000 Wörter und können davon zwischen 3.000 und 5.000 aktiv produzieren (vgl. Rothweiler/ Kauschke 2007: 45). Auch in qualitativer Hinsicht ist die Aufgabe, die Kinder beim Wortlernen meistern müssen, komplex. Beim Erwerb eines neuen Wortes muss das Kind phonetisch-phonologische, semantisch-pragmatische, morphologische und syntaktische Informationen über das aus dem Input isolierte Wort aufnehmen, sie miteinander in Verbindung setzen und in das bereits existierende Netzwerk des mentalen Lexikons integrieren. In diesem Prozess wird ein zentraler Lernmechanismus, der neue Wortformen zunächst mit einer vorläufigen Bedeutung koppelt und ins mentale Lexikon übernimmt, als Fast Mapping bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum wurden die Fast Mapping-Leistungen von Sprachlernern bisher im Wesentlichen bei monolingual deutschsprachigen Kindern mit und ohne Sprachentwicklungsstörung (Rothweiler 1999, 2001; Skerra 2009) sowie in der Zweitsprache Englisch untersucht (Rohde 2005; Tiefenthal 2009). Untersuchungen zum Fast Mapping im Deutschen als Zweitsprache liegen nur vereinzelt vor (z.B. Elsing 2011). <?page no="12"?> Monika Karas 12 In dem vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse einer Studie vorgestellt (Karas 2011), in der der Einfluss von drei unterschiedlichen Lernsituationen, im Rahmen derer ein neues Wort eingeführt wurde, auf die Fast Mapping- Leistungen von Vorschulkindern mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache untersucht wurde. Ziel der Untersuchung war es, herauszufinden, welche dieser drei Lernsituationen, im Folgenden als Einführungskontexte bezeichnet, 1). Geschichte, 2) Geschichte mit einem Bild, 3) Explizite Benennung (s. dazu unten), sich am günstigsten auf das rasche Lernen neuer Nomina auswirkte. Vor dem Hintergrund der Relevanz des Wortschatzes für eine erfolgreiche Schullaufbahn trägt diese Studie zur näheren Erforschung des Wortschatzerwerbs von DaZ-Kindern bei. Die bei der Untersuchung der Fast Mapping-Fähigkeiten gewonnenen Befunde lassen didaktische Implikationen bezüglich der Wortschatzförderung zu, vor allem in Bezug auf die Frage, wie neu eingeführte Lexeme in das vorschulische Sprachförderangebot eingeführt und dabei kontextuell eingebettet werden können, damit der Aufbau eines neuen lexikalischen Eintrags bestmöglichst unterstützt werden kann. 2 Fast Mapping - terminologische Grundlagen und Einflussfaktoren Mit dem Begriff Fast Mapping, der vor über 3 Jahrzehnten von Carey (1978) in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde, wird ein mentaler Prozess bezeichnet, bei dem der Lerner einer Wortform eine erste Bedeutung zuordnet. Um diese Zuordnung vornehmen zu können, muss der Lerner drei Aufgaben bewältigen (vgl. Rohde 2005: 39): — die Isolierung der Wortform im Input — die Bildung möglicher Bedeutungen — die Verbindung von Wortform und Bedeutung. Beachtet man, dass Kleinkinder ab einem Alter von ca. 18 Monaten täglich bis zu zehn Wörter erwerben (vgl. Rothweiler/ Kauschke 2007: 44), wird diese komplexe Mapping-Aufgabe von ihnen erstaunlich schnell gemeistert. 1 Sie sind bereits nach ein- oder zweimaligem Hören eines Wortes in 1 In der Literatur lassen sich drei konkurrierende theoretische Ansätze finden, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Kinder in der Lage sind, von den im Input vorkommenden Wortformen auf die richtigen Referenten zu schließen. Diese sind: die prinzipienorientierten (u.a. Markman 1994; Clark 1993; Golinkoff/ Mervis/ Hirsh-Pasek 1994), die assoziationistischen (u.a. Plunkett 1997; Smith 2000) und die sozialpragmatischen Theorien (u.a. Nelson 1988; Tomasello 2003, 2010). Diese Erklärungsansätze, die jeweils unterschiedliche Einflussfaktoren auf das Wortlernen betonen (sprachlich-lexikalische Prinzipien, kognitive und/ oder soziale Aspekte), werden in <?page no="13"?> Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte 13 einem situativen Kontext im Stande, die Wortform mit einer vorläufigen Bedeutung zu koppeln und den neuen Eintrag in das mentale Lexikon zu übernehmen, ohne dass explizite Informationen über das Wort (z.B. in Form einer Bedeutungserklärung) gegeben werden müssen. Bei dieser raschen Ausbildung einer groben Hypothese über die Wortbedeutung nutzen Kinder im Fast Mapping-Prozess sowohl den sprachlichen als auch den nichtsprachlichen Kontext. Die erste Repräsentation des neuen Wortes kann demzufolge aus Informationen über semantische und phonetisch-phonologische Merkmale, über den syntaktischen Rahmen, in dem das Wort auftaucht, über Besonderheiten der Situation, in die es eingebettet ist, sowie über seine Beziehung zu bereits erworbenen Wörtern des gleichen semantischen Feldes bestehen (vgl. Rothweiler 2001: 58). Für das Fast Mapping ist zudem wichtig, dass das Wort zunächst in den passiven Wortschatz aufgenommen wird, da die erste Repräsentation eines neuen Wortes oft zu unvollständig ist, um die Produktion des Wortes zu ermöglichen. Während für die Wiedererkennung eines neuen Wortes nach Rothweiler (1999) phonologische Informationen wie z.B. Silbenanzahl oder Silbenkopf sowie die Zuweisung zu einem semantischen Feld und die Wortartenfestlegung genügen können, sind diese Informationen für die Produktion nicht ausreichend (Rothweiler 1999: 272f). Es sind mehrere Hörerlebnisse für das Kind nötig, damit es auch genügend semantische, grammatische und phonologische Merkmale eines neuen Wortes aufnehmen kann, um es aktiv zu produzieren 2 . Der Fast Mapping-Prozess spielt im lexikalischen Erwerb eine zentrale Rolle. Er führt zur schnellen Entstehung eines neuen lexikalischen Eintrags und damit zur Umstrukturierung des betroffenen lexikalischen Bereichs (vgl. Rothweiler 2001: 58). Dennoch ist zu betonen, dass der Worterwerb mit dem Fast Mapping-Prozess nicht abgeschlossen ist, da die in der ersten Phase geschaffene Repräsentation eines neuen Wortes nicht zwangsläufig erwachsenenbzw. zielgerecht ist. Sie ist, wie oben angedeutet, semantisch, syntaktisch und phonologisch rudimentär und wird erst im Laufe der Zeit allmählich ausdifferenziert. Somit werden in der Fast Mapping-Literatur beim Erwerb eines Wortes in Anlehnung an Carey (1978: 274, 291) zwei Phasen unterschieden: Zum einen der Fast Mapping-Prozess, und zum anderen die darauffolgende Phase des sogenannten Extended Mapping (auch Long, einem vierten, neueren Wortschatzerwerbsansatz gebündelt: im sog. „Emergentist Coalition Model for word learning“ (Hollich/ Hirsh-Pasek/ Golinkoff 2000: 24). Für einen Überblick vgl. u.a. Klann-Delius (2008a, b); Karas (2011). 2 Für Rothweiler ist in diesem Zusammenhang denkbar, von quantitativen und qualitativen Fast Mapping-Leistungen zu sprechen. Während auf der quantitativen Ebene ungenaue Repräsentationen sich in guten Verständnisleistungen niederschlagen, sind auf der qualitativen Ebene genauere Informationen zu einem Wort nötig, damit es für die Produktion verfügbar sein kann (Rothweiler 2001: 290). <?page no="14"?> Monika Karas 14 Drawn out oder Slow Mapping genannt), in der die bereits abgespeicherte, aber unvollständige Repräsentation eines Wortes vervollständigt wird. Jedes Mal, wenn das Kind mit dem Wort in einem situativen Kontext konfrontiert wird, wird es auf seine erste bereits existierende Repräsentation zugreifen und sie um weitere Informationen ergänzen. Somit nähert sich das Kind schrittweise der zielgerechten, konventionellen Verwendung dieses Wortes an. Zusammenfassend werden in Abbildung 1 die oben dargestellten Phasen des Erwerbs eines neuen Wortes sowie eine Reihe von Fast Mapping beeinflussenden Faktoren illustriert. Abb. 1: Sukzessive Phasen des Erwerbs einer Wortbedeutung und Einflussfaktoren Wie aus der Abbildung hervorgeht, wurden die möglichen Einflussfaktoren in zwei Gruppen eingeteilt: in interne und externe Faktoren. Während zu den internen Faktoren die Eigenschaften des Lerners zählen, wie z.B. sein Alter, sein Wortschatz- und Weltwissen oder seine Gedächtnisleistung, gehören zu den externen Faktoren die Merkmale des Sprachangebots, wie beispielsweise Merkmale des neuen Wortes und des Referenten, die Anzahl der neu eingeführten, unbekannten Wörter, der Einführungskontext oder die Frequenz. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass aufgrund der Komplexität des lexikalischen Erwerbs selbstverständlich noch andere, hier nicht aufgeführte Einflussfaktoren vorliegen können (vgl. Crais 1992: 165ff; Tiefenthal 2009: 23ff). <?page no="15"?> Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte 15 In diesem Beitrag wird der Einfluss einer der externen Faktoren, des Einführungskontextes, auf den Fast Mapping-Prozess behandelt. Erstmalig beschäftigte sich Dickinson (1984) mit dem Einfluss verschiedener Einführungskontexte auf die Fast Mapping-Leistungen kindlicher Lerner. Ob und wie die Einführungskontexte das Fast Mapping beeinflussen, wird auch in neueren Arbeiten untersucht (Grela/ Krcmar/ Lin 2004; Tiefenthal 2009). Versucht man die Ergebnisse dieser Studien miteinander in Verbindung zu bringen und zu vergleichen, so stellt sich dieser Versuch als äußerst schwierig dar. Dies ist vor allem auf unterschiedliche methodologische Vorgehensweisen zurückzuführen, die erheblich variieren. Die Unterschiede sind schon im Hinblick auf z.B. Stichprobengröße, Alter und Sprache der Probanden sichtbar. Auch die Umsetzung der Experimente ist sehr vielfältig. Es unterscheiden sich die Einführungskontexte (Spiel, Geschichte, Videofilme etc.), im Rahmen derer sich auch die Anzahl, die Präsentationshäufigkeit und die Wortklassenzugehörigkeit der unbekannten Wörter ändern. Auch in der Testphase lassen sich zahlreiche Unterschiede finden. Dennoch lassen die Studien folgende Schlussfolgerungen in Bezug auf den Einfluss verschiedener Einführungskontexte auf die schnelle Wort-Bedeutung- Zuordnung zu: 1) Der Kontext, im Rahmen dessen ein neues Wort präsentiert wird (wie z.B. eine Geschichte, eine Videosequenz oder eine explizite Benennung), hat einen Einfluss auf die Fast Mapping-Leistungen der Probanden (vgl. Dickinson 1984; Grela/ Krcmar/ Lin 2004; Tiefenthal 2009). 2) In der Regel weisen die Probanden die besten rezeptiven Leistungen auf, wenn das neue Wort gleichzeitig mit dem bezeichneten Objekt präsentiert wurde, also im Benennungskontext. 3 Anlage der Fast Mapping-Studie In der vorliegenden Studie wurden die rezeptiven und produktiven Fast Mapping-Leistungen bei Vorschulkindern mit Deutsch als Zweitsprache sowie bei gleichaltrigen, einsprachig deutschen Kindern in drei verschiedenen Einführungskontexten untersucht. Die ausgewählten Kontexte, 1) Geschichte, 2) Geschichte mit einem Bild, 3) Explizite Benennung, spiegeln dabei typische Lernsituationen wider, denen Kinder in ihrem Kindergartenalltag häufig begegnen. Die Arbeit verfolgte dabei folgende Ziele: Zum einen sollte untersucht werden, ob der Fast Mapping-Prozess durch die verschiedenen Einführungskontexte beeinflusst wird, zum anderen ging die <?page no="16"?> Monika Karas 16 Studie der Frage nach, welcher Einführungskontext sich für das anfängliche, schnelle Wortlernen am günstigsten erweist. 3 3.1 Stichprobe An der Untersuchung nahmen insgesamt 75 sprach- und entwicklungsunauffällige Vorschulkinder (davon 51 mit Deutsch als Zweitsprache und 24 mit Deutsch als Erstsprache) teil, deren durchschnittliches Alter 5; 9 Jahre betrug. Alle Kinder besuchten einen Kindergarten oder eine Kindertagesstätte in Heidelberg und Umgebung mit einem sehr hohen Anteil an mehrsprachigen Kindern. Da die Fast Mapping-Leistungen der Kinder in drei unterschiedlichen Einführungskontexten untersucht werden sollten, wurden die Probanden dementsprechend in drei Gruppen zu je 25 Kindern (jeweils 17 Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und acht mit Deutsch als Erstsprache) eingeteilt, wobei in diesem Beitrag ausschließlich die Ergebnisse der DaZ-Kinder vorgestellt werden. Diese wiesen unterschiedliche Erstsprachen auf, am häufigsten Russisch (33 %) und Türkisch (29 %). Bei der Zusammenstellung der Gruppen wurde u.a. darauf geachtet, dass sich in jeder Gruppe Kinder beider Geschlechter befanden, in jedem Kindergarten Untersuchungen zu allen drei Kontexten durchgeführt wurden und dass alle untersuchten Kinder ausreichende Deutschkenntnisse aufwiesen 4 , um der Einführungsphase und den sich daran anschließenden Instruktionen der Testleiterin folgen zu können. 3.2 Durchführung und Aufbau der Untersuchung Die Erhebungen erfolgten zwischen März und Mai 2010 und wurden mit jedem Kind einzeln in einem gesonderten, ruhigen Raum spielerisch mit Hilfe einer Handpuppe durchgeführt. Die Testung dauerte pro Kind etwa 10 bis 15 Minuten und wurde mit einem digitalen Diktiergerät aufgenommen. Hintergrundvariablen wie z.B. Erstsprache des Kindes, sein Alter und Kontaktdauer wurden bereits vor der Testdurchführung im Rahmen der Gespräche mit dem pädagogischen Personal erfasst. Die Fast Mapping-Leistungen der Kinder wurden mit Hilfe eines speziell dafür entwickelten Testverfahrens, das aus drei Phasen bestand, untersucht: Einer in jeder Untersuchung anders verlaufenden Inputphase, in der das 3 Ein weiteres Ziel der Studie war, die Fast Mapping-Leistungen von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache und Kindern mit Deutsch als Erstsprache zu vergleichen. Da in diesem Beitrag ausschließlich die Ergebnisse der DaZ-Kinder vorgestellt werden, wird auf den Vergleich der beiden Probandengruppen nicht näher eingegangen. 4 Dies wurde im Rahmen von Gesprächen mit dem pädagogischen Personal der Einrichtungen und/ oder anhand der vorliegenden Sprachdaten vorab festgestellt. <?page no="17"?> Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte 17 Zielwort eingeführt wurde, folgten sowohl Sprachverständnisals auch Sprachproduktionstest. Unabhängig von dem Einführungskontext wurde den Kindern immer ein gleiches Zielwort (Kunstwort) präsentiert, das auf ein erfundenes Objekt (Kunstobjekt) referierte. Die Verwendung von Kunstwörtern und -objekten spielt bei der Konzipierung einer Fast Mapping-Studie eine entscheidende Rolle, denn nur mit ihrem Einsatz kann sichergestellt werden, dass die Fast Mapping-Lerneffekte der Kinder ausschließlich auf das im Rahmen der Untersuchung durchgeführte Experiment zurückzuführen sind (vgl. dazu Rothweiler 2001; Skerra 2009). In den hier vorgestellten Untersuchungen referiert das Zielwort auf ein nicht existierendes tierähnliches Wesen, das keinerlei Ähnlichkeit mit einem anderen bekannten Tier aufweist. Es wurde mit einem einsilbigen Kunstwort Zilp [ lp] (dem Zielwort) bezeichnet, das der Phonotaktik des Deutschen entspricht. Das Wort reimt sich mit keinem bekannten deutschen Wort, sodass die Fast Mapping-Leistungen nicht gestört werden können. Im Folgenden sollen die drei unterschiedlichen Einführungskontexte, in denen das Zielwort Zilp im Rahmen der Teilstudien auftrat, kurz charakterisiert werden. In Teilstudie I und II wurde das Zielwort im Rahmen einer von der Handpuppe erzählten Abenteuergeschichte eingeführt. Dabei wurde das neue Kunstwort weder unnatürlich betont noch seine Bedeutung explizit thematisiert. Im Gegensatz zu Untersuchung I wurde dem Kind in Untersuchung II zusätzlich eine große DIN A4-Abbildung gezeigt, die eine Szene aus der erzählten Geschichte illustrierte und während des Erzählens betrachtet werden konnte. Wichtig ist, dass weder vor, während, noch nach der Erzählung mit dem Kind über das Bild gesprochen wurde. Bevor der Verständnistest in Untersuchung II begann, wurde das Bild entfernt, damit das Kind während der Verständnisaufgabe nicht auf die Abbildung zurückgreifen konnte. In beiden Untersuchungen tauchte das Zielwort jeweils sieben Mal auf (sechsmal in der Geschichte, die für beide Studien gleich war, und einmal im Rahmen der Verständnisaufgabe). Die Einführungsphase zu Untersuchung III wies einen anderen Aufbau auf. Das neue Wort wurde hier explizit eingeführt. Der Referent wurde in einem einfachen situativen Kontext präsentiert, indem die Handpuppe ihre Freunde mit dem Satz „Das ist die Kuh/ der Zilp/ der Elefant“ vorstellte und jedes Mal das entsprechende Tier hochhob. In Untersuchung III wurde das Zielwort insgesamt nur zweimal genannt: Einmal in der Einführungsphase und einmal im Verständnistest. Der Grund für die reduzierte Verwendung des Zielwortes hängt mit dem Untersuchungsdesign zusammen: Eine häufigere Benennung des Tieres hätte in diesem Kontext unnatürlich gewirkt. 5 5 Fast Mapping-Studien zeigen, dass bereits eine einzige Konfrontation mit einem unbekannten Wort für kleine Kinder ab einem Alter zwischen 12-15 Monaten ausreichend <?page no="18"?> Monika Karas 18 Bei der Konzipierung der Untersuchungen wurde versucht, sowohl die Verständnisals auch die Produktionstests in allen Kontexten vergleichbar aufzubauen. Somit bestand die Aufgabe des Kindes in der Verständnisaufgabe eines jeden Tests darin, aus sieben Bildern/ Stofftieren, die in einer Reihe vor dem Kind platziert wurden, die jeweils geforderten auszuwählen. In den sieben Antwortmöglichkeiten war stets das Zielobjekt, der Zilp, enthalten, außerdem andere Tiere, die in der Einführungsphase vorkamen, sowie dem Kind bekannte (z.B. Elefant) oder unbekannte (grünes Fabeltier) Distraktoren, und schließlich (vermutlich) unbekannte Gegenstände (z.B. Luftpumpe und Kaffeemühle) (vgl. Rohde 2005; Tiefenthal 2009). In der Produktionsaufgabe gab es immer vier von dem Kind zu benennende Tiere (entweder als Abbildungen oder Stofftiere), unter denen sich der Zilp befand. Tabelle 1 zeigt eine Übersicht über die drei Phasen der Untersuchungen. Untersuchung I Untersuchung II Untersuchung III EINFÜHRUNG EINES NEUEN WORTES Geschichte (269 Wörter) Geschichte + Bild (269 Wörter) Vorstellung der Stofftiere + explizite Benennung VERSTÄNDNISTEST Aufgabe der Kinder: Aus sieben Bildern die vier geforderten (darunter das Zielobjekt) auswählen Aufgabe der Kinder: Aus sieben Bildern die vier geforderten (darunter das Zielobjekt) auswählen Aufgabe der Kinder: Aus sieben Stofftieren die vier geforderten (darunter das Zielobjekt) auswählen PRODUKTIONSTEST Aufgabe der Kinder: Benennen ausgewählter Tierabbildungen (darunter das Zielwort) Aufgabe der Kinder: Benennen ausgewählter Tierabbildungen (darunter das Zielwort) Aufgabe der Kinder: Benennen ausgewählter Stofftiere (darunter das Zielwort) Tab. 1: Übersicht über die Phasen der einzelnen Teilstudien Das ähnliche Design der drei Fast Mapping-Untersuchungen sollte der optimalen Vergleichbarkeit dienen. Somit wurde gewährleistet, dass die Ergebnisse ausschließlich auf die unterschiedlichen Einführungskontexte zurückzuführen sind. ist, um es in ihr mentales Lexikon aufzunehmen (vgl. Crais 1992: 160; Tiefenthal 2009: 63). <?page no="19"?> Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte 19 4 Ergebnisse der Studie 4.1 Rezeptive Kompetenz Abbildung 2 illustriert die Ergebnisse des Verständnistests bei DaZ-Kindern in allen drei Teilstudien. Als „korrekt“ gilt dabei die Auswahl des Fabeltiers als Referenten des neuen Wortes Zilp. Abb. 2: Vergleich der rezeptiven Kompetenz bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache in den drei Teilstudien Aus der obigen Abbildung geht hervor, dass DaZ-Kinder unter den Bedingungen von Untersuchung III die besten Fast Mapping-Leistungen bezüglich der Rezeption erzielten. Hier erkannten 14 der 17 Kinder (82 %) den richtigen Referenten der neuen Wortform. In Untersuchung II fielen die Ergebnisse schlechter aus: Im Vergleich zu Untersuchung III waren zwei Kinder weniger (zwölf Kinder, 70 %) in der Verständnisaufgabe erfolgreich. Am schlechtesten schnitten die Kinder in Untersuchung I ab. Lediglich knapp die Hälfte der Kinder (acht Kinder, 47 %) wählte das richtige Bild aus. Die restlichen Kinder waren nicht in der Lage, der neuen Wortform Zilp eine erste Bedeutung richtig zuzuordnen. Mit Ausnahme von zwei Kindern, die jeweils in Untersuchung I und III keine Antwort gaben, entschieden sich die anderen für eine falsche Tierabbildung bzw. ein falsches Stofftier, wobei eine Zuordnung als „falsch“ interpretiert wurde, wenn nicht das Zielobjekt ausgewählt wurde. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich für die rezeptiven Fast Mapping-Leistungen die Einführungskontexte der Untersuchungen in folgender Abfolge am besten eigneten: <?page no="20"?> Monika Karas 20 Untersuchung III > Untersuchung II > Untersuchung I (Explizite Benennung > Geschichte + Bild > Geschichte). 4.2 Produktive Kompetenz Der nachfolgenden Abbildung 3 sind die Produktionsergebnisse der DaZ- Kinder in allen drei Untersuchungen zu entnehmen. Dabei gelten sowohl die korrekten als auch die phonetisch ähnlichen Benennungen wie z.B. [ rp], [ l] als „korrekt“. Abb. 3: Vergleich der produktiven Kompetenz bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache in den drei Teilstudien Die Grafik zeigt, dass das Zielobjekt am häufigsten in der Untersuchung I korrekt benannt wurde: Neun von 17 untersuchten Kindern (53 %) gelang es hier, die neue Wortform zu produzieren. In Untersuchung II benannten zwei Kinder weniger (sieben Kinder, 41 %) das Zielobjekt richtig. Auffällig ist, dass in Untersuchung III lediglich ein Kind im Stande war, eine phonetisch ähnliche Bezeichung zu produzieren. Was die Produktion nicht richtiger Bezeichnungen anbelangt, so wurden diese in jeder Untersuchung zwei Mal geäußert. In der Regel handelte sich dabei um bereits existierende Wörter, wie z.B. [kre: ps], [p g n] etc. Hinsichtlich der Ergebnisse in der Produktionsaufgabe erweist sich der Einführungskontext der Untersuchung I als der günstigste: Untersuchung I > Untersuchung II > Untersuchung III (Geschichte > Geschichte + Bild > Explizite Benennung). <?page no="21"?> Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte 21 5 Diskussion der Ergebnisse In der vorliegenden Studie wurden die Fast Mapping-Leistungen von Vorschulkindern mit Deutsch als Zweitsprache anhand eines Testverfahrens, das aus einem Verständnis- und Produktionstest bestand, in drei unterschiedlichen Einführungskontexten untersucht. Ziel der Untersuchung war es, herauszufinden, ob unterschiedliche Einführungskontexte Einfluss auf die Fast Mapping-Leistungen haben und welcher Einführungskontext sich für das schnelle Lernen neuer Nomina am günstigsten erweist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die DaZ-Kinder in der Lage sind, in jedem der drei untersuchten Einführungskontexte den Fast Mapping-Prozess zu leisten. Allerdings erfolgt die Verbindung von Wortform und Bedeutung, wie die Ergebnisse dieser Studie zeigen, in den verschiedenen Lernkontexten nicht mit derselben Effektivität: Unterschiedliche Einführungskontexte haben einen Einfluss auf den Fast Mapping-Prozess. Dieses Ergebnis stimmt mit den Resultaten der Studien von Dickinson (1984), Grela/ Krcmar/ Lin (2004) sowie Tiefenthal (2009) überein. Den erhobenen Daten zufolge erwies sich Untersuchung III (explizite Benennung) für die rezeptive Kompetenz der Probanden am besten. Zur Erklärung dieses Befunds lässt sich das Modell des mentalen Lexikons von Levelt (1989) heranziehen. Ein lexikalischer Eintrag besteht demnach aus zwei Elementen: Lemma und Lexem. Während das Lemma semantische und syntaktische Informationen enthält, beinhaltet das Lexem morphologische und phonologische Informationen. Die Bedeutungs- und Forminformationen, die zusammen den Lexikoneintrag bilden, sind somit zwar miteinander verbunden, aber zugleich getrennt abgelegt und können zumindest teilweise unabhängig voneinander aktiviert und verarbeitet werden (Levelt 1989: 11f, 182ff). Demzufolge kann das Kind dem Einführungskontext der Untersuchung III aufgrund der Präsenz des Referenten viele semantische Informationen entnehmen, also eine Lemma-Repräsentation aufbauen, die sich dann in guten Verständnisleistungen niederschlägt. Eine solche Vorgehensweise, in der das unbekannte Wort in einer expliziten Benennung eingeführt wird, wirkt sich sehr günstig auf die rezeptiven Fast Mapping- Leistungen aus, was mit den Ergebnissen der Studie von Grela/ Krcmar/ Lin (2004) konform ist. Die Ergebnisse der Untersuchungen I und II, in deren Rahmen das Zielwort in einer Geschichte auftauchte, fielen dagegen hinsichtlich der rezeptiven Kompetenz schlechter aus. Eine Geschichte stellt einen Kontext dar, in dem die DaZ-Kinder zwar durchaus Fast Mapping leisten können, allerdings nicht mit demselben Erfolg wie bei einer expliziten Benennung (Untersuchung III). Dies lässt sich mit dem Fehlen der gleichzeitigen Präsentation von der neuen Wortform und ihrem Referenten, wie sie dem Lerner in Untersuchung III angeboten wurde, erklären. Es wurde weiterhin herausge- <?page no="22"?> Monika Karas 22 funden, dass der Einsatz eines Bildes zusammen mit einer Geschichte die rezeptiven Fast Mapping-Leistungen der Kinder beeinflusst. Da die Ergebnisse der Kinder in Untersuchung II besser waren, lässt sich daraus ableiten, dass dieser Einfluss positiv war. Das eingesetzte Bild liefert den Kindern beim Erzählen einer Geschichte viele semantische Informationen zum Aufbau der Lemma-Ebene, was sich in guten Verständnistestergebnissen widerspiegelt. Während die Kinder für den Aufbau einer ersten, vorläufigen Verbindung zwischen der Form und Bedeutung eines unbekannten Wortes (wie Zilp) die Bildinformationen nutzen können, wird der sprachlichen Form vermutlich weniger Beachtung geschenkt. Die unzureichende Lexem- Repräsentation schlägt sich somit in den schlechteren Produktionsleistungen nieder. Bei der Analyse der produktiven Kompetenz der Probanden konnte herausgefunden werden, dass die für die Rezeption günstigen Kontexte nicht unbedingt auch für die Produktion förderlich sind. So wurde in der produktiven Aufgabe der Kontext der Untersuchung I als der günstigste festgestellt, gefolgt von Untersuchung II und III - ein spiegelverkehrtes Ergebnismuster im Vergleich zur Rezeption. Hier stellt sich die Frage, warum sich der Geschichtenkontext ohne Bild als günstiger erwies als der Geschichtenkontext mit Bild. Eine mögliche Erklärung hierfür liegt darin, dass das gleichzeitige Betrachten des Bildes und das Zuhören der Geschichte mehr Aufmerksamkeit als das reine Zuhören erfordert. Nimmt man an, dass die Verarbeitungskapazität begrenzt ist und bei parallelen Verarbeitung- und Speicheranforderungen auf beide Bereiche aufgeteilt werden muss (Case 1985, 1992; zit. nach Hasselhorn/ Grube 2006: 294f), kann man daraus schlussfolgern, dass die DaZ- Kinder in Untersuchung II die meisten kognitiven Ressourcen für die Verarbeitung und das Verständnis der Geschichte verbrauchten, so dass ihnen weniger Kapazität für das Speichern der Lexem-Information blieb. Eine weitere mögliche Erklärung für die besseren Ergebnisse in Untersuchung I liegt darin, dass sich die Kinder bei einer Geschichte ohne ergänzende Abbildung mehr auf die lautliche Seite der Sprache konzentrieren müssen, um Bedeutungszusammenhänge aufzubauen. In dieser Untersuchung ist die phonologische Form des Zielwortes für die Erschließung der Bedeutung also unerlässlich. Dies könnte zur Folge haben, dass in Untersuchung I die Aufmerksamkeit der Kinder zum Zwecke des Verständnisses der Geschichte verstärkt auf die dargebotenen phonologischen Formen gerichtet wäre. In Untersuchung II hingegen können die Kinder zum Verständnis gelangen, indem sie zusätzlich dem Bild entnommene Informationen mit in den Bedeutungsaufbau einbeziehen. Es ist anzunehmen, dass, sobald ein visueller Stimulus vorliegt, das Kind mit dessen Hilfe versucht, die Bedeutung des unbekannten Wortes zu erschließen und nicht mehr ausschließlich auf die phonologische Form angewiesen ist. Die sprachliche Form von Ausdrücken <?page no="23"?> Zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte 23 findet also in Teilstudie II möglicherweise weniger Beachtung. Abschließend ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich auf Grund der geringen Diskrepanz zwischen Untersuchung I und II die hier diskutierten Erkenntnisse zur produktiven Kompetenz der DaZ-Kinder mit angemessener Vorsicht eher als eine Beobachtung und nicht als ein Ergebnis anführen lassen. Dass sich die Teilstudie III nicht günstig auf die produktive Kompetenz der Probanden auswirkt, lässt sich vermutlich mit der geringen Benennungshäufigkeit erklären. Das zweimalige Hören eines neuen Wortes reicht nicht aus, um eine Wortform produzieren zu können. Dieser Befund ist mit den Erkenntnissen aus der Fachliteratur konsistent (vgl. Rothweiler 1999, 2001; Crais 1992): Zur aktiven Produktion eines neu gelernten Wortes sind mehrere Konfrontationen mit ihm nötig, damit nicht nur auf der Lemmasondern auch auf der Lexemebene ein bestimmter Grad an Differenziertheit erreicht werden kann. 6 Fazit Aus den oben dargestellten Ergebnissen bleibt festzuhalten, dass der Fast Mapping-Prozess in allen drei in dieser Studie untersuchten Einführungskontexten stattfinden kann. Bei der Datenanalyse wurde jedoch deutlich, dass das Fast Mapping nicht in jedem Kontext mit derselben Effektivität erfolgt. Des Weiteren muss beachtet werden, dass Kontexte, die zu guten rezeptiven Leistungen führen, nicht notwendigerweise zugleich gute produktive Ergebnisse mit sich bringen. Für die Unterstützung des Wortschatzerwerbs der Vorschulkinder im Rahmen von Kindergartenaktivitäten oder Sprachfördereinheiten ist es denkbar, unterschiedliche Lernkontexte anzubieten, um die rezeptive und produktive Kompetenz der Kinder optimal zu unterstützen. So könnte z.B. bereits vor einer Vorlesesituation ein neues Zielwort bzw. mehrere Zielworte im Rahmen einer expliziten Benennung eingeführt werden (Schau mal, das ist der Zilp […]). Während des daran anschließenden Vorlesens der Geschichte, in der das Zielwort häufig wiederholt wird, wird dem Lerner der Ausbau des lexikalischen Eintrags ermöglicht. Im Rahmen dieses Beitrags wurden erstmalig die Ergebnisse zum Einfluss unterschiedlicher Einführungskontexte auf das Fast Mapping bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache vorgestellt. Dabei ist der Pilotcharakter der Untersuchung zu berücksichtigen. Es wäre durchaus interessant, die Fast Mapping-Leistungen der DaZ-Kinder vor dem Hintergrund weiterer Einflussfaktoren näher zu betrachten. Hier wäre z.B. die wiederholte Untersuchung von den hier vorgestellten sowie weiteren Einführungskontexten an einer größeren Probandenanzahl, die Einbeziehung anderer Wortarten oder die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Wortschatzum- <?page no="24"?> Monika Karas 24 fang eines Kindes und seinen Fast Mapping-Leistungen von Interesse. Künftige Untersuchungen sollten weiterhin der Frage nach der Rolle von Abbildungen für den Aufbau eines neuen lexikalischen Eintrags nachgehen und die in diesem Beitrag aufgeführte Beobachtung, dass der Einsatz von Abbildungen möglicherweise zu einer ungenauen Repräsentation auf der Lexemebene führen kann, eingehender beleuchten. Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass das Phänomen des Fast Mapping, wie in Kapitel 2 dargestellt, nur der Einstieg in den Erwerb eines Wortes ist. Dem Fast Mapping folgt eine länger andauernde Phase des Extended Mapping, in der der erste vorläufige lexikalische Eintrag im Laufe der Zeit ausdifferenziert wird. Die Vervollständigung der ersten Repräsentation eines neuen Wortes und ihre allmähliche Anpassung an den zielgerechten, konventionellen Gebrauch eines kompetenten, erwachsenen Sprechers stellt eine nicht weniger interessante und komplexe Erwerbsaufgabe dar. In diesem Sinne schlägt das „Robuste Wortschatztraining“ (vgl. Kurtz 2012), das im Rahmen des Konzepts „Integrierte Sprachförderung in 3. und 4. Klassen“ nach G. Kurtz Anwendung findet, strukturierte Lernangebote zur Förderung des Bildungswortschatzes vor. So ist zu jedem Zielwort eine Reihe von unterschiedlichen, sich über eine längere Zeitspanne vollziehenden Aktivitäten vorgesehen, die sowohl formale als auch semantische Anteile der Zielwörter fokussieren und zum gut vernetzten, tief verstandenen Wortschatz führen sollen. Literatur Apeltauer, E. 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Cambridge [u.a.]: MIT Press. <?page no="27"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorleseinteraktionen beim Übergang von der Kita in die Grundschule - Eine Untersuchung in mehrsprachigen Kontexten unter besonderer Berücksichtigung metasprachlicher Äußerungen 1 Literalitätsbezogener Schriftspracherwerb bei mehrsprachigen Kindern In diesem Beitrag geht es um den Erwerb schriftsprachlicher Fähigkeiten bei zweisprachigen Vorschulkindern. Die Untersuchung bezieht sich auf Daten zu Vorleseinteraktionen im familiären Kreis zwischen Mutter bzw. Vater und Kind, die über einen Zeitraum von 10 Monaten erhoben wurden. Während der Vorlesephasen erfolgen sowohl seitens der Elternteile als auch von Seiten der Kinder Bemerkungen, Fragen oder Erläuterungen zu Bildern, Schriftzeichen, zum Textinhalt oder zum Vorlesen als solches. Vor dem Hintergrund des Schriftspracherwerbs in den „frühen Phasen“ erscheint es interessant, zu untersuchen, inwieweit derartige Äußerungen in der Erstsprache Türkisch (L1) und Zweitsprache Deutsch (L2) vorgenommen werden und wie sie ggf. als Gesprächsanlass dienen. Der Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut: In Abschnitt 2 wird ein Überblick zum theoretischen Hintergrund des Beitrags gegeben. Im dritten Abschnitt folgen zunächst allgemeine Informationen zum Forschungsprojekt „Sprachentwicklung in Erst- und Zweitsprache - Sprachbiografien und Spracherwerb im Vorschulalter bei ein- und zweisprachigen Kindern“ (Standorte Münster und Dortmund) 1 und zum Korpus (3.1 bis 3.3). Im darauffolgenden Abschnitt (4) werden die Analysen einzelner Vorleseinteraktionen von zwei ausgewählten Probanden mit Türkisch als L1 vorgenommen. Die Abschnitte 4.1 bis 4.3 umfassen die jeweiligen Analysen der Probanden ALYI und ESEM. In 4.4 werden die Einzelergebnisse kurz miteinander verglichen und zusammenfassend dargestellt. Im letzten Abschnitt (5) folgt das Fazit mit einem sprachdidaktischen Ausblick. 1 Nähere Informationen erfolgen in Kap. 3. <?page no="28"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 28 2 Theoretischer Hintergrund Schriftsprachliche Fähigkeiten von Kindern entwickeln sich individuell. Insbesondere beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule sind Erfahrungen mit Schrift und Literalität sehr heterogen (z.B. Andresen 2010). Beim Bilderbuchbetrachten sowie auch beim Zuhören oder Lesen werden kognitive Fähigkeiten abverlangt, die bspw. die Bild-Text-Zuordnung betreffen und die Kinder zum Teil bereits vor der Einschulung entwickeln (Braun 2007; Feneberg 1996). Man denke da an mehrsprachige Kinder, die durchaus Schriftkenntnisse in ihrer Erst- und Zweitsprache mitbringen können. Der Forschungsgegenstand zum Schriftspracherwerb (z.B. Becker 2013; Dehn 2007) wird in den letzten Jahren ausgeweitet, indem nunmehr der Erwerb schriftsprachlicher Fähigkeiten bei mehrsprachigen Kindern einen eigenständigen Forschungsbereich zu bilden scheint. So rücken neben Analysen erster Verschriftlichungen in der Schulanfangsphase (z.B. Becker 2013; Grießhaber/ Kalkavan 2012) immer mehr auch Untersuchungen zum Erwerb dieser Kompetenzen im familiären Kontext und in Bezug auf Literalitätsförderung in den Vordergrund (Apeltauer 2003; Kalkavan 2013; Kuyumcu 2006). Füssenich und Geisel (2008: 31-32) erarbeiteten einen groben Überblick über zentrale Bereiche des Schriftspracherwerbs, die in der Gesamtentwicklung des Schriftspracherwerbs eine bedeutende Rolle spielen und durch Literacy (Nickel 2004) gefördert werden können. Diese wären: 1) Wahrnehmung von Schrift durch Erprobung von Schrift und ihrer Funktion sowie die Entwicklung eines positiven Zugangs zu Büchern und Lesegewohnheiten 2) Einsicht in den Aufbau von Schrift durch mehr Aufmerksamkeit auf formale Aspekte der Sprache, das Nachdenken über und Spielen mit Sprache sowie das Erkennen des Zusammenhangs zwischen gesprochener und geschriebener Sprache 3) Kenntnisse von Begriffen, Konventionen der Schrift und (Buch)Konzepten erwerben 4) Erweiterung sprachlicher Fähigkeiten durch Dekontextualisierung von Sprache und Entwicklung von Textverständnis. Diese Bereiche spiegeln sich auch in Eltern-Kind-Vorleseinteraktionen wider. Dass Interaktion zwischen Mutter und Kind auch beim Vorlesen bzw. gemeinsamen Bilderbuchbetrachten ein wesentlicher Baustein in Bezug auf die Entwicklung (schrift)sprachlicher Fähigkeiten ist, unterstrich bereits Bruner (2008, 1987). Auch Nickel (2004, 2005) hebt hervor, wie substanziell das Vorlesen von Bilderbüchern bereits in den ersten Lebensjahren ist. Er unterstreicht die Bedeutsamkeit literalitätsbezogener Fähigkeiten für den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Braun (2007: 128) verweist <?page no="29"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 29 in ihrer Studie zum gemeinsamen Bilderbuchlesen ebenfalls auf die Wirksamkeit der interaktiven Prozesse zwischen Mutter (Elternteil) und Kind und bezeichnet diese als „spezifische Handlungssituation[en]“ (2007: 129). Sie bezieht sich auf Arbeiten von Ninio und Bruner (in Braun 2007) und geht auf Vygotskis (1978) zentrale Aussage über den kindlichen Spracherwerb ein: Ninio und Bruner haben unter Aufgriff des Konzepts der „Zone der nächsten Entwicklung“ (vgl. Vygotsky 1978) gezeigt, wie innerhalb routinehaft ablaufender Interaktionssequenzen (den sog. Formaten) sowohl Prozesse der Bedeutungszuschreibung als auch der mütterlichen Feinabstimmung entwicklungswirksam sind. (Braun 2007: 128) Entscheidend sind für die interaktiven Prozesse zwischen Mutter und Kind, dass es sich um routinehaft abflaufende Sequenzen handelt (Kap. 4.1 und 4.2 in diesem Beitrag). Es kann daraus abgeleitet werden, dass beide Interaktionspartner sowohl auf inhaltliche als auch auf formale und metasprachliche Aspekte eingehen können. Bei mehrsprachigen Kindern und Eltern sind zusätzlich unterschiedliche Faktoren zu berücksichtigen: sprachliche Fähigkeiten in L1 und L2, Erfahrungen über Schrift und Schriftkultur innerhalb der Familie und schließlich die Erzählbzw. Vorlesekultur in den einzelnen Sprachen (Apeltauer 2003; Kalkavan-Ayd n, i. Dr.). Kuyumcu (2006: 42) verdeutlicht dieses Zusammenspiel sowie die Bezüge zwischen Erst- und Zweitsprache untereinander an einem Modell. Sie stellt die jeweiligen Kompetenzen in L1 und L2 im Kontext gesprochener und geschriebener Sprache dar und veranschaulicht Zusammenhänge zwischen diesen. Bei der gesprochenen Sprache scheinen sich die Faktoren gegenseitig aufeinander auszuwirken. So bedingen sich nach Kuyumcu (2006) etwa Grundzüge sprachlicher Strukturen und Erfahrungen im Erzählen in der L1 und Fähigkeiten in der L2 gegenseitig. Diese wirken sich positiv auf die Entwicklung konzeptionell schriftsprachlicher Fähigkeiten in L1 und L2 aus, z.B. beim reflektierten Sprachgebrauch. Je stärker die L1 entwickelt ist, umso mehr können positive Übertragungen in die L2 sichtbar werden (vgl. Kalkavan-Ayd n, i.D.). Aus den interaktiven Handlungssequenzen, die im Korpus dieser Analyse vorliegen, geht hervor, dass sich die Kinder entweder auf metasprachlichformale Aspekte von Schrift, Sprache oder Text oder auf inhaltliche Aspekte konzentrieren, oder sogar unterschiedlich häufig beides in den Blick nehmen (sowohl in ihrer L1 als auch in ihrer L2). Kriterien, nach denen in den Analysen die Daten der Kinder ALYI und ESEM ausgewertet werden, werden in diesem Beitrag demnach unterschieden in „metasprachlich-formal“ und „inhaltlich“. In diese Kriterien fließen die Überlegungen von Füssenich und Geisel (2008) zwar ein, sie sollen hier aber aufgrund der Fokussierung der <?page no="30"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 30 Fragestellung stärker voneinander abgegrenzt werden. Das Kriterium „metasprachlich-formal“ beinhaltet im Allgemeinen Reflexionen über Schrift(form), Sprache, Text und Buch(konzepte) sowie auch Dekontextualisierungen von Sprache und Schrift. In dem zweiten Kriterium („inhaltlich“) werden sowohl Fragen zum Textinhalt, aber auch Fragen oder Kommentare zu Bildern oder zu einzelnen Wörtern (Begriffsinhalte) zusammengefasst. Die Datenauswertung in Kap. 4 und die Zusammenfassung in Kap. 5 stellen die allgemeinen interaktiven Handlungen der Kinder und ihre Äußerungen dergestalt in den Vordergrund, dass überprüft werden soll, ob und inwieweit sich die kindlichen Äußerungen während der Interaktionen auf diese beiden Kriterien beziehen lassen. Fokussiert werden die metasprachlich-formalen Äußerungen, die ebenfalls entscheidende Hinweise zum frühen Schriftspracherwerb geben können. Diese werden sowohl in den Äußerungen seitens der Mutter bzw. des Vaters als auch bei den Kindern überprüft. Entscheidend ist hier zudem die durch die Interaktion gegebene Beziehung zwischen den Äußerungen, also ob diese selbstinitiiert oder etwa von dem Interaktionspartner vorgegeben (fremdinitiiert) werden. Eine charakteristische inhaltliche selbstinitiierte Frage, die während des Vorlesens vom Kind selbst gestellt wird, ist die folgende Äußerung (B1): ALYI: Mama, wo ist denn Bremen? M: ((1s)) Eh •das is in Bremen. ((1s)) Die Geschichte heißt ja „Die Bremer Stadtmusikanten.