Goethe, Flaubert, Kafka und der schöne Schein
Zur Kritik der Literatursprache in den "Lehrjahren", der "Education sentimentale" und im "Verschollenen"
0912
2016
978-3-7720-5597-3
978-3-7720-8597-0
A. Francke Verlag
Marcel Krings
Alle Literatur arbeitet mit begrifflich vermitteltem Schein, der Sachverhalte bildhaft vor Augen stellt. Keineswegs muss er dabei wahrheitsgetreu verfahren: Gerade der schöne Schein kann auch für Strategien des make believe nutzbar gemacht werden. In Goethes "Lehrjahren", Flauberts "Education sentimentale" und Kafkas "Verschollenem" weist die Studie erstmals das Verfahren einer doppelten Buchführung nach, die dem exoterischen Schein der Textoberfläche nicht glaubt, ihn durchstreicht und auf ein esoterisch Gemeintes durchsichtig macht. Indem die Texte, deren Verfasser sich als literarische Vorbilder begriffen, dabei in ihrer Filiation betrachtet werden, schließt die Arbeit zugleich eine Forschungslücke und belegt zum Einen, dass die bilderkritische Negativität der Weimarer Klassik noch die Prosa der Moderne grundiert. Zum Anderen bietet die Studie eine neue Deutung der Romane, die zeigt, in welchem Maße der schöne Schein bisherige Lesarten bestimmte und welche Thematik sich eigentlich hinter ihm und seinen Bildern verbirgt.
<?page no="0"?> 978-3-7720-8597-0 Alle Literatur arbeitet mit begrifflich vermitteltem Schein, der Sachverhalte bildhaft vor Augen stellt. Keineswegs muss er dabei wahrheitsgetreu verfahren: Gerade der schöne Schein kann auch für Strategien des make believe nutzbar gemacht werden. In Goethes Lehrjahren, Flauberts Education sentimentale und Kafkas Verschollenem weist die Studie erstmals das Verfahren einer doppelten Buchführung nach, die dem exoterischen Schein der Textoberfläche nicht glaubt, ihn durchstreicht und auf ein esoterisch Gemeintes durchsichtig macht. Indem die Texte, deren Verfasser sich als literarische Vorbilder begriffen, dabei in ihrer Filiation betrachtet werden, schließt die Arbeit zugleich eine Forschungslücke und belegt zum Einen, dass die bilderkritische Negativität der Weimarer Klassik noch die Prosa der Moderne grundiert. Zum Anderen bietet die Studie eine neue Deutung der Romane, die zeigt, in welchem Maße der schöne Schein bisherige Lesarten bestimmte und welche Thematik sich eigentlich hinter ihm und seinen Bildern verbirgt. www.francke.de Marcel Krings Goethe, Flaubert, Kafka und der schöne Schein Goethe, Flaubert, Kafka und der schöne Schein Zur Kritik der Literatursprache in den »Lehrjahren«, der »Education sentimentale« und im »Verschollenen« Marcel Krings <?page no="1"?> Goethe, Flaubert, Kafka und der schöne Schein <?page no="3"?> Marcel Krings Goethe, Flaubert, Kafka und der schöne Schein Zur Kritik der Literatursprache in den »Lehrjahren«, der »Education sentimentale« und im »Verschollenen« <?page no="4"?> Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb/ dnb.de abrufbar. Titelbild: Rene´ Magritte: La lunette d’approche © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 Die vorliegende Studie wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Juli 2015 als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigingen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8597-0 <?page no="5"?> Für Marit und Sophie <?page no="7"?> Dank Eine Habilitation ist nahezu immer ein unabsehbares Unterfangen. Sogar Mephisto weiß: »Gewöhnlich geht’s am Ende scharf«, und er hätte nur hinzufügen müssen, dass es auch unterwegs manche Klippe zu umschiffen gilt. Dass die Abfassung dieser Arbeit schließlich gelang, habe ich nicht zuletzt der Unterstützung zu verdanken, die mir von vielen Seiten zuteil geworden ist. An erster Stelle möchte ich mich bei meinem akademischen Lehrer Dr. habil. Peter Pfaff bedanken, der für mich über die Jahre ein ebenso selbstloser wie kompetenter Gesprächspartner und pointiert-kritischer Berater gewesen ist. Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Borchmeyer und Prof. Dr. Helmuth Kiesel haben mich nicht nur im universitären Alltag begleitet, sondern mir über Semester hinweg auch die Gelegenheit gegeben, in gemeinsamen Lehrveranstaltungen bzw. in Kolloquien einige der hier versammelten Thesen vorzustellen und zu diskutieren. Dafür gebührt ihnen mein herzlicher Dank. Eine Gastdozentur an der Universität Paul Vale´ry (Montpellier) bot mir im Jahre 2010 die Möglichkeit, die französische Flaubertforschung in besonderem Maße zur Kenntnis nehmen zu können. Allen Beteiligten gilt dafür mein Dank, ebenso Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Borchmeyer, Prof. Dr. Oliver Jahraus und Prof. Dr. Christof Weiand für ihre Gutachten über die Arbeit. Für Anregungen und Kritik bin ich daneben Dr. Daniela Mantovan-Kromer, Dr. Wolfgang Kelsch und Irina Dünnwald-Jabotinsky, besonders aber Dr. Michael Weber zu Dank verpflichtet. Für ihre vielfältige, unverzichtbare Hilfe bei Korrektur, Satz und Recherche sei Stefan Makrutzki, Caroline Eckrich, Sören Herbst, Telse Sundermann und Eva Wombacher gedankt. Dem Lektor des Francke-Verlags, Tillmann Bub, danke ich für seine umsichtige Betreuung und für die Aufnahme der Arbeit ins Verlagsprogramm. Darüber hinaus wäre diese Arbeit ohne die interessierte und vielfältige Unterstützung, die ich von der leider schon 2013 verstorbenen Marlies Hellwig, von Bernd Hellwig sowie von meiner Mutter, Christel Krings, erfahren habe, ohne die Langmut, mit der vor allem meine Frau mir zur Seite stand und ebenso wie meine beiden Kinder meine Rückzüge ins Arbeitszimmer ertragen hat, wohl nicht leicht entstanden. Nicht zuletzt dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Heidelberg, im Juli 2016 Marcel Krings <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. »Hokuspokus« und »Mystifikationen«. Zur Kritik der ästhetischen Bilder in Goethes Lehrjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1 Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1.1 Exoterik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.2 Esoterik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2 Goethes Poetologie der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3 Kunstkritik in den Lehrjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.3.1 Tasso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.3.2 Das Gemälde vom kranken Königssohn, Natalie und das Romanende 67 2.3.3 Die Verleihung des Lehrbriefs und die Pragmapoetik des Turms . . 85 2.3.4 Mignon und der Harfner . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.4 Erziehung und Turmpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.5 Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie . . . . . . . . . . . . . . . 136 2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte . . . . . . . 169 3. »En haine du re´alisme«. Die zwei Seiten des style in Flauberts Education sentimentale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3.1 Flaubert und die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3.1.1 Flaubert, der Realist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.1.2 Flaubert, poe`te de la forme . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3.2 Flaubert und die Selbsterfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l’exte´rieur« . . . . . . . . . . 198 3.4 Die Genese des style : Exoterik und Esoterik . . . . . . . . . . . . . 209 3.5 Sprachkritik und Poetik des Zitats . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe« . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3.6.1 Die Psychologie eines Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . 227 3.6.2 Ästhetischer Transfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3.7 Die Lehrjahre und die Education -Romane . . . . . . . . . . . . . . 243 3.7.1 Bildung und Schwärmerei . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 3.7.2 Wilhelm und Fre´de´ric: der Typus des irreflexiven jungen Mannes . 250 3.7.3 (K)ein Ende der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3.8 Flauberts stilistisches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 4. »Mißverstehe die Sachlage nicht.« Doppelte Buchführung und ›neues Judentum‹ in Kafkas Verschollenem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 4.1 Einleitung: Ein deutbarer Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 4.2 Forschungsstand: Exoterik versus Esoterik . . . . . . . . . . . . . 285 <?page no="10"?> 10 Inhaltsverzeichnis 4.3 Genese und Textgestalt des Verschollenen . . . . . . . . . . . . . . 294 4.4 Parabel, Allegorie und ›Doppelte Buchführung‹ . . . . . . . . . . . 297 4.5 Religion und Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4.6 Kafka als Leser Goethes und Flauberts . . . . . . . . . . . . . . . 318 4.7 Der ›conte moral‹ von Karl Roßmann: Das Scheitern des Irreflexiven . . 330 4.8 Ein jüdischer Verschollener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 4.8.1 Der Heizer : Gericht über die Zukunft des Judentums . . . . . . . 345 4.8.2 Der Onkel : Karls Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 4.8.3 Ein Landhaus bei New York : Hinauswürfe . . . . . . . . . . . 370 4.8.4 Der Marsch nach Ramses : Die Reise nach Ägypten . . . . . . . . 380 4.8.5 Im Hotel occidental und Der Fall Robinson : Im jüdischen Tempel . . . 393 4.8.6 Es musste wohl eine entlegene und »Auf! Auf! « rief Robinson : Bei Brunelda in der Stiftshütte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 4.8.7 Ausreise Bruneldas : Das Gesetz wandert aus . . . . . . . . . . 427 4.8.8 Karl sah an einer Straßenecke und Sie fuhren zwei Tage : Roßmanns Untergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 4.9 Kafkas ›Neues Judentum‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1. Primärwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1.1 Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1.2 Flaubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1.3 Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 2. Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 <?page no="11"?> 1. Einleitung Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. (Eduard Mörike: Auf eine Lampe ) Alle Literatur bedient sich des ästhetischen Scheins. Der rhetorische Begriff der evidentia , wie Cicero das griechische ena´ rgeia (›von Glanz umgeben‹, ›aus sich selbst leuchtend‹) latinisierte, ist von e-videri , ›herausscheinen, hervorscheinen‹ abgeleitet. Er bezeichnet dasjenige, »was ein-leuchtet, weil es gleichsam aus sich herausstrahlt« 1 und was in der Rede mit »offenkundige[r] Präsenz« und der »unmittelbare[n] Gewißheit des anschaulich Eingesehenen« so lebhaft vor Augen gestellt wird, dass es als »unzweifelhaft wahr« 2 erscheint. Das Verfahren des sub oculos subiecto oder des ante oculos esse ist in der Literatur über begrifflich generierte Bilder geregelt. In der schon früh kanonisierten Ars poetica des Horaz wird bereits zu Anfang darauf hingewiesen, dass Schriftsteller - wie Maler - species , also Bilder, erdichten und vor Augen führen (»fingentur species« 3 ), woraus im Fortgang des Textes der berühmte Grundsatz ut pictura poiesis 4 folgt. Dass in Texten über Verfahren der Bildlichkeit oder Anschaulichkeit 5 Gegenstände »hinterlegt, konditioniert, virtuell ermöglicht« 6 werden, ist heute eine ebenso triviale Beobachtung wie die dadurch ermöglichte »Erfahrung dieser Gegenständlichkeit« 7 . Dienen die Techniken sprachlicher Visualisierung also der Illusionsbildung, 8 gehorchen sie dabei traditionell dem Prinzip der Mimesis, das nicht etwa krude imitatio der Natur bedeutet, sondern - wie besonders die Kapitel neun und dreizehn der Poetik des Aristoteles ausführen - poietische Gestaltung nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit mit der Absicht, bestimmte Wirkungen zu erreichen. 9 Zeichnet sich mimetische 1 Ansgar Kemmann: »Evidentia, Evidenz«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 3 , Tübingen 1996 , Sp. 33 - 47 , hier 33 . 2 Ebd. 3 Horaz: De arte poetica. In: Ders.: Satiren, Briefe, hg. v. Gerhard Fink, Düsseldorf/ Zürich 2000 , 252 - 282 , hier 252 . 4 Ebd., 272 . 5 Vgl. dazu Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989 . 6 Eckhard Lobsien: »Bildlichkeit, Imagination, Wissen: Zur Phänomenologie der Vorstellungsbildung in literarischen Texten«. In: Bildlichkeit, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt/ Main 1990 , 89 - 114 , hier 89 . 7 Ebd. 8 Wolfgang Iser hat zur Bestimmung dieses Prozesses und des Fiktiven die »Triade des Realen, Fiktiven und Imaginären« vorgeschlagen (»Akte des Fingierens. Was ist das Fiktive im fiktiven Text? «. In: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich und Wolfgang Iser, München 1983 , 121 - 152 , hier 122 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 10 )). 9 Vgl. dazu Aristoteles: Poetik, übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994 . Hans-Georg Gadamer hat in diesem Sinne Mimesis nicht als bloße Wiederholung des schon Bekannten expliziert, sondern als Erkenntnis des Wesens einer Sache bzw. als Wiedererkennung seiner selbst (Vgl. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960 / 1990 , 118 f.). Rene´ Wellek (»Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft«. In: Ders.: Grundbegriffe der Literaturkritik, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 2 1971 , 161 - 182 ) leitet aus ähnlichen Beobachtungen eine Realismus-Kritik ab. Da der Realismus sein Ziel der Objektivität nie erreiche, weil er nicht eine »völlig getreue Darstellung der <?page no="12"?> 12 1. Einleitung Literatur also je schon durch ein Ineinander von Nähe und Distanz, imitatio und modern verstandener inventio , zur Realität aus, so kann der literarische Schein auch gezielt als make believe eingesetzt werden. Ein solches, vom Autor intendiertes »Induzieren von Vorstellungen« 10 , bei dem das als wahrscheinlich Geschilderte keineswegs ›wahr‹ oder der eigentlich vorliegenden Wirklichkeit entsprechen muss, stellt den Status des ästhetischen Scheins infrage und verunsichert die Interpretation. Das Verfahren lässt sich treffend als Inkongruenz zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Textebene beschreiben, die Heinz Schlaffer am Beispiel Goethes wie folgt dargestellt hat: 11 Exoterik meint den »ersten Anschein« (214) eines Textes, die von ihm »als Oberfläche dargestellte Oberflächlichkeit« (ebd.), den »offene[n] [ … ] Sinn« (215), der zumeist »die jeweils herrschenden zeitgenössischen Ideen: Freiheit, Bildung, Sittlichkeit, Fortschritt« (225) zu bestätigen scheint. Demgegenüber ist Esoterik nicht etwa eine wie auch immer geartete Geheimlehre, sondern ein funktionaler Begriff, der »versteckte [ … ] Sinn« (215), die »letzte [ … ] Bedeutung« (214) eines Textes, die in ästhetischer »Negativität« (225 f.) enthüllt, wie den Ideen der Zeit »die Negation innewohnt« (225). Goethe, so Schlaffers These, arbeite also mit einer »Verdopplung der Intentionen« (215), die erst durch eine »doppelte Lesart, die exoterische und esoterische« (225), erschlossen werden könne. Indem die ästhetische Bildlichkeit geradezu durchgestrichen wird, findet sich Schönheit dann aber als verführerische Blendung gekennzeichnet, vor der man sich, einem Goetheschen Aphorismus zufolge, hüten müsse: »Schönheit und Geist muß man entfernen, wenn man nicht ihr Knecht werden will.« 12 Dass man in einer schönen Sprache unbemerkt noch das Prosaischste erzählen könne, hatte Novalis in seiner späten Lehrjahre -Kritik bemerkt, und auch Schiller war die Technik schließlich als ›Vertilgung des Inhalts durch die Form‹ auffällig geworden. Denn eigentlich formulieren die Lehrjahre eine esoterische Kritik der Literatursprache oder -ästhetik, deren Reserve gegen Mythologie und ästhetischen Schein die Einbildungskraft des Protagonisten wie des Lesers davor bewahren möchte, Faktisches über den Verführungen des Schönen nicht zur Kenntnis zu nehmen: Im Roman wird Wilhelm Meister als Prototyp eines ästhetischen Träumers berufen, der bis zuletzt nicht begreift, was die Turmgesellschaft von ihm fordert und der vor der von ihm verlangten Bildung versagt: Wie sein alter ego , der Zauberlehrling, hat er nicht gelernt, seine Phantasie zu zügeln und das Handwerk des Denkens zu lernen. Die Lehrjahre berufen also die Gattung des Bildungsromans nur, um ihn negativ aufzuheben - und geben dem Leser zu verstehen, dass mit der Romanform nicht zuletzt Schillers Gedanke einer ästhetischen Erziehung kassiert werden soll. Damit bereitet der Roman einer negativen Kunsttheorie den Boden, die zwischen Modus und Sinn des Dargestellten unterscheidet. Solch doppelte Buchführung, bei der die exoterische Bildlichkeit der Textoberfläche (die ›Form‹), von der esoterischen, nicht explizit genannten Sinnsphäre des Textes (dem ›Inhalt‹) unterschieden wird, ist für die vorliegende Arbeit erkenntnisleitend. Als prominente Ver- Wirklichkeit« ( 174 ) liefere, sondern immer »didaktisch, lehrhaft, reformierend« ( 181 ) sei, sei »die realistische Theorie schlechte Ästhetik; denn alle Kunst ist ›Schaffen‹ und bildet eine eigene Welt des Scheins und der symbolischen Formen« ( 182 ). 10 Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001 , 214 . 11 Zu den Begriffen Exoterik und Esoterik vgl. Heinz Schlaffer: »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen«. In: GJb 95 ( 1978 ), 212 - 226 . 12 Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen (Nr. 727 ). In: HA 12 , 365 - 550 , hier 468 . Bei Fricke (Johann Wolfgang Goethe: Sprüche in Prosa, hg. v. Harald Fricke, Frankfurt/ Main 1993 ) findet sich der Aphorismus unter der Nummer 1 . 231 , Seite 38 . <?page no="13"?> 13 1. Einleitung treter solch negativer Literatur betrachtet sie Goethes Lehrjahre , Flauberts Education sentimentale (1869) und Kafkas Verschollenen und fragt zugleich danach, was zu einer bilderkritischen Lektüre berechtigt und was aus ihr für die Deutung folgt. Weder die Reihe der Autoren noch die Auswahl ihrer Werke sind dabei willkürlich. Erst kürzlich hat man erneut auf die immense stilistische Bedeutung Goethes für Flaubert hingewiesen - von Flaubert a` l’Ecole de Goethe hat man gar gesprochen -, in dessen Briefen kein Name häufiger geradezu rühmende Erwähnung findet als der des Deutschen. 13 Und schon die Zeitgenossen hatten Flaubert auf die Nähe der ersten Education (1843-45) zu Goethes Lehrjahren hingewiesen. Schon seit langem weiß man ebenfalls, dass Kafka sich im Kontext seines literarischen Durchbruchs um 1912 intensiv sowohl mit Goethes als auch Flauberts Vorgängertexten beschäftigte und Goethe dabei ebenso bewunderte, wie er sich als »geistiges Kind« Flauberts bezeichnete. Ein Dreifaches ist vor diesem Hintergrund dann aber erstaunlich. Erstens fehlt bislang eine vergeichende Studie zu den drei Romanen. Zweitens gehört der Verschollene in jeder, komparatistischer wie germanistischer, Hinsicht zu den Stiefkindern der Forschung - ein Versäumnis, das zwar nicht unerklärlich, aber doch betrüblich ist. Und drittens sind die Konsequenzen für eine Theorie der Moderne und ihres Stils aus der angedeuteten deutsch-französischen Filiation noch nicht gezogen worden. Davon aber, wie mächtig sich die Magie des schönen Scheins erweist, legt die lange Rezeptionsgeschichte der drei Texte ein beredtes Zeugnis ab. Bis heute liest die communis opinio die Romane exoterisch. Goethe habe einen Bildungsroman vorgelegt, hört man, Flaubert die historische Bilanz der gescheiterten Revolutionen von 1830 und 1848 und Kafka verurteile in seinem amerikanischen Roman die kapitalistische Ausbeutung im Land des modernen Profitstrebens. Gegen den Primat der Textoberfläche protestierten nur wenige. Ihre esoterische Lesart fand freilich kaum Gehör - oder führte zu einem unversöhnlichen Forschungsstreit. Die vorliegende Arbeit schlägt demgegenüber vor, den herrschenden Dissens in der Goethe-, Flaubert- und Kafka-Forschung durch eine Reflexion auf den Status der schönen Bilder aufzulösen. Denn darüber, dass nicht nur die Lehrjahre , sondern auch die Education und der Verschollene als bilderkritische und eigentlich antimimetische Literatur angelegt sind, kann kein Zweifel bestehen. Die Romane betrachten nicht nur die von Schwärmern bemühten Mythologica, sondern in einem umfassenden, radikaleren Sinne alle exoterische Bildlichkeit nur als wertlose »Hülse« um das eigentlich angestrebte »Eine« (Kafka), dessen Unbedingtheit sich aller notwendig durch Semantik, Logik und Grammatik bedingten Begrifflichkeit entziehe. Visiert solche Literatur also das Absolute (Kafka) oder das livre sur rien (Flaubert) an, musste sie die negativ-esoterische Auflösung aller Bilder ebenso fordern wie die Lösung von Irdischem und der Materialität des Zeichens - und schon darum sind jene Lektüren im Unrecht, die Flaubert und Kafka allein auf Reales zurückführen und nur auf der exoterischen Textebene lesen. Aus dem Ungenügen an einer mimetischen Literatur, ihren epigonal-klischierten Abbildungen von Wirklichkeit sowie vor allem an ihrer Bindung ans Faktische folgte also, wie man weiß, in der modernen Literatur der Weg in die Abstraktion. 14 Soll Flauberts esoterische Arbeit nach der »Vergleichgültigung der Ge- 13 Ich erwähne hier nur Norbert Christian Wolf: »Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils«. In: Poetica 34 ( 2002 ), 125 - 170 und Dagmar Giersberg: ›Je comprends les Werther‹. Goethes Briefroman im Werk Flauberts, Würzburg 2003 . 14 Zu einer - konservativen - Kritik der Abstraktion vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, Salzburg 1948 . <?page no="14"?> 14 1. Einleitung genstände« 15 und Zeichen zum »leeren Weltbuch« 16 führen, differenziert Kafka seine Durchstreichung der Bilder zu einer judaistischen Esoterik aus: Unbemerkt von der Forschung, ist der Verschollene ein jüdischer Antibildungsroman, der mit der Darstellung jüdischer Assimilation seiner Sorge über den Fortbestand des Jüdischen in der Moderne Ausdruck gibt. Unter diesen Bedingungen erfährt aber der alte exoterisch-mimetische Schein eine Entwertung. Er fungiert nur noch als zwar notwendiges, aber verächtliches »tremplin« (Trampolin) für den Sprung in die Negativität, und sein ›Hervorleuchten‹, das vormals das »sinnliche Scheinen der Idee« (Hegel) verbürgte, ist nicht länger ein lucet , sondern ein videtur . Das bedeutet umgekehrt, dass der im emphatischen Sinne schöne Schein der Literatur nun in die Absenz verlegt ist. Negative Kunst produziert nur den Vor-Schein eines Nichtrepräsentierbaren, das sie deshalb nicht einholen kann, weil sie durch die »Erdenschwere« (Kafka) von Zeichen, Empirie und Signifikanz beständig zurück in die Bedingtheit verwiesen wird. Was einerseits die Bedingung der Möglichkeit allen Verstehens darstellt und damit die Unverzichtbarkeit der Exoterik begründet, heißt andererseits, dass der Traum vom absoluten, leeren Buch zum nie einholbaren, infiniten Zyklus gerät: »Wie ein Weg im Herbst: kaum ist er rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trockenen Blättern« (Kafka). Die Negativität der Texte unterläuft ebenfalls eine wie auch immer geartete Teilhabe der drei Protagonisten am dargestellten sozialen Leben. Wilhelm Meister, Fre´de´ric Moreau und Karl Roßmann sind Brüder im Scheitern, und es scheint, dass eben diese literarische Verwandtschaft eher von Schriftstellern konzipiert als von einer größtenteils bildungs- und bildergläubigen Germanistik bemerkt wurde. Schon aus Wilhelm Meister wird nichts. Weder zum Dichter, noch zum Gutsherrn, Vater oder Ökonomen taugt er, und völlig zutreffend gibt er zu, dass er »keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln« besitzt. Damit aktualisiert er den Typus des ahnungslosen jungen Mannes, dem die Verpflichtungen und Zusammenhänge des Faktischen bis zuletzt ein Rätsel bleiben. Fre´de´ric Moreau kommt ihm darin gleich. Die ökonomischen Gegebenheiten des sich industrialisierenden Frankreich, die politischen Umwälzungen, aber auch die meisten Vorgänge in seinem Umfeld missinterpretiert er oder begreift er einfach nicht: »Fre´de´ric ne comprenait pas.« Und auch Karl Roßmann durchschaut trotz der Aufforderung seines Onkels, die »Sachlage nicht misszuverstehen«, bis zur letzten Seite des Romans weder die amerikanischen Verhältnisse, noch erkennt er, dass man ihn aufgrund eines Verstoßes gegen das jüdische Gesetz nach Amerika schickte. Waren die Zeiten für Wilhelm Meister trotz seines Scheiterns nicht schlecht, so ist der soziale Abstieg bei Flaubert und Kafka unverkennbar. Fre´de´ric Moreau fristet am Ende als ärmlicher Kleinrentner sein Dasein, und Karl Roßmann, so scheint es, beschließt sein Leben als unterster und überdies unbezahlter Arbeiter in einem Zirkus. Insofern alle drei soziale Außenseiter sind oder werden und ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden - keine Rede kann davon sein, dass sie, wie es der klassische Bildungsroman fordert, die »Poesie des Herzens« gegen die »Prosa der Verhältnisse« (Hegel) eintauschen und sich produktiv und zum Wohl aller ins Sozialgefüge eingliedern -, erinnern sie an den Typus des ›überflüssigen Menschen‹ (лишний человек), der sich in der Nachfolge Byrons vor allem in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts herausbildete. Von Puschkins Eugen Onegin über Lermontows Petschorin, Turgenjews Rudin und Basarow, Gontscharows Oblomow bis 15 Hans Blumenberg: »Das leere Weltbuch«. In. Ders.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/ Main 5 2000 , 300 - 324 , hier 303 . 16 Ebd., 300 . <?page no="15"?> 15 1. Einleitung zu Dostojewskijs Raskolnikow handelt es sich dabei um durchaus begabte Personen, die allesamt in der prosaischen Moderne nicht ankommen. Ihre Erziehung und Lebensweise wie auch die sozialen Verhältnisse hindern sie daran, ihre »hohen Ideale [ … ] in die Tat umzusetzen«, woraufhin sie »der Resignation oder dem parasitären Müßiggang« 17 verfallen. Lässt sich daraus eine Kontinuität bis zum Dandy und Flaneur der englischen und französischen Literatur des fin de sie`cle ableiten - hier wäre an Baudelaires A une passante , 18 Wildes Dorian Gray oder noch Bretons Nadja zu erinnern -, sind Meister, Roßmann und Moreau durch ihren Mangel an Zynismus und Bewusstheit von der angedeuteten Traditionslinie unterschieden. Sie verkörpern in ihrer Begriffsstutzigkeit eher den Typ des reinen Toren, wie er in der deutschen Literatur seit dem Parzival und Simplicissimus vorlag und etwa im Märchen vom Hans im Glück , in Kleists Käthchen oder in Eichendorffs Taugenichts seine Aktualisierung fand. Mag damit zum Teil eine Eloge des romantischen Unbewussten oder des natürlichen Urzustands des Menschen sowie eine Kritik an der Logik der Ökonomie formuliert sein, besteht bei Goethe und Kafka hingegen kein Zweifel daran, dass Meister und Roßmann die ihnen gestellten Aufgaben durchaus zu ihrem Nachteil und aus eigenem Verschulden nicht bewältigen. So ergreifen sie weder die sich bietenden Chancen noch lösen sie jene Erwartungen ein, zu denen Herkunft und privilegierte Erziehung sie doch eigentlich berechtigten. Die hartnäckige Bewusst-losigkeit der Protagonisten, ihre Defizienz an Ratio sowie ihre mangelnde Einsicht, die sie nicht einmal aus Schaden klug werden lässt, sind als literarische Gegenentwürfe zu einer Philosophie des Bewusstseins gestaltet, die seit Kant Welterkenntnis, Perzeption und praktisches Handeln an das regelgeleitete Funktionieren des Verstandes geknüpft hatte. Fungiert solche Arationalität damit als andere Seite der Aufklärung oder der diversen transzendental-spekulativen Selbstbewusstseinstheorien, die insbesondere die deutsche Frühromantik vorgelegt hatte, 19 so lässt sie sich auch als Einrede gegen jene Konzepte der ›intentionalen‹ bzw. der immer schon ›gestimmten‹ Wahrnehmung lesen, die Husserl und Heidegger vorgeschlagen haben: 20 Meister, Moreau und Roßmann beziehen ihre Bewusstseinsakte nicht auf definierte oder für sie definierbare Gegenstände, sondern nehmen Phänomene zumeist gewissermaßen interpretationslos wahr, und indem sie also bemerken, dass etwas ist, nicht aber, was es ist, leisten sie zwar einer Theorie der ›reinen‹ Perzeption Vorschub. Vor allem innerhalb von Sozialgefügen geraten sie aber ins Hintertreffen. Denn wo klar umrissene Grundsätze herrschen, vorausgesetzt sind und von Einsichtigen beachtet werden, können sie durch ihre vagen oder besser: vagierenden Begriffe, nirgends eingebunden sein. Dass sie also in intellektueller wie auch sozialer und geographischer Hinsicht zu Vagabunden werden, zeigen die Texte durch die Vielzahl der 17 Klaus Dornacher: »Nachwort«. In: Iwan Turgenjew: Rudin. Ein Adelsnest, hg. v. Klaus Dornacher, Berlin/ Weimar 1994 , 345 - 359 , hier 348 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 2 ). 