“, ne? Transkriptionsausschnitt 1: (B1; ALYIBremerStadtmusikanten092011) 3 Datenbasis und Korpus Die Daten der Analysen aus Abschnitt 4 stammen aus dem Projekt „Sprachentwicklung in Erst- und Zweitsprache - Sprachbiographien und Spracherwerb im Vorschulalter bei ein- und zweisprachigen Kindern“. Es handelt sich um die Teilstudie „Literacy in mehrsprachigen Familien - Mehrsprachige Potenziale und Ressourcen“, an der Kinder mit der L1 Deutsch, Russisch sowie Türkisch 2 teilgenommen haben. In diesem Beitrag werden die Daten von zwei Kindern und Müttern mit der L1 Türkisch untersucht. Die Längsschnittstudie wurde von September 2011 bis Juli 2012 in Kooperation mit Kindertagesstätten in Dortmund und Münster durchgeführt. Bei den ausgewählten Probanden ALYI und ESEM handelt sich um Kinder aus einer Einrichtung in Dortmund. Sowohl Elternteile als auch Kinder wurden mithilfe eines teilstrukturierten Fragebogens interviewt. Bestandteil dieses Fragebogens waren neben persönlichen Angaben u.a. die Kontaktzei- 2 Alter der Kinder s. Tab. 1 bis 2. <?page no="31"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 31 ten und Kontaktmöglichkeiten mit der deutschen Sprache sowie offene Fragen zu Erfahrungen mit Literalität ihres Kindes (z.B. in welcher Sprache dem Kind zu Hause vorgelesen wird oder wie häufig Vorleseaktivitäten stattfinden). Das Hauptkorpus für die Datenanalyse bilden die interaktiven Eltern-Kind-Bilderbuchrezeptionen. Es handelt sich um monatliche Aufnahmen (Tab. 1 bis 2). Vor der Durchführung der Aufnahmen wurden die Eltern im Rahmen der Interviews befragt, ob und in welcher Sprache sie Geschichten vorlesen möchten und für welche Themen bzw. Geschichten sich ihre Kinder (ihrer Meinung nach) interessieren. Das Projektteam hat darauf geachtet, dass alle eingesetzten Bilderbücher den Kindern zum Aufnahmezeitpunkt unbekannt waren. Da zum Teil unterschiedliche Interessen angegeben wurden, wurden auch verschiedene Bücher jeweils monatlich mit einem Aufnahmegerät in einem Umschlag an die Eltern übergeben. Auf ihre Angaben und ihren Wunsch hin erhielten die Eltern Bilderbücher 3 jeweils in deutscher oder türkischer Sprache. ALYI und ESEM wurden als Probanden für die Untersuchung ausgewählt, weil sie zwar dieselbe L1 und L2 aufweisen, sich jedoch nicht nur ihre Sprachbiographien unterscheiden, sondern auch die Sprachen, in denen vorgelesen wird. In den folgenden Abschnitten werden die Kinder kurz vorgestellt (3.1 und 3.2). 3.1 ALYI ALYIs Vorlesepartnerin war während des Projektes seine Mutter. Sie hat die Schullaufbahn in Deutschland durchlaufen und einen niedrigen Bildungsabschluss erreicht. Ihre L1 konnte sie im schulischen Muttersprachenunterricht in der Grundschule und in der Sekundarstufe ausbauen. Deutsch hat sie als Institutionensprache zunächst in der Schule, später auch bei der Arbeit und in anderen Institutionen genutzt. ALYIs Mutter hat den Wunsch geäußert, Bilderbücher in deutscher Sprache vorzulesen. Begründet hat sie dies damit, ALYI in seinem Zweitspracherwerb vor der Einschulung unterstützen zu wollen. Auch zu Hause spreche sie laut eigener Aussage zwischendurch in der L1, aber auch häufig in ihrer L2. ALYI ist das ältere von zwei Geschwistern. Während der gesamten Projektlaufzeit hat seine Mutter auf eigenen Wunsch ein Buch (Tab. 1) in türkischer Sprache vorgelesen. In der folgenden Tabelle (Tab. 1) sind neben den Bilderbuchtiteln in Türkisch (und Übersetzung in Deutsch) auch der jeweilige Untersuchungsmonat, das Alter des Kindes sowie die Sprachen, in denen vorgelesen wurde, angegeben. 3 Die Auswahl der Bücher erfolgte seitens der Projektleitung nach allgemeinen Kriterien (Altersempfehlung, Sprache etc.). Faktoren wie Vorlese- oder Erzählzeit wurden den Eltern nicht vorgegeben, um sie in ihrem Verhalten nicht zu beeinflussen. Das Aufnahmegerät sowie das Bilderbuch haben die Eltern etwa nach einer Woche bei der Erzieherin im Kindergarten wieder abgegeben. (Liste der Bilderbücher mit weiteren Angaben s. Anhang). <?page no="32"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 32 Bilderbücher Untersuchungsmonat Alter L1 Türkisch L2 Deutsch Die Bremer Stadtmusikanten Däumelinchen Irgendwie anders Der Grüffelo Freunde Von der Schnecke, die wissen wollte, wer ihr das Haus geklaut hat Lauras Stern Sakar cad Vini (Hexe Zilly) Indianergeschichten Du hast angefangen, nein du! M1 M2 M3 M4 M5 M6 M7 M8 M9 M10 5; 08 5; 09 5; 10 5; 11 6; 00 6; 01 6; 02 6; 03 6; 04 6; 05 - - - - - - x - x x x x x x x x x Vorleseinteraktionen 1 9 Tab. 1: „Familiale interaktive Bilderbuchinteraktionen“ ALYI 3.2 ESEM ESEMs Eltern haben im Interview Türkisch als ihre L1 angegeben. ESEM verwendet nach den Angaben der Eltern im familiären Kreis fast ausschließlich ihre L1. Mit ihrer Mutter kommuniziert das Kind in Türkisch und mit ihrem Vater überwiegend in Türkisch, aber auch sporadisch in der L2. E- SEMs Mutter hat die schulische Ausbildung in der Türkei abgeschlossen 4 , der Vater in Deutschland. ESEM wächst als älteres von zwei Geschwistern auf. Der Sprachkontakt zum Türkischen ist nicht zuletzt auch deswegen intensiv, da ESEM mit ihrer Familie etwa alle zwei Monate für ca. zwei Wochen in die Türkei reist. Deutsch stellt für ESEM eine Institutionssprache dar, der das Kind vor allem in der Kita begegnet (s. Kalkavan-Ayd n, i. Dr.). Lediglich bei ESEM haben beide Elternteile an dem Projekt teilgenommen und Bücher zu Hause vorgelesen. Beide haben den Wunsch angegeben, in ihrer L1 vorzulesen. In Tab. 2 sind die jeweiligen Informationen zu den vorgelesenen Büchern, den Aufnahmemonaten, zum Alter und zu den Sprachen vorzufinden. 4 Die Sekundarstufe 1 in der Türkei abgeschlossen; der Vater hat in der Türkei die Grundschule besucht und die Sekundarstufe 1 in Deutschland. <?page no="33"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 33 Bilderbücher Untersuchungsmonat Alter L1 Türkisch L2 Deutsch Bremen M z kac lar (Die Bremer Stadtmusikanten) 5 K rm z Ba l kl K z (Rotkäppchen) Memo ve Ay (Memo und der Mond) Çirkin ördek yavrusu (Das hässliche Entlein) Küçük kertenkele (Die kleine Eidechse) Aç t rt l (Die kleine Raupe Nimmersatt) - Sakar Cad Vini (Hexe Zilly) Deveku u Dudu (Strauß Dudu) Ko balkaba m ko (Lauf mein Kürbis, lauf) M1 M2 M3 M4 M5 M6 M7 M8 M9 M10 5; 07 5; 08 5; 09 5; 10 5; 11 6; 00 - 6; 02 6; 03 6; 04 x x x x x x x x x - - - - - - - - - - Vorleseinteraktionen 9 0 Tab. 2: „Familiale interaktive Bilderbuchrezeptionen“ ESEM 6 4 Analyse Die in Kap. 2 angestellten Überlegungen zur Unterscheidung der interaktiven Handlungssequenzen in die Kriterien „metasprachlich-formal“ und „inhaltlich“ erweisen sich als erforderlich, da sich die Kinder während der Interaktionen auf unterschiedliche Aspekte einlassen. Aus den Datensets zu 5 Diese Aufnahme wurde zwar mitgezählt (aufgrund der Vollständigkeit für die Untersuchungsmonate). Aufgrund der schlechten Aufnahmequalität kann sie jedoch nicht für die Analyse verwendet werden. 6 Von ESEM liegen insgesamt neun Vorleseaufnahmen vor, da ESEM während der Projektphase ca. drei Wochen in der Einrichtung gefehlt hat (Türkeiaufenthalt mit den Eltern). <?page no="34"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 34 ALYI und ESEM soll schwerpunktmäßig herausgearbeitet werden, ob und welche Überlegungen und Äußerungen von den Kindern zu Form und Metasprache vorgenommen werden. Anhand ausgewählter Beispiele soll im Folgenden veranschaulicht werden, wie die beiden Probanden derartige Äußerungen in den Interaktionen vornehmen. Unterschieden wird, ob es sich hier um eigene Überlegungen handelt, oder ob diese fremd, z.B. durch Nachfragen der Eltern, initiiert werden. 4.1 ALYI Vorab lässt sich zu ALYIs Datenset festhalten, dass sich in den Mutter-Kind- Vorleseinteraktionen die Mutter auf das Vorlesen und auf ihre Aussprache konzentriert. Dies wird erkennbar am stockenden Vorlesen (z.B. ALYIBremerStadtmusikanten092011) oder an falschen Wortbetonungen. Die Vorleseaufnahmen erwecken insgesamt den Eindruck, dass sich die Mutter bewusst als Vorleserin auf den Leseprozess konzentriert und die Zeit nicht zum gemeinsamen Bilderbuchbetrachten nutzt, um dies später im Anschluss durchzuführen. Sie wird häufig von ALYIs Kommentaren und Fragen zum Textinhalt und zu den Bildern unterbrochen. In den meisten Fällen geht sie kurz auf die Fragen ein. In den Aufnahmen finden sich Passagen, in denen die Mutter ALYI unterbricht, wenn das Kind etwa Textstellen kommentiert und Fragen stellt. Sie bittet ALYI keine Fragen zu stellen, sondern erst einmal zuzuhören, wie in dem Beispiel aus der Aufnahme zum Bilderbuch „Die Bremer Stadtmusikanten“ (B2). ALYI: Mamaa, mh warum sagt der/ warum sagt der Küken nicht Kikerikii? M: Weiß ich nicht ALYI. [...] M: ALYI hör bitte zu und dann kannst du nachher fragen, ja? ••• Hör bitte erst zu. Transkriptionsausschnitt 2: (B2; ALYIBremerStadtmusikanten092011) 7 In Beispiel (B2) wird ein zögerndes Verhalten der Mutter deutlich. Sie konzentriert sich eher auf das Vorlesen als auf ALYIs Frage zur lautmalerischen Bezeichnung und zur Wiedergabe von Tierlauten. Eine mögliche Reaktion 7 Nach der Nummerierung der Beispiele (B) erfolgt die Sigle des Namens des Kindes, der Titel der jeweiligen Aufnahme sowie Aufnahmemonat und Aufnahmejahr. Die Daten wurden mit dem Partitur-Editor EXMARaLDA nach dem Verfahren der halbinterpretativen Arbeitstranskriptionen (HIAT, Ehlich & Rehbein 1976, 1981) transkribiert. Die entsprechenden Beispieltranskripte bzw. Transkriptausschnitte werden in diesem Beitrag in Listenform präsentiert. Transkriptionskonventionen s. Anhang. <?page no="35"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 35 hätte z.B. sein können, dass sie auf die Bedeutungen von Küken und Hahn oder Lautmalereien eingeht. 8 An dem Verhalten des Kindes ist jedoch klar, dass es interessiert zuhört und selbst Fragen zum Inhalt stellt. Bei der Durchsicht der Daten nach formalen und metasprachlichen Äußerungen fällt auf, dass ALYI während des Vorlesens einzelne Begriffe kommentiert (B3). Im Buch „Lauras Stern“ fällt ein Stern vom Himmel auf den Bordstein und bricht sich eine Zacke ab. ALYI betrachtet das entsprechende Bild und korrigiert den im Buch verwendeten Begriff „Zacke“. Das Kind ersetzt ihn durch das Wort „Spitze“und baut ihn anschließend in seine eigene Erzählung ein (B4). Hier haben wir es mit einer selbstinitiierten Bemerkung seitens des Kindes zu tun, da es Begriffe „austauscht“ und sich damit in dieser Situation Gedanken über Begriffsinhalte macht. ALYI: Anne, Zacke heißt das doch gar nicht, Spitze. (unterbricht seine Mutter während des Vorlesens) Transkriptionsausschnitt 3: (B3; ALYILaurasstern032012) ALYI: Dann hat Laura von dem Fenster so geguckt. Und danach ist der nach/ ist die nach unten gekommen und danach hat die die Spitze wieder dran gemacht, ••• mit ein Pflaster. Transkriptionsausschnitt 4: (B4; ALYILaurasstern032012) An den Beispielen (B3) und (B4) wird exemplarisch deutlich, dass ALYI durchaus ein gutes Begriffsverständnis aufgebaut hat. Das Kind denkt über Sprache und vor allem über einzelne Wörter nach. Fragen oder Bemerkungen zu metasprachlich-formalen Aspekten kommen in ALYIs Korpus insgesamt selten vor. Ein Beispiel für das Teilkriterium „Nachdenken über Sprache“ ist seine Reaktion, während die Mutter das Bilderbuch „Du hast angefangen, nein du“ vorliest (B5). M: (liest vor) „Die werfen immer mehr/ immer mehr mit größeren Steinen.“ ALYI: Schsch-Steinen (spricht nach und dehnt den Anlaut) Transkriptionsausschnitt 5: (B5; ALYIDuhastangefangen062012) In (B5) spricht das Kind das Wort „Steinen“ nach, indem es den Anlaut dehnt und anschließend das vollständige Wort erneut nachspricht. ALYI 8 Lautmalerei zu einem Hahn im Türkischen: ü-ürü-üüü. <?page no="36"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 36 konzentriert sich an dieser Stelle während des Zuhörens auf die Laute und die Lautproduktion. Die Ergebnisse der Analyse von ALYIs Vorleseinterkationen werden tabellarisch (Tab. 3) kurz zusammengefasst. Die Tabelle ist unterteilt in die Kategorien Fragen und Kommentare bzw. Bemerkungen, Selbstbzw. Fremdinitiierungen, inhaltlich und metasprachlich-formal. Tab. 3: Selbst- und fremdinitiierte Äußerungen ALYIs zu inhaltlichen und metasprachlich-formalen Aspekten Während des Vorleseprozesses stellt ALYI mit 22 Äußerungen bemerkenswert häufig Fragen zum Inhalt und kommentiert Inhalte achtmal. Im Verhältnis dazu sind die metasprachlich-formalen Fragen und Kommentare mit einer Gesamtzahl von insgesamt sechs deutlich geringer. In allen Fällen handelt es sich um selbstinitiierte Fragen und Kommentare. In der türkischsprachigen Aufnahme zum Bilderbuch „Sakar cad Vini“ lassen sich weder seitens der Mutter noch von ALYI Äußerungen zu Form, Metasprache oder Inhalt finden. Es kann festgehalten werden, dass auch in dieser Aufnahme das Buch zunächst vollständig vorgelesen wird und anschließend ein kurzes Gespräch über das Buch stattfindet. Allerdings werden weder während des Vorlesens noch im daran anknüpfenden Gespräch Fragen oder Bemerkungen zu (Meta)Sprache, Form oder Inhalt vorgenommen. 4.2 ESEM Während der Vorleseaufnahmen bittet ESEM häufig zu Beginn (B6), während, oder aber auch zum Ende eines Vorleseprozesses (B7) die Mutter bzw. den Vater um Erlaubnis, selbst die entsprechende Textstelle „vorlesen“ zu dürfen. V: Hikayemizin ad •• ‘Deve ku u Dudu’. Geschichte-1.PL-GEN Name-3.SG-POSS “Strauß Dudu”. Äußerungen Kategorien Proband (ALYI) Fragen inhaltlich selbstinitiiert 22 fremdinitiiert metasprachlichformal selbstinitiiert 1 fremdinitiiert - Kommentare, Bemerkungen inhaltlich selbstinitiiert 8 fremdinitiiert metasprachlichformal selbstinitiiert 5 fremdinitiiert - <?page no="37"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 37 Der Titel unserer Geschichte lautet: “Der Strauß Dudu”. ESEM: Heey, önce ben okucam. erst ich les-1.SG-FUT Heey, erst werde ich lesen. V: Önce ben okuyim (okuyay m), sonra sen okursun. Tamam m çiçe im? Erst ich les-1.SG-OPT, dann du les-2.SG-AOR, in Ordnung QUE Blume-1.SG-POSS Erst lese ich, dann liest du. OK, meine Blume? Transkriptionsausschnitt 6: (B6; ESEMDeveku uDudu062012) 9 ESEM: Onu da ben yapcaam. (will die letzte Seite selbst vorlesen, obwohl sie noch nicht lesen kann, sagt ‚machen’ statt ‚vorlesen’) Das auch ich mach-1.SG-FUT Das werde ich auch machen. O zaman t rt llan (meint: t rt ldan) ••• güzel bir kelebek oldu. (Die entsprechende Textstelle lautet auf der letzten Seite des Buches: ‚... çok güzel bir kelebek oldu.’) Dann Raupe-mit schön ein Schmetterling werden-3.SG-PRÄT Dann wurde aus der Raupe ein schöner Schmetterling. Transkriptionsausschnitt 7: (B7; ESEMAçt rt l032012) Obwohl ESEM noch nicht lesen kann, imitiert das Kind den Leseprozess, indem es in einer ‚vorlesenden Art’ erzählt, was es auf der aufgeschlagenen Bilderbuchseite gerade sieht. Phrasen, die es sich aus der Geschichte gemerkt hat, wiederholt ESEM und baut diese in den „Vorleseprozess“ ein, wie in (B8) die wichtige Phrase „aber sie war immer noch nicht satt“ zum türkischsprachigen Bilderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“ (vgl. Kalkavan-Ayd n, i.Dr.). Hier zeigt sich zwar in erster Linie die Ausrichtung auf den Inhalt, unumstritten ist jedoch, dass sich das Kind zudem auf die Schrift als Form sowie auf Textbausteine (formal) konzentriert. ESEM: ‚..[...] ama karn daha doymad .’ aber Bauch-3.SG-POSS immer noch satt werden-NEG-3.SG- PRÄT aber sie war immer noch nicht satt. Transkriptionsausschnitt 8: (B8; ESEMAçt rt l032012) 9 In der jeweils obersten Zeile sind die türkischen Äußerungen, darunter stehen interlineare Übersetzungen mit morphologischer Segmentierung, in der untersten Zeile die passende deutsche Übersetzung. <?page no="38"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 38 Beim Vorleseprozess zum Bilderbuch Memo ve ay (Memo und der Mond) greift ESEM ebenfalls ein. Das Kind zeigt auf einzelne Textstellen oder Wörter und versucht, türkische Schriftzeichen bzw. Wörter zu erkennen und mitzulesen. In (B9) liest die Mutter gerade vor, dass der Mond sehr groß sei. ESEM hört interessiert zu und zeigt währenddessen auf ein Wort und bemerkt, dass dort „Mond“ stehe. M: „Ay koskocamanm .“ (M liest) Mond ganz groß-EVID Der Mond war (wohl) ganz groß. ESEM: Burda ‚ay’ yaz yo. Hier Mond steht geschrieb-3.SG-PRÄS Hier steht Mond geschrieben. Transkriptionsausschnitt 8: (B9; ESEMMemoveay112011) In (B9) wird nicht deutlich, ob ESEM auf das korrekte Wort zeigt, da auch die Mutter nicht näher auf ihre Geste eingeht. Allerdings wird auch hier ESEMs Interesse an Metasprache offensichtlich. Das Kind versucht Grapheme an ihren Formen wiederzuerkennen und diese einzelnen Wörtern, die es hört, zuzuordnen. Dies erkennt man auch an zahlreichen anderen Aufnahmestellen, wie z.B. in (B10), wenn es sowohl sprachlich mit der Lokaldeixis bu (hier) als auch gestisch mit dem Finger auf Buchstaben und Textstellen verweist (vgl. Kalkavan 2012): ESEM: Baba sen elinle gösterbilir (müsste korrekt lauten: gösterebilir) misin nerde kald n diye? Papa du Hand-2.POSS-mit zeig-2.SG.-ABIL 2.QUE wo bleib- 2.SG-PRÄT KONV Papa, kannst du mir mit deiner Hand (deinem Finger) zeigen, wo du (im Text) bist? V: Burda kalm t m ben. (zeigt auf die Textstelle) Hier (LOK) bleib-EVID-1.SG-PRÄT ich Hier war ich geblieben (im Text). ESEM: Burda? (zeigt ebenfalls auf die gleiche Textstelle) A’da m B’de mi? Hier (LOK)? A-LOK QUE B-LOK QUE? Hier? Bei A oder bei B? V: ‘ ’ ESEM: ‘ ii’? V: Bak: ••• ‘ lerin yürümesi için herkesin yard m na ihtiyac m z var.’ Schau Arbeit-PL-GEN lauf-3.SG.POSS alle Hilfe-3.SG-POSS- <?page no="39"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 39 DAT Notwendigkeit-1.PL-POSS gibt Schau: „Damit die Arbeit läuft, brauchen wir Hilfe von jedem.“ (betont den Anfangsbuchstaben I in lerin) Transkriptionsausschnitt 10: (B10; ESEMDeveku uDudu062012) Zwar sind die Buchstaben, die ESEM nennt und gleichzeitig auf das < > zeigt, nicht korrekt, die Beispiele explizieren jedoch, dass ESEM einzelne Buchstaben als Schriftzeichen erkennt, diese aber noch verwechselt. Der Vater greift diese besondere Frage auf und beantwortet sie, indem er den korrekten Buchstaben nennt, nämlich < > und den entsprechenden Satz aus dem Buch („Strauß Dudu“) mit dem Anfangsbuchstaben des ersten Wortes zweimal vorliest. In derselben Aufnahme finden wir eine weitere Sequenz, in der ESEM auf das Graphem < > und ihren Vater fragt (B11): ESEM: Bu imdi < >? (fragend) Das jetzt <I> Ist das jetzt ein <I>? V: Bu ‘ iii •• im • d • daat • imdaaat’ bu/ burada yaz yo bu. Das I - im - d - daat - Hiiilfe das. Hier steht das. Das ist (Hier steht) Hiiiilfe. Hiiiilfe steht hier. ESEM: Ve bu punktlar da bunun için mi? Und diese Punkte auch dafür-QUE Und sind diese Punkte auch dafür? (meint das Wort mdaat) V: Punktlar •• eee • dikkat çekiyo, yani onun ba rd n gösteriyor. Punkte Achtung zieht auf sich, also sein Schreien zeigt Die Punkte ziehen die Aufmerksamkeit (des Lesers) auf sich, (sie) zeigen also, dass er (der Strauß) schreit. ESEM: Ve bu? (zeigt auf einen anderen Buchstaben, aber ihr Vater reagiert diesmal nicht, sondern liest weiter) und das Und was (ist das)? Transkriptionsausschnitt 11: (B11; ESEMDeveku uDudu062012) In (B11) findet ein kurzes Gespräch zwischen ESEM und dem Vater statt. ESEM leitet das Gespräch ein. Das Kind möchte erfahren, ob es sich bei dem Graphem, auf das es zeigt, um das türkische < > handelt. 10 ESEMs Vater 10 Im Türkischen wird zwischen den Graphemen (und den entsprechenden Lauten) < > (<i>) und <I> (< >) unterschieden. <?page no="40"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 40 erläutert dem Kind dies, indem er auf das Wort zeigt und dieses dehnend ausspricht. ESEM möchte erfahren, wofür die drei Pünktchen (Folgezeichen) sind. Auch hier erhält das Kind eine Erklärung, nämlich, dass die Folgezeichen (drei Punkte) die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen und somit das Schreien des Straußes markieren würden. Als ESEM das Gespräch über die Schriftzeichen fortsetzen möchte, liest der Vater die Geschichte weiter. Abschließend soll auch hier ein tabellarischer Überblick (Tab. 4) über die Häufigkeit der Äußerungen bzgl. der ausgewählten Kriterien gegeben werden. Tab. 4: Selbst- und fremdinitiierte Äußerungen ESEMs zu inhaltlichen und metasprachlich-formalen Aspekten ESEM hat insgesamt 58 Äußerungen (selbst- und fremdinitiiert) zu inhaltlichen Aspekten vorgenommen, davon ist das Gros selbstinitiiert. Zwanzig Äußerungen während der Vorleseprozesse, also etwa ein Drittel der Ge- samtäußerungen, beziehen sich auf metasprachlich-formale Aspekte, die das Kind stets selbst anspricht und womit es auch kürzere Gespräche mit seinen Eltern z.B. zu Graphemen oder Lauten einleitet. 4.3 Vergleich und Zusammenfassung Bei ALYIs Erzählungen wird klar, dass das Kind sein Textverständnis weiterentwickelt. Widmen wir uns dem Kriterium „Form und Metasprache“, so zeigt sich, dass Äußerungen dieser Kategorie in ALYIs Daten sechs mal vorzufinden sind. Das Kind äußert sich deutlich häufiger zum Textinhalt oder zu den Bildern als zu formalen Aspekten. Es bleibt hypothetisch, ob sich ALYI stärker eingebracht hätte, wenn die Mutter in ihrer (dominanten) L1 vorgelesen hätte. Auffällig ist in der türkischsprachigen Vorleseinteraktion jedoch, dass die Mutter hier deutlich fließender vorliest und ALYI die Geschichte offensichtlich auch versteht und richtig wiedergibt. Äußerungen Kategorien Proband (ALYI) Fragen inhaltlich selbstinitiiert 7 fremdinitiiert metasprachlichformal selbstinitiiert 11 fremdinitiiert - Kommentare, Bemerkungen inhaltlich selbstinitiiert 47 fremdinitiiert 4 metasprachlichformal selbstinitiiert 9 fremdinitiiert - <?page no="41"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 41 ESEM interveniert häufiger in den Vorleseprozess, im Vergleich zu ALYI sogar mit insgesamt 78 Fragen und Kommentaren mehr als doppelt so viel wie ALYI (insgesamt 36 Äußerungen). Hinzu kommt, dass ESEM Vorleseversuche vornimmt. Das Kind fragt während des Vorlesens häufig danach, wo genau im Text gerade gelesen wird. Es imitiert das Lesen, kommentiert die Lesefähigkeiten seiner Eltern und leitet selbst Gespräche über metasprachliche Aspekte ein. Sein Interesse an Metakommunikation ist offenkundig, erkennbar z.B. an seinen Fragen zu Schriftzeichen oder Aufforderungen an seinen Vater, mit seinem Finger auf konkrete Textstellen bzw. Wörter oder Grapheme zu zeigen. 5 Fazit und sprachdidaktischer Ausblick Die Fallbeispiele ALYI und ESEM veranschaulichen, wie individuell die Vorgehensweisen der Eltern beim Vorlesen und die Interessen der Kinder sein können. Insgesamt kann zu den beiden Kindern angemerkt werden, dass ihre L1 bzw. L2 offensichtlich nicht nur den Vorleseprozess beeinflusst, sondern auch das Textverständnis der Kinder. Während bei ESEM Fragen und Kommentare zu Form und Metasprache überwiegen, stehen für ALYI die inhaltlichen Aspekte im Vordergrund. ESEM erkennt bereits früh Grapheme anderer Sprachen und kann diese vor Schuleintritt z.T. sogar differenzieren. Bei Vorleseprojekten in Kindertagesstätten besteht die Möglichkeit, an solche Erfahrungen mehrsprachiger Kinder anzuknüpfen. Vorteilhaft wäre bspw. wenn Kindern Bilderbücher, die ihnen in ihrer Erstsprache vorgelesen werden bzw. die ihnen bereits bekannt sind, in der Institution in deutscher Sprache vorgelesen würden (oder umgekehrt bzw. in beiden Sprachen in der Kita vorgelesen wird). Diese Unterstützung würde nicht nur den Wortschatz- und Grammatikerwerb in beiden Sprachen bereichern, sondern wärre auch im erzähldidaktischen Sinne förderlich und vor allem im Bereich des mehrsprachigen Schriftspracherwerbs. Mehrsprachige Kinder erkennen durch das Vorlesen in beiden Sprachen unterschiedliche stilistische Besonderheiten. Durch die sprachkontrastive Arbeit können Kinder sprachliche Merkmale erkennen (z.B. die „türkische Märchensprache“), reflektieren und sogar in die andere Sprache einbauen. Es bieten sich allgemeine Themen und Inhalte im Anschluss an das Vorlesen zu den Bilderbüchern an. Dies erkennt man z.B. im Datenset an ALYIs Frage in (B2) zu Tierlauten. Sprachdidaktisch (besonders bzgl. der Lautproduktion, z.B. die Unterscheidung zwischen dem e-Schwa im Deutschen und dem -Laut im Türkischen) würde sich bspw. im Anschluss an das Bilderbuch „Freunde“ von Helme Heine die Arbeit zu Tieren und Tierlauten in verschiedenen Sprachen anbieten. Eine solche sprachdidaktische Förderung mit sprachkontrastiven Einzelaspekten <?page no="42"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 42 wäre nicht zuletzt für die deutschsprachigen Kinder (Deutsch als Erstsprache) förderlich, weil sprachkontrastives Arbeiten Reflexionen über die eigene Erstsprache anregen. Auch einsprachige Kinder sammeln früh im Alltag Erfahrungen mit „Mehrsprachigkeit“ (z.B. im Supermarkt bei Lebensmittelartikeln oder in der Kita bei den Vornamen mehrsprachiger Kinder, wie in dem türkischen Frauennamen „Ça la“, in dem gleich zwei türkische Grapheme vorkommen). Literatur Apeltauer, E. (2003): Literalität und Spracherwerb. Flensburg: Univ., Abt. Dt. Sprache. Andresen, H. (2010): Sprachliches Lernen im Elementarbereich. In: Frederking, V. et al. (Hgg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Band 1. Baltmannswalter: Schneider Hohengehren, 31-40. Becker, T. (2013): Schriftspracherwerb in der Zweitsprache. Eine qualitative Längsschnittstudie. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Bruner, J. (2008 2 ): Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Braun, S. (2007): Gemeinsam ein Bilderbuch lesen. Vermitteln und Aneignen in der Kommunikation von Mutter und Kind. In: Katharina Meng & Rehbein, J. (Hgg.): Kindliche Kommunikation - einsprachig und mehrsprachig. 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Freiburg im Breisgau: Fillibach. Kalkavan-Ayd n, Z. (i.D.): Mehrsprachige Ressourcennutzung in interaktiven Bilderbuchrezeptionen. In: Rosenberg, P. & Schroeder, Ch. (Hgg.): Mehrsprachigkeit als Ressource. Berlin, New York: de Gruyter. Kalkavan, Z. (2013): Verbale Strategien in erst- und zweitsprachlichen Nacherzählungen von Kindern mit Türkisch als Erstsprache: Ein Fallbeispiel. In: Becker, T. & Wieler, P. (Hgg.): Erzählforschung und Erzähldidaktik heute. Entwicklungslinien - Konzepte - Perspektiven. Tübingen: Stauffenburg, 99-119. Kalkavan, Z. (2012): Deutsch- und türkischsprachige Textwiedergaben von Vorschulkindern: Ausgewählte Mittel der Determination und Fokusorientierung. In: Jeuk, St. & Schäfer, J. (Hg.): Deutsch als Zweitsprache in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Freiburg im Breisgau: Fillibach, 75-101. <?page no="43"?> Frühes schriftsprachliches Lernen in Vorlesesituationen 43 Kuyumcu, R. (2006): Literalitätserfahrungen von (türkischen) Migrantenkindern im Vorschulalter. In: Ahrenholz, B. (Hg.): Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg i. Br.: Fillibach, 34-45. Nickel, S. (2005): Literacy beginnt in der Familie. Familiy Litercy: eine Aufgabe für die Schule? In: Hofmann, B. & Sasse, A. (Hgg.): Übergänge. Kinder und Schrift zwischen Kindergarten und Schule. Berlin: DGLS 3, 179-192. Nickel, S. (2004): Family Literacy - Familienorientierte Zugänge zur Schrift. In: Panagiotopoulou, A. & Carle, U. (Hgg.): Sprachentwicklung und Schriftspracherwerb. Beobachtungs- und Fördermöglichkeiten in Familie, Kindergarten und Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, 71-83. Vygotski, Lew S. (1978): Mind in society. The development of higher psychological processes. Cambrigde, MA: Harvard University Press. Anhang Liste der verwendeten türkischsprachigen Bilderbücher Aç t rt l, Eric Carle. Mavibulut, 2010. Bremen m z kalar , Grimm karde ler. Mor Fil Yay nlar , 2007. Çirkin ördek yavrusu, Grimm karde ler. Mor Fil Yay nlar , 2007. Deveku u Dudu, Rachel Chaundler. kidz Redhouse kidz çocuk kitaplar , 2008. K rm z ba l kl k z. Grimm karde ler. Mor Fil Yay nlar , 2007. Küçük kertenkele, Aytül Akal. Uçanbal k, 2009. Ko balkaba m ko , Eva Mejuto. kidz Redhouse kidz çocuk kitaplar , 2007. Memo ve Ay, Alice Brière-Haquet. Mavibulut, 2011. Sakar cad Vini, Valerie Thomas. Türkiye Bankas Kültür Yay nlar , 2007. Liste der verwendeten deutschsprachigen Bilderbücher Die Bremer Stadtmusikanten, Gebrüder Grimm, NordSüd Verlag, 2010. Däumelinchen, Hans-Christian Andersen, NordSüd Verlag, 2008. Irgendwie anders, Cave Kathrin (aus dem Englischen übersetzt von Salah Naoura), Oetinger, 1994. Der Grüffelo, Axel Scheffler, Beltz & Gelberg. 17. Auflage, 2014. Freunde, Helme Heine, Beltz & GElberg, 12. Auflage, 2014. Von der Schnecke, die wissen wollte, wer ihr das Haus geklaut hat, Barbara Veit, Ueberreuter Verlag, 8. Auflage, 2005. Lauras Stern, Klaus Baumgart, Bastei Lübbe (Baumhaus), 3. Auflage, 2014 Indianergeschichten, Claudia Ondracek, Ravensburger Verlag, 4. Auflage, 2008. Du hast angefangen, nein du! , David McKee, Fischer Sauerländer, 3. Auflage, 2011. Transkriptionskonventionen nach HIAT (Ehlich/ Rehbein 1976, 1981) Äußerungsendzeichen . Punkt (Äußerungen mit deklarativem Modus) ? Fragezeichen (Äußerungen mit interrogativem Modus) … Ellipse-Punkte (Abgebrochene Äußerungen) - Gedankenstrich (Nicht abschließender Teil einer gemeinsam konstruierten Äußerung, Vorsprechen) <?page no="44"?> Zeynep Kalkavan-Ayd n 44 Pausenzeichen einfacher Pausenpunkt (kurzes Stocken im Redefluss) doppelter Pausenpunkt (geschätzte Pause bis zu einer halben Sekunde) dreifacher Pausenpunkt (geschätzte Pause bis zu einer dreiviertel Sekunde) ((5s)) numerische Pausenangabe (gemessene Pause oder geschätzte Pause ab einer Sekunde) Zeichen für intrasegmentale Phänomene und sonstige Zeichen , Komma (Sprechhandlungsaugmente, Herausstellungen und Ausklammerungen, Nebensätze, Reihung) - Bindestrich (Teilwörter) - Gedankenstrich (Parenthesen) / Schrägstrich (Reparatur) ' Apostroph (Glottalverschluss) Verwendete Abkürzungen für transliterale Übersetzungen 1. erste Person 2. zweite Person 3. dritte Person ABIL Abilitativ AKK Akkusativ AOR Aorist DAT Dativ FUT Futur GEN Genitiv IMP Imperativ KOND Konditional KONJ Konjunktiv KONV Konverb (Grundium) LOK Lokativ NEG Negation PL Plural POSS Possessiv PRÄS Präsens PRÄT Präteritum SG Singular QUE Interrogativelement <?page no="45"?> II Förderung bildungssprachlicher und schriftbezogener Fähigkeiten im Elementarbereich <?page no="47"?> Ulrike Sell Kompensation sozialer Ungleichheit durch frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit? 1 Phonologische Bewusstheit als Teilaspekt sprachlicher und literaler Bildung Dem Beitrag sei eine Definition der phonologischen Bewusstheit vorangestellt: Phonologische Bewusstheit bezeichnet die metalinguistische Fähigkeit, die lautliche Struktur der gesprochenen Sprache zu analysieren und zu manipulieren, ohne auf die Bedeutung des zu analysierenden sprachlichen Materials einzugehen. (Schnitzler 2008: 5; kurs. i. Orig.) Phonologische Bewusstheit bezieht sich dabei auf unterschiedliche phonologische Einheiten - Silben, Onset-Reim-Einheiten oder Phoneme -, mit denen unterschiedliche sprachliche Operationen - Identifizieren, Synthetisieren, Segmentieren, Manipulieren - durchgeführt werden können (vgl. Schnitzler 2008: 22). Damit kann phonologische Bewusstheit als Teilaspekt der sprachlichen und literalen Bildung begriffen werden. 2 Frühe sprachliche und literale Bildung und soziale Ungleichheit Frühe sprachliche und literale Bildung wird in (bildungs-)politischen und wissenschaftlichen Diskursen zunehmend als geeignetes Mittel gegen soziale Ungleichheit vorgebracht. Wenn in Bezug auf sprachliche und literale Fähigkeiten sog. Risiko-Kinder früh genug identifiziert/ diagnostiziert und gefördert werden, so könnten deren Defizite auch frühzeitig behoben und diese Kinder bis zur Einschulung auf gleiches Niveau mit den anderen (Nichtrisiko-)Kindern gebracht und soziale Ungleichheit kompensiert werden. Dieser Argumentationslinie sind in Bezug auf die hier untersuchte Fragestellung zwei Problemkomplexe inhärent: 1) Kann durch die frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit der Verlauf der Schriftspracherwerbsentwicklung (Lesen- und Schreibenlernen) nachhaltig günstig beeinflusst werden? Und: 2) Kann durch die frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit und die ggf. damit einhergehende günstige Beeinflussung des Verlaufs der Schriftspracherwerbsentwicklung soziale Ungleich- <?page no="48"?> Ulrike Sell 48 heit (vgl. Burzan 2007³; Solga 2009; Solga/ Berger/ Powell 2009 1 ; Stichweh 2009) überhaupt kompensiert werden? Zu 1) lässt sich konstatieren, dass aktuell mit Hinweis auf Studien die Position vertreten wird, frühe phonologische Bewusstheit begünstige den Verlauf der Schriftspracherwerbsentwicklung, während ebenso von anderen Forschern die Position vertreten wird, dies sei keineswegs durch die vorliegenden empirischen Studien belegt. So schließen - um nur ein jüngeres Beispiel zu nennen - Fröhlich/ Petermann/ Metz (2011) aufgrund eigener Studien und mit Verweis auf zahlreiche Studien anderer Autoren (vgl. Fröhlich/ Petermann/ Metz 2011: 745/ 746) auf einen positiven Verlauf durch frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit, während Valtin (2012: 223) nach Sichtung des Forschungsstandes diesen als disparat und wenig aussagekräftig resümiert (vgl. unter Punkt 5). Zudem verweist Valtin auf Studien, die dem Einfluss schulischen Unterrichts auf den Schriftspracherwerb ein stärkeres Gewicht beimessen als dem vorschulischen Training phonologischer Bewusstheit (vgl. May & Okwumo 1999: 14). Die Befundlage erscheint - trotz beträchtlicher Forschungsaktivitäten in den letzten Jahrzehnten - letztlich unübersichtlich und insgesamt unklar. Die intensiven Forschungsbemühungen machen gleichwohl deutlich, dass es offenbar ein starkes Interesse in der Forschung gibt, den Zusammenhang zwischen ( früher) Förderung der phonologischen Bewusstheit und literalen Fähigkeiten zu belegen, nicht zuletzt, um damit soziale Ungleichheit zu kompensieren. Umgekehrt kann der Beleg dieses Zusammenhanges dazu genutzt werden, frühe Förderung des Schriftspracherwerbs im Allgemeinen bzw. frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit im Besonderen zu legitimieren. So wird das Konstrukt der phonologischen Bewusstheit in dem Maße, in dem sich sein Einfluss auf den Schriftspracherwerb belegen lässt, zur wissenschaftlichen Tatsache (vgl. Latour/ Woolgar 1979; Fleck 1980). 1 Nach Solga/ Berger/ Powell (2009) bedeutet soziale Ungleichheit, „wenn Menschen (immer verstanden als Zugehörige sozialer Kategorien) einen ungleichen Zugang zu sozialen Positionen haben und diese sozialen Positionen systematisch mit vorteilhaften oder nachteiligen Handlungs- und Lebensbedingungen verbunden sind“ (Solga/ Berger/ Powell 2009: 15; i. Orig. kurs.). Ungleiche Chancen beim Zugang entstehen aufgrund zugeschriebener Merkmale, wie etwa soziale Herkunft, Geschlecht, Ethnie, Alter oder Behinderung bzw. daraus resultierender Benachteiligung begünstigender sozialer Mechanismen (vgl. Solga/ Berger/ Powell 20009: 19). Ungleichheiten aufgrund von erworbenen Merkmalen, wie etwa Bildung, Beruf, Familienstand, bezeichnen die Autoren nicht als Chancenungleichheiten. Ob jemand Zugang zu Bildung(sabschlüssen) und damit zu sozialen Positionen hat, hängt jedoch von zugeschriebenen Merkmalen und damit von seinen Chancen ab. Kompensation sozialer Ungleichheit umfasst dann all jene Bemühungen professioneller Akteure im Bildungsprozess, die auf die Reflexion zugeschriebener Merkmale und daraus resultierender Benachteiligung begünstigender sozialer Mechanismen zielen sowie auf Produktion, Vermittlung und Erwerb von für Bildungsprozesse relevantem Fachwissen. <?page no="49"?> Kompensation sozialer Ungleichheit 49 Zu 2) finden sich mittlerweile auch kritische Positionen, die die Kompensation sozialer Ungleichheit durch frühe sprachliche und literale Bildung im Besonderen bzw. frühkindliche Bildung im Allgemeinen zumindest als diskussionswürdig erscheinen lassen. Solche Positionen werden im Folgenden vorgestellt, um an der Schnittstelle von Linguistik (Phonologie), Schriftspracherwerbsforschung/ Psycholinguistik, Sprachdidaktik und Erziehungsbzw. Sozialwissenschaft sowie im Rückgriff auf sog. gesellschaftliche Normative und deren Rechtfertigungsrhetorik die Fragestellung dieses Beitrages zu entscheiden (vgl. unter Punkt 3 und 4). Unter Punkt 3 wird die Theorie der normativen Ordnungen skizzenhaft auf die Fragestellung bezogen. Unter Punkt 4 werden Analysen aus der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung zur Kompensation sozialer Ungleichheit durch frühkindliche Bildung vorgebracht. Unter Punkt 5 wird sodann eine kritische Position zur phonologischen Bewusstheit und deren früher Förderung aufgegriffen. Unter Punkt 6 werde ich schließlich einen authentischen Fall aus dem Anfangsunterricht zum Schriftspracherwerb schildern und meine These entfalten, dass soziale Zuschreibungs- und Bewertungspraktiken professioneller Akteure an der Generierung sozialer Ungleichheit einen wesentlichen Anteil haben, bevor unter Punkt 7 ein abschließendes Fazit gezogen wird. 3 Normative Ordnungen und frühkindliche Bildung Forst/ Günther (2011) haben die Bedeutung von normativen Ordnungen für gesellschaftliche Ordnungen herausgestellt. Danach werden sog. Normative durch „Rechtfertigungsnarrative“ (Forst/ Günter 2011: 11; i. Orig. kursiv) verstetigt. Daraus ergibt sich die Frage, wann von einem Normativ gesprochen werden kann bzw. was ein Normativ auszeichnet. Als ein Hinweis kann das gehäufte Aufkommen von Rechtfertigungsnarrativen bezüglich eines normativen Musters, das schließlich zu einem gesellschaftlichen Normativ bzw. einer normativen Ordnung „anwächst“, gedeutet werden. In den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen des letzten Jahrzehnts lassen sich nun zunehmend solche Rechfertigungsnarrative in Bezug auf frühkindliche Bildung finden. Rechtfertigungsnarrative sind Begründungsbzw. Legitimationszusammenhänge, d.h. Erzählungen, die einen Zusammenhang plausibel machen wollen. Eine solche Narration stellt m.E. die Rede von der Bedeutung der frühkindlichen Bildung für den Einzelnen und die Gesellschaft dar, wie sie in den letzten Jahrzehnten in Europa zunehmend aufgetaucht ist, nachdem im 19. Jh. die schulische Bildung zu einem neuen gesellschaftlichen Normativ aufgestiegen war. Die frühkindliche Bildung umfasst auch die frühe sprachliche und literale Bildung. (Wachsende) Normative produzieren einen diskursiv-narrativen Sog, der auch <?page no="50"?> Ulrike Sell 50 Auswirkungen auf wissenschaftliche Diskurse bzw. Diskurse spezifischer Professionen hat. So zirkuliert das Normativ der frühkindlichen Bildung als neue Ordnungsvorstellung auch in Psycholinguistik, Deutschdidaktik und Psychologie, und auch frühpädagogische Fachkräfte werden mit diesem Normativ konfrontiert. Wie oben angedeutet, versuchen die Wissenschaftsdisziplinen mit ihren Instrumentarien das Normativ zu stützen oder zu verwerfen, etwa durch die Bildung von Konstrukten, die empirisch nicht belegt und verworfen oder belegt und zur wissenschaftlichen Tatsache werden. Mit einem solchen Status versehen können sie wiederum gesellschaftliche Relevanz (und Forschungsgelder etc.) beanspruchen. Die phonologische Bewusstheit ist m.E. ein solches Konstrukt. Allerdings ist bislang strittig, ob mit ihm die sprachliche bzw. literale Bildung bezogen auf die frühkindliche Bildung sinnvoll unterstützt, d.h. langfristig der Schulerfolg in Bezug auf Lesen- und Schreibenlernen für alle Kinder gesteigert wird. Grundsätzlich jedoch gilt frühkindliche Bildung derzeit unhinterfragt und unangefochten sowohl als positiv für den individuellen Bildungsverlauf als auch für das gesellschaftliche Wohl. Wie die nachfolgenden Analysen zeigen, scheint jedoch Kritik angebracht an einem allzu einseitig gefassten Bildungsbegriff. Normative wirken - Dispositiven (Keller et al. 2001) vergleichbar - auf die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster auch von pädagogischen Fachkräften oder Lehrpersonen. Der Umgang der professionellen Akteure mit dem Normativ, also ob sie Ungleichheit/ Gleichheit (re-)produzieren, zeigt sich in ihren Handlungen und Äußerungen in der Interaktion mit den Kindern. Bezogen auf sprachliche und literale Bildung als frühkindliche Bildung stellt sich demnach die Frage, wie professionelle Akteure (sprachlich) handeln (können), um soziale Ungleichheit zu kompensieren, insbesondere im Hinblick auf heterogene (Kinder-)Gruppen. Hier scheint die bloße Vermittlung phonologischer Bewusstheit zu kurz zu greifen. 4 Analysen aus der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung zur Kompensation sozialer Ungleichheit durch frühkindliche Bildung Im Folgenden werden Analysen aus der sozialwissenschaftlichen konstruktivistisch orientierten Kindheitsforschung zur Kompensation sozialer Ungleichheit durch frühkindliche Bildung rezipiert (vgl. Bühler-Niederberger/ Mierendorff/ Lange 2010). Drei Aspekte sollen besonders hervorgehoben werden: 1) Die ideologische Differenzsetzung Kind - Erwachsener und die damit einhergehende fortschreitende (wissenschaftliche) Vermessung des Kindes bzw. seiner frühen Entwicklung, 2) die politische Dimension der frühkindlichen Bildung und 3) der Bildungsbegriff der frühkindlichen Bildung. <?page no="51"?> Kompensation sozialer Ungleichheit 51 4.1 Die ideologische Differenzsetzung Kind - Erwachsener und die damit einhergehende fortschreitende (wissenschaftliche) Vermessung des Kindes bzw. seiner frühen Entwicklung Bühler-Niederberger (2010: 18-23) verweist auf die ideologische Differenzsetzung Kind - Erwachsener seit dem beginnenden 19. Jh., mit der die Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit des Kindes als universell und natürlich gegeben herausgestellt wurde. Das Kind entwickele sich erst zum Menschen bzw. sei als ein Werdendes - im Gegensatz zu einem Seienden - zu begreifen. Die Differenz sowie das Sichentwickeln und Werden wurden dabei zunehmend wissenschaftlich erfassbar. Beispielhaft demonstriert Bühler-Niederberger an den Studien des amerikanischen Entwicklungspsychologen Arnold Gesell, wie das Kind und seine Entwicklung Anfang des 20. Jhdts. bereits detailliert vermessen und dadurch die Differenz zum Erwachsenen wissenschaftlich manifestiert wurde: „Man erkennt das überaus feine Raster mit seinen damit allein bis ins Alter von 5 Jahren 180 Kontrollpunkten“ (Bühler-Niederberger 2010: 21). Heute findet die Vermessung des Kindes in den Kompetenzmodellen der Bildungsforscher ihren vorläufigen Höhepunkt (vgl. Lange 2010: 90), wenn das Kind und seine Entwicklung in Bezug auf unterschiedlichste Lerngegenstände bis in die letzten Details hinein kartographiert wird. Mit der Vermessung wird auch das Normalmaß und seine Abweichung in Bezug auf alle auszubildenden Fähigkeiten definierbar, beobachtbar und kontrollierbar. Zugleich gewinnen diejenigen Wissensbestände und Forschungsaktivitäten an Relevanz, die die Vermessung des Kindes und seiner Entwicklung weiter vorantreiben, wozu auch die Erforschung des Einflusses der phonologischen Bewusstheit auf den Schriftspracherwerb gehört. Bühler-Niederberger (2010: 37-38) plädiert in diesem Zusammenhang für einen Perspektivenwechsel. Statt die Differenz Kind - Erwachsener weiter zu manifestieren bzw. das Kind auf ein Werdendes zu reduzieren, sollte es auch als - jetzt schon, wenn auch mit Einschränkungen - kompetenter Akteur fokussiert werden (dürfen), der auch Ähnlichkeiten mit anderen Altersgruppen und Unterschiede innerhalb der eigenen Altersgruppe aufweist und letztlich über individuelle Bedürfnisse verfügt. Fazit: Die Vermessung des Kindes schafft die Voraussetzungen für ein differenziertes individuelles Ansetzen an seinem Lernbzw. Entwicklungsstand, es werden jedoch auch das Normalmaß und seine Abweichung präsenter. Bezogen auf sprachliche und literale Bildung als frühkindliche Bildung geht es bei der Kompensation von sozialer Ungleichheit insbesondere im Hinblick auf heterogene (Kinder-)Gruppen demnach darum, wie professionelle Akteure auf individuelle Abweichungen vom Normalmaß eingehen, d.h. ob sie in der Lage sind, das erzeugte Wissen auch bei allen Kindern - deren individuellen Lernvoraussetzungen gemäß - anzuwenden. Dies wiederum setzt die wissenschaftliche Entwicklung von Instrumenten zur adä- <?page no="52"?> Ulrike Sell 52 quaten Diagnose von sprachlichen und literalen Fähigkeiten und Entwicklungsständen sowie zur passgenauen Förderung voraus sowie den fachlichen Einsatz und die fachliche Anwendung dieser Instrumente durch die professionellen Akteure im Bereich der frühen sprachlichen und literalen Bildung - wie sie auch in diesem Band gefordert wird. 4.2 Die politische Dimension der frühkindlichen Bildung Auf politischer Ebene geht die Betonung der Differenz Kind - Erwachsener einher mit dem „Bild des bedürftigen, gefährdeten und gefährlichen Kindes“ (Bühler-Niederberger 2010: 37), das demzufolge auch inkompetent ist und angewiesen auf professionellen „fürsorglichen Zugriff“ (Bühler- Niederberger/ Mierendorff/ Lange 2010: 8). Dabei wird „das Kind als Objekt der Sorge, statt als Person mit eigenen Bedürfnissen“ (8) konstruiert. Der eingreifende fürsorgliche Zugriff legitimiert schließlich auch eine „möglichst frühe und umfassende Förderung der Kinder“ (7). Entsprechend sehen die Autoren in neueren politischen Reformen, die mit der „sozialen Investition in die nachwachsende Generation“ (7) argumentieren, eine Neuauflage alter Handlungsmuster der Fürsorge. [...] es sind konkrete Befürchtungen angebracht, dass gerade die aktuellen Reformbestrebungen überkommene Asymmetrien zementieren oder sogar akzentuieren. (Bühler-Niederberger/ Mierendorff/ Lange 2010: 13) So zeigen die Autoren, wie frühkindliche Bildung für staatliche und wirtschaftliche Zwecke funktionalisiert wird und welche Rolle dem Kind als „generalisiertem Kind“ (Bühler-Niederberger 2010: 36) dabei zugewiesen wird. Im Kontext des neueren sog. Sozialinvestitionsstaates (vgl. Giddens 1998) ist das gegenwärtige Interesse an Kindern vorrangig zu interpretieren als ein Interesse an der Zukunft der Gesellschaft und die Intervention in das Leben der Kinder ist also entweder Investition in Humankapital oder Disziplinierung der Kinder im Interesse sozialer Ordnung. (Bühler- Niederberger 2010: 23) Darüber hinaus tritt in Giddens (sozial-, familien- und bildungs-)politischem Reformprojekt des „dritten Weges“, das europaweit die Leitlinie vorgibt, das Wohlergehen des Einzelnen in den Hintergrund, das Wohl der Gesellschaft in den Vordergrund. Es geht darum, Kinder möglichst früh, effizient und umfassend auf ihre Rolle als zukünftige Arbeitnehmer vorzubereiten. (Klinkhammer 2010: 211; kurs. i. Orig.) Dabei stellt eine Besonderheit des derzeitigen Interesses am Kind der Verweis auf die Herstellung von mehr Chancengerechtigkeit für alle Kinder durch mehr Bildung, insbesondere frühe und umfassende Bildung, dar, die <?page no="53"?> Kompensation sozialer Ungleichheit 53 durch die Förderung der Erwerbsarbeit von Müttern in Verbindung mit dem Ausbau des öffentlichen Betreuungsangebotes für (Klein-)Kinder sichergestellt werden soll. Die Autoren bezweifeln jedoch, dass Chancengleichheit tatsächlich hergestellt wird und vermuten sogar eine Verfestigung von Chancenungleichheit. Dies deshalb, da die im bundesdeutschen Bildungssystem besonders wirksame Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft der Kinder durch die Postulierung frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung nicht einfach verschwindet. So könne festgestellt werden, dass Kinder mit Migrationshintergrund sowie Kinder aus bildungsfernen Milieus nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen zu einem späteren Zeitpunkt öffentliche Bildung- und Betreuungsangebote wahrnehmen, während bereits bildungsmäßig gut versorgte Kinder von zusätzlicher Förderung bereits in der Frühbetreuung profitieren, wodurch soziale Ungleichheit nicht kompensiert, sondern stabilisiert werde (vgl. Klinkhammer 2010: 216-219). Auch das kompetente Kind sei nur begrenzt in der Lage, sich alleine aus seiner „defizitären Lage heraus[zu]arbeiten“ (Klinkhammer 2010: 219), so dass hier letztlich gesellschaftliche Probleme weiterhin individualisiert werden (vgl. Solga 2009: 70). Lange (2010) verweist auf Untersuchungen, die nahelegen, dass trotz erhöhter Bildungspartizipation kompensatorische Effekte ausbleiben: Zum ersten ist dazu darauf hinzuweisen, dass es sich bei den in der Bildungsdebatte unterstellten Effekten einer möglichst frühen und kompensatorischen Bildung keineswegs um hundertprozentig gesicherte Sachverhalte, die allen Kindern nützen würden, handelt. Betz (2008) arbeitet dazu heraus, dass bislang eher ambivalente und marginale Effekte nachgewiesen wurden. Für eine marginale Wirkung kompensatorischer Leistungen spreche zum Beispiel, dass trotz der mittlerweile sehr hohen Quoten der Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen relativ stabile schulische Bildungsungleichheiten bestehen. (Lange 2010: 108) Die sozialinvestive Politik habe zudem eine Kolonialisierung von Kindheit und Familie zur Folge, da die Diskurse von vielen Eltern übernommen werden und diese auch die ihnen zugewiesene Verantwortung, ihre Kinder früh zu fördern, übernehmen. So erzeuge das neue Bildungsdispositiv eine zunehmende Pflicht zur Bildung, die Abwälzung der Bildungsverantwortung auf die Eltern und eine (unterstellte) Vernachlässigung der Verantwortlichkeiten bei den unteren Schichten, die dadurch einem wachsenden gesellschaftlich-moralischen Druck ausgesetzt würden (vgl. Lange 2010: 102-105). Fazit: Die Politik müsste also strukturell die Zugänge zum System frühkindlicher Bildung erleichtern. 2 Aber auch wenn Kinder mit Migrations- 2 Nach Rauschenbach (2008: 4) wird Bildungsgerechtigkeit über niedrigschwellige Zugänge zu Bildungsangeboten, ausgleichende Wirkungen der Bildungssysteme und <?page no="54"?> Ulrike Sell 54 hintergrund oder Kinder aus bildungsfernen Milieus Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und Betreuung besuchen, stellt sich wieder die Frage, wie die professionellen Akteure die Bildungsprozesse konkret gestalten bzw. die Chancen konkret verteilen, um ausgleichend zu wirken und dadurch soziale Ungleichheit zu kompensieren. Dazu gehört nicht nur der fachliche Einsatz und die fachliche Anwendung von Diagnose- und Förderinstrumenten - also etwa auch Trainings zur phonologischen Bewusstheit (vgl. dazu unter Punkt 5) -, sondern auch das Selbstverständnis der professionellen Akteure, im Bereich der frühen sprachlichen und literalen Bildung durch den Einsatz bzw. die Anwendung von Diagnose- und Förderinstrumenten kompensierend wirken zu wollen (vgl. dazu unter Punkt 6). 4.3 Der Bildungsbegriff der frühkindlichen Bildung Lange (2010) kritisiert den Bildungsbegriff der sozialinvestiven Politik. Das Kind werde zum „Humankapital“ (92), Bildung zum „Allheilmittel“ (94) gesellschaftlicher Probleme deklariert, wenn im globalen Wettbewerb die Sicherung des Wirtschaftsstandortes an die Steigerung der (Schüler)- Leistungen gekoppelt wird. Zudem werde Bildung auf Kompetenzen reduziert und deren ökonomischer Gewinn - im Einvernehmen mit wissenschaftlichen Diskursen etwa der Entwicklungspsychologie oder der Gehirnforschung - von möglichst früher Bildung abhängig gemacht. Dabei stehen gesellschaftliche Nutzenerwägungen im Vordergrund bzw. das individuelle gegenwärtige „Glück“ der Kinder wird umdefiniert zu seinem zukünftigen Glück: dem Schulabschluss. In dem Maße, in dem der erreichte Schulabschluss zum Schlüssel für gesellschaftlichen Erfolg oder Misserfolg wird, anvanciert das Ideal der bestmöglichen Entwicklung aller kindlichen Fähigkeiten zum allgemeinen Leitwert. (Lange 2010: 104) Dies entspricht der oben erwähnten Differenzsetzung und der Betonung des Werdens im Sinne einer effizienten (Selbst-)Optimierung. Bildung in diesem Sinne zielt auf Verwertbarkeit, es geht primär nicht um die individuellen Bildungsinteressen der Kinder, die auch zweckfrei sein können und in der frühen Kindheit im (freien) Spiel ausgelebt werden, oder um die Ermöglichung größtmögliche Partizipation etwa im Falle von sog. Behinderung. Im Extremfall führt die sozialinvestive Politikstrategie und ihre Interpretation der (frühkindlichen) Bildung zu einer neuen Versklavung des Kindes. Für die Lebensphase Kindheit hat dies (gemeint ist, Kinder lediglich als zukünftige Arbeitnehmer statt als Generation mit eigenen Bedürfnissen, möglichst wenig selektionsverstärkende Übergänge zwischen den Bildungsinstanzen gesichert. <?page no="55"?> Kompensation sozialer Ungleichheit 55 Interessen und Rechten zu begreifen; Anm. d. Verf.) zur Konsequenz, dass sie an Eigenbedeutung verliert. Sie bildet ein Durchgangsstadium zum Erwachsenenwerden, das jedoch alleine von den Anforderungen der Erwachsenengesellschaft dominiert wird. Die alleinige Fokussierung auf die Zukunft entzieht den Investitionen in die gegenwärtigen Interessen und das Wohlbefinden der heutigen Kindergeneration jegliche Argumentationsgrundlage. (Klinkhammer 2010: 220) Fraglich scheint also nicht nur, ob die Förderung von Kompetenzen Fünfjähriger eine gelungene Schul- und Berufsbiographie in einer fernen - letztlich ungewissen - Zukunft garantiert, sondern auch, ob nicht andere Fähigkeiten hier viel weitreichender wirken. So plädiert Lange (2010: 110; 99) für die Rückbesinnung auf einen umfassenden Bildungsbegriff, der nicht nur auf kognitive, sondern auch auf ästhetische oder emotionale Aspekte sowie nicht nur auf Fertigkeiten, sondern die Bildung selbstbestimmter Persönlichkeiten setzt. Dafür sollten die Kinder nicht als Bildungsempfänger, Kompetenzträger oder Objekte der Zukunftssicherung betrachtet werden, sondern als Dialogpartner, deren Perspektive, Ansichten und Vorschläge im Hier und Jetzt gehört werden. Fazit: Dieser Aspekt der ökonomischen Verwertbarkeit von Kompetenzen wirft ein kritisches Licht auf den - den Diagnose- und Förderinstrumenten und deren Einsatz und Anwendung zugrundegelegten - Bildungsbegriff von insbesondere frühen literalen Trainings zur phonologischen Bewusstheit. Standen bspw. noch vor 20 Jahren Bildungsziele, wie etwa Mündigkeit bzw. das Äußernkönnen eigener Gedanken und Gefühle im Vordergrund, scheint es heute v.a. darum zu gehen, möglichst früh grammatisch korrekt sprechen und orthographisch korrekt schreiben zu können. 5 Kritische Position zur phonologischen Bewusstheit und deren früher Förderung Nachdem bisher die Frage verfolgt wurde, ob und unter welchen Bedingungen durch frühkindliche Bildung soziale Ungleichheit überhaupt kompensiert werden kann, soll hier noch einmal zur ersten Frage zurückgekehrt werden, ob durch frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit der Verlauf der Schriftspracherwerbsentwicklung (Lesen- und Schreibenlernen) nachhaltig günstig beeinflusst werden kann. In ihrem Beitrag wendet sich Valtin (2012) gegen ein vorschulisches Diagnostizieren von Defiziten in Bezug auf phonologische Bewusstheit und Kompensieren dieser Defizite durch (kommerzielle) Trainingsprogramme. Dabei setzt sie an den uneindeutigen Forschungsbefunden an, die es nicht rechtfertigen, eine derartige Fokussierung im Elementarbzw. Vorschulbereich vorzunehmen. <?page no="56"?> Ulrike Sell 56 Der Begriff der phonologischen Bewusstheit selber sei zudem linguistisch zu unpräzise, wenn verschiedene phonologische Einheiten und unterschiedliche sprachliche Operationen in Tests oder Trainings nicht auseinandergehalten oder linguistisch fragwürdige Test- oder Trainingsaufgaben gestellt werden. Statt von phonologischer Bewusstheit zu sprechen, sollten vielmehr die spezifischen Teilfähigkeiten (z.B. Phoneme segmentieren) jeweils benannt werden. Ob und welche dieser Teilfähigkeiten den Schriftspracherwerb begünstigen, sei letztlich unbewiesen. Sowohl Korrelationen zwischen vorschulischer phonologischer Bewusstheit und Lesen bzw. Rechtschreiben als auch Effekte von vorschulischen und schulischen Trainings auf das Lesen und Rechtschreiben seien „uneinheitlich“ (Valtin 2012: 223). Am vielversprechendsten, aber kaum durchschlagend sei die Arbeit mit Phonemen: Ein vorschulisches isoliertes Training von Lautanalyse und -synthese, kombiniert mit einem Buchstabentraining, ist - so das Fazit - in begrenztem Umfang möglich und zeigt auch in einigen, nicht jedoch in allen Studien, einen kleinen Effekt auf den Erfolg im Lesen- und Rechtschreibenlernen. (Valtin 2012: 224) Auch werden die jeweiligen spezifischen Teilfähigkeiten von den Kindern - wie die Schriftspracherwerbsforschung/ Psycholinguistik gezeigt hat - zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichem Inputbedarf erworben. Wenn ein Kind im Vorschulalter also Reimen und in Sprechsilben, nicht aber in Phoneme segmentieren könne, sei dies normal und kein Defizit. Die vorschulische Fokussierung auf die phonologische Bewusstheit führt nach Valtin letztlich zur Vernachlässigung anderer wichtiger Bereiche des Schriftspracherwerbs. Statt aber minimale Effekte durch frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit zu produzieren, sei es aus pädagogischer und sprachdidaktischer Sicht lohnenswerter eine umfassende Sprachförderung zu fokussieren, vorzulesen und spielerisch auf die Vergegenständlichung der Sprache hinzuleiten. Letztlich sollte den Kindern in Kita und Kindergarten die Lust darauf geweckt werden, in der Schule Lesen und Schreiben zu lernen. Fazit: Folgt man Valtin, rechtfertigt sich das vorschulische Trainieren der phonologischen Bewusstheit weder aus wissenschaftlicher noch aus bildungskritischer Sicht. Bisherige Studien blieben bislang einen durchschlagenden Beweis schuldig. Auch sollte in Bezug auf Literalitätsentwicklung der Fokus nicht auf die phonologische Bewusstheit verengt werden. Wie aber lässt sich dann in Bezug auf den Schriftspracherwerb die gleichwohl existente soziale Ungleichheit überhaupt kontrollieren und kompensieren? Dazu soll nachfolgend ein typischer Fall herangezogen werden. <?page no="57"?> Kompensation sozialer Ungleichheit 57 6 Fallszenario Das geschilderte Fallszenario gibt eine m.E. typische Situation im Anfangsunterricht zum Lesen- und Schreibenlernen einer Grundschulklasse wieder. In einem sog. authentischen Gespräch (vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2010: 155), das von mir im April 2011 mit einer Lehrerin an einer Frankfurter Grundschule gegen Mitte des ersten Schuljahres geführt und von mir im Anschluss protokolliert wurde, erzählt diese, wie sie ihre Klasse und die Lernprozesse ihrer Schüler bezogen auf den Schriftspracherwerb wahrnimmt und einschätzt: Protokoll: Die Lehrerin berichtet, dass drei Kinder in ihrer Klasse beim Schreibenlernen Schwierigkeiten haben bzw. ein langsameres Lerntempo zeigen. Insbesondere die Segmentierung in Phoneme würde diesen Kindern nicht so gut gelingen. Sie erklärt sich diese Situation mit den Lernvoraussetzungen der Schüler bzw. deren familiärem Hintergrund. So komme eines der Kinder aus einem Elternhaus mit Migrationshintergrund, das zweite Kind habe wahrscheinlich eine Hörbeeinträchtigung, d.h. eine Behinderung, bei dem dritten Kind, das ein deutschsprachiges Elternhaus und keinerlei Anzeichen für eine Behinderung habe, wisse man die Ursache noch nicht. Als Unterstützungsmaßnahme versuche sie, Förderstunden zu organisieren. Dafür stünden jedoch noch keine Kräfte und Mittel bereit. Bei dem dritten Kind kommt die Lehrerin in Erklärungsnöte. Auf ihren Unterricht führt sie die „Schwierigkeiten der Kinder“ nicht zurück, auch sieht sie sich nicht in der Rolle, diese Kinder in ihrem Unterricht besonders zu unterstützen - außer durch die Beschaffung zusätzlicher Förderung außerhalb ihres Unterrichts. Die Erklärungen, mit denen sie den Schülern die Ursachen für ihre Lernschwierigkeiten zuschreiben kann („Migrationshintergrund“ und „Behinderung“), verhelfen ihr so zumindest bei zwei Kindern zur Konstruktion einer - außerhalb ihres Unterrichts liegenden - Verantwortlichkeit. Die Ursachen verortet sie im Lerner und dessen defizitärem sprachlichen Umfeld bzw. seiner eingeschränkten körperlichen Ausstattung bzw. Begabung. Dies erlaubt ihr, diese Kinder „abzugeben“ und damit sich selbst zu entlasten. Die Kinder werden als von der Normalität abweichend wahrgenommen und damit zum Fall für Spezialisten. Würde sie demgegenüber den Lernschwierigkeiten dieser Kinder Normalität (im weitesten Sinne) zuschreiben, dann könnte sie (vorhandenes oder noch zu erwerbendes) fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Wissen zum Schriftspracherwerb nutzen (vgl. Hartmann/ Thomé 2009; Siekmann/ Thomé 2012) und die konkreten individuellen Lernstände bzw. voraussetzungen der jeweiligen Kinder diagnostizieren - bspw. über Rekurs auf Schriftspracherwerbsmodelle oder qualitative Fehleranalysen -, um den Kindern den nächsten individuellen Lernschritt zu ermöglichen. <?page no="58"?> Ulrike Sell 58 Soziale Ungleichheit scheint hier über soziale Zuschreibungs- und Bewertungspraktiken der Lehrperson verstärkt zu werden. Die Erklärungsmuster „Migrationshintergrund“ oder „Hörbeeinträchtigung/ Behinderung“ produzieren - wenn Lernschwierigkeiten vorliegen - nahezu automatisch auch die Aussonderung/ Exklusion der jeweiligen Kinder. Statt ihr fachliches Wissen über den (wissenschaftlich vermessenen) Lerner für ihren Unterricht zu nutzen und auf die individuellen Lernvoraussetzungen der drei Kinder selber einzugehen, delegiert sie an (noch) nicht vorhandene Förderkräfte und behandelt Ungleiche gleich (vgl. Diehm et al. 2013: 648). Für die Kompensation sozialer Ungleichheit scheinen also - neben der fachlichen Qualifikation der professionellen Akteure - weitere Faktoren entscheidend (vgl. Tab. 1): die Strukturen der Bildungsinstitutionen (hier: Schule und Unterricht) und die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der professionellen Akteure. Diese Wahrnehmungs- und Handlungsmuster wirken - jenseits des fachlichen Einsatzes bzw. der fachlichen Anwendung von Diagnose- und Förderinstrumenten - durch soziale Zuschreibungs- und Bewertungspraktiken selektionsverstärkend und damit soziale Ungleichheit stabilisierend (vgl. Solga 2009: 71). professionelle Akteure Fachwissen Einstellungen/ Haltungen: Wahrnehmungs- und Handlungsmuster Zuschreibungs- und Bewertungspraktiken Bildungsinstitutionen Strukturen Tab. 1: Einflussgrößen auf soziale Ungleichheit bzw. deren Kompensation Welche Effekte hätte eine frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit nun für die drei schulisch „selektierten“ Kinder erbracht? Frühe Förderung ihrer phonologischen Bewusstheit hätte die drei Schüler im o.g. Fall vielleicht vor einer frühen Zuschreibung von Förderbedürftigkeit schon in der 1. Klasse seitens der Lehrperson bewahrt. Es ist aber zu vermuten, dass die Effekte sehr groß hätten sein müssen, um über kurz oder lang einer Exklusion durch die Lehrerin zu entgehen. Tauchen Lernschwierigkeiten auf, beginnt auch häufig bei Lehrpersonen in der Grundschule - so meine Vermutung - eine Ursachenforschung im Individuum und dessen familiärem Umfeld, die exkludierende Effekte nach sich zieht. Soziale Ungleichheit soll dann durch zusätzliche Förderstunden außerhalb des regulären Unterrichts kompensiert werden. <?page no="59"?> Kompensation sozialer Ungleichheit 59 Geht man jedoch von der Prämisse aus, dass nur ein inklusiver Unterricht (vgl. Moser 2012) auch ein soziale Ungleichheit kompensierender Unterricht ist, erscheint die frühe Förderung phonologischer Bewusstheit allenfalls dazu geeignet, gesellschaftliche Probleme zu individualisieren, statt - wie es die inklusive Schule vorsieht - das Fördersystem auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Individuums auszurichten. Folgt man Valtin in ihrer Kritik der frühen Förderung phonologischer Bewusstheit, bedeutet dies nicht, die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit auch für den schulischen Schriftspracherwerb in Frage zu stellen. So zeigen Corvacho/ Wilch/ Thomé (2014) in ihren Forschungen zur Legastheniebzw. LRS-Therapie, dass sich das Rechtschreiben durch Förderung der Fähigkeit zur Phonemsegmentierung durchaus verbessert. Phonemanalyse und -synthese sollten daher im Anfangsunterricht platziert und dort von allen Schülern individuell erworben werden können. 7 Schlussgedanken Die Fragestellung, ob durch frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit soziale Ungleichheit kompensiert werden kann, führt zu den unterrichtlichen bzw. schulischen Strukturen („Inklusion“) sowie den - exkludierende Zuschreibungs- und Bewertungspraktiken generierenden - Wahrnehmungs- und Handlungsmustern der Lehrpersonen und damit zum Selbstverständnis der professionellen Akteure. Ein vorschulisches Screening in Verbindung mit einem vorschulischen Förderprogramm zur phonologischen Bewusstheit scheint längerfristig nur durchschlagend, wenn die Lehrperson nicht zu Exklusionen ihrer Schüler neigt bzw. institutionell gezwungen ist - andernfalls verpuffen die (Trainings-)Effekte. So ist davon auszugehen, dass soziale Ungleichheit durch Förderung der phonologischen Bewusstheit in der Schule wirksam kompensiert werden kann. Dabei ist die Förderung in der Klassengemeinschaft einer externen Förderung vorzuziehen, da die Separierung Differenzen manifestiert und soziale Ungleichheit forciert. Anders als im Fallszenario sollten die sog. (Risiko-)Kinder nicht schon gegen Ende der ersten Klasse von ihrer Lehrperson „gesondert“ werden. Dagegen „hilft“ v.a. eine Haltung der Lehrperson, die sich für alle Schüler verantwortlich fühlt, und eine solche Haltung unterstützende Schulbzw. Unterrichtskultur. Frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit kann dann den Lernprozess effektivieren. Schließlich ist davon auszugehen, dass - diskursiv vermittelte - (bildungs-)politische Konstruktionen des Kindes und seiner Entwicklung die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster prägen. Ein reflektierter Umgang mit diesen Konstruktionen läßt auf Seiten der professionellen Akteure (und <?page no="60"?> Ulrike Sell 60 der Eltern) auch Raum für das Hier und Jetzt der Kinder und erkennt die Kinder auch bei weniger „guten“ Leistungen an (vgl. Prengel 2013). Literatur Betz, T. (2008): Kompensation ungleicher Startchancen: Erwartungen an institutionalisierte Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder im Vorschulalter. Manuskript. München: DJI. Bühler-Niederberger, D. (2010): Organisierte Sorge für Kinder, Eigenarten und Fallstricke - eine generationale Perspektive. In: Bühler-Niederberger, D.; Mierendorff, J. & Lange, A. (2010), 17-41. Bühler-Niederberger, D.; Mierendorff, J. & Lange, A. (2010): Einleitung. In: Bühler- Niederberger, D.; Mierendorff, J. & Lange, A. (2010), 7-13. Bühler-Niederberger, D.; Mierendorff, J. & Lange, A. (2010) (Hgg.): Kindheit zwischen fürsorglichem Zugriff und gesellschaftlicher Teilhabe. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 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In der Leseerwerbs-Forschung werden übereinstimmend drei Vorläuferfähigkeiten genannt, die vor der Einschulung das Lesen anbahnen: mündliche Sprachfähigkeiten mit Wortschatz, Grammatik, dekontextualisierter Sprache und Arbeitsgedächtnis, Schriftliche Konzepte mit Einsicht in die symbolische Darstellungsweise der Schrift, metalinguistischen Konzepten, Kenntnis schriftlicher Kommunikationsformen und Benenngeschwindigkeit, Einsicht in das alphabetische Prinzip mit phonologischer Aufmerksamkeit und Phonem-Graphem-Konzept (Ptok et al. 2007; Bialystok 2007). Den Zusammenhang dieser Vorläufer mit der schulischen Leseleistung von Ein- und Mehrsprachigen haben wir bisher drei Jahre lang bei 91 Kindern beobachtet, vom Beginn des letzten Kindergartenjahres bis zum Ende der zweiten Klasse. Für Kinder, die in ihrer Zweitsprache lesen lernen, gibt es noch kaum empirische Untersuchungen der Rolle dieser Vorläufer in ihrer Entwicklung des Lesens (vgl. aber Durgunoglu/ Öney 2000). Für das deutschsprachige Bildungssystem sind uns keine entsprechenden datenbasierten Studien bekannt. Die einzelnen Vorläuferfertigkeiten weisen zu unterschiedlichen Zeitpunkten während der letzten beiden Kindergartenjahre Zusammenhänge mit dem späteren Lesen auf (vgl. Morris 1993; Whitehurst/ Lonigan 2003). Mehrsprachigkeit führt zu Verschiebungen im Entwicklungsverlauf der Vorläufer und damit zu veränderten Auslösern der frühen Literalität. Die vielen Sprachen und Schriften, mit denen Kinder in Deutschland aufwachsen, erfordern didaktische Konzepte, die am Übergang vom Kindergarten zur Grundschule geeignete Angebote für zeitlich verschiedene Entwick- lungsverläufe machen. Nach Cummins (2001) kann die kognitive, linguisti- <?page no="64"?> Aline Lenel & Monika Knopf 64 sche und akademische Entwicklung eines Kindes nur als Ergebnis der Interaktion von Kind und Erziehungsangebot gesehen werden. Herkömmliche Modelle des Leseerwerbs gehen vom einsprachigen Kind aus und werden möglicherweise der Entwicklung mehrsprachiger Kinder nicht gerecht. 2 Modelle der Entwicklung des ersten Lesens Die zwei bekanntesten Modelle, die die Entwicklung des Lesens von den Vorläuferfertigkeiten im Kindergarten bis zum Lesen in der Schule beschreiben, werden hier skizziert. 2.1 Schriftliches Modell der Entwicklung des Lesens Die Beziehungen zwischen Vorläufern und späterem Lesen haben Whitehurst und Lonigan (2003) aus empirischen Daten, die in den letzten zwei Kindergartenjahren und den ersten beiden Schuljahren erhoben wurden, abgeleitet. Ihr Modell teilt die genannten drei Vorläuferfähigkeiten in zwei Gruppen, die „Outside-in-skills“, denen die mündliche Sprachfähigkeit zugeordnet wird, und die „Inside-out-skills“, zu denen Einsicht in das Wortkonzept und in das Alphabetische Prinzip zählen. „Inside-out-skills“, im Folgenden als Schriftwissen bezeichnet, entstehen laut den Autoren durch Buchstabenkenntnis und entdeckendes Schreiben („emergent writing“). Die Überprüfung des Modells in einer Untersuchung mit mehreren hundert Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen in Chicago führte zu zwei Erkenntnissen (Whitehurst/ Lonigan 2003: 21): 1) Die Leseleistung in den ersten beiden Schuljahren wird weitgehend vom Schriftwissen bestimmt, das im Kindergartenalter erworben wurde. 2) In den letzten beiden Kindergartenjahren entwickeln sich schriftliche und mündliche Modalität der Sprache getrennt. Diese modulare Getrenntheit dauert bis zum Ende der zweiten Klasse an. Da diese Untersuchung in den Vereinigten Staaten stattfand, wo bereits in den letzten beiden Kindergartenjahren Wert auf Buchstaben und Schrift gelegt wird, fragt sich, ob das Modell nur unter der Bedingung alltäglicher Schriftpraxis im Kindergarten gilt. 2.2 Mündliches Modell der Entwicklung des Lesens Zu dem oben dargestellten schriftlichen Modell gibt es das Gegenmodell eines „mündlich vermittelten Weg(es) zur Schriftkultur“ (Stamm 2009: 139). Es zielt über das erste Buchstabieren und Entziffern hinaus auf die Entwicklung von sprachlichem Ausdruck und Verständnis im Umgang mit komplexen Texten (Hurrelmann 2002). Stamm betrachtet die Erfahrung des „Kinos <?page no="65"?> Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? 65 im Kopf“, die Fähigkeit zu erzählen und das Wissen um die gedächtnisstützende Funktion von Symbolen als Mittler, die von der mündlichen Sprache zur schriftlichen führen. Literacy bedeutet in diesem Modell „Erfahrungen rund um Buch-, Erzähl-, Reim- und Schriftkultur“ (Fthenakis et al. 2014). Auch der Begriff der „phonologischen Bewusstheit“ passt zu diesem Modell, denn er bezeichnet die Wahrnehmung der Lautstruktur der Sprache in der mündlichen Modalität und nicht die Zuordnung von Phonemen und Buchstaben (Schneider et al. 1998). Dieses Modell nimmt an, dass mündliche Sprachfähigkeiten den Leseerwerb bestimmen. 3 Mehrsprachigkeit und Vorläufer des Lesens Beide Modelle unterscheiden nicht zwischen mehrsprachigen und einsprachigen Kindern. Für die drei Bereiche der Vorläuferfertigkeiten werden daher zunächst Entwicklungsunterschiede zwischen ein- und mehrsprachigen Kindern dargestellt. 3.1 Mündliche Sprachfähigkeiten Zahlreiche Studien belegen einen engen Zusammenhang zwischen der Größe des frühen Wortschatzes und der späteren Lesefähigkeit (Adams 1990). Allerdings kann der Zusammenhang zwischen frühem kindlichem Wortschatz und schulischem Lesen erst ab der vierten oder fünften Klasse beobachtet werden (Curtis 1980; Storch/ Whitehurst 2002). Außerdem stellen Whitehurst und Lonigan (2003) schon bei den Dreibis Vierjährigen einen engen Zusammenhang zwischen mündlicher und schriftlicher Sprachmodalität fest. Ihn erklären sie mit Fowlers Theorie (1991), dass Kinder, die früh einen großen Wortschatz entwickeln, aufgrund begrenzter Gedächtniskapazität gezwungen seien, effiziente Speichermethoden zu entwickeln. Über das Clustern nach Anlauten entdeckten sie Phoneme und verfügten dadurch früh über Einsicht in die Funktionsweise der Schrift. Crain- Thoreson und Dale (1992), weisen aber darauf hin, dass die früh Sprachbegabten keineswegs automatisch, sondern nur in einer schriftlich anregenden Umgebung auch zu frühen Lesern werden. Mehrsprachige Kinder verfügen in der Zweitsprache auch bei hohem Bildungsgrad des Elternhauses über einen geringeren Wortschatz als einsprachige im gleichen Alter (Ben Zeev 1977; Durgunoglu/ Öney 2000). Daher kann dieser frühe Übergang vom Wortschatz zur Entdeckung der Schrift für sie kaum eine Option darstellen. Auch Erfahrungen mit dekontextualisierter Sprache wirken nur auf den Leseerwerb in der Sprache, in der sie gemacht wurden (Bialystok 2007; Herman 1996). Mehrsprachige verfügen folglich in dem hier betrachteten <?page no="66"?> Aline Lenel & Monika Knopf 66 Alter über weniger mündliche Ressourcen für den Leseerwerb als einsprachig aufwachsende Kinder. 3.2 Schriftwissen Ganz anders wirkt Mehrsprachigkeit auf das Schriftwissen. Dabei geht es zum einen um metalinguistische Einsicht in jene Strukturen der Sprache, die in der Schrift symbolisiert werden, insbesondere das Wortkonzept. Für die Entdeckung dieses Konzepts stellt Mehrsprachigkeit einen Vorteil dar, weil der Vergleich von zwei Sprachen die Einsicht in die Arbitrarität der Wörter erleichtert (Ben-Zeev 1977). Auch das Prinzip der Invarianz zwischen einem Wort und seiner schriftlichen Darstellung entdecken Mehrsprachige früher als Einsprachige (Bialystok 1997). Zum anderen zählt zum Schriftwisen die Einsicht in das Alphabetische Prinzip (Byrne 1998), die Entdeckung der Lautbedeutung der Buchstaben. Phonologische Aufmerksamkeit kann von einer Sprache in die andere übertragen werden (Durgunoglu/ Öney 2000), Mehrsprachige unterscheiden sich in dieser Fertigkeit nicht von Einsprachigen (Bialystok 2007). Alle hier erwähnten Studien zum Einfluss der Mehrsprachigkeit auf die Vorläuferfertigkeiten des Lesens wurden mit Kindern akademisch gebildeter Eltern durchgeführt. Aus diesem Grund untersuchen wir, ob mehrsprachige Kinder aus nicht akademischen Elternhäusern Schriftwissen unabhängig von alltäglicher Schriftpraxis im Kindergarten entwickeln. 4 Interventionen Um dies zu prüfen, wurden in der vorliegenden Studie im letzten Kindergartenjahr drei Interventionen angewendet: zwei, die den beiden vorgestellten Modellen entsprechen, eine mündliche und eine schriftliche, und als dritte eine Kontrollintervention, die mathematische Förderung zum Ziel hatte und keine Wirkung auf die Entwicklung des Lesens haben sollte. 4.1 Mündliches Erzählen Um die Wirkungsweise des mündlichen Zugangs zur Schrift beobachten zu können, erfanden die Kinder in der mündlichen Intervention eigene Geschichten. Von selbst gemalten Bildern ausgehend entwickelte jedes Kind seine Geschichte von Woche zu Woche malend und erzählend weiter und trug sie schließlich als Kamishibai-Papiertheater den Eltern und anderen Kindern vor. Wörter wurden durch mündliche Anlaut-, Reim- und Wortspiele hervorgehoben. Ziel war, Kindern die Erfahrung des bewussten Nachdenkens und Sprechens über Wörter und Sätze zu vermitteln. <?page no="67"?> Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? 67 4.2 Entdeckendes Schreiben Die schriftliche Intervention der Studie beruhte auf der Annahme, dass entdeckendes Schreiben Einsicht in die symbolische Darstellungsweise der Schrift und in die entsprechenden sprachlichen Konzepte ermöglicht (Blumenstock 2004; Knopf/ Lenel 2005; Lenel 2014; 2013; 2011; Sasse et al. 2011). In der schriftlichen Intervention erhielt jedes Kind Gelegenheit, in verschiedenen Schriften zu schreiben, zu stempeln, eine Geschichte zu kritzeln und zu diktieren und ein Buch zu binden. Alle Bücher wurden am Ende den Eltern vorgelesen. Auch diese Kinder wurden auf Wörter und Anlaute in Spielen aufmerksam gemacht, bei denen aber Anlautbilder und Buchstaben die Laute symbolisierten. Ziel war, dass Kinder über diese Tätigkeiten Wörter getrennt von ihrer Bedeutung unter dem Aspekt ihrer Lautgestalt betrachten lernen (Lenel/ Knopf 2015) und erkennen, dass Buchstaben Laute symbolisieren (Lenel 2005). 4.3 Kontrollintervention Die Kontrollgruppe beschäftigte sich in der gleichen Zeit mit Mengenlehre, Zahlen und Rechenspielen (Hauser 2013), die die Kinder ebenfalls am Ende der Intervention als Zaubershow den Eltern vorführten. 5 Methode 5.1 Charakteristik dieser Studie In der Studie wurden die drei Vorläuferfertigkeiten des Schrifterwerbs bei 91 Kindern zu Beginn und Ende des letzten Kindergartenjahrs erhoben. In den sechs Monaten zwischen der ersten Erhebung, dem Prätest, und der ersten Wiederholungsmessung, dem Posttest, fanden die drei Interventionsalternativen in sechs verschiedenen Kindergärten statt. Jeder Kindergarten wählte einen Interventionstyp aus. Die Erzieher erhielten eine entsprechende Einführung. Jedes Kind nahm während acht Wochen einmal wöchentlich an den entsprechenden Aktivitäten in einer Kleingruppe von maximal fünf Kindern teil. Während der sechs Monate zwischen Prä- und Posttest standen jeder Kindergarten-Gruppe die entsprechenden Materialien zur Verfügung. Es nahmen nur die Kinder teil, die am Ende des Kindergartenjahres eingeschult werden sollten. Am Ende der ersten beiden Schuljahre wurden Lesefähigkeiten und phonologische Bewusstheit erhoben (vgl. Tab 1). 5.2 Stichprobe Von den 91 teilnehmenden Kindern - 57 % männlich, 43 % weiblich - wuchsen 79 % mehrsprachig auf. Etwa 80 % der Kinder stammten aus Elternhäusern mit niedrigem sozioökonomischem Status. Vor dem Prätest spielte in <?page no="68"?> Aline Lenel & Monika Knopf 68 keinem der Kindergärten alltägliche Schriftpraxis eine Rolle. Das Schriftwissen der Kinder hing folglich zu diesem Zeitpunkt vor allem von den Erfahrungen im Elternhaus ab. Allerdings wurde in allen Kindergärten vorgelesen. Auch andere mündliche Sprachförderung fand in allen Kindergärten statt. In den drei Kindergärten, in denen die schriftliche Intervention stattfand, wurde in den sechs Monaten zwischen Prä- und Posttest auch im Alltag Schrift mit den Kindern verwendet. Die anderen drei Einrichtungen blieben bis zum Ende der Kindergartenzeit schriftfrei. Prätest Intervention Posttest Test 1.Klasse Test 2.Klasse 10 Monate vor Einschulung 8 Wochen mit Präsentation am Ende, + 4 Monate Material in den Gruppen 4 Monate vor Einschulung Ende Schuljahr Ende Schuljahr 91 Kinder 20 Kleingruppen 6 Kindergärten 30 Schulen 45 Klassen 3 Vorläufer: Mündliche Fähigkeiten, Wortkonzept, Alphabetisches Prinzip 3 Interventionen: Entdeckendes Schreiben, Mündliches Erzählen, Kontrollbedingung 3 Vorläufer: Mündliche Fähigkeiten, Wortkonzept, Alphabetisches Prinzip Lesen, Phonologische Aufmerksankeit Lesen,Phonologische Aufmerksamkeit Tab. 1: Verlauf der Studie Beim Prätest, also zehn Monate vor der Einschulung, waren die Kinder im Mittel fünf Jahre und elf Monate alt. Am Ende der zweiten Klasse, im Juni 2014, besuchten sie 30 verschiedene Schulen und 45 verschiedene Klassen. Von den 91 Kindern wurden acht Kinder in die Vorklasse eingeschult. In die Berechnungen zum Ende der zweiten Klasse gehen daher nur die Daten von 83 Kindern ein. Es nahmen nur Kinder an der Studie teil, deren Eltern ihr schriftliches Einverständnis für eine Studienteilnahme gegeben haben. An der schriftlichen Intervention nahmen insgesamt 45 Vorschulkinder teil, 40 davon mehrsprachig. Die mündliche Intervention fand in zwei Kin- <?page no="69"?> Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? 69 dergärten statt mit zusammen 28 Vorschulkindern, 20 davon mehrsprachig. Die Kontrollgruppe bestand aus achtzehn Kindern in einem Kindergarten, zwölf davon mehrsprachig. Die Gruppe der Einsprachigen bestand folglich aus neunzehn Kindern, von denen acht mündlich, fünf schriftlich und sechs mathematisch gefördert wurden. 5.3 Erhebungsmethoden Soweit möglich wurden alle Vorläuferfertigkeiten und Schulleistungen mit normierten Tests erhoben. 5.3.1 Mündliche Sprachfähigkeiten Die mündlichen Fähigkeiten im Kindergartenalter wurden gemessen mit drei Tests aus dem Heidelberger Auditiven Screening für die Einschulungsuntersuchung (HASE, Schöler/ Brunner 2008): „Nachsprechen von Sätzen“ misst die grammatische Leistungsfähigkeit; „Erkennen von Wortfamilien“ überprüft die lexikalische Strukturerfassung; „Wiedergeben von Zahlen“ misst die Kapazität der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses. 5.3.2 Schriftwissen Wortkonzept: Dieser Vorläufer wurde mit mehreren Tests erhoben (vgl. Lenel/ Knopf 2015): „Letztes Wort“ (Karmiloff-Smith et al. 1996) misst die Fähigkeit, Wortgrenzen in einem vorgelesenen Text zu erkennen; die normierten Tests „Schnelles Benennen Farben“ und „Schnelles Benennen inkongruent“ (BISC, Jansen et al. 2002) gehören zum Vorläufer Wortkonzept, weil sie den durch visuelle Signale ausgelösten Wortabruf messen. Alphabetisches Prinzip: Für diesen Vorläufer wurden die Tests „Anlautsprechen“ und „An“- und „Endlautschreiben“ verwendet. „Anlautschreiben“ stellt in der Studie von Morris et al. (2003) den stärksten Prädiktor des Lesens in den ersten beiden Klassen dar. 5.3.3 Tests in der Schule Am Ende der ersten Klasse wurde Lesen mit der „Würzburger Leise Leseprobe-R“ (WLLP, Schneider et al. 2011) und am Ende der zweiten Klasse mit dem „Salzburger Lesescreening“ (SLS, Mayringer/ Wimmer 2012) erhoben. Beide Tests messen die Lesegeschwindigkeit, der erste mit Wörtern, der zweite mit Sätzen. Die phonologische Leistung wurde mit dem Verfahren „Basiskompetenzen für Lese-Rechtschreibleistungen“ (Stock et al. 2003) am Ende der zweiten Klasse getestet. 5.4 Ergebnisse In vier Schritten wurde die Passung der Daten mit den beiden Modellen untersucht. Unsere Hauptfragestellungen bezogen sich auf (a) die Analyse <?page no="70"?> Aline Lenel & Monika Knopf 70 des Zusammenhangs von Vorläufertigkeiten mit dem Leseerwerbsprozess, (b) Unterschiede in der Entwicklung der Vorläuferfertigkeiten zwischen einsprachigen und mehrsprachigen Kindern und (c) den Effekt der unterschiedlichen Interventionen auf den Erwerb des Lesens von mehrsprachigen Kindern. 5.4.1 Zusammenhang zwischen Vorläufern im Kindergartenalter und schulischen Leseleistungen Die konfirmatorische Faktorenanalyse der Leistungen in den Vorläuferfähigkeiten im Prä- und Posttest ergab drei rotierte Faktoren, die den drei genannten Vorläuferfähigkeiten des Lesens entsprachen und 52 % der Varianz in den Kindergartentests erklärten. Auf den mündlichen Faktor luden die drei mündlichen Tests (HASE) hoch. Dieser Faktor erklärte 19 % der Gesamtvarianz. Auf den Wortkonzept-Faktor luden die Tests „Schnelles Benennen Farben“ und „Schnelles-Benennen Inkongruent“ sowie „Letztes Wort“ (Karmiloff-Smith et al. 1993) hoch. Er erklärte 11 % der Varianz. Der erklärungsmächtigste Faktor mit 22 % Varianzerklärung war der Faktor Einsicht in das alphabetische Prinzip. Auf ihn luden die Fähigkeiten „An-“ und „Endlautschreiben“ und „Anlautsprechen“ sehr hoch. Die Regressionsrechnungen zeigten, dass die Schriftwissen-Faktoren Wortkonzept („Letztes Wort“, „Schnelles Benennen Farben“) und Einsicht in das alphabetische Prinzip („Anlautschreiben“) 52 % der Varianz der Wortleseleistung am Ende der ersten Klasse erklärten. Auch von der mit dem Salzburger Lesescreening gemessenen Leseleistung am Ende der zweiten Klasse konnten 42 % der Varianz mit den beiden vorschulischen Schriftwissen- Faktoren erklärt werden. Von den mündlichen Sprachfähigkeiten trug nur das Maß für das Arbeitsgedächtnis („Wiederholen von Zahlen“) zur Erklärung der Leseleistung bei. Diese Ergebnisse ähneln den Anteilen von 58 % und 47 % der Leseleistung am Ende der ersten und zweiten Klasse, die Whitehurst und Lonigan mit dem vorschulischen Schriftwissen erklären konnten (2003: 21). Die Leseentwicklung der Stichprobe entspricht folglich den Annahmen des schriftlichen Modells. 5.4.2 Vergleich der Vorläuferfertigkeiten von mehr- und einsprachigen Kindern im Prätest Die Stichprobe setzt sich zusammen aus neunzehn einsprachigen und 72 mehrsprachigen Kindern. Diese beiden Gruppen wurden hinsichtlich ihrer Leistung in den Vorläuferfertigkeiten verglichen. Mündliche Sprachfähigkeiten: Die Einsprachigen zeigten erwartungsgemäß signifikant bessere Leistungen in den beiden mündlichen Tests „Erkennen von Wortfamilien“ und „Nachsprechen von Sätzen“, nicht aber im Arbeitsgedächtnis-Test „Wiedergeben von Zahlen“. <?page no="71"?> Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? 