18 Vgl. zum Begriff und Phänomen des Flaneurs bei Baudelaire die ausführliche Analyse Walter Benjamins: »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«. In: Ders.: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main 1991 , 509 - 796 , bes. 537 - 569 (= Gesammelte Schriften Bd. I, 2 ). 19 Vgl. dazu Theodor W. Adorno/ Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998 (= Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3 ). Zu den diversen Theorien des Selbstbewusstseins vgl. Manfred Frank: »Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseinstheorien von Kant bis Sartre«. In: Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, hg. und mit einem Nachwort versehen von Manfred Frank, Frankfurt/ Main 1991 , 413 - 599 . 20 Vgl. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. I. Teil. V.: Über intentionale Erlebnisse und ihre ›Inhalte‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3 , hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1992 , 352 - 529 sowie Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 17 1993 , §§ 29 , 40 und 41 . <?page no="16"?> 16 1. Einleitung Schauplatzwechsel sowie durch die Ausweitung des Handlungsraums: Meister gelangt nach diversen Fahrten im südlichen Deutschland schließlich nach Italien, Moreau pendelt zwischen der französischen Provinz, Fontainebleau und mehreren Pariser Wohnorten hin und her, und Roßmann gelangt von Prag nicht nur nach New York, sondern noch weiter in die Richtung eines unbestimmt bleibenden amerikanischen Westens. Solche Heimatlosigkeit, die bei Kafka zusätzlich durch die jüdische Exilerfahrung parallelisiert wird, erscheint als Überformung des Flaneurs durch den neuerdings beobachteten soziologischen Typus des Drifters, 21 der ohne narrativ oder kognitiv hergestellte Einbindung in gesellschaftliche Zusammenhänge hin- und hergetrieben wird. Neben dem Nachweis von Negativität und doppelter Buchführung aber will die Arbeit Goethe und die Weimarer Klassik als Wurzel einer Moderneströmung in Anschlag bringen, die sich über Flaubert und Kafka bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts hinein fortsetzt. Natürlich ist die Moderne dabei ein schwer zu fassendes Phänomen. In der Literatur- und Geschichtswissenschaft ebenso wie in der Philosophie hat der Begriff ein »Feld terminologischer Schwankungen« 22 , »semantische[r] Spaltung[en]« 23 und »Bedeutungsüberlappungen« 24 gezeitigt, das nahezu unüberschaubar ist. Zur Wort-, Begriffs- oder Sachgeschichte sind gewichtige Studien vorgelegt worden, 25 und den Gattungen Lyrik, Drama und Roman der Moderne hat man Untersuchungen gewidmet, 26 die heute den Rang von Standardwerken besitzen. Gilt die Moderne als »letzte[r] Klammerbegriff für innovative Bestrebungen der europäischen Literatur« 27 und existieren also entsprechende, in die Breite der Epoche gehende Studien, 28 so zielen andere Arbeiten daneben auf zeitlich begrenztere Phänomene, etwa auf die Avantgarde 29 , oder auf einen der sich in schneller Folge ablösenden, zahlreichen Ismen der Nationalliteraturen. Dass neben aller inhaltlichen und methodischen Vielfalt der Arbeiten diverse Begriffe der ›Moderne‹ begegnen, trägt zur Komplexität des Phänomens bei. Von den »two modernities« 30 hat man gesprochen und damit die Unterscheidung zwischen einer ästhetischen und einer sozialgeschichtlich-wissenschaftlichen Modernisierung gemeint. Eine ›andere Moderne‹ 31 ist eingefordert worden, die die skandinavische gegenüber der anglo-amerikanischen aufwertet. Man hat die ›doppelte Äs- 21 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1988 , 37 . 22 Viktor Zˇ megacˇ: »Moderne/ Modernität«. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. v. Viktor Zˇ megacˇ und Dieter Borchmeyer, Frankfurt/ Main 1987 , 250 - 258 , hier 250 . 23 Ebd. 24 Ebd., 251 . 25 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948 , 257 ff., Hans Ulrich Gumbrecht: »Modern Modernität Moderne«. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner et. al., 8 Bde., Stuttgart 1972 - 1997 , Bd. 4 ( 1978 ), 93 - 131 . 26 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg 1956 ; Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. In: Ders.: Schriften, hg. v. Jean Bollack et. al., 2 Bde., Frankfurt/ Main 1978 , Bd. 1 , 11 - 150 ; Georg Lukacs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied/ Berlin 1963 [zuerst Berlin 1920 ] sowie in seiner Nachfolge Jürgen Schramke: Zur Theorie des modernen Romans, München 1974 . 27 Zˇ megacˇ: Moderne/ Modernität (Anm. 22 ), 253 . 28 Modernism 1890-1930, hg. v. Malcolm Bradbury und James McFarlane, Hassocs 1978 , Zuletzt Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache - Ästhetik - Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004 . 29 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/ Main 1974 . 30 Matei Calinescu: Five Faces of Modernity: Avant-Garde, Decadence, Kitsch, London 1977 , 5 . 31 Akos Doma: Die andere Moderne. Knut Hamsun, D. H. Lawrence und die lebensphilosophische Strömung des literarischen Modernismus, Bonn 1995 . <?page no="17"?> 17 1. Einleitung thetik‹ 32 der Moderne berufen, die neben dem Schönen auch seine Revision enthalte, sowie auf das »Teilungsschicksal« 33 der Moderne aufmerksam gemacht, das zur Zersplitterung in heterogene und konträre Konzepte geführt habe. Plausibel sind sie in ihren Hauptrichtungen wiederum als Ästhetizismus, Avantgarde und klassische Moderne expliziert worden, 34 wenn man nicht gar fünf Geschichtsmodelle isolierte, die sich des ›Moderne‹-Begriffs bedienten. 35 Auch die sich aus dieser historischen Perspektive ergebende Frage nach dem Beginn der Moderne hat dementsprechend unterschiedliche Antworten gezeitigt. Als Epochenbezeichnung 36 für die Neuzeit meinte die Neubildung modernus im 6. Jahrhundert ursprünglich den Kontrastbegriff zu den klassischen Autoren des Altertums, wie er in unterschiedlichen Differenzierungen im Mittelalter verwendet wurde. 37 Das Adjektiv stellt damit nicht nur »eines der letzten Vermächtnisse spätlateinischer Sprache an die neuere Welt« 38 dar, sondern ist darüber hinaus Ausdruck eines Epochenzwists, der »ein konstantes Phänomen der Literaturgeschichte und Literatursoziologie« 39 ist. Folgenreich wurde er durch die 1687 einsetzende Querelle des Anciens et des Modernes aktualisiert, die ein neues Epochenbewusstsein allgemein vor Augen stellte. Der Gedanke Charles Perraults, aus der allgemeinen zivilisatorischen Perfektibilität seit der Antike müsse sich der Primat der zeitgenössisch-modernen gegenüber der ›alten‹ Literatur ableiten lassen, begründete im Kontext der deutschen Frühromantik eine geschichtsphilosophische Bestimmung speziell der ›neuen‹ deutschen Dichtung, aus der später die Verwerfung antiker Vorbilder und das Bewusstsein einer nationalen Sendung folgte. Schiller und Friedrich Schlegel machten die ›sentimentalische‹ Reflexion bzw. die ›künstliche Bildung‹ zu unhintergehbaren Merkmalen der Epoche, die die spezifische Eigenart der ›Moderne‹ begründen sollten. 40 Demgegenüber hat Roland Barthes den Beginn der Moderne auf die mit Flaubert beginnende Sprachkrise und Arbeit an der Form in der französischen Literatur der 1850er Jahre datiert: »L’e´criture classique a donc e´clate´ et la Litte´rature entie`re, de Flaubert a` nos jours, est devenue une proble´matique de langage. [ … ] Flaubert [ … ] a constitue´ de´finitivement la Litte´rature en objet, par l’ave`nement d’une valeur-travail: la forme est devenue le terme 32 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/ Weimar 1995 . 33 Gerhart von Graevenitz: »Einleitung«. In: Konzepte der Moderne, hg. v. Gerhart von Graevenitz, Stuttgart 1999 , 1 - 16 , hier 10 . 34 Sabina Becker/ Helmuth Kiesel: »Literarische Moderne. Begriff und Phänomen«. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, hg. v. Sabina Becker und Helmuth Kiesel, Berlin/ New York 2007 , 9 - 38 , hier 10 . Kiesel (Moderne, Anm. 28 ) unterteilt noch mehr: programmatische Moderne, reflektierte Moderne. 35 Silvio Vietta (Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992 , 17 - 20 ) unterscheidet: 1 . Moderne als Neuzeit, 2 . Moderne als ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, 3 . Moderne als ›moderne Richtungen zwischen 1890 und 1914 ‹, 4 . Moderne als beginnend bei Baudelaire, Rimbaud, Mallarme´, 5 . Moderne als beginnend in der deutschen Frühromantik. 36 Gumbrecht (Modern, Anm. 25 , 96 ) führt daneben noch zwei weitere Bedeutungsmöglichkeiten von ›modern‹ an: ›gegenwärtig‹ (Gegenbegriff: ›vorherig‹) sowie ›vorübergehend‹ (Gegenbegriff: ›ewig‹). 37 Vgl. ebd., 96 - 99 . 38 Curtius: Europäische Literatur (Anm. 25 ), 257 . 39 Ebd., 255 . 40 Vgl. dazu immer noch Hans Robert Jauß: »Schlegels und Schillers Replik auf die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹«. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/ Main 1974 , 67 - 106 ; außerdem Gerhard Schulz: »›Eine Epoche die sobald nicht wiederkehrt‹. Zu den Anfängen der Moderne in der deutschen Literatur um 1800 «. In: Die Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Dichtung, hg. v. Theo Elm und Gerd Hemmerich, München 1982 , 135 - 152 . <?page no="18"?> 18 1. Einleitung d’une ›fabrication‹« 41 . Kann die kritische Besinnung auf die Sprache, von Rimbaud und Mallarme´ symbolistisch weitergeführt, die Wiener Sprachkrise eines Hofmannsthal und anderer vorwegnehmen, hat man den Beginn der literarischen Moderne ebenso mit Charles Baudelaire 42 , Heinrich Heine 43 und Friedrich Nietzsche 44 in Verbindung gebracht. Auch die spezifisch jüdische Tradition der Moderne ist gesehen worden, 45 wenn man nicht konkrete Daten für den Anbruch des neuen Zeitalters anführte. In seiner originellen Monographie hat Wolfgang Matz das Jahr 1857 als »Jahr der Moderne« 46 bezeichnet, in dem die Publikation von Flauberts Madame Bovary , Baudelaires Fleurs du Mal und Stifters Nachsommer koinzidierten. Demgegenüber wirkt relativ spät, dass die ›Freie literarische Vereinigung‹ Durch! erst 1886 47 und der Literaturhistoriker Eugen Wolff erst 1888 48 den Beginn der Moderne in Deutschland proklamierte. Angesichts der - hier nur skizzierten - diskursiven Komplexität ist es angebracht zu systematisieren. Im Großen und Ganzen hat sich die heutige Forschung auf einen doppelten Modernebegriff verständigt. Moderne als Makroepoche bezeichnet dann »die gesamte Neuzeit seit der Renaissance« 49 , wobei nochmals nach der »mit der Überwindung der Regelpoetiken [ … ], insbes. mit der Frühromantik um 1795 beginnende[n] Periode« 50 differenziert werden kann. Moderne als Mikroepoche hingegen bezieht sich auf die ästhetischen Innovationen des französischen »Symbolismus um 1850« 51 sowie überhaupt auf die »künstlerischen und literarischen Strömungen des ausgehenden 19. und besonders des beginnenden 20. Jahrhunderts in Europa« 52 . In Deutschland prägen sie sich entweder als mimetischnaturalistische »Opposition« zur epigonalen »Kultur der Gründerzeit« 53 oder aber als »dezidiert antimimetische« 54 , in der Nachfolge des französischen Symbolismus stehende äs- 41 Roland Barthes: »Introduction«. In: Ders.: Le degre´ ze´ro de l’e´criture, Paris 1953 und 1972 , 9 - 14 , hier 10 f. 42 Friedrich: Struktur (Anm. 26 , 35 ) bezeichnet Baudelaire als »Dichter der Modernität«. Auch für Kiesel (Geschichte der literarischen Moderne, Anm. 25 , 31 ) beginnt die Moderne mit Baudelaire. 43 Bernd Witte (Jüdische Tradition und literarische Moderne, München 2007 , 39 ) spricht von Heine als dem »erste[n] Autor der literarischen Moderne«, weil er die Kritik an der gesellschaftlichen Moderne aus der kulturellen Tradition des Judentums heraus betrieben habe. 44 Nietzsches Metaphysik- und Sprachkritik sind als Eckpfeiler der Moderne hervorgehoben worden. Vgl. dazu Uwe Japp: »Die eigentliche Modernität. Nietzsches Kritik«. In: Ders.: Literatur und Modernität, Frankfurt/ Main 1987 , 252 - 293 . 45 Witte (Jüdische Tradition, Anm. 43 , 14 ) macht die jüdische Tradition als Quelle einer modernen Ökonomiekritik stark, die den Menschen in seiner »Gebrechlichkeit« zeige. Zur kulturellen Bedeutung der Juden in der deutschen Literatur vgl. Helmuth Kiesel: »Woraus resultiert die außerordentliche kulturelle Leistung des Judentums zu Beginn der Moderne? Problemaufriß und Forschungsbericht«. In: Heidelberger Jahrbücher XLV ( 2001 ), 267 - 296 . 46 Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, Frankfurt/ Main 2007 , 25 . 47 »Thesen der ›Freien literarischen Vereinigung‹ Durch! «. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, hg. v. Gotthart Wunberg und Stephan Dietrich, Freiburg 1998 , 23 - 26 . 48 Eugen Wolff: »Die jüngste deutsche Literaturströmung und das Prinzip der Moderne«. In: Die literarische Moderne (Anm. 47 ), 27 - 82 . 49 Günter Blamberger: »Moderne«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Harald Fricke, 3 Bde., Berlin 2007 , Bd. 2 , 620 - 624 , hier 620 . Weiterhin zitiert als RDL. 50 Sabina Becker: »Moderne«. In: Metzler Lexikon Literatur, hg. v. Dieter Burdorf et. al., Stuttgart/ Weimar 3 2007 , 508 - 509 , hier 508 . 51 Ebd. 52 Blamberger: Moderne (Anm. 49 ), 620 . 53 Ebd., 621 f. 54 Ebd. <?page no="19"?> 19 1. Einleitung thetizistische Variante aus. Der affirmierende oder negierende Umgang mit den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen führt also zu den heterogenen Strömungen der deutschen Moderne, die in Gestalt der vielfältigen Ismen oder als Ästhetizismus, Avantgarde und klassische Moderne ihren je verschieden bewerteten Realitätsbegriff literarisch verfechten. Für den Ästhetizismus hat man in diesem Sinne die Rezeption des l’art pour l’art mit dem Dogma der Autonomie des Kunstwerks und dem Glauben an Ich und Subjektivität hervorgehoben. 55 Demgegenüber mache die Avantgarde die gesellschaftliche Referenz der Kunst stark 56 und verneine die Kunstautonomie ebenso wie das Mimesisprinzip. Auf dieses greife die klassische Moderne hingegen ebenso wieder zurück wie auf die Autonomieästhetik, bewege sich aber ansonsten in den Bahnen eines ästhetischen Traditionalismus, der sich etwa in narrativer Konventionalität und einer geschlossenen Form des Kunstwerks zeige. Ungeachtet dieser hier nur skizzierten Ergebnisse der Moderneforschung will die vorliegende Arbeit aber dazu anregen, die These kritisch zu hinterfragen, derzufolge die deutsche literarische Moderne von Frankreich her vermittelt worden sei. Die Filiation Goethe - Flaubert - Kafka kann helfen, die literarhistorische Verortung der Mikroepoche der deutschen literarischen Moderne zumindest in Teilen neu zu perspektivieren. Denn durch die Scharnierfunktion Flauberts zeigt sich, dass über einen französischen Kulturtransfer ästhetische Grundsätze der Weimarer Klassik aufgenommen, produktiv modifiziert und in die moderne deutsche Literatur eingeführt werden, die in Deutschland seit der romantischen Kritik an Goethe entweder unbemerkt geblieben waren oder als überlebt gegolten hatten. Pointiert gesagt: Flaubert übersetzt Goethe in die Moderne, oder noch anders: Die Weimarer Klassik ist die Geburtshelferin der französischen und der deutschen modernen Prosa. Das lässt sich auch ästhetisch begründen. Dafür gilt es insbesondere, die Negativität der doppelten Buchführung als durchgehendes Kennzeichen des neuen Stils zu begreifen. Indem sie bei Kafka dem behaupteten Mimesisprinzip der klassischen Moderne esoterisch widerspricht, müsste die moderne Bilderskepsis in ihrer historischen Genese ebenso neu bedacht werden wie die ›Nachahmung der Natur‹ als nur einseitiger Marker von Modernität durchsichtig zu machen wäre. Vor allem aber verlangt eine solche ästhetische Perspektivierung eine Revision des überkommenen Goethe-Bildes. Gilt Kafka als ein, wenn nicht der Inbegriff der Moderne und hat man Flaubert den Titel des Vaters der modernen Dichtung (»pe`re de la fiction moderne«) verliehen, 57 wird Goethe zumeist mit der Vorstellung des geradezu antimodernen Olympiers und kalten Verächters alles (Früh-)Romantischen assoziiert. 58 Unbestritten ist, dass sich der klassische Goethe etwa transzendentaler Spekulation und sentimentaler Weltflucht ebenso wenig anschloss wie er andererseits jene Objektivität schätzte, als deren Paradigma er die griechisch-antike Kunst ausgemacht hatte. 59 Aber möglicherweise hat der Mythos des ›Klassikers‹ den Blick dafür getrübt, dass Goethe in Kunstdingen keineswegs jener rückwärtsgewandte Konservative war, für den er heute zumeist 55 Vgl. hier und im Folgenden Becker/ Kiesel: Literarische Moderne (Anm. 34 ), 13 - 26 . 56 Bürger (Avantgarde, Anm. 29 , 67 ) spricht davon, dass Kunst »in Lebenspraxis überführt« werde. 57 Michel Brix: L’Attila du roman. Flaubert et les origines de la modernite´ litte´raire, Paris 2010 , 8 . 58 Vgl. dazu etwa Katahrina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974 . 59 Zu den Merkmalen der Weimarer Klassik und des Goetheschen Klassizismus vgl. ausführlich Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994 . Vgl. auch Gerhard Schulz: »Klassik ( 2 )«. In: RDL Bd. 2 , 270 - 274 . <?page no="20"?> 20 1. Einleitung gehalten wird. 60 In die Weimarer Klassik fällt nicht zuletzt Schillers Bestimmung des Modernen als des Sentimentalischen, und Briefe und Werke lassen ermessen, dass Goethe mit dem Dichterfreund in eine Diskussion über die sozio-ökonomische Epoche und die Zukunft des Ästhetischen eingetreten war. Vor allem die Lehrjahre entwerfen in diesem Sinne das Bild einer Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zur kapitalistischen Ökonomie, in der auch jene antike Schönheit zugrundegeht, die Goethe noch kurz zuvor in den Römischen Elegien zu retten versucht hatte. Der Roman nimmt also Hegels und Heines Thesen vom ›Ende der Kunst‹ ebenso vorweg, wie er jenem Ende als esoterisch-nüchternes Kunstwerk Rechnung trägt. Der ›Stil‹, den er dazu entwickelt, soll dabei als esoterische Lesbarmachung von Welt, und nicht in erster Linie als persönliche, originelle und individuelle Machart eines Textes (›Individualstil‹) verstanden sein. Denn begriffsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass diese Bedeutung im 18. Jahrhundert in zunehmend pejorativem Sinn auf die maniera übergeht, 61 und dass demgegenüber seit Goethes kurzem, vorklassischem Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl mit dem Begriff ›Stil‹ der »höchste Grad« der Kunst bezeichnet wurde: In einer Volte gegen die Subjektivismen eines kruden Naturalismus zielte Goethe auf einen ›Stil‹ der Synthese von Subjekt und Objekt, der genug Originalität enthalten sollte, um nicht nur Nachahmung der Natur zu sein, der aber zugleich auf die Darstellung eines Idealen und Über-individuellen gemünzt war. Die »Hydra der Empirie« (Goethe) sollte durch Abstrahierung in Richtung auf ein Allgemeines besiegt werden. 62 Dieser Stil besitzt damit immer schon zwei Seiten. Hinter der Exoterik scheint eine objektive Esoterik auf, die Faktisches allgemein-typologisch zu denken gibt und so etwa Wilhelm Meister als Typus des Schwärmers, Mignon als Verkörperung des Sentimentalischen oder Lothario als Vertreter des politischen Visonärs klassifiziert. Darauf hinzuweisen ist insofern nicht überflüssig, als Flaubert Goethes ›Stil‹ zum vielberufenen Begriff des absoluten style weiterführte. Lange Zeit nur im Sinne einer inventarisierbaren Erzählmethode, also als Manier, begriffen - wovon etwa die zahllosen, immer gleichen Hinweise auf Flauberts Nullfokalisierung, seine blancs oder seinen Gebrach des passe´ simple zeugen -, dissoziiert der style doch die Goethesche Synthese von Subjekt und Objekt zu einem Verfahren ›reiner‹ Schau: Indem er die Darstellung gleichermaßen von der Subjektivität des Autors und von den repräsentierten Gegenständen ablöst, betreibt er jene Entreferentialisierung, die ästhetisch vermittelte Welterfassung erst verbürgen soll, und will mit seinen beiden Ebenen von Exoterik und Esoterik bereits die »manie`re absolue de voir les choses« (Flaubert) sein. 63 Ganz ähnlich wird auch Kafka die Negativität seiner Literatur als Versuch begreifen, die Wahrheit jenes weder begrifflich noch bildlich darstellbaren Absoluten aufscheinen zu lassen, das transzendentale Kritik als reinen Geist oder jüdische Tradition als den Allerhöchsten verehrte: »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt, das Positive ist uns schon gegeben.« 60 Ich beschränke mich hier und im Folgenden auf thesenhafte Darlegungen. Ausführlich werden die dargestellten Zusammenhänge in den entsprechenden Kapiteln dieser Arbeit behandelt. 61 Vgl. dazu den Aufsatz von Ursula Link-Heer: »Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil (Vasari, Diderot, Goethe)«. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt/ Main 1986 , 93 - 114 , hier 95 . 62 Hans Ulrich Gumbrecht schreibt diesem Stil also eine »doppelte Grundfunktion« zu: In »seinem Namen werden Ansprüche der Subjektivität gegen die überlieferten monolithischen Wirklichkeitskonzepte vorgetragen, und er schien doch zugleich auch geeignet, solche Wirklichkeitskonzepte gegen die Ansprüche der Subjektivität zu schützen« (»Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs«. In: Stil (Anm. 61 ), 726 - 788 , hier 761 f.). 63 Vgl. ebd., 762 f. <?page no="21"?> 21 1. Einleitung Natürlich lassen sich bei der Umsetzung des Stils jeweils technische Verfahren isolieren. So kehrt etwa Goethes Absage an eine zweckgebundene Kunst in Flauberts spezifischer Anverwandlung des l’art pour l’art und in Kafkas ›autonomen‹ Kunstwerken wieder. Goethes quasi-naturwissenschaftliche Objektivität und seine Hinwendung zur niederen sozialen Wirklichkeit stehen bei Flauberts Zentralbegriffen impassibilite´ , impersonnalite´ und impartialite´ und - über den Franzosen - bei Kafkas sachlich-neutraler Pragmatik Pate und helfen, eine Poetik des sozial sowie ästhetisch Abseitigen mitzubefördern. Noch die Infragestellung von Handlung, Charakteren und Erzählen, die man als Charakteristika des modernen Romans ausgemacht hat, 64 erweist sich in dieser Perspektive als alles andere als neu. Schon die letzten beiden Bücher der Lehrjahre brechen mit der Kausalität des plot ebenso wie mit der Informationspflicht eines Erzählers und der ausgeführten Psychologie der Handelnden und finden in Flauberts Technik der akausalen Situationsfolge ebenso ihren Reflex wie noch in Kafkas augenscheinlicher Verrätselung des Geschehens. Vor allem aber Goethes Kritik der Literatursprache erweist sich für Flaubert und Kafka als bedeutsam. Aus der Weimarer Skepsis gegen das literarisch-bildhaft Dargestellte leiten zuerst Flaubert, dann über ihn auch Kafka ihre negative Kunst ab. Dabei werden die zwei Textebenen freilich umgewertet. Denn anders als Goethe, der die Exoterik als Konstrukt der Einbildungskraft markiert und esoterisch ›zu den Sachen‹ drängt, fungiert Exoterik bei Flaubert und Kafka als zunächst durchaus realistische Repräsentation von Welt, die esoterisch und in einem zweiten Schritt in eine Bildlichkeit ohne Bilder oder eine Sprache ohne Sprache aufgelöst werden soll. Mit anderen Worten: Sowohl Goethe als auch Flaubert und Kafka streichen die Textexoterik durch, wobei Goethe aber das Ziel verfolgt, das dahinter real Anliegende vor Augen zu stellen, während Flaubert und Kafka das Reale im ästhetischen Nihilismus des vielzitierten livre sur rien oder des Traums von einer reinen Schrift gerade aufzuheben suchen. Dass Literatur mit solcher Entsemantisierung oder besser: mit dem Projekt der Vernichtung aller Signifikanz an ihr Ende gekommen sei, ist dabei ebenso wenig zutreffend wie die lange Zeit stark gemachte These, sie sei durch die (Auto-)Destruktion ihrer selbst sowie durch die Integration des Hässlichen nicht länger schön zu nennen. 65 Zwar glaubt negative Literatur den Bildern nicht länger, mit denen sie doch - notgedrungen - arbeitet, zwar halten Sonderlinge und allerlei Abjektes Einzug, zwar lässt sich auch jener »Verfall [ … ] der Relevanz der Kunst« 66 beobachten, den Hegels Ästhetik ebenso wie bereits die ästhetische Indifferenz der Turmgesellschaft in den Lehrjahren und die Spätstufe des ubiquitären Kitsches in der Education sentimentale beschreiben. 67 Zu den folgerichtigen Paradoxien negativer Kunst gehört aber, dass die Klage über den Tod des Schönen selbst wieder ästhetisch formuliert, dass also das Ende der Kunst wieder zum Gegenstand eines Kunstwerks wird. Noch der »allerelendste Stoff« (Goethe), »le me´diocre« (Flaubert) oder Kafkas heruntergekommene Kleinbürger und zerlumpte Landstreicher lassen sich dazu verwenden. Das »Hinausgehen der 64 Vgl. Schramke: Moderner Roman (Anm. 26 ), 34 f. 65 Vgl. den Band Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. v. Hans Robert Jauß, München 1968 (= Poetik und Hermeneutik III), ebenso Walter Benjamins These vom Auraverlust des Kunstwerks (vgl. »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: W. B.: Abhandlungen (Anm. 18 ), 435 - 508 , hier 440 oder auch Adornos Ästhetische Theorie, die eine negative Kunst einfordert. 66 Odo Marquard: »Zur Bedeutung der Theorie des Unbewussten für eine Theorie der nicht mehr schönen Künste«. In: Die nicht mehr schönen Künste (Anm. 65 ), 375 - 392 , hier 382 67 Vgl. zum Phänomen des Kitsches und Schundes Pawel Beylin: »Der Kitsch als ästhetische und außerästhetische Erscheinung«. In: Die nicht mehr schönen Künste (Anm. 65 ), 393 - 406 . <?page no="22"?> 22 1. Einleitung Kunst über sich selbst« 68 hat damit nur eine »Entschränkung des Kunstfähigen« 69 befördert, nicht das Ende der Kunst, sondern das Ende einer bestimmten, normativen - bei Hegel: klassischen - Idee von Kunst und Schönheit, von der sich zeit- oder epochenspezifische Historisierungen absetzen. 70 Die Kunst besitzt im klassisch-kanonischen Sinne nicht länger schöne Inhalte, aber sie ästhetisiert weiterhin ihre Gegenstände, obgleich sie an den schönen Schein nicht mehr glaubt. Im Folgenden wird die vorliegende Studie diesen, hier nur skizzenhaft ausgeführten, Überlegungen in ausführlichen close readings der drei Romane nachgehen. Dabei wird sie die in chronologischer Reihenfolge behandelten Texte in erster Linie auf die Techniken der Exoterik und Esoterik und auf den ontologischen Status der Bildlichkeit hin untersuchen. Daraus ergeben sich nicht nur weitere historische, stilistische und motivische Perspektivierungen für die Genese einer Strömung der klassischen Moderne, sondern im Falle Goethes auch die Begründung einer mit allen Mythologica brechenden Romandeutung, im Falle Flauberts eine Explikation des style und im Falle Kafkas eine neue jüdische Lesart des Verschollenen . Dass die Arbeit dabei - wenn auch mit guten Gründen - vielen gewichtigen Ergebnissen der Forschung widerspricht, ist ihr bewusst. Sie tut es aus der Absicht heraus, die Romane ebenso wie die Geschichte ihrer Auslegung auf die Wirkung dessen zurückzuführen, was ihr titelgebend war: den schönen Schein der Literatur. 68 Georg Friedrich Hegel: Ästhetik, nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos ( 1842 ) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge, 2 Bde., Frankfurt/ Main 1955 , I, 87 . 69 Marquard: Theorie des Unbewussten (Anm. 66 ), 379 . Vgl. zur Integration des Hässlichen in die Kunst Karl Maurer: »Ästhetische Entgrenzung und Auflösung des Gattungsgefüges in der europäischen Romantik und Vorromantik«. In: Die nicht mehr schönen Künste (Anm. 65 ), 319 - 342 . 70 Vgl. Joachim Jacob: »Schön«. In: RDL Bd. 3 , 383 - 387 . Dabei wäre das Problem literarischer Pragmatik zu bedenken, dass die Schilderung eines historisch definierten beau relatif durchaus auf ein beau universel weisen kann. <?page no="23"?