71 Schriftwissen: In den Tests zum Vorläufer Wortkonzept ließen sich weder im Test „Letztes Wort“ noch im Test „Schnelles Benennen Farben“ signifikante Leistungsunterschiede zwischen den beiden Vergleichsgruppen identifizieren. In den Tests zur Einsicht in das alphabetische Prinzip ließen sich zehn Monate vor Schulbeginn keine Unterschiede zwischen Ein- und Mehrsprachigen beim „Anlautschreiben“ feststellen. Im mündlichen „Anlautsprechen“ zeigten die Einsprachigen allerdings signifikant bessere Leistungen als die Mehrsprachigen. Prätest Einsprachige (N = 19) Mehrsprachige (N = 72) Mündliche Vorläufer Erkennen von Wortfamilien 5,6 (1,9) 3,8 (1,9) Nachsprechen von Sätzen 9,4 (1,2) 7,6 (2,3) Wiederholen von Zahlen 5,5 (1,6) 4,9 (1,6) Schriftwissen Wortkonzept Letztes Wort 6,1 (3,8) 5,1 (3,2) Schnelles Benennen Farben 6,5 (1,5) 5,8 (1,9) Schnelles Benennen Inkongruent 9,6 (1,8) 9,4 (2,4) Alphabetisches Prinzip Anlaut sprechen 6,0 (3,2) 4,1 (3,4) Anlaut schreiben 3,0 (3,4) 2,6 (3,4) Endlaut schreiben 1,6 (3,0) 1,6 (3,1) Tab. 2: Mittlere Leistungen der einsprachigen und mehrsprachigen Kinder im Prätest (signifikant bessere Leistungen fett gedruckt; Standardabweichung in Klammern) Die mehrsprachigen Kinder der Studie wiesen folglich nur in den mündlichen Sprachfähigkeiten einen deutlichen sprachlichen Rückstand gegenüber den einsprachigen auf. Sie unterschieden sich dagegen im Prätest nicht in den unter 5.4.1 festgestellten schriftlichen Prädiktoren des Lesens, Wortkonzept und Einsicht in das alphabetische Prinzip, und auch nicht im mündlichen Arbeitsgedächtnistest „Wiederholen von Zahlen“ von den einsprachigen Kindern. Damit entsprechen die Leistungs-Unterschiede zwischen Ein- und Mehrsprachigen im Prätest weitgehend den Verhältnissen, die in der angloamerikanischen Forschung festgestellt wurden: große Unterschiede in den mündlichen Sprachfähigkeiten, Gleichheit im Schriftwissen. <?page no="72"?> Aline Lenel & Monika Knopf 72 5.4.3 Analyse des Profits der mehrsprachigen Kinder in den Vorläuferleistungen als Funktion der verschiedenen Interventionen Für die Untersuchung der Frage, ob entdeckendes Schreiben oder mündliches Erzählen im Kindergarten die Vorläuferleistungen der Mehrsprachigen verbesserte, wurden nun die mehrsprachigen Kinder der drei Interventionsgruppen miteinander verglichen: vierzig schriftlich geförderte, zwanzig mündlich geförderte und zwölf mathematisch geförderte mehrsprachige Kinder (vgl. Tab. 3). Weder in den mündlichen noch in den schriftlichen Leistungen unterschieden sich die drei mehrsprachigen Gruppen im Prätest voneinander. Nur im Test „Schnelles Benennen“ zeigte die Gruppe, die die mündliche Intervention erhalten sollte, signifikant schwächere Leistungen als die anderen beiden Gruppen. Die mehrsprachigen Kinder der Kontrollgruppe zeigten außerdem tendenziell bessere Leistungen in der Einsicht in das alphabetische Prinzip als die beiden anderen Gruppen. Nach der Intervention erreichten die schriftlich geförderten Mehrsprachigen signifikant bessere Leistungen als die mündlich geförderten Mehrsprachigen in den Lese-Prädiktoren „An-“ und „Endlautschreiben“, „Schnelles Benennen“ und „Wiederholen von Zahlen“. Die mündlich geförderten Mehrsprachigen verbesserten sich vorwiegend in mündlichen Leistungen und unterschieden sich nun nicht mehr von den mehrsprachigen Kindern der Kontrollgruppe, die im Bereich des Rechnens gefördert worden waren. Die Mehrsprachigen mit alltäglicher Schriftpraxis im Kindergarten haben sich mithin in den sechs Monaten der Intervention in der Vorläuferfertigkeit Alphabetisches Prinzip deutlich verbessert. Zwar hat auch die mündliche Förderung Lernzuwachs bei den mehrsprachigen Kindern ermöglicht, allerdings nicht spezifisch in den Prädiktoren des Lesens. Die Mehrsprachigen der Kontrollgruppe haben sich im Interventionszeitraum weder in den schriftlichen noch in den mündlichen Vorläuferfertigkeiten verbessert. Neben der zielgerechten Wirkung der drei Interventionen bestätigen diese Ergebnisse die Annahme, dass die Entfaltung der Stärken Mehrsprachiger in dem für den Leseerwerb entscheidenden Vorläufer Schriftwissen auf eine Umgebung mit alltäglicher Schriftpraxis angewiesen ist. 5.4.4 Vergleich der Leseentwicklung und Leseleistung der drei mehrsprachigen Gruppen und der einsprachigen Gruppe Im vierten Analyseschritt werden die schulischen Leseleistungen von vier Gruppen verglichen: drei mehrsprachige Interventionsgruppen sowie eine einsprachige Gruppe (s. 5.2). Die mehrsprachigen Kinder der Kontrollgruppe lasen sowohl am Ende der ersten wie der zweiten Klasse besser als die anderen Gruppen. Die einsprachigen Kinder lasen in der ersten Klasse auch gut, aber in der zweiten Klasse wurden sie von den mehrsprachigen <?page no="73"?> Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? 73 Kindern der schriftlichen Interventionsgruppe überholt. Die mündlich geförderten mehrsprachigen Kinder blieben ebenso stabil am unteren Rand des Lesespektrums, wie die Kontrollgruppe am oberen. Tabelle 1 zeigt die Werte der vier Gruppen im „Anlautschreiben“ im Prätest und in den beiden schulischen Lesetests. Mehrsprachige schriftl. (N = 40) mündl. (N= 20) Kontroll ( N = 12) Mündlich Prä Post Prä Post Prä Post ErkWortfamilien 3,7 (1,8) 4,7 (1,5) 3,7 (2,3) 4,9 (2,1) 4,0 (2,0) 4,8 (1,6) NachsprSätze 7,9 (2,0) 8,9 (1,2) 6,9 (2,6) 8,2 (1,6) 7,7 (2,6) 8,1 (2,1) WdholenZahlen 4,9 (1,5) 5,6 (1,5) 4,5 (1,5) 4,6 (1,4) 5,5 (1,8) 5,3 (1,8) Schriftwissen Wortkonzept Letztes Wort 4,9 (3,3) 6,9 (2,2) 5,4 (2,9) 6,7 (2,5) 5,4 (3,5) 6,3 (3,4) SBFarben 5,9 (2,0) 6,8 (1,0) 4,9 (1,9) 5,9 (1,8) 6,8 (0,7) 6,8 (1,1) SBF-Inkongruent 8,0 (2,7) 9,9 (2,0) 7,5 (2,5) 9,0 (3,0) 9,0 (2,7) 8,7 (2,4) Alphabetisch Anlsprechen 4,4 (3,2) 7,1 (2,7) 3,7 (3,6) 5,5 (3,4) 4,2 (3,8) 5,5 (3,2) Anlschreiben 2,6 (3,3) 5,6 (3,5) 1,7 (3,1) 3,5 (3,6) 3,6 (4,1) 3,8 (4,2) Endlschreiben 1,8 (3,1) 4,5 (4,0) 0,6 (2,2) 2,4 (3,8) 2,3 (4,1) 2,9 (4,3) Tab. 3: Mittlere Leistungen der drei mehrsprachigen Interventionsgruppen im Prä- und Posttest (signifikant bessere Leistungen als die der mündlich geförderten Kinder fett gedruckt, Standardabweichung in Klammern) Die Ergebnisse der Überprüfung der Leseleistung im zweiten Schuljahr bestätigten die Erwartung, dass Mehrsprachige mit alltäglicher Schriftpraxis im Kindergarten trotz deutlich langsamerer mündlicher Entwicklung aufgrund ihrer Stärken in der Einsicht in das Alphabetische Prinzip genauso gut Lesen lernen können wie Einsprachige. Allerdings profitierten die schriftlich geförderten Kinder erst im Laufe der zweiten Klasse von ihrem im letzten Kindergartenjahr erworbenen Schriftwissen. Die Kontrollgruppe konnte da- <?page no="74"?> Aline Lenel & Monika Knopf 74 gegen mit ihrem früher bestehenden Vorsprung im Anlautschreiben von Anfang an im Lesen glänzen. Gruppe Anlautschreiben Prätest, 10 Mon. vor Einschulung, in Prozent des Maximums Lesen, WLLP 1. Klasse Rohwerte, Prozentrang in Klammern Anlautschreiben Posttest, 4 Mon. vor Einschulung, in Prozent des Maximums Lesen, SLS 2. Klasse Rohwerte, Lesequotient in Klammern Einsprachige 30 44 (PR 60) 38 29 (LQ 99) Mehrsprach. Kontroll 36 45 (PR 62) 45 34 (LQ 108) Mehrsprach.schrif tlich 26 35 (PR 32) 56 32 (LQ 104) Mehrsprach.mün dlich 17 33 (PR 27) 38 26 (LQ 94) Tab. 4: Die mittleren Leistungen der Kinder der vier Vergleichsgruppen in den Leistungen Anlautschreiben 10 Monate vor Schulbeginn, Lesen 1. Klasse, Anlautschreiben 4 Monate vor Schulbeginn und Lesen 2. Klasse (in Klammern: Prozentrang resp. Lesequotient). Schließlich stellte sich die Frage, ob es zwei unterschiedliche Wege zum Lesen gibt, wie die beiden vorgestellten Modelle vermuten lassen. Dafür wurden die Leistungen der vier Gruppen an fünf Messzeitpunkten längsschnittlich verglichen, einmal mit mündlichen, einmal mit schriftlichen Vorläufern: Abbildung 1 zeigt die Leseentwicklung der vier Kindergruppen in den 30 Monaten der Studie mit den Vorläufern des mündlichen Modells. Für die mündlichen Fähigkeiten steht der Test „Erkennen von Wortfamilien“ im Prä- und Posttest. Für die mündlichen Leistungen am Ende der zweiten Klasse wurde die Leistung im Test „Phonemvertauschung“ (BAKO, Stock et al. 2003) eingesetzt. Obwohl die Einsprachigen mit deutlichem Vorsprung in den mündlichen Vorläufern starteten, erreichten sie am Ende der zweiten Klasse nur den dritten Platz im Lesen. Die schriftlich geförderten Mehrsprachigen und die mehrsprachige Kontrollgruppe starteten dagegen am gleichen tiefen Punkt wie die mündlich geförderte Gruppe der Mehrsprachigen, erreichten aber <?page no="75"?> Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? 75 eine signifikant bessere Leseleistung am Ende der zweiten Klasse als diese. Die mündlichen Vorläufer können für keine Gruppe diese Entwicklung erklären. Abb.1: Die Leseentwicklung der vier Gruppen vom Beginn des letzten Kindergartenjahres bis zum Ende der zweiten Klasse mit der mündlichen Vorläuferfertigkeit „Erkennen von Wortfamilien“ (HASE). Das Maximum in den Lesetests entspricht Prozentrang 95. Die Daten der Studie wiesen dagegen eine gute Passung mit dem schriftlichen Modell auf (Abb. 2): Die Kontrollgruppe startete mit dem besten Wert im Anlautschreiben und erreichte auch die beste Leistung im Salzburger Lesescreening am Ende der zweiten Klasse. Die mündliche Gruppe hatte bei Beginn den niedrigsten Wert im Anlautschreiben und erreichte 30 Monate später auch nur den niedrigsten Wert im Lesen. Die Einsprachigen und die schriftlich geförderten Mehrsprachigen starteten am gleichen Punkt. Der Schub im Anlautschreiben, den die Mehrsprachigen durch die schriftliche Förderung erhielten, verschaffte ihnen am Ende der zweiten Klasse einen schriftlichen und phonologischen Vorteil sowohl gegenüber den Einsprachigen wie gegenüber den mündlich geförderten Mehrsprachigen. Der Vergleich der beiden Diagramme verdeutlicht, dass nur Schriftwissen im Kindergarten die späteren Unterschiede im Lesen erklären kann, nicht die mündlichen Sprachfähigkeiten. Der Vergleich der einsprachigen Kinder mit <?page no="76"?> Aline Lenel & Monika Knopf 76 der Gruppe der mündlich geförderten mehrsprachigen Kinder verdeutlicht, dass mehrsprachige mehr als einsprachige unter der Abwesenheit von Schrift im Kindergarten leiden. Schließlich zeigte sich an der Entwicklung der mehrsprachigen Kontrollgruppe, dass der Zeitpunkt der Einsicht in das alphabetische Prinzip entscheidende Auswirkungen auf die Leseentwicklung hat. Abb.2: Die Leseentwicklung der vier Gruppen mit der schriftlichen Vorläuferfertigkeit „Anlautschreiben“. Das Maximum in den Lesetests entspricht Prozentrang 95. 6 Diskussion Auch in Deutschland erklärt in der Vorschulzeit erworbenes Schriftwissen die Leseleistung in den ersten zwei Schuljahren. In diesen schriftlichen Vorläuferfertigkeiten unterscheiden sich mehrsprachige Kinder nicht von einsprachigen. Mehr als einsprachige Kinder sind sie aber auf alltägliche Schriftpraxis im Kindergarten angewiesen, weil das in der Familiensprache erworbene Schriftwissen großenteils nicht in die Zweitschrift transferiert werden kann. Die mehrsprachigen Kinder, die in dieser Studie entdeckendes Schreiben im Kindergarten praktizieren konnten, lasen am Ende der zweiten Klasse leicht überdurchschnittlich im Verhältnis zu ihrer Altersnorm. <?page no="77"?> Lernen mehrsprachige Kinder anders lesen? 77 Ausgerechnet die Kontrollgruppe fungiert als Kronzeuge für das schriftliche Modell und seine Aussage, dass Schriftwissen aus der Kindergartenzeit die Leseentwicklung in der Schule erklärt: 10 Monate vor der Schule konnten die mehrsprachigen Kontrollkinder dreieinhalb von zehn Anfangslauten mit korrespondierenden Buchstaben schreiben. 30 Monate später lasen sie relativ zu ihrer Altersnorm überdurchschnittlich gut. Auch in ihrem Kindergarten waren die Garderobenplätze nur mit Bildchen gekennzeichnet. Aber ihre Eltern zeichneten sich durch besondere Bildungsmotivation aus und ließen sie an ihrer eigenen Schriftpraxis teilhaben. Also hängt alles von den Eltern ab? Die schriftlich geförderte Gruppe macht deutlich, dass der Einfluss der Eltern nur solange die bedeutendste Prädiktorstärke für die Leseentwicklung der Kinder aufweist, wie die Vorschulinstitutionen auf Schriftlichkeit verzichten. Der Vergleich der Entwicklung der in der Schrift geförderten Interventionsgruppe mit der im Elternhaus geförderten Kontrollgruppe führt zu einer weiteren Erkenntnis: Alltägliche Schriftpraxis und entdeckendes Schreiben müssen früher einsetzen als die Intervention in dieser Studie. Einsicht in die symbolischen Beziehungen zwischen metasprachlichen Konzepten und ihrer schriftlichen Darstellung wächst langsam. Alltägliche Schriftpraxis im Kindergarten erfordert keine Programme, keine Anschaffungen, keine zusätzliche Zeit, aber ein Umdenken bei Pädagogen, Forschern und Didaktikern, bei Entwicklern und Anwendern von Schuleignungstests und Sprachförderprogrammen. Literatur Adams, M. J. (1990): Beginning to Read. Thinking and Learning about Print. 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New York: Guilford Press, 11-29. <?page no="81"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen Gespräche im Kindergarten - Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 1 Einführung Kinder erleben in ihren ersten Lebensjahren sehr unterschiedliche familiäre Sprach- und Bildungspraktiken, die mehr oder weniger mit den Praktiken der Schule übereinstimmen (Heath 1983; Heller 2012). Wie standardisierte Untersuchungen zeigen, besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Familien und den sprachlichen Leistungen der Kinder (Moser et al. 2008; Stamm et al. 2012; Zöller et al. 2009). Dieser Zusammenhang besteht aber nicht direkt: Er wird vermittelt durch das kulturelle Kapital der Familien (gemessen an Indikatoren wie Bildungsabschlüsse oder Buchbesitz, Schaffner et al. 2004; Stamm et al. 2012). Aus englischsprachigen Untersuchungen sind auch für einzelne familiäre Praktiken statistische Zusammenhänge mit kindlichen Sprachfähigkeiten belegt: Zugang zu anregungsreichen Büchern und Spielsachen, das Vorlesen von Büchern, eine aufmerksame und responsive Gesprächsbeteiligung der Eltern sowie ihre differenzierte sprachliche Ausdrucksweise begünstigen den Erwerb verschiedener sprachlicher und literaler Fähigkeiten (Burchinal & Forestieri 2011). Der Einfluss familiärer Rahmenbedingungen wie Einkommen oder Bildungsabschlüsse ist also nicht determinierend. Entscheidend ist, wie im Familienalltag mit Sprache und Schrift konkret gehandelt wird. Wie aktuelle nichtstandardisierte Studien zeigen, sind fünf- und sechsjährige Kinder aus mittelständisch-bildungsorientierten Familien bereits vertraut mit Praktiken wie Berichten, Erzählen oder Erklären sowie mit der Objektivierung von Sprache und Schrift (z.B. im Sprachspiel oder beim Sprechen über Sprachliches). Die Gewichtung dieser Praktiken variiert aber von Familie zu Familie (Heller 2012; Isler 2014; Morek 2012). Zwischen sozioökonomisch und ethnisch unterschiedlichen Familien divergieren die Repertoires noch stärker (Heller 2012). Damit stellt sich die Frage, wie Kinder unterschiedlicher Herkunft im Sinne einer „rationalen Pädagogik“ (Bourdieu/ Passeron 1971) frühzeitig beim Erwerb von sprachlichen Fähigkeiten unterstützt werden können, die für schulisches Lernen erforderlich, aber nicht in allen Familien erlernbar sind. Zwar ist der Einfluss der Familie auf den Erwerb sprachlicher Fähigkeiten ungleich größer als jener der Schule (Stamm et al. 2012), qualitativ <?page no="82"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen 82 gute vorschulische Bildungseinrichtungen können aber ebenfalls einen nachhaltigen Beitrag zum Schulerfolg leisten (Sammons et al. 2008). Dabei spielt die Prozessqualität, die wesentlich durch das Handeln der pädagogischen Fachpersonen in Gesprächen mit Kindern geprägt wird, eine zentrale Rolle (Kuger/ Kluczniok 2008). Das gemeinsame Spinnen längerer Gedankenfäden ist für den Erwerb anforderungsreicher sprachlich-kognitiver Fähigkeiten unverzichtbar, in Gesprächen zwischen pädagogischen Fachpersonen und Kindern aber nur selten anzutreffen (König 2006; Hopf 2012). Deshalb ist es bildungspolitisch wichtig, die Prozessqualität in frühpädagogischen Einrichtungen zu optimieren. In diesem Beitrag soll an einem konkreten Beispiel gezeigt werden, wie im Verlauf eines Klassengesprächs im Kindergarten verschiedene Kontexte entstehen, die unterschiedliche Potenziale für die Realisierung und den Erwerb schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten bieten. Im Folgenden wird zunächst das Verständnis schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten geklärt und anschließend das Projekt ProSpiK vorgestellt. Darauf folgt - als zentraler Teil dieses Beitrags - die exemplarische Auswertung eines Klassengesprächs. Abgeschlossen wird der Beitrag mit der Skizzierung möglicher Konsequenzen für die Förderung. 2 Schulisch-bildungssprachliche Fähigkeiten Die stillschweigende Voraussetzung schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten dürfte als verborgene Barriere bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit eine zentrale Rolle spielen (Heath 1983; Kaesler 2005; Lahire 1993): Wenn im Vorschulalter und in den ersten Schuljahren nicht gelernt werden kann, was für schulisches Lernen in allen Fächern Voraussetzung ist, dann werden Kinder ohne entsprechende familiäre Bildungsangebote systematisch und nachhaltig benachteiligt. Was ist aber mit „schulischbildungssprachlichen Fähigkeiten“ gemeint? Im Projekt ProSpiK verstehen wir schulisch-bildungssprachliche Fähigkeiten als Ressourcen für die Produktion „mündlicher Texte“ (Isler/ Ineichen 2015) unter den institutionellen Bedingungen des Kindergartens. Dazu gehören Fähigkeiten ... — zur solistischen Produktion längerer Gesprächsbeiträge (vgl. das Konzept der globalstrukturierten Diskurseinheiten bei Quasthoff et al. 2011), — zur Repräsentation distanter, nicht situationsimmanenter Inhalte (vgl. das Konzept der Referenzräume bei Isler/ Künzli/ Wiesner 2014) — und zur textuellen Strukturierung von größeren, komplexen Sinneinheiten (vgl. das Konzept der mentalen Textmodelle bei Schnotz/ Dutke 2004), <?page no="83"?> Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 83 — die mittels spezifischer sprachlicher Mittel (vgl. das Konzept der Textprozeduren bei Bachmann 2014; Feilke 2014, für eine Übersicht bildungssprachlicher Mittel vgl. etwa Reich 2008) — und unter Berücksichtigung situations- und institutionsspezifischer Sprachhandlungsmuster und Genres (vgl. das Konzept der «Genres oraux formels» bei Erard/ Schneuwly 2005) realisiert werden. Diese Fähigkeiten werden (zumindest im Vorschulalter) nicht durch Instruktion und Training vermittelt, sondern durch unterstütztes Modell-Lernen in kommunikativen Gebrauchssituationen erworben (Bruner 1983 [2002]; Quasthoff/ Kern 2007; Tomasello 1999). 3 Das Projekt ProSpiK 3.1 Der Kindergarten in der Deutschschweiz Im Nationalfondsprojekt ProSpiK werden Alltagsgespräche in Deutschschweizer Kindergärten untersucht. Diese Einrichtungen unterscheiden sich in verschiedenen Punkten markant von Kindergärten in Deutschland: Sie sind durch den Staat finanziert, ihr Besuch ist in den meisten Kantonen obligatorisch und für die Eltern unentgeltlich. Die Kindergärten sind in der Schweiz organisatorisch in die lokalen Schuleinheiten integriert (und oft auch räumlich in Schulhäusern untergebracht). Die vierbis sechsjährigen Kinder werden in altersgemischten Klassen mit ca. 16 bis 22 Kindern von Lehrpersonen unterrichtet, die an pädagogischen Hochschulen ausgebildet wurden. In den meisten Kantonen gibt es für den Kindergarten verbindliche Lehrpläne. Damit ist der Kindergarten in der Deutschschweiz klar als schulische Bildungsinstitution positioniert. Allerdings bestehen nach wie vor wichtige Unterschiede zur anschließenden Primarschule (Grundschule), namentlich in der Altersdurchmischung der Klassen, der großen Bedeutung des Spiels und im Fehlen einer Fächerorganisation (zum Wandel des Kindergartens in der Schweiz vgl. Sörensen & Thévenaz-Christen 2003). 3.2 Fragestellung und Design des Projekts ProSpiK Prozesse der Förderung schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten wurden in Deutschschweizer Kindergärten bisher nicht untersucht. Deshalb wurde für dieses Projekt ein offener, entdeckender und theoriegenerierender Zugang gewählt. Im Projekt ProSpiK werden folgende Fragen bearbeitet: 1) Welche kommunikativen Formen eines „schulnahen“ Sprachgebrauchs sind im Kindergarten anzutreffen? 2) Wie werden diese Formen von den Lehrpersonen und Kindern interaktiv hergestellt? <?page no="84"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen 84 3) (Wie) wird im Rahmen solcher Interaktionen soziale Ungleichheit von den Lehrpersonen und Kindern hergestellt, aufrechterhalten oder abgebaut? Mit dem Begriff der „kommunikativen Formen“ wurde der Gegenstand bewusst weit gefasst, um eine vorschnelle Engführung des Blicks durch bestehende Konzepte (z.B. Unterrichtsformen oder Genres) zu vermeiden. Stattdessen sollten Kommunikationsmuster aller Art (neben sprachlichen auch multimodale) und unterschiedlicher Reichweite (z.B. musterhafte Abfolgen interaktiver Züge oder ganze kommunikative „Veranstaltungen“) erfasst werden. Methodisch ist das gewählte Vorgehen als fokussierte Ethnografie bzw. „Videografie“ (Knoblauch 2006) angelegt: In acht Kindergärten wurde während jeweils einer Woche an fünf Vormittagen das gesamte kommunikative Handeln der Lehrpersonen in Interaktionen mit Kindern gefilmt. Feldnotizen, tägliche Kurzgespräche mit den Lehrpersonen sowie schriftliche Befragungen zu ihren Berufsbiografien und zu den Zusammensetzungen ihrer Klassen ergänzten die Datenerhebung. Bei der Auswertung wurde zunächst für jede Klasse ein Logbuch erstellt, welches das kommunikative Geschehen während der gefilmten Schulwoche dokumentiert. Auf dieser Grundlage wurden einzelne Gespräche ausgewählt: die erste Kreissituation der Woche sowie weitere fortlaufende Ko-Konstruktionen unter Beteiligung der Lehrperson, die im Hinblick auf schulförmiges Sprachhandeln gehaltvoll erschienen. Pro Kindergarten wurden fünf bis sechs Gespräche im Analyseteam sequenzanalytisch (Zug um Zug rekonstruierend) analysiert. Auf dieser Grundlage werden zurzeit (im Frühjahr 2015) Konzepte zu zentralen Befunden ausgearbeitet und validiert. Angestrebt wird eine theoretische Modellierung der Erwerbsunterstützung schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten im Kindergarten. Diese soll in anschließenden Forschungsarbeiten überprüft und weiterentwickelt werden (für eine ausführlichere Darstellung des Projekts und seiner theoretischen und methodologischen Grundlagen s. Isler, Künzli & Wiesner 2014). 4 Einblick in die Datenanalyse: Ein Klassengespräch als Erwerbskontext schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten In diesem Kapitel soll am Datenmaterial exemplarisch gezeigt werden, wie eine Lehrerin und verschiedene Kinder in einem Klassengespräch Gelegenheiten zur Realisierung schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten schaffen und nutzen. Das Kapitel ist in fünf Abschnitte gegliedert: Nach der Darstellung des Kontexts des untersuchten Gesprächs (4.1) wird zunächst seine Grobstruktur (Episoden und Gesprächsprojekte) herausgearbeitet (4.2). Danach werden für drei Episoden aus unterschiedlichen Gesprächsprojekten <?page no="85"?> Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 85 die Feinstrukturen (sprachliche Mittel und Interaktionsmerkmale) untersucht (4.3). Abschließend wird am Fallbeispiel von Cora der Erwerb eines Textmusters dokumentiert (4.4). 4.1 Kontext des Gesprächs Der Kindergarten, um den es hier geht, ist Teil einer größeren Schuleinheit in einer Deutschschweizer Großstadt. Die Familien in seinem Einzugsgebiet leben mehrheitlich in Blockwohnungen. Von den 19 vierbis sechsjährigen Kindern der Klasse sprechen 7 zuhause Deutsch und 12 eine andere Erstsprache. Die Klassenzusammensetzung lässt sich im Vergleich zum Deutschschweizer Durchschnitt als sozioökonomisch eher unterprivilegiert und sprachlich heterogen beschreiben. Das Gespräch, das im Folgenden ausschnittweise dargestellt und untersucht wird, hat sich an einem Vormittag im so genannten Morgenkreis abgespielt. Vorgängig hat die erfahrene Kindergarten-Lehrerin die 18 anwesenden Kinder im Stuhlkreis versammelt und mit ihnen ein Begrüßungslied in den neun in der Klasse vertretenen Erstsprachen gesungen. Nun sollen die Kinder ein Bilderbuch nacherzählen, das in der Woche zuvor vorgelesen und besprochen wurde. Es handelt sich um das Buch „Das Allerwichtigste“ von Antonella Abatiello (München: Hueber Verlag). Die Geschichte besteht aus einzelnen Szenen, die sich auf jeder Doppelseite mit wechselnden Hauptrollen wiederholen: Verschiedene Tiere wetteifern im Gespräch um das allerwichtigste Körpermerkmal. Auf den weißen linken Buchseiten sind jeweils die wortführenden Tiere abgebildet und ihre Plädoyers abgedruckt, mit welchen sie ihre je spezifischen Körpermerkmale anpreisen. Auf den bunten, aufklappbaren rechten Buchseiten sind die zuhörenden Tiere zu sehen, als Phantasietiere dargestellt mit den Merkmalen des aktuellen Wortführers (z.B. alle Tiere mit langen Ohren, wenn der Hase spricht). Die Kinder sitzen in mehreren Reihen vor der Lehrerin auf dem Boden. Die Lehrerin sitzt auf ihrem Stuhl und hält das Buch den Kindern zugewandt vor sich - in der Luft „auf Sendung“, wenn es um die Geschichte geht, oder auf ihren Knien „parkiert“, wenn über die Geschichte Hinausgehendes thematisiert wird (zur Funktionen solcher multimodaler Stützsysteme s. Wiesner/ Isler 2015). 4.2 Analyse der Grobstruktur: Episoden und Gesprächsprojekte Der für die Analyse ausgewählte Ausschnitt dauert 4 Minuten und 42 Sekunden und dokumentiert den Anfang dieses Klassengesprächs. Mithilfe situativer und inhaltlicher Oberflächenmerkmale (Zeigen neuer Buchseiten, <?page no="86"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen 86 Aufrufen anderer Kinder, Thematisierung weiterer Tiere) lassen sich 10 Episoden identifizieren: 1 Auf Aufforderung der L benennt Alena den Hasen und rezitiert sein Plädoyer. L zeigt der Klasse die Tiere mit langen Ohren. 2 Ein (nicht identifizierbares) Kind weist auf den lustigen Fuchs hin. L fragt nach den normalen Ohren des Fuchses. Die Klasse antwortet im Chor. 3 Norena verweist auf das Zebra, und L fragt nach den normalen Ohren des Zebras. Dario und Alina antworten. 4 L fragt nach den normalen Ohren des Elefanten. Sonja, Alina und Franco antworten. 5 Auf Aufforderung der L rezitiert Cora das Plädoyer des Igels. L zeigt der Klasse die Tiere mit Stacheln. 6 L meint, sie würde ihr Kätzchen nicht gerne streicheln, wenn es Stacheln hätte. Lisa berichtet mit Unterstützung der L von ihren Kätzchen. 7 Dario berichtet von seinem Haustier: einer Schnecke, die gerade Winterschlaf hält. 8 Auf Aufforderung der L benennt Belinda die Giraffe und rezitiert ihre Aussage. L zeigt der Klasse die Tiere mit langen Hälsen. 9 Cora meint, sie könnte ihr eigenes Häschen nicht streicheln, wenn es einen langen Hals hätte. Auf Nachfrage von L erklärt sie ihre Aussage. 10 L fragt nach den Namen von Tieren, die nur teilweise sichtbar sind. Zita benennt die Maus, Milan den Hasen. Luca antwortet nicht, Zita hilft aus. Tab. 1: Verlauf des Klassengesprächs mit zehn Episoden. Die musterhafte Bearbeitung der einzelnen Buchseiten ist grau schattiert. L = Lehrerin. Durch Beizug weiterer Kriterien (ritualisierte Verlaufsmuster, wechselnde Referenzräume) können mehrere Episoden mit gleichen Merkmalen zu so genannten „Gesprächsprojekten“ zusammengefasst werden. Mit diesem Arbeitsbegriff bezeichnen wir einzelne Gesprächsfäden, die sich phasenweise oder wiederkehrend über mehrere Eisoden hinziehen. Im Verlauf dieses Ausschnitts werden vier solche Gesprächsprojekte realisiert: A Das Rahmenprojekt „eine Bilderbuchgeschichte nacherzählen“ (Episoden 1, 5 und 8). Es verläuft nach einem stabilen, für die Kinder leicht vorhersehbaren Muster: Die Lehrerin zeigt eine neue Seite, ein Kind benennt das wortführende Tier und rezitiert seine Aussage, die Lehrerin klappt die <?page no="87"?> Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 87 Doppelseite auf, die Kinder lachen über die Fantasietiere und die Lehrerin kommentiert das Bild. B Ein erstes Binnenprojekt „Wissen über reale Tiere abfragen“ (Episoden 2 bis 4), bei dem die Lehrerin ausgehend von der fiktiven Welt des Bilderbuchs nach dem Weltwissen der Kinder über reale Tiere fragt. C Ein zweites Binnenprojekt „das eigene Haustier fiktiv verfremden“ (Episoden 6, 7 und 9), in dessen Verlauf zunächst die Lehrerin und danach drei Kinder die fiktive Welt des Bilderbuchs mit ihren eigenen realen Lebenswelten verbinden. D Ein drittes Binnenprojekt „abgebildete Tiere erkennen“ (Episode 10), bei dem die Lehrerin einzelne Kinder auffordert, die im Buch nur teilweise sichtbaren Tiere zu identifizieren. Die Projekte A und D beziehen sich ausschliesslich auf den Referenzraum der Geschichte, die durch das Bilderbuch im situativen Hier-und-Jetzt präsent ist - teils durch die direkt „lesbaren“ Bilder, teils durch den Text, der von den Kindern anhand seines Formulierungsmusters („Der ... sagt: ‚Das Allerwichtigste ist, ... zu haben.“) adaptiert werden kann. Die beiden anderen Projekte erfordern situationsüberschreitende Bezüge auf die Referenzräume des Weltwissens (Projekt B) und der eigenen lebensweltlichen Erfahrungen (Projekt C). Sie können deshalb als „elaborierend“ verstanden werden (zum Konzept der Referenzräume s. Isler, Künzli & Wiesner 2014). Die Realisierung situationsüberschreitender Sprachhandlungen erfordert differenziertere sprachliche Mittel und angepasste Interaktionsmuster. Dies soll nun am Datenmaterial veranschaulicht werden. 4.3 Analyse der Feinstruktur: Sprachliche Mittel und Interaktionsmuster Die Feinstruktur wird exemplarisch für drei aufeinanderfolgende Episoden analysiert. Die Episoden 4, 5 und 6 gehören zu den Gesprächsprojekten B (Wissen über reale Tiere abfragen), A (eine Bilderbuchgeschichte nacherzählen) und C (das eigene Haustier fiktiv verfremden). Sie eignen sich deshalb gut für den Vergleich von sprachlichen Mitteln und Interaktionsmustern in unterschiedlichen Gesprächsprojekten. Im Folgenden wird jede der drei Episoden zunächst in Form von Transkriptauszügen dokumentiert und anschliessend im Hinblick auf Interaktionsmuster und sprachliche Mittel kommentiert. Die Episode 4 bildet den Abschluss des Gesprächsprojekts „Wissen über reale Tiere abfragen“. Sie präsentiert sich wie folgt: Lehrerin Kinder (hält Buch hoch) Der Elefant? Was hat der sonst für Ohren? Sonja? (Sonja, Alina, Cora strecken auf) <?page no="88"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen 88 Dreiecklein und dann befestigt? (schaut von Sonja weg) Alina? (schaut Alia an) Ganz gross, nicht wahr? Das ist wichtig. (schaut Franco an) Ja? Rund und gross. (nimmt Buch herunter, blättert) SONJA Wie so Dreiecklein und dann befestigt. SONJA Ja. So Dreieck/ (Alina, Cora strecken immer noch auf) (Franco streckt energisch auf) ALINA So rund und groß. FRANCO Rund und groß. Tab. 2: Transkription der Episode 4. Linke Spalte = Handlungen der Lehrerin, rechte Spalte = Handlungen der Kinder, fett = Sprachproduktionen der Kinder Ausgehend vom Bilderbuch, in dem der Elefant mit großen spitzen Ohren dargestellt ist, sollen die Kinder in dieser Episode die Ohren realer Elefanten sprachlich beschreiben. Die gesuchte Information ist nicht situativ verfügbar, die Kinder müssen auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um die Frage der Lehrerin zu beantworten. Sonja benutzt denn auch differenziertere sprachliche Mittel: einen geometrischen Fachbegriff (Dreieck), eine Verkleinerungsform (-lein) und die Kohäsionsmittel „wie“ (zum Anschluss an die Frage der Lehrerin) und „und dann“ (zur Verknüpfung ihrer Angaben). In Alinas Äusserung lassen sich die Kohäsionsmittel „so“ und „und“ ausmachen, Franco beschränkt sich auf eine Wiederholung von Alinas Produktion. Das Interaktionsmuster ist prototypisch für Unterrichtskommunikation: Auf die Frage der Lehrerin folgen die Meldungen der Kinder, der Aufruf eines Kindes durch die Lehrerin, die Antwort des Kindes und die Evaluation durch die Lehrerin. Dieses Muster kommt mit geringfügigen Variationen dreimal vor: Bei Sonja evoziert die Lehrerin mit einer Rückfrage eine zweite Antwort und bleibt eine (explizite) Evaluation schuldig. Bei Alina und Franco ist das Muster prototypisch, wobei die Lehrerin Alinas Antwort inhaltlich präzisierend und Francos Antwort nur noch pro forma evaluiert. Für diese Episode lässt sich zusammenfassend festshalten, dass einzelne Kinder gewisse differenziertere sprachliche Mittel verwenden, um diese situationsüberschreitende Aufgabe - die wissensbasierte Erklärung eines realen Sachverhalts - zu bearbeiten. Das von der Lehrerin initiierte und gesteuerte Interaktionsmuster öffnet aber keine Gesprächsräume und lässt keine ausführlicheren sprachlichen Produktionen zu. Nun kehrt die Lehrerin <?page no="89"?> Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 89 zurück zum Rahmenprojekt „ein Bilderbuch nacherzählen“. Die Episode 5 präsentiert sich wie folgt: Lehrerin Kinder (lehnt sich nach vorne) (zeigt das Buch im Kreis herum) Was sagt denn der Igel? Cora. (LP schaut Cora an) Genau. (zeigt das Buch im Kreis herum) Und das würde dann so aussehen. (Cora und andere Kinder strecken auf) CORA Das Allerwichtigste ist, dass wir Stacheln haben. (die Kinder lachen) Tab. 3: Transkription der Episode 5. Linke Spalte = Handlungen der Lehrerin, rechte Spalte = Handlungen der Kinder, fett = Sprachproduktion von Cora. Die Kinder sollen die Aussage des wortführenden Igels rezitieren. Diese Aufgabe bezieht sich auf das situativ präsente Bilderbuch. Zwar ist das Plädoyer des Igels im Buch nur schriftlich repräsentiert und den Kindern damit nicht direkt zugänglich. Sie können das bekannte Formulierungsmuster aber anhand der Bildinformation adaptieren. Cora produziert die gewünschte Äusserung präzise und verwendet dabei verschiedene schulischbildungssprachliche Mittel: eine Nominalisierung, eine Steigerungsform und einen untergeordneten, mit der Konjunktion „dass“ verbundenen Nebensatz. Weitere sprachliche Produktionen bleiben aus. Wie in Episode 4 entspricht das Interaktionsmuster prototypisch dem Unterrichts-Dreischritt von Frage, Antwort und Evaluation (mit eingeschobenem Melden der Kinder und Aufrufen durch die Lehrerin; Mehan 1979). Der Dreischritt ist hier außerdem eingebaut in das ritualisierte Verlaufsmuster des Rahmenprojekts: Der Frage geht das Zeigen der neuen Buchseite voraus, der Evaluation folgen das Aufklappen und Zeigen der Doppelseite mit den Phantasietieren, das Lachen der Kinder und der Kommentar der Lehrerin. Das Gespräch wird damit doppelt gesteuert: durch das Wissen der Kinder um das ritualisierte Vorgehen und durch das initiierende und steuernde Handeln der Lehrerin. Damit zeigt sich für diese Episode ein ambivalentes Bild: Einerseits verwendet Cora auf der sprachlichen Oberfläche differenzierte sprachliche Mittel und löst die ihr gestellte sprachliche Repräsentationsaufgabe sicher. Andererseits handelt es sich um eine rein reproduktive und situations- <?page no="90"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen 90 bezogene Formulierungsübung und nicht um eine situationsüberschreitende Sprachhandlung mit kommunikativer Funktion. An dieser Stelle verlässt die Lehrerin das Rahmenprojekt des Nacherzählens erneut und initiiert das zweite elaborierende Binnenprojekt „das eigene Haustier fiktiv verfremden“. Episode 6 präsentiert sich wie folgt: Lehrerin Kinder (parkiert Buch auf ihren Knien) Also ich würde mein Kätzchen nicht so gern streicheln, wenn es solche Stacheln hätte. (schaut im Kreis herum) Wie heissen die zwei? (beugt sich zu Lisa vor) Und das sind zwei Kätzchen? Sind die denn immer noch bei euch zuhause? Ich habe gemeint, sie seien fort, seit ihr den Hund habt. Kommen sie wieder? Der Hund greift die Katzen an? (richtet sich auf, hält Kopf schief) (lächelt Lisa zu, hält Buch hoch) LISA Meines auch! Meines kann ich nicht streicheln, die Saringa und den Pappo. LISA Saringa ist ein Mädchen, und Pappo ist ein Junge. (Lisa nickt) LISA Mhm. LISA Nä-ä. (verneinend) LISA Der Hund greift sie im / Der Hund greift sie immer an, aber aber / LISA Aber dann müssen die Katzen raus. LISA (lacht) Und die Saringa geht auf den Schrank und der Pappo ist in der Mama ihrem Schrank. (lacht) Tab. 4: Transkription der Episode 6. Linke Spalte = Handlungen der Lehrerin, rechte Spalte = Handlungen von Lisa. fett = solistische Sprachproduktion von Lisa In dieser Episode stellt die Lehrerin den Kindern keine Frage, sondern modelliert eine sehr spezifische Sprachhandlung, eine Art „fingierten Bericht“, indem sie die Referenzräume des Bilderbuchs und der eigenen Lebenswelt miteinander verknüpft. <?page no="91"?> Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 91 Lisa scheint diese anspruchsvolle Sprachhandllung zu verstehen, aber noch nicht produktiv über die spezifischen sprachlichen Mittel - die Konjunktivform und den untergeordneten Nebensatz mit der Konjunktion „wenn“ - zu verfügen. Sie verwendet aber verschiedene andere differenzierte sprachliche Mittel, darunter Pronomen (meines, sie), Präpositionen (auf, im) Konjunktionen (und, aber dann) und ein Modalverb (müssen). Dabei spricht sie nicht nur deutlich differenzierter, sondern auch deutlich mehr als die Kinder in den anderen Episoden. Ein starker Kontrast zu den Episoden 4 und 5 zeigt sich auch bezüglich des Interaktionsmusters: Erstens öffnet die Lehrerin durch den unvorhersehbaren Wechsel des Projekts und die anschließende abwartende Pause einen neuen, weder durch ein ritualisiertes Muster noch durch ihre Steuerung vorstrukturierten Gesprächsraum. Zweitens greift sie die Initiative von Lisa auf und unterstützt Lisa in der Folge Zug um Zug beim Weiterspinnen ihres realen Berichts (aufgrund von Lisas erstem Zug wäre es durchaus möglich gewesen, Lisa bei der Entwicklung eines fingierten Berichts zu unterstützen). Dabei ist ihr Handeln präzise auf Lisas Züge zugeschnitten, und sie verwendet verschiedene Unterstützungsformen (verständnissichernde und elaborierende Fragen, das Explizieren des eigenen (Miss-)Verstehens). In dieser Weise unterstützt geht Lisa von einer Zug um Zug angeleiteten zu einer solistischen Produktionsweise über, als sie von den Streitigkeiten ihrer Haustiere berichtet - und freut sich sichtlich darüber. Diese Episode zeigt eindrücklich, wie ein elaborierendes Gesprächsprojekt - die Produktion eines lebensweltbezogenen Berichts aus dem Bereich der kindlichen Expertise - in Kombination mit einem offenem Gesprächsraum, der Gewährung und Aufrechterhaltung des primären Rederechts und dynamisch zugeschnittenen interaktiven Unterstützungsleistungen die Produktion umfangreicher und differenzierter schulischer Bildungssprache begünstigen kann. Diese am Einzelfall herausgearbeiteten Bezüge zwischen elaborierenden Gesprächsprojekten, Interaktionsmerkmalen und der Realisierung schulischbildungssprachlicher Fähigkeiten lassen sich nicht verallgemeinern. Durch Vergleiche mit den anderen Episoden dieser Sequenz wird aber deutlich, dass diese Bezüge prototypisch sind: Die sprachliche Differenziertheit der Kinderbeiträge aller 10 Episoden ist innerhalb der vier Gesprächsprojekte sehr ähnlich und zwischen den vier Projekten sehr unterschiedlich. Die stark variierenden Sprachproduktionen der Kinder lassen sich in dieser Sequenz mit den Kriterien der situationsübergreifenden Bezüge und der offenen und unterstützenden Interaktionsbedingungen plausibel erklären. Die bisherigen Auswertungen haben die Bedeutung von Gesprächen als Kontexte der Realisierung bereits erworbener schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten verdeutlicht. Lassen sich in dieser Sequenz auch Hinweise auf <?page no="92"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen 92 den Erwerb neuer Fähigkeiten finden? Diese Frage wird abschließend am Fallbeispiel von Cora bearbeitet. 4.4 Erwerb schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten In Episode 6 hat die Lehrerin das Projekt „das eigene Haustier fiktiv verfremden“ initiiert (s. oben). Cora schliesst in Episode 9 - mit einem zeitlichen Abstand von eineinhalb Minuten - an das Handeln der Lehrerin an und produziert aus eigener Initiative ebenfalls einen fiktiv verfremdeten Bericht, der inhaltlich eigenständig ist und zugleich eine ganze Reihe von offensichtlichen Parallelen zum Mustertext der Lehrerin aufweist: Lehrerin (Episode 6) Also ich würde mein Kätzchen nicht so gern streicheln, wenn es solche Stacheln hätte. Lehrerin (Episode 9) Cora (Episode 9, 1.5 Minuten später) Cora? Wieso? Wieso kannst du den Hasen nicht streicheln, wenn er einen langen Hals hat? (bereits von Cora abgewandt) Anfassen, ne? (zeigt Buch im Kreis herum) (parkiert Buch auf ihren Knien) Sehr gut. (Cora streckt auf) Ich könnte den dann nicht meinen / meinen Hasen streicheln. Wenn er einen langen Hals hätte, kann ich ihn nicht an den Ohren streicheln. Ich kann ihn schon streicheln. Aber / Aber wenn ich noch klein bin, kann ich ihn einfach nicht so am Kopf streicheln und seine Haare / Also ich meine / (fasst sich kurz an die Stirn) ähm / Ohren anlangen. Tab. 5: Mustertext der Lehrerin und Textproduktion von Cora. Linke Spalte = Handlungen der Lehrerin, rechte Spalte = Handlungen von Cora. fett = korrespondierende sprachliche Mittel <?page no="93"?> Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 93 In Coras Bericht geht es inhaltlich um ihren Hasen (nicht um die Katze der Lehrerin) und um seinen (imaginierten) langen Hals (nicht um ein stachliges Fell). Zwischen Lehrerin und Cora übereinstimmend sind dagegen die Interaktionsrollen (Initiierung eines neuen Projekts), die Referenzräume (Anknüpfung an die Bilderbuchgeschichte, Bezug auf die eigene Lebenswelt mit fiktiver Verfremdung) und mehrere textorganisierende sprachliche Mittel: die Konjunktion „wenn“, die (bei Cora noch nicht stabilisierten) Konjunktivformen und der untergeordnete konditionale Teilsatz. Daneben weist Coras Produktion weitere Elemente schulischer Bildungssprache auf (verschiedene Pronomina in variierenden Fallformen, das Hilfsverb „können“, wiederholte Reparaturen, die auf Planungs- und Monitoringprozesse hinweisen, wie sie aus der Schreibforschung bekannt sind). Das Beispiel zeigt, dass Cora ein von der Lehrerin verwendetes Textmuster erkennt und selbst produktiv nutzt. Zwar lässt sich anhand dieser Daten nicht schlüssig beweisen, dass Cora hier Neues dazugelernt hat. Es wird aber einsichtig und nachvollziehbar, dass schulisch-bildungssprachliche Fähigkeiten in Gesprächen durch Lernen vom Modell erworben und erprobt werden können. 