> 2. »Hokuspokus« und »Mystifikationen«. Zur Kritik der ästhetischen Bilder in Goethes Lehrjahren Avanturiers, Comoedianten, Maitressen, Krämer und Philister sind die Bestandtheile des Romans. Wer ihn recht zu Herzen nimmt, ließt keinen Roman mehr. (Novalis) Es ist aber ein Märchen, eine poetische Fiktion. (Aurelie in den Lehrjahren ) 2.1 Forschungslage Goethes Lehrjahre gehören bis heute zu den am häufigsten behandelten Texten der Weimarer Klassik und überhaupt der deutschen Literatur. Wer sich mit ihnen beschäftigen will, sieht sich einer nahezu unüberschaubaren Masse an Sekundärliteratur gegenüber, die heterogenste und widersprüchlichste Lesarten bereithält und besonders in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten den Zugang zum ohnehin schwierigen Text durch modische und modischste Methoden verkompliziert hat. So will scheinen, dass in der Forschung kaum eine Methode, geschweige denn eine These, unbestritten geblieben wäre. Sicher begreift die communis opinio den Roman schon seit mehr als zwei Jahrhunderten als Paradigma des Bildungsromans. Doch daneben hat die Forschung seit geraumer Zeit immer wieder Zweifel am Progress zu schöner Bildung geäußert, und in diesem Zusammenhang wurde ihr auch ein überkommenes Goethe-Bild fragwürdig, das den Dichter als universalsymbolischen Harmonisierer von Lebenswirklichkeiten vorstellte. So hat den Autor und seinen Roman ein Deutungsstreit erfasst, der sich an der Frage der Gesamtauslegung ebenso ausweisen ließe wie etwa an Personen wie Mignon, Natalie, Lothario oder Wilhelm. Was aber einerseits für Produktivität und stetigen Fortschritt der Germanistik als Wissenschaft zu sprechen scheint, ist andererseits dann ein Problem, wenn in der Summe eine Aussage die andere aufhebt, und man muss nicht von der sprichwörtlichen »Wut des Verstehens« 1 ergriffen sein, um derlei drohende Suspendierung von Sinn unbefriedigend zu finden. Neue Interpretationen können vor diesem Hintergrund kaum den Dissens fortsetzen oder die strittigen Fragen durch die schiere Mehrheit des Geschriebenen entscheiden wollen. Die Probleme der Forschung sind aber nur dann zu lösen, wenn sie zunächst in ihren Prämissen verstanden und in ihrer historischen Genese angeschaut sind. Dazu ist ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Romans notwendig. Goethe selbst sah deren verschlungene Wege voraus. Gegenüber Kanzler von Müller befand er noch 1821, dass »[d]ie guten Deutschen [ … ] immer gehörige Zeit [bräuchten], bis sie ein vom Gewöhnlichen abweichendes Werk verdaut, sich zurecht geschoben, genüglich reflektiert hätten.« 2 Er sollte Recht be- 1 Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/ Main 1988 . 2 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe, hg. v. Renate Grumach, München 1982 , 51 . <?page no="24"?> 24 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« halten. Forschung und Kritik seit 1800 zeigen eine solche Diversität der Argumente und Themen, dass es die Aufgabe eines Forschungsberichts nicht sein kann, sie lückenlos zu erfassen. Es ist aber in systematischer Perspektive nicht ohne Belang, dass sich aus der Polyphonie der Meinungen schon von Anfang an ein fundamentales Problem der Deutung isolieren lässt, das man als die Frage nach der Pragmatik des Romans bezeichnen könnte. Damit ist nicht in erster Linie die generelle Schwierigkeit aufgeworfen, wie ein objektiver, sich also jeden Urteils zumindest auf den ersten Blick enthaltender Roman auf eine Formel gebracht werden könne oder ob er gar die Meinung des Autors erkennen lasse. Es geht vor allem um den Status der Bilder, derer der Text sich zur Schilderung von Welt bedient. Dass mimetische Literatur wie Malerei sein, Techniken der descriptio und ekphrasis anwenden und auf diese Weise den spezifisch ästhetisch-schönen Schein generieren solle, ist dabei ebenso vorausgesetzt, wie es die Lehrjahre - etwa mit dem immer wiederkehrenden Gemälde des kranken Königssohns - sinnfällig vor Augen führen. Schon die Zeitgenossen glaubten aber im Roman eine Diskrepanz zwischen Form und Stoff, schönem Schein und nüchternem Inhalt oder Poesie und Prosa zu bemerken, die der Erwartung widersprach, es müsse sich das Bild mit seinem Gegenstand decken. Avancierte der Roman einerseits auch dank dieser Beobachtung zur hochgelobten Summe seiner Epoche - bekannt ist Friedrich Schlegels später freilich relativierte These, die »Französische Revoluzion, Fichte’s Wissenschaftslehre, und Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters« 3 -, so wurde andererseits die Deutung beträchtlich verunsichert. Denn unklar wurde, ob die Bilder oder der Stoff das letzte Wort haben sollten, ob den Bildern also zu trauen war oder ob sie das eigentlich geschilderte Reale nur schön - und trügerisch - verklärten. Die Objektivität des Romans bot beide Varianten der Deutung ebenso an, wie sie keine zu privilegieren schien, und so las eine bildergläubige, zumeist bürgerliche Forschungsrichtung die Lehrjahre bald als poetischen Bildungsroman, während eine andere, zumeist antibürgerliche, im Text eher die Heraufkunft nüchterner Ökonomie und das Ende des Schönen zu erblicken glaubte. Es ist daher nicht übertrieben zu sagen, dass die Auslegung der Lehrjahre wie bei kaum einem anderen Roman von der plausiblen Auflösung dieses fundamentalen Deutungsgegensatzes abhängt. Erst so ließe sich eine Erhellung der Textpragmatik ebenso gewinnen wie eine entsprechende Verortung der aus ihr resultierenden Interpretationsaspekte. Freilich ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, dass die Forschung - wie es scheint - eine zufriedenstellende Lösung des Problems bis heute nicht vorgelegt hat. Weiß man auch, dass in Goethes Texten eine »Exoterik« der Bilder vorherrscht, die das nach Maßgabe der »Esoterik« 4 Gemeinte nicht leicht erkennen lässt, so blieb doch offen, ob die Lehrjahre eine »Wiederkehr des Mythos« 5 betreiben oder ob sie die Relevanz von Mythologica ›esoterisch‹ bestreiten. Damit ist aber im Grunde nur ein ungelöster Dissens aktu- 3 Friedrich Schlegel: »Fragmente«. In: Athenäum. Eine Zeitschrift, hg. v. August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Berlin 1798 , Erster Band, Zweites Stück, 179 - 322 , hier 232 (= Reprographischer Nachdruck Darmstadt 1992 ). 4 Hier wie sonst folge ich mit dem funktionalen Begriffspaar Exoterik-Esoterik dem Aufsatz von Heinz Schlaffer: »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen«. In: GJb 95 ( 1978 ), 212 - 226 . Vgl. dazu ausführlich die Einleitung dieser Arbeit. 5 Vgl. Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980 . Schlaffer spricht den Meister-Romanen einen »diaphanen Charakter« zu, der das »Durchscheinen mythologischer Hintergründe durch den oberflächlichen Sachverhalt einer fiktionalen Realität« ( 3 ) erzeuge und von der Unmöglichkeit berichte, in prosaischer Zeit auf Kunst zu verzichten (vgl. ebd., 7 ). <?page no="25"?> 25 2.1 Forschungslage alisiert, der schon Goethes Zeitgenossen umtrieb. 6 Schon Schiller, bekanntlich der erste Leser der Lehrjahre , fasste den Text als einen in formaler Hinsicht zweifelhaften Bildungsroman auf. Zwar werde Wilhelm »von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes tätiges Leben« 7 geführt, aber diesem exoterischen Eindruck der Bilder widerspreche die »schlechterdings nicht poetisch[e]« Form des Romans, die »es dem Verstande immer recht machen« wolle. So entstehe ein »sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung«, bei dem unentschieden bleibe, ob dem »poetischen Geiste« oder der »Nüchternheit« das letzte Wort gehöre. 8 In ähnlicher Weise bemerkte auch Friedrich Schlegel den Hiat zwischen nüchternem Stoff und schöner Form. Seine bekannte Romanrezension Über Goethes Meister (1798) erhebt den Text aber zu einem Beispiel progressiver Universalpoesie, die den nüchternen, unbedeutenden Inhalt durch »Dichtergeist« so darstelle, dass »diese wunderbare Prosa [ … ] Prosa und doch Poesie« 9 sei und als schöne Synthese und »Harmonie von Dissonanzen« 10 verstanden werden müsse. Dem Primat des Poetischen widersprach freilich Novalis, der wie Schlegel und Schiller im Roman die Dissonanz zwischen der »Anmuth des Sprechens« 11 und den dargestellten, bloß »gewöhnlichen menschlichen Dingen« 12 festgestellt hatte. Nachdem er die Lehrjahre zunächst als »romantisch[e]« 13 Poetisierung des Faktischen gerühmt und Goethe als »Statthalter des poetischen Geistes auf Erden« 14 gefeiert hatte, stellte sich bald Ernüchterung ein. Die Schriften ab 1799 revidieren die frühere Begeisterung und geben der Überzeugung Ausdruck, dass Goethes Roman die Poesie nicht feiere, sondern sie im Gegenteil aufhebe. Die Lehrjahre seien »durchaus prosaisch - und modern«, in ihnen gehe »[d]as Romantische [ … ] zu Grunde«, und übrig bleibe am Ende nur die »Oeconomie« 15 . Die Entdeckung des Novalis war, dass der Roman, »so poetisch auch die Darstellung« erscheine, »eigentlich ein Candide [sei], gegen die Poesie gerichtet« 16 . Der Roman müsse also bilderkritisch - d. h. gegen den exoterischen schönen Schein - gelesen werden, damit die Sicht auf das esoterisch Gemeinte freigegeben werde, und das falle eben den Lesern, die wie Novalis selbst zunächst von der »Magie des Vortrags« und der »Schmeicheley einer glatten, gefälligen [ … ] Sprache« 17 geblendet würden, nicht leicht. Damit war Schillers Schwanken zwischen Poesie und Prosa je zugunsten einer Seite entschieden und auf eine wirkungsmächtige Formel gebracht. Mit Schlegel konnte man hinfort den Akzent auf die Kraft der poetischen Bilder setzen, mit Novalis 6 Die nachfolgenden Positionen werden z. T. ausführlich im anschließenden Unterkapitel diskutiert, so dass sich hier zuweilen auf eine knappe Wiedergabe beschränkt werden kann. 7 Brief vom 08 . Juli 1796 . In: Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, MA 8 . 1 , 206 . Im Folgenden bezieht sich die Sigle MA mit entsprechender Bandangabe immer auf die Münchner Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, 21 in 33 Bänden, München/ Wien 1985 - 1998 . 8 Brief an Goethe vom 20 . 10 . 1797 . In: Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, MA 8 . 1 , 439 f. 9 Friedrich Schlegel: »Über Goethe’s Meister«. In: Athenäum (Anm. 3 ), 323 - 354 , hier 334 . 10 Ebd., 330 . 11 Novalis: Fragmente und Studien. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, 3 Bde., Darmstadt 1978 , Bd. II, 751 - 848 , hier 765 . 12 Novalis: Fragmente und Studien. In: Ders.: Werke (Anm. 11 ), Bd. II, hier 800 . Kursiv im Original. 13 Novalis: Das allgemeine Brouillon. In: Ders.: Werke (Anm. 11 ), Bd. II, 473 - 720 , hier 561 . Kursiv im Original. 14 Novalis: Blüthenstaub. In: Werke (Anm. 11 ), Bd. II, hier 225 - 286 , hier 279 . 15 Novalis: Fragmente und Studien (Anm. 11 ), 800 f. 16 Ebd., 807 . 17 Ebd., 765 . <?page no="26"?> 26 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« hingegen auf die Nüchternheit der ›unpoetischen‹ Ökonomie. Der folgende Blick auf Stationen der Rezeptionsgeschichte zeigt, dass die Mehrheit der Leser freilich an Bildern und ästhetischem Schein festzuhalten geneigt war. 2.1.1 Exoterik Dass die Lehrjahre als Bildungsroman gelesen werden konnten, war zunächst durch Schillers Wort von Wilhelm Meisters Eintritt in ein »bestimmtes tätiges Leben« vorbereitet worden. Christian Gottfried Körners Aufsatz »Über Wilhelm Meisters Lehrjahre«, 1796 in den Horen veröffentlicht, bestimmte im Sinne von Schillers anthropologischem Ideal der ›schönen Seele‹ als Thema des Romans die »Darstellung einer schönen menschlichen Natur, die sich durch die Zusammenwirkung ihrer innern Anlagen und äußern Verhältnisse allmählich ausbildet« und zum Ziel ein »vollendetes Gleichgewicht - Harmonie mit Freiheit« 18 habe. Damit war die Richtung der Romanrezeption folgenreich bestimmt. Die Idee fortschreitender persönlicher Vervollkommnung griff 1819 der Dorpater Universitätsprofessor Karl Morgenstern auf und erhob Goethes Roman zum Paradigma dessen, was er als ›Bildungsroman‹ explizierte: Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweitens aber auch, weil er gerade durch diese Darstellung des Lesers Bildung, in weiterem Umfange als jede andere Art des Romans, fördert. 19 Dürfte Morgernsterns Bemühung um Typisierung und begriffliche Erfassung zunächst wenig bis kaum rezipiert worden sein, fand hingegen die Definition der »modernen bürgerlichen Epopöe« 20 ungleich größere Beachtung, die Hegels zwischen 1820 und 1829 gehaltene Vorlesungen über die Ästhetik anboten. Indem sie zugleich den Begriff der Bildung im Begriff einer Dialektik von Subjekt und Welt konkretisierten, hielten sie fest, im modernen Roman gehe es um den Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse [ … ]: ein Zwiespalt, der sich entweder tragisch oder komisch löst oder seine Erledigung darin findet, daß einerseits die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten, andererseits aber von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen und dadurch eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen. 21 Die Tendenz zur Poetisierung des Faktischen ließ sich im Folgenden ebenso als Votum für die Exoterik der schönen Bilder verstehen, wie der von Hegel geschilderte Prozess der tätigen Integration in die Welt zum wesentlichen Merkmal des Bildungsromans avancierte. Wil- 18 Christian Gottfried Körner: »Über Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Die Horen ( 1796 ), 12 . Stück, Tübingen 1796 , 105 ff. Ich zitiere nach: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre, hg. v. Klaus Gille, Königstein/ Ts 1979 , 8 - 14 , hier 9 f (weiterhin zitiert als Gille). 19 Karl Morgenstern: »Über das Wesen des Bildungsromans«. In: Inländisches Museum 1 ( 1820 ), H. 1 , 46 - 61 ; H. 3 , 13 - 27 , hier 13 . 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 3 Bde., Frankfurt/ Main 1986 , Bd. 3 , 392 . 21 Ebd., 393 . <?page no="27"?> 27 2.1 Forschungslage: Exoterik helm Dilthey unterstrich für die Gattung die Bedeutung der Reifung zur Produktivität und zeichnete in seinem Buch Das Erlebnis und die Dichtung (1905) Goethes Roman als paradigmatischen Vertreter ebenso aus wie als Begründer der Gattung in Deutschland, der mit Hölderlins Hyperion , Tiecks Sternbald , Novalis’ Ofterdingen oder Jean Pauls Titan eine bedeutende Reihe von literarischen Nachfolgern gezeitigt habe: Von dem Wilhelm Meister [ … ] ab stellen sie alle den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird. Die Aufgabe Goethes war die Geschichte eines sich zur Tätigkeit bildenden Menschen [ … ]. 22 Mit diesem Bildungsziel war die Kanonisierung der Lehrjahre als Bildungsroman auf den Weg gebracht. Georg Luka´cs’ Studie Theorie des Romans (1920) griff sie mit der Formel von der »Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit« 23 ebenso auf, wie sie in den Arbeiten von Melitta Gerhard 24 , Fritz Martini 25 und Rolf Selbmann 26 noch bis in die heutige Zeit Bestand hat. 27 Im Grunde wurde auf diese Weise aber nur jene Integration des Romans »in das bürgerliche Zeitalter« 28 fortgesetzt, die schon das 19. Jahrhundert betrieben hatte. Adolf Schölls Aufsatz »Goethe als Staats- und Geschäftsmann« (1862/ 63) etwa lobt das Ethos praktischer Entsagung, das aus den Lehrjahren spreche. Denn Goethes eigene »Lossagung von politischen Einbildungs-Idealen« 29 korrespondiere Wilhelms Hinwendung zu »natureinstimmig praktische[r] Tüchtigkeit« 30 im »sozialen System der Mitwelt« 31 , und mit diesen ökonomischen Realtugenden konnte sich das nachrevolutionäre Bürgertum ebenso identifizieren, wie Wilhelms allmählicher Bildungsgang zu »Klarheit und Tat« 32 in Albert Bielschowskys Goethe - Monographie noch 1896 dem gründerzeitlichen Kaiserreich als Projektionsfläche des »Entwicklungsganges des deutschen Volkes selbst« 33 diente. Die Nachkriegsgermanistik betrachtete die Lehrjahre insgesamt als überzeitliches Kunstwerk und vermied politische Aktualisierung, griff die Würdigung bürgerlicher Entsagung aber dennoch auf. Erich Trunz, der Herausgeber der ›Hamburger Ausgabe‹, urteilte im Nachwort zu den 1950 darin er- 22 Wilhelm Dilthey: »Friedrich Hölderlin«. In: Ders.: Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen 16 1985 , 242 - 317 , hier 272 [zuerst 1905 ]. 23 Georg Luka´cs: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt 3 1965 [zuerst Berlin 1920 ], bes. 135 - 147 . 24 Melitta Gerhard: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes ›Wilhelm Meister‹, Halle/ Saale 1926 . 25 Fritz Martini: »Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie«. In: DVjs 35 ( 1961 ), 44 - 63 . 26 Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart/ Weimar 2 1994 . 27 Ebenso Ivar Sagmo: Bildungsroman und Geschichtsphilosophie. Eine Studie zu Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, Bonn 1982 , sowie zuletzt noch Bernhard Greiner: »Der Gedanke der Bildung als Fluchtpunkt der deutschen Klassik. Natur und Theater: Goethes ›Wilhelm Meister‹«. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 48 ( 2007 ), 215 - 245 . 28 Gille: Einführung, VII-XL, hier XXIV. 29 Adolf Schöll: »Goethe als Staats- und Geschäftsmann«. In: Preußische Jbb 10 ( 1862 ) und 11 ( 1863 ), zitiert nach Gille, 171 - 183 , hier 174 . 30 Ebd., 176 . 31 Ebd., 175 32 Albert Bielschowsky: Goethe. Sein Leben und seine Werke, 2 Bde., München 1896 - 1904 , zit. nach Gille, 184 - 194 , hier 187 . 33 Ebd. <?page no="28"?> 28 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« schienenen Lehrjahren , dem Roman gehe es darum, den »bürgerlichen Alltag von höchsten Ansprüchen her« 34 zu erfassen. Darunter sei der Prozess zu »innere[r] Reife« 35 zu verstehen, die Wilhelm durch »pflichtmäßige [ … ]« 36 und »gemeinsame [ … ] Tätigkeit« 37 das »Positive einer Begrenzung« 38 einsehen lasse. Auch Emil Staigers großangelegte Goethe-Monographie der Jahre 1952/ 56 liest die Lehrjahre - freilich unter Ausblendung alles sozialen Gehalts - als Weg zur »Vollendung des Menschlichen« 39 oder der »Entelechie, die Wilhelm Meister heißt« 40 . Wilhelms Entwicklung bestehe in der Absage an die »Ausschreitungen der Phantasie« 41 , zugleich aber in der Anerkennung gewisser Gebote der vom Turm vertretenen Vernunft. So stelle Goethe ein zwar »bewußt begrenztes« 42 , aber eben darum idealmögliches Leben im »Gleichgewicht« 43 zwischen Natur und Vernunft dar. Die Lehrjahre -Interpretation von Hans-Egon Hass (1963) macht für den Roman eine »ironische Komposition« 44 geltend, die Wilhelms verwickelten Entwicklungsgang »mit zart relativierendem Spott« 45 begleite. Sie zeige sich auch darin, dass das am Ende realisierte Bildungsziel, »in einer Gemeinschaft Auserwählter vorbildhaft und zum Wohl der größeren Menschengemeinschaft tätig zu sein« 46 , gerade nicht durch vernünftige Planung, sondern durch glückhaftes Schicksal erreicht worden sei. Dieter Borchmeyers kultursoziologische Monographie Höfische Gesellschaft und Französische Revolution bei Goethe (1977) argumentiert, dass Wilhelms Bildungsideee einem obsoleten aristokratischen Ideal folgt, das im Sinne einer bürgerlichen Entsagungslehre zu überwinden sei. 47 Auch Per Øhrgaards Studie Die Genesung des Narcissus (1978) sieht Wilhelm glücklich am Ziel der »Sozialität« 48 ankommen und versteht Bildung als »Weg zu einem wertvollen Zusammenleben mit anderen«, auf dem der Protagonist vom 34 Erich Trunz: »Nachwort«. In: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. Erich Trunz, München 13 1994 , 689 - 711 , hier 694 (= Hamburger Ausgabe Bd. 7 , zuerst Hamburg 1950 ). Nach dieser Ausgabe werden die Lehrjahre im Folgenden mit in Klammern gesetzter Seitenangabe im Text zitiert. Seitenangaben ohne weitere Angabe beziehen sich also immer auf die Lehrjahre. Die Hamburger Ausgabe (Johann Wolfgang Goethe: Werke, hg. v. Erich Trunz, 14 Bde., München 1981 [zuerst Hamburg 1948 - 1960 ]) wird darüber hinaus hinfort als HA mit Band- und Seitenangabe zitiert. 35 Ebd., 705 . 36 Ebd., 694 . 37 Ebd., 696 . 38 Ebd., 695 . 39 Emit Staiger: Goethe, 2 Bde., Zürich/ Freiburg 1952 - 1956 , Bd. 2 ( 1956 ), 132 . 40 Ebd., 135 . 41 Ebd., 149 . 42 Ebd., 173 . 43 Ebd., 153 . 44 Hans-Egon Hass: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart, hg. v. Benno von Wiese, 2 Bde., Düsseldorf 1963 , Bd. 1 , 132 - 210 , hier 140 . 45 Ebd. 46 Ebd., 208 . 47 Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik, Kronberg/ Ts. 1977 . Borchmeyer hat später aufgrund der Verabschiedung der allseitigen Bildung Zweifel an der Gattungsbezeichnung ›Bildungsroman‹ geäußert, die Lehrjahre seien vielmehr als »Leerjahre« zu bezeichnen und ein nicht-teleologisch verlaufender »Heilungs-, Bekehrungs- oder Konversionsroman«, in dem Wilhelm aber dennoch vom Turm zu einem »guten Ziel« geführt werde (Ders.: »Nachwort«. In: Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. D. B., Düsseldorf 2006 , 585 - 59 , hier 592 f.). 48 Per Øhrgaard: Die Genesung des Narcissus. Eine Studie zu Goethe: ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, Kopenhagen 1978 , 18 . Ganz ähnlich auch bereits Gerda Röder: Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman. Eine Studie zu Goethes ›Wilhelm Meister‹, München 1968 . <?page no="29"?> 29 2.1 Forschungslage: Exoterik »Nur-Privaten befreit« 49 werde. Hannelore Schlaffer hingegen legt in ihrem vieldiskutierten Wilhelm Meister -Buch (1980) den Akzent auf das ästhetische Bildmaterial der Romane. Zwar komme es in der »rationalen Welt der Turmgesellschaft [ … ] auf Verstand, auf Organisation und ökonomische Effektivität« 50 an. Dennoch unterliefen die Lehrjahre solche Dominanz des Prosaischen durch die »Technik der Diaphanie« 51 , also durch das »Durchscheinen mythologischer Hintergründe durch den oberflächlichen Sachverhalt einer fiktionalen Realität« 52 . Durch diese ›Wiederkehr des Mythos‹ führe der Roman vor Augen, dass in den »versteckten mythischen Bildern [ … ] endlich doch die Poesie über die Prosa« 53 siege. Jochen Hörischs an Lacan und Derrida geschulte Romandeutung »Glück und Lücke in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹« (1983) geht dem Begriff des Glücks nach, das Wilhelm am Ende des Romans erlange und das bereits die Forschung der 1960er Jahre beleuchtet hatte. Hörisch urteilt, dass Wilhelm auf dem Weg einer »Logik der Liebe« 54 einer todverfallenen »Sphäre opak intensiver Glückserfahrung« entrate und in den Turmbereich eintrete, in dem »Glück zum ›methodischen‹ Resultat sinnvoller Organisationsformen« zwar »entwertet« 55 , aber gerade deshalb als »erfüllte [ … ] Lücke« 56 zum Preis oktroyierter Entsagung real möglich sei. Helmut Koopmanns Lehrjahre -Deutung aus dem Jahr 1985 sieht Wilhelms Bildungsweg zwar als nichtlinearen Vorgang, bewertet ihn aber dennoch als »Heilungsprozeß« 57 . Er zeige Wilhelms Herauslösung aus den Gefahren einer »solipsistische[n] Daseinsform« und erweise, dass es nicht darum gehe, »den Menschen in der Totalität seiner Möglichkeiten auszubilden, sondern vielmehr darum, ihm eine soziale Bildung zu vermitteln.« 58 Aus diesem Grund sei der Roman als »Bildungsgeschichte des Bürgertums schlechthin« 59 ebenso zu lesen wie als Goethes »Abrechnung mit falsch verstandenen Sozialbeziehungen« 60 . Besonders aber hat ab den 1980er Jahren Hans-Jürgen Schings eine Reihe von Aufsätzen vorgelegt, die der Lehrjahre -Forschung mit der Substituierung des Bildungsbegriffs durch den Begriff der Heilung neue Impulse gegeben haben. Schings’ Artikel »Agathon - Anton Reiser - Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman« (1984) konstruiert moderne Subjektivität als allmählichen Prozess der Gesundung von »falsche[r] Tendenz, pathetische[r] Sentimentalität, endlose[m] Schmachten« 61 und macht die Lehrjahre zum 49 Øhrgaard: Narcissus (Anm. 48 ), 18 . 50 Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister (Anm. 5 ), 5 . 51 Ebd. 52 Ebd., 3 . 53 Ebd., 5 . Ulrich Schödlbauers Monographie (Kunsterfahrung als Weltverstehen. Die ästhetische Form von ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, Heidelberg 1984 ) knüpft an Schlaffers mythologische Lesart an und bestimmt die Lehrjahre als eine »Vielheit von einzelnen Formkomplexen« ( 165 ), deren Lesbarkeit nur noch durch paradigmatisch unterlegte »mythologische [ … ] Konfigurationen« ( 166 ) garantiert werde. 54 Jochen Hörisch: »Glück und Lücke in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. In: Ders.: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt/ Main 1983 , 30 - 99 , hier 31 . 55 Ebd., 32 . 56 Ebd., 81 . 57 Helmut Koopmann: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Goethes Erzählwerk, hg. v. Paul Michael Lützeler und James E. McLeod, Stuttgart 1985 , 168 - 191 , hier 182 . 58 Ebd., 181 . 59 Ebd., 183 . 60 Ebd., 184 . 61 Hans-Jürgen Schings: »Agathon - Anton Reiser - Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman«. In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik <?page no="30"?> 30 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« »klassischen Zeugnis wider die Hypochondrie in allen ihren Spielarten.« 62 In einem ganz ähnlichen Sinne, als glückliche Heilungsgeschichte eines Melancholikers, nimmt Schings in seinem Aufsatz »Wilhelm Meisters schöne Amazone« (1985) vor allem die Kunstreminiszenzen des Romans in den Blick. So spiegele sich in der ästhetischen Überlieferung - Tasso, kranker Königssohn, Hamlet - die hypochondrische Gefährdung des Protagonisten wider, deren »Täuschungen der Einbildungskraft« 63 Wilhelm erst bei seiner Integration in die Turmgesellschaft überwinde. Wilhelms Wendung zum Gesunden geht Schings’ Aufsatz »Natalie und die Lehre des †††« nach, der die Turmmaxime tätig-erfüllter Lebensführung auf Spinozas Lebenskunst der Ethik zurückführt, 64 und für solchen Erziehungsprozess zum neuen Menschen sieht Schings in den Lehrjahren schließlich Anleihen beim Geheimorden der Illuminaten. 65 Den umfassendsten Versuch einer bilderästhetischen Lektüre hat Hellmut Ammerlahn seit den 1970er Jahren in leichter Variation bis in die heutige Zeit vorgelegt. In Studien wie »Goethe und Wilhelm Meister« (1978) 66 oder Imagination und Wahrheit (2003) 67 werden die Lehrjahre als Künstlerroman gelesen, der Wilhelms Ausbildung zum Dichter zeige und ihn zum Erwerb von Sinnlichkeit und Vernunft, der Goetheschen »Ganzheit« 68 , heranreifen lasse. Seinen Ausdruck finde das gelungene Künstlertum im allegorischen Gemälde vom kranken Königssohn, auf dem Seleukos (Shakespeare) seine Braut Stratonike (Natalie und die vollendete Natur) an Antiochus (den Dichter Wilhelm/ William) übergebe. 69 Gegenüber solch kaum mehr am Text nachweisbarer Auslegung hat Franziska Schößlers Monographie Goethes Lehr- und Wanderjahre (2002) eine stärker kultur- und vor allem medizingeschichtliche Deutung vorgeschlagen. Die Lehrjahre zeigten insbesondere ökonomische »Transformationsprozesse« 70 , denen sich Privates und Ästhetisches unterzuordnen hätten und die das aufklärerische Bildungskonzept verabschiedeten: Ihre Forderung nach »Entsagung« 71 und einer »medizinisch-diätetische[n] Vorsorge« 72 gegen abgründige Emotionalität nötige zur Aufhebung des alten Subjekts. Zwar werde Wilhelm am Ende in den Turm integriert, aber die Beziehung zur Sozietät bleibe spannungsreich und fragwürdig. Wie bei Schößler wird die Vorstellung von Wilhelms geglückter Sozialintegration auch in neueren Arbeiten zum subjekttheoretischen Hintergrund der Lehrjahre zwar nicht aufgegeben, von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium, hg. v. Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1984 , 42 - 68 , hier 55 . 62 Ebd., 68 . 63 Ders.: »Wilhelm Meisters schöne Amazone«. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 29 ( 1985 ), 141 - 206 , hier 200 . 64 Ders.: »Natalie und die Lehre des †††. Zur Rezeption Spinozas in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹«. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 89 / 90 / 91 ( 1985 - 1987 ), 37 - 88 . 65 Ders.: »›Wilhelm Meister‹ und das Erbe der Illuminaten«. In: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, hg. v. Walter Müller-Seidel und Wolfgang Riedel, Würzburg 2002 , 177 - 203 . 66 Hellmut Ammerlahn: »Goethe und Wilhelm Meister, Shakespeare und Natalie: Die klassische Heilung des kranken Königssohns«. In: JbFDH ( 1978 ), 47 - 84 . Zu nennen ist auch: Ders.: Natalie und Goethes urbildliche Gestalt. Untersuchungen zur Morphologie und Symbolik von ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹, Austin/ Texas, Diss. (Masch.) 1965 . 67 Ders.: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg 2003 . 68 Ebd., 13 . 69 Ebd., 347 - 378 . 70 Franziska Schößler: Goethes ›Lehr‹- und ›Wanderjahre‹. Eine Kulturgeschichte der Moderne, Tübingen/ Basel 2002 , 183 . 71 Ebd. 72 Ebd., 185 . <?page no="31"?> 31 2.1 Forschungslage: Esoterik aber zunehmend kritisch gelesen. Julia Schölls Aufsatz »Bekenntnisse des Ich« (2008) stellt in Bezug auf die Bildungsgeschichte des Protagonisten fest, dass seine Eingliederung »in die Gesellschaft nicht als vollauf geglückt gelten« 73 könne und seine Subjektivität in wechselvoller Ambivalenz zwischen »Innen und Außen«, den »Bedürfnissen des Subjekts und den Ansprüchen der Gesellschaft« 74 , befangen bleibe. 2.1.2 Esoterik Entgegen solchen Befunden, die eine vorschnelle Harmonisierung verweigern, aber das Rätsel Lehrjahre zuletzt nur desto plastischer hervortreten lassen, hat eine Lektüre, die in der Nachfolge des Novalis Bilderkritik und Ökonomie profilierte, den Begriff allseitiger Bildung oder das Glück der Integration zumeist eindeutig bestritten. Entsprechende Deutungen setzen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Sie blieben gegenüber den exoterischen Interpretationen zahlenmäßig unterlegen, standen zum Teil unter dem Eindruck von Goethes zuerst 1821, dann 1829 neu erschienenen Wanderjahren oder waren zunächst Ausdruck eines durch den zeitgenössischen Aufschwung von Hegelianismus und Frühsozialismus begeisterten Blicks für gesellschaftliche Zusammenhänge. Karl Rosenkranz, Philosoph und Hegel-Schüler, subsumierte die Lehr - und Wanderjahre in seinem Buch Goethe und seine Werke (1847) unter dem Begriff des ›Sozialromans‹, dessen Thema - der ökonomische Folgen zeitigende »Übergang der bürgerlichen Gesellschaft in die höhere Form des Vernunftstaates« 75 - sich nur dann erschließe, wenn der Leser an den Texten nicht nur den »historischen Stoff« 76 zur Kenntnis nehme oder die »Anmut der Sprache« 77 schätze, sondern über beide hinaus zum »Begriff des Gehaltes« 78 vordringe. Auch der Kulturhistoriker Ferdinand Gregorovius hielt die Meister -Romane in seinem Werk Goethes Wilhelm Meister in seinen sozialistischen Elementen entwickelt (1849) für »soziale [ … ] Dichtung[en]« 79 . In ihnen verkläre Goethe »den harten Knechtsdienst des Menschen, das traurige Loos des Proletariats, und heb[e] es in die schönere Menschlichkeit poetisch empor« 80 . Auf diese Weise wirke er an der Aufhebung aller Standesunterschiede mit, die für den Arbeiter bereits die Lehrjahre durch die Idee einer emanzipatorischen Bildung auf den Weg gebracht hätten. Ähnlich marxistisch befindet Georg Lukacs in seinem 1936 verfassten Essay Wilhelm Meisters Lehrjahre , Goethe schildere mit der Turmgesellschaft eine Gruppe »hervorragender Menschen« 81 , die die »humanistischen Ideale« 82 der Revolution gerade in der bürgerlichen Gesellschaft umzusetzen versuchten und auf diese Weise eine Synthese von Ökonomie und Kultur anstrebten. Nüchterner urteilte der Jurist und Politiker Gustav Radbruch in seinem zwischen 1916 und 73 Julia Schöll: »Bekenntnisse des Ich. Zum Entwurf des Subjekts in Goethes doppeltem Bildungsroman ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹«. In: GJb 125 ( 2008 ), 38 - 50 , hier 46 . Vgl. zum Thema auch Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen, Berlin 2006 . 74 Schöll: Bekenntnisse (Anm. 73 ), 48 . 75 Karl Rosenkranz: Goethe und seine Werke, Königsberg 1847 , zitiert nach Gille, 153 - 158 , hier 154 . 76 Ebd., 153 . 77 Ebd. 78 Ebd., 154 . 79 Ferdinand Gregorovius: Goethes Wilhelm Meister in seinen sozialistischen Elementen entwickelt, Königsberg 1849 , zitiert nach Gille, 159 - 163 , hier 160 . 80 Ebd. 81 Georg Lukacs: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Ders.: Goethe und seine Zeit, Bern 1947 , 31 - 47 , zit. nach Gille, 224 - 239 , hier 236 . 82 Ebd. <?page no="32"?> 32 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« 1944 immer wieder überarbeiteten Aufsatz Wilhelm Meisters sozialistische Sendung (1944). Die Lehrjahre schilderten ein sozioökonomisches Reformprojekt, das mit dem Weltbundplan selbst aus »wirtschaftliche[n] Notwendigkeiten« 83 hervorgehe. Es führe nicht zuletzt dazu, dass die Idee einer allseitigen Bildung des Individuums »dem heraufziehenden Zeitalter der Technik« 84 und der Ökonomie geopfert werde, und dass sich der Einzelne nur noch als »dienendes Glied [ … ] in dem Organismus eines sozialen Ganzen« 85 begreife. Die wirkungsmächtige Studie des Nietzscheherausgebers und Philosophen Karl Schlechta, Goethes Wilhelm Meister (1953), zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass sie den Roman nicht als Plädoyer für ein bestimmtes Sozialmodell, sondern »nur als Dichtung« 86 begreift und damit im »Bereich des Ästhetischen bleiben« möchte. Der die bisherige Forschung gegen den Strich lesende Befund, die Lehrjahre erzählten von der Errichtung einer arbeitsteiligen Gesellschaft, macht mit dem Hinweis auf soziale Kälte und hartherzige Erziehung auf den Preis aufmerksam, den die neue Zeit fordert. Daneben profiliert Schlechta den Text aber als Goethes Absage an den Bildungsroman. Damit wendet er sich ebenso gegen Schillers These, Wilhelm Meister trete in ein ›tätiges Leben‹ ein, 87 wie gegen eine mehr oder minder sozialistisch inspirierte Forschung, die den anscheinend im Sozialgefüge des Turms aufgehenden Wilhelm durchaus als Paradigma einer Gesellschaftsutopie begriffen hatte. Schlechta insistiert demgegenüber darauf, dass Meister kein positives Bildungsziel erfülle, immer wieder in »Sackgassen« gerate und am Ende »nirgends angekommen« 88 sei. Im Folgenden sind diese Thesen von einer Forschung vielfach aufgegriffen und variiert worden, die Ausdruck der Gesellschaftskritik der späten 1960er wie der 1970er Jahre war. Giuliano Baionis Studie Classicismo e Rivoluzione (1969) urteilt, dass Meister im »antihumanistische[n] Wesen einer von der freien Konkurrenz beherrschten Gesellschaft« 89 nur deshalb seine »Harmonie der Persönlichkeit« bewahren könne, weil er »am Ende seiner Lehrjahre zu nichts fähig« 90 sei. Eine erste explizit polit-ökonomische Deutung stellt im Folgenden Stefan Blessins Studie »Die radikal-liberale Konzeption von ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹« (1975) dar. Sie liest den Roman als Entwicklung zu einer »voll ausgebildeten liberal-bürgerlichen Gesellschaft« 91 im Gefolge Adam Smiths, bei der die »Marktgesellschaft [ … ] in ihre uneingeschränkten Rechte eingesetzt« 92 werde. Heinz Schlaffers 1978 erschienener Aufsatz »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen« 93 geht demgegenüber auf die Art und Weise der 83 Gustav Radbruch: »Wilhelm Meisters sozialistische Sendung«. In: Ders.: Gestalten und Gedanken. Acht Studien, Leipzig 1944 , 93 - 127 , hier 105 . 84 Ebd., 104 . 85 Ebd., 97 . 86 Karl Schlechta: Goethes Wilhelm Meister, Frankfurt/ Main 1953 , 11 . 87 Ausführlich dort im Anhang, der »Die Kontroverse mit Schiller« betitelt ist (ebd., 237 - 250 ). 88 Ebd., 12 . 89 Giuliano Baioni: Classicismo e Rivoluzione. Goethe e la Rivoluzione francese, Neapel 1969 . Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung ›Märchen‹ - ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ - ›Hermann und Dorothea‹. Zur Gesellschaftsutopie der deutschen Klassik. In: GJb 92 ( 1975 ), 73 - 127 , hier 110 . 90 Ebd. 91 In: DVjs 49 ( 1975 ), 190 - 225 , hier 214 . Blessin hat seine Deutung in seiner Monographie aus den 1990 er Jahren (Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne, Paderborn 1996 ) teilweise relativiert. Es gebe für Goethes Auseinandersetzung mit Adam Smith keine Hinweise (vgl. 149 ). So müsse der »Anschein des Ökonomismus« (ebd.) vermieden werden, und daher sei »es nicht mehr [ … ] passend, die Konzeption der Lehrjahre auf Ökonomisches zurückzuführen« (ebd.). 92 Blessin ( 1975 ), 225 . 93 Vgl. Schlaffer: Exoterik und Esoterik (Anm. 4 ). <?page no="33"?> 33 2.1 Forschungslage: Esoterik Darstellung ein. Gezeigt wird, dass die Lehrjahre »an den Figuren die falsche Interpretation ihrer eigenen Verhältnisse« 94 vorführten. Durch seine Exoterik scheine der Text »die jeweils zeitgenössischen Ideen: Freiheit, Bildung, Sittlichkeit, Fortschritt« 95 zu bestätigen. Doch dem aufmerksamen Interpreten enthülle er »esoterisch [ … ], wie im Komplex der Zeit diesen zur Ideologie entstellten Ideen die Negation innewohnt: Illusion, Entleerung, Naturverfallenheit, Tod« 96 sowie »instrumentelle[r] Utilitarismus« 97 . Als Skandalon der Goethe- Forschung und Zeichen ihrer »Fühllosigkeit und Blindheit« 98 begreift Schlaffer daher, dass »im gewöhnlichen Verständnis der Turm als Ort der vollendeten Harmonie, als philosophisches Ideal, als Utopie der Humanität« 99 fungiere. Wilhelm Voßkamp setzt die kritische Perspektive fort und liest in seinem Aufsatz »Utopie und Utopiekritik« (1982) die Turmgesellschaft der Lehrjahre als »Sozialutopie« des »modernen«, »zweckrationalen und politisch klugen Verhaltens« 100 . In einem spezifisch polit-ökonomischen Sinne sind die Lehrjahre danach ab der Jahrtausendwende wieder in den Blick gerückt worden. Hatte die Forschung schon seit den 1980er Jahren auf Goethes umfangreiche ökonomische Kenntnisse verwiesen, 101 betrachtet Joseph Vogls Studie Kalkül und Leidenschaft (2002) die Lehrjahre als Dokument eines historischen Diskurszusammenhangs über die Herstellung des ökonomischen Menschen. Es zeige, wie gleichsam die ›unsichtbare Hand‹ (Adam Smith) des Turms die Zusammenfassung individueller Einzelwillen zur Staatspersönlichkeit leiste und die Gesellschaft »auf providentielle Bahnen« 102 lenke. Arne Eppers’ kulturwissenschaftlich orientiertes Buch Miteinander im Nebeneinander (2003) geht dem gesellschaftlichen »Modernisierungsprozeß« der Aufklärungszeit in seiner Dialektik von »Fortschritt und [ … ] Verlust gemeinschaftlicher Lebens- und Kommunikationsformen« 103 nach. Sei in den Lehrjahren das Interesse des Turms auf eine gesellschaftliche Neuordnung gerichtet, die ein »Gemeinschaftsbedürfnis nicht wirklich zu befriedigen« 104 vermöge, so stehe Wilhelm Meister demgegenüber »auf der Seite der Gemeinschaft« und sei Parteigänger eines »modernen Kommunitarismus« 105 . Andre´ Lottmann greift schließlich in seinem Buch Arbeitsverhältnisse (2011) den Ansatz Joseph Vogls auf und betrachtet die Wissensgeschichte der politischen Ökonomie, als deren bedeutenden literarischen Reflex er die Meister -Romane versteht. Die Turmgesellschaft wird dabei ausführlich gelesen als Sozietät mit dem Ziel, den »Erhalt von ›politischer‹ Souveränität durch den Gewinn von ›ökonomischer‹ Souveränität« 106 zu ge- 94 Ebd., 214 . 95 Ebd., 225 . 96 Ebd. 97 Ebd., 221 . 98 Ebd., 219 . 99 Ebd. 100 Wilhelm Voßkamp: »Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹«. In: Ders. (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Stuttgart 1982 , 227 - 249 , hier 235 . 101 Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen zum Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den ›Amtlichen Schriften‹, Frankfurt/ Main 1982 . 102 Joseph Vogl: »Politische Physik«. In: Ders.: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002 , 35 - 54 , hier 36 . 103 Arne Eppers: Miteinander im Nebeneinander. Gemeinschaft und Gesellschaft in Goethes ›Wilhelm Meister‹- Romanen, Tübingen 2003 , 16 . 104 Ebd., 54 . 105 Ebd., 55 . 106 Andre´ Lottmann: Arbeitsverhältnisse. Der arbeitende Mensch in Goethes ›Wilhelm Meister‹-Romanen und in der Geschichte der Politischen Ökonomie, Würzburg 2011 , 141 . <?page no="34"?> 34 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« währleisten, wozu sie sich durch »Praktiken einer »(wissenstechnischen) Vermessung und (polizeilich-intervenierenden) Ordnung des Bevölkerungsraums« einer »polit-ökonomischen Spielart des Kameralismus« 107 bediene. Macht der Blick auf die Rezeptionsgeschichte auch die Genese der gegensätzlichen Forschungspositionen deutlich - denen noch mannigfaltige Differenzierungen und Abschattungen hinzuzufügen wären -, so zeigt er andererseits, dass für die Romandeutung noch nicht viel gewonnen ist. Natürlich hängt das Textverständnis entscheidend davon ab, ob es an exoterische oder esoterische Zusammenhänge geknüpft wird. Die Rezeptionsgeschichte aber demonstriert, dass in Forschungsbeiträgen allem Deutungsscharfsinn zum Trotz die Gründe für die Privilegierung einer Perspektive zumeist stillschweigend vorausgesetzt sind. Der infinite Regress der Argumente wäre also wohl nur durch eine Reflexion auf die Prämissen stillzustellen. Dazu gibt es in der Lehrjahre -Forschung, wie gesehen, gerade in neuerer Zeit einige Ansätze. Sie problematisieren in ihrer Mehrzahl eine exoterische Lesart, die in den Lehrjahren lange Zeit einen harmonischen Bildungsroman und im Turm eine Anstalt der schönen Humanität erblickt und damit weder offenkundige Brüche im Romangeschehen noch das Thema der Ökonomie recht zur Kenntnis genommen hatte. Indem solche Lektüren einerseits Wilhelms spannungsreiches Verhältnis zum Turm betonen, andererseits aber grundsätzlich an Wilhelms Integration in die Sozietät festhalten, bleiben sie freilich bei der Perspektivierung auf Exoterik oder Esoterik unentschieden und lösen das Romanende nicht restlos befriedigend auf. Auf die Esoterik ausgerichtete Deutungen haben hingegen die nüchternen sozial- und politökonomischen Implikationen des Romans entschieden in den Vordergrund gestellt und Wilhelms Eignung zum Turmmitglied zum Teil deutlich bezweifelt. Dabei sind sie indessen wie selbstverständlich über das ästhetische Bildmaterial hinweggegangen, ohne dessen Funktion oder überhaupt die Berechtigung zu solchem Vorgehen explizit zu begründen. Wenn heute also für den Text insgesamt die Relevanz des Ökonomischen kaum mehr in Zweifel steht, so scheint es ihr gegenüber notwendig, nach dem Status der Bilder oder der historischen Mythologica (oder des Gattungsmusters Bildungsroman) zu fragen. Es geht dabei nicht darum, mythologische Hintergründe aufzuspüren oder sie als heimlich eingeschriebenes, unverzichtbares Deutungsparadigma zu postulieren. Vielmehr soll der Text zunächst in einem Kontext historisch perspektiviert werden, der als Goethes Poetologie der Bilder bezeichnet werden könnte und ab Goethes Frühklassik bis zum Spätwerk von einem Prozess zunehmender Kunst- und Sprachskepsis berichtet. In einem zweiten Schritt werden die Lehrjahre anhand exemplarischer Beispiele - etwa Mignon, Natalie, Gemälde vom kranken Königssohn oder Wilhelms Initiationsszene - daraufhin untersucht, welche Relevanz sie Bilder und Mythenzitaten zuschreiben. Auf diese Weise soll eine Entscheidung über die Plausibilität der Lektüreansätze und über das Gewicht gewonnen werden, das sozial-ökonomischen Phänomenen eingeräumt wird. Sollte sich aber erweisen, dass die Lehrjahre die Verbindlichkeit von Mythologica (und Gattungsfragen) in Handlung und Reflexion unterlaufen, ließe sich der Roman als Warnung vor der Wirkung einer ungezügelten Einbildungskraft lesen, die die Wahrnehmung ins Phantastische abgleiten lässt, anstatt sie bei Realem zu beruhigen. An der Figur des Wilhelm Meister würde dann ein Auslegungsproblem explizit, das sich auf Phänomene von ›Welt‹ ebenso wie auf schöne Bildlichkeit beziehen lässt. Wilhelm, den schon seine Jugendgeschichte als Leser mit 107 Ebd. <?page no="35"?> 35 2.2 Goethes Poetologie der Bilder ›falscher Tendenz‹ einführt und der bis zuletzt die schönen Zeichen- und Bilderwelten von Text und Turm gläubig entziffert, wäre der Prototyp eines Schwärmers, dem Ästhetisches den Blick auf Faktisches verstellt. Ihn zur Nüchternheit zu erziehen, ist das Anliegen des Turms. Durchaus ist dieser Prozess aber auch auf den Leser der Lehrjahre gemünzt: Wie Wilhelm soll er lernen, die Textur von Roman und Welt mit Bedacht auszulegen und den schönen Schein auf reale Verhältnisse zurückzuführen. Exoterik und Esoterik enthüllten sich dann also nicht als einander ausschließende Deutungsalternative, sondern als die zwei Seiten einer Medaille, die von der doppelten Buchführung des Textes konstituiert wird. Von der Schwierigkeit entsprechender Lektüre und von der Macht der Bilder berichtet dann aber die germanistische Rezeption, die dem Plädoyer für die Nüchternheit zumeist nicht folgte. Ob Wilhelm Meister ein gelehrigerer Schüler ist, bleibt zu fragen. 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Dass der Roman zu exoterischen und esoterischen Deutungen Anlass bot, ist kein Zufall. Der Roman exponiert offenbar als Problem, was zu solch konträrer Auslegung ermutige. Denn die Lehrjahre sind durchaus auf Konfusion angelegt. Schon Goethe hielt das Werk deshalb für »eine der inkalkulabelsten Produktionen« 108 und rechnete damit, dass man in Deutschland Schwierigkeiten mit dem Text haben werde: »Die guten Deutschen brauchten immer gehörige Zeit, bis sie ein vom Gewöhnlichen abweichendes Werk verdaut, sich zurecht geschoben, genüglich reflektiert hätten.« 109 Die Abweichung des Romans liegt im formalen Verfahren begründet. Nicht leicht lässt es sich auf den Begriff bringen. Richtig verstanden, könnte es jedoch den Forschungszwist auflösen. Worum es geht, war Schiller bei erneuter Lektüre des Meister im Oktober 1797 aufgefallen. Der Blick in den Briefwechsel der beiden Dichterfreunde lohnt sich, vertraute Goethe doch Kanzler von Müller an: »In seinen [Schillers, M. K.] Briefen an mich sind über den Wilhelm Meister die bedeutendsten Ansichten und Äußerungen.« 110 An Goethe schreibt Schiller also über seine Leseeindrücke: Die Form des Meisters, wie überhaupt jede Romanform ist schlechterdings nicht poetisch, sie liegt ganz nur im Gebiete des Verstandes, steht unter allen seinen Foderungen und partizipiert auch von allen seinen Grenzen. Weil es aber ein echt poetischer Geist ist, der sich dieser Form bediente, und in dieser Form die poetischen Zustände ausdrückt, so entsteht ein sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung, für die ich keinen rechten Namen weiß. Ich möchte sagen, es fehlt dem Meister (dem Roman nämlich) an einer gewissen poetischen Kühnheit, weil er, als Roman, es dem Verstande immer recht machen will - und es fehlt ihm wieder an einer eigentlichen Nüchternheit, (wofür er doch gewissermaßen die Foderung rege macht) weil er aus einem poetischen Geiste geflossen ist. 111 Das Außergewöhnliche der Lehrjahre - dasjenige, wofür Schiller »keinen rechten Namen weiß« - ist das »Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung«. Schiller moniert, der Roman könne sich zwischen Verstand, Form, Prosa, Nüchternheit einerseits und poetischem Geist, poetischem Zustand, poetischer Kühnheit andererseits nicht ent- 108 Goethe: Tag- und Jahreshefte. In: HA 10 , 429 - 528 , hier 446 . 109 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 51 . 110 Ebd., 128 . 111 Brief an Goethe vom 20 . 10 . 1797 . In: MA 8 . 1 , 439 f. <?page no="36"?> 36 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« scheiden. Seinen Gegenstand stelle der Text damit in inadäquater Form dar. Zuweilen vermisse man dichterische Qualitäten sogar vollends: Anstatt in eine »göttliche Dichterwelt« zu führen, lasse der Meister seine Leser »aus der wirklichen Welt nicht ganz heraus [ … ].« 112 Dabei habe Goethe doch das »Ahndungsvolle, das Unbegreifliche, das subjektiv Wunderbare, welches [sich] mit der poetischen Tiefe und Dunkelheit« vertrage, zu benutzen gewusst. Allein es passe wiederum nicht zur »Klarheit [ … ], die im Roman herrschen muß«. So fällt Schiller ein hartes Urteil über den Roman: Es inkommodiert, auf diese Grundlosigkeiten zu geraten, da man überall festen Boden unter sich zu fühlen glaubt, und weil sich sonst alles so schön vor dem Verstande entwirret, auf solche Rätsel zu geraten. 113 Goethe jedenfalls stimmte zu - nicht ohne indessen ironisch anzudeuten, dass der Dichterfreund seine Absicht womöglich nicht ganz begriffen hatte: Was Sie von Meister sagen verstehe ich recht gut, es ist alles wahr und noch mehr. Gerade seine Unvollkommenheit hat mir am meisten Mühe gemacht. Eine reine Form hilft und trägt, da eine unreine überall hindert und zerrt. Er mag indessen sein was er ist, es wird mir nicht leicht wieder begegnen, daß ich mich im Gegenstand und in der Form vergreife und wir wollen abwarten was uns der Genius im Herbste des Lebens gönnen mag. 114 Das Schwanken zwischen Verstand und Poesie sei also zwar »Unvollkommenheit«, aber durchaus eine beabsichtigte, kein dichterischer Missgriff: In Gegenstand und Form des Textes habe er, Goethe, sich mit Absicht ›vergriffen‹. Schiller habe also mit seinem Tadel »Unrecht« 115 gehabt. Argument ist daher: Die Lehrjahre experimentieren mit einer Darstellung (Form), die bewusst nicht zum dargestellten Gegenstand passt. Einen Monat später, im November 1797, scheint Schiller Goethes Stil wirklich besser zu begreifen - und seine harsche Kritik indirekt zu revidieren. Etwas kleinlaut schreibt er dem Freund, im Rahmen seiner Arbeit am Wallenstein habe sich ihm eine »Bemerkung angeboten«, »die Sie vielleicht auch schon gemacht haben«: Es scheint, daß ein Teil des poetischen Interesse in dem Antagonism zwischen dem Inhalt und der Darstellung liegt: ist der Inhalt sehr poetisch-bedeutend, so kann eine magere Darstellung und eine bis zum Gemeinen gehende Einfalt des Ausdrucks ihm recht wohl anstehen, da im Gegenteil ein unpoetischer gemeiner Inhalt, wie er in einem größeren Ganzen oft nötig wird, durch den belebten und reichen Ausdruck poetische Dignität erhält. 116 Erwogen wird, dass die dichterische Darstellung mit ihrem Gegenstand nicht übereinstimmen muss. Ästhetisch-poetische Verklärung kann über den eigentlich repräsentierten gemeinen Inhalt hinwegtäuschen. Goethe stimmte zu. Noch in Dichtung und Wahrheit definierte er als Aufgabe der Kunst, »durch Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben.« 117 Bilder und Mythologie, derer Literatur sich für ihren schönen Schein bedient, sprechen die Einbildungskraft an und sind dazu angetan, die Niedrigkeit des Geschilderten zu verstellen. Noch der Wallenstein -Prolog fordert aber dazu auf, solchen »Schein/ Der 112 Ebd., 440 . 113 Ebd. 114 Brief an Schiller vom 30 . 10 . 1797 . Ebd., 444 . 115 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 128 . 116 Brief an Goethe vom 24 . 11 . 1797 . Ebd., 450 . 117 Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: MA 16 , 521 . <?page no="37"?> 37 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Wahrheit nicht betrüglich unter[zu]schieb[en]« 118 , und hält dafür, dass »die Täuschung, die sie [die Kunst, M. K.] schafft,/ Aufrichtig [ … ] zerstört« 119 werden müsse. Auch Goethe selbst hat in diesem Sinne die Anleitung zum nüchternen Lesen gegeben: »Schönheit und Geist muß man entfernen, wenn man nicht ihr Knecht werden will.« 120 Zur Kritik an einer zügellos wuchernden Einbildungskraft, so scheint es, soll ermutigt werden. Daraus ergibt sich als Leseanleitung auch der Lehrjahre , dass niemand sich vom Schein täuschen lassen solle und dass die ästhetische Bildlichkeit im Hinblick auf die nüchterne Wahrheit des Inhalts durchzustreichen sei. Eine objektive Kunst steht damit vor Augen, auf die sich Goethe und Schiller seit 1794 geeinigt hatten. Den Horen war bekanntlich aufgegeben, das Publikum zu einer Abwendung von aller Gemütserregungskunst und natürlichen Schwärmerei zu erziehen. Die Zeitschrift werde suchen, hatte Schiller 1794 in der Ankündigung geschrieben, durch etwas anders zu gefallen, als wodurch jetzt alles gefällt. Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. 121 Wie sehr sich Goethe mit der Stoßrichtung gegen eine reine Empfindungskunst anzufreunden vermochte, zeigt noch das Schema Über den Dilettantismus , das er später, 1799, zusammen mit Schiller skizzierte. 122 Gemeinsames Anliegen war der Kampf gegen das bloß Partikular-Subjektive in der Kunst - im Geniestil des Sturm und Drang, den Anfängen der Romantik sowie im allgemeinen Publikumsgeschmack. Zeichen der Zeit und der Kunst sei der Dilettant. Er meine schon genug zu tun, wenn er »Geist und Gefühl« 123 zeige, versäume aber darüber, sich »Ernst und Kunstmäßigkeit« 124 - Studium des Gegenstandes und Beherrschung der Kunstregeln - anzueignen. So zeigten die Werke des Dilettanten immer nur »Neigung und Abneigung ihres Urhebers« 125 , weil der Dilettant »nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegenstand schildern [werde]« 126 und auf diese Weise überhaupt den »Charakter des Objekts« 127 fliehe. Mangel an Weltkenntnis und eine selbstverliebt-subjektive Regellosigkeit - die Goethe in der frühen Schrift Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789) ›Manier‹ nannte - führe zu »[b]elletristische[r] Flachheit u Leerheit« sowie zu »Schöngeisterei« 128 und verderbe durch ihre leichte Konsumierbarkeit den 118 Friedrich Schiller: Wallenstein. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1981 , 5 Bde., Bd. 2 , 269 - 548 , hier 274 , V. 136 f. 119 Ebd., V. 135 f. 120 Goethe: Maximen und Reflexionen (Nr. 727 ). In: HA 12 , 365 - 550 , hier 468 . »Ein Werk von Goethe namens ›Maximen und Reflexionen‹ gibt es nicht«, stellt freilich Harald Fricke fest und führt die hartnäckige Verwendung des Titels auf die Legendenbildung der Editionsphilologie zurück (Harald Fricke: »Zur Geschichte von Goethes Sprüchen und Aufzeichnungen in Prosa«. In: Goethe: Sprüche in Prosa (Anm. 12 ), 457 - 480 , hier 457 ). Heute sollte man daher von ›Sprüchen in Prosa‹ sprechen. Der Aphorismus findet sich in Frickes Ausgabe unter der Nummer 1 . 231 , Seite 38 . 121 Friedrich Schiller: »Ankündigung. Die Horen, eine Monatsschrift, von einer Gesellschaft verfaßt und herausgegeben von Schiller«. In: Werke (Anm. 118 ), Bd. 5 , 870 - 873 , hier 870 . 122 Goethe: Über den Dilettantismus. In: MA 6 . 2 , 151 - 176 . 123 Ebd., 170 . 124 Ebd., 169 . 125 Ebd., 171 . 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ebd., 168 . <?page no="38"?> 38 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Publikumsgeschmack. Zu korrigieren sei solche Gemütserregungsmanier nur durch ein objektives Verfahren, das auf »gründliche[r] Kenntnis der Natur« beruhe und zu einer »gegründete[n] Tätigkeit der Kunst« 129 führe. Ästhetische Objektivität - gleichsam ein auf Empirischem fußender Realismus - sollte dem Abgleiten der Dichtung in Phantastereien vorbeugen und ihr als einer Darstellung des Menschen eine Stelle neben den (Natur-)Wissenschaften sichern. Auf eine empirische Erkenntnis wird damit abgestellt, die sich aus dem Studium der Dinge ergibt. In diesem Sinne schrieb Goethe - seine Missbilligung des Kunstbetriebs nicht verhehlend - am 25. November 1797 an Schiller: Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empyrisch pathologischen Zustands des Menschen gegründet, und wer gesteht denn das jetzt wohl unter unsern fürtrefflichen Kennern und sogenannten Poeten? 130 Objektivität besitzt ein Kunstwerk also, wenn der Darstellung eine empirische Erkenntnis zugrunde liegt, die freilich - anders als in den Wissenschaften - nicht logisch, sondern ästhetisch repräsentiert wird. Wie in der Tragödientheorie des Aristoteles, die die Gesetze des menschlichen Handelns mimetisch-empirisch fasst - und die Goethe Schiller für dessen Arbeit am Wallenstein zu lesen nahelegte -, muss die Anlage eines dichterischen Werks die Struktur der Phänomene des Faktischen wiedergeben. Die Forderung nach eingehendem Studium des Gegenstands, die Goethe schon in der Schrift über Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl erhoben hatte, bleibt damit weiterhin bestimmend. Vom Anspruch auf ontologische Erkenntnis, den der Essay formuliert, rückt Goethe in den 1790er Jahren freilich entschieden ab. Unverkennbar argumentiert die frühe Schrift noch spinozistisch und beruft dabei Karl Philipp Moritz, den Goethe in Rom kennengelernt hatte. Schon in den Jahren vor seiner italienischen Reise hatte er mit Herder und Frau von Stein intensive Spinoza-Studien betrieben, deren Ergebnisse Herder 1787 unter dem Titel Gott. Einige Gespräche veröffentlichte. 131 Bekanntlich erhielt Goethe zu seinem 38. Geburtstag in Rom die erste Ausgabe 132 und nahm die Schrift zum Anlass, sich zusammen mit Moritz 133 erneut mit dem Philosophen zu beschäftigen. Die erste Spinoza- Lektüre war noch in Goethes Jugendzeit gefallen. Dichtung und Wahrheit berichtet im 14. und 16. Buch, dass Goethe vor allem in der Affektenlehre der Ethik , besonders in der Betrachtung der Dinge sub specie aeternitatis , eine »Beruhigung [s]einer Leidenschaften« 134 fand. In den achtziger Jahren beförderte der Kontakt zu Jacobi eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Philosophen. Im Kontext seiner Wendung vom Subjektivismus des Sturm und Drang zum empirischen Realismus erblickte Goethe nun in der Ethik ein Hilfsmittel gegen die Verirrungen der Leidenschaft und Einbildungskraft, das die Hinwendung zum objektiv Vorhandenen beförderte. An Jacobi schreibt er am 9. Juni 1785: 129 Goethe: Diderots Versuch über die Malerei. In: MA 7 , 519 - 566 , hier 520 f. 130 Brief an Schiller vom 25 . 11 . 1797 . In: MA 8 . 1 , 452 . 131 Vgl. dazu David Bell: Spinoza in Germany from 1760 to the Age of Goethe, London 1984 , 97 - 146 . 132 Vgl. Goethe: Zweiter Römischer Aufenthalt vom Juni 1787 bis April 1788. In: MA 15 , 423 - 656 , hier 470 (Eintrag vom 28 . 8 . 1787 ). 133 Vgl. ebd., Einträge vom 1 . 9 . 1787 (MA 15 , 476 ), 6 . 9 . 1787 (MA 15 , 478 ) und September 1787 (MA 15 , 488 ). 134 MA 16 , 667 , sowie 714 - 719 . <?page no="39"?> 39 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fließt. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andre deshalb Atheum schelten, so mögte ich ihn theissimum ia christianissimum nennen und preisen. 135 Goethes Realismus fußt auf der spinozistischen Ontologie der Natur als organischem Ganzen oder Gott. Ihre Unvordenklichkeit könne durch die scientia intuitiva , also das intellektuelle Anschauen der Dinge - intuere bedeutet ›betrachten‹ -, im Sinne einer Wesenserkenntnis immer mehr überwunden werden. Nach opinio und ratio handelt es sich bei der scientia intuitiva um die dritte und höchste Erkenntnisgattung. Nach ihr strebe der Geist am meisten (»summus mentis conatus« 136 ), werde doch durch sie Gott erkannt. Spinoza definiert also: »hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum.« 137 Und Goethe schreibt am 5. Mai 1786 an Jacobi: Wenn du sagst man könne an Gott nur glauben [ … ] so sage ich dir, ich halte viel aufs schauen, und wenn Spinoza von der Scientia intuitiva spricht, und sagt: Hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum; so geben mir diese wenigen Worte Muth, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen die ich reichen und von deren essentia formali ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann [ … ]. 138 Aus Spinozas intellektueller Anschauung leitet Goethe also die empirische Betrachtung des objektiv Vorhandenen ab. Blieb übrig zu begründen, wie Empirie und Ontologie ästhetisch fruchtbar zu machen seien. Aus Gesprächen mit Goethe entstand 1788 Moritz’ Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen , den Goethe in wichtigen Teilen in den dritten Teil der Italienischen Reise übernahm. 139 Ausgehend von der spinozistischen Naturauffassung, versteht Moritz Gott als Substanz der ewigen Ruhe, die Modulationen emaniere. Also sei auch die Natur nicht als System von Gesetzen, sondern als Prinzip des Werdens zu denken, etwa nach dem Analogon der sich entwickelnden Pflanze ( energeia ), in deren fertiger Gestalt ( ergon ) ihre Prozessualität noch erkennbar sei. Schön sei die Natur als Ganzes, weil sie allein durch sich selbst sei, Schönheit also das Produkt eines Werdens, das sich in harmonischer Einheit in der Natur einstelle. Nun sei freilich die Natur als Ganzes von keiner Denkkraft zu erfassen. Doch weil der Mensch das Ebenbild der Natur und in seinen Kräften analog organisiert sei, könne er - und besonders das Genie - die Verhältnisse des Werdens ahnen und in einem Kunstwerk nachahmen: [ … ] die dunkel geahndeten Verhältnisse jenes großen Ganzen müssen notwendig auf irgend eine Weise entweder sichtbar, hörbar, oder doch der Einbildungskraft faßbar werden: und um dies zu werden, muß die [menschliche, M. K.] Tatkraft worin sie [die Verhältnisse als analoge, M. K.] schlummern, sie nach sich selber, aus sich selber bilden. - Sie muß alle jenen Verhältnisse des großen Ganzen und in ihnen das höchste Schöne [ … ] in einen Brennpunkt fassen. - Aus diesem 135 Goethes Briefe und Briefe an Goethe, hg. v. Karl Robert Mandelkow, München 1976 , 6 Bde., Bd. 1 , 475 . 136 Vgl. Spinoza: Ethik, hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999 , 568 (Teil V, Propositio 25 , Demonstratio). 137 Ebd., 182 (Teil II, Propositio 40 , Scholium 2 ). In der Übersetzung von Wolfgang Bartuschat: »Diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee dessen, was die Essenz gewisser Attribute ausmacht, weiter bis zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen.« 138 Goethes Briefe und Briefe an Goethe (Anm. 135 ), Bd. I, 508 f. 139 Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: MA 15 , 629 - 637 . <?page no="40"?> 40 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Brennpunkte muß sich [ … ] ein zartes und doch getreues Bild des höchsten Schönen ründen, das die vollkommensten Verhältnisse des großen Ganzen der Natur [ … ] in seinen kleinen Umfang faßt. 140 Das Kunstwerk ist also nicht bloße Abbildung des Naturgegenstands, sondern ahmt in struktureller Gleichheit den Prozess der Bildung nach, der als scientia intuitiva der Natur abgeschaut wird. Dabei habe der Künstler ohne »Eigennutz« und »Vorstellung des Genusses, den uns das Schöne [ … ] gewähren soll« 141 , vorzugehen. Fälschlich hat die Forschung das als Autonomieästhetik bezeichnet. Denn Autonomie setzte Kants metaphysische Begründung der Freiheit voraus, mit der weder Moritz noch Goethe etwas zu schaffen haben wollten: Aus der Ontologie der Natur als einer Werdenden folgte ja eine ontologische Anthropologie des Menschen als eines Werdenden, 142 und dass damit natürliche Produktivität vorliege, keine Idee, war Goethe noch im Kontext seiner Universal-Morphologie gewiss. Dort sprach er von ›Trieb‹ und meinte ein originäres Ingenium des Individuums, also eine natürliche Mitgift. Alles wachse eben, und der Wille sollte dabei nicht stören. Derlei illustriert Tassos Bild vom Seidenwurm, der spinnen muss, und noch die Metamorphose der Pflanzen (1798) führt die Genese des Geistes als Naturbildung vor Augen. Indessen erregte Moritz’ Aufsatz kaum Aufsehen. Schon beim Erscheinen war er antiquiert. Die transzendentale Kritik hatte inzwischen dargelegt, dass man den letzten Grund in Natur, Gott oder Freiheit nicht denken könne. Dennoch folgte auch Goethe - wie es scheint, in bewusster Abgrenzung zu den subjektivistischen Spekulationen des Sturm und Drang 143 - zunächst der spinozistischen Ontologie. Dass der Künstler mehr wisse, als die beschränkte Perspektive der Transzendentalphilosophie zugestehe, suchte er im erwähnten, nur ein Jahr nach Moritz’ Abhandlung entstandenen Essay Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789) auszuführen. Er ist bedeutend einfacher gehalten als Moritz’ Schrift und besitzt vor allem den Vorteil, auf deren komplizierte Hierarchie der Kräfte des Genies zu verzichten. Die Forschung hat die kurze Schrift schon seit längerem als Schlüssel zu Goethes frühklassischer Ästhetik wahrgenommen. 144 Eine auf den ersten Blick hierarchische Dreiteilung zeichnet eine Typologie von Nachahmung, Manier und Stil als dem Gesamt der künstlerischen Darstellungsformen. Die erste Stufe, einfache Nachahmung, bedeutet die direkte, wirklichkeitsgetreue Abbildung des einzelnen Objekts, die auf empirisch-morphologischen Studien ruht, also bloßen Realismus. Zweitens bezeichnet Manier die subjektivistische Reflexion, mit der ein Künstler seine individuelle Darstellungsart entwickelt. Dabei abstrahiert er vom Detail, verallgemeinert oder läuft sogar Gefahr, sich ganz von der Natur zu entfernen und Welt als Stiftung seines Geistes aufzufassen. Goethe hat damit den Geniestil des Sturm und Drang im Blick - aber später ähnliche Vorbehalte gegen den Idealismus geäußert. Dem Verdikt verfallen also auch Goethes eigene Jugendschriften. Bekannt 140 Ebd., 630 f. 141 Ebd., 635 . 142 Das bedeutet, dass das Genie immer nach Maßgabe der Natur verfahren muss: Die tätige Kraft des Genies hat eine heteronome Bestimmung in der Natur, deren Organisationsprinzip sie analogice entspricht. Ohne das Vorbild der Natur kann also in Kunstsachen nichts geschaffen werden. 143 Vgl. dazu Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771-1789, Tübingen 2001 , 263 - 408 , bes. 359 . 144 Vgl. dazu Claudia Kestenholz: »Emphase des Stils. Begriffsgeschichtliche Erläuterungen zu Goethes Aufsatz über ›Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil‹«. In: Comparatio 2 / 3 ( 1991 ), 36 - 56 ; Wolf: Streitbare Ästhetik (Anm. 143 ); ebenso Hilmar Frank: »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl«. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden, hg. v. Bernd Witte et. al., Bd. 3 , Stuttgart/ Weimar 1997 , 570 - 577 sowie Bernd Leistner: »Stil«. In: Goethe-Handbuch, Bd. 4 . 2 , Stuttgart/ Weimar 1998 , 1013 - 1015 . <?page no="41"?> 41 2.2 Goethes Poetologie der Bilder ist in diesem Zusammenhang die Selbstkritik, der etwa Dichtung und Wahrheit den frühen Baukunst -Aufsatz (1772) unterzieht: Durchaus sei der Essay schlecht, d. h. stillos, geschrieben, weil er das Gemeinte subjektivistisch verrätsele. 145 Demgegenüber, führt Goethe schließlich in Einfache Nachahmung, Manier, Styl aus, sei die dritte Stufe, der Stil, die Synthese von Nachahmung und Manier und der »höchste Grad« der Kunst: Gelangt die Kunst durch Nachahmung der Natur, durch Bemühung sich eine allgemeine Sprache zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst , endlich dahin, daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen genau und immer genauer kennen lernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen neben einander zu stellen und nachzuahmen weiß, dann wird der Styl der höchste Grad wohin sie gelangen kann; der Grad, wo sie sich den höchsten menschlichen Bemühungen gleichstellen darf. [ … ] [D]er Styl [ruht] auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, in so fern es uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen. 146 Deutlich ist die Wendung gegen Geniestil und Subjektivismus und deren unbedingtes Streben ins Unbegrenzte. Nun heißt es, vollkommene Kunst - also Stil - sei empirische, wissenschaftliche Betrachtung der Dinge nach Maßgabe einer Synthese von Subjekt und Objekt, also als »reflektierte Objektivität« 147 . Sie sei bei näherem Hinsehen als graduell verschiedene Mischform bereits in der einfachen Nachahmung und der Manier angelegt, werde doch die erstere dann am ehesten zum Stil, wenn sie sich zu » denken » 148 gewöhne, umgekehrt gerate letztere desto mehr zur Kunst, je mehr sie sich der »treuen Nachahmung« 149 nähere. Nur der Stil vereint aber das Studium der Gegenstände mit der subjektiven Reflexion auf eine Weise, die in der Verbindung beider höchste Wesenserkenntnis garantiert - und damit das akzidentelle Einzelding auf ein Substrat oder Absolutes durchsichtig macht. Im Begrenzten habe man zugleich das Unbeschränkte erfasst. Solche Naturontologie des Stils, die, wie man gemeint hat, mit Goethes späterem Symbolbegriff »nachgerade deckungsgleich« 150 sei, stellt Goethes Schrift in die Moritz-Nachfolge. Auf die betrachtende Methode der scientia intuitiva ist wie bei Moritz angespielt, dass sie Spinoza als das »höchste Streben des Geistes« 151 galt, greift Goethes Wendung von den »höchsten menschlichen Bemühungen« auf. Der Künstler nehme also die Dinge in ihrer Gesetzmäßigkeit wahr, erkenne sie und ahme sie in einem Kunstwerk nach, das dann dem Organisationsprinzip der Natur analog sei. Indessen blieb es bei solch erkenntnistheoretischem Optimismus für Goethe nicht, und es lässt sich zeigen, dass schon die Schrift von 1789 die Repräsentierbarkeit von Absolutem als mögliches Problem sah. Denn Goethes Formel, im Modus des Stils könne absolute Erkenntnis nur geschehen, »in so fern es uns erlaubt ist es [das Wesen oder Absolute, M. K.] in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen«, ist keine eindeutige Aussage. Die Konjunktion ›insofern‹ ist doppelt lesbar. Im Sinne von ›da ja‹ ausgelegt, ergibt sich gemäß der 145 Vgl. auch die durch derlei Vorbehalte veranlasste Neufassung des Baukunst-Essays aus dem Jahre 1823 . 146 Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. In: MA 3 . 2 , 186 - 190 , hier 188 . 147 Wolf: Streitbare Ästhetik (Anm. 143 ), 376 . 148 Goethe: Einfache Nachahmung (Anm. 146 ), 190 . 149 Ebd. Man könnte die Nachahmung also richtiger als ›idealreale‹ Kunstform bezeichnen, die Manier als ›realideale‹. 150 Leistner: Stil (Anm. 144 ), 1015 . Ob das der Fall ist, kann man mit einiger Berechtigung bezweifeln. Vgl. dazu das Folgende. 151 Vgl. Spinoza: Ethik (Anm. 136 ), 568 (Teil V, Propositio 25 , Demonstratio). <?page no="42"?> 42 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« spinozistischen Ontologie, dass der Künstler im Begrenzten zugleich das Unbegrenzte ins Werk setzt. Liest man aber im Sinne von ›wenn überhaupt‹ oder ›bloß in der Rücksicht, weil‹ 152 , findet sich das ontologische Vermögen der Kunst mit geradezu kantischem Gestus beschnitten: Am Beschränkten lässt sich ein Unbeschränktes niemals als solches erkennen. Muss also Goethes Begriff des Stils nicht zwangsläufig ontologisch gemeint sein, schließt dagegen der später entwickelte Symbolbegriff jede Wesenserkenntnis ausdrücklich aus. Von einer Kongruenz der beiden Begriffe ließe sich damit nur im Hinblick auf diesen ontologischen Vorbehalt sprechen, der Goethe ab den 1790er Jahren immer unabweisbarer wurde. In einer transzendentalkritisch reflektierenden Zeit musste ja bereits naiv erscheinen, dass Moritz das Erfassen von Intelligiblem nur »auf irgend eine Weise« 153 vor sich gehen lassen konnte und also den Erkenntnisakt selbst der Erkenntnis enthob. Auch scheinen Goethe durch die Kantlektüre, die ihm Schiller vermittelte, Zweifel an der Fähigkeit des Geistes zur Wesenserkenntnis gekommen zu sein. Zur Auseinandersetzung mit der Kantischen Transzendentalphilosophie war Goethe seit dem, im Nachhinein Glückliches Ereignis betitelten, ersten Zusammentreffen mit Schiller und dem Gespräch über die Urpflanze - die Schiller im Gegensatz zu Goethe für eine Idee hielt - angeregt worden. Durchaus war er Schiller dankbar, ihn »von der allzustrengen Beobachtung der äußern Dinge auf [sich] selbst zurückgeführt« und ihn »die Vielseitigkeit des innern Menschen mit mehr Billigkeit anzuschauen gelehrt« 154 zu haben. Dabei hatte Schiller Kants erkenntniskritische Vorbehalte gegenüber Absolutem immer wieder gegen Goethes Ontologie ins Feld geführt. Goethe gab seine anfängliche Zurückhaltung gegen die Kantischen Bedenken im Laufe der 1790er Jahre auf. Sein Brief an Schiller vom 25. Februar 1798 erklärt: [D]ie Natur ist deswegen unergründlich weil sie nicht Ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe Menschheit niemals beisammen ist so hat die Natur gut Spiel sich vor unsern Augen zu verstecken. 155 Daraus folgt, wie die Einleitung in die Propyläen 1798 darlegt, dass auch eine ästhetische Repräsentation von Natur keine Ontologie ist: Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen: daß der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höhern Wert hineinlegt. 156 Und deutlich sagt auch noch der Brief vom 3. April 1801: Die Dichtkunst verlangt, im Subjekt das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige, ins Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt. 157 Dass Metaphysica versteckt und verborgen sein und auch vom Dichter nicht erfasst werden können, bezeichnet den Abstand von der Position des Aufsatzes von 1789. Nun wird argumentiert, auch die Kunst habe die Unerkennbarkeit der Absoluta zu respektieren. In den 152 So bei Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793 - 1801 , s.v. fern, Bd. 2 , 112 - 114 , hier 113 . 153 Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 139 ), 631 . 154 Brief vom 6 . Januar an Schiller. In: MA 8 . 1 , 487 . 155 Ebd., 536 . 156 Goethe: Einleitung in die ›Propyläen‹. In: MA 6 . 2 , 9 - 26 , hier 17 . 157 MA 8 . 1 , 854 . <?page no="43"?> 43 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Sprüchen in Prosa (Maximen und Reflexionen) heißt es in diesem Sinne: »Denn die Götter lehren uns ihr eigenes Werk nachahmen; doch wissen wir nur, was wir thun, erkennen aber nicht, was wir nachahmen.« 158 Im sogenannten ›Roßmarkt-Brief‹ vom 16. und 17. August 1797 an Schiller hat Goethe sein neugewonnenes Verständnis der Kunsterkenntnis erstmals formuliert. Durch bestimmte Gegenstände, heißt es dort unter Anspielung auf Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung , werde der Betrachter in eine »Art von Sentimentalität« 159 versetzt, also genötigt, auf Vorliegendes erkennend zu reflektieren: [D]ie Gegenstände, die einen solchen Effekt hervorbringen, [sind] symbolisch. Das heißt, [ … ] es sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen, seine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen. 160 Expliziert wird aber nun unter dem Begriff des Symbolischen nicht eine ontologische, sondern nur mehr eine typologische Erkenntnis des Faktischen. Der verwirrenden »Hydra der Empirie« 161 könne man nur entgehen, indem man das Besondere als »Repräsentant [ … ] von vielen anderen« Fällen ansehe, es als symptomatisch für »eine gewisse Reihe« ähnlich gearteter Phänomene verstehe und auf das Allgemeine - Goethe nennt es das »Ideale« 162 - durchsichtig mache. Gemeint ist also die Erkenntnis von Klassen oder Typen, die seit Aristoteles Begriffe für die Gleichartigkeit vieler Individuen sind. 163 Insofern der Dichter bei einer typologisch-symbolischen Betrachtung in einen »Mittelzustand« 164 zwischen reflektierendem Subjekt und betrachtetem Objekt gerät, schließt Goethe an seinen frühen Aufsatz über Nachahmung an. Darin wurde bereits der Begriff des Stils als Methode reflektierter Objektivität ausgewiesen. Die Nachahmung werde desto eher zum Stil, »jemehr [sie] das Ähnliche zu vergleichen, das Unähnliche von einander abzusondern, und einzelne Gegenstände unter allgemeine Begriffe zu ordnen lernet«. 165 Typologische Erkenntnis ist also schon hier gemeint, nur dass Goethe in seiner italienischen Zeit noch an Spinozas Ontologie festhielt, bevor er in den 1790er Jahren zugestand, dass keine Wissenschaft in den substanziellen Grund der Dinge reiche. Man darf also die Typen, bei denen alle Erkenntnis endet, als Modifikation der Substanz betrachten, und dies umso mehr, als die Forderung nach strukturanaloger Repräsentation der Natur im Kunstwerk in Bezug auf sie wiederkehrt. 166 Das Beispiel des Frankfurter Rossmarkts expliziert, dass zwar nicht länger Wesenserkenntnis, aber doch die Struktur faktischer Gegebenheiten - hier etwa der Gesetze des ökonomischen Handelns oder überhaupt der bürgerlichen Geschäftigkeit - im Werk wiedergegeben sein 158 Goethe: Sprüche in Prosa (Anm. 12 ), 293 . 159 MA 8 . 1 , 391 160 Ebd. 161 Ebd., 393 . 162 Ebd., 392 . 163 Aristoteles: Des Porphyrius Einleitung in die Kategorien. In: Aristoteles: Philosophische Schriften, übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg 1995 , 6 Bde., Bd. 1 , 1 - 22 , bes. 2 . Vgl. auch Aristoteles: Organon I. In: Philosophische Schriften, Bd. 1 , 1 - 39 ., bes. 3 - 33 . 164 MA 8 . 1 , 391 . 165 MA 3 . 2 , 190 . 166 1789 hatte es geheißen, durch den Gegenstand sei Kunst motiviert, und der Künstler habe auf »treuer, sorgfältiger, reiner, ruhiger [ … ] und gelassener« (ebd., 190 ) Naturnachahmung zu beharren: »Der reine Begriff [des Stils, M. K.] aber ist allein an der Natur und den Kunstwerken zu studieren« (ebd., 189 ). <?page no="44"?> 44 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« muss. Ein danach verfahrendes Kunstwerk ist objektiv, weil der Darstellung eine empirische Erkenntnis zugrunde liegt, die durch das Studium des Gegenstands hergestellt und unter Absehung von subjektiven Präferenzen und Schwärmereien typologisch repräsentiert wird. Das Festhalten am Objekt und die über Kant vermittelten Vorbehalte gegenüber aller Wesenserkenntnis hat Goethe in seiner nachklassischen Definition der Symbolik von 1807 wiederholt: Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. 167 Dargelegt wird, dass der Dichter imaginiere und dabei das Bild der Idee von Intelligiblem ins Werk setze. Eine objektive Kunst, die von der Erscheinung, dem Phänomen ausgeht, ist dabei weiterhin vorausgesetzt. Der Begriff ›symbolisch‹ meint nun aber nicht länger eine typologisch-empirische Erkenntnis, sondern vielmehr einen Verweis auf ein Transzendentes, das, eben weil es Unvordenkliches betreffe, weder zu verstehen noch auszusprechen sei - in keiner der »Sprachen« von Theologie, Philosophie, Wissenschaft, Moralität, Kunst oder anderen Fachdisziplinen. Damit hält sich auch Goethes Nachklassik an erkenntniskritische Vorbehalte. Alles ist den Texten verständlich, mit Ausnahme des Wesens oder Grundes der Dinge. Dass es aber ein Jenseits hinter allen Erscheinungen gebe, lehnt die Definition der Symbolik trotz des Kantisch anmutenden Begriffs ›Idee‹ ab. Ein Allgemein-Unvordenkliches sei vielmehr allem Besonderen immer schon mitgegeben. In diesem Sinne bestimmt der folgende Aphorismus: Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Factische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre. 168 Auch die Symbolik gibt daher durch die Darstellung des Besonderen ein Allgemeines zu denken (es bleibt in allen Bildern »unendlich wirksam«), wenn es auch der Erkenntnis enthoben ist. Neben der Wissenschaft wird damit aber die Kunst zur »würdigsten Auslegerin« 169 der Welt. Goethes Abstand von der Transzendentalphilosophie bezeichnet also, dass Kunstbilder nie allein auf transzendentaler Konstruktion beruhten, sondern stets von der »Erscheinung« her motiviert seien. Der Künstler, so hatte Goethe 1801 an Schiller geschrieben, benötige eben für seine Arbeit eine »ins Reale verliebte Beschränktheit«, die ihn in Richtung auf die unergründbare Synthese von Besonderem und Allgemeinem zu denken nötige. Goethes Gewährsmann für ein solches Festhalten am Objekt war ab 1797 Schelling geworden. Dessen Ansätze zu einer Naturphilosophie las Goethe mit so begeisterter Zustimmung, dass er sich auch für die Berufung des Philosophen nach Jena einsetzte und, nachdem Schelling die Universität 1803 wieder verließ, noch bis 1827 mit ihm in Briefkontakt stand. 170 Über die Lektüre von Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) berichtet Goethe Schiller am 6. Januar 1798: 167 Goethe: Sprüche in Prosa, Nr. 2 . 72 . 2 ., (Anm. 12 ), 207 . Datierung folgt Fricke. 168 Ebd., 49 (Nr. 1 . 308 ). 169 Ebd., 24 (Nr. 1 . 122 ). 170 Vgl. zu Goethes Interesse an Schelling etwa Steffen Dietzsch: »Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling«. In: Goethe-Handbuch (Anm. 144 ), Bd. 4 . 2 , 938 - 941 sowie Joachim Schneider: Goethe und die Mythenforschung der Romantik, insbesondere sein Verhältnis zu Schelling, Görres und Creuzer, Hamburg 1956 . <?page no="45"?> 45 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Bei Gelegenheit des Schällingschen Buches habe ich auch wieder verschiedene Gedanken gehabt, über die wir umständlicher sprechen müssen. Ich gebe gern zu, daß es nicht die Natur ist die wir erkennen, sondern daß sie nur nach gewissen Formen und Fähigkeiten unseres Geistes von uns aufgenommen wird. [ … ] Der Transzend[ent]elle Idealist glaubt nun freilich ganz oben zu stehen; eins will mir aber nicht an ihm gefallen daß er mit den andern Vorstellungsarten streitet [ … ]. Wer will gewissen Menschen die Zweckmäßigkeit der organischen Naturen nach außen absprechen, da die Erfahrungen selbst täglich diese Lehre auszusprechen scheinen und man mit einer scheinbaren Erklärung der schwersten Phänomene so leicht wegkommt. [Es] läßt sich ja eine Bestimmung von außen und ein Verhältnis nach außen nicht leugnen [ … ]. Eben so mag sich der Idealist gegen die Dinge an sich wehren wie er will, er stößt doch ehe er sich’s versieht an die Dinge außer ihm , und wie mir scheint, sie kommen ihn [sic] immer beim ersten Begegnen so in die Quere wie dem Chineser [sic] die Glutpfanne. Mir will immer dünken daß wenn die eine Partei von außen hinein den Geist niemals erreichen kann, die andere von innen heraus wohl schwerlich zu den Körpern gelangen wird und daß man also immer wohltut in den philosophischen Naturstande (Schällings Ideen pag XVI) zu bleiben und von seiner ungetrennten Existenz den besten möglichen Gebrauch zu machen, bis die Philosophen einmal übereinkommen wie das was sie nun einmal getrennt haben wieder zu vereinigen sein möchte. 171 Die empirische Realitätserfahrung schränkt Goethes Zugeständnis der transzendentalen Bedingtheit von Kognition entscheidend ein, insofern das alltäglich-phänomenale Vorhandensein der äußeren Dinge nicht allein und damit nicht hinlänglich durch die Kategorien des Geistes erfassbar sei. 172 In Schellings Überlegungen fand Goethe eine Aufwertung der Natur, die er als Gegengewicht zur transzendentalen Kritik begrüßte. Seit Kant existierte eine Philosophie des Geistes, die Bedingung und Regel transzendentaler Erkenntnis bestimmte. Fichte hatte sie 1795 im Sinne weltsetzender Tätigkeit des absoluten Ich modifiziert. Nun stellte Schelling der Arbeit seiner Vorgänger eine Philosophie der Natur an die Seite. Sie sollte die Lösung des Problems sein, das er in Fichtes Wissenschaftslehre , eine Anregung aus Hölderlins Schrift Urteil, Seyn, Modalität aufgreifend, bemerkt hatte. Fichtes übergeordneter Grund allen Wissens, das absolute Ich, könne niemals Prinzip der Philosophie sein, insofern sich ein Ich immer nur als beschränktes denken lasse: Es könne sich selbst nur als ein Ich erfassen, wenn es sich ein Nicht-Ich entgegensetze, und bestehe dann in einer begrifflichen Beziehung zweier Relate. Das Absolute sei also kein Teil des subjektiven Bewusstseins, sondern müsse als ihm vorgeordnet gedacht werden. Fichtes Philosophie des Geistes sei daher ebenso zu überwinden wie überhaupt die Überlegenheit des Ichs über das Nicht-Ich, die alle Natur nur als Produkt der setzenden Tätigkeit des Bewusstseins deduzierte. Die Ideen zu einer Philosophie der Natur gehen also von einem übergeordneten Absoluten aus, das aus sich die gleichursprünglichen Einheiten Natur und Geist hervorbringt. In beiden objektiviert es sich in einer Reihe von »Potenzen« 173 , so dass die Natur als Synthese des Unendlichen und Endlichen im Zeichen des Endlichen durchsichtig wird, das Ich hingegen als 171 MA 8 . 1 , 488 f. 172 So hatte Kant den Begriff des zweckmäßig eingerichteten Organismus nur als regulative Idee gelten lassen (vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werke in sechs Bänden hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 5 1983 , Bd. 5 , 237 - 622 , hier 490 f.). Goethe beruft sich hier jedoch auf die empirisch gewonnene Erfahrung, die Organismen in ihrer Zweckmäßigkeit ständig vor Augen führe. 173 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft, 1803 [zuerst 1797 ]. In: Ders.: Ausgewählte Werke, 8 Bde., Darmstadt 1967 - 1976 , Bd. 6 . Schriften von 1794 - 1798 ( 1967 ) [= unv. reprogr. Nachdruck v. Schellings sämmtlichen Werken. Stuttgart/ Augsburg 1856 / 57 , Bd. 1 u. 2 ], 333 - 397 , hier 390 . <?page no="46"?> 46 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Synthese des Unendlichen und Endlichen im Zeichen des Unendlichen. Verknüpft sind beide durch das »geheime Band« 174 der »absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns« 175 . Es sorgt dafür, dass der Erkenntnisakt des Subjekts nicht mehr allein durch das Ich motiviert ist. Vielmehr wirke auch die Natur - Goethe schreibt: »von außen« - am Urteil über den zu erkennenden Gegenstand mit, indem dieser genau als das real schon vorliege, was logisch vom Begriff erfasst werde: »Daß ihr aber eine Pflanze als ein Individuum denkt, in welchem alles zu Einem Zweck zusammenstimmt, davon müßt ihr den Grund in dem Ding außer euch suchen, ihr fühlt euch in eurem Urtheil gezwungen [ … ].« 176 In allen Prädikationen stimmten also aufgrund des absoluten Identitätsbandes zwischen Geist und Natur auch Wissen und Sein überein. Das Problem, wie die Vermittlung des Absoluten mit der Potenzenkette seiner endlichen Produkte zu denken sei, sucht Schelling im Folgenden durch die Grundzüge einer Symbolik mehr zu umschreiben als zu lösen. Die »schöpferische Einbildungskraft« habe sich eine »symbolische Sprache« 177 erfunden, um alles Endliche zugleich in seiner »Indifferenz« 178 mit Absolutem durchsichtig zu machen. Denn die Natur, sofern sie als Natur, d. h. als diese besondre Einheit erscheint, ist demnach als solche schon außer dem Absoluten, nicht die Natur als der absolute Erkenntnißakt selbst (Natura naturans), sondern die Natur als der bloße Leib oder Symbol desselben (Natura naturata). 179 Um überhaupt fasslich zu werden, muss sich das Absolute verendlichen. In seinen Produkten wird folglich »nur die besondre Form als besondre erkannt«. Das Absolute »verhüllt« sich dabei »in ein andres, als es selbst in seiner Absolutheit ist, in ein Endliches, ein Seyn, welches sein Symbol ist und als solches, wie alles Symbol, ein von dem was es bedeutet unabhängiges Leben annimmt.« 180 Natur und Geist sind als Produkte des Absoluten also selbst absolut, aber nur solange sie vom erkennenden Bewusstsein nicht vereinzelt, als »relative Differenz« 181 aufgefasst und aus dem absolut-identischen Band herausgelöst werden. »Die [absolute, M. K.] Natur«, heißt es in diesem Sinne bei Schelling, »[spricht] um so verständlicher zu uns [ … ], je weniger wir über sie bloß reflektirend denken.