5. Konsequenzen für die Förderung Die exemplarische Datenanalyse hat ergeben, dass in diesem Ausschnitt aus einem Klassengespräch von knapp 5 Minuten Dauer vier unterschiedliche Gesprächsprojekte realisiert wurden. Eines davon - das Projekt „das eigene Haustier fiktiv verfremden“ - hat sich als besonders ergiebig für die Realisierung schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten erwiesen. Es unterscheidet sich von den anderen Projekten durch die Kombination situationsüberschreitender Referenzen und Gestaltungsräume sowie Unterstützung in der Interaktion. Unter diesen Bedingungen haben Lisa und Cora mit jeweils angepasster Unterstützung der Lehrperson (Zug um Zug aufrechterhaltend bei Lisa, einen verlängernden Sprechimpuls gebend bei Cora) „mündliche Texte“ produziert und dabei schulisch-bildungssprachliche Fähigkeiten realisiert. Sie haben ... — im Rahmen eines Kreisgesprächs im Kindergarten ... — in (unterstützter) solistischer Produktionsweise ... — komplexe distante Inhalte ... — textuell strukturiert und ... — mit spezifischen Mitteln sprachlich repräsentiert. Cora hat ausserdem einen Beitrag der Lehrerin als Textmuster erkannt und für die Produktion eines eigenen „mündlichen Texts“ genutzt. Damit zeigt <?page no="94"?> Dieter Isler & Gabriela Ineichen 94 sich ein besonderes Potenzial solcher Gesprächsprojekte für den Erwerb schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten. Für deren Förderung lassen sich aufgrund der Analysen einige Schlüsse ziehen: Kindergarten-Lehrpersonen (und pädagogische Fachpersonen im Frühbereich) können Kinder beim Erwerb schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten unterstützen, indem sie Gesprächsprojekte mit situationsüberschreitenden Referenzen anbieten und die Kinder durch Modellierung anspruchsvoller Sprachhandlungen, Gewährung und Schutz prominenter Gesprächsrollen und adaptierte Zuhöraktivitäten bei ihren eigenen Produktionen unterstützen. Dazu brauchen Kindergarten-Lehrpersonen (und pädagogische Fachpersonen im Frühbereich) spezifisches Wissen und Können. Bisher ist die Sprachförderung in der pädagogischen Praxis wie auch in der Aus- und Weiterbildung nicht - zumindest nicht systematisch, linguistisch fundiert und ausreichend verbindlich - auf die Förderung schulischbildungssprachlicher Fähigkeiten ausgerichtet. Um das eigene Handeln in Gesprächen mit Kindern der genauen Beobachtung und verbindlichen Reflexion zugänglich zu machen, sind aufgrund unserer Erfahrungen Videodaten unverzichtbar. Die Methode des videobasierten Coachings kann deshalb einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung pädagogischer Fachpersonen leisten. Literatur Bourdieu, P. & Passeron, J. (1971). Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett. Bruner, J. (1983 [2002]). Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Hans Huber. Burchinal, M. & Forestieri, N. (2011). Development of Early Literacy: Evidence from Major U.S. Longitudinal Studies. In: Neuman, S. & Dickinson, D. (Hgg.): Handbook of Early Literacy Research, Volume 3. New York: Guilford Press, 85-96. Erard, S. & Schneuwly, B. (2005). Le didactique de l’oral: savoirs ou competences? In: Bronckart, J.-P.; Bulea, E. & Pouliot, M. 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URL: http: / / archive-ouverte.unige.ch/ unige: 40025 [23.4.2015]. <?page no="95"?> Erwerbskontexte schulisch-bildungssprachlicher Fähigkeiten 95 Isler, D.; Künzli, S. & Wiesner, E. (2014). Alltagsgespräche im Kindergarten - Gelegenheitsstrukturen für den Erwerb bildungssprachlicher Fähigkeiten. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 36 (3), 459-479. Isler, D. & Ineichen, G. (2015). ‘Mündliche Texte’ in Alltagsgesprächen erkennen und unterstützen. In: Blechschmidt, A. & Schrapler, U. (Hgg.): Mundliche und schriftliche Texte in Sprachtherapie und Unterricht. Basel: Schwabe, 33-46. Kaesler, D. (2005): Sprachbarrieren im Bildungswesen. In: Berger; P. & Kahlert, H. (Hgg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert (130-154). Weinheim: Juventa. Knoblauch, H. (2006). Videography. Focused Ethnography and Video Analysis. In: Knoblauch, H. et al. (Ed.).: Video Analysis. Methodology and Methods. 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Während vor allem die Rezeption dieser Textsorte im Fokus stand und noch immer steht, gibt es verhältnismäßig wenige Untersuchungen zur Produktion von Sachtexten, sieht man einmal von den Arbeiten der Forschungsgruppen um Feilke (2003) und Becker-Mrotzek (2004) ab. Dabei bietet das Schreiben von Sachtexten „für viele Kinder die Möglichkeit ihr Sachwissen umzusetzen“ (Altenburg 2007: 17) und damit ihre Fähigkeit informierende Texte zu verfassen weiterzuentwickeln. Besonders im Bereich der Grundschule bleiben hierbei Chancen ungenützt, da das Schreiben von Sachtexten eine eher untergeordnete Rolle spielt (vgl. Vach 2010), obwohl gerade für dieses Alter und das Vorschulalter eine große Auswahl an altersgemäßen Sachbuchreihen existiert, z.B. Meyers Kleine Kinderbibliothek; Wieso Weshalb Warum? . Die Tatsache, dass Kinder schon relativ früh (auch) mit Sachtexten in Kontakt kommen können, war Ausgangspunkt eines kleinen Pilotprojektes an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Untersuchungsgegenstand waren Diktiergespräche 1 mit Vorschulkindern, in denen unter anderem das Wissen der Kinder über Sachtextstrukturen untersucht wurde. In diesem Beitrag werden erste Ergebnisse aus diesem Projekt vorgestellt, zuvor jedoch folgen einige theoretische Anmerkungen zur Textsorte „Sachtext“. 2 Die Textsorte „Sachtext“ 2.1 Annäherung an die Textsorte Eine klare Bestimmung der Textsorte Sachtext ist nicht einfach zu treffen. „Dies liegt einmal an der Fülle ganz unterschiedlicher Sachtexte nach Inhalt 1 Unter einem Diktiergespräch wird hier eine Situation verstanden, in der Kinder als Autoren Schreiber (Skriptor) ihre Texte diktieren und sich damit ganz auf das Planen und Formulieren des Textes konzentrieren können. Dabei liegt der Fokus nicht auf dem Diktieren als Zugang zur Aufzeichnungsfunktion von Schrift, sondern in Anlehnung an Merklinger (2011) auf dem Diktieren als Zugang zur Struktur von Schrift und damit und damit zur konzeptionellen Ebene von Schriftlichkeit. <?page no="98"?> Nicole Neumeister 98 und Textgestalt, zum anderen an den verschiedenen Intentionen dieser Texte (...)“ (Marquardt 1998: 14) 2 Bereits auf terminologischer Ebene begegnet uns eine Vielfalt an Begriffen. So führt Hummelsberger (2003) neben dem Begriff „Sachtext“ zum Beispiel die Begriffe „Gebrauchstext“, „pragmatischer Text“, „nichtliterarischer Text“, „nichtfiktionaler Text sowie „expositorischer Text“ als Synonyme an. Am Beispiel der Kinder-Sachbuchreihe „Wieso Weshalb Warum“ von Ravensburger lässt sich die Vielfältigkeit möglicher Inhalte von Sachtexten andeuten: So gibt es aktuell allein in dieser Reihe 57 verschiedene Sachbücher plus Sonderbände für Kinder im Alter von 4-7 Jahren. Mit Blick auf die Textgestalt gibt Gierlich (2005) eine gute Übersicht über mögliche Strukturen von Sachtexten. Dabei erfasst er diese mit Hilfe der Unterscheidung von Textbild und Textinhalt. Mit dem Begriff Textbild bezeichnet er in Anlehnung an Sauer (1999) „alle Gestaltungselemente, die ins Auge fallen, bevor man noch den Text gelesen hat: vom Fettdruck einzelner Wörter über die Einteilung in Absätze bis zu Tabellen, Grafiken und verschiedenen Formen der Illustration.“ (Gierlich 2005: 29). Der Textinhalt bezieht sich auf die inhaltliche Gliederung bzw. die Gedankenführung sowie sämtliche sprachlichen Mittel wie z.B. Wortschatz, Satzbau und Kohäsion (vgl. Tab. 1). Eng verbunden mit der Textgestalt ist nach Gierlich (2005) noch der Aspekt des Anspruchsniveaus. So lassen sich Sachtexte auch nach ihrem Adressatenkreis differenzieren, d.h. je nachdem, ob sie für Fachleute oder Laien, Menschen mit oder ohne inhaltliche Vorkenntnissen, Erwachsene oder Kinder geschrieben sind. Auch auf Ebene der Textintention bzw. -funktion gibt es mehrere Möglichkeiten, zu einer Unterscheidung von Sachtexten zu gelangen. Eine der bekanntesten stammt von Christmann/ Groeben (2002). Aus der Perspektive der Lesekompetenz nehmen sie eine Einteilung der Textsorte „Sach- und Informationstexte“ in didaktische Texte, Persuasionstexte und Instruktionstexte vor. Die zentrale Funktion didaktischer Texte ist das Behalten. Hierzu zählen alle Texte, „die einen Wissensbereich beschreiben oder erklären (...)“ (150). Verfolgen Sachtexte das Ziel, eine Bewertung beim Leser hervorzurufen, gehören diese in die Unterkategorie der Persuasionstexte. Instruktionstexte im engeren Sinn dienen dazu, Handlungswissen zu vermitteln. Neben Gebrauchs- und Montage-anleitungen umfasst diese Gruppe auch Kochbücher oder Ratgeberliteratur. Marquardt (1998) nimmt eine Einteilung in informative, regulative und appellative Texte vor. Nach dieser Einteilung sind beispielsweise Lexikontexte und Berichte der ersten Gruppe zuzuordnen, Verträge und Gesetze der zweiten und Werbetexte oder Propagandamaterial der dritten. Trotz dieser Vorschläge für eine systematische Unterteilung der 2 Hervorhebungen N.N. <?page no="99"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 99 Textsorte „Sachtext“ muss bedacht werden, dass eine Zuordnung zu einer bestimmten Unterkategorie eher selten möglich ist und es häufig zu Mischformen der Textfunktionen kommt, was insbesondere für das Verfassen von (Sach-) Texten besondere Herausforderungen in sich birgt. Textbild Textinhalt Makroformen Mikroformen Makroebene Mikroebene - Langtext - Clustertext - Absätze - (Zwischen-) Überschriften - Marginalien - Kolumnentitel - Einrückungen - Fettdruck - Kursivdruck - Sperrdruck - Thema - Unterthemen (Sinneinheiten) - Funktionen der Sinneinheiten/ ihreStellu ng zueinander - Gedankenführung innerhalb des gesamten Textes; in diesem Zusammenhang - Metakommunikative Passagen wie Advance Organizers 3 u.Ä. - Gedankenführung innerhalb eines Sinnabschnitts - Sprache - Wortschatz - Stilistischrhetorische Mittel - Satzbau - Kohäsion Tab. 1: Merkmale von Sachtexten 2.2 (Sach-)Texte schreiben Aus entwicklungspsychologischer Sicht lässt sich das Schreibenlernen als die „folgenreichste bekannte Verschiebung“ (Feilke 1995: 73) bezeichnen, da sie sowohl die „kognitiv-sprachliche, die emotionale und die sozialkommunikative Dimension des Sprachhandelns“ (ebd.) umfasst. Als größte Herausforderung neben den motorischen-technischen Anforderungen des Schreibprozesses ist dabei die Abwesenheit des Zuhörers zu sehen. So feh- 3 Advance Organizers sind Elemente der Textgestaltung, die dem Leser das Erfassen des Textinhaltes vereinfachen sollen, in Form von dem eigentlichen Text vorangestelten Kurztexten. <?page no="100"?> Nicole Neumeister 100 len dem Schreiber während des Schreibprozesses die Hilfestellungen durch den Gesprächspartner, wodurch sich die Kommunikationssituation völlig verändert. Bereiter/ Scardamalia (1987) beschreiben diese Veränderung im Übergang „from conversation to composition“ sehr treffend: It is the transition from a language-production system dependent at every level on imputs for a conversational partner to a system of functioning autonomously. (55) Neben den besonderen Anforderungen der Kommunikationssituation während des Schreibprozesses sind zudem noch die sprachlich-stilistischen Spezifika der einzelnen Textsorten und -funktionen zu berücksichtigen. Wie sich der Schreiberwerb hinsichtlich der einzelnen Textsorten gestaltet, ist individuell sehr unterschiedlich. Pohl (2008) spricht hier von einem sogenannten „Parallel-Modell“, in dem die einzelnen Textsorten individuellen Entwicklungsgeschwindigkeiten unterliegen und keinerlei textsortenübergreifende Abhängigkeiten bestehen (89). Dennoch kann für das frühe Schreiben von Texten eine textsortenübergreifende Gemeinsamkeit festgehalten werden: die subjektive Perspektive des Schreibers auf Sachverhalte und Erlebnisse steuert den Schreibprozess. Dieses „knowledge-tellingsystem“, wie es Bereiter/ Scardamalia (1985) nennen, ermöglicht es dem Schreiber unter Rückgriff auf sein Wissen, „insbesondere auf die aus dem Mündlichen bekannten Muster des Erzählens bzw. auf die bekannten literarischen Vorlagen, Muster und Wendungen“ (Vach 2010: 89), Texte ohne Planungen zu schreiben. Zu erkennen ist dies u.a. an den unverbunden nebeneinanderstehenden „selektierten Assoziationen 4 “ (Pohl 2008: 91), aus denen die Texte bestehen. Dass diese Schreibprodukte dennoch als Einheit bzw. Text betrachtet werden können, liegt dabei nicht an kohärenten Strukturen, sondern an der mentalen Einheit, die dem Schreibprozess zugrunde liegt (vgl. ebd.). Für Raum-beschreibungen, als eine besondere Untergruppe der Sachtexte, zeigt sich diese Aneinanderreihung häufig in Form von Listen. So zeigen Untersuchungen (vgl. Feilke 1995), dass Grundschüler einen Raum als Ansammlung vieler Einzelobjekte beschreiben, die sie listenförmig anführen. Sprachlich greifen sie dabei gerne auf sich wiederholende syntaktisch parallele Konstruktionen zurück. Ob ein solches Verhalten auch bei Vorschulkindern und ihren (diktierten) Texten zu beobachten ist, ist Gegenstand des nächsten Kapitels. 4 Selektierte Assoziationen stehen für Pohl (2008) stellvertretend für das erste Entwicklungsniveau in der Genese der Textsortenkompetenz. Dabei generieren die Autoren diese Entwicklungsstufe die Inhalte der Texte allein durch den persönlichen Zugang zum Schreibgegenstand generiert. <?page no="101"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 101 3 Das Forschungsprojekt „Vorschulkinder diktieren Sachtexte“ 3.1 Anlage des Forschungsprojekts Das Forschungsprojekt „Vorschulkinder diktieren Sachtexte“ entstand im Rahmen eines Seminars für Studierende des Bachelorstudiengangs „Frühkindliche Bildung und Erziehung“ an der PH Ludwigsburg im Wintersemester 2011/ 2012 und Sommersemester 2012. Im Fokus des Seminars standen dabei einerseits theoretische Grundlagen zur Entwicklung von Schreibkompetenz sowie andrerseits Möglichkeiten in der alltagsintegrierten Sprachförderarbeit in Kindertageseinrichtungen Zugänge zur Schriftlichkeit zu schaffen. Als ein sehr gelungener Ansatz wurde dabei das Diktiergespräch thematisiert. Angeregt durch die Arbeiten von Merklinger (2010) entstand das(Forschungs-) Interesse, diese Methode selbst auszuprobieren und eigene Erfahrungen damit zu sammeln. Dabei wurde jedoch eine andere Textsorte als Ausgangspunkt für die Diktiersituationen gewählt: Sachtexte. Dies liegt zum einen darin begründet, dass diese Textsorte Vorschülern im Alltag ebenfalls häufig begegnet (siehe Ausführung unter 2.). Zum anderen ist von Interesse, inwiefern Vorschüler bereits über „Textsortenkompetenz“ verfügen, d.h. inwiefern Vorschüler bereits in der Lage sind sachtextspezifische Texte zu diktieren. Zusammen mit insgesamt 12 Studentinnen wurden unter Leitung von Elke Grundler und Nicole Neumeister 111 Diktiergespräche zwischen 12 Erwachsenen und 36 Vorschulkindern (20 Mädchen und 16 Jungen) im Alter von 5,7-6,4 Jahren in verschiedenen Kindertageseinrichtungen in Baden- Württemberg videographiert. Zusätzlich wurden die Lesegewohnheiten der Kinder und ihrer Familien mit Hilfe eines Fragebogens ermittelt. Bei den Kindern und ihren Familien handelte es sich um einsprachig deutsch aufwachsende Kinder, die der bürgerlichen Mittelschicht zuzurechnen sind. Ausgangspunkt für die Diktiergespräche bildeten Vorlesegespräche und freie „Lesezeiten“ mit vier verschiedenen Bänden 5 der Sachbilderbuchreihe „Wieso Weshalb Warum? “ von Ravensburger, wovon sich die teilnehmenden Kinder jeweils ein Buch auswählen durften. Jede Studentin arbeitete mit zwei bis vier Kindern in der Kindertageseinrichtung, in der sie parallel zum Winter- und Sommersemester einen Praxistag pro Woche absolvierte. Nachdem die Kinder einige Zeit zum Lesen des gewählten Buches hatten, fragte jede Studentin „ihre“ Kinder, ob sie ein eigenes Buch zum jeweiligen Thema gestalten wollten. Insgesamt erhoben die Studierenden so je Kind vier Diktiergespräche im Abstand von zwei bis vier Wochen. Für jedes Diktiergespräch stand ein weißes Blatt Papier zur Verfügung, auf dem sich jeweils ein anderes kleines Bild aus dem ausgewählten Buch des Kindes als 5 Die vier Bände umfassen: Band 3: Auf dem Bauernhof; Band 4: Auf der Baustelle; Band 8: Alles über die Eisenbahn; Band 21: Alles über Pferde und Ponys. <?page no="102"?> Nicole Neumeister 102 Impuls befand (vgl. Abbildung in 3.2.1). Nach dem letzten diktierten Text wurden alle Texte eines Kindes zu einem Buch gebunden, mit einem selbstgefertigten Deckblatt versehen und den anderen Kindern der Einrichtung vorgelesen. Nach Abschluss der Datenerhebung wurde jedes der 111 Diktiergespräche in Anlehnung an GAT transkribiert. Damit standen für die Auswertung neben den diktierten Texten der Kinder die jeweiligen Entstehungskontexte in Form von Transkripten zur Verfügung. Die vorhandenen Daten wurden schließlich in einer Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden nach sehr unterschiedlichen Aspekten ausgewertet. Am Beispiel der Texte, die zum Thema „Pferd“ entstanden, werden nun im weiteren Verlauf erste Ergebnisse hinsichtlich der Sachtextkompetenz von Vorschulkindern exemplarisch dargestellt. 3.2 Erste Ergebnisse 3.2.1 Datenkorpus Von den 36 am Projekt teilnehmenden Kindern wählten acht, sechs Mädchen (MÄ) und zwei Jungen (JU), das Thema „Pferde.“ Da ein Kind nur an drei Diktiergesprächen anwesend war, können für die Auswertung insgesamt 31 Texte herangezogen werden. Diese Texte unterscheiden sich erheblich in Quantität und Qualität. So umfasst beispielsweise der kürzeste Text gerade einmal 19 Wörter, der längste hingegen 149: Kind 1 MÄ Kind 2 MÄ Kind 3 JU Kind 4 MÄ Kind 5 JU Kind 6 MÄ Kind 7 MÄ Kind 8 MÄ Text 1 61 70 88 126 23 69 95 37 Text 2 19 149 136 133 23 75 97 24 Text 3 51 96 137 85 29 77 61 18 Text 3 118 117 94 20 73 46 19 Tab. 2: Wortanzahl je Text Durchschnittlich liegt die Wörteranzahl pro Text damit bei 73 Wörtern. Während drei Kinder (K1, K5, K8) bei allen vier Texten unterhalb des Durchschnitts liegen, gibt es ein Kind (K7), das bei zwei Texten und zwei Kinder (K2, K6), die bei jeweils einem Text unterhalb der durchschnittlichen Wörteranzahl liegen. Zwei Kinder überschreiten den Durchschnitt bei jedem Text. Betrachtet man die Texte der einzelnen Kinder, lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Eine Gruppe weist eine eher konstante Wortanzahl innerhalb ihrer Texte auf (K5, K6, K8), in der anderen weicht mindestens ein Text deutlich nach unten von der Wortanzahl der übrigen Texte ab (K1, K2, K3, K4, K7). Ob diese Abweichungen auf thematische oder motivationale <?page no="103"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 103 Gründe zurückzuführen sind, kann auf Grundlage der Daten nicht sicher gesagt werden. Qualitativ fallen bei der Durchsicht der Texte (vgl. Abb. 1) mit Blick auf den Textinhalt insbesondere Aspekte der Mikroebene nach Gierlich (vgl. Tab. 1) auf. Neben dem sich stark unterscheidenden Vorkommen von Fachwörtern (z.B. Fuchs/ Schecke/ Schimmel...) sind vor allem bei den stilistischrhetorischen Mitteln im Bereich der Worterläuterungen (z.B. die Mama heißt Stute...), bei den Haupt- und Nebensatzverbindungen (z.B. ..., dass sie nicht den ganzen Tag...) sowie der Kohäsion (z.B. einen Reiter => er) Unterschiede festzustellen. Aus diesem Grund wird auf diese Aspekte im weiteren Verlauf genauer eingegangen. 3.2.2 Ebene „Wortschatz“ Auf der Ebene des Wortschatzes rücken, wie bereits erwähnt, vor allem die verwendeten Fachwörter in den Fokus. Dabei wird „Fachwort“ im Sinne von Roelke (2005: 51f.) verstanden als die kleinste bedeutungstragende und zugleich frei verwendbare sprachliche Einheit eines fachlichen Sprachsystems, die innerhalb der Kommunikation eines bestimmten menschlichen Tätigkeitsbereichs im Rahmen geäußerter Texte gebraucht wird. Da die meisten vorkommenden Fachwörter in den Kindertexte Nomen sind, wird diese Ebene mittels nominalem Type-Token-Verhältnis (TTV) ausgewertet. Sämtliche dieser Fachwörter sind auch im Sachbuch von Ravensburger vorhanden. Es liegt daher nahe, dass die Kinder diese aus der Textvorlage „übernehmen“, was darauf hindeutet, dass sich auch Vorschulkinder schon bestimmter Strukturen/ Elemente aus den Vorlagen für ihre eigenen Texte bedienen (vgl. auch Fix/ Barkow 2005). Folgende Wörter gehören zum nominalen Fachwortschatz der Kindertexte (in Klammer steht die Gesamtzahl des jeweiligen Token): — Bereich „Pferdearten“ (55x): Pony (20), Fohlen (3), Polizeipferd (3), Hengst (2), Stute (2), Schimmel (2), Fuchs (2), Schecke (1), Isländer (1), Wildpferd (1), Hannoveraner (1), Kaltblut (1), Quarterhorse (1), Araber (1), Dülmener Pferd (1), Przewlaski Pferd (1), Westernpferd (1), Rappe (1), Braunschecke (1), Falbe (1), Brauner (1), Dunkelbrauner (1), Palomina (1), Lasttier (1), Rennpferd (1), Zirkuspferd (1), Kutschpferd (1), Pferdearten (1) — Bereich „Pferdezubehör/ Pferdepflege“ (35x): Sattel (9), Hufeisen (5), Zügel (3), Steigbügel (2), Striegel (2), Hufkratzer (2), Hufschmied (2), Pferdepass (2), Satteldecke (1), Sattelzeug (1), Halfter (1), Longe (1), Strick (1), Putzkasten (1), beim Hufeauskratzen (1), Pferdeausrüstung (1) <?page no="104"?> Nicole Neumeister 104 — Bereich „Gangart“ (27x): Galopp (9), Schritt (9), Trab (9) Abb. 1: Kindertext (Kind3 Text2) — Bereich „Pferdeunterbringung“ (24x): (Pferde-)Stall (13), Pferdehof (4), Koppel (3), Weide (2), Pferdeanhänger (1), Ponyhof (1) — Bereich „Rund ums Reiten“ (21x) Reiterhelm (6), Schutzweste (2), Reiterhose (2), Reiterstiefel (2), Ausritt (2), Reiter (1), Reiterin (1), Reiterjacke (1), Reitlehrer (1), Reitstunde (1), Reitsport (1), Gespann (1) <?page no="105"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 105 — Bereich „Reitturnier“ (19x): (Reit-)Turnier (7), Schleife (3), Hindernis (3), Pokal (2), Medaillen (2), Wassergraben (1), Slalom (1) — Bereich „Körperteile“ (19x): Huf (7), Mähne (4), Nüstern (3), Schweif (2), Krone (1), Stiefel (1), Stern (1) — Bereich „Pferdefutter“(6x): Kraftfutter (3), Müslimix (2), Tränke (1) — Bereich „Sonstiges“(4x): Ackerbau (1), Landwirtschaft (1), Bewegungskünstler (1), Sprunggelenk (1) Am häufigsten sind Fachwörter aus dem Bereich der Pferdearten zu finden. Diese kommen insgesamt 55 Mal (26 %) in den Kindertexten vor, wobei das Wort Pony mit 20 Nennungen an Position 1 der gesamten Fachwörter liegt. Der Bereich des Pferdezubehörs liegt mit 35 Nennungen (17 %) an Position 2, gefolgt von den „Gangarten“ (13 %) und der „Pferdeunterbringung“ (11 %). Die Bereiche „Rund ums Reiten“ (10 %), „Reitturnier“ sowie „Körperteile“ (beide jeweils 9 %) stehen an den Positionen 5 und 6. Am Ende der Rangliste befindet sich das „Pferdefutter“ (3 %) und der Bereich „Sonstiges“ (2 %), mit zusammen gerade einmal 5 % Anteil an den gesamten Fachwörtern. Interessant wird der Blick auf die Fachwörter zudem, wenn man sich die Verteilung auf die einzelnen Kindertexte anschaut. Dabei werden ausschließlich Types berücksichtigt. In Tabelle 3 gibt die Zahl in Klammer die Gesamtzahl an Nomen pro Text an, in Tabelle 4 ist das Type-Token- Verhältnis dargestellt. Die Tabellen lassen einen sehr individuellen Gebrauch von Fachwörtern erkennen. So variieren die nominalen Type-Toke-Werte in den Kindertexten zwischen 0 und 0,60, wenngleich diese bei der Gesamtwortanzahl sehr vorsichtig zu betrachten sind. Nicht nur innerhalb der vier Texte eines Kindes gibt es deutliche Unterschiede, sondern auch zwischen den einzelnen Kindern. So gibt es Kinder (K1, K2, K5, K8), die in einzelnen Texten ohne Fachwörter bzw. nur wenigen auskommen und damit einen sehr niedrigen TTV haben. Andere Kinder (K3, K4, K5, K7) weisen in mindestens einem Text einen hohen TTV von 0,30 und mehr auf. Ein Kind (K6) verwendet eher konstant über die Texte hinweg ein ähnliches Verhältnis von Fachwörtern zu den gesamten Nomen. Betrachtet man die Texte einzeln, treten insbesondere vier Texte hervor: Text 3 von Kind 7 (K7T3), Text 4 von Kind 4, (K4T4), Text 2 von Kind 3 (K3T2) sowie Text 3 von Kind 5 (K5T3) mit den Spitzenwerten des nominalen TTV von 0,60/ 0,54 bzw. 0,50. Diese hohen TTV-Werte ergeben sich aus ganz unterschiedlichen Kontexten. <?page no="106"?> Nicole Neumeister 106 Kind 1 Kind 2 Kind 3 Kind 4 Kind 5 Kind 6 Kind 7 Kind 8 Text 1 3 (19) 2 (18) 9 (28) 10 (44) 0 (10) 5 (25) 5 (28) 4 (15) Text 2 1 (6) 4 (31) 18 (36) 8 (47) 2 (8) 7 (28) 7 (26) 2 (9) Text 3 1 (12) 6 (21) 9 (31) 8 (27) 3 (6) 6 (20) 6 (10) 2 (6) Text 4 3 (23) 6 (22) 24 (44) 0 (7) 5 (17) 3 (19) 0 (6) Tab. 3: Fachwörter (types) je Text Kind 1 Kind 2 Kind 3 Kind 4 Kind 5 Kind 6 Kind 7 Kind 8 Text 1 0,16 0,11 0,32 0,23 0,00 0,20 0,18 0,26 Text 2 0,16 0,13 0,50 0,17 0,25 0,25 0,27 0,22 Text 3 0,08 0,29 0,29 0,30 0,50 0,30 0,60 0,33 Text 4 0,13 0,27 0,54 0,00 0,29 0,16 0,00 Tab. 4: Type-Token-Verhältnis (TTV) je Text Der höchste Wert des nominalen TTV (0,60) kommt durch die Nennung von Fachwörtern aus ganz verschiedenen Bereichen zum Thema zustande. Neben den Gangarten des Pferdes (Schritt, Trab, Galopp) sind dies ein Körperteil (Huf), die prototypische Unterbringung (Pferdestall) und das Wort Reiterin. Dahingegen resultiert der Text mit dem TTV von 0,54 aus einer Aufzählung verschiedener Pferderassen: K4T4: (...) (6) Verschiedene Pferdearten gibt es: Isländer, Ponys, Hannoveraner, Kaltblut, Quarterhorse, Dülmener Pferd, Przewalski- Pferde, als Gespann vor die Kutsche, Westernpferde, Pferde für den Reitsport, in der Landwirtschaft, Lasttiere, Pferde als Bewegungskünstler, Rappe, Schimmel, Braunschecke, Falbe, Brauner, Dunkelbrauner (7) Palomino kann reiten (8) Fuchs kann ganz schnell reiten (...) <?page no="107"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 107 Auch die beiden anderen Texte unterscheiden sich, obwohl diese denselben nominalen TTV (0,50) aufweisen. Hierbei spielt die Gesamtwortanzahl der beiden Texte eine entscheidende Rolle. Während Kind 3 einen Text mit insgesamt 139 Wörtern diktiert, worunter 36 Nomen sind, formuliert Kind 5 einen Text aus 29 Wörtern, mit sechs Nomen. K3T2: Nomen „allgemein“(token): Pferde (3x), Pferd (3x), Mama, Mann, Futter, Trinken, Auslauf, Tag, Tierarzt, Schuh, zum Lenken Nomen „fachwortspezifisch“ (type): Fohlen, Pony 6 , Fuchs, Schecke, Schimmel, Stute, Hengst, Hufe, Schweif, Mähne, Nüstern, Hufauskratzer, Striegel, Stall, Hindernisse, Reiter, Reithelm, Zügel, Steigbügel K5T3: Nomen „allgemein“(token): Kopf, Pferd, zum Reiten Nomen „fachwortspezifisch“ (type): Reiterhelm, Reiterhose, Sattelzeug Um weitere Aussagen zur Textqualität auf Wortschatzebene treffen zu können, sollte in einem nächsten Schritt die Varianz innerhalb des gesamten Wortschatzes genauer betrachtet werden. Diese Analysen sind zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nicht erfolgt, für die weitere Arbeit am Datenkorpus aber geplant. 3.2.3 Ebene „Stilistisch-rhetorische Mittel“ Ein Aspekt, der den stilistisch-rhetorischen Mitteln zuzuordnen und in den 31 Kindertexten neun Mal zu finden ist, sind Worterläuterungen. Diese lassen sich grob in vier Typen einteilen: Der erste lässt sich beschreiben als Relation x ist y. Insgesamt vier Worterläuterungen weisen diese Struktur auf, wovon drei sich auf die unterschiedlichen Gangarten von Pferden und eine auf die Körperteile des Pferdes beziehen: K3T3: (2) Schritt ist das langsamste (3) Trab ist mittel (4) und Galopp ist ganz schnell 6 Die Wörter „Pony“ und „Fohlen“ kommen insgesamt zwei Mal im Text vor, wurden aber für die Type-Berechnung nur einmal gezählt, für die Token-Berechnung jedoch zwei Mal. <?page no="108"?> Nicole Neumeister 108 K6T2: (1) Der Schwanz ist der Schweif (2) Die Haare sind die Mähne (3) Die Füße sind die Hufe (...) (10) Die Nase ist bei einem Pferd die Nüstern Bei genauerem Hinsehen ließe sich dieses letzte Beispiel auch dem nächsten Typ, der zwei Mal zu finden ist, zuordnen. Hier arbeiten die Kinder mit einer Art „Übersetzung“, in Form von x heißt/ nennt man y. Dabei werden die umgangssprachlich verwendeten Wörter den Fachwörtern gegenübergestellt und quasi übersetzt: K2T4: (12) Die Pferde haben Haare auf dem Kopf (13) und die nennt man Mähne K3T2: (5) Die Mama heißt Stute (6) und der Mann heißt Hengst Das dritte Muster besteht aus einer nachgeschobenen Erläuterung in Form eines Relativsatzes. Dabei wird einmal das Wort „Hufschmied“ erläutert, indem seine Tätigkeit angeführt wird: K3T1: (9) Und man braucht noch einen Hufschmied, (10) der macht die Hufe neu Im zweiten Beispiel geht es um das Wort „Hufeisen“. Hier greift das Kind eine Teilhandlung des Hufbeschlagens heraus, bei der das Eisen heiß gemacht wird, um es an den Huf anzupassen. Allerdings bleibt dadurch die Bedeutung des Wortes weiterhin unklar: K7T2: (12) Ein Pferd hat ein Hufeisen (13) das wird aus Feuer gemacht (14) damit es heiß wird Eine Art Zerlegung des Oberbegriffs in verschiedene Beispiele stellt der vierte Typ dar, der lediglich einmal vorkommt: K4T1: (7) Kinder brauchen (8) wenn sie reiten Pferdeausrüstungen: Stiefel, Helm und eine Schutzweste <?page no="109"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 109 Abschließend ist noch anzumerken, dass es häufig dieselben Kinder sind, die verschiedene Worterläuterungen verwenden. So verwendet Kind 3 drei verschiedenen Typen, die Kinder 4 und 7 zwei verschiedene Typen und die Kinder 2 und 6 jeweils einen Typ. Auch hier scheint sich ein individueller Stil des Diktierens abzuzeichnen. 3.2.4 Ebene „Satzbau“ 7 Im Bereich des Satzbaus fällt vor allem die Verwendung von Nebensätzen in den Kindertexten auf. Insgesamt rund 15 % aller Sätze (n = 390) haben eine V_end Stellung. Wie die Tabelle 5 zeigt, steht die Konjunktion „wenn“ an erster Stelle mit 31 Verwendungen. Relativpronomen folgen an zweiter Stelle mit neun Nennungen. Die finalen Konjunktionen „damit“ und „dass“ kommen sechs bzw. fünf Mal in den Kindertexten vor. Auf den Plätzen fünf und sechs stehen schließlich die temporale Konjunktion „als“ sowie der kausale Konnektor „weil“ und die Verbindung „wie...ist“. Interessant ist auch hier wieder der Blick auf die einzelnen Kinder. Während zwei Kinder (K6/ K7) über die Hälfte aller Nebensätze unterschiedlichster Art formulieren, konzentrieren sich die anderen Kinder überwiegen auf zwei bestimmte Arten von Nebensätzen, in eher geringem Vorkommen über ihre Texte hinweg. 3.2.5 Ebene „Kohäsion“ 8 Auch auf der Ebene der Kohäsionsmittel lassen sich Unterschiede in den Kindertexten erkennen. Hinsichtlich des Referenzbezugs bzw. der Referenzfortsetzung konnten acht verschiedene „einfache Textualitätsstrategien“ identifiziert werden. Diese werden im Folgenden aufgeführt, sortiert nach ihrer Auftrittshäufigkeit. Bei der ersten, am häufigsten vorkommenden Strategie, handelt es sich um identische Syntax und Lexik im Block: K4T2: (9) Pferde sollen auch mal zum Arzt. (10) Hunde sollen auch zum Arzt. (11) Katzen sollen auch zum Arzt. (12) Enten sollen auch zum Arzt. 7 Die Auswertungsergebnisse im Bereich Satzbau wurden freundlicherweise von Elke Grundler (PH Weingarten) zur Verfügung gestellt. 8 Auch die Auswertungsergebnisse im Bereich der Kohäsion wurden freundlicherweise von Elke Grundler (PH Weingarten) zur Verfügung gestellt. <?page no="110"?> Nicole Neumeister 110 wenn Rel. pron. damit dass als weil wie ...ist GESAMT Kind 1 2 5 7 Kind 2 2 1 3 Kind 3 1 1 Kind 4 7 1 1 9 Kind 5 4 4 Kind 6 6 2 4 1 13 Kind 7 11 1 2 1 3 18 Kind 8 1 2 3 GESAMT 31 9 6 5 3 2 2 58 Tab. 5: Subordinierende Konjunktionen je Kind Die Wiederholung von Satzanfängen bildet die zweite Strategie: K4T3: (3) Pferde können auf drei Beinen stehen. (4) Pferde mögen sich gern. (5) Pferde brauchen viel Ausritt. Als dritte Strategie werden Aufzählungen bezeichnet: K4T1: (4) Sie mögen Karotten, Äpfel, Rote Bete, Kraftfutter, Müslimix und Gras. (...) (21) und laufen viele Opas, Omas, Kinder, Mamas und Papas herum. Die Nutzung eines zentralen Verbs als Verknüpfungsmittel ist die vierte Strategie: <?page no="111"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 111 K4T1: (15) und die Kinder brauchen auch Schutz. (16) Einen Stall brauchen Pferde. (...) (19) Pferde brauchen viel Auslauf. Auch Referenzfortsetzungen sind in den Kindertexten zu finden. Sie bilden die fünfte Strategie: K8T2: (3) Sani und Ledi spielen auf der Koppel. (4) Das Gras kitzelt die Nüstern. Auf Platz sechs stehen zwei Strategien: sich analog wiederholende syntaktische Strukturen sowie die substantivische Wiederaufnahme: K4T2: (1) Pferde können zwei Meter groß wachsen. (2) Pferde können Trab, Schritt und Galopp. (...) (7) Pferde können auch durchs Wasser stapfen. K4T2: (3) Pferde können Trab, Schritt und Galopp (4) Schritt ist am langsamsten, ... Als achte und letzte Strategie wurde noch die thematische Wiederaufnahme identifiziert: K2T2: (6) Wenn man fertig ist mit dem Reiten, (7) muss man die Weste ausziehen und richtige Schuhe und Hose anziehen. (...) (17) Alle müssen richtige Sachen anhaben Was die Nutzung der verschiedenen Strategien je Kind anbelangt, gibt es jedoch große Unterschiede. So sind von der Verwendung von lediglich einer Strategie (K8) über die Nutzung zwei (K2), vier (K1/ K3) oder fünf (K4/ K6) bis hin zur Verwendung von sechs unterschiedlichen Strategien (K5/ K7) in den Kindertexten zu finden. Damit deuten sich auch in diesem Bereich starke individuelle Varianz hinsichtlich des Diktierverhaltens der Kinder an. <?page no="112"?> Nicole Neumeister 112 4 Fazit und Ausblick Zusammenfassend lässt sich (vorsichtig) festhalten, dass schon Vorschulkinder informierende Texte formulieren können. So zeigen die Untersuchungen auf der Mikroebene, dass die 5-jährigen Autoren bereits einen kindlichen Fachwortschatz verwenden, erste Worterläuterungen produzieren sowie einfache Strategien der Kohärenz bzw. Textualität nutzen - individuell jedoch stark variierend. Für weitere Untersuchungen müsste deshalb neben vertiefenden Analysen auf der Mikroebene auch verstärkt das sachliche und literale Vorwissen der Kinder, geschlechterspezifische Faktoren, der familäre Hintergrund sowie das Sachbuch und sein Einfluss auf das Diktierverhalten der Kinder genauer in Betracht genommen werden, um die großen Varianzen im Diktierverhalten der einzelnen kindlichen Autoren erklären und die Erkenntnisse für die sprachliche Förderung einsetzen zu können. So stellt ein vielfältiges Textsortenangebot in Kindertageseinrichtungen sowie die Möglichkeit sich mit den verschiedenen Texten auseinandersetzen zu können, sicherlich einen ersten und wichtigen Schritt dar. Mit Blick auf den Schreibunterricht in den Klassen 1 und 2 kann Augst/ Pohl (2007) zugestimmt werden, dass eine Konzentration auf narrative Texte viele Chancen ungenutzt lässt und eine Förderung der Textkompetenz aller Textsorten von Anfang an erfolgen muss. Hierzu bietet gerade der Umgang mit Sach(bilder)büchern nicht nur auf der rezeptiven, sondern auch als „Vorlage“ auf produktiver Ebene einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Damit könnte auch der (bisherigen) Unterrichtsrealität entgegengewirkt werden, „dass diejenigen, die nicht außerhalb der Schule Sachtexte lesen und verstehen (…), im Unterricht kaum zum Verstehen von Sachtexten geführt werden (Oomen-Welke 2005: 118) Literatur Abraham, U. et al. (2003) (Hgg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA. Freiburg: Fillibach. Abraham, U. (2007): Kinder schreiben Texte. Sechs Thesen zur Schriftlichkeit. In: Grundschulmagazin 5, 8-11. Altenburg, E. (2007): Kindertexte analysieren und fördernd bewerten. Die Textlinguistik ist hilfreich bei der individuellen Schreiberziehung. In: Grundschulmaganzin 5, 15-20. Augst, G. et al. (2007): Text-Sorten-Kompetenz. Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung der Textkompetenz im Grundschulalter. Frankfurt: Lang. Bereiter, C. & Scardamalia, M. (1987): The Psychology of Written Compostion. Hillsdale. Becker-Mrotzek, M. (1997): Schreibentwicklung und Textproduktion. Der Erwerb der Schreibfertigkeit am Beispiel der Bedienungsanleitung. Opladen: Westdeutscher Verlag. <?page no="113"?> Sachtextkompetenz im Vorschulalter 113 Christmann, U. & Groeben, N. (2002): Anforderungen und Einflussfaktoren bei Sach- und Informationstexten. In: Groeben, N. & Hurrelmann, B. (Hgg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim: Juventa, 150-173. Feilke, H. (1995): Auf dem Weg zum Text. In: Augst, G. (Hg.): Frühes Schreiben. Studien zur Ontogenese der Literalität. Essen: Die Blaue Eule. Feilke, H. (2000): Wege zum Text. In: Praxis Deutsch 161, 14-22 Feilke, H. (2003): Beschreiben und Beschreibungen. In: Praxis Deutsch 182, 6-14. Feilke, H. (2006): Der Stand der Dinge. Berichten und Berichte. In: Praxis Deutsch, 195, 6-15. Fix, M. & Jost, R. (2005) (Hgg.): Sachtexte im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren. Fix, M. & Barkow, I. (2005): Sachtexte schreiben und verstehen: Von der Produktion zur Rezeption und wieder zurück. In Fix, M. & Jost, R. (Hgg.): Sachtexte im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren, 64-82. Fix, M. (2008): Texte schreiben. Schreibprozesse im Deutschunterricht. Paderborn: UTB. Gierlich, H. (2005): Sachtexte als Gegenstand des Deutschunterrichts - einige grundsätzliche Überlegungen. In: Fix, M. & Jost, R. (Hgg.): Sachtexte im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren, 25-46. Grundler, E. & Neumeister, N. (2014): Vorschulkinder diktieren Texte. Lern- und Beobachtungschancen auf dem Weg zur Schriftlichkeit. In: UP 2, 1-7. Hiller, F. 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Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 108-119. Pohl, T. (2008): Die Entwicklung der Textsortenkompetenz im Grundschulalter. In: Bremerich-Vos, A. et al. (Hgg.): Lernstandbestimmung im Fach Deutsch. Weinheim/ Basel: Beltz, 88-116. Roelcke, T. (2010): Fachsprachen. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Sauer, C. (1999): Die Verständlichkeit von Texten, Visualisierungen und Bildschirmen. Untersuchungen zur Leseaufgabenunterstützung. In: Jakobs, E.-M.; Knorr, D. & Pogner, K. (Hgg.): Textproduktion: HyperText, Text, KonText. Frankfurt: Lang, 93-95. Vach, K. (2010): Sachtexte planen und überarbeiten. In: Altenburg, E. et al. (Hgg.): Kinder verfassen Texte. München: Oldenbourg, 86-109. Weinhold, S. (2000): Text als Herausforderung. Zur Textkompetenz am Schulanfang. Freiburg: Fillibach. <?page no="115"?> III Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften <?page no="117"?> Barbara Geist Sprachförderempfehlungen der Grundschule. Vergleich der sprachlichen Fähigkeiten und sprachbiografischen Faktoren von mehrsprachigen Kindern 1 1 Einleitung Die vorschulische Sprachförderung ist ein Instrument der Bildungspolitik, um die Nachteile, die Kinder aufgrund ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen in ihrer Sprachbiografie haben, auszugleichen. Gerade für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) verspricht sich die Bildungspolitik, durch Sprachförderung einen Beitrag zur Chancengleichheit zu leisten, wie der Ausschnitt aus dem Hessischen Schulgesetz zeigt: Schülerinnen und Schüler, deren Sprache nicht Deutsch ist, sollen, unabhängig von der eigenen Pflicht, sich um den Erwerb hinreichender Sprachkenntnisse zu bemühen, durch besondere Angebote so gefördert werden, dass sie ihrer Eignung entsprechend zusammen mit Schülerinnen und Schülern in deutscher Sprache unterrichtet und zu den gleichen Abschlüssen geführt werden können. (§ 3 Abs. 13 Hessisches Schulgesetz) Für die Sprachförderung stehen nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung. Diese wertvollen Ressourcen gilt es bewusst einzusetzen. Pädagogische Fachkräfte stehen deshalb vor der Herausforderung zu entscheiden, welche Kinder Sprachförderung erhalten und welche nicht bzw. in welchem Umfang welche Kinder gefördert werden. Somit erfordert bereits die Auswahl der Kinder sprachdiagnostische Kompetenz (Geist 2013). Aus sprachdidaktischer Pe rspektive sollten ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle Kinder mit Sprachförderbedarf in ihren sprachlichen Fähigkeiten zu unterstützen. Kinder mit DaZ haben aufgrund eines späteren Erwerbsbeginns und der naturgemäß kürzeren Kontaktdauer zum Deutschen im Vergleich zu Kindern mit Deutsch als Erstsprache geringere sprachliche Fähig- 1 Ich danke Angela Grimm, Petra Schulz und Barbara Voet Cornelli für die hilfreichen Anmerkungen zu diesem Beitrag. Die Studie wurde im Rahmen des Projekts „cammino - Mehrsprachigkeit am Übergang zwischen Kita und Grundschule“ unter der Leitung von Prof. Dr. Petra Schulz und Dr. Angela Grimm an der Goethe-Universität Frankfurt am Main durchgeführt und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds der Europäischen Union (Förderkennzeichen: 01NV1011/ 2 und 01NV1311/ 2). <?page no="118"?> Barbara Geist 118 keiten (Grimm/ Schulz 2014). Diese Kinder benötigen im Besonderen eine Unterstützung in ihrem Zweitspracherwerb. Unklar ist bislang, welche Kinder - aufgrund der begrenzten Ressourcen - Sprachförderung erhalten und welche nicht. Im vorliegenden Beitrag wird am Beispiel Hessens untersucht, welche sprachlichen Fähigkeiten und welche Spracherwerbsbiografie mehrsprachige Kinder haben, die im Rahmen der Schulanmeldung an Grundschulen von den verantwortlichen Grundschullehrkräften für eine additive vorschulische Sprachförderung (genannt Vorlaufkurs) empfohlen werden bzw. keine Empfehlung erhalten. Im folgenden Abschnitt wird der theoretische und institutionelle Hintergrund sowie der Forschungsstand zur vorschulischen Sprachdiagnostik mehrsprachiger Kinder (Abschnitt 2) skizziert. In Abschnitt 3 wird dann die Studie vorgestellt und diskutiert. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Fazit gezogen (Abschnitt 4). 