« 182 Dem endlichen Bewusstsein vermittelt sich das Absolute nicht. Im Moment seiner Offenbarung entzieht es sich wieder. Das Symbol entspricht dieser Paradoxie. Es veranschaulicht das Absolute oder dessen Objektivationen durch Begriffe und Bilder, betrachte das Dargestellte als zugleich real und ideal und sei daher »Darstellung des Absoluten in Begrenzung ohne Aufhebung des Absoluten.« 183 Paragraph 39 der Schellingschen Philosophie der Kunst führt in diesem Sinne aus: 174 Ebd., 379 . 175 Ebd., 380 . 176 Ebd., 367 . Anders als Kant schreibt Schelling aller Natur als Produkt des Absoluten zu, den Grund ihres Daseins selbst zu enthalten und daher zweckmäßig »organisierte Materie« (ebd., 368 ) zu sein, die im Unterschied zum Selbstbewusstsein freilich noch als unbewusster Geist vorliegt. Für Goethe war das Anlass, am realen Vorliegen zweckmäßiger Organismen festzuhalten, dem die Transzendentalphilosophie immer widersprochen hatte. 177 Ebd., 371 . 178 Ebd., 383 . 179 Ebd., 391 . 180 Ebd. 181 Ebd., 388 . 182 Ebd., 371 . 183 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst ( 1802 / 03 ). In: Ders.: Ausgewählte Schriften, hg. v. Manfred Frank, 6 Bde., Frankfurt/ Main 1985 , Bd. 2 : Schriften 1801 - 1803 , 181 - 566 , hier 233 . <?page no="47"?> 47 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Die Darstellung des Absoluten mit absoluter Indifferenz des Allgemeinen und Besonderen im Besonderen ist nur symbolisch möglich. 184 Scheint hinter dem Bild also immer sein Grund auf, so kommt Symbolik jedoch da an ihr Ende, wo »[w]ir [ … ] uns allerdings nicht mit dem bloßen bedeutungslosen Seyn« 185 begnügen, sondern nach der »Bedeutung« 186 des Dargestellten fragen. Damit kann gerade das, was symbolisch ist, nicht zum Gegenstand von Erkenntnis werden. Nun enthielt aber die Philosophie der Kunst neben der Grundlegung der Symbolik auch eine Anleitung zum entsprechenden dichterischen Verfahren. Wolle Kunst von den Objektivationen des Absoluten oder von diesem selbst sprechen, gebe sie eine Veranschaulichung des Unvordenklichen und seiner Potenzen durch Begriffe und Bilder. Das Paradox, wie ein Absolutes durch ein Besonderes dargestellt werden könne, löse sich nur in den »Götterdichtungen« 187 , also in der Mythologie. Sie betrachte das dargestellte Göttliche als zugleich real und ideal und lasse hinter dem Bild immer seine absolute Bedeutung durchschimmern. Symbolische Dichtung müsse also mythologisch sein, und so heißt es in Paragraph 38: »Mythologie ist die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst.« 188 Damit knüpfte Schelling an die Rehabilitierung des Mythos an, die das 18. Jahrhundert als Kritik an der Ratio der Aufklärung auf den Weg gebracht hatte. Insbesondere Herders Aufsätze Vom neuern Gebrauch der Mythologie (1767) und Iduna oder der Apfel der Verjüngung , 1796 in Schillers Horen erschienen, hatten der Mythologie als historisch-dichterischer Überlieferung eine nicht-logische Form von Wahrheit zugesprochen: Sie sei als Begründungszusammenhang für eine ewig sich selbst hinterfragende Vernunft anzusehen und durch eine neue Mythologie poetisch auszudrücken, die auf das Gesamt der Überlieferung zurückgreifen könne. 189 Ähnlich emphatisch wird die Mythologie in Karl Philipp Moritz’ Götterlehre (1791) ausgezeichnet, die ab 1787 während des römischen Aufenthalts und maßgeblich in Zusammenarbeit mit Goethe - Dichtung und Wahrheit berichtet von »tagtägliche[n] Gespräche[n]« (HA 11, 384) - entstanden war. Der antike Mythos gilt Moritz als »Sprache der Phantasie« 190 , die mit der anthropomorphen Götterwelt Bilder für den absoluten Grund irdischer Verhältnisse geschaffen habe: Die Phantasie »überträgt [ … ] den Begriff der höhern obwaltenden Macht auf Wesen, die sie als wirklich darstellt, denen sie Geschlechtsregister, Geburt, Namen und menschliche Gestalt beilegt.« 191 Da Mythologie Entstehen und Werden sei, könne sie nicht durch Ratio oder Allegorie aufgeschlüsselt werden, sei keine Morallehre und gehorche nur dem Gesetz der poetischen Schönheit. Hinter der organologischen Ontologie und der Betonung des poetischen Eigenwerts sind die Positionen aus dem bereits erwähnten Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen wiederzuerkennen, und als »mythologi- 184 Ebd., 234 . Vgl. zu Schellings Symboltheorie Bernhard Barth: Schellings Philosophie der Kunst. Göttliche Imagination und ästhetische Einbildungskraft, Freiburg/ München 1991 sowie Eckard Rolf: Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext, Berlin/ New York 2006 , 105 - 108 . 185 Schelling: Philosophie der Kunst (Anm. 183 ), 239 . 186 Ebd., 240 . 187 Ebd., 233 . 188 Ebd. 189 Vgl. dazu im Einzelnen Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/ Main 1982 , 123 - 152 . 190 Karl Philipp Moritz: Götterlehre, hg. v. Horst Günther, Frankfurt a. M./ Leipzig 1999 , 9 . 191 Ebd., 12 . <?page no="48"?> 48 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« sche Entsprechung« der darin enthaltenen »Beschreibung des ästhetischen Ideals« 192 hat man die Götterlehre bezeichnet. Auch Goethe befand, »Mythologie« sei den Poeten zu überlassen, »die berufen sind, sie zu Nutz und Freude der Welt zu behandeln.« 193 Dichter können - und sollen - Mythologie für den schönen Schein des Romans benutzen, und dazu steht ihnen die Summe des Überlieferten zur Verfügung. Einer Verwendung historischer Mythologica stimmte Goethe aber umso mehr zu, als sowohl er als auch Schiller über die Möglichkeit nachdachten, Reales durch die Mittel einer neuen Symbolik zu repoetisieren. Denn Aufklärungsphilosophie und kantische Kritik hatten die Natur der Herrschaft des Naturgesetzes unterworfen, und mit der nur noch mechanisch begriffenen Materie und dem Sieg der Ratio drohte jener Verlust der Schönheit, den Schillers bekannte Klage »Schöne Welt, wo bist du? « 194 in den Göttern Griechenlands (1788) ausdrückte. In der Antike sei die Welt schön gewesen, weil sie noch mit göttlicher Geistigkeit vereint gewesen sei. Doch sei der absolute Grund durch das Christentum, das im Abendland den antiken Polytheismus verdrängt habe, in die Transzendenz verlegt und in seiner Entrücktheit durch die Erkenntniskritik der kantischen Kritiken bestätigt worden. Nun habe man sich zwar des objektiv Vorliegenden versichert, aber der »entgötterte[n] Natur« 195 sei mit dem absoluten Grund auch die Poetizität entzogen worden. Die zweite Fassung des Gedichts aus dem Jahre 1800 erwägt mit einem Argument, das Schillers Symboltheorie aus Kallias und der Ästhetischen Erziehung aufruft, dass die Repoetisierung der Welt vorrangige Aufgabe der Dichtung sei. Indem sie die vergangene Schönheit mit mythologischem Apparat besinge, stelle sie sie im ästhetischen Schein wieder vor Augen. Dabei verfahre sie freilich nach Maßgabe des erinnernden Dichtersubjekts, das dem poetischen Gegenstand »ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen« 196 , unterstellt, und da solche Freiheit ein Intelligibles ist, scheine der Gegenstand seinen absoluten Grund nach wie vor in sich zu tragen und sei schön zu nennen. Dass Schönheit also nichts als eine Stiftung des Subjekts sei, das in den Grund der Welt nicht blicken könne, war kantisch gedacht. Goethe teilte zwar solche Erkenntnisskepsis zunehmend, widersprach aber in seiner Symboldefinition von 1807 einer rein idealistischen Begründung von Schönheit - wie gesehen - mit Argumenten, die er aus der Schelling-Lektüre gewonnen hatte. Schönheit hänge nicht allein vom Denken und Wissen des Subjekts ab. Vielmehr sei die Natur deshalb schön, weil sie ihren Grund immer noch in sich trage, der in Symbolik und Mythologie, wenn nicht erfasst, so doch bedeutet werden könne. Schiller, der sich als Kantianer von Schellings Identitätsphilosophie nicht überzeugen ließ, hielt dem Dichterfreund zwar wie schon beim Gespräch über die Urpflanze entgegen, man könne vom Grund des Seienden niemals ohne apriorische Idee denken: Woher bringst du aber jene Idee der Naturnotwendigkeit? Aus der Erfahrung doch wohl nicht, die dir nur einzelne Naturwirkungen, aber keine Natur (als Ganzes), und nur einzelne Wirklichkeiten, aber keine Notwendigkeit liefert. Du gehst also über die Natur hinaus und bestimmst dich idealis- 192 Christoph Jamme: »Vom ›Garten des Alcinous‹ zum ›Weltgarten‹. Goethes Begegnung mit dem Mythos im aufgeklärten Zeitalter«. In: GJb 105 ( 1988 ), 93 - 114 , hier 106 . 193 Goethe: Sprüche in Prosa (Anm. 12 ), 47 (Nr. 1 . 297 ). 194 Schiller: Die Götter Griechenlands. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), Bd. 1 , 163 - 169 , hier 167 (= erste Fassung). 195 Ebd., 168 . 196 Schiller: Kallias oder Über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), Bd. 5 , 394 - 432 , hier 399 . <?page no="49"?> 49 2.2 Goethes Poetologie der Bilder tisch, sooft du entweder moralisch handeln oder nur nicht blind leiden willst. Es ist also offenbar, daß der Realist würdiger handelt, als er seiner Theorie nach zugibt [ … ]. 197 Wer meine, der Natur empirisch das Absolute abzusehen, ignoriere also schlicht, dass er ihr immer schon seine Vernunft unterlegt habe. Doch Goethe ließ sich auf das Argument nicht ein. So monierte Schiller den Eklektizismus des Freundes offen: Denn Sie nehmen sich von seinen [Schellings, M. K.] Ideen nur das, was Ihren Anschauungen zusagt, und das übrige beunruhigt Sie nicht, da Ihnen am Ende doch das Objekt als eine festere Autorität dasteht als die Spekulation, solange diese mit jenem nicht zusammentrifft. 198 Genau hatte er freilich erkannt, was Goethe an Schellings Philosophie der Natur zusagte. Gegenüber der idealistischen Spekulation, die den Erkenntnisakt allein auf das Subjekt zurückführte, fand der Dichter auch das Recht des Objekts gewahrt. Nun war die Universal- Morphologie vom Verdacht naiver Naturbetrachtung befreit: »Der Empirismus zur Unbedingtheit erweitert/ erhöht ist ja Naturphilosophie. Schelling.« 199 Zweitens ließ sich gegen den erkenntniskritischen Vorbehalt der Kantischen Philosophie vorbringen, Gegenstände seien Produkte und Objektivationen des Absoluten, das dem reflektierenden Bewusstsein aber verborgen bleibe. Keine Wesenserkenntnis befördern also die Dinge, vielmehr verweisen sie an ein Rätselhaftes und seien »offenbares Geheimnis«. Das Zugleich von absoluter Präsenz und Absenz zeichnet Goethes nachklassische Definition der Symbolik nach. Dass in einem Kunstbild eine Idee, also Absolutes, »unendlich wirksam« aufgerufen werde, hatte der Dichter Schellings Philosophie der Natur entnommen, dass die Idee dabei indes »unerreichbar« und »unaussprechlich« bleibe, verdankte er Kant und Schiller. Die Genese von Goethes neuem Dichtungsbegriff lässt sich am Beispiel der Römischen Elegien illustrieren. Als die 1788-1790 in frühklassischer Zeit entstandenen Gedichte 1795 in Schillers Horen erscheinen sollten, boten sie für die beiden Dichter Anlass, den strittigen Punkt des ontologischen Vermögens der Kunst zu diskutieren. 200 Schillers Klage über den verlorenen absoluten Grund der Natur wollte Goethe widerlegen. Er beharrte also darauf, dass die Natur, zumal die römische, immer noch die antike sei. Daher könne die Dichtung ontologisch die Natur und ihre Schönheit wieder hervortreten lassen, sofern sie in der unmittelbaren Erfahrung gründe. Denn durch lebendigen Bezug zur Welt vermöge der Dichter auch das Alte noch zu erkennen und im Werk wiederzugeben. Goethes frühe Klassik will noch davon überzeugen, dass es möglich sei, die eigene Epoche zu überschreiten. Doch Schiller bemerkte ein Problem in des Freundes ›naivem‹ Realismus. Moderne Dichtung findet unter den Bedingungen der Moderne statt. Einem modernen Dichter fehlt also antike Naivität, und notgedrungen muss er sie durch Reflexion - also sentimentalisch - wiederzugewinnen suchen: Die »sentimentalische Stimmung ist das Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung, dem Inhalt nach, wiederherzustellen.« 201 Damit aber ist das Naive eher ein Element der sentimentalischen Dichtung als ihr Gegensatz, und auch Goethe sei in diesem Sinne sentimentalisch. 202 Denn erst durch das 197 Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), Bd. 5 , 694 - 780 , hier 777 f. 198 Brief an Goethe vom 20 . Februar 1802 . In: MA 8 . 1 , 885 . 199 Goethe: Sprüche in Prosa (Anm. 12 ), 288 (Nr. 3 . 93 ). 200 Vgl. zum Folgenden Marcel Krings: »Empirische Poetik. Erkenntnislehre und Geschichte in Goethes Römischen Elegien«. In: Rückert-Jahrbuch 18 ( 2009 ), 19 - 36 . 201 Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (Anm. 197 ), 752 . 202 Vgl. dazu Peter Szondi: »Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung«. In: Ders.: Schriften, hg. v. Jean Bollack et. al., Frankfurt/ Main 1978 , 2 Bde., Bd. II, 59 - 105 . <?page no="50"?> 50 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Sentimentalische werde das Naive gewonnen, und das sei zwangsläufig so, weil niemand seine Epoche verlassen könne. Der Gegensatz zwischen Ideal und Realität bleibt daher immer präsent, und nichts, auch nicht die Ewige Stadt, biete sich in reflexionsloser Gegenwart dar. Macht aber der Dichter ein historisches Bewusstsein geltend, gibt er zu, die trennende Distanz erst durch Reflexion überwinden zu müssen und ihrer eingedenk zu bleiben. Daran erinnerte den römisch begeisterten Freund Schillers Gedicht Die Antiken an einen Wanderer aus Norden , das ebenfalls 1795 in den Horen erschien: Über Ströme hast du gesetzt und Meere durchschwommen, Über der Alpen Gebirg trug dich der schwindligte Steg, Mich in der Nähe zu schaun und meine Schöne zu preisen, Die der begeisterte Ruf rühmt durch die staunende Welt; Und nun stehst du vor mir, du darfst mich Heilige berühren, Aber bist du mir jetzt näher, und bin ich es dir? Hinter dir liegt zwar dein nebligter Pol und dein eiserner Himmel, Deine arkturische Nacht flieht vor Ausoniens Tag, Aber hast du die Alpenwand des Jahrhunderts gespalten, Die zwischen dir und mir finster und traurig sich türmt? Hast du von deinem Herzen gewälzt die Wolke des Nebels, Die von dem wundernden Aug wälzte der fröhliche Strahl? Ewig umsonst umstrahlt dich in mir Ioniens Sonne, Den verdüsterten Sinn bindet der nordische Fluch. 203 Keine Ontologie, sondern bloßer Schein der Reflexion ist alle ästhetische Schönheit der Dichtung, die ein Moderner - und sei es in einem Loblied auf die Antike - zustande bringt. Die subjektiv-reflektierte Gebundenheit aller Naturerkenntnis gestand Goethe in der Folge, wenn auch mit Schellingscher Variante, zu. Und schon die Venezianischen Epigramme rücken ja von der früheren Italienbegeisterung spürbar ab und bringen stattdessen Goethes - reichlich moderne - Vorbehalte gegen das »Sauleben dieser Nation« 204 . Die Dichtungen ab Mitte der 1790er Jahre zeigen dann, dass Goethe aus der Absage an die Ontologie poetisches Kapital gewann. Den erkenntniskritischen Vorbehalt inszeniert etwa die Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten , die 1795 teils parallel zu den Lehrjahren entstanden und in Schillers Horen veröffentlicht wurden. 205 Am Beispiel des rätselhaften Reißens eines Schreibtischdeckels wird das grundsätzliche Problem vorgestellt, dass der Grund solcher (Natur-)Phänomene nicht mit letzter Sicherheit anzugeben sei. 206 Die Anwesenden glauben nicht, dass das Phänomen bloß »zufällig« (159) eingetreten sei. Wie kann man es aber erklären? Man sucht Kausalitäten. Die Naturwissenschaft wird in Anspruch genommen. Doch Barometer und Thermometer stehen unverändert. Also setzt man den Schreibtisch zu seinem »Zwillingsbruder« (161) in Beziehung, der - wie sich später 203 Schiller: Die Antiken an einen Wanderer aus Norden. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), Bd. I, 887 sowie 250 . 204 Brief vom 3 . April 1790 an Herder. In: Goethes Werke, hg. v. Hermann Böhlau und Nachfolgern, Weimar 1887 - 1919 (= Weimarer Ausgabe), IV. Abtlg., Bd. 9 , 198 . 205 Vgl. zur Gesamtdeutung Peter Pfaff: »Das ›Horen-Märchen‹. Eine Replik Goethes auf Schillers ›Briefe über die ästhetische Erziehung‹«. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, hg. v. Herbert Anton, Bernhard Gajek und Peter Pfaff, Heidelberg 1979 , 320 - 332 . 206 Vgl. dazu Marcel Krings: »›Versuche auf Geister‹. Zur Akustik der Gespenstergeschichte in Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ und Kleists ›Bettelweib‹«. In: Phono-Graphien. Akustische Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur von 1800 bis zur Gegenwart, hg. v. Marcel Krings, Würzburg 2011 , 231 - 252 . <?page no="51"?> 51 2.2 Goethes Poetologie der Bilder bestätigt - im selben Moment auf dem Hof der Tante in Flammen aufgegangen ist. So schließt man auf die »ziemlich wahrscheinlich[e]« (ebd.), aber unerklärbare »Sympathie zwischen Hölzern, die auf Einem Stamm erzeugt wurden« (sic, ebd.). Wahrscheinliche, nicht verifizierbare Kausalität wird konstruiert, wo ein Übersinnliches gedeutet werden soll. Der Gesellschaft reicht das aus. Der Geistliche aber insistiert auf der grundsätzlichen Erkenntnisdefizienz des Menschen: Es scheine, meint er, dass »uns immer die nötigsten Instrumente abgehen, wenn wir Versuche auf Geister« (160) und Naturphänomene anstellen wollen. Karl stimmt zu. Wer ein Faktum erkläre »oder mit andern Begebenheiten« (161) in Zusammenhang bringe, mache »sich gewöhnlich nur einen Spaß und hat uns zum Besten, wie zum Beispiel der Naturforscher und Historienschreiber« (ebd.). Dass der Grund der Natur und des historischen Progresses also nicht zu erfassen sei, ist zugleich eine Leseanleitung für das Märchen , das den Novellenzyklus beschließt. Es stellt einen frühen Versuch in Symbolik dar, ohne den Begriff ›Symbol‹ zu nennen. Denn symbolisch ist in ihm nicht die Vielzahl der sämtlich allegorisch deutbaren Figuren und Gegenstände, sondern allein die »Kraft der Liebe« (238), die als das höchste »Geheimnis [ … ]« (216) und somit als unerforschlicher Grund des Bildungsgesetzes von Mensch, Natur und Geschichte genannt wird und am Ende in der Verbindung von Prinz und Lilie auf den Thron gelangt. Über den eros und seine Wirkungen kann der Dichter lustvoll fabulieren, auch und gerade wenn ihn der Riss im Schreibtisch - ein Zerreißen der auf dem Schreibmöbel hergestellten Textur - an den Hiat zwischen Grund und Deutung und damit an die ontologische Differenz zwischen dem Absoluten und seinen endlichen Repräsentationen erinnert. Genauer stecken 1809 auch die Wahlverwandtschaften die Grenzen der Sprache und Erkenntnis ab. Den Gedanken der Symbolik führen sie dichterisch - und in Bezug auf Dichtung - aus und setzen die daraus folgende Kunstkritik ins Werk. Kapitel I, 4 erwägt die Frage, wie angemessen über die Natur geredet werden könne, wenn diese doch durch eine ontologische Differenz - Ontonomie versus Autonomie, also Gesetz versus Freiheit - vom Menschen getrennt sei. Eduard und der Hauptmann erklären, dazu eine »Gleichnisrede« 207 zu verwenden, die Natürliches bloß anthropomorphisiere, denn der Mensch »legt sich als Folie der ganzen Welt unter.« 208 So wende man etwa das »Kunstwort« 209 ›Wahlverwandtschaft‹ auf sich bevorzugt bildende Stoffverbindungen an oder bezeichne deren Auflösung als »Scheidungen« 210 . Damit wird eingestanden: Über Natur rede man notgedrungen in Menschensprache, weil man keine andere Sprache besitze. Und: Natur ist ein wesenhaft Fremdes, das mittels Sprache vertraut gemacht wird: Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden [es geht um die Entstehung von Gips, M. K.], und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich so aussieht, als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde. 211 Nun aber ergibt sich ein Problem. Charlotte formuliert es: 207 Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: HA 6 , 270 . 208 Ebd. 209 Ebd., 271 . 210 Ebd., 273 . 211 Ebd., 274 . <?page no="52"?> 52 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Verzeihen Sie mir [ … ], aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. 212 Werden auf Beobachtung fußende Experimente durchgeführt, entsteht immer die Frage nach dem Grund für die Reaktionen der Stoffe. Charlotte erwähnt Denkbares: Wahl, Notwendigkeit, Zufall, bewusstes Arrangement des Chemikers. Was aber ist das Entscheidende? Eduard und der Hauptmann sind ratlos: In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und hält das Kunstwort ›Wahlverwandtschaften‹ für vollkommen gerechtfertigt. 213 Für den Chemiker ist am Experiment alles zu begreifen - außer der Frage nach dem Grund des Seins. Dass man den Stoffen »eine Art von Wollen« ›zutraut‹, will sagen: Wie schon in den Unterhaltungen nötigt die Frage nach einem Grund, der Kausalität stiftet, selbst aber nicht erscheint, zum Postulat einer unvordenklichen »höheren Bestimmung«, auf die Faktisches verweise. Nur diese Frage ist also symbolisch: In ›keiner Sprache‹, hatte die Definition der Symbolik erklärt, könne Intelligibles ausgesprochen werden. Nun lautet die Pointe des Romans: Alle Begriffe des Menschen, die zur Erklärung des Grundes verwendet werden, sind bloße Kunstbilder, also Mythologie, die grundsätzliches Unwissen kaschieren. Doch eben aus dem Versuch, Sinn dort zu generieren, wo keiner generiert werden kann, gewinnt Dichtung ihre Bilder. Damit geht es den Wahlverwandtschaften um Erkenntniskritik, also um die Kritik aller Mythologie, die als bloße Möglichkeit ästhetischer Bilder durchschaut und für den schönen Schein des Romans verwendet wird. Auch am Text ist im Folgenden nichts symbolisch - außer der Frage nach dem Grund menschlicher Verbindungen. Die Erwägungen Eduards, Charlottes und des Hauptmanns über das Trennen und Verbinden der Stoffe übertragen die chemischen »Kunstworte« auf das Romangeschehen: Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe. 214 Das bedeutet: Auch der Text ist als ein Gleichnis über die Kraft der Attraktion zwischen Menschen zu lesen. Der Roman wird zum psychologischen Eheroman. Wie im Experiment ist in ihm alles verständlich, mit Ausnahme der Frage nach dem Grund. Warum sich der Partnerwechsel ergibt, bleibt unaufklärbares Geheimnis, obwohl der Roman im Versuch einer Deutung Mehreres erwägt. In Eduards Leidenschaft und der Landschaft findet sich die Möglichkeit vorgestellt, die Natur bestimme unser Handeln. Charlotte und der erste Teil der 212 Ebd. 213 Ebd., 275 . 214 Ebd., 276 . In der These, in Goethes Wahlverwandtschaften walte »dunkel [ … ] der Mythos« und das »Mythische [sei darin] der höchste Sachgehalt«, liegt demgegenüber das grundlegende Missverständnis in Walter Benjamins epochalem Essay über Goethes Roman (Walter Benjamin: »Goethes Wahlverwandtschaften«. In: Ders.: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main 11 991 , 123 - 202 , hier 167 und 140 (= Gesammelte Schriften Bd. I, 1 )). Weder hier noch in den Wanderjahren bringt Goethe den Mythos wieder. <?page no="53"?> 53 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Beichte Ottilies (Kapitel II, 14) erinnern an die autonome Freiheit, sich selbst das Gesetz aller Praxis zu geben. Und schließlich deuten die Sakralkunst und der weitere Verlauf von Ottilies Beichte auf Gott, der die Geschicke der Menschen lenke. Die im Einzelfall bemühten historischen Mythologica verbürgen jedoch nicht die Wahrheit. Die symbolische Frage bleibt ohne Antwort. Für die Dichtung ist das kein Nachteil. Dass und wie sie zum Wohle des ästhetischen Scheins dennoch reden kann, ist en passant in Eduards Übertragung chemischer Begriffe auf Menschliches zu denken gegeben. Schon vom Verfahren her ist die Metapher - wörtlich: Übertragung - bezeichnet, und deutlicher noch ruft die logische Form des Beispiels die aristotelische Definition der Metapher auf. In der Poetik heißt es: Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie. 215 Kann man die ersten beiden Formen als Synekdochen und die dritte als Metonymie verstehen, 216 so findet sich das spezifisch metaphorische Sprechen in der letzten. Die Regeln der Analogie, die sie bestimmen, gibt Aristoteles wie folgt an: Unter einer Analogie verstehe ich eine Beziehung, in der sich die zweite Größe zur ersten ähnlich verhält wie die vierte zur dritten. Dann verwendet der Dichter statt der zweiten Größe die vierte oder statt der vierten die zweite [ … ]. So verhält sich z. B. eine Schale ähnlich zu Dionysos wie ein Schild zu Ares; der Dichter nennt also die Schale ›Schild des Dionysos‹ und den Schild ›Schale des Ares‹. 217 Die Metapher geht von einem semantisch-logischen Verhältnis aus, das als A : B = C : D formalisierbar ist. Bildet man die Metapher gemäß der Analogie, ergibt sich: A x D = B x C. Dieses metaphorische Verhältnis entspricht genau den wechselnden Wahlverwandtschaften aus Goethes Roman, wie sie Eduards Beispiel erwog. Auch hier war zunächst ein A mit einem B, ein C mit einem D »innig verbunden«, um dann nach dem Wechsel der Verhältnisse die Paarungen A und D sowie B und C zu bilden. Der Partnertausch reflektiert damit das Sprachproblem, demzufolge sich der Mensch ein Unbekanntes durch Unterlegung anthropomorpher Begrifflichkeiten vertraut und deutbar zu machen sucht. Dergleichen metaphorische ›Übertragung‹ von explikativen Verhältnissen verhehlt freilich nicht, dass es Wahrheitserkenntnis auf diese Weise nicht geben kann 218 - wobei eine absolute Wahrheit, die in der unabweisbaren Relevanz der symbolischen Frage aufscheint, nicht ausgeschlossen wird. Dass der Mensch auf sie verpflichtet bleibt und ihr im Experiment nachspürt, unterscheidet den Roman von moderneren Ansätzen der Sprachkritik, wie sie vor allem Nietzsche mit großer Resonanz vertreten hat. Seine kurze Schrift Über Wahrheit und Lüge im 215 Aristoteles: Poetik, hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994 , 67 . 216 So tut es Wolfram Groddeck, dem ich hier folge (Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a. M./ Basel 1995 , 257 ). 217 Aristoteles: Poetik (Anm. 215 ), 69 . 218 Ganz ähnlich argumentiert neuerdings Christian Mittermüller (Sprachskepsis und Poetologie. Goethes Romane ›Die Wahlverwandtschaften‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, Tübingen 2008 ), die »Verwandtschafts-Metapher« (ebd., 69 ) könne nicht inhaltlich fixiert werden: »Der Signifikant gerät im Zuge seiner Thematisierung ins Gleiten und generiert immer neue Metaphern, die ihrerseits wiederum interpretationsbedürftig sind« (ebd.). Daraus folge »ein dichterisches Verfahren, das auf jeden objektiven Wahrheitsanspruch verzichtet« ( 83 ) und für den Roman eine »polyperspektivische Offenheit« (ebd.) zeitige, durch die er sich »jeder eindeutigen Interpretation entzieht« (ebd.). <?page no="54"?> 54 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« außermoralischen Sinne (1873) erwägt zunächst ähnlich wie schon die Wahlverwandtschaften , dass Sprache ein »bewegliches Heer von Metaphern« und »Anthropomorphismen« 219 sei, das Wahrheit niemals verbürge: Das ›Ding an sich‹ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. [ … ] Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukusheim [sic], so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge. 220 Aus der Absage an absolute Erkenntnis kann der »intuitive Mensch« 221 - der Künstler - nun aber die Fähigkeit gewinnen, in ästhetischer Formgebung lustvolle »Täuschung[en]« 222 zu schaffen, die ihm »Erhellung, Aufheiterung, Erlösung« 223 von der eigenen, jammervollen Existenz verschaffen. Ist Wahrheit nicht verifizierbar, muss der Mensch nicht länger an ihr leiden: Ontopoiesis fälscht sich, unbekümmert um jegliche Wirklichkeit, einen Traum von Glück. Eben diese dichterische Umschaffung des Faktischen, der Goethe ebenso wenig wie Nietzsches Absage an die Existenz eines Absoluten beigepflichtet hätte, macht mit den Möglichkeiten des schönen Scheins radikal ernst und befreit Sprache zu ungeahnter ästhetischer Schöpfungskraft im Dienste des Lebens. Dass sich aber trotz oder wegen des erkenntniskritischen Vorbehalts trefflich Geschichten erzählen ließen, hat Goethe auch im Spätwerk durchgeführt - wenn auch dort der Status des Kunstschönen deutlich pessimistischer beurteilt ist. Zumeist schrieb Goethe so, dass er Grundsätzliches ins Bild fasste und dem Text einleitend voranstellte. So beginnen die Wanderjahre damit, dass Felix, Wilhelms Sohn, einen glänzenden Stein findet. Er hält ihn für Gold, und ganz beglückt zeigt er ihn seinem Vater. Der muss ihn enttäuschen: ›Wie nennt man diesen Stein, Vater? ‹, sagte der Knabe. ›Ich weiß nicht‹, versetzte Wilhelm. ›Ist das wohl Gold, was darin so glänzt? ‹, sagte jener. ›Es ist keins! ‹, versetzte dieser, ›und ich erinnere mich, daß es die Leute Katzengold nennen.‹ ›Katzengold! ‹, sagte der Knabe lächelnd, ›und warum? ‹ ›Wahrscheinlich weil es falsch ist und man die Katzen auch für falsch hält.