2 Vorschulische Sprachdiagnostik mehrsprachiger Kinder Die „spezifischen Entwicklungsprofile und Bedürfnisse von mehrsprachig aufwachsenden Kindern [sind] wahrzunehmen und zu nutzen. […] Grundlage einer differenzierten Sprachförderung ist die frühzeitig einsetzende, regelmäßige und systematische Beobachtung und Dokumentation der Sprachentwicklung von Kindern“ (Hessisches Sozialministerium 2011: 67). Diese Forderung des Hessischen Bildungs- und Erziehungsplans für Kinder von 0 bis 10 Jahren richtet sich an die pädagogischen Fachkräfte im Elementar- und Primarbereich. Um diese Forderung erfüllen zu können, benötigen die pädagogischen Fachkräfte sprachdiagnostische Kompetenz. Bisherige Studien zeigen allerdings, dass sich die Fachkräfte nicht zufriedenstellend auf die Aufgabe der Sprachdiagnostik vorbereitet fühlen (Fried 2007; Gold/ Schulz 2014), die Auswahl der Methoden und Inhalte nicht den Anforderungen an Sprachstandserhebungsverfahren entspricht (Geist 2013; Geist & Voet Cornelli 2015) und sie nicht zwingend über das notwendige Wissen über Sprache, Spracherwerb und Sprachdiagnostik verfügen (Müller et al. 2014; Rothweiler/ Ruberg/ Utecht 2009; Tracy/ Ludwig/ Ofner 2010). 2.1 Theoretischer Hintergrund Sprachdiagnostik ist eine große Herausforderung für pädagogische Fachkräfte. Gründe dafür sind die Komplexität des Systems Sprache und des Spracherwerbs. Sprachliche Fähigkeiten lassen sich nicht, wie etwa das Gewicht, mit einer Waage messen oder wie die Motorik z.B. beim Rückwärtslaufen beobachten, sondern sind differenziert zu erfassen und zu analysieren (Schulz/ Kersten/ Kleissendorf 2009). Spracherwerbsforschung und Entwicklungspsychologie haben spezifische Methoden entwickelt, mit de- <?page no="119"?> Sprachförderempfehlungen der Grundschule 119 nen eine Fähigkeit innerhalb einer der sprachlichen Ebenen (Phonologie, Morphologie, Semantik, Syntax, Pragmatik) erfasst werden kann (für eine Übersicht s. Kauschke 2012). Im Anschluss an die Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten sind die Ergebnisse unter Einbezug sprachbiografischer Faktoren des Kindes zu analysieren. Hierzu sind bei mehrsprachigen Kindern neben dem Alter insbesondere die Kontaktdauer zur erfassten Sprache und das Alter bei Erwerbsbeginn einzubeziehen (Rothweiler 2007). Mehrsprachige Kinder weisen aufgrund der unterschiedlichen Erwerbsbiografien eine große Heterogenität auf (Schulz 2013). Die Sprachdiagnostik ist deshalb insbesondere bei mehrspachigen Kindern komplex und stellt hohe Anforderungen an die sprachdiagnostische Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte. Die Sprachdiagnostik, die im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht, ist eine Selektionsdiagnostik, da die Grundschullehrkräfte daraus folgend eine Auswahl der Kinder (Sprachförderempfehlung ja oder nein) vornehmen. Von der Selektionsdiagnostik zu unterscheiden ist die Förderdiagnostik. Diese hat das Ziel, den Sprachstand eines Kindes zu erfassen, um daraus Inhalte für die Sprachförderung abzuleiten und konkrete Förderziele zu formulieren. Die Notwendigkeit einer Förderdiagnostik besteht, weil eine Fördermaßnahme insbesondere dann greift, wenn sie individuell und zielgenau am Sprachstand des Kindes ansetzt (Ruberg/ Rothweiler 2012). Nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis soll der Auswahl der Kinder eine Sprachdiagnostik vorausgehen. Im Folgenden wird deshalb zunächst der institutionelle Hintergrund der Sprachdiagnostik im Rahmen der hessichen Schulanmeldung dargestellt, bevor im Weiteren der Forschungsstand zu Selektionsentscheidungen in der Sprachdiagnostik beschrieben wird. 2.2 Institutioneller Hintergrund - Sprachdiagnostik im Rahmen der hessischen Schulanmeldung Die Schulgesetze der Bundesländer regeln zwar z.B., wann die Schulanmeldung erfolgen soll (in Hessen 15 Monate vor der eigentlichen Einschulung), legen aber nicht fest, wie genau diese Anmeldung zu vollziehen ist. Jede Schule regelt für sich Inhalt und Methoden des Einschulungsverfahrens (Kelle/ Ott/ Schweda 2012). Die Sprachstandserhebung im Rahmen der Schulanmeldung sowie die Förderung in den Vorlaufkursen 2 basiert auf 2 Die Vorlaufkurse (VLK) sind eine additive Sprachförderung, d.h. sie findet ergänzend z.B. zur alltagsintegrierten Sprachförderung in der Kita statt. Ein VLK besteht aus 10 bis 15 Kindern und umfasst in der Regel 10 bis 15 Wochenstunden, wobei Letzteres von den personellen und organisatorischen Möglichkeiten der einzelnen Schule abhängt (Althaus et al. 2002: 9). Die VLK beginnen ein Jahr vor der Einschulung und dauern ca. elf Monate. Die Zuständigkeit für die VLK liegt beim Kultusministerium. <?page no="120"?> Barbara Geist 120 einer allgemein gehaltenen Handreichung (Althaus et al. 2002), die den Förderkräften große individuelle Gestaltungsräume bezüglich der konkreten Umsetzung lässt (vgl. Fiebich/ Probst 2011). In der Handreichung heißt es: Die erste Messung der Sprachkenntnisse im Zuge der Anmeldung hat nicht das Ziel, eine umfangreiche differenzierte Aufgliederung sprachlicher Fähigkeiten vorzunehmen. Vielmehr kommt es darauf an, im Rahmen von kindgerechten Gesprächen und Spielen mit einem Kind oder mit einer Gruppe von Kindern der Frage nachzugehen, ob ein Kind sprachlich voraussichtlich in der Lage sein wird, dem Unterrichtsgeschehen zum Zeitpunkt der Einschulung grundsätzlich folgen und im Unterricht mitarbeiten zu können. Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer haben dies sicherlich aufgrund ihrer Erfahrung bei der Feststellung der Schulfähigkeit der Kinder bisher auch schon recht zutreffend einschätzen können. (Althaus et al. 2002: 11f) Es werden Aufgaben für die Sprachstandserhebung vorgeschlagen, wie „Gegenstände des täglichen Lebens in deutscher Sprache benennen können (Brot, Haus, Bleistift etc.)“ oder „zu einem vorgegebenen Bild oder einer einfachen Bildfolge in deutscher Sprache erzählen können“. Mit Verweis darauf, dass die „Prognosesicherheit bei Sprachstandserhebungen […] weiterhin eher gering einzuschätzen [ist]“ (Luchtenberg 2002: 86 zit. n. Althaus et al. 2002: 11), wird den Grundschullehrkräften geraten, keine Verfahren zur Sprachstandserhebung zu verwenden. Die Zusammenstellung der Aufgaben, die Durchführung und Auswertung der Sprachdiagnostik im Rahmen der Schulanmeldung basiert demnach ausschließlich auf der sprachdiagnostischen Kompetenz der verantwortlichen Grundschullehrkräfte. 2.3 Forschungsstand Für den vorliegenden Beitrag sind Studien relevant, deren Fokus erstens auf den Inhalten, Methoden und Praktiken der Sprachdiagnostik, und zweitens der sprachdiagnostischen Kompetenz von Grundschullehrkräften in Bezug auf mehrsprachige Vorschulkinder liegt. Drei Projekte untersuchten in den letzten Jahren die Sprachdiagnostik im Rahmen der Schulanmeldung am Beispiel Hessens. In einer Fragebogenstudie an 47 Grundschulen zeigt sich, dass zwar nahezu alle Schulen den Wortschatz der Kinder, jedoch nur die Hälfte der Schulen auch Fähigkeiten im Bereich Grammatik erfassen (Kleissendorf/ Schulz 2010). Nur an 40 % der Schulen werden sprachbiografische Informationen wie die Kontaktdauer zur Zweitsprache erfragt. Neben der Gemeinsamkeit der Schulen in Bezug auf die Wortschatzerhebung zeigt eine differenzierte Auswertung von Inter- VLK werden deshalb vorrangig von Grundschullehrkräften und in der Regel in den Räumlichkeiten der Grundschule durchgeführt. <?page no="121"?> Sprachförderempfehlungen der Grundschule 121 views mit 20 Grundschullehrkräften der 47 Schulen eine große Heterogenität der Inhalte, die im Rahmen der Schulanmeldung erfasst werden (Geist 2013). In einer Falldarstellung von vier Grundschulen wird ebenfalls deutlich, wie unterschiedlich die Schulen in der Sprachdiagnostik im Rahmen der Schulanmeldung und der Sprachförderung im Rahmen der Vorlaufkurse vorgehen (Voet Cornelli 2008). Bei der Wahl der Methoden und der Zielsetzung für die Sprachförderung spielen persönliche Erfahrungen und Neigungen der vier Sprachförderkräfte sowie deren Aus- und Weiterbildung(en) eine Rolle. Kelle, Ott und Schweda (2012) sprechen in ihrem praxisanalytischen Beitrag zum gesamten Einschulungsverfahren in Hessen (dies umfasst neben der Schulanmeldung auch die Schuleingangsuntersuchung des Gesundheitsamtes sowie den sogenannten Schnuppertag der Grundschule wenige Monate vor der Einschulung) von einem „Spannungsverhältnis von Förderdiagnostik und Selektion“. (Kelle/ Ott/ Schweda 2012: 7). Das Spannungsverhältnis von Förderdiagnostik und Selektion baut sich aus Sicht der Autoren auf, da den Lehrkräften im Rahmen des Einschulungsverfahrens, abgesehen von der Zuweisung zum Vorlaufkurs, keine konkreten Fördermöglichkeiten zur Verfügung stehen. Einerseits soll das vorgezogene Einschulungsverfahren Selektion in Form der Rückstellung von der Einschulung vermeiden, anderseits zeigen sich nach Kelle und Kolleginnen selektive Effekte im Einschulungsverfahren weiterhin, insbesondere in der Frage der Sprachförderempfehlung. Welche Kinder erhalten nun eben diese Sprachförderempfehlung und gelingt es den Lehrkräften, alle Kinder, die Sprachförderbedarf haben, zu identifizieren? Bislang ist über die sprachliche Ausgangslage der Kinder, die eine additive Sprachfördermaßnahme besuchen bzw. nicht besuchen, wenig bekannt. Das Risiko von Fehleinschätzungen besteht insbesondere bei der Beurteilung der sprachlichen Fähigkeiten von mehrsprachigen Kindern (Knapp 1999). Drei Studien sind für die in diesem Beitrag zentralen Fragestellungen zur Sprachförderempfehlung mehrsprachiger Vorschulkinder durch Grundschullehrkräfte von Bedeutung. In einer Studie zur Beurteilung des Risikos von Leseschwierigkeiten wurden Grundschullehrkräfte gebeten, die mündlichen und schriftlichen Fähigkeiten von Grundschülern mit Englisch als Erst- und Zweitsprache zu zwei Testzeitpunkten einzuschätzen (Limbos/ Geva 2001). Während die Ergebnisse zu Testzeitpunkt 1 noch eine etwas geringere Sensitivität (Erkennen der Kinder mit Risiko für Leseschwierigkeiten) für die Identifikation von Schülern mit Englisch als Zweitsprache mit einem Risiko für Leseschwierigkeiten im Vergleich zu Schülern mit Englisch als Erstsprache zeigen, reduziert sich dieser Unterschied zu Testzeitpunkt 2. Die Spezifität (Erkennen der Kinder ohne Risiko für Leseschwierigkeiten) ist zu beiden Testzeitpunk- <?page no="122"?> Barbara Geist 122 ten hoch. Limbos und Geva (2001) diskutieren, welche Bedeutung die geringere Sensitivität zu Testzeitpunkt 1 für die frühe Intervention bei Schülern mit Englisch als Zweitsprache hat. Williams (2006) untersuchte, wie zuverlässig Grundschulehrkräfte die sprachlichen Schwierigkeiten von Kindern 3 , die im Kindergarten, der Vorschule oder der ersten Klasse sind, im Vergleich zu den Ergebnissen mittels standardisierter Testverfahren identifizieren können. Die Lehrkräfte sollten Kinder angeben, bei denen sie geringe sprachliche Fähigkeiten vermuten und Kinder, bei denen sie davon ausgehen, dass die sprachlichen Fähigkeiten zu einem Risiko im Literalitätserwerb führen. Es zeigt sich, dass die Identifikation der Risikokinder durch die Lehrkräfte bei den Vorschul- und Erstklasskindern häufiger mit den Ergebnissen der Testverfahren übereinstimmt als bei den Kindergartenkindern. Die Autorin geht davon aus, dass Lehrkräfte bei Kindergartenkindern eher dazu tendieren, mehr Kinder als notwendig als Risikokinder zu klassifizieren. Sie führt dies darauf zurück, dass sich die Angebote zur Professionalisierungsentwicklung für Lehrkräfte vorrangig mit Kindern in etwas höheren Altersgruppen beschäftigen und die Lehrkräfte zu wenig Wissen über Spracherwerbsschwierigkeiten bei Kindergartenkindern haben. Fiebich und Probst (2011) untersuchten u.a., wie gut und wie ähnlich die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder sind, die an einer additiven Sprachförderung (hier den hessischen Vorlaufkursen) teilnehmen. Erstmals konnte gezeigt werden, dass sich die sprachlichen Fähigkeiten der Sprachfördergruppen, gemessen mittels standardisierter Verfahren, signifikant voneinander unterscheiden. So sind die Kinder der Gruppe einer Schule zu Beginn der Sprachförderung ebenso sprachkompetent wie Kinder aus Gruppen anderer Schulen erst am Ende der Sprachförderung. Die Autoren schlussfolgern, dass es schulübergreifender Kriterien der Förderbedürftigkeit und einer besseren Qualifikation der Lehrkräfte bedarf. Für den vorliegenden Beitrag lässt sich aus dem Forschungsstand schließen, dass die untersuchten Schulen durch jeweils unterschiedliche Vorgehensweisen in der Sprachdiagnostik zu ihrer Auswahl der Vorschulkinder mit Sprachförderempfehlung gelangen. Fiebich und Prost (2011) gehen davon aus, dass aufgrund des heterogenen Vorgehens sich die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder zwischen den Grundschulen stark unterscheiden. In der Handreichung des hessischen Kultusministeriums werden die Lehrkräfte darauf verwiesen, die Sprachdiagnostik mehrsprachiger Vorschulkinder unter Rückgriff auf ihre Erfahrungen zu leisten. Der Forschungsstand zeigt allerdings, dass die Einschätzung der sprachlichen Fähigkeiten von Kindern mit Zweitspracherwerb (Limbos/ Geva 2001) sowie von Vorschulkindern (Williams 2006) durch Grundschullehrkräfte nicht sehr zuverlässig ist. 3 Die Sprachbiografie der Kinder wurde nicht berichtet. <?page no="123"?> Sprachförderempfehlungen der Grundschule 123 3 Studie In der vorliegenden Studie werden die folgenden Fragen untersucht: 1) Erhalten die mehrsprachigen Kinder, die laut Grundschullehrkraft Sprachförderbedarf haben, eine Vorlaufkursempfehlung von der Grundschullehrkraft? 2) Unterscheiden sich die mehrsprachigen Kinder, die laut Grundschullehrkraft eine Empfehlung zum Besuch einer additiven Sprachförderung (Vorlaufkurs) erhalten, in ihren sprachlichen Fähigkeiten sowie ihren sprachbiografischen Faktoren von den mehrsprachigen Kindern, bei denen die Grundschullehrkraft keine Empfehlung ausgesprochen hat? 3.1 Probanden Die Kinder wurden über Kindertagesstätten im Großraum Frankfurt rekrutiert, die sich bereit erklärt hatten, das Projekt cammino zu unterstützen. Die Erzieherinnen baten die Eltern aller mehrsprachigen Kinder der Einrichtung, die im Sommer/ Herbst 2011 zwischen drei und vier Jahre alt waren, an dem Projekt cammino teilzunehmen. Insgesamt sagten 102 Eltern und ihre Kinder ihre Teilnahme zu. Für den Testzeitpunkt der Schulanmeldung liegen Daten von 69 mehrsprachigen Kindern vor (31 Jungen, 38 Mädchen), die zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 4; 10 und 5; 10 Jahre alt waren (Mittelwert (M) = 5; 2 Jahre, Standardabweichung (SD) = 3 Monate). Das Alter bei Erwerbsbeginn des Deutschen lag zwischen 0 und 44 Monaten (M = 22 Monate, SD = 17 Monate). Von den 69 Kindern erwerben 39 das Deutsche als Zweitsprache (Erwerbsbeginn nach dem 24. Lebensmonat), und 30 Kinder werden als simultan bilingual bezeichnet (Erwerbsbeginn zwischen Geburt und 24. Lebensmonat). Die Kontaktdauer zum Deutschen variiert zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 16 und 69 Monaten (M = 42 Monate, SD = 18 Monate). Die Kinder erwerben neben Deutsch mindestens eine weitere Sprache (26 verschiedene Erstsprachen, Türkisch mit 25 % am häufigsten). Die Grundschullehrkräfte, die zu ihrer Einschätzung des Sprachförderbedarfs befragt wurden, sind jeweils an der Schule für die Sprachstandserhebung im Rahmen der Schulanmeldung zuständig. 3.2 Methoden Im Rahmen dieser Studie sind drei Methoden eingesetzt worden: Elternfragebogen, Lehrerfragebogen und ein Sprachstandserhebungsverfahren bei den Kindern. Den Elternfragebogen füllten die Eltern zu Beginn des Projektes im Sommer/ Herbst 2011 aus. Er enthält u.a. Fragen zu Geburtsdatum, Alter bei Erwerbsbeginn des Deutschen, (Erst-)Sprachen der Kinder sowie Sprachen der Eltern. <?page no="124"?> Barbara Geist 124 Die Lehrerbefragung wurde zeitnah nach der Schulanmeldung als Telefoninterview mit der Lehrkraft durchgeführt, die das jeweilige Kind in der Schulanmeldung untersucht hatte. Der Lehrerfragebogen bestand aus fünf Items. Für die hier vorgestellte Studie sind die folgenden zwei Fragen relevant: „1. Hat das Kind Sprachförderbedarf? “ und 2. „Wurde das Kind für einen Vorlaufkurs empfohlen? “. Es standen die Antworten „Ja“, „Nein“ und „weiß ich nicht/ vielleicht“ zur Auswahl. Während die erste Frage die Einschätzung eines Sprachförderbedarfs unabhängig von Ressourcen und sonstigen Rahmenbedingungen erfassen soll, zielt die zweite Frage auf die Entscheidung der Lehrkräfte im Sinne einer Selektionsdiagnostik ab. Im Rahmen des Projektes cammino wurden die Kinder zeitnah zur Schulanmeldung der Grundschulen (März bis Mai 2013 (N = 52) und März bis Mai 2014 (N = 17) mit der Linguistischen Sprachstandserhebung - Deutsch als Zweitsprache (LiSe-DaZ, Schulz/ Tracy 2011) in der Kindertagesstätte getestet. LiSe-DaZ besteht aus zwei Modulen: Sprachproduktion (Untertests: Satzklammer, Wortklassen, Kasus, Subjekt-Verb-Kongruenz) und Sprachverständnis (Untertests: Verbbedeutung, W-Fragen, Negation). Es werden zentrale semantische, morphologische und syntaktische Bereiche der deutschen Sprache erfasst, die im Spracherwerb der Kinder eine wichtige Rolle spielen und für die die Kinder konstruktionsübergreifende Regeln ausbilden müssen (Schulz/ Tracy 2011: 17ff). LiSe-DaZ ist für Kinder mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache im Alter von 3; 0 bis 7; 11 Jahre normiert. Normen für simultan bilinguale Kinder liegen nicht vor. Aus diesem Grund werden für die vorliegenden Analysen die Rohwerte, nicht aber die T-Werte je Untertest verwendet. Der Untertest Satzklammer basiert nicht auf intervallskalierten Rohwerten; somit ist kein Vergleich der Mittelwerte möglich. Stattdessen kann verglichen werden, welche Entwicklungsstufe Kinder mit und ohne Vorlaufkursempfehlung (VLKempfehlung) im Bereich der Satzklammer bereits erreicht haben. Der Untertest Satzklammer überprüft, in welchem Maß sich Kinder bereits den typischen zielsprachlichen Strukturen von Hauptsatz und Nebensatz genähert haben. Eine Entwicklungsstufe Satzklammer (ESS) 4 gilt dann als erreicht, wenn sich dafür mindestens drei Belege finden lassen. Die höchste ESS eines Kindes ist das Endergebnis. 4 ESS I = Äußerungen aus einem Verb oder einer Verbpartikel; ESS II = Äußerung, in der vor dem Verb weitere Elemente auftreten, d.h. das Verb in der rechten Satzklammer steht; ESS III = Äußerungen mit mehreren Elementen, in der ein Verb in der linken Satzklammer steht und mindestens ein weiteres Element folgt; ESS IV Äußerung, in der ein Nebensatz von einer Konjunktion (weil, wenn, dass, ob) eingeleitet wird und in der das Verb nach mindestens zwei weiteren Elementen in der rechten Satzklammer erscheint (Schulz/ Tracy 2011). <?page no="125"?> Sprachförderempfehlungen der Grundschule 125 3.3 Ergebnisse Die erste Frage lautet: „Erhalten die mehrsprachigen Kinder, die laut Grundschullehrkraft Sprachförderbedarf haben, eine VLKempfehlung? “ Im Telefoninterview gaben die Lehrkräfte für 28 Kinder an, dass diese Sprachförderbedarf haben. Für 29 Kinder sahen die Lehrkräfte keinen Sprachförderbedarf und für neun Kinder antworteten die Lehrkräfte „weiß ich nicht/ vielleicht“. 18 Kindern empfahlen die Lehrkräfte den Besuch eines Vorlaufkurses. Bei 47 Kindern wurde keine VLKempfehlung ausgesprochen und für vier Kinder war dies zum Zeitpunkt des Telefoninterviews unklar. Ein Vergleich der vier Gruppen (Sprachförderbedarf ja/ nein, VLKempfehlung ja/ nein) zeigt, dass zwar kein Kind ohne Sprachförderbedarf eine VLKempfehlung erhalten hat, jedoch lediglich 16 von 31 Kindern mit Sprachförderbedarf laut Grundschullehrkraft von dieser auch für einen Vorlaufkurs empfohlen wurden (s. Tab. 1). Es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen Sprachförderbedarf und VLKempfehlung (Pearson Chi-Quadrat ² (4, N = 69) = 22,662; p < .001). Hier schließt sich die zweite Untersuchungsfrage an: Unterscheiden sich die mehrsprachigen Kinder, die laut Grundschullehrkraft eine Empfehlung zum Besuch einer additiven Sprachförderung (Vorlaufkurs) erhalten, in ihren sprachlichen Fähigkeiten sowie ihren sprachbiografischen Faktoren von den mehrsprachigen Kindern, bei denen die Grundschullehrkraft keine Empfehlung ausgesprochen hat? Der Vergleich erfolgt ausschließlich für die Kinder, für die eine eindeutige VLKempfehlung (ja/ nein) und eine vollständige Sprachstandserhebung mit LiSe-DaZ vorliegt (N = 57). 3.3.1 Sprachliche Fähigkeiten Zur Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten wurde die Linguistische Sprachstandserhebung - Deutsch als Zweitsprache (LiSe-DaZ, Schulz/ Tracy 2011) durchgeführt. Die Ergebnisse von zehn der elf Untertests sind intervallskaliert, so dass ein Vergleich der Mittelwerte möglich ist. Die Kinder mit VLKempfehlung haben deskriptiv im Mittel in neun der zehn Untertests geringere Rohwerte erzielt (s. Abb. 1). Eine Ausnahme bildet der Untertest Fokuspartikel. Hier erzielten die Kinder mit VLKempfehlung im Mittel einen Rohwert von 6, Kinder ohne VLKempfehlung von 5. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist, gemessen mit dem nicht-parametrischen Mann-Whitney-U-Test, für die Hälfte der Untertests signifikant (W-Fragen, Wortklasse-Präpositionen, Wortklasse-Konjunktionen, Kasus und Subjekt-Verb- Kongruenz). Für die hier untersuchte Probandengruppe war zu erwarten, dass sich die sprachlichen Leistungen in allen Untertests außer dem Untertest Verbbedeutung unterscheiden, weil die Verbbedeutung innerhalb des ersten Jahres nach Erwerbsbeginn erworben wird (Grimm/ Schulz 2012). Für <?page no="126"?> Barbara Geist 126 die Kinder der vorliegenden Studie, deren Kontaktdauer mindestens 16 Monate beträgt, zeigt sich ein Deckeneffekt. In den anderen Untertests zum Sprachverständnis erreichen die Kinder in beiden Gruppen nicht den maximalen Rohwert (W-Fragen = 10, Negation = 12), da der Erwerb dieser Strukturen noch nicht abgeschlossen ist. Ohne Sprachförderbedarf Mit Sprachförderbedarf Weiß nicht/ vielleicht Summe Ohne VLKempfehlung Anzahl 28 13 6 47 % 40,6 % 18,8 % 8,7 % 68,1 % Mit VLKempfehlung Anzahl 0 16 2 18 % 0,0 % 23,2 % 2,9 % 26,1 % Weiß nicht/ vielleicht Anzahl 1 2 1 4 % 1,4 % 2,9 % 1,4 % 5,8 % Summe Anzahl 29 31 9 69 % 42,0 % 44,9 % 13,0 % 100,0 % Tab. 1: Vergleich Sprachförderbedarf und VLKempfehlung laut Grundschullehrkraft Von den Kindern ohne VLKempfehlung haben 13 ESS III und 28 ESS IV erreicht. Von den Kindern mit VLKempfehlung steht ein Kind auf ESS I, neun Kinder auf ESS III und sechs Kinder auf ESS IV (Tab. 2). Es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen den ESS-Gruppen und den Kindern mit und ohne VLKempfehlung ( ²(2, N = 57) = 6,188; p = .045). 3.3.2 Sprachbiografische Faktoren Die Kinder ohne VLKempfehlung sind zum Zeitpunkt der Erhebung im Mittel fünf Jahre alt und haben seit drei Jahren und elf Monaten Kontakt zum Deutschen. Sie begannen mit dem Deutscherwerb im Mittel im Alter von einem Jahr und vier Monaten. Die Kinder mit VLKempfehlung sind ebenfalls fünf Jahre alt. Sie haben durchschnittlich seit zwei Jahren und sechs Monaten Kontakt zum Deutschen. Sie begannen mit dem Deutscherwerb im Mittel im Alter von zwei Jahren und sieben Monaten. (s. Tab. 3) Der Vergleich der beiden Gruppen zeigt, dass die Kinder mit und ohne VLKempfehlung gleich alt sind (Mann-Whitney-U-Test p = ,074). Die Kinder mit VLKempfehlung haben jedoch ein höheres Alter bei Erwerbsbeginn (p = ,002) und folglich eine signifikant kürzere Kontaktdauer zum Deutschen (p = ,001). <?page no="127"?> Sprachförderempfehlungen der Grundschule 127 Abb. 1: Vergleich der sprachlichen Fähigkeiten in LiSe-DaZ (Schulz/ Tracy 2011) zwischen Kindern mit und ohne VLKempfehlung Untertest Satzklammer LiSe-DaZ Summe ESS I ESS III ESS IV Ohne VLKempfehlung Anzahl 0 13 28 41 % 0,0 % 22,8 % 49, 1% 71,9 % Mit VLKempfehlung Anzahl 1 9 6 16 % 1,8 % 15,8 % 10, 5% 28,1 % Summe Anzahl 1 22 34 57 % 1,8 % 38,6 % 59,6 % 100,0 % Tab. 2: Ergebnisse Untertest Satzklammer für Kinder mit und ohne VLKempfehlung * * * * * * = signifikanter Unterschied <?page no="128"?> Barbara Geist 128 N M SD Min. Max. Alter Ohne VLKempfehlung 41 63,29 3,348 59 70 Mit VLKempfehlung 16 61,50 3,327 58 68 Kontaktdauer Ohne VLKempfehlung 41 46,83 17,501 19 68 Mit VLKempfehlung 16 29,81 10,647 16 59 Alter bei Erwerbsbeginn Ohne VLKempfehlung 41 16,24 17,079 0 40 Mit VLKempfehlung 16 31,38 11,295 0 44 Tab. 3: Deskriptive Statistik sprachbiografischer Faktoren der Kinder mit und ohne VLKempfehlung 3.4 Diskussion 13 der 31 Kinder mit Sprachförderbedarf laut Grundschullehrkraft erhalten keine VLKempfehlung. Mögliche Gründe für diese Diskrepanz sind, dass anderweitige Förderangebote z.B. in der Kindertagesstätte zur Verfügung stehen, die Ressourcen im Vorlaufkurs begrenzt sind oder den Kindern auch ohne zusätzliche Fördermaßnahmen eine positive Entwicklung prognostiziert wird. Williams (2006) zeigt, dass Grundschullehrkräfte bei Kindern im Vorschulalter dazu tendieren, mehr Kinder als notwendig als Risikokinder zu klassifizieren. Dies könnte ebenfalls für die Einschätzung des Sprachförderbedarfs gelten. In weiteren Analysen des Projekts cammino sollen die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder mit und ohne Sprachförderbedarf laut Lehrkraft verglichen werden. Die Ergebnisse in LiSe-DaZ (Schulz/ Tracy 2011) zeigen, dass die Kinder mit VLKempfehlung geringere sprachliche Fähigkeiten haben als Kinder ohne VLKempfehlung. Statistisch signifikant ist dieser Unterschied in Untertests, die für die getestete Altersgruppe sensible sprachliche Fähigkeiten erfassen. Während für den Untertest Verbbedeutung der erwartete Deckeneffekt eintrat, verstehen Kinder mit VLKempfehlung durchschnittlich weniger W-Fragen zielsprachlich und produzieren weniger Äußerungen mit zielsprachlich realisiertem Kasus. Unterschiede in den Wortklassen zeigen sich in den beiden geschlossenen Klassen Präpositionen und Konjunktionen. Außerdem zeigen sich Unterschiede in den Untertests Subjekt-Verb- Kongruenz und Entwicklungsstufen Satzklammer. Es ist denkbar, dass auch Kinder mit ESS IV noch eine VLKempfehlung erhalten, da diese möglicher- <?page no="129"?> Sprachförderempfehlungen der Grundschule 129 weise Förderbedarf in später zu erwerbenden Bereichen wie Kasus haben. Kinder, die zum Zeitpunkt der Schulanmeldung und nach mindestens 16 Monaten Kontakt zum Deutschen noch keine Nebensätze mit Verbendstellung zielsprachlich äußern, haben in diesem Bereich Förderbedarf. Es bleibt offen, wieso 13 Kinder mit ESS III keine VLKempfehlung erhalten haben. Mögliche Gründe für die Diskrepanz wurden bereits oben ausgeführt. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Grundschullehrkräfte den Kindern mit sehr geringen sprachlichen Fähigkeiten in Kernbereichen der deutschen Grammatik den Besuch eines Vorlaufkurses empfehlen. Dennoch haben auch einige Kinder ohne VLKempfehlung regelgeleitete Bereiche der deutschen Grammatik (z.B. Verständnis für W-Fragen, Produktion von Nebensätzen mit Verbendstellung) noch nicht erworben. Insofern zeigen die Ergebnisse auch, dass die Frühidentifikation mehrsprachiger Kinder mit Sprachförderbedarf eine große Herausforderung für die Grundschullehrkräfte ist (vgl. hierzu Limbos/ Geva 2001). Kinder mit VLKempfehlung haben eine signifikant kürzere Kontaktdauer zum Deutschen und ein höheres Alter bei Erwerbsbeginn als Kinder ohne VLKempfehlung. Diese Informationen liegen den Grundschullehrkräften nicht zwingend vor bzw. werden diese Faktoren nicht unbedingt im Anmeldegespräch erfragt (Geist 2013). Wie die Grundschullehrkräfte zu ihrer Selektionsentscheidung gelangen und welches Vorgehen zur Auswahl der Kinder führt, die Sprachförderung benötigen, ist bislang unklar. 4 Fazit Die Ergebnisse zeigen, dass es den Grundschullehrkräften gelingt, Kinder mit geringem Kontakt zum Deutschen, einem späten Alter bei Erwerbsbeginn und geringen sprachlichen Fähigkeiten in den untersuchten Bereichen herauszufiltern und für einen Vorlaufkurs zu empfehlen. Es ist allerdings auch festzuhalten, dass nicht alle mehrsprachigen Kinder mit Sprachförderbedarf laut Grundschullehrkraft eine VLKempfehlung erhalten. Deutlich wird anhand der Ergebnisse insbesondere, dass Kinder ohne VLKempfehlung noch nicht alle regelgeleiteten Bereiche der deutschen Grammatik erworben haben. Sicher ist es nicht notwendig, dass alle Kinder mit Sprachförderbedarf auch eine additive Sprachförderung erhalten, eine sprachförderliche Umgebung und eine alltagsintegrierte Sprachförderung in der Kindertagesstätte ist ggf. ausreichend. Haben die Kinder jedoch, wie hier vorgestellt, Kernbereiche der deutschen Grammatik ein Jahr vor Schulbeginn noch nicht erworben, sollten sie eine gezielte Unterstützung, z.B. in Form einer additiven Sprachförderung in ihrem Zweitspracherwerb erhalten. Unklar muss im Rahmen dieser Studie bleiben, wie die Lehrkräfte zu <?page no="130"?> Barbara Geist 130 ihrer Entscheidung über den Sprachförderbedarf und die VLKempfehlung gekommen sind. Es ist zu wünschen, dass Ressourcen für die Sprachförderung für alle Kinder mit Sprachförderbedarf zur Verfügung stehen. Derzeit scheinen die begrenzten Ressourcen dazu zu führen, dass Kinder mit sehr geringen sprachlichen Fähigkeiten aufgrund der kurzen Kontaktdauer zum Deutschen eine VLKempfehlung erhalten, bei weitem jedoch nicht alle Kinder mit spezifischem Sprachförderbedarf. Aus sprachdidaktischer Perspektive kann es nicht das Ziel der Sprachdiagnostik sein, die Anzahl der Kinder mit VLKempfehlung so weit zu minimieren, dass sie den vorhandenen Ressourcen entspricht. Außerdem gilt es, die Grundschullehrkräfte in ihrer komplexen Aufgabe der Sprachdiagnostik durch geeignete Qualifizierungsangebote zu unterstützen, damit sie alle Kinder mit Sprachförderbedarf identifizieren und ihnen eine geeignete Förderung anbieten können. Literatur Althaus, R. et al. (2002): Deutsch-Frühförderung in Vorlaufkursen: Eine Handreichung für Grundschulen. Hessisches Kultusministerium. 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Workshop Kinder mit Migrationshintergrund. Freiburg: Fillibach, 183-204. <?page no="132"?> Barbara Geist 132 Voet Cornelli, B. (2008): Vorschulische Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund vor dem Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule am Beispiel der hessischen Vorlaufkurse . Unveröffentlichte Magisterarbeit. Goethe- Universität Frankfurt. Williams, C. (2006): Teacher judgements of the language skills of children in the early years of schooling. In: Child language teaching and therapy 22, 135-154. <?page no="133"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits Sprachförderung im Elementarbereich eine Herausforderung für pädagogische Fachkräfte 1 Einleitung Der Sektor der Sprachförderung hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Es wurden zahlreiche Förderprogramme initiiert, verschiedene Förderkonzepte entwickelt und umfangreiche Fördermaterialien veröffentlicht (Jampert et al. 2005; Lisker 2011). Auch in Bezug auf Verfahren zur Sprachstandserhebung bieten sich pädagogischen Fachkräften (PFK) vielfältige Möglichkeiten (Lisker 2010). Einhergehend mit der Weiterentwicklung von Diagnose- und Fördermöglichkeiten erweiterten sich ebenfalls die Erwartungen an die PFK bzw. ihre Aufgaben im Bereich der Sprachförderung. Ziel des Beitrags ist es zu untersuchen, welche Anforderungen PFK im Elementarbereich mit ihrer Tätigkeit in der Sprachförderung verbinden. Zudem soll das Wissen der PFK über Sprachförderung sowie ihr sprachliches Handeln in der Fördersituation analysiert werden. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: In Kapitel 2 werden auf Grundlage der Bildungspläne der Bundesländer die Erwartungen an PFK für den Bereich der Sprachförderung zusammengefasst. In Kapitel 3 wird der Begriff der Sprachförderkompetenz näher betrachtet und aktuelle Studien zum Thema skizziert. In Kapitel 4 werden Daten und Ergebnisse einer Studie zur Sprachförderkompetenz von PFK vorgestellt, die im Rahmen des Projekts PROfessio durchgeführt wurde. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse verbunden mit Implikationen für die Aus- und Weiterbildung von PFK. 2 Erwartungen an pädagogische Fachkräfte in der Sprachförderung Die Bildungspläne der Bundesländer formulieren Empfehlungen für die Gestaltung von Sprachfördermaßnahmen in Kindertageseinrichtungen (vgl. Geyer/ Müller 2014). Die Empfehlungen dienen den PFK als Grundlage und Orientierung für ihre Bildungsarbeit. Als zentrale Aufgabe von PFK formulieren viele Bildungspläne die Erfassung kindlicher Sprachfähigkeiten: Eine „frühzeitig einsetzende, regelmäßige und systematische Beobachtung und Dokumentation der Sprachent- <?page no="134"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits 134 wicklung von Kindern“ gilt als „Grundlage einer differenzierten Sprachförderung“ (Hessisches Ministerium für Soziales und Integration/ Hessisches Kultusministerium 2014: 67). Einige Bundesländer weisen gesondert auf die Anforderungen bei der Erfassung der Fähigkeiten von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache hin (z.B. Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Hamburg 2012), andere empfehlen konkrete Verfahren zur Erfassung und Dokumentation (z.B. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik München 2012). Viele Bildungspläne beinhalten Vorgaben, die sich auf das sprachliche Handeln der PFK in der Förderung beziehen. Zentral ist hier der Begriff des „Sprachvorbilds“. Um als sprachliches Modell zu fungieren, sollen PFK zum Beispiel in vollständigen Sätzen und grammatisch sprechen (z.B. Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2011). Im Bildungsplan von Baden-Württemberg wird außerdem eine Sprache mit „reichhaltigem Wortschatz und differenziertem Satzbau“ empfohlen (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2011: 35), in Bayern ein „deutliches, einfühlsames und variationsreiches Sprechen“ (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik München 2012: 215). Viele Bildungspläne betonen zudem die Notwendigkeit, Kinder zum Erzählen zu animieren sowie im Gespräch auf den eigenen Redeanteil zu achten (z.B. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin 2004). Die oben skizzierten Anforderungen, die die Umsetzung von Sprachförderung an PFK stellt, sind komplex. Im Bildungsplan von Hamburg wird daher mit Recht darauf verwiesen, dass PFK eine umfangreiche Qualifikation benötigen, die entsprechendes Fachwissen sowie Handlungskompetenzen umfasst (Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Hamburg 2012). 3 Sprachförderkompetenz Nach Müller (2014) umfasst Sprachförderkompetenz aus sprachdidaktischer und spracherwerbstheoretischer Perspektive neben dem Wissen über Sprache, den (Zweit-)Spracherwerb, Sprachstandserhebung und Sprachförderung auch spezielle Handlungskompetenzen in Bezug auf die Erfassung und Förderung der sprachlichen Fähigkeiten von Kindern. In Anlehnung an Shulman (1986) lässt sich Wissen in drei zentrale Wissensfacetten unterteilen: Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und allgemein pädagogisches Wissen (vgl. auch Baumert/ Kunter 2006). Daneben wird zum Wissen ebenfalls das praktische Wissen gezählt, das erfahrungsbasiert ist und in bestimmten Kontexten erworben wird (Faas/ Treptow 2010). Das Handeln im <?page no="135"?> Sprachförderung im Elementarbereich 135 Bereich der Sprachförderung meint eine Form des Agierens, die bewusst sowie zielgerichtet stattfindet (vgl. Heckhausen 1989) und sich in verschiedene Teilprozesse gliedert: Neben dem Handeln beim Planen einer Sprachfördermaßnahme werden das durchführende Handeln sowie das nachbereitende Handeln zur Kontrolle der Zielerreichung unterschieden (Müller 2014). Das sprachliche Handeln, d.h. der bewusste Einsatz der eigenen Sprache, ist dabei als Teil des durchführenden Handelns anzusehen. Aktuelle Studien zur Sprachförderkompetenz konzentrierten sich bislang auf einzelne Aspekte, wie z.B. das Fachwissen. Dabei lassen sich Studien, die die Selbsteinschätzung und -reflexion der eigenen Sprachförderkompetenz fokussieren, von Untersuchungen unterscheiden, die Kompetenz auf der Grundlage von Wissenstests oder der Dokumentation von Handlungen zu messen versuchen. 3.1 Selbsteinschätzungen und -reflexionen In verschiedenen Interviewstudien wurde das Wissen und Handeln von den PFK selbst eingeschätzt bzw. reflektiert. Faas (2013) befragte in einer Studie 30 PFK mit dem Ziel, Aufschluss über ihr Wissen in der Auseinandersetzung mit Handlungsanforderungen im Bereich der Sprachförderung zu erhalten. Seinen Analysen zufolge greifen PFK nur eingeschränkt auf sprachliches Fachwissen zurück, während der Rückgriff auf erfahrungsbezogenes Wissen dominiert. Fried (2007) untersuchte in einer Fragebogenstudie mit 791 PFK, wie sie ihr Wissen im Bereich der Sprachförderung beurteilten. 68 % der Befragten gaben an, sich gut mit der Sprachentwicklung von Kindern auszukennen. Dokumentiert wurden in der Studie jedoch auch große Unsicherheiten insbesondere im Bereich der Sprachstandserhebung. Ähnliche Ergebnisse berichten auch Gold und Schulz (2014). In ihrer Studie wurden die Leitungen von Kindertageseinrichtungen gebeten, u.a. den Wissenstand und die Kompetenz ihrer Mitarbeiter im Bereich Sprache einzuschätzen. In mehr als 90 % der Fälle schätzten die Leitungen das Wissen ihrer Mitarbeiter im Bereich Sprachentwicklung als gut oder sehr gut ein. Im Bereich Sprachstandserhebungen sehen die Leitungen ihre Mitarbeiter jedoch kaum oder nicht gut vorbereitet. Kleissendorf und Schulz (2010) untersuchten in einer Fragebogenstudie das Handeln von PFK bei der Sprachstandserhebung. Die Daten zeigten ein heterogenes Vorgehen in Bezug auf die Durchführung und die Auswahl verschiedener Verfahren. 79 % der befragten PFK erfassten den Sprachstand der Kinder zu Beginn der Förderung, jedoch überwiegend anhand hausinterner Materialien. Auch Fried (2007) zeigt in ihrer Befragung, dass sich mehr als die Hälfte der PFK nicht zutraut, ein Sprachstandserhebungsverfahren selbstständig einzusetzen. Lediglich ein Viertel aller Befragten befasste sich bislang intensiv mit einem entsprechenden Instrument. In einer Interviewstudie untersuchte Knopp (2008), wie PFK ihr eige- <?page no="136"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits 136 nes Handeln rekonstruieren. Demnach differenzieren die PFK in den Bereichen Sprachstandserhebung und Sprachförderung selten hinsichtlich der einzelnen linguistischen Ebenen und greifen global auf das Konstrukt Sprache zurück. Auch wenn bei der Erfassung des Sprachstands auf einzelne sprachliche Ebenen Bezug genommen wird, fehlt anschließend die Übertragung dieser Erkenntnisse in der Förderung: Die PFK empfehlen eher ein umfassendes „Sprachbad“ (Knopp 2008: 286) im Sinne einer unspezifischen Förderung, statt konkrete Förderziele zu formulieren. 3.2 Tests und Dokumentationen zum Fachwissen und Handeln Um das sprachliche Fachwissen standardisiert zu erfassen, entwickelten Thoma und Tracy (2013) den Wissenstest SprachKoPF, der entlang von insgesamt 55 verschiedenen Fragen Wissen in den Bereichen linguistische Grundlagen, (Zweit-)Spracherwerb, Sprachstandsdiagnostik und Sprachförderung misst. Ergebnisse erster Studien zeigen, dass das Wissen von PFK im Elementarbereich stark variiert und die PFK ungefähr die Hälfte dessen wissen, „was aus theoretischer Sicht für eine hohe Sprachförderkompetenz erwartet wird“ (Thoma et al. 2012: 82). Das sprachliche Handeln in der Fördersituation wurde von Ricart Brede (2011) u.a. in Bezug auf sprachstrukturelle Eigenschaften untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass circa 40 % aller Äußerungen der PFK aus unvollständigen Sätzen, Ellipsen oder Satzfragmenten bestehen. Die Dokumentation der Redeanteile zeigte eine deutliche Asymmetrie zwischen PFK und Kindern, da der Redeanteil aller Kinder in einer Fördergruppe addiert immer noch geringer war als der Redeanteil der PFK. Die Skizzierung des Forschungsstands zeigt, dass die Sprachförderkompetenz von PFK bislang punktuell untersucht wurde. Offen bleibt, welche Anforderungen PFK mit der Aufgaben der Sprachförderung verbinden und welche Zusammenhänge zwischen Selbsteinschätzung, Wissen und sprachlichem Handeln bestehen. 4 Das Projekt PROfessio Das Projekt PROfessio - Wissen und Handeln in der Sprachförderung zwischen Kita und Grundschule 1 - untersuchte die Sprachförderkompetenz sowie die Professionalisierung von PFK, die in ihrem beruflichen Alltag alltagsintegriert oder in Kleingruppen die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern för- 1 PROfessio ist ein Teilprojekt des Zentrums für individuelle Entwicklung und Lernförderung (IDeA) und wurde von Oktober 2011 bis September 2014 gefördert. durch die Landes-Offensive zur Entwicklung wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOE- WE). <?page no="137"?> Sprachförderung im Elementarbereich 137 dern. Im Fokus des Projekts standen drei Berufsgruppen: PFK aus dem Krippenbereich, PFK aus Kindertagesstätten und Grundschullehrkräfte (für eine ausführliche Projektvorstellung siehe Müller/ Geist/ Schulz 2013). In diesem Beitrag werden Daten einer Teilstudie des Projekts berichtet, in der die Sprachförderkompetenz von PFK in Kindertageseinrichtungen erfasst wurde. Hierbei standen folgende Fragen im Mittelpunkt: F1: Welche Anforderungen verbinden PFK mit ihrer Tätigkeit in der Sprachförderung? F2: Über welches Fachwissen verfügen PFK im Bereich der Sprachförderung? F3: Welche Merkmale kennzeichnen das sprachliche Handeln von PFK in der Fördersituation? Die Daten wurden mittels quantitativer und qualitativer Methoden erhoben. Zur Erfassung des Fachwissens wurde der standardisierte Fragebogen SprachKoPF v06.1 (Thoma/ Tracy 2013) verwendet. Der Fragebogen enthält 54 Multiple-Choice-Aufgaben und eine Zuordnungsaufgabe und umfasst die Wissensbereiche linguistische Grundlagen, Spracherwerb und Sprachdiagnostik/ Sprachförderung. Die sprachliche Handlungskompetenz in der Fördersituation wurde per Videografie dokumentiert. Zudem wurde mit den PFK ein Leitfadeninterview geführt, das sich aus 30 Fragen zu insgesamt vier Themenbereichen zusammensetzte: Motivation und Tätigkeit in der Sprachförderung, Mehrsprachigkeit, Sprachstandserhebung und Sprachförderung. 4.1 Probanden Insgesamt nahmen 35 PFK aus 16 Kindertageseinrichtungen (34 Frauen und ein Mann) an der Studie teil. Das Alter der PFK lag zwischen 25 und 62 Jahren, die Berufserfahrung der PFK zwischen einem und 41 Jahren. Nach eigenen Angaben verfügten 23 PFK bereits über Vorerfahrungen in der Sprachförderung. 24 PFK gaben an, bereits an Fortbildungen zum Thema Sprache und Sprachförderung teilgenommen zu haben. 