‹ ›Das will ich mir merken‹, sagte der Sohn [ … ] (HA 8, 7). Der Glanz des Goldes ist als Sinnbild für den schönen, aber falschen Schein der Dichtung zu lesen. Er übt leicht Faszination aus und macht vergessen, dass er nichts als Täuschung ist. 224 219 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980 , Band 1 , 875 - 890 , hier 880 . 220 Ebd., 879 . 221 Ebd., 889 . 222 Ebd. 223 Ebd. 224 Mittermüller: Sprachskepsis (Anm. 218 ) hebt hier nur den »arbiträren Charakter dieser Signifikation« ( 193 ) hervor und leitet aus der Stelle Wilhelms Unfähigkeit ab, seine »Umwelt sprachlich präzise zu erfassen« ( 194 ). Hans Rudolf Vaget (»Katzengold. Kunst und Religion in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹«. In: Goethe und die Bibel, hg. v. Johannes Anderegg, Stuttgart 2005 , 279 - 294 ) macht den fal- <?page no="55"?> 55 2.2 Goethes Poetologie der Bilder Denn Katzengold ist ein »Glimmer, der den Glanz und die Farbe des Goldes hat, aber nichts Metallisches enthält« 225 , und ebenso fasst Dichtung ins schöne Bild, was den zugeschriebenen Wert nicht besitzt. Dass man also Kunstbildern und Mythologica nicht trauen darf, muss man sich »merken«. Der Roman macht es von Anfang an vor. Er zitiert mythologische Muster, die sich beim näheren Hinsehen alle als falscher Schein erweisen: Im ersten Kapitel, ›Flucht nach Ägypten‹ benannt, liegt sowenig die Zeit der Herodianischen Dunkelheit des Gesetzes vor, wie ›Sankt Joseph der Zweite‹ im zweiten Kapitel ernsthaft der Nachfolger des Ziehvaters Jesu ist. 226 Dargestellt wird vielmehr, wie Joseph aus der Einsicht in die fortschreitende Ökonomisierung seiner Lebenswelt in eine ästhetisch vermittelte Vergangenheit jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge auswandert. Auf seiner Waldlichtung umgibt er sich mit den Resten religiöser Kunst, die er aber säkularisiert und neu funktionalisiert hat: Die Kapelle wird längst weltlich genutzt, und die kirchliche Verehrung ist erloschen. Nicht religiös, sondern ästhetisch ist also Josephs Leben grundiert, und der Schein des Romans muss gegen den Strich gelesen werden. Dass Literatur aber auch zu einer Naturontologie nichts beizutragen vermag, machen die Wanderjahre anhand des Kästchens deutlich, das ebenfalls zu den prominent vorangestellten Gegenständen des Textes gehört. Die ältere Forschung betrachtete es als »Zentralsymbol« 227 und hielt dafür, es deute auf das Problem, Einsicht in das Bildungsgesetz der Welt zu nehmen. Die Natur - Berge, Wald - wird als undurchdringliches Labyrinth geschildert (vgl. HA 8, 32). Nur per Finderglück - und unter Anspielung auf die Etymologie seines Namens - entdeckt Felix ihr »Geheimnis« (44), das Kästchen, in der Höhle des steinernen Riesenschlosses. Wilhelm muss mit mehr Überlegung zu Werke gehen, um zum verirrten Sohn in der Felsformation zu gelangen und ihm herauszuhelfen. Einen »Bindfaden« (43) hat der Vater also draußen festgebunden, und mit dieser Orientierungshilfe kommt man wohlbehalten wieder zum Ausgang. Die Aktualisierung des Ariadne-Mythos fiel auf. Doch nicht um glückliche Rettung geht es. Erzählt wird der Versuch, mittels Kunst einen Sinn in das Rätsel der Natur zu bringen. Denn der Faden ist ein Gewebe und weist durch dessen lateinisches Etymon textura auf den Text des Romans selbst: Ein »Faden« (140) verbinde Disparates, und solche »Verknüpfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen« (284), sei Aufgabe des Künstlers. Buchstäblich wollen die Wanderjahre dem Geheimnis auf den Grund gehen. Doch der zu diesem Zweck berichtete Abstieg in die Höhlentiefe - eine Parodie des romantischen Bergwerkthemas - zeitigt kein Ergebnis. Das Kästchen bleibt verschlossen und enthüllt kein Absolutes. Zugestanden wird, dass der Grund des Seienden weder von Kunst noch einer anderen ›Sprache‹ angegeben werden kann. Denn als das Gespräch in Kapitel II, 9 nicht weniger als sechs Theorien zur Entstehung der Welt auflistet, bringt Jarno-Montan gegen sie das mythenkritische Argument vor, es sei müßig, sich über Intelligibles zu streiten: Mehr als die unnütze Spekulation der Theoretiker zähle das praktische »Tun und Denken« (263), das Vorhandenes zu nutzen wisse, ohne nach dem Grund zu fragen. Der Roman bereitet die Einsicht vor, dass sich die Moderne weder um Metaphysica noch um Mythologica mehr kümmert. Die schen Schein des Katzengolds zu einem spezifischen Zeichen für die romantisch-neukatholischen »falschen Tendenzen in Kunst und Religion« ( 293 ), die die St. Josephs-Episode kritisch in den Blick nehme. 225 Adelung: Wörterbuch (Anm. 152 ), s.v. Katzengold, Bd. 2 , 1517 . 226 Vgl. dazu Thomas Degering: Das Elend der Entsagung. Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, Bonn 1982 , 442 - 458 sowie Vaget: Katzengold (Anm. 224 ). 227 Wilhelm Emrich: »Das Problem der Symbolinterpretation im Hinblick auf Goethes ›Wanderjahre‹«. In: DVjs 26 ( 1952 ), 331 - 353 , hier 345 . <?page no="56"?> 56 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« ökonomischen Menschen des ›Bandes‹ sind nüchtern und bildlos, und weil sie den Gang der Gesellschaft bestimmen, ist es auch ihre Zeit. Wenn aber doch ein einziges Mal - wie in der Pädagogischen Provinz - die Reste ikonographischer Überlieferung bemüht werden, finden sie sich zum Erziehungsprogramm und Gründungsmythos der ökonomischen Sozietät umfunktionalisiert. 228 Man hat daher mit Recht festgestellt, 229 dass Liebe, ästhetische Schönheit und Mythologie in die Binnennovellen des Romans emigrieren, der vom Ende alles Schönen unter den Bedingungen der ökonomischen Moderne handelt. Im Bild des Fadens sind die Auswirkungen auf die Kunst bereits angelegt. Denn das Gewebe deutet auf die Webethematik voraus, die den dritten Teil der Wanderjahre bestimmt. Die Gefahr des Maschinenwesens ist aufgerufen, das mit industrieller Massenfertigung von Textilien die alten Webmanufakturen verdrängen und die Gebirgsbewohner in die Verelendung treiben wird. Bezogen auf Kunst, gibt der Roman zu bedenken, dass die textura der Moderne vorwiegend industriell gefertigte Massenware sein wird. Sie gehorcht ökonomischen Interessen und ist schale, klischierte Gemütserregungskunst, wie sie die Lago-Maggiore-Episode mit der Entstehung des Mignon-Kitsches heraufbeschwor. Solche Bilderskepsis, die vom Ende der Kunst als der mythologisch grundierten Stiftung des Schönen berichtet, revoziert die Hoffnung der Klassik, in Kunst ein idealmögliches Sein vor Augen zu stellen. Mit Schiller war sich Goethe darin übrigens einig. Noch 1788 hatte der Dichterfreund in den Göttern Griechenlands der Kunst die Aufgabe bestimmt, der »entgötterte[n] Natur« 230 ihre verlorene Poetizität unter Rückgriff auf die Antike zu restituieren. Demgegenüber berichtet bereits die Elegie Nänie 1799 vom unabweisbaren Tod des antiken Kunstschönen in der Nüchternheit des Zeitalters: »Auch das Schöne muß sterben! « 231 Zeus, Aphrodite, Achill oder Orpheus und Eurydike, die das Gedicht erinnernd aufruft, sind in der Moderne unwiederbringlich verloren, und so hält die Kunst in ihrem mythologischen Apparat nur noch die Trauer über einen schönen Schein wach, der historisch nicht mehr möglich ist. Damit fallen auch Schillers Versuche - an Anmut und Würde sowie an die Ästhetische Erziehung ist zu denken -, Schönheit als Ideal für die Vollendung von Anthropologie und Rechtsgesellschaft auszuweisen. Denn dass die Moderne keineswegs eine schöne Synthese von Natur und Vernunft ist, zeigen die Geschichtsdramen. Sie führen den Geschichtsprogress empirisch-realistisch nicht auf die hehre, mit der Welt vermittelte Kraft 228 Vgl. dazu Peter Pfaff: »›Fromme Kunstmummerei‹. Goethes nüchterner Blick auf die Romantik«. In: Heidelberger Jahrbücher 51 ( 2007 ), 321 - 340 . 229 Vgl. bereits Heinz Schlaffer: Exoterik und Esoterik (Anm. 4 ), 224 . 230 Schiller: Die Götter Griechenlands (Anm. 194 ), 168 . 231 Ders.: Nänie. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), Bd I, 242 . Die Weimarer Klassik nimmt überhaupt durch die - freilich kunstvolle - esoterische Zerstörung des Schönen jenes »Ende der Kunstperiode« vorweg, das Heines Delaroche-Rezension erst beim »Sarge Goethes« einläuten wollte (Heinrich Heine: Französische Maler. Delaroche. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Klaus Briegleb, 6 in 7 Bänden, München 1991 , Bd. 3 , 57 - 73 , hier 72 , vgl. auch Ders.: Die romantische Schule, In: Sämtliche Werke, Bd. 3 , 359 - 504 , hier 360 ). Hegels in den ab 1820 / 21 gehaltenen Vorlesungen über Ästhetik vorgebrachte These vom Ende der Kunst hingegen ist geschichtsphilosophisch begründet. Da die moderne Kunst ihre Inhalte nur in der Anschauung, nicht wie die Philosophie in Begriffen, geben könne, sei der Geist immer schon über Kunst hinaus. Die Zukunft gehöre also nicht mehr der Kunst, sondern der Logik (vgl. Hegel: Ästhetik (Anm. 20 ), Bd. 13 , bes. 13 - 82 ). Vgl. dazu Eva Geulen: »Nachkommenschaften: Heine und Hegel zum Ende der Kunstperiode«. In: Auf den Spuren Heines, hg. v. Ingrid Hennemann Barale und Harald Steinhagen, Pisa 2006 , 195 - 207 ; Christoph Jamme: »Hegels Satz vom Ende der Kunst«. In: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, hg. v. Helmut Bachmaier und Thomas Rentsch, Stuttgart 1987 , 273 - 286 . <?page no="57"?> 57 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren« der Freiheit, sondern auf realpolitische Machtkonstellationen zurück. Maria Stuart etwa schildert 1801 den Tod der schottischen Königin, die als »Helena« 232 - also schönste Frau - ihrer Zeit gilt. Sie, die sich nie zur Politikerin eignete, fällt einem Politmord zum Opfer, der von Elisabeth, der völlig unerotischen englischen Königin, strategisch angezettelt wird. Nicht der ästhetischen Erziehung gehört die Zeit, sondern der realpolitischen. Sie ist nicht schön, bewahrt das Land zum - recht geringen - Preis moralischer Verurteilung aber vor dem drohenden Bürgerkrieg und sichert ihm eine lange Periode der Prosperität, die Englands Aufstieg beförderte und noch heute ›Elisabethanisches Zeitalter‹ genannt wird. 233 2.3 Kunstkritik in den Lehrjahren Solche Kunstskepsis findet sich in Goethes Lehrjahren - um sie in den skizzierten Zusammenhang einzuordnen - noch nicht. Durchaus ist ihnen noch gewiss, dass Kunst die Verhältnisse des Faktischen zweifelsfrei in den Blick nehmen kann. Dennoch berichten auch sie bereits davon, dass die ökonomische Moderne, die noch als Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zum Kapitalismus in den Blick genommen wird, das Kunstschöne und alle Bilder mit hartem Realismus durchstreicht. Der logos siegt über den mythos . Niemand kümmert sich in der nüchternen Zeit mehr um Mythologica oder überhaupt um die Produkte der Einbildungskraft, und unbarmherzig werden sie als zwar schöner, aber unnützer Schein gekennzeichnet. Dabei ist der Roman keineswegs symbolisch. Er geht objektiv-typologisch vor, ist also auf Erkenntnis des »empyrisch pathologischen Zustands des Menschen« 234 gerichtet, die vom Gegenstand ausgeht und typenhaft-allgemein repräsentiert wird: Lothario etwa ist der Typus des Geschäftsmanns, Therese der einer Hauswirtschafterin und Philine derjenige der Lebens- und Liebeslust. Wilhelm Meister hingegen ist der Typus des dilettantischen Schwärmers. An seinem Beispiel und seiner personalen (nullfokalisierten) Perspektive, hinter der freilich durch Erzählerkommentare das faktisch Vorliegende aufscheint, führen die Lehrjahre das Problem dessen vor, was Goethe »falsche Tendenz« 235 nannte: Dass eine bloß ästhetische Betrachtung der Welt sich das Reale durch Fiktionen verstellt oder, anders gesagt, die Erfahrung ins Phantastische abgleiten lässt. Im Sinne einer objektiven Kunst und ihrer Forderung nach Abkehr von regelloser Gemütserregung konnte das nicht sein. Schlechten Beistand gewähren also Wilhelms Ansichten dem Interpreten, der sich bedenkenlos auf sie verlässt. Er handelt Goethes - bereits zitierter - Anleitung zum nüchternen Lesen zuwider: »Schönheit und Geist muß man entfernen, wenn man nicht ihr Knecht werden will.« 236 Der schöne Schein und die Verklärungen der Einbildungskraft täuschen über die banale Niedrigkeit des Geschilderten hinweg. Streicht man den Schein, bleibt übrig, dass Goethe selbst Wilhelm nicht für ein Exempel segensreicher Bildung, sondern für einen »arme[n] Hund« 237 hielt und überdies nüchtern konstatierte, er habe für die Lehrjahre den »allerelendsten Stoff [ … ] wählen müssen, der sich nur denken lasse, herumziehendes 232 Schiller: Maria Stuart. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), Bd. 2 , 549 - 686 , hier 553 , V. 84 . 233 Vgl. dazu Marcel Krings: »Ironischer Idealismus. Politik und Geschichtsprogress in Schillers Maria Stuart«. In: Etudes Germaniques 60 ( 2005 ), 813 - 827 . 234 Goethe an Schiller, 25 . 11 . 1797 . In: MA 8 . 1 , 452 235 Goethe: Tag- und Jahreshefte. In: HA 10 , 429 - 528 , hier 432 . 236 Ders.: Sprüche in Prosa (Anm. 12 ), 38 (Nr. 1 . 230 ). 237 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 52 . <?page no="58"?> 58 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Komödiantenvolk und armselige Landedelleute« 238 . Kein Wort also von der schönen neuen Turmwelt, die mancher Kritiker schon wie Wilhelm Meister zu sehen meinte. Im Sinne der - eingangs des Kapitels zitierten - Schillerschen Reflexion über den Antagonismus von Inhalt und Darstellung operieren die Lehrjahre also mit »unpoetische[m] gemeine[m] Inhalt«, der nur durch »den belebten und reichen Ausdruck poetische Dignität« erhalte. Soll die pathologische Empirie in den Blick gefasst werden, gilt es, sich durch den ästhetischen Schein nicht täuschen zu lassen. So ist zu erwägen, dass der Roman gegen den Strich, also bilderkritisch, gelesen werden muss. Wie es scheint, hat allein Novalis den Sachverhalt früh und in aller Konsequenz begriffen. 239 Völlig zu Unrecht werden seine scharfen Urteile über den Meister von einer Forschung verkannt, die den Schein für bare Münze nimmt und meint, Goethe gegen romantische Kritik in Schutz nehmen zu müssen - als läge seine Meisterschaft gerade nicht im Spiel mit Inhalt und Form. Dabei war auch Novalis zunächst dem poetischen Schein aufgesessen. Schon 1799 aber, während andere Mignon-Lieder vertonten und nach Italien oder Arkadien aufbrachen, erkannte er die Wirkung der »Melodie des Stils« im Meister und stellte fest: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« sind ein mächtiger Beweis dieser Magie des Vortrags, dieser eindringenden Schmeichelei einer glatten, gefälligen einfachen und mannigfaltigen Sprache. Wer diese Anmut des Sprechens besitzt, kann uns das Unbedeutendste erzählen, und wir werden uns angezogen und unterhalten finden [ … ].« 240 Das hatte 1797 bereits Schiller bemerkt. Doch nun fährt Novalis fort: Trotz - oder gerade wegen seiner poetischen Sprache sei das Buch durchaus prosaisch - und modern. Das Romantische geht darinn zu Grunde - auch die Naturpoesie, das Wunderbare - Er [der Roman, M. K.] handelt bloß von gewöhnlichen menschlichen Dingen [ … ]. Es ist eine poetisierte bürgerliche und häusliche Geschichte. Das Wunderbare darinn wird ausdrücklich, als Poesie und Schwärmerey, behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buchs. Sehr viel Ökonomie - mit prosaischen, wohlfeilen [sic] Stoff ein poetischer Effekt erreicht. 241 Und weiter: Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch - so prätentiös und preziös - undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrifft - so poetisch auch die Darstellung ist. Es ist eine Satyre auf die Poesie, Religion etc. 242 Novalis selbst, der in der Einbildungskraft das Mittel zur transzendental-ästhetischen Poiesis gefunden zu haben meinte, wollte den Lehrjahren auf ihrem prosaischen Weg durchaus nicht folgen. Künstlerische Enttäuschung aber verhinderte nicht, dass er das zwischen Goethe und Schiller Abgehandelte bemerkte: Die dem Werk zugrundeliegende harte, ökonomische Empirie, die Wirkung des ästhetischen Scheins und die Divergenz zwischen banalem Stoff und poetischer Darstellung finden Erwähnung, also die doppelte Buchführung von Exoterik und Esoterik. Nun ist zu erwägen: Der seit über 60 Jahren schwelende germa- 238 Ebd., 82 . 239 Schlechta (Goethes Wilhelm Meister, Anm. 86 ) und auch Schlaffer (Exoterik und Esoterik, Anm. 4 ) gehen auf die spezifische Art der Darstellung nicht ein, sie setzen die Ästhetik der Verklärung, die sie beobachten, stillschweigend voraus. 240 Novalis: Fragmente und Studien (Anm. 11 ), 765 f. 241 Ebd., 800 f. 242 Ebd., 806 . <?page no="59"?> 59 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren« nistische Forschungsstreit lässt sich auf dieses zweipolige Spiel des Stils zurückführen, insofern die Deutung vom Status der schönen Bilder abhängt. Die Mehrheit glaubte dem exoterischen Schein. Tatsächlich operiert Goethe in den Lehrjahren , noch mehr aber im Spätwerk, wo sich der Streit fortsetzt, mit nahezu dem gesamten Bild- und Formenarsenal des Abendlands - freilich nicht im Sinne einer Restitution des Mythos, sondern um die Summe dessen zu zeigen, was historisch möglich war und nun vergangen ist. So ist die »Diaphanie« 243 mythologischer Hintergründe auch keineswegs als »Sieg der Poesie über die Prosa« 244 zu verstehen. Vielmehr scheint in solchen Zitaten aus dem Arsenal der Bilder und Geschichten nur die Differenzqualität aller Tradition auf, die vom Ende des schönen Scheins unter den Bedingungen der Moderne berichtet. Als Beispiel kann die Szene Hochgebirg aus dem Faust II dienen. 245 Dort zerfällt mit der Wolke die ideale Schönheit Helenas und zieht sich nach Osten - man darf konjizieren: nach Griechenland - zurück. Die Antike hat keinen Platz im Norden: Schon der 3. Akt hatte ja Helenas Übersiedlung in die Neuzeit als phantasmagorischen Schein expliziert und klassisch-romantische Literatur bezweifelt. Die neue Welt ohne Schönheit aber, das zeigt der 5. Akt, ist zweckrationales Handeln und weltumspannende Technik und Ökonomie. Der technischen Moderne gegenüber besitzen »Melodie des Stils« und »Anmut des Sprechens« freilich betörende Wirkung - und das seit je, wie es die Sirenen der Odyssee , Shakespeares Prospero und noch die Loreley bezeugen. So blieben nicht viele Interpretationen nüchtern genug, die banale Realität hinter der ästhetischen Täuschung ins Auge zu fassen. Doch Goethe selbst wählte den »ruhigen und kalten Weg des Beobachtens« 246 . Zum objektiven Realismus wollen die Lehrjahre überreden. So fassen sie als inadäquate Interpretation des Vorliegenden kritisch die Täuschungen einer ästhetischen Einbildungskraft in den Blick, die nicht länger an Faktisches rückgebundenen ist. Das Thema sei einleitend an einem besonders prägnanten Beispiel deutlich gemacht. Das erste Kapitel des dritten Buches beginnt mit Mignons berühmt gewordenem Italien-Lied (im Folgenden nur die erste Strophe): Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! (HA 7, 145) Als Naturlyrik unerfüllter Sehnsucht, als unmittelbaren Ausdruck eines naiven Naturwesens hat man diese Zeilen aufgefasst, und der »Reiz der Melodie« (146) führte in den Vertonungen von Reichardt, Schubert, Schumann und anderen zu ungeahnter Karriere in der Musik. Doch der Text dementiert den Status einer Herzensergießung. Man saß einer ästhetischen Täuschung auf. Dass »das Kind«, also Mignon »das Lied [sang], das wir soeben aufgezeichnet haben« (ebd.), ist nicht ganz richtig. Wohl singt sie, aber nicht das, was zu lesen steht. Denn weil Mignon nur »ein gebrochenes, mit Französisch und Italienisch durch- 243 Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister (Anm. 5 ), 3 . 244 Ebd., 5 . 245 Vgl. dazu Manfred Birk: »Goethes Typologie der Epochenschwelle im vierten Akt des ›Faust II‹«. In: Aufsätze zu Goethes ›Faust II‹, hg. v. Werner Keller, Darmstadt 1991 , 243 - 266 . 246 Brief an Schiller vom 16 ./ 17 . 8 . 1797 . In: MA 8 . 1 , 391 . <?page no="60"?> 60 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« flochtenes Deutsch sprach« (110), besteht auch ihr Gesang aus »gebrochene[r] Sprache« (146). Kaum ist verständlich, was das Kind artikuliert. Erst Wilhelm »übersetzt [ … ]« die Strophen »ins Deutsche« (ebd.), wählt die Worte und gibt ihnen die Form einer fünftaktigen Sestine: Er, nicht Mignon, ist der Autor. In seinem Text verschwindet die »Originalität der Wendungen« ebenso wie die ursprüngliche »kindliche Unschuld des Ausdrucks [ … ], indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward« (ebd.). Wilhelms Gedicht mag also eingängig sein, es wird deutlich als jene subjektivistische Kunst gekennzeichnet, gegen die die Lehrjahre votieren: Wer das Original rücksichtslos verfremdet, sich dabei allein an »Melodie und Ausdruck« (145) berauscht und für die »Sehnsucht« (146) begeistert, ist schwärmerischer Dilettant. Seine eigenen Neigungen bewegen ihn zu einer Gemütserregungskunst, deren schöner Schein über das real Vorliegende hinwegtäuscht: Mignons schlimme Familiengeschichte, von der Wilhelm nicht das kleinste Detail ahnt oder herausbekommt, findet sich plötzlich in ästhetischem Wohlgefallen aufgehoben. Im Sinne objektiver Kunst und ihrer Erkenntnisfunktion kann das nicht sein. Der Abbe´ formuliert ihre Grundsätze im Gespräch mit dem Marchese, einem Onkel Mignons. Der Italiener meint, das produktive Genie müsse sich zur meisterhaften Ausübung seiner Kunst zunächst mit unsäglichem »Fleiß« (572) ausgebildet, sich also aller seiner Fähigkeiten und Kenntnisse versichert haben. Dazu müsse es in die »Absonderung« (573) von einer Gesellschaft einwilligen, die vom Künstler nichts als einen »leichten, gefälligen, behaglichen Schein« (572), kurz: »Mittelmäßige[s]« (ebd.) oder bloße »Effekte« (573), verlange. Der Abbe´ stimmt zu: Das Kunstpublikum »urteile über ein Kunstwerk wie über eine Speise« (ebd.) und verlange gemäß der subjektiven »Neigungen, Meinungen und Grillen« (ebd.) von der Kunst Morallehren, pädagogische Unterweisung oder Gemütsrührung, und aufgrund dieser Unerzogenheit herrsche im Kunstbetrieb nichts als »Unsinn« und »Abgeschmacktheit« (574). Denn wenn der Künstler merke, dass der Publikumsgeschmack nur allzu »leicht zu befriedigen« (572) sei, bediene er ihn auf Kosten des »wahren Kunstgenusse[s]« (573), dessen Ausführung den Künstler nur zu einem »kümmerlichen Märtyrertum« (572) nötige. Die Kritik am Kunstbetrieb, der mit seinen Partikularinteressen die Künstler verdirbt, setzt den Begriff der ›wahren‹ objektiven Kunst voraus. Sie sei Formgebung unter Absehung von subjektiv-partikularen Perspektiven. Der Abbe´ führt aus: Eigentlich aber, weil die meisten Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem Wesen selbst keine Gestalt geben können, so arbeiten sie, den Gegenständen [den Werken der Kunst, M. K.] ihre Gestalt zu nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören (573). Die Differenz von Stoff und Form ist aufgerufen, wie sie in Goethes und Schillers Verständigung auf den Grundsatz der objektiven Kunst erwogen wurde. Aus dem Stoff, der form- und gestaltlosen ›Hydra der Empirie‹, müsse das Kunstwerk eine typologische Erkenntnis gewinnen, die den Stoff auf seine Gesetzmäßigkeiten zurückführen helfe, subjektiv-partikulare Effekte zurückdränge und in der Form des Kunstwerks repräsentiert sei. In Schillers Ästhetischer Erziehung heißt es: Darin besteht also das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet. 247 247 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), 639 f. Kursivierungen von Schiller. <?page no="61"?> 61 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren« Die ästhetische Wertlosigkeit des nur Subjektiv-Stofflichen bleibt Meisters Mignon-Gedicht fremd. Schon auf die eigene Ausbildung hat Wilhelm keinen Wert gelegt. Im zweiten Buch weiß er selbst, dass seine »Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen ohne inneren Wert« (78) sind und dass seine Gedichte »nur ein monotones Silbenmaß« (79) besitzen, »in welchem, durch einen armseligen Reim zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten« (ebd.). Zwar bezieht sich dieses Urteil auf Meisters bisherige Produktion. Doch Wilhelm lässt nach wie vor die Chance aus, sich weiterzubilden. Schriften zur Theorie der Ästhetik oder Rhetorik hat er sich »in der völligen Überzeugung von der Notwendigkeit solcher Werke« (35) zwar angeschafft. Doch sie blieben »meist unaufgeschnitten« (ebd.), und »in keines« konnte Wilhelm sich »auch nur bis in die Hälfte [ … ] hineinlesen« (ebd.). Die Regeln der Kunst kennt und beherrscht er nicht. Stattdessen hat er »Beispiele« (ebd.) dichterischer Formen nachgeahmt und - wie im Falle der beim Sujet ›Italien‹ wenig originellen Sestine - »in allen Arten, die ihm bekannt geworden waren, selbst Versuche gemacht« (36), also ohne Sachverstand, Methode und systematische Übersicht. Kein Meister seines Fachs ist, wer so vorgeht. Noch die Römischen Elegien weisen demgegenüber Dichtung als gründliche, historisch vermittelte Studienleistung des Künstlers aus. Ein Dichter habe die »Werke der Alten« (HA I, 160) - Rhetoriker, Dichter etc. - ausführlich zu studieren. Nur aus dem tradierten Bücherwissen sei die Kunst als techne zu erlernen. Historisch konstituierte Theorie müsse also die Praxis ergänzen. Dann erst verfüge der Dichter über stilvolle rhetorische Meisterschaft und mythologische Stoffe, die er für die Ästhetik seiner Dichtung benötige. Doch nicht nur der Vorwurf des Dilettantismus und seiner ästhetischen Halbheiten trifft Meister. Im Sinne des täuschenden schönen Scheins wird ihm ebenso vorgehalten, das Faktische zu verfehlen. Lieber träumt sich Wilhelm in ein ästhetisches Italien, als die nüchterne Realität zu erkennen. Im Motiv solch ästhetischer Weltflucht - und womöglich auch wortgeschichtlich im ›romanischen‹ Ursprung der Sestine - mag sich schon Goethes Kritik an den Romantikern ankündigen. In die Überlegungen Schillers zur naiven und sentimentalischen Dichtung, die ja die Frühromantik mit auf den Weg brachte, war Goethe immerhin eingeweiht. Nun lautet das Argument, besser als sich aus dieser Welt hinauszusehnen, sei es immer noch, sie zum Wohle aller zu gestalten. Dazu passt, dass im Verlauf des Romans Italien, das Sehnsuchtsland der sentimentalischen Träumer, mehr und mehr vor dem modernen Amerika verblasst, in das der Turm als ökonomische Sozietät expandieren will: Der nur knapp 20 Jahre vor Abfassung der Lehrjahre gegründete Staat figuriert als Musterbeispiel für grenzenlose kapitalistisch-soziale Möglichkeiten ohne Traditionsbürde, und Goethe hat zeitlebens Amerikas zweckmäßige Einrichtung ebenso bewundert, wie er sich für ökonomische Theorie 248 und Reiseberichte aus Übersee 249 interessierte. Noch das späte Gedicht Den Vereinigten Staaten bedauert, dass moderne Wirtschaftlichkeit jenseits der Möglichkeiten deutscher Geschichte und Kleinstaaterei lag: 248 Vgl. dazu ausführlich Gustav Körner/ Michael Sielaff: »Goethe und die Volkswirtschaftslehre«. In: GJb 119 ( 2002 ), 165 - 182 . Vgl. ebenso Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen (Anm. 101 ). 249 Mit großem Interesse las Goethe 1826 den Reisebericht, den Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar- Eisenach von seiner Reise nach Amerika ( 1825 - 26 ) angefertigt hatte, vgl. Goethes Brief an Zelter vom 22 . Oktober 1826 . In: Johann Wolfgang Goethe: Briefwechsel mit Zelter (MA 20 . 1 , 956 ). <?page no="62"?