4.2 Ergebnisse 4.2.1 Herausforderungen aus Sicht der PFK Zur Beantwortung der Frage, welche Anforderungen PFK mit ihrer Tätigkeit in der Sprachförderung verbinden, wurden folgende Fragen aus den Leitfadeninterviews angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2007) analysiert: — Was macht für Sie eine gute PFK in der Sprachförderung aus? <?page no="138"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits 138 — Was sollte eine PFK ihrer Meinung nach im Bereich der Sprachförderung wissen? — Wie sollte eine PFK in der Sprachförderung selbst sprachlich handeln? Das Datenmaterial wurde paraphrasiert und auf wesentliche Sinngehalte gekürzt. Das daraus entstandene Kategorienraster beinhaltete entsprechend den Fragen drei Hauptkategorien: Merkmale einer guten PFK in der Sprachförderung, Wissen über Sprachförderung und sprachliches Handeln in der Sprachförderung. Im Folgenden werden die Analysen für jede Hauptkategorie vorgestellt. Merkmale einer guten PFK in der Sprachförderung Die Grundlage für ein gutes pädagogisches Handeln in der Sprachförderung sehen 14 der 35 befragten PFK in der Fähigkeit Empathie für die Kinder zu entwickeln. Weiterhin weisen viele Befragte darauf hin, dass eine PFK im Rahmen der Sprachförderung stets motivierend agieren (12 PFK) und selbst Spaß an der Aufgabe ausstrahlen sollte (10 PFK). Also, ich glaube, den ganzen Tag über muss sie einfach Spaß an der Sprache haben. (PFK0101; 29: 49) Auch die Wahrnehmung bzw. das Annehmen des Kindes spielt für die Befragten eine wichtige Rolle. So betonen sechs der Befragten, dass die PFK das Kind so annehmen sollte, wie es ist. Fünf PFK weisen zudem auf die Notwendigkeit hin, in der Fördersituation die Interessen des Kindes zu berücksichtigen. Wissen über Sprachförderung Die Antworten auf die Frage nach dem Wissen einer PFK im Bereich der Sprachförderung lassen sich verschiedenen Wissensfacetten zuordnen. Als besonders zentral scheint für die PFK das Wissen über den kindlichen Spracherwerb zu sein. So gaben 17 Befragte an, dass eine PFK wissen muss, wann ein Kind welche sprachlichen Fähigkeiten erwirbt. Was braucht eine Sprachförderkraft für Wissen? Also ein Basiswissen über Sprachentwicklung, wie verläuft, also, über den Verlauf von Sprachentwicklung. (PFK0103; 19: 16) Erstmal, wie überhaupt der Spracherwerb erfolgt, also wie ein Kind Sprache lernt, jetzt sowohl Erstsprache, als auch Zweitsprache. (PFK0114; 9: 20) Vier PFK erachten auch das Wissen über Sprachentwicklungsstörungen als relevant. Für neun der Befragten gehören ebenso linguistische Grundkenntnisse zum Wissen einer PFK in der Sprachförderung. Weiterhin spielt für <?page no="139"?> Sprachförderung im Elementarbereich 139 einige Befragte auch das Wissen um Methoden (9 PFK) sowie um geeigneten Fördermaterialien (5 PFK) eine wichtige Rolle. Dann sollte man vielleicht verschiedene Methoden kennen zur Sprachförderung. (PFK0120; 23: 39) Und dann natürlich Methodik. Also, ich glaube, die Methodik ist das A und O. (PFK0113; 15: 26) Kenntnisse über den familiären Hintergrund sowie die Sprachbiographie des Kindes sind für sieben der Befragten ebenfalls relevant. Dass eine PFK zur Durchführung von Sprachförderung auch Wissen über die verschiedenen Instrumente zur Erfassung des kindlichen Sprachstandes benötigt, gab lediglich eine PFK an. Sprachliches Handeln in der Sprachförderung Die Antworten zur Frage nach dem sprachlichen Handeln einer PFK spiegeln die Komplexität des Gegenstands wider. Von acht Befragten wird spontan auf die Funktion des Sprachvorbilds verwiesen, die PFK in der Sprachförderung einnehmen sollten: Also als erstes Mal vorbildlich. Vorbildlich. Also, ich denke, man kann nichts von Kindern erwarten, wenn man es ihnen nicht vorlebt. (PFK0135; 14: 15) Der Begriff des Sprachvorbilds wird jedoch anschließend nur von einigen Befragten näher spezifiziert. Zehn der befragten PFK legen Wert auf ein klares und deutliches Sprechen während der Förderung. Sechs PFK betonen die Grammatikalität der Sprache und zwei Befragte geben an, dass die Sprache der PFK aus kurzen Sätzen bestehen sollte. Zudem sollten nach Ansicht von zwei Befragten überwiegend Wörter verwendet werden, die das Kind bereits kennt. Vier der befragten PFK weisen darauf hin, dass eine PFK dem Kind in der Sprachförderung generell viel Input anbieten sollte. Daneben ergänzen einige PFK die Notwendigkeit, Kinder zum Sprechen anzuregen (2 PFK) und die Kinder ausreden zu lassen (5 PFK). Auf den Aspekt des handlungsbegleitenden Sprechens verweisen vier PFK. Auch die Reaktion auf kindliche Äußerungen wird von den PFK thematisiert. So geben sechs PFK an, dass eine fehlerhafte Äußerung des Kindes in angemessener Weise korrigiert werden sollte. nicht ständig verbessern, sondern einfach nur wiederholen, was das Kind gesagt hat und dann richtig wiederholen, damit die Kinder das auch richtig hören […], aber nicht eben sagen ‚Hier, das hast du falsch gesagt. Das stimmt so nicht‘. (PFK0116; 15: 20) Lediglich acht der 35 PFK geben an, dass sich die Sprache der Fachkraft in der Sprachförderung am Sprachstand des Kindes orientieren sollte. <?page no="140"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits 140 4.2.2 Fachwissen Zur Erfassung des Fachwissens wurde der standardisierte Wissenstest SprachKoPF v06.1 von Thoma und Tracy (2013) eingesetzt. Die Ergebnisse zeigen, dass die PFK einen durchschnittlichen Wert von .29 (SD = .17, Spanne .04 bis .62) erreichen. 2 Damit liegen sie unter dem von Thoma und Tracy (2013) berichteten Durchschnittswert von .39. Jedoch weisen die Ergebnisse von Thoma und Tracy (2013) mit einer Spanne von .00 bis .84 eine größere Varianz innerhalb der Probandengruppe auf. Die Auswertung gemessen an den Wissensbereichen linguistische Grundlagen, Spracherwerb und Sprachdiagnostik/ Sprachförderung zeigt, dass mit einem durchschnittlichen Wert von .40 für den Wissensbereich Spracherwerb die besten Leistungen dokumentiert werden konnten (SD = .15; Spanne: .0-.72), gefolgt vom Wissensbereich Sprachdiagnostik/ -förderung mit einem Durchschnittswert von .36 (SD = .29; Spanne: .00-.89). Mit einem durchschnittlichen Wert von .26 (SD = .19; Spanne: .00-.64) wurde für den Wissensbereich linguistische Kenntnisse die geringsten Leistungen gemessen. 4.2.3 Sprachliches Handeln Zur Analyse des sprachlichen Handelns wurden aus der Gruppe der 35 PFK exemplarisch sechs PFK ausgewählt. Grundlage dafür bildeten die Ergebnisse im SprachKoPF-Wissenstest. Ausgehend von der Verteilung der erreichten Einzelergebnisse wurde die Gesamtgruppe der PFK in drei Untergruppen geteilt (Gruppe 1: Gesamtscores bis .25; Gruppe 2: Gesamtscores von .26 bis .50; Gruppe 3: Gesamtscores von .51 bis .75). Aus jeder dieser Untergruppen wurden zwei PFK nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, deren Videoaufnahmen analysiert wurden. 3 Die PFK 0106 und 0123 erreichten im Wissenstest einen Wert von .10 bzw. .11 und verfügen somit über ein vergleichsweises geringes Fachwissen. Die PFK 0107 und 0128 verfügen mit einem Wert von je .40 über ein Fachwissen im mittleren Bereich. Die PFK 0105 und 0120 verfügen mit einem Wert von .57 bzw. .60 über ein vergleichsweise großes Fachwissen. Die Dauer der videografierten Fördersequenzen lag zwischen sieben und 40 Minuten. Alle PFK führten Sprachförderung in Kleingruppen durch, die von drei bis sechs Kindern mit Deutsch als Zweitsprache im Alter zwischen 2 Bei einer vollständig zufälligen Beantwortung aller Fragen erhält die PFK einen Gesamtwert von 0. Der erreichbare Maximalwert ist 1 (vgl. Thoma undTracy, 2013) und steht für eine hohe Sprachförderkompetenz gemäß des Konstrukts zur Sprachförderkompetenz von Hopp et al. 2010. 3 Die sechs ausgewählten PFK haben eine durchschnittliche Berufserfahrung von 16 Jahren (SD = 8 Jahre; Spanne: 6 bis 29 Jahre). Die PFK 0106, 0107, 0120 und 0128 verfügen über Vorerfahrung in der Sprachförderung (Ø = 2,6 Jahre, SD = 2,3 Jahre, Spanne: 1 bis 6 Jahre). Bis auf PFK 0105 haben alle Fachkräfte bereits eine Fortbildung zum Thema Sprache und Sprachförderung besucht. <?page no="141"?> Sprachförderung im Elementarbereich 141 vier und fünf Jahren besucht wurden. Keine der PFK konnte für die dokumentierte Fördersituation ein Förderziel benennen. Tabelle 1 illustriert die inhaltliche Gestaltung der Fördersituationen. PFK Gestaltung der Fördersituation 0123 Die PFK führt mithilfe einer Handpuppe ein Gespräch über die Themen Lieblingsspielzeuge, Freunde und Streit schlichten. 0106 Die PFK spielt mit den Kindern ein Memory-Spiel mit Obst- und Gemüsekarten. 0107 Die PFK spielt mit den Kindern das Brettspiel Spielhaus: Kinder und PFK würfeln der Reihe nach und laufen mit ihrem Spielstein durch verschiedene Zimmer eines Hauses. 0128 Die PFK spielt mit den Kindern das Spiel Ratz Fatz: die Fachkraft liest den Kindern eine Geschichte vor. Auf dem Tisch liegen verschiedene Gegenstände. Nennt die PFK einen der Gegenstände, müssen die Kinder den Gegenstand ergreifen. 0105 Die PFK spricht mit den Kindern über das Thema Einkaufen von Obst und Gemüse. Danach werden Einkaufssituationen nachgespielt. 0120 Die PFK spielt mit den Kindern ein Spiel zum Thema Familie. Es werden Bezeichnungen für verschiedene Familienmitglieder vorgestellt und unterschiedliche Familienkonstellationen besprochen. Tab. 1: Inhalte der videografierten Fördersituationen Die Analyse des sprachlichen Handelns erfolgt an drei ausgewählten Parametern: Grammatikalität der Sprache, syntaktische Komplexität der Sprache sowie die Responsivität, d.h. die sprachlichen Reaktionen der PFK auf die sprachlichen Äußerungen der Kinder. Grammatikalität Die Aufnahmen der Fördersituationen wurden im CHAT Transcription Format (MacWhinney 2000) transkribiert und die Anzahl der Äußerungen für PFK und Kinder bestimmt. Als Äußerung wurden einfache Matrixsätze, isolierte Phrasen, koordinierte Hauptsätze und Hauptsatz- Nebensatzstrukturen gewertet (vgl. Rothweiler 1993). Angelehnt an das Analyseraster aus Müller et al. (2013) wurden alle Äußerungen zunächst als analysierbar und nicht analysierbar kategorisiert. Als nicht analysierbar wurden Äußerungen kodiert, die lediglich aus Eigennamen, personal-social words (z.B. „danke“, „prima“), Floskeln oder formelhafter Sprache (z.B. „Mein rechter rechter Platz ist frei“) bestanden. Äußerungen, die z.B. durch ein Störgeräusch nicht vollständig zu verstehen waren oder einen Satzab- <?page no="142"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits 142 bruch enthielten, wurden ebenfalls von der Analyse ausgeschlossen. Auch Liedtexte und vorgelesene Textpassagen aus Büchern wurden nicht berücksichtigt. Alle restlichen Äußerungen galten als analysierbar. Im nächsten Schritt wurden die analysierbaren Äußerungen als grammatisch oder nicht grammatisch kategorisiert. Eine Äußerung wurde als grammatisch gewertet, wenn sie im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch als grammatisch angesehen wird, so beispielsweise auch weil- Nebensätze mit Verbzweitstellung (vgl. Antomo/ Steinbach 2010). Als nicht grammatisch wurde eine Äußerung eingestuft, wenn sie z.B. einen Genus- oder Kasusfehler enthielt. Tabelle 2 fasst die Ergebnisse zusammenfassen. PFK0123 PFK0106 PFK0107 PFK0128 PFK0105 PFK0120 Analysierbare Äußerungen 206 102 465 500 314 407 Grammatische Äußerungen 98,1 % (202) 100 % (102) 99,6 % (463) 99,6 % (498) 100 % (314) 98,8 % (402) Tab. 2: Anteil grammatischer Äußerungen (Der Wert in Klammern berichtet die absolute Anzahl der Äußerungen) Die Analysen zeigen, dass die Äußerungen aller PFK fast ausschließlich grammatisch sind. Die wenigen nicht grammatischen Äußerungen sind in den überwiegenden Fällen durch einen falschen Kasus bestimmt. Syntaktische Komplexität Die syntaktische Komplexität einer Äußerung lässt sich an der Stellung des finiten Verbs einschätzen und unterscheiden. Basierend auf dem topologischen Feldermodell (vgl. Höhle 1985) gibt es im Deutschen zwei mögliche Verbpositionen: die linke und die rechte Satzklammer. Für die deutsche Sprache ist die Asymmetrie der Verbstellung des finiten Verbs in Haupt- und Nebensätzen charakteristisch. Im Hauptsatz steht das finite Verb in dernlinken Satzklammer (Verbzweitposition), nicht-finite Verben und Verbpartikel in der rechten Satzklammer. Im Nebensatz steht das finite Verb in der Regel in der rechten Satzklammer (Verbendstellung) und wird somit nach den nicht-finiten Verben platziert. In der linken Satzklammer stehen nebensatzeinleitende Elemente wie Konjunktionen. Der Erwerb der zugrundeliegenden Struktur deutscher Sätze stellt für Kinder somit eine anspruchsvolle Aufgabe dar, bei der die PFK die Kinder durch die Darbietung zielgerichteter Strukturen unterstützen können. Für die Förderung bedeutet dies, dass Haupt- und Nebensatzstrukturen zusammen dargeboten werden sollten (vgl. Schulz/ Tracy/ Wenzel 2008). <?page no="143"?> Sprachförderung im Elementarbereich 143 Für die synatktische Analyse wurden die als grammatisch eingestuften Äußerungen der PFK in Äußerungen mit finitem Verb, Äußerungen mit nichtfinitem Verb und Äußerungen ohne Verb unterteilt (Tabelle 3). PFK0123 PFK0106 PFK0107 PFK0128 PFK0105 PFK0120 Äußerungen mit finitem Verb 91,6 % (185) 31,4 % (32) 65,9 % (305) 75,3 % (375) 79 % (248) 81,3 % (327) Äußerungen mit nicht-finitem Verb 1 % (2) 0 % 4,3 % (20) 4,6 % (23) 1,6 % (5) 2,2 % (9) Äußerungen ohne Verb 7,4 % (15) 68,5 % (70) 29,8 % (138) 20,1 % (138) 19,4 % (61) 16,4 % (66) Tab. 3: Syntaktische Komplexität der Äußerungen (Der Wert in Klammern berichtet die absolute Anzahl der Äußerungen) Die Daten zeigen, dass fast alle PFK mehr Äußerungen mit Verben als Äußerungen ohne Verben produzierten. Dabei wurden fast durchgängig mehr Äußerungen mit finitem Verb produziert. Eine Ausnahme bilden die Daten der PFK0106. Hier überwiegt der Anteil der verblosen Äußerungen deutlich. Im darauffolgenden Analyseschritt wurde überprüft, wie viele Haupt- und Nebensatzstrukturen in den Äußerungen mit finitem Verb enthalten sind. Wie Tabelle 4 zeigt, produzieren alle PFK deutlich mehr Hauptals Nebensatzstrukturen. Der Anteil der produzierten Nebensatzstrukturen variiert zwischen den PFK. Responsivität Um Aussagen über die Responsivität des sprachlichen Inputs treffen zu können, wurden die Reaktionen der PFK auf alle fehlerhaften Äußerungen der Kinder analysiert. Dabei wurde insbesondere überprüft, inwiefern implizite Rückmeldetechniken, wie z.B. das korrektive Feedback, angewendet wurden. Zunächst wurden die analysierbaren Äußerungen der Kinder als grammatisch bzw. nicht grammatisch klassifiziert. Bei den nicht grammatischen Äußerungen wurde die darauffolgende Reaktion der PFK analysiert. Dabei wurde klassifiziert, ob die PFK in der folgenden Äußerung strukturell einen Bezug zur Äußerung des Kindes herstellte und wenn ja, ob sie implizit oder explizit die Äußerung des Kindes aufgriff. Tabelle 5 fasst die Ergebnisse für die Auswertung zusammen. <?page no="144"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits 144 Die Daten zeigen, dass der Anteil ungrammatischer Äußerungen der Kinder in den Fördergruppen zwischen 9 % und 22,9 % liegt. Im Schnitt reagierten die PFK auf jede vierte ungrammatische Äußerung. Dabei werden fast ausschließlich implizite Rückmeldetechniken eingesetzt. PFL0123 PFK0106 PFK0107 PFK0128 PFK0105 PFK0120 Gesamtanzahl Haupt- und Nebensatzstrukturen 232 34 338 453 339 387 Hauptsatzstrukturen 79,3 % (184) 97,1 % (33) 92,6 % (313) 84,3 % (382) 72 % (278) 85 % (329) Nebensatzstrukturen 20,7 % (48) 2,9 % (1) 7,4 % (25) 15,6 % (71) 18 % (61) 15 % (58) Tab. 4: Anzahl der produzierten Haupt- und Nebensatzstrukturen (Der Wert in Klammern berichtet die absolute Anzahl der Äußerungen) PFK0123 PFK0106 PFK0107 PFK0128 PFK0105 PFK0120 Fehlerhafte Äußerungen der Kinder 10,4 % (7) 21,7 % (13) 9 % (20) 17,7 % (52) 22,9 % (41) 15,7 % (41) Reaktion der PFK 14,3 % (1) 23,1 % (3) 40 % (8) 34,6 % (18) 34,1 % (14) 24,45 % (10) Anzahl impliziter Reaktionen 100 % (1) 100 % (3) 100 % (8) 94,4 % (17) 100 % (14) 100 % (10) Anzahl expliziter Reaktionen 0 0 0 5,6 % (1) 0 0 Tab. 5: Anzahl der Reaktionen der PFK auf fehlerhafte Äußerungen der Kinder (Der Wert in Klammern berichtet die absolute Anzahl der Äußerungen bzw. Reaktionen) <?page no="145"?> Sprachförderung im Elementarbereich 145 5 Diskussion und Fazit Im Mittelpunkt der vorgestellten Studie standen die Fragen, welche Anforderungen PFK mit ihrer Aufgabe der Sprachförderung verbinden, über welches Fachwissen im Bereich der Sprachförderung sie verfügen und welche Merkmale ihr sprachliches Handeln in der Förderung kennzeichnen. Die Antworten der PFK im Interview verdeutlichen, dass sie die in den Bildungsplänen formulierten Erwartungen für die Aufgabe der Sprachförderung weitgehend reflektieren. Für das erforderliche Fachwissen stellt das Wissen über die kindliche Sprachentwicklung für die PFK eine entscheidende Größe dar. Das Wissen um Methoden zur Förderung und um linguistische Grundlagen scheint im Vergleich dazu weniger präsent zu sein, ebenso wie das Wissen um Instrumente zur Sprachstandserhebung. Diese Ergebnisse unterstützen den Befund bisheriger Studien (Fried 2007; Gold/ Schulz 2014). Die Ergebnisse des SprachKoPF-Wissenstests unterstützen diese Befunde ebenfalls. Die besten Leistungen erzielten die PFK im Wissensbereich Spracherwerb, gefolgt von den Wissensbereichen Sprachdiagnostik/ Sprachförderung und linguistische Kenntnisse. Das sprachliche Handeln in der Fördersituation ist für die PFK geprägt durch den Begriff des „Sprachvorbilds“. Neben deutlichem und klarem Sprechen werden eine grammatische Sprache sowie ein angemessenes Korrekturverhalten als wichtige Aspekte genannt. Eine weitere Differenzierung des sprachlichen Handelns findet jedoch nur eingeschränkt statt. Spezifische Parameter zum sprachlichen Handeln, wie z.B. die syntaktische Komplexität, werden im Interview nicht genannt. Hinsichtlich des Korrekturverhaltens der PFK und der Grammatikalität ihrer Sprache zeigen die Ergebnisse zum sprachlichen Handeln insgesamt nur wenige Unterschiede zwischen den PFK, während die syntaktische Komplexität der Äußerungen zwischen den PFK stark variiert. Ein Zusammenhang zwischen dem Fachwissen der PFK und ihrem sprachlichen Handeln lässt sich auf der aktuellen Datengrundlage nicht herstellen. Jedoch zeigen die Daten, dass das sprachliche Handeln auch von dem für die Förderung gewählten Kontext abhängt. So wählte PFK0106 für die Förderung ein Memory-Spiel, bei welchem sie gehäuft verblose Äußerungen mit überwiegend koordinierten Nominalphrasen produziert (z.B. eine Gurke und eine Tomate). Im Gegensatz dazu enthalten über 90 % aller Äußerungen von PFK0120 ein finites Verb, 20 % aller Sätze wurden als Nebensatzstrukturen klassifiziert. Diese PFK führte in der Förderung ein Gespräch über Lieblingsspielzeuge und Freunde und setzte keine weiteren stützenden Materialien ein. Ein explizites Förderziel konnte keine der sechs PFK nennen. Somit ist fraglich, ob eine Berücksichtigung der sprachlichen Bedürfnisse der Kinder und die entsprechende Ausrichtung der Sprache stattfinden. Obwohl die <?page no="146"?> Anja Müller, Sabrina Geyer & Katinka Smits 146 PFK ein Wissen über den kindlichen Spracherwerb als wichtig erachten und selbst auch über ein breites Wissen verfügen, scheinen sie Unsicherheiten zu haben, sobald es um die Erfassung kindlicher Sprachfähigkeiten und um die Berücksichtigung dieser sprachlichen Fähigkeiten bei der Planung einer konkreten Sprachfördermaßnahme geht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass PFK in ihrer Aufgabe der Sprachförderung noch stärker unterstützt werden müssen - sowohl seitens der Bildungsforschung als auch der Bildungspolitik. Neben geeigneter Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel der Bereitstellung zeitlicher und räumlicher Ressourcenbedarf es in der Aus- und Weiterbildung vor allem transparenter Vorgaben und Erläuterungen zum Vorgehen in der Sprachförderung. Dabei sollte vor allem das planende Handeln, d.h. der Übergang von der Sprachstandsfeststellung zur Förderung, stärker in den Vordergrund gestellt werden. Die Festlegung eines Förderziels verbunden mit der Auswahl von Materialien oder geeigneten Förderkontexten stellen elementare Aspekte für eine erfolgreiche Förderung dar. Die vorgestellten Analysen zum sprachlichen Handeln machen deutlich, welches Potenzial in der Gestaltung der Fördersituation und der Wahl der Methode und des Materials liegt, die je nach Förderziel entsprechend eingesetzt werden sollten. Auch der Aspekt eines zielgerichteten, auf das Förderziel abgestimmten sprachlichen Handelns sollte deutlicher formuliert werden. Die Frage, wie PFK in einer Fördersituation sprechen sollten, wird zwar in den Bildungsplänen durchgängig thematisiert. Allerdings bleiben auch hier die Empfehlungen vor dem Hintergrund der komplexen Aufgabe der Sprachförderung zu allgemein und zu unklar (vgl. Geyer/ Müller 2014), zudem fehlen hier Hinweise zum Vorgehen bei der Planung von Fördersituationen. Darüber hinaus bedarf es auch weiterer Forschung über Gelingensbedingungen von Sprachfördermaßnahmen. Auf Seiten der Sprachdidaktik sollte hier der Fokus verstärkt auf die Frage gelenkt werden, welche Faktoren des sprachlichen Handelns für eine effektive Förderung maßgeblich sind und wie diese miteinander interagieren. Literatur Antomo, M. & Steinbach, M. (2010): Desintegration und Interpretation. Weil-V2-Sätze an der Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 29, 1-37. Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9, 469-520. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen & Staatsinstitut für Frühpädagogik München (2012): Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. 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Lange wurde das Thema jedoch nicht hinreichend in der Lehrerbildung berücksichtigt (Krüger-Potratz/ Supik 2008), und trotz eines in den letzten Jahren stetig wachsenden Problembewusstseins verfügen nicht alle Bundesländer über verbindliche Regelungen zur Einbindung des Themas Deutsch als Zweitsprache (DaZ) in der Lehrerausbildung (Baumann/ Becker-Mrotzek 2014). Becker-Mrotzek et al. (2012) berichten aus einer deutschlandweiten Befragung, dass gut zwei Drittel der befragten Lehrkräfte angeben, in ihrer Ausbildung kein Wissen im Bereich DaZ erworben zu haben. Sie fühlen sich für die sprachliche Förderung ihrer Schüler nicht angemessen vorbereitet (Becker-Mrotzek et al. 2012, vgl. auch Befunde zu studentischen Förderkräften: Michalak 2010). Vor diesem Hintergrund ist es wichtig anzuerkennen, dass sich die Ausbildung der Lehrkräfte derzeit verändert. So müssen zwei Drittel der Lehramtsstudierenden im Primarbereich mittlerweile verpflichtend entsprechende Module absolvieren (Baumann/ Becker-Mrotzek 2014). Es ist aber anzunehmen, dass es vielen berufstätigen Lehrkräften weiterhin an Wissen und Handlungsoptionen für eine zielgerichtete (bildungs-)sprachliche Förderung ihrer Schülerschaft fehlt. Von pädagogischen Fachkräften wird konkret erwartet, dass sie sich mit den Themen Sprache und Sprachentwicklung auseinandersetzen (List 2010; Rothweiler/ Ruberg/ Utecht 2009). Verschiedene empirische Studien haben sich damit beschäftigt, inwieweit die bildungspolitischen Erwartungen an die Sprachförderkompetenzen pädagogischer Fachkräfte im Elementarbereich mit der Praxis übereinstimmen (Fried 2007, 2013; Hendler et al. 2011; Müller/ Geist/ Schulz 2013; Ofner 2014; Thoma/ Ofner/ Tracy 2013). Es ist <?page no="150"?> Daniela Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma 150 davon auszugehen, dass im Sinne einer anschlussfähigen und durchgängigen sprachlichen Förderung der Kinder nach dem Schuleintritt die Sprachförderkompetenz von Lehrkräften im Primarbereich eine vergleichbare Bedeutung hat. Diese wurde in Deutschland kaum untersucht. Das mag daran liegen, dass keine geeigneten Messinstrumente vorliegen. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass die Kompetenzanforderungen zur Sprachförderung im Elementarbereich und im Primarbereich nicht vollständig deckungsgleich sind. So findet im Schulkontext Sprachförderung tendenziell weniger spielerisch statt als in der Kita, und auch die inhaltlichen Schwerpunkte verschieben sich (Bildungssprache, Schriftsprache). Dieser Beitrag eruiert, welche Sprachförderkompetenzen im Primarbereich als relevant angesehen werden, wie sie sich von denen des Elementarbereichs unterscheiden und wie eine standardisierte Messung der Kompetenzen erfolgen kann. Besonders ausführlich setzen wir uns mit dem letztgenannten Punkt auseinander und geben einen Einblick in die Entwicklung und Erprobung von Testitems zur standardisierten Erfassung der Sprachförderkompetenzen von Grundschullehrkräften. Wir diskutieren am Beispiel zweier Items die Schwierigkeit, ein standardisiertes Instrument zu erstellen, das 1) von der Zielgruppe als angemessen erachtet wird, 2) komplexe Sachverhalte soweit vereinfacht, dass eindeutige Antworten und damit eine Bewertung ermöglicht werden und das 3) gleichzeitig relevante Informationen über die Sprachförderkompetenzen von Lehrkräften liefert. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die bisherige Forschung zur Sprachförderkompetenz von Lehrkräften. Anschließend werden Konzeption und Inhalte eines Instruments zur standardisierten Messung der Sprachförderkompetenzen von Lehrpersonen im Primarbereich erläutert. In Kapitel 4 wird der mehrstufige Testentwicklungsprozess anhand empirischer Daten beschrieben. Zwei neu entwickelte Items werden exemplarisch diskutiert. 2 Sprachförderkompetenzen in der Grundschule Was die Sprachförderkompetenz von Grundschullehrkräften ausmacht und wie sie ausgeprägt ist, ist bisher wenig untersucht. Sprachförderung in der Grundschule soll helfen, schriftliche und mündliche Sprachkompetenzen heterogener Klassen auszubauen und so die Voraussetzungen für Lernerfolge aller Kinder in den Grund- und weiterführenden Schulen zu schaffen. Der Erwerb der Bildungssprache ist in diesem Zusammenhang zentral (Redder et al. 2011). Bildungssprache bezeichnet ein Register, das schriftsprachliche Merkmale aufweist (Nominalisierungen, Passiv, Partizipialkonstruktionen etc.) und dessen Sprachgebrauch sich durch weitgehende Dekontextualisierung auszeichnet (Gogolin 2009). Es unterscheidet sich <?page no="151"?> Sprachförderkompetenz in der Grundschule messen 151 lexikalisch, morphosyntaktisch und textlich von dem der Alltagssprache. Beim Lernen und Lehren in der Schule und im akademischen Bereich spielt Bildungssprache eine zentrale Rolle in Lehrwerken, -aufgaben und in der Unterrichtskommunikation (Gogolin/ Lange 2011). Die Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen ist demnach eine zentrale Aufgabe der Lehrkräfte. Allerdings liegen keine gesicherten Erkenntnisse dazu vor, welche Art von Sprachförderung in der Grundschule wirksam ist. Zum einen sind die Förderansätze sehr heterogen und oft nur unzureichend theoretisch fundiert, zum anderen fehlt es an kontrollierten Interventionsstudien (Müller 2014; Paetsch et al. 2014; Redder et al. 2011). Grundsätzlich sind in diesem Bereich auch allgemeine Fragen der Methodik von Sprachförderung, z.B. nach dem Maß an Explizitheit, noch offen. Unklar ist auch, ob Sprachförderung ganzheitlich oder isoliert erfolgen soll (Redder et al. 2011). Es ist deshalb relativ schwierig festzulegen, über welche Kompetenzen Lehrkräfte im Bereich Sprache, Spracherwerb, Sprachdiagnostik und -förderung verfügen sollten. Es ist deshalb relativ schwierig festzulegen, über welche Kompetenzen Lehrkräfte im Bereich Sprache, Spracherwerb, Sprachdiagnostik und -förderung verfügen sollten. Die wenigen Studien, die sich mit den vorhandenen Sprachförderkompetenzen der Lehrkräfte auseinandersetzen, sind meist sehr spezialisiert. So untersuchte Michalak (2010) im Rahmen des Mercator- Förderunterrichts an Hauptschulen mit Leitfadeninterviews an 32 Lehramtsstudierenden, wie diese ihre eigenen DaZ-Lehrkompetenzen einschätzen. Dabei zeigte sich, dass sich die Förderlehrkräfte v.a. in der Anfangsphase überfordert fühlen, da es ihnen ihrer Meinung nach an fundiertem Wissen über Sprache und DaZ sowie konkreten Handlungsmöglichkeiten fehlt. Grießhaber (2014) untersuchte in einer Pilotstudie im Rahmen der Begleitforschung zur Entwicklung von Konzepten der Lehrerausbildung für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen die sprachbezogenen Lehrkompetenzen von Lehramtsstudierenden für das Grundschul- und Gymnasiallehramt. Erfragt wurden deklaratives Wissen und Handlungswissen zur Einschätzung zu erwartender Schwierigkeiten im Bildungserwerb im Zusammenhang mit DaZ, sowie zu sprachlichen Aspekten von Fachtexten, Arbeit mit Unterrichtsmaterialien und Umgang mit sprachlich heterogenen Klassen. In geschlossenen Frageformaten wurde die Zustimmung zu bestimmten Aussagen (z.B. „Flüssiges Sprechen auf Deutsch ist eine sichere Grundlage auch für gute Fachleistungen“ (Grießhaber 2014: 281) sowie die Beurteilungen der Schwierigkeit von Sachtexten erfragt. Außerdem gaben die Studierenden in offenen Antwortformaten Begründungen für ihre Einschätzungen an. Grießhaber stellt fest, dass Studierende, deren grammati- <?page no="152"?> Daniela Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma 152 sche Kenntnisse weniger gut ausgeprägt sind, die Schwierigkeit von Texten in Schulbüchern nur unzureichend beurteilen können. Darüber hinaus beschäftigten sich zwei Forschergruppen mit den Kompetenzen von Lehrkräften im SekI-Bereich. Im Rahmen der TEDS-LT Studie, in der die Lehrkräfteausbildung in verschiedenen Fächern längsschnittlich beforscht wurde, wurde das Wissen von fast 1000 Lehramtsstudierenden im Fach Deutsch (5. Semester) in den Bereichen Linguistik, Literaturwissenschaft und Fachdidaktik mit einem Test mit offenen und geschlossenen Frageformaten erfasst (Bremerich-Vos et al. 2011). Die Untersuchung ergab, dass das Wissen der Studierenden nicht sehr gut ausgeprägt ist und dass es eine relativ geringe Korrelation zwischen linguistischem und literaturwissenschaftlichem Wissen sowie jeweils mit fachdidaktischem Wissen gibt. Im Projekt DaZKom wurde ein Kompetenzmodell und darauf aufbauend ein Testinstrument zur Erfassung der DaZ-Kompetenzen angehender (Mathematik-)Lehrkräfte entwickelt und evaluiert (Köker et al. i.D.). Inhaltliche Bereiche sind das linguistische Fachregister, Mehrsprachigkeit und Sprachdidaktik, die noch weiter in Subdimensionen und Facetten ausdifferenziert werden. Die Items erfassen die DaZ-Kompetenzen der Lehrkräfte mit offenen, halboffenen und geschlossenen Antwortformaten. Das Modell umfasst derzeit drei Niveaustufen und wird weiterentwickelt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die empirische Erfassung der Sprachförderkompetenzen von Lehrkräften am Anfang steht und oft über Selbsteinschätzungen und der Abfrage von Meinungen erfolgt, woraus indirekte Rückschlüsse auf das sprachförderrelevante Wissen gezogen werden. Elaborierte Sprachförderkompetenzmodelle und standardisierte Instrumente zur Erfassung der Ausprägung der Kompetenzen liegen zwar für den Elementar- und Sekundarbereich vor (Bremerich-Vos et al. 2011; Hendler et al. 2011; Köker et al. i.D.; Thoma/ Ofner/ Tracy 2013). Sie lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres auf Lehrkräfte im Primarbereich übertragen bzw. anwenden. Auf konzeptueller Ebene gestaltet sich der Transfer relativ plausibel, wie die folgende Anwendung eines Modells aus dem Elementarbereich zeigt. In Anlehnung an allgemeine Kompetenzmodelle aus dem schulischen Bereich (Shulman 1986) haben Hopp/ Thoma/ Tracy (2010) ein linguistisches Modell von Sprachförderkompetenz entwickelt, das grundlegende Kompetenzen im Bereich Sprache und Sprachförderung beschreibt, unabhängig von spezifischen Förderansätzen. Für erfolgreiche Sprachförderung sollte eine pädagogische Fachkraft nach diesem Modell über bereichsspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die es ihr ermöglichen, ausgehend vom Sprachstand des zu fördernden Kindes, den natürlichen Spracherwerbsprozess nachzubilden (Hopp/ Thoma/ Tracy 2010: 612). Das bereichsspezifische Wissen umfasst dabei Kenntnisse über das System Sprache, Spracherwerb und Mehrsprachigkeit sowi e über Sprachdiagnostik und -förderung. Die prinzipielle Fähigkeit sprachdiagnostische Maßnahmen <?page no="153"?> Sprachförderkompetenz in der Grundschule messen 153 auszuwählen, anzuwenden und auszuwerten sowie Sprachfördermaßnahmen durchzuführen und zu reflektieren wird bei Hopp/ Thoma/ Tracy als Können bezeichnet. Die Umsetzung von Wissen und Können in sprachfördernde Handlungen unter den gegebenen Echtzeit- und Randbedingungen stellt die Komponente Machen dar. Für Grundschullehrkräfte bedeutet das, dass sie zur angemessenen Förderung der sprachlichen Entwicklung ihrer Schüler grundlegende Kenntnisse über das System Sprache und diagnostische und didaktische Kompetenzen zur Umsetzung dieses Wissens benötigen. Lehrkräfte sind gefordert, den Unterricht sprachlich angemessen zu gestalten und sprachlich benachteiligte Kinder gezielt im (Fach-)Unterricht zu fördern. Will man die Ausprägung dieser Sprachförderkompetenzen untersuchen, sieht man sich mit dem Problem konfrontiert, dass sie in ihrer Komplexität durch Selbsteinschätzungen nur unzureichend erfasst werden kann und Analysen von tatsächlichem Handeln der Lehrkräfte zur Gewinnung generalisierbarer Befunde meist zu aufwändig sind. Unseres Wissens existiert kein Verfahren, mit dem die Sprachförderkompetenz von Lehrkräften im Primarbereich (auch nicht-sprachlicher Fächer) standardisiert und ökonomisch gemessen werden kann. Im Folgenden beschreiben wir ein Forschungsprojekt, das sich dieser Aufgabe widmet. 3 Konzeption: standardisierte Messung der Sprachförderkompetenz im Primarbereich Grundlage für die hier vorgestellte Testentwicklung war das Verfahren SprachKoPF v071 , mit dem das sprachförderrelevante Wissen und Können pädagogischer Fachkräfte im Elementarbereich standardisiert gemessen werden kann (Roth/ Ofner/ Thoma 2014; Thoma/ Ofner/ Tracy 2013). Als theoretische Grundlage dient das oben beschriebene sprachwissenschaftliche Sprachförderkompetenzmodell von Hopp/ Thoma/ Tracy (2010). Darauf aufbauend und analog zu der für den Elementarbereich entwickelten Testversion sollte eine Testversion für den Einsatz an Grundschulen erarbeitet werden. Da sich die Inhalte überschneiden, wurden sie teilweise übernommen. Insbesondere das grundlegende Wissen über das System Sprache auf den unterschiedlichen Ebenen, aber auch Wissen über Diagnostik und Sprachförderung sind sowohl im Elementarals auch im Primarbereich notwendig. In Abb. 1 sind diese Items im mittleren Block dargestellt. Im linken Block sind die Items aufgelistet, die nur für den Elementarbereich relevant oder 1 Das Verfahren ist in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt SprachKoPF (Sprachliche Kompetenzen pädagogischer Fachkräfte) im Rahmen der Forschungsinitiative Sprachdiagnostik und Sprachförderung (FiSS) entstanden. Förderkennzeichen 01GJ0905 und 01GJ1201. <?page no="154"?> Daniela Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma 154 situativ im Elementarbereich verortet waren. Der rechte Block enthält die avisierten Items für die Grundschulversion. Im Entwicklungsprozess wurde SprachKoPF v07 zunächst hinsichtlich eindeutig kitaspezifischer Items überprüft. Eine Befragung von 46 Grundschullehrkräften mit der Elementarversion sollte Aufschluss über den zielgruppengerechten Anpassungsbedarf geben. Auf dieser Grundlage wurden in einem dritten Schritt neue Items in den relevanten Bereichen generiert. Abb. 1.: Übersicht über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden SprachKoPF- Versionen (SprachKoPF v07 Kita, SprachKoPF Grundschule). Als Ergebnis der Testweiterentwicklung entstanden in einem deduktivrationalen Prozess auf Basis von Expertengesprächen und wissenschaftlicher Fachliteratur, Praxisempfehlungen und empirischen Befunden zu den Themen Sprachentwicklung ein- und mehrsprachiger Kinder im Grundschulalter (Jeuk 2010; Landua/ Maier-Lohmann/ Reich 2008; Schulz 2007), Bildungssprache (Ahrenholz 2010; Feilke 2012; Gogolin/ Lange 2011), Schriftspracherwerb (Gawlitzek 2010; Jeuk 2010; Schneider et al. 2013) und Methoden der Sprachförderung in der Grundschule (Gibbons 2002; Leisen 2010) insgesamt 65 neue Items in den Facetten Wissen und Können des Kompetenzmodells von Hopp/ Thoma/ Tracy (2010). <?page no="155"?> Sprachförderkompetenz in der Grundschule messen 155 Es handelt sich dabei um geschlossene Mehrfachwahlaufgaben, Sortieraufgaben und Bewertungsskalen. Sie dienen beispielsweise dazu, dargebotene Handlungsoptionen in realitätsnahen Situationen zu gewichten oder auszuwählen. 4 Empirische Überprüfung der neu entwickelten Items 4.1 Qualitative Überprüfung von Verständlichkeit und Angemessenheit der Items In einem ersten Schritt wurden alle neu entwickelten Items durch vier Expertinnen für schulische Sprachförderung begutachtet und bewertet. Die Expertinnengruppe war interdisziplinär zusammengesetzt (zwei Linguistinnen, eine Psychologin, eine Erziehungswissenschaftlerin). Sie begutachteten jedes Item hinsichtlich Verständlichkeit und Eindeutigkeit der Fragestellung und Optionen, der Angemessenheit für die Zielgruppe, gaben Hinweise auf Optimierungspotenziale und fehlende Themenbereiche. Die überarbeiteten Items wurden anschließend von drei Grundschullehrkräften bearbeitet. In dieser Untersuchung standen Verständlichkeit und Lesbarkeit der Aufgaben, die Nutzerfreundlichkeit des computerbasierten Tests sowie kognitive Prozesse der Probandinnen während der Bearbeitung im Vordergrund. Die Daten wurden mit der Methode „Lautes Denken“ erhoben, bei der Gedanken und Entscheidungsprozesse während der Bearbeitung der Items verbalisiert werden (vgl. zur Methode van Someren/ Barnard/ Sandberg 1994). Die qualitative Analyse der Aussagen der Probandinnen ergab bei einigen Items weiteren Optimierungsbedarf. Das betraf vor allem unklare Formulierungen oder Situationsbeschreibungen in den Fragestellungen und Antwortoptionen oder die Aufgabenart (z.B. Sortieraufgabe statt Bewertungen auf einer Skala). Ein Item wurde als ungeeignet verworfen. Daraus resultierten 61 Items, die im nächsten Schritt in einer Pilotierung quantitativ überprüft wurden. 4.2 Pilotierung der Items mit Studierenden des Grundschullehramts Die Untersuchung mit Lehramtsstudierenden sollte Aufschluss darüber geben, wie gut die verbliebenen Items streuen und wie attraktiv die Antwortoptionen der einzelnen Aufgaben sind. 4.2.1 Stichprobe und Methode Mithilfe von Dozenten der Fachdidaktik Deutsch/ DaZ an Universitäten und pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Rheinland-Pfalz und Sachsen rekrutierten wir 93 Lehramtsstudierende. Die Studierenden nahmen freiwillig an der Befragung teil und <?page no="156"?> Daniela Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma 156 bearbeiteten die Fragen computerbasiert von zuhause. Sie erhielten eine Aufwandsentschädigung von je 10 €. Da die Datenerhebung nicht unter kontrollierten Bedingungen stattfand, bearbeiteten die Teilnehmerinnen auch die Kurzversion der Wissenkomponente von SprachKoPF v07 Kita. Dies ermöglichte es uns, Ausreißer mit auffällig kurzer Bearbeitungsdauer und/ oder extrem niedrigen Testwerten im Wissen aus den Analysen auszuschließen. Wir nehmen an, dass die Angaben dieser Studierenden aufgrund fehlender Sorgfalt bei der Bearbeitung nicht aussagekräftig sind. Die 85 in den Analysen verbleibenden Probandinnen bearbeiteten die Fragen und Aufgaben innerhalb von im Mittel 77 Minuten (SD = 33). Die Teilnehmerinnen waren zu 98 % weiblich und im Schnitt 23 Jahre alt (SD = 3 Jahre). 77 Teilnehmerinnen studierten Lehramt an Grundschulen, eine Lehramt Sprachheilpädagogik, fünf Lehramt an Real-/ Hauptschulen und zwei Lehramt an Gymnasien. Die Studierenden verteilten sich auf alle Semester, wobei sich die meisten in der Mitte ihrer Studienzeit befanden. 54 Teilnehmerinnen hatten bereits an einem DaZ-Grundlagenseminar teilgenommen. In der SprachKoPF v07 Kita-Kurzversion erreichten die Teilnehmerinnen im Wissen im Schnitt einen Wert von .69 (SD = .18). Zum Vergleich: pädagogische Fachkräfte im Elementarbereich (N = 81) erreichten im Mittel einen Wert von .31 (SD = .21); studentische Sprachförderkräfte (N = 24) .70 (SD = .22); Logopädinnen und Sprachtherapeutinnen (N = 39) .82 (SD = .10), maximal erreichbarer Wert = 1 (Roth/ Ofner/ Thoma 2014). 4.2.2 Ergebnisse der Pilotierung Die Schwierigkeit der getesteten Items nach Ratekorrektur lag zwischen .00 und .86. Items mittlerer Schwierigkeit wurden im Pool belassen. Andere Items wurden als ungeeignet verworfen, z.B., wenn sie nur von sehr wenigen oder von fast allen richtig gelöst wurden. Bei einigen Items wurden durch die Pilotierung Schwachstellen in der Formulierung der Aufgabe bzw. der Antwortalternativen deutlich. Sie werden im nächsten Schritt überarbeitet. In den folgenden Abschnitten stellen wir ein vielversprechendes Item einem problematischen gegenüber, diskutieren Unterschiede zwischen ihnen sowie Möglichkeiten zur Optimierung. Das Item aus dem Bereich Können Diagnostik: Einschätzung Deutsch als Zweitsprache (Abb. 2) ist so konzipiert, dass von der Lehrkraft eine komplexe Einschätzung der Deutschkompetenz eines DaZ-Kindes gefordert wird. Das Kind beschreibt angemessen einen Ort und eine Situation. Die Fehler beschränken sich auf vergessene Satzzeichen, orthografische Fehler und Fehler bei der Genusmarkierung. Die oben abgebildete vierte Antwort ist somit richtig: „Das Kind kann einen Sachverhalt beschreiben, macht jedoch noch viele Rechtschreib- und Genusfehler.“ Die falschen Antwortalternativen, die Ablenker, entsprechen einer jeweils schlechteren Bewertung der Deutsch- <?page no="157"?> Sprachförderkompetenz in der Grundschule messen 157 kompetenz. Die richtige Antwort stellt somit einen Extremwert dar, ebenso wie der Ablenker „Es ist nicht verständlich, was das Kind aussagen möchte“ (Antwort 1), der den anderen Pol des Kontinuums abbildet. Wir erwarteten, dass die Antworten der Probandinnen, die die korrekte Antwort nicht kennen, zu den mittleren Ausprägungen (Antwort 2 und 3) tendieren würden. Gutes Item: Diagnostik Einschätzung DaZ Abb. 2: Item aus dem Bereich Können: Diagnostik Einschätzung Deutsch als Zweitsprache. Empirisch befindet das Item sich mit 40 % richtigen Antworten im mittleren Schwierigkeitsbereich. Items im mittleren Schwierigkeitsbereich können am besten zwischen Merkmalsausprägungen differenzieren (Moosbrugger/ Kelava 2008). Der Ablenker „Das Kind kann einen Sachverhalt beschreiben, hat jedoch noch Förderbedarf in Satzbau, Kasus, Genus und Wortschatz“ wird mit 52 % der Antworten noch häufiger gewählt. Um die beiden Antwortoptionen zu differenzieren, sind genaue grammatische Kenntnisse bzw. ein genaues Analysieren der schriftlichen Produktion des Kindes gefragt. Kasus und Genus müssen unterschieden und korrekt zugeordnet werden. Zudem ist für die korrekte Beantwortung des Items die <?page no="158"?