> 62 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, Hast keine verfallene Schlösser Und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit. [ … ] 250 Wer also in der Moderne nicht ankommt, träumt sich nach Italien. Entsprechend wird am Ende Wilhelm Meister »über die Alpen« (609) geschickt, weil er, den Jarno eigentlich nach »Amerika« (vgl. 563) mitnehmen wollte, sich zum Unternehmer nicht eignete. Im Geflecht ökonomischer Interessen und politischer Veränderungen hat er ebenso wenig einen Platz wie seine Dichtungsversuche: Der schöne Schein der Einbildungskraft wird - in den oben zitierten Worten des Novalis - ganz »ausdrücklich, als Poesie und Schwärmerey, behandelt« und von den nüchternen Strategen des Turms verlacht. Die Moderne ist bildlos, und das Schöne geht in ihr zugrunde. Wilhelm bemerkt davon nicht viel. Von klein auf hat er sich daran gewöhnt, ausschließlich in ästhetischen Welten zu leben. Die Lehrjahre stellen mit dem Theater-Thema des ersten Buchs die Genese eines Träumers vor Augen, der sich von Abgeschmacktheiten und ästhetisch vermittelten Sentimentalitäten systematisch den Sinn für Praktisch-Reales austreiben lässt. Wilhelm prägen Kunstformen - das Puppentheater, das schlechte Bild vom kranken Königssohn, Marianes seichte Schauspielerei oder die kindische Tasso-Lektüre -, die deutlich als minderwertig gekennzeichnet sind. Er, der selbst keinerlei Ausbildung in Sachen Kunst erhält, vermag das ebenso wenig zu beurteilen, wie er sich daran stört. Was er sieht und liest, dient ihm nur dazu, sich und seine subjektiven Neigungen zu goutieren. Was den Kunstprinzipien des Abbe´ rundweg widerspricht, disponiert Wilhelm daher von Beginn an dazu, den ästhetischen Schein trivialer und dilettantisch ausgeübter Gemütserregungskunst für bare und bedeutende Münze zu nehmen. Warnend inszeniert demgegenüber schon Wilhelms erstes Gespräch mit dem Unbekannten solche Kunst als Missverständnis. Der Abgesandte des Turms, wahrscheinlich der incognito reisende Abbe´, meint, Meister neben dem Glauben an das Schicksal auch seinen Hang zur Schwärmerei austreiben zu können. Damit allerdings ist er bei ihm an der falschen Adresse. Denn Wilhelms Bildungsgeschichte, die der Roman im ersten Buch exponiert, weist Meister keineswegs als Mensch der Ratio aus. Noch zu Beginn der Romanhandlung - Wilhelm ist 22 Jahre alt 251 - kennzeichnen ihn »Leidenschaft« (11) und »Einbildungskraft« (14), auf deren »Flügeln« (ebd.) er über Reales gern hinwegsieht. Weder bemerkt er so, dass jemand anderes Mariane finanziert, noch dass die Schauspielerin einschläft, als er ihr seine Jugenderinnerungen erzählt. »[T]heatralische [ … ] Vorstellung« und »lebhafte [ … ] Dichtung« (14) tun ein Übriges, ihm die Illusionen zu erhalten, und so ist der Topos der schädlichen Kunst eingeführt, den Rousseaus Emile dem 18. Jahrhundert wirkungsmächtig aktualisierte. Zur übermäßigen Phantasie ist Wilhelm indessen von Jugend an disponiert. Der Roman deutet mit den Bildungseinflüssen des Kaufmannssohns die Stationen einer abendländischen Kunstgeschichte an, deren ästhetische Bildlichkeit der Moderne als überholt gilt. Im alten Haus der Meisters übt auf den kleinen 250 Goethe: Den Vereinigten Staaten. In: HA I, 333 . 251 Sein Alter erhellt aus dem Gespräch mit dem Unbekannten: Beim Verkauf der Kunstsammlung des Großvaters war Wilhelm 10 Jahre alt, der Vorgang liegt nun 12 Jahre zurück (vgl. 68 f.). <?page no="63"?> 63 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren« Wilhelm die Antikensammlung großen Reiz aus, die der Großvater »in einer frühern glücklichen Zeit« (68) aus Italien mitgebracht hatte. Allerdings macht besonders das ob seiner minderen Qualität »im äußersten Vorsaale« (70) aufgehängte Bild des kranken Königssohnes einen »unauslöschlichen Eindruck« (ebd.) auf ihn. Denn den nachempfindenden Meister dauert der Königssohn, der sich in hoffnungsloser Liebe nach Stratonike verzehrt. Nach dem Tode des Großvaters, Wilhelm ist zehn Jahre alt, verkauft der Vater Sammlung und Haus, um Kapital für die geplanten Geschäfte mit Werners Vater aufzunehmen (vgl. 40 und 69). Im neuen Domizil ersetzt englische Pragmatik die alte »nicht symmetrisch[e]« (69) Architektur. Angelsächsische Zweckrationalität und Empirie hatten im 18. Jahrhundert Wirtschaftstheorie und Philosophie auf der Insel beflügelt und Britannien seinen Rang als moderne Industrienation gesichert. Noch die Wanderjahre loben die englische Meisterschaft, »das Entdeckte gleich zu nutzen, bis es wieder zu neuer Entdeckung und frischer Tat führt. Man frage nur, warum sie uns überall voraus sind« (HA 8, 305). Damit deuten schon die Lehrjahre auf einen Paradigmenwechsel: Die neue Zeit orientiert sich nicht an gewachsener Geschichte, sondern am ökonomischen Nutzen, und an Kunst interessiert nicht die Ästhetik, sondern der Warenwert. Anders sieht es Wilhelm. Ihm ist das alte Haus nach dem Auszug der Kunst so »leer« (HA 7, 69) wie das neue (vgl. 12). Neue Bilder müssen ihn nun unterhalten. Die Mutter schenkt ihm zu Weihnachten das Puppenspiel, und im Haus lösen biblische Stoffe die Antike ab. Für Meister ist alles »Rätsel« (18), was sich hinter dem »mystischen Vorhang« (12) des Theaters abspielt: Davids Aufstieg zum König am Hofe Sauls sowie sein Kampf mit Goliath werden gegeben, und alles scheint wie ein »Portal« (ebd.) in eine andere Welt. Die Realität ist banaler. Doch die Bildlichkeit der Kunst generiert Inhalt und Bedeutung, wo sonst nur Leere ist: Den andern Morgen war leider das magische Gerüste [des Puppenspiels, M. K.] wieder verschwunden, der mystische Schleier weggehoben, man ging durch jene Türe wieder frei aus einer Stube in die andere, und so viel Abenteuer hatten keine Spur zurückgelassen. [ … ] Ach, wer eine verlorne Liebe sucht, kann nicht unglücklicher sein, als ich mir damals schien« (17). Der Schwärmer erliegt der Täuschung der Kunst. So nimmt er von nun an »den größten Anteil« (13) an Dichtung. Über Barockkunst und auch, so ist anzunehmen (vgl. 30), modernere theatralische Produktionen wird die Entwicklung säkularer Kunst angedeutet. Die folgenden vier Jahre verbringt Meister nacheinander mit Oper, Trauerspielen und aller Art von Ritterromanen. Besonders Tassos Befreites Jerusalem hat es ihm angetan. Dass und in welchem Ausmaß er dabei ein zweiter Don Quijote wird, der Reales allein mithilfe literarischer Muster auslegt und missversteht, hat die Forschung ausführlich dargelegt. 252 Keine Rede kann allerdings davon sein, dass die Lehrjahre - wie selbst diese bilderkritischen Interpretationen trotz allem meinten - der »Roman einer Heilung« 253 oder gar der »Roman des Glücks« 254 seien, in dem Meister von seinen ästhetischen Phantastereien kuriert und am Ende vom Turm zu höherem Dasein erhoben werde. Bis zum Ende bleibt Wilhelm der Typus des ästhetischen Enthusiasten, der »die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit [belebt]«, und dem »jeder Schritt in die Zukunft [ … ] voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten« (87) ist. 255 Im Gewirr von derlei »Fata 252 Schings: Amazone (Anm. 63 ), 169 . 253 Ebd., 156 . 254 Ebd., 185 . 255 Vgl. dazu die weitere Deutung. Bisweilen will Meister auch durchaus Konkretes aus seinen ästhetischen <?page no="64"?> 64 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Morgana[s]« (207) und unwiderstehlichem ästhetischen »Selbstbetrug« (210) kommt der Tasso-Lektüre entscheidende Bedeutung zu. Durch sie prägen sich dem jungen Mann literarisch vermittelte Wahrnehmungsparadigmen ein - »Jugendeindrücke verlöschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen« (512) -, mit denen er das faktische Geschehen immer wieder deutet. Dass er aber dem Realen eine besondere Relevanz zuschreibt, bringt ebensowenig den Mythos wieder wie es überhaupt von einer rätselhaften Tiefenstruktur des Seienden berichtet. Alles scheinbar Enigmatische ist vielmehr völlig auflösbar und nur für Wilhelms erregte Einbildungskraft nicht zu ergründen. Die Moderne legt mythische Wahrnehmung ad acta und ersetzt sie durch vernünftige Welterklärung. 2.3.1 Tasso Solche Rationalität dementierend, »bemächtigt [ … ]« sich besonders die Tassosche Liebesgeschichte zwischen Tankred und Chlorinde der »Einbildungskraft« (HA 7, 26) Wilhelms. Die Gestalt der Amazone Chlorinde wird ihm, wie man festgestellt hat, zum ersten »Leitbild [ … ]« 256 , indem sie seine »vielbesprochene Amazonen-Sehnsucht« 257 begründet. Meisters Vorliebe für »Mannweiblichkeit« (26), die von den Lehrjahren mit Natalie, Therese, Mignon und schon ganz zu Anfang in Marianes Hosenrolle zitiert wird, leitet sich aus dem literarischen Vorbild her. Es fixiert Wilhelm erotisch. Denn die Tasso-Lektüre fällt in die Zeit der Pubertät und des aufkeimenden sexus . Während sich aber die jungen Schauspielerkollegen auf ganz reale »Liebesgeschichten« (31) einlassen, träumt Wilhelm nur literarische Zuneigung zu Chlorinde. Über dem Text verliert er die Realität aus den Augen. Auch später ist Androgynes, über dessen erotische Faszination sich Wilhelms Interesse an den ›mannweiblichen‹ Frauen herleitet, keineswegs ein geeignetes Interpretationsmuster für das Vorliegende. Nur Meisters überbordender Phantasie sind die Reminiszenzen geschuldet, und nicht ernsthaft denkt der Text an mythologische Sinnhaftigkeit: 258 Mariane spielt bloß eine erotisierende Hosenrolle, Mignon gewöhnte sich schon beim Klettern in Italien an die praktischeren Hosen, und die tätige Therese hatte sich nur deshalb »Mannskleider« machen lassen, um auf ihren Kontrollgängen über das Gut »leichter zu Pferde fortzukommen« (454). Das schlichte Argument lautet: In Zeiten der ökonomischen Vernunft ordnet sich Kleidung der Zweckmäßigkeit unter. Auch die vernünftige Natalie trägt beim Reiten einen »weite[n] Mannsüberrock« (227), den sie sich »gegen die Einflüsse der kühlen Abendluft von einem ihrer Gesellschafter geborgt« (ebd.) hat. Wilhelms Deutung ist hingegen bezeichnend: Unternehmungen werden lassen. So träumt er davon, Schöpfer eines deutschen Nationaltheaters zu werden, obwohl ihm schon für seine dilettantischen Theaterproduktionen bisweilen Text und Planung fehlen. Der Plan wird ebenso wenig verwirklicht wie eine Karriere als Dichter. Mit 14 Jahren schreibt Meister zwar sein erstes Gedicht, verwirft aber all seine Produktionen später als minderwertig. 256 Schings: Amazone (Anm. 63 ), 146 . 257 Ebd., 148 . 258 Die Forschung hingegen umso mehr. Per Øhrgaard (Die Genesung des Narcissus, Anm. 48 , 67 ) versteht Mignons Androgynie als Repräsentation von Wilhelms »bewahrter], aber verkrüppelte[r] Zweigeschlechtlichkeit«. Franziska Schößler hat in Mignons Androgynität aus gender-Perspektive eine Verunsicherung der kulturellen Geschlechterkonstituierung gesehen (»›Als ich ein Knabe war‹. Cross-dressing und Poetik in Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ und Woolfs ›Orlando‹«. In: Freiburger Frauenstudien 5 ( 1999 ), 61 - 74 . Remigius Bunia (»Die Natur der Androgynie. Grimmelshausen, Goethe und Meinecke im Raster von Natur und Kultur«. In: KulturPoetik 8 ( 2008 ), 153 - 169 ), erkennt in Mignons Androgynie ein zum Scheitern verurteiltes »engelsgleiche[s]« und »übersexuelle[s] Ideal«, das (wie in Platons Mythos von den Kugelmenschen) »über der Zuordnung zu Geschlechtern steht und sich damit in einem unschuldigen Urzustand befindet« ( 159 ). <?page no="65"?> 65 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Tasso Er sah das umhüllende Kleid von ihren Schultern fallen; ihr Gesicht, ihre Gestalt glänzend verschwinden. Alle seine Jugendträume knüpften sich an dieses Bild. Er glaubte nunmehr die edle, heldenmütige Chlorinde mit eignen Augen gesehen zu haben (235). Meister interpretiert die Realität mit den Mustern, die ihm seine an Kunstreize gewöhnte Einbildungskraft vorgibt. Dass er sich dabei gründlich täuscht, dämmert ihm später. Als er »das Bild der Amazone mit dem Bilde seiner neuen gegenwärtigen Freundin« Natalie vergleicht, stellt er fest, dass beide »nicht miteinander zusammenfließen« (516) wollen. Ganz in diesem Sinne gibt Natalie Wilhelm zu verstehen, dass Kunst mit Leben und Liebe nichts zu tun habe. Es sei »vielleicht nicht außer der Zeit«, ihm zu sagen, dass »alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, [ihr] immer nur als ein Märchen erschienen sei« (538). Aber »Jugendeindrücke verlöschen nicht« (512). Die Kunst lässt Wilhelm nicht los. Zur weiteren Prägung durch den Tankred-Komplex wird, dass Meister Tankreds vermeintlichen Schicksalsglauben übernimmt. Dem Ritter werde nach dem »traurigen Zweikampf« mit Chlorinde - er tötet darin seine Geliebte, die er nicht erkennt - verkündet, er sei »vom Schicksal bestimmt [ … ], das, was er liebt, überall unwissend zu verletzen« (27). 259 Auch Meister glaubt künftig, und noch in seinen unglücklich endenden Beziehungen mit Mariane und zu Mignon, ein tragischer Held zu sein, dessen Handeln das unentrinnbare Fatum anleite. Abgesehen einmal vom anachronistischen Schicksalsbegriff, den ihm der Unbekannte wenig später vorhalten wird (vgl. dazu weiter unten), muss freilich schon Meisters Tasso-Auslegung bedenklich stimmen. Im Befreiten Jerusalem gründet sich Tankreds angebliche Schicksalsverfallenheit auf bloßen Schein. In der von Wilhelm bedeuteten Episode »in dem bezauber ten Walde« (ebd.) fällt der trauernde Ritter auf die satanischen Täuschungskünste des Zauberers Ismeno herein: Die vermeintliche Chlorinde, die er mit seinem Schwert erneut zu treffen glaubt, ist in Wahrheit nur ein Baum. Wer also das Geschehen wie Wilhelm für bare Münze hält und aus ihm ein Verhängnis abzuleiten sucht, ist ein schlechter Exeget - umso mehr, als Meisters nachempfindende Phantasie sich nicht scheut, das Entscheidende kurzerhand selbst in die Werke hineinzudichten. Dass Tankred an der erwähnten Stelle von einer »Stimme« (ebd.) die Schicksalsformel verkündet werde, ist nichts als Meisters Erfindung. 260 Wilhelm, der den Text bis zum Exzess auf sich bezieht und in ihm den eigenen Lebensweg präfiguriert sieht, ist das Paradigma eines Dilettanten, der in der Kunst nur Effekte und Gemütserregung sucht. Insofern teilt er den Geschmack des zeitgenössischen Kunstpublikums, das der Abbe´ für seine sentimentale Verkitschung der Kunstwerke und seine unreflektierte Sucht nach »Neigungen, Meinungen und Grillen« (573) kritisiert hatte. Doch Wilhelm hatte ja auch selbst Dichter sein wollen. So trifft ihn zudem Goethes Stoßseufzer, der das Gedicht Den Vereinigten Staaten beschließt: Benutzt die Gegenwart mit Glück! Und wenn nun eure Kinder dichten, Bewahre sie ein gut Geschick Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten. 261 259 Meisters Schicksalsgläubigkeit präfiguriert den offenkundigen Wahn des Harfners, der sich ebenfalls vom Fatum verfolgt wähnt, an seiner fixen Idee aber - anders als Wilhelm - schließlich zugrunde geht. 260 Bei Tasso findet sich die Stelle nicht, vgl. Torquato Tasso: Das befreite Jerusalem, übers. v. J. D. Gries, Berlin 1855 , 86 ( 13 . Gesang, Strophe 41 - 43 ). 261 HA I, 333 . <?page no="66"?> 66 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Die Zeilen lassen sich als Warnung vor den abgehalfterten Formen einer literarisch verbildenden - und verbildeten - Phantasie lesen. Besser sei es, sich in Dichten und Leben nicht in die ästhetische Entrücktheit einer romantischen Zeitenferne entführen zu lassen, sondern das Hier und Jetzt sinnvoll zu nutzen. Auch Wilhelms ästhetische Tankred-Nachfolge 262 bezeugt in diesem Sinne nicht das Walten eines unentrinnbaren Schicksals, sondern allein die Wirkung einer erregten Einbildungskraft. Meister bildet sich nur ein, das Geschick des Ritters zu teilen. Zur Deutung des Geschehens taugt das imaginierte Vorbild schon aus diesem Grund nicht. Meisters Glaube an das Schicksal ist die mythologische Verbrämung für ein uneingestandenes Bewusstsein der eigenen Schuld. So weiß Wilhelm eigentlich, dass Mignons Herz nur aufgrund des wachsenden Desinteresses brach, das er ihr entgegenbrachte. Nachdem er Felix als Sohn akzeptiert und Therese als Braut gewonnen hatte, schien eine Familie konstituiert, in der für Mignon und ihre Vatersehnsucht kaum mehr Platz blieb. Anstatt dem Schutzbedürfnis des Kindes zu entsprechen - »›Das arme Kind‹, rief [Wilhelm] aus, ›suchte in traurigen Augenblicken Schutz und Zuflucht an meinem unsichern Busen [ … ]‹« (HA 7, 544 f.) -, hat Meister Mignon gegen ihren ausdrücklichen Willen fortgeschickt (vgl. 488 f.). So trauert er um das Kind, das er doch anfangs ins Herz geschlossen hatte und »das ich getötet habe« (545). Durch mehr beständige Fürsorge wäre es zu retten gewesen. Für Marianes Tod hingegen ist Meister nicht einmal verantwortlich zu machen. Dass er die Schauspielerin verließ, die er sich mit dem zufällig entdeckten Nebenbuhler Norberg nicht teilen wollte, ist begreiflich. Nur dann müsste er sich nun Vorwürfe machen, falls er die Geliebte zu Unrecht verstieß. Doch Marianes Treueschwüren, die ihm die alte Barbara postum überbringt (vgl. 472 ff.), ist ebenso wenig zu glauben wie Meisters angebliche Vaterschaft an Felix erwiesen ist. Denn der Schauspielerin, die schließlich auch Norberg verlor, musste es darum gehen, sich wenigstens noch Meisters finanzielle Unterstützung für sich und das Kind zu sichern und der völligen Verarmung vorzubeugen. 263 Auch Wilhelm weiß, dass es sich um »eine doch immer zweideutige Geschichte« (501) handelt. Die Vorwürfe, die Wilhelm sich nach dem Tod Marianes und Mignons macht (vgl. 472 ff. und 544 ff.), beruhen aber neben einer in Liebe und Leid leicht entzündlichen Empfindungsfähigkeit und der alten Rittergeschichte auch auf seiner Sehnsucht nach »dem Labsal des Jammers und der Tränen« (78). Sie hatte sich bei Wilhelm schon früh, nach der Trennung von Mariane, im Drang geäußert, sich nacherlebend »selbst zu quälen« (ebd.): [ … ] wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien, sah er rückwärts auf den schrecklichen Abgrund, labte sein Auge an der zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen. mit so wiederholter Grausamkeit zerriß er sich selbst, denn die Jugend, die so reich an eingehüllten Kräften ist, weiß nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden zugesellt, als wollte sie dem Verlornen dadurch noch erst den rechten Wert geben (ebd.). 262 Zu ihr gesellen sich noch die Reminiszenz an die Erminia-Episode und die Armida-Handlung. Erminia sucht Tankreds Wunden mit ihren Haaren zu schließen, ganz so wie Mignon auf der Waldlichtung Wilhelm zu Hilfe kommt (vgl. 225 ). Nach dem Muster der Zauberin Armida und ihres Verführungszaubers ist Wilhelms Eintritt ins Grafenschloss gebildet. Vgl. Schings: Amazone (Anm. 63 ), 159 - 169 . 263 Vgl. dazu ausführlich weiter unten. <?page no="67"?> 67 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende Nach diesem Muster verharrt Wilhelm auch beim Verlust Mignons und Marianes in Nachempfindungen des früheren, nun unwiederbringlich verwirkten Glückes. Er »überließ sich ganz seinem Schmerz« (483) und erinnert sich an einen »der schönsten Augenblicke [s]eines Lebens« (546), den er mit Mignon teilte. Man hat den jungen Mann wegen dieser Wollust des Schmerzes zum Melancholiker erklärt und bei ihm ein Erbe Tankreds, einen pathologischen Hang zur Selbstzerstörung diagnostiziert. 264 Das scheint bei nüchterner Betrachtung weit übertrieben. Zweifellos ist der junge Mann hypochondrisch empfindsam. Aber in seinen Stimmungen ist zuviel Unbeständigkeit und zuwenig Tiefgang, als dass man auf pathologische Disposition schließen müsste. Niemals leidet er lange an einem Verlust, und immer findet er danach zu alter unbedarfter Liebenswürdigkeit zurück. So genügt nach der Nachricht vom Tode Marianes schon, dass ihn Laertes »aus seinem Nachdenken [riß] und [ … ] ihn in ein Kaffeehaus [führte]« (484), damit er seine Leiden nahezu vergisst. Auch nach dem Tode Mignons bleibt durch das Hinzutreten von Abbe´, Lothario und Jarno »nicht lange Zeit, sich über diese traurige Begebenheit zu unterhalten« (546). Der Turm weiß um Wilhelms empfindsame Neigung und bringt ihn schnell davon ab. Verglichen mit den wirklichen Melancholikern in den Lehrjahren , dem Harfner und Aurelie, die von ihrer Schwermut keinen Moment lassen können und unrettbar an ihr zugrundegehen, ist das ein deutlicher Unterschied. 2.3.2 Das Gemälde vom kranken Königssohn, Natalie und das Romanende Neben die erste Urszene der Tasso-Reminiszenzen tritt aber im Folgenden eine zweite: das vielberufene Gemälde vom kranken Königssohn. Es setzt das Thema der Bilderkritik in ikonographischer Konkretion fort und wird ebenso wie die literarischen Szenen nicht ohne Folgen für Wilhelm bleiben. In der Chronologie des Romans ist das Gemälde der früheste ›Jugendeindruck‹, den Wilhelm empfängt. Fällt die Tasso-Lektüre in die Zeit der Pubertät, hat Wilhelm das Gemälde von klein auf vor Augen gehabt. Als er zehn Jahre alt ist, wird nach dem Tode des Großvaters die Kunstsammlung verkauft, zu der das Gemälde gehört (vgl. HA 7, 68), und Wilhelm erinnert sich noch gut daran, dass er als kleines Kind »im äußersten Vorsaale« (70), wo das Bild hing, »immer spielen durfte [ … ]« (ebd.). So hatte er die dargestellte Geschichte, in Kunst und Literatur ein beliebtes Motiv, 265 vor Augen: Syrerkönig Seleukos entsagt seiner zweiten Gemahlin Stratonike, weil sein Sohn Antiochus sich in Liebe nach ihr verzehrt. Das Gemälde zeigt den Moment, in welchem dem herbeigerufenen Arzt »ein Licht aufgeht« (606) und er Seleukos zur Heilung des Liebeskranken empfiehlt, Stratonike an Antiochus abzutreten. Dass das Gemälde, das viermal im Roman wiederkehrt (vgl. 70, 235, 513, 605), nicht ohne Funktion sei, hatte schon Schiller festgestellt. Als »ordentlich [ … ] mitspielende Person« 266 greife die Sammlung des Großvaters in ein Geschehen ein, das Wilhelm »von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes tätiges Leben« 267 führe. Auch die Kritik hat ihrer Erleichterung darüber Ausdruck verliehen, dass aus dem dilettierenden Kaufmannssohn unter Mithilfe der Kunst und der Turmgesellschaft doch noch etwas Brauchbares werde. Das Gemälde vom kranken Königssohn präfiguriere 264 Schings: Amazone (Anm. 63 ), 152 , 155 . Die These setzt fort: Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese, Symptomatik, Therapie, Tübingen 2002 , 168 - 199 . 265 Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart 1992 , s.v. Stratonike, 751 - 752 . 266 Brief an Goethe vom 28 . Juni 1796 . In: MA 8 . 1 , 184 . 267 Brief an Goethe vom 08 . Juli 1796 , ebd., 206 . <?page no="68"?> 68 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« dabei für Wilhelm die Erfüllung aller Wünsche. 268 Zweifellos liege eine Geschichte der »Heilung« 269 vor. Doch über die Übertragung der Ikonographie auf das Romangeschehen besteht Dissens. Der junge Meister missdeute zunächst das Bild, begreife aber alsbald, dass es die »Peripetie zum Glück einleite [ … ]« 270 , in deren Verlauf Wilhelm Natalie so erhalten werde wie ehemals Antiochus Stratonike. Doch figuriert Meister als Königssohn? Mit Blick auf das Romanende und auf Meisters Verzicht auf Therese hat man gemeint, viel eher habe der junge Mann die Rolle des Seleukos zu lernen. Entsagung - von Therese, von aller Schwärmerei - werde von ihm gefordert. 271 Wie auch immer: Von der »Selbstfindung mittels Kunst« 272 geläutert, stelle sich schließlich eine »innere [ … ] Reife« 273 bei der Aufnahme in die Sozietät ein. Skepsis ist angebracht. Das Gemälde ist das künstlerisch minderwertigste aus des Großvaters Sammlung. Es ist »nicht gut zusammengesetzt, von keiner sonderlichen Farbe und die Ausführung durchaus manieriert« (70), und darüber hinaus hing es »im äußersten Vorsaale, zum Zeichen, daß [Wilhelms Großvater] es wenig schätzte« (ebd.). Ebenso wie der Abbe´, der die Grundsätze objektiver Kunst vertreten hatte, lehnt der Großvater die Manier - die subjektivistische Reflexion und individuelle Darstellungsart - ab. Warum sollte dem nüchternen Turm also ausgerechnet dieses Bild zur ästhetischen Erziehung und Bildung seiner Mitglieder taugen? Der scheinbare »Mangel an Folgerichtigkeit« 274 macht darauf aufmerksam, dass die Lehrjahre dem Bild nicht halb so viel zutrauen wie manche Forschung. Deutlich wird es in die Kritik an abgeschmackten Jugendeindrücken einbezogen. Auf Wilhelm hat sein »Lieblingsbild« (70) einen »unauslöschlichen Eindruck« (ebd.) gemacht. Er »bedau[ert]« (ebd.) die unglückliche Stratonike, ihn »jammerte« und »jammert [ … ] noch« (ebd.) das Schicksal des liebeskranken Antiochus. Ihn reizt damit nicht die »Kunst«, sondern nur der »Gegenstand« (ebd.), den er nach wie vor zum Anlass für sehnsüchtige Schwärmereien und Nachempfindungen nimmt. Der Unbekannte - der Abbe´ - widerspricht. Mit Argumenten sucht er Wilhelm davor zu bewahren, Kunstwerke nur auf »sich selbst« und die eigene »Neigung« (ebd.) zu beziehen. Nicht auf den Gegenstand und die Wirkung, die er auf die »Gefühle« (70) des Betrachters mache, komme es an. Vielmehr zähle die »Kunst« (ebd.), die »Gestalt« (72), also die Formgebung. Sie führe zu »Betrachtungen«, welche »den Sinn für die Werke« (70) beförderten. Damit ist Wilhelm bedeutet: 268 Vgl. Christoph E. Schweitzer: »Wilhelm Meister und das Bild vom kranken Königssohn«. In: PMLA 72 ( 1957 ), 419 - 432 , hier 425 . 269 Volker Zumbrink: Metamorphosen des kranken Königssohns. Die Shakespeare-Rezeption in Goethes Romanen ›Wilhelm Meisters theatralische Sendung‹ und ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, Münster 1997 [= Diss. Münster 1995 ], hier 387 . Ebenso Schings: Amazone (Anm. 63 ), 185 . 270 Schings: Amazone (Anm. 63 ), 178 . Hellmuth Ammerlahn (Goethe und Wilhelm Meister (Anm. 66 ), 63 ff.) geht mit seiner These, mit dem alten König sei Shakespeare, mit der Braut Natalie und mit dem Prinzen der Hamlet spielende Wilhelm gemeint, über das Belegbare hinaus. 271 Vgl. Erika Nolan: »Wilhelm Meisters Lieblingsbild. Der kranke Königssohn: Quelle und Funktion«. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts ( 1979 ), 132 - 152 , hier 140 f. Hellmut Ammerlahn (»Die klassische Heilung des kranken Königssohns«. In: JbFDH ( 1978 ), 47 - 84 , hier 47 ) macht aus Wilhelm gar einen »klassischen Dichter«, obwohl der junge Meister seit seinem verunglückten Poem Der Jüngling am Scheidewege nur noch das nachempfundene Mignon-Lied zu Papier bringt. Meister ist in seiner Bevorzugung des Sentimentalischen weder klassisch noch überwindet er je den Dilettantismus oder wird Poet. 272 Trunz: Nachwort (Anm. 34 ), 721 . 273 Ebd., 705 . 274 Schweitzer: Wilhelm Meister (Anm. 268 ), 424 . <?page no="69"?> 69 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende Alle Kunst beschäftigt die Einbildungskraft. Aber erst durch Reflexion wird die Phantasie gezügelt und das Kunstwerk in seiner Erkenntnisfunktion wahrgenommen. So habe auch die Kunstsammlung des Großvaters zum größten Teil aus »trefflichen Sachen [bestanden], in denen man immer das Verdienst ihres Meisters bewunderte, sie mochten vorstellen, was sie wollten« (70). Wegen ihrer Form hat der Abbe´ die Kunstwerke bewundert, gegenüber der der Gegenstand kaum eine Rolle spielt. Damit wird auf Goethes objektive Kunst verwiesen, die die relative Nebensächlichkeit des Dargestellten expliziert: »Wo der Kunst der Gegenstand gleichgültig wird, sie rein absolut, der Gegenstand nur der Träger ist, dies ist die höchste Höhe.« 275 An Überlegungen Schillers konnte Goethe anknüpfen, dessen im Horen -Vorwort formuliertes Prinzip der Objektivität er bereits begrüßt hatte. Die Kallias -Briefe hatten wenig später die Objektivität als dichterische Nachahmung begriffen, bei der die »Form [ … ] den Stoff besiegt haben muß.« 276 Indem Kunst von der Zufälligkeit aller »Körper«, aller »Wirklichkeit« 277 abstrahiert, gibt sie den Blick auf die in solchem Ebenmaß erscheinende »Idee« erst recht und besser frei. Der »Unabhängigkeit der Darstellung« 278 vom Naturalistisch-Konkreten stimmte Goethe zu. In der Verfügung über den widerstrebenden Stoff zeige sich die Meisterschaft des Dichters. In Schillers Ästhetischer Erziehung heißt es: Darin besteht also das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet. [ … ] Der frivolste Gegenstand muß so behandelt werden, daß wir aufgelegt bleiben, unmittelbar vor demselben zu dem strengsten Ernste überzugehen. Der ernsteste Stoff muß so behandelt werden, daß wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiele zu vertauschen. 279 Kunst ist Formgebung. Das Frivole kann sie ernst, das Ernste heiter repräsentieren, und der Stoff wird in seiner Wirkung überhaupt durch die objektive Darstellung mit ihrer Zurückdrängung jeglicher Gemütserregung beherrscht. Das Gespräch über das Bild vom kranken Königssohn ist damit zugleich eine Lektüreanleitung für die Lehrjahre . So wie die Stücke der Kunstsammlung ›vertilgt‹ auch der Roman seinen Gegenstand durch die Form. Das Verfahren erlaubt es, noch »den allerelendsten Stoff [ … ], der sich nur denken lasse, herumziehendes Komödiantenvolk und armselige Landedelleute« 280 , typologisch-objektiv darzustellen. Demgegenüber wird anhand von schlechten Bildern oder von Gefühlsduselei die ganz »falsche Richtung« (HA 7, 550) einer bloßen Gemütserregungskunst exemplifiziert. Sie lässt die Weltwahrnehmung ihrer Konsumenten ins Ästhetisch-Irreale abgleiten. In diesem Sinne bedauert der Geistliche später, dass Wilhelm von Jugend auf »verbildet« (120) und ein hoffnungsloser Fall sei, denn »niemand glaube, die ersten Eindrücke der Jugend überwinden 275 Friedrich Wilhelm Riemer: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hg. v. Wolfgang Herwig, Stuttgart/ Zürich 1969 , 6 Bde., Bd. 2 , 1087 (Gespräch mit Sulpiz Boissere´e vom 15 . September 1815 ). 276 Schiller: Kallias (Anm. 196