> Daniela Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma 158 Einsicht nötig, dass Satzbau und die Anwendung von Satzschlusszeichen unterschiedliche Dinge sind. Das Item erfüllt somit grundlegende psychometrische Gütekriterien und das Antwortverhalten lässt differenzierte Rückschlüsse auf sprachförderliche relevante Kenntnisse zu. Abb. 3: Verteilung der Antworten der Probandinnen in der Pilotstudie zum Item Diagnostik: Einschätzung Deutsch als Zweitsprache. Problematisches Item: Methodik Anpassung Das Item aus dem Bereich Können Methodik Anpassung erfordert von der Lehrkraft, aus fünf möglichen Handlungsoptionen in einer beschriebenen Situation die beste und damit korrekte auszuwählen. Es soll eine geeignete Methode zur Förderung der Lautlesefähigkeit im Unterricht ausgewählt werden (Antwort 2). Aus Studien ist bekannt, dass das Lautlesen positive Effekte auf basale und hierarchiehöhere Lesekompetenzen hat, wenn im Tandem mit einem Mitschüler oder dem Lehrer gelesen wird (Schneider et al. 2013). Lautleseübungen vor der Gruppe werden hingegen kritisch gesehen und aus grundschuldidaktischer Sicht nicht empfohlen. Unter den Ablenkern ist eine solche eher kontraproduktive Methode zu finden (Antwort 1). Die anderen Methoden sind entweder zu unspezifisch (Antwort 4) oder stellen keine Förderung dar (Antwort 5 und 3). Die Auswertung der Antworten auf dieses Item zeigt, dass es zu einfach ist (vgl. Abb. 5). Mit 86 % richtigen Antworten wurde das Item von fast allen Teilnehmerinnen richtig gelöst. Nur ein Ablenker (1) wird zumindest von einigen gewählt, zwei weitere Optionen von einer zu vernachlässigenden <?page no="159"?> Sprachförderkompetenz in der Grundschule messen 159 Zahl von jeweils zwei Personen (3, 4). Eine Option wurde überhaupt nicht gewählt (5). Grund dafür könnte sein, dass in der Aufgabenstellung schon impliziert ist, dass das Kind eine Förderung erhalten soll. Das schließt diese Antwortoption logischerweise aus und deckt eine fehlerhafte Itemkonstruktion auf. Möglicherweise ist diese Option zudem zu auffällig klischeehaft formuliert und damit als Ablenker erkennbar. Auch Antwort 4 („Das Mädchen benötigt besondere Sprachförderung“) fällt aus dem Rahmen, da sie zu allgemein formuliert ist. Das Item differenziert folglich nicht hinreichend und kann zu leicht über Plausibilitätsabwägungen beantwortet werden, die nur bedingt mit der Zielkompetenz verbunden sind. Abb. 4: Item aus dem Bereich Können: Methodik Anpassung Um das Item zu verbessern, ergeben sich folgende Ansatzpunkte: Die Aufgabenstellung könnte optimiert werden, indem sie offener und weniger voraussetzungsreich formuliert wird. Der Satz „Sie möchten die Leseflüssigkeit durch Lautlesen fördern“ könnte gestrichen und die anschließende Frage „Wie gehen Sie vor? “ in „Was tun Sie? “ umformuliert werden. Option 5 könnte durch eine plausiblere Option zur Leseförderung durch „Viellesen“ (d.h. zur Erhöhung des Lesepensums) ersetzt werden. Viellesen ist potentiell eine gute Methode, um Kindern Zugang zu Literatur zu ermöglichen und zum Lesen anzuregen (Rosebrock/ Nix 2014). Allerdings ist die Wirksamkeit dieser Methode nicht erwiesen und sie erfordert zudem eine hohe Selbstdis- <?page no="160"?> Daniela Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma 160 ziplin der Kinder (Schneider et al. 2013). Im in der Aufgabe beschriebenen Fall ist die Lautlesemethode die sinnvollere Option. Abb. 5: Verteilung der Antworten der Probandinnen in der Pilotstudie zum Item Methodik Anpassung. 5 Diskussion und Ausblick Dieser Beitrag beschäftigte sich mit der Frage, welche Kompetenzen Grundschullehrkräfte für eine durchgängige und gezielte Sprachförderung benötigen und wie diese Kompetenzen in empirischen Studien erfasst wurden. In der Grundschule sind bereichsspezifische Kompetenzen erforderlich, die zum Teil mit denen von Fachkräften im Elementarbereich deckungsgleich sind, sich aber auch in einigen Bereichen unterscheiden, weshalb existierende Modelle und Instrumente aus anderen Bildungsstufen nicht unverändert übernommen werden können. Im Beitrag wurde daher detailliert und an konkreten Beispielen beschrieben, wie das zur reliablen und validen Messung der Sprachförderkompetenz im Elementarbereich bewährte Instrument <?page no="161"?> Sprachförderkompetenz in der Grundschule messen 161 SprachKoPF inhaltlich und methodisch an die Zielgruppe der Lehrkräfte im Primarbereich angepasst wurde. Die Konstruktion guter Items erweist sich als schwierig. Die Items sollen realitätsnahe Situationen und Problemstellungen in Schulen abbilden und so für die Zielgruppe zumindest augenscheinlich relevant sein. Das führt zu teilweise sehr komplexen Fragestellungen und belastet einerseits die Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis der Probandinnen. Andererseits wird in der Antwortkonstruktion/ -auswertung die Identifikation korrekter Antworten erschwert. Um bei der standardisierten Erfassung der Sprachförderkompetenz einen Ausgleich zwischen Authentizität der dargestellten Situationen, Inhaltsvalidität und psychometrischer Machbarkeit zu finden, ist es notwendig, die Komplexität der Fragestellungen soweit zu reduzieren, dass die Aufgaben zum einen bearbeitbar bleiben und zum anderen bei der Auswertung möglichst eindeutig richtige Antworten festgelegt werden können. Dabei passiert es jedoch schnell, dass die Fragestellungen und Antwortvorgaben durch die Vereinfachung trivial, bereichsunspezifisch und wenig aussagekräftig werden. Im nächsten Entwicklungsschritt von SprachKoPF-Grundschule werden die Items nach Vorgaben der klassischen Testtheorie (Moosbrugger/ Kelava 2008) auf Grundlage des Antwortverhaltens weiterer Stichproben reduziert und optimiert. Items, die zu schwierig oder zu einfach sind (Itemschwierigkeit < .20 oder > .70) oder deren Ablenker nicht gewählt wurden, werden aussortiert bzw. überarbeitet. Die übrigbleibenden (optimierten) Items werden zu einer neuen Pilotversion zusammengestellt. Die Differenzierungsfähigkeit dieser Items soll in einer weiteren Pilotierungsstudie mit drei unterschiedlich gut für Sprachförderung im Primarbereich qualifizierten Gruppen überprüft werden: Laien, Grundschullehrkräfte im Beruf und Expertinnen werden die Items bearbeiten. Im Anschluss wird aus denjenigen Items, die zwischen den Gruppen differenzieren und trennscharf sind, eine Betaversion des SprachKoPF-Tests für die Grundschule erstellt. Dafür werden die kitaspezifischen Items in SprachKoPF v07 durch die besten passenden Items ersetzt und zusätzliche Items zu schulspezifischen Themen ergänzt. Unser Ziel ist es zunächst, auf Basis eines theoretischen Modells ein Instrument zur standardisierten Erfassung der Sprachförderkompetenzen von Grundschullehrkräften zu erstellen, das zwischen unterschiedlich gut qualifizierten Lehrkräften unterscheidet und für die Zielgruppe relevant scheint. Welche Relevanz dieses Modell und das abgefragte Wissen und Können für die pädagogische Realität hat, muss anschließend in weiteren Studien geklärt werden, die konkretes Handeln oder indirekte Fördereffekte bei den Kindern untersuchen und in Relation zu den standardisiert gemessenen Sprachförderkompetenzen setzen. Sollte sich das neu entwickelte Verfahren als reliabel erweisen und valide Erkenntnisse liefern, eröffnet sich für Forschungs- und Praxisprojekte die <?page no="162"?> Daniela Ofner, Christine Roth & Dieter Thoma 162 Möglichkeit, zeitökonomisch und standardisiert das bereichsspezifische Wissen und Können von Lehrkräften zu erfassen. In Wirksamkeitsstudien zu Sprachförderung kann damit die Sprachförderkompetenz der beteiligten Lehrkräfte als Variable in die Analysen der Effekte von Sprachfördermaßnahmen aufgenommen werden. Zudem ermöglicht ein solches Verfahren die Erfolgskontrolle von Weiterbildungsmaßnahmen und zeigt Ansatzpunkte zur weiteren Qualifizierung von Lehrkräften auf. Literatur Ahrenholz, B. (2010): Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule. In: Ahrenholz, B. (Hg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr, 15-35. Baumann, B. & Becker-Mrotzek, M. (2014): Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an deutschen Schulen: Was leistet die Lehrerbildung? URL: http: / / www.mercator-institutsprachfoerderung.de/ fileadmin/ Redaktion/ PDF/ Publikationen/ Mercator- Institut_Was_leistet_die_Lehrerbildung_03.pdf [14.9.2015]. Becker-Mrotzek, M.; Hentschel, B.; Hippmann, K. & Linnemann, M. (2012): Sprachförderung in deutschen Schulen die Sicht der Lehrerinnen und Lehrer. URL: http: / / www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/ fileadmin/ Redaktion/ PDF/ Publikationen/ Lehrerumfrage_Langfassung_final_30_05_03.pdf [14.9.2015]. 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London: Academic Press. <?page no="165"?> Claudia Neugebauer Fachpersonal qualifizieren - Videocoaching und Weiterbildung zur Prozessqualität der Sprachförderung im Elementarbereich 1 Einleitung Der Tatsache, dass in der Schweiz die sprachlichen Leistungen von Kindern bereits beim Eintritt in die erste Klasse vergleichsweise stark von ihrer sozialen Herkunft abhängen (vgl. Moser/ Stamm/ Hollenweger 2005; Moser/ Keller/ Zimmermann 2008), wird in den letzten Jahren im Diskurs zur frühen Bildung vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Die frühe Förderung sprachlicher Fähigkeiten wird dabei als ein wichtiger Ansatz zur Verbesserung der Bildungschancen aller Kinder gesehen. Da der Besuch qualitativ guter vorschulischer Einrichtungen sich langfristig günstig auf den Bildungsverlauf von Kindern unterschiedlicher Herkunft auswirkt (vgl. Roßbach/ Klugcniok/ Kuger 2008; Stamm et al. 2012), stellt sich die Frage nach der Qualität der Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachpersonen im Elementarbereich. Hier setzten die im vorliegenden Beitrag vorgestellten Weiterbildungsangebote zur Prozessqualität der Sprachförderung an, die neben der Struktur- und Orientierungsqualität eine entscheidende Rolle spielt. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, einen Einblick in entsprechende Weiterbildungsanagebote 1 mit videobasiertem Coaching im Kontext der Schweizer Bildungslandschaft zu geben. Eine Rolle spielen in diesem Kontext aktuell unterschiedliche Vorstellungen von früher Bildung: ein eher ganzheitliches Konzept von „Bildung als Selbstbildung“ trifft auf einen derzeit einzuführenden kompetenzorientierten Lehrplan. Die vorgestellten Weiterbildungsangebote müssen vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Orientierungsnormen verstanden werden. Der Beitrag wird mit einem kurzen Überblick zu Bildungseinrichtungen für Kinder vor dem Eintritt in die erste Klasse eingeleitet. Dabei geht es zum einen um im „vorschulischen Kontext“ angesiedelte Angebote wie Spiel- 1 Im Rahmen der folgenden von Dieter Isler, Zentrum Lesen der PH FHNW, geleiteten und in Kooperation mit der PH Zürich realisierten Weiterbildungsprojekte wurden seit 2011 über siebzig Video-Coachings durchgeführt: Projekt „FSL - Auf gutem Weg in die Schule - Frühe Sprachbildung lokal entwickeln“ (2010 - 2013); Projekt „FSQ - Frühe Sprachbildung entwickeln - Fachpersonal koordiniert qualifizieren“ (2013 - 2014); Projekt „FSE QUIMS - Frühe Sprachbildung entwickeln“ (seit 2014). <?page no="166"?> Claudia Neugebauer 166 gruppen und Kitas und zum andern um den in der Schweiz zur Volksschule gehörenden Kindergarten. Anschließend wird dargestellt, wie Sequenzen aus videobasierten Coachings, in denen es um die Prozessqualität von Sprachförderung geht, als geeigneter Anknüpfungspunkt für gemeinsame Weiterbildungen mit Fachpersonen aus allen vorgestellten Angebotstypen genutzt werden können. Hierzu werden in der Folge drei konkrete Weiterbildungsprojekte präsentiert. Die vorgestellten Weiterbildungsangebote sind Entwicklungsprojekte, die formativ evaluiert, aber nicht wissenschaftlich begleitet wurden. Abschließend geht es um die oben bereits erwähnten unterschiedlichen Orientierungsnormen. Der Einfluss dieser unterschiedlichen Normen auf das praktische Handeln von Fachpersonen ist ein bisher noch wenig untersuchter Gegenstand. Im Hinblick auf die Entwicklung von Aus- und Weiterbildungsangeboten besteht hier ein vordringliches Forschungsinteresse. 2 Bildungseinrichtungen für Kinder vor dem Eintritt in die erste Klasse - ein heterogenes Feld Bildungseinrichtungen für Kinder vor dem Eintritt in die erste Klasse sind in der Schweiz ein heterogenes Feld. Sie werden von Privatpersonen, Vereinen, Firmen, Kirchgemeinden, Stiftungen, Gemeinden oder Kantonen getragen und zeichnen sich durch ein teilweise sehr verschiedenes Bildungsverständnis sowie durch einen unterschiedlichen Professionalisierungsgrad aus. Ein insbesondere für Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind, wichtiges Angebot, das in den letzten Jahren stark erweitert wurde, sind Kitas. Betrieben werden sie von privaten oder kommunalen Anbietern, von Stiftungen oder Kirchgemeinden. Die Mitarbeitenden der Kitas sind in der Regel Personen mit einem Abschluss als Fachfrau bzw. Fachmann Betreuung, Lernende, die eine entsprechende Berufslehre absolvieren, und Praktikanten. Es werden Plätze für Kinder ab drei Monaten bis sechs Jahren angeboten. Die Kinder besuchen die Einrichtung an einem bis fünf Tagen pro Woche zumeist während halber oder ganzer Tage. Ein weiteres Angebot sind Spielgruppen, die häufig von Privatpersonen, aber auch von Vereinen oder Kirchgemeinden betrieben werden. Spielgruppen richten sich an Eltern von ca. Zweibis Vierjährigen, die ihren Kindern außerfamiliäre Kontakte in einer Gruppe ermöglichen wollen. In vielen Gemeinden und Stadtteilen mit zahlreichen Kindern, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, werden Eltern von Seiten der kommunalen Behörden außerdem ermutigt, ihre Kinder in eine Spielgruppe zu schicken, damit sie mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen. Leiterinnen von Spielgruppen unterliegen keinen beruflichen Standards, können aber auf ein wachsendes Angebot an unterschiedlich umfangreichen Kursen und Lehrgängen zu- <?page no="167"?> Fachpersonal qualifizieren 167 rückgreifen. Spielgruppen werden von den Kindern normalerweise ein bis zwei Mal pro Woche während zwei bis drei Stunden besucht. Die Kosten tragen die Eltern. Bevor sie im sechsten Lebensjahr in die erste Klasse eintreten, besuchen rund neunzig Prozent der Kinder in der Schweiz während zwei Jahren den Kindergarten (vgl. EDK 2014). Die Lehrpersonen des Kindergartens werden an Pädagogischen Hochschulen d.h. auf Tertiärstufe ausgebildet. In den meisten Kantonen ist der Kindergarten heute Teil der Volksschule. Der Besuch ist obligatorisch und unentgeltlich. Die Kinder besuchen den Kindergarten täglich am Vormittag und an einem bis vier Nachmittagen. Wird zusätzlich eine Kita, ein Mittags- oder Tageshort beansprucht, müssen die Eltern die Kosten dafür selber tragen. In vielen Gemeinden und Stadtteilen gibt es unter den Fachpersonen aus den drei hier vorgestellten Angebotstypen nur einen punktuellen oder auch gar keinen Austausch. Die in diesem Beitrag vorgestellten Weiterbildungsangebote verfolgen deshalb neben dem Ziel, die Prozessqualität der Sprachförderung weiterzuentwickeln, ein zweites Ziel: Es geht auch um eine Vernetzung unter benachbarten Einrichtungen mit dem Anliegen, Brücken für Eltern und ihre Kinder zu schlagen. Das Antreffen von bereits Bekanntem 2 in verschiedenen Einrichtungen kann dazu beitragen, dass Eltern und ihre Kinder sich leichter orientieren können und sich schneller vertraut fühlen. Auch eine Begleitung bei Übergängen - z.B. durch gemeinsame Veranstaltungen von Kitas, Spielgruppen und Kindergärten - kann unterstützen, dass Eltern sich gut aufgehoben fühlen, wenn ihr Kind in eine neue Einrichtung eintritt. 3 Die Prozessqualität der Sprachförderung weiterentwickeln Weiterbildungsangebote zur Qualifizierung von Fachpersonal im Elementarbereich, die eine gemischte Teilnehmerschaft mit Mitarbeitenden aus Kitas, Spielgruppenleiterinnen und Lehrpersonen des Kindergartens ansprechen wollen, müssen die im vorangehenden Kapitel beschriebenen heterogene Voraussetzungen berücksichtigen. Damit im Rahmen der Weiterbildung ein fruchtbarer Dialog zu Fragen der sprachlichen Förderung zu Stande kommt, braucht es einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt. Eine Chance liegt hier in der Arbeit mit Videomaterial aus der Praxis der Teilnehmenden. Im Rahmen der weiter unten (siehe Kapitel 4) genauer vorgestellten Weiterbildungen erhalten einzelne Personen aus Einrichtungen des Elementarbereichs einer Gemeinde oder eines Stadtteils ein videobasiertes Coaching. 2 Gemeint sind z.B. Elterninformationen, alltägliche Rituale, Feste, aber auch Bilderbücher, Geschichten, Lieder, Verse usw. <?page no="168"?> Claudia Neugebauer 168 Die vorgestellten Weiterbildungen wurden jeweils mittels eines einfachen Fragebogens projektintern evaluiert. Die nachfolgenden Aussagen beruhen auf diesen Evaluationsergebnissen sowie maßgeblich auf den Erfahrungen der Weiterbildnerinnen. Es handelt sich also um Hinweise zur formativen Einschätzung und Weiterentwicklung der Angebote, d.h. nicht um generalisierbare Forschungsergebnisse. 3.1 Videobasierte Coachings: Genaues Hinschauen möglich machen Im Rahmen des videobasierten Coachings werden die Teilnehmenden zwei Stunden während ihrer Arbeit gefilmt. Der Coach wählt anschließend zwei bis vier kurze Sequenzen aus dem Videomaterial, die sich dafür eignen, die Prozessqualität der Sprachförderung in den Blick zu nehmen. Ausgegangen wird dabei immer von gelungenen Situationen, d.h. von Situationen, die der Coach als „die sprachliche Entwicklung der involvierten Kinder unterstützend“ einschätzt. Im Coaching geht es darum, das Gelungene genau zu analysieren und Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu erkennen. Die ausgewählten Sequenzen eignen sich zudem hervorragend als Arbeitsmaterial für die im Anschluss an die Coachings geplanten Weiterbildungsveranstaltungen, zu denen nicht nur die Teilnehmerinnen des Coachings, sondern alle Mitarbeitende aus den beteiligten Einrichtungen eingeladen sind. Die Prozessqualität der Sprachförderung in Alltagssituationen kann dank der Videoaufnahmen im Rahmen der je spezifischen, bewährten Bildungskulturen der drei Angebotstypen diskutiert werden. Die bei der Arbeit mit fremdem Videomaterial oft gehörte Aussage „bei uns ist es eben anders“ entfällt. Das im eigenen Alltag Mögliche bzw. Machbare wird ins Blickfeld gerückt. 3.2 Das Potenzial von Gesprächen Sprachförderung wird vielfach gleichgesetzt mit didaktisierten Settings, in denen Kinder beispielsweise über ein vorgegebenes Thema oder Bilderbuch sprechen oder mit Spielen wie Memory ihren Wortschatz erweitern und festigen sollen. In den im vorliegenden Beitrag vorgestellten Weiterbildungsangeboten geht es nicht um die Vermittlung solcher didaktisierter Settings, sondern um einen als „situative Sprachförderung“ bezeichneten Ansatz 3 . Gemeint sind damit sich spontan ergebende Gespräche, in denen Erwachsene und Kinder Aufmerksamkeit teilen und gemeinsam längere Gedankenfäden spinnen. Der Fokus liegt dabei stets beim sprachlichen Handeln der erwachsenen Person. Es geht um die Frage, wie sie die Interaktion ausgestaltet (vgl. Isler 2014). Orientierung geben die im Folgenden auf- 3 Dieser „Ansatz der situativen Sprachförderung“ wurde seit 2011 in verschiedenen von Dieter Isler, Zentrum Lesen der PH FHNW, geleiteten Entwicklungsprojekten eingeführt und angewendet. <?page no="169"?> Fachpersonal qualifizieren 169 gelisteten Aspekte von Interaktionsqualität und eine Auswahl von für Kinder im Elementarbereich wichtigen und im Alltag vieler „bildungsorientierter“ Familien präsenten anforderungsreichen Sprachhandlungen. Die folgende Auswahl mit fokussierten Aspekte von Interaktionsqualität und anforderungsreichen Sprachhandlungen beruht auf der datengeleiteten Analyse von Videosequenzen aus dem Projekt FSL 4 . Vier zentrale Aspekte von Interaktionsqualität Rahmung und Steuerung — dem Gespräch einen klaren Rahmen geben (räumlich, zeitlich) — das Gespräch durch sparsame, aber klare Steuerung schützen — alle anwesenden Kinder in für sie passenden Rollen mit einbeziehen Anpassung — genügend Sprechzeit geben und ermutigend zuhören — Initiativen der Kinder erkennen, aufnehmen und weiterführen — das Verstehen signalisieren und Verstehensproblemen angehen Anregung — die Weiterführung und Vertiefung des Gesprächs anregen (z.B. neue thematische Akzente setzen) — neuer Sprachhandlungen initiieren (z.B. vom Bericht zur Erklärung) — zur Übernahme zunehmend initiativer Rollen ermutigen Sprachliche Mittel — sprachliche Fehlformen modellierend bereinigen — neue, spezifische Wörter und Formulierungen anbieten — nicht verstandene Wörter und Formulierungen aufklären Fünf anforderungsreiche Sprachhandlungen Berichten — Erlebnisse beschreiben — distante Sachverhalte beschreiben — eigene Gedanken, Gefühle darstellen Erklären — Sachverhalte und Vorgehensweisen kommentieren, erklären, begründen Erzählen — Geschichten hören (erzählte, vorgelesene) — Geschichten erzählen (bekannte, erfundene) 4 Das Projekt „FSL - Auf gutem Weg in die Schule - Frühe Sprachbildung lokal entwickeln“ wurde 2010 - 2013 unter der Leitung von Dieter Isler, Zentrum Lesen der PH FHNW, durchgeführt. <?page no="170"?> Claudia Neugebauer 170 — fiktive Rollen übernehmen, inszenieren Festhalten und „Lesen“ — Bild- und Schriftmedien handhaben — Bildtexte verstehen und zeichnen — Texte diktieren — Sinn alphabetisch en-/ dekodieren Sprache erkunden — mit Sprache und Schrift spielen und experimentieren — über Schrift und Sprachen reden Das Potenzial von Gespräche mit Kindern wird von pädagogischen Fachpersonen im Elementarbereich häufig unterschätzt oder kaum wahrgenommen (vgl. König 2007). Außerdem zeigt sich im der Autorin zur Verfügung stehenden Material aus videobasierten Coachings, dass zwar auch in nicht didaktisierten Settings viel mit Kindern gesprochen wird. Insbesondere Kinder mit noch geringen Deutschkenntnissen werden aber eher selten in anforderungsreiche Sprachhandlungen eingebunden. Die Interaktionen mit ihnen sind häufig auf das Benennen von Dingen, das Kommentieren von Tätigkeiten oder auf das Instruieren dessen, was gerade zu tun ist, beschränkt. Dekontextualisiertes Sprechen und in Ko-Konstruktion entwickelte längere Gedankengänge („sustained shared thinking“) (vgl. Siraj-Blatchford et al. 2002), die über mehrere Züge und Gegenzüge verlaufen, kommen deutlich seltener vor. 3.3 Erfahrungen mit anforderungsreichen Sprachhandlungen Ausgehend von Videomaterial aus der eigenen Praxis können pädagogische Fachpersonen des Elementarbereichs entdecken, wie die Entwicklung von anforderungsreichen sprachlichen Fähigkeiten in Gesprächen unterstützt werden kann (vgl. Neugebauer/ Isler 2013). Die differenzierte Auseinandersetzung mit Videosequenzen ermöglicht es, dass Teilnehmende mit verschiedenem fachlichen Hintergründen ein gemeinsames Verständnis dafür entwickeln, wie Kinder in Gesprächen als Sprechende oder Zuhörende an anforderungsreichen Sprachhandlungen teilhaben können. Die folgende Gegenüberstellung mit Beispielen aus dem Videomaterial der Autorin zeigt unterschiedliche Sprachhandlungen. In der linken Spalte werden Sprachhandlungen aufgezählt, bei denen es um die Versprachlichung von unmittelbar Vorhandenem oder um Instruktionen geht (z.B. Dinge benennen oder laufende Aktivitäten „in Worte fassen“). In der rechten Spalte sind Sprachhandlungen aufgezählt, die anspruchsvoller sind: Sprache wird auch dekontextualisiert gebraucht und es werden Begründungen oder Erklärungen angeboten. <?page no="171"?> Fachpersonal qualifizieren 171 Einfache Sprachhandlungen, bei denen es um die Versprachlichung von unmittelbar Vorhandenem oder um Instruktionen geht: Anforderungsreiche Sprachhandlungen, bei denen Sprache auch dekontextualisiert gebraucht wird und von der erwachsenen Person Begründungen oder Erklärungen angeboten werden: Ein Wimmelbuch anschauen und Dinge benennen „Schau, ein Hund. Und was ist das? Ein Kind. Das rennt.“ Ein Wimmelbuch anschauen und ausgehend von einzelnen Situationen über eigene Erlebnisse sprechen „Schau, da rennt ein Hund einem Kind nach. Ist dir auch schon ein Hund nachgerannt? “ Dinge benennen, z.B. beim Essen sagen, wie verschiedene Speisen auf Deutsch heißen „Das hier sind Gurken.“ Beim Essen darüber sprechen, wer was wann auch schon gegessen hat „Heute hat es Radieschen im Salat. Wer von euch hat schon mal Radieschen gegessen? “ Beim Basteln Anweisungen geben, was als nächstes getan werden muss „Jetzt nehmt ihr alle die Schere. Wir legen den Leim hier in die Kiste …“ Beim Basteln darüber sprechen, warum was wie gemacht wird „Warum muss man denn hinten einen Knoten machen, bevor man die Perlen auffädelt? “ Beim zusammen Aufräumen sagen, was in welchen Behälter bzw. in welche Schachtel gehört „Die Klötze gehören in diese Kiste. Legos gehören in diese Schachtel.“ Zusammen aufräumen und erklären, warum was wohin gehört „Die Murmeln gehören oben ins Gestell, damit die Kleinen sie nicht holen können, weil sie sie verschlucken könnten.“ Darüber sprechen, was gerade geschieht „Alle Kinder ziehen ihre Jacke aus. Und auch die Mütze, ja.“ Darüber sprechen, was im Laufe des Tages gemacht wurde und wer wann dabei war „Auf dem Spaziergang sind wir zuerst am Brunnen vorbei. Dann sind wir über die Wiese …“ Tab. 1: Das videobasierte Coachings bietet die Möglichkeit, unterschiedlich anforderungsreiche Sprachhandlungen differenziert zu beobachten. <?page no="172"?> Claudia Neugebauer 172 In den im folgenden vorgestellten Weiterbildungen geht es darum, dass die Teilnehmenden mit Hilfe des Videomaterials verstehen, was anforderungsreiche Sprachhandlungen sind und wie sie den Kindern im Sinne des Ansatzes der situativen Sprachförderung viele entsprechende Erfahrungen ermöglichen können. In einer abschließenden Veranstaltung werden die Teilnehmenden jeweils aufgefordert, entsprechende Beispiele aus ihrer Praxis zu schildern und ihre Erfahrungen miteinander zu vergleichen. Sowohl die in den abschließenden Veranstaltungen von den Teilnehmenden mündlich beschriebenen Beispiele als auch Rückmeldungen im Rahmen der projektinternen Evaluation lassen den Schluss zu, dass die Auseinandersetzung mit Videomaterial aus dem eigenen beruflichen Umfeld ein sehr geeignetes Mittel für die Weiterentwicklung der Prozessqualität der Sprachförderung ist. Es gelingt bei den Teilnehmenden Wissen zu Interaktionsqualität und anforderungsreichen Sprachhandlungen aufzubauen, das sie in ihrer pädagogischen Praxis auch anwenden können. 4 Weiterbildungsangebote zur Implementierung des Ansatzes der situativen Sprachförderung in die pädagogische Praxis von Fachpersonen im Elementarbereich Im Folgenden werden drei Projekte vorgestellt, in denen es um Aus- und Weiterbildung zur Prozessqualität der Sprachförderung im Elementarbereich geht. In den ersten beiden Projekten geht es um Fachentwicklung für lokale Teams. Die Implementierung des Ansatzes zur situativen Sprachförderung soll durch personen- und teambezogene Maßnahmen im Praxisfeld erreicht werden. Das dritte Projekt richtet sich an Aus- und Weiterbildungsträger von Fachpersonen im Elementarbereich, die den Ansatz der situativen Sprachförderung in ihren Lehrgängen integrieren wollen. 4.1 Zwei Projekte zur Fachentwicklung für lokale Teams Das erste Projekt mit dem Titel „FSQ - Frühe Sprachbildung entwickeln - Fachpersonal koordiniert qualifizieren“ wurde im Zeitraum 2013 bis 2014 in elf Deutschschweizer Gemeinden bzw. Stadtteile umgesetzt. 5 Mit dem Projekt wurden die folgenden Ziele angestrebt: — Spielgruppenleiterinnen, Kita-Mitarbeitende und Lehrpersonen des Kindergartens lernen sich im Rahmen der Weiterbildung persönlich kennen. 5 Das Projekt „FSQ - Frühe Sprachbildung entwickeln - Fachpersonal koordiniert qualifizieren“ wurde 2013 - 2014 vom Zentrum Lesen der PH FHNW in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich, der Firma thkt familienservice GmbH und der Berufsfachschule Basel realisiert. <?page no="173"?> Fachpersonal qualifizieren 173 Sie nehmen sich als pädagogische Fachpersonen mit teils unterschiedlichen, teils gemeinsamen Aufgaben wahr. — Sie verstehen den Ansatz der situativen Sprachförderung und kennen konkrete Möglichkeiten zu seiner Umsetzung in ihren Praxisfeldern. — Interessierte Teilnehmende setzen sich im Rahmen eines persönlichen Coachings mit ihrem eigenen beruflichen Handeln auseinander. — Alle Teilnehmenden befassen sich anhand von Erfahrungen und Videobeispielen aus den Coachings mit Qualitätsaspekten der Sprachförderung. — Die Teilnehmenden suchen nach Möglichkeiten für eine längerfristige Zusammenarbeit an gemeinsamen Themen. Um den fachlichen Austausch zwischen den Einrichtungen anzuregen bzw. zu stärken, wurden jeweils lokal benachbarte Einrichtungen eingeladen, Fachpersonen anzumelden. Mit Unterstützung einer lokalen Kontaktperson - in der Regel ein für den Elementarbereich zuständiges Mitglied der kommunalen Behörde - wurden in Frage kommende Einrichtungen kontaktiert. Eine Bedingung für die Durchführung der Weiterbildung in einer Gemeinde oder einem Stadtteil war, dass Einrichtungen mit verschiedenen „Angebotstypen“ mitmachten, d.h. es mussten Kitas, Spielgruppen und Kindergärten vertreten sein. Alle Mitarbeitenden aus den beteiligten Einrichtungen waren eingeladen, an zwei Weiterbildungsveranstaltungen teilzunehmen. Im Vorfeld dieser beiden Veranstaltungen wurde jeweils mit sechs Fachpersonen (je zwei aus einem Angebotstyp) ein videobasiertes Coaching durchgeführt. Ausgewählte Videosequenzen und Erfahrungen der am Videocoaching beteiligten Personen bildeten die Grundlage für die beiden Weiterbildungsveranstaltungen mit allen Mitarbeitenden. Das zweite Projekt mit dem Titel „FSE QUIMS - Frühe Sprachbildung entwickeln“ 6 ist eine Weiterentwicklung des oben beschriebenen Projekts. QUIMS steht für das Programm „Qualität in multikulturellen Schulen“, das im Kanton Zürich im Volksschulgesetz verankert ist. QUIMS-Schulen sind durch ein mehrsprachiges Umfeld geprägt. Für Entwicklungs- und Projektarbeit erhalten sie abhängig von ihrer Größe vom Kanton jährliche Beiträge für Weiterbildung und Entwicklungsprojekte. Für die Weiterbildung im Projekt „FSE QUIMS“ können sich Personen anmelden, die in ihrer QUIMS- Schule als Multiplikator zum Aufbau von Knowhow beitragen und längerfristig nachhaltige Teamentwicklung unterstützten wollen. Jeweils zwei Mitarbeitende aus der Kindergartenstufe einer Schule nehmen gemeinsam an der Weiterbildung teil. Anmelden können sich auf der Kindergartenstufe tätige Mitarbeitende wie z.B. Klassenlehrpersonen, Heilpädagogen, Lehrper- 6 Das Projekt „FSE QUIMS - Frühe Sprachbildung entwickeln“ wird vom Zentrum Lesen der PH FHNW in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich und der Firma thkt familienservice GmbH realisiert. <?page no="174"?> Claudia Neugebauer 174 sonen für Deutsch als Zweitsprache oder auch Mitarbeitende aus dem Betreuungsbereich (Hort). Die Weiterbildung erstreckt sich über zwei Schuljahre. Im ersten Jahr erhalten die Teilnehmenden selbst ein videobasiertes Coaching und lernen, wie sie mit Kollegen der Kindergartenstufe und - falls möglich - aus Einrichtungen des Elementarbereichs (Spielgruppe oder Kita) in der Umgebung ihrer Schule kollegiale Coachings mit Videoaufnahmen durchführen können. Im zweiten Jahr führen sie weitere kollegiale Coachings durch und organisieren zwei Austauschtreffen, an denen mit Videosequenzen aus den kollegialen Coachings gearbeitet wird. Wie auch im oben beschriebenen Projekt FSQ geht es zum einen darum, die Prozessqualität der Sprachförderung weiterzuentwickeln. Zum anderen soll auch das Projekt „FSE QUIMS“ zur Vernetzung von Einrichtungen im Elementarbereich beitragen. Die Weiterbildung „FSE QUIMS“ wird zwischen 2014 und 2017 dreimal angeboten. Angestrebt wird, dass die Multiplikatoren nach Abschluss ihrer Weiterbildung kontinuierlich kollegiale Coachings durchführen und Austauschtreffen organisieren, um den Ansatz der situativen Sprachförderung zu verankern und die Vernetzung von Einrichtungen im Elementarbereich in ihrer Gemeinde bzw. in ihrem Stadtteil zu pflegen. Um Nachhaltigkeit sicherzustellen, soll im Schulprogramm der einzelnen QUIMS-Schulen ein entsprechendes Sicherungsziel verankert werden. 4.2 Update für Aus- und Weiterbildungsträger von Fachpersonen im Elementarbereich 7 Mit dem Ziel, den Ansatz der situativen Sprachförderung auch in der Ausbildung von im Elementarbereich tätigen Fachpersonen zu verankern, wurde im Zeitraum 2013 bis 2014 ein Update für Aus- und Weiterbildungsträger angeboten. Angesprochen waren Berufsfachschulen, Höhere Fachschulen, spezialisierte Institute und Fachverbände, die in der Deutschschweiz Aus- und Weiterbildungen für pädagogische Fachpersonen im Elementarbereich anbieten. Es ging in dieser Weiterbildung darum, den in diesen Institutionen tätigen Experten Kenntnisse, Instrumente und Materialien zum „Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung“ (vgl. Wustmann/ Simoni 2012) sowie zur situativen Sprachförderung zugänglich zu machen und sie dabei zu unterstützen, diese Inhalte in ihre Curricula und Veranstaltungen zu implementieren. Dazu wurde eine DVD mit Schulungsmaterialien entwickelt, die mit den Teilnehmenden der Weiterbildung diskutiert wurden. Außerdem konnten maßgeschneiderte „in house“- Fachentwicklungen in Anspruch genommen werden. 7 Dieses Projekt wurde vom Zentrum Lesen der PH FHNW in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich, der Firma thkt familienservice GmbH und dem Marie Meierhofer-Institut realisiert. <?page no="175"?> Fachpersonal qualifizieren 175 5 Unterschiedliche Perspektiven aktueller Steuerungsinstrumente: Bildung als Selbstbildung und Kompetenzorientierung Der aktuelle Diskurs zur frühen Bildung wird - wie eingangs erwähnt - in der Schweiz aus zwei verschiedenen Perspektiven geführt, denen unterschiedliche Orientierungsnormen zugrunde liegen (siehe Abb.1). Während der „Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung“ (vgl. Wustmann/ Simoni 2012) dem Grundsatz der „Bildung als Selbstbildung“ verpflichtet ist, folgt der gegenwärtig in verschiedenen Kantonen einzuführende Lehrplan 21 8 , der sich an alle Stufen der Volksschule richtet, dem Konzept der Kompetenzorientierung. Abb. 1 Verschiedene Orientierungsnormen prägen den aktuellen Diskurs zu früher Bildung in der Schweiz. Einem eher ganzheitlichen Konzept von früher Bildung stehen also curriculare Vorgaben gegenüber. Lehrpersonen der in der Regel zur Volksschule gehörenden Kindergartenstufe müssen ihren Unterricht so gestalten, dass die durch den Lehrplan vorgegebenen durch Minimalstandards definierten Kompetenzen erreicht werden. Die Chance der in diesem Beitrag vorgestellten Weiterbildungsangebote zur situativen Sprachförderung liegt darin, dass Lehrpersonen der Kindergartenstufe darin bestärkt werden, dass frühe sprachliche Bildung nicht durch didaktisierte Settings zu einzelnen Kompetenzen dominiert werden 8 siehe: http: / / www.lehrplan.ch/ . <?page no="176"?> Claudia Neugebauer 176 soll. Grundlage und Motor des Spracherwerbs ist die Ko-Konstruktion von Sinn durch geteilte Aufmerksamkeit zu Themen, die Kinder interessieren. Die sprachliche Förderung junger Kinder muss diesem Grundsatz auch in einem zur Volksschule gehörenden Kindergarten mit einem kompetenzorientierten Lehrplan gerecht werden. Weiterbildungsangebote mit Videomaterial aus der Praxis einer gemischten Teilnehmerschaft mit Lehrpersonen des Kindergartens, Mitarbeitenden aus Kitas und Spielgruppenleiterinnen bieten gute Voraussetzungen zur Vermittlung dieses Anliegens. Von Interesse wären in diesem Zusammenhang Forschungsvorhaben, welche die dem praktischen Handeln von Fachpersonen im Elementarbereich zugrundeliegenden Orientierungsnormen in den Blick nehmen. Es handelt sich hierbei um einen Gegenstand, der bisher im schweizerischen Kontext noch kaum untersucht wurde. Entsprechende Ergebnisse wären für die Entwicklung von nachhaltig wirksamen Weiterbildungsangeboten für Fachpersonal im Elementarbereich von Nutzen. Literatur EDK (Hg.) (2014): Obligatorische Schule: Schuleintritt und erste Jahre. Zusammenstellung von Studien, Projekten und Instrumenten in den Kantonen zur Flexibilisierung und Individualisierung sowie zur Sprachförderung und Sozialisation/ Integration. Bern: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungs- direktoren (EDK). URL: http: / / edudoc.ch/ record/ 111988/ files/ schuleintritt _d.pdf [18.4.2015]. Isler, D. (2014): Situative Sprachförderung in Spielgruppen und Kitas - Alltagsgespräche unter der Lupe. In: Blechschmid A. & Schräpler, U. (Hgg.): Frühe sprachliche Bildung und Inklusion. Basel: Schwabe, 51-62. König, A. (2007): Dialogisch-entwickelnde Interaktionsprozesse als Ausgangspunkt für die Bildungsarbeit im Kindergarten. In: Bildungsforschung 1. Moser, U., Keller, F. & Zimmermann, P. (2008): Soziale Ungleichheit und Fachleistungen. In Moser, U. & Hollenweger, J. (Hgg.). Drei Jahre danach. Lesen, Wortschatz, Mathematik und soziale Kompetenzen am Ende der dritten Klasse. Oberentfelden: Sauerländer, 115-151. Moser, U., Stamm, M. & Hollenweger, J. (Hgg.) (2005): Für die Schule bereit? Lesen, Wortschatz, Mathematik und soziale Kompetenzen beim Schuleintritt. Oberentfelden: Sauerländer. Neugebauer, C. & Isler, D. (2013): Weiterbildung mit videobasiertem Coaching zur situierten Sprachförderung in vorschulischen Einrichtungen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 4, 485-490. Roßbach, H., Klugcniok, K. & Kuger, S. (2008): Auswirkungen eines Kindergartenbesuchs auf den kognitiv-leistungsbezogenen Entwicklungsstand von Kindern. In: Roßbach, H. & Rossfeld, H. (Hg.). Fruhpädagogische Förderung in Institutionen. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften. Sonderheft 11, 139-15. Stamm, M. et al (2012): FRANZ. Fruher an die Bildung - erfolgreicher in die Zukunft? Familiäre Aufwachsbedingungen, familienergänzende Betreuung und kindliche Entwicklung. Schlussbericht. Freiburg: Universität Freiburg. <?page no="177"?> Fachpersonal qualifizieren 177 Siraj-Blatchford, I. et al. (2002): Researching Effective Pedagogy in the Early Years. London and Oxford: Queen's Printer. Wustmann Seiler, C. & Simoni, H. (2012): Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz. Erarbeitet vom Marie Meierhofer Institut für das Kind, erstellt im Auftrag der Schweizerischen UNESCO- Kommission und des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz. Zürich. <?page no="179"?> Autorenverzeichnis Dr. Barbara Geist Universität Leipzig Grundschuldidaktik Deutsch Marschnerstr. 31 04109 Leipzig barbara.geist@uni-leipzig.de Sabrina Geyer Goethe-Universität Frankfurt Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache Norbert-Wollheim-Platz 1 60323 Frankfurt Geyer@em.uni-frankfurt.de Gabriela Ineinchen, lic.phil. Pädagogische Hochschule Schwyz Zaystrasse 42 CH-6410 Goldau T +41 41 859 05 45 gabriela.ineichen@phsz.ch Dr. Dieter Isler Pädagogische Hochschule Thurgau Unterer Schulweg 3 CH-8280 Kreuzlingen 2 +41 (0)71 678 56 45 dieter.isler@phtg.ch Monika Karas Universität Heidelberg Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie Plöck 55 69117 Heidelberg karas@idf.uni-heidelberg.de Prof. Dr. Monika Knopf Johann Wolfgang-Goethe- Universität Institut für Psychologie Entwicklungspsychologie Theodor-W.-Adorno-Platz 6, Hauspostfach 66 60629 Frankfurt am Main knopf@psych.uni-frankfurt.de Dr. Aline Lenel Feldstraße 7, 61352 Bad Homburg, aline.lenel@posteo.de Dr. Anja Müller Goethe-Universität Frankfurt Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache Norbert-Wollheim-Platz 1 60323 Frankfurt Anjamueller@em.uni-frankfurt.de Claudia Neugebauer Pädagogische Hochschule Zürich Fachbereich Deutsch / DaZ Weiterbildung & Beratung Lagerstrasse 2 CH-8090 Zürich claudia.neugebauer@phzh.ch Dr. Nicole Neumeister Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Institut für Sprachen Postfach 220 71602 Ludwigsburg neumeister@ph-ludwigsburg.de <?page no="180"?> Autorenverzeichnis 180 Daniela Ofner Universität Mannheim Lehrstuhl Anglistik I Schloss EW 266 68131 Mannheim daniela.ofner@staff.unimannheim.de Christine Roth Universität Mannheim Lehrstuhl Anglistik I Schloss EW 266 68131 Mannheim mail.christine.roth@googlemail.com Dr. Ulrike Sell Goethe-Universität Frankfurt U.Sell@em.uni-frankfurt.de Katinka Smits Goethe-Universität Frankfurt Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache Norbert-Wollheim-Platz 1 60323 Frankfurt Smits@em.uni-frankfurt.de Dr. Dieter Thoma Universität Mannheim, Lehrstuhl Anglistik I Schloss EW 266 68131 Mannheim dieter.thoma@staff.unimannheim.de Jun.-Prof. Dr. Zeynep Kalkavan- Ayd n Westfälische Wilhelms-Universität Germanistisches Institut Schlossplatz 34 48143 Münster zeynep.kalkavan@uni-muenster.de <?page no="181"?> ISBN 978-3-7720-8595-6 Barkow/ Müller (Hrsg.) Frühe sprachliche und literale Bildung Ingrid Barkow/ Claudia Müller (Hrsg.) Frühe sprachliche und literale Bildung Sprache lernen und fördern im Kindergarten und zum Schuleintritt Der Band befasst sich mit sprachlichen Lernprozessen in der frühen Kindheit, insbesondere im Hinblick auf den Erwerb bildungssprachlicher und literaler Kompetenzen. Der Bildungsauftrag, der inzwischen auch an Kindertageseinrichtungen für Kinder zwischen 0 und 6 Jahren herangetragen wird, verlangt nach einer Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte, die in diesen Einrichtungen tätig sind. Die Beiträge richten sich an Personen, die in der akademischen Ausbildung dieser Fachkräfte Diagnose- und Förderkompetenzen im sprachlichen Bereich fachlich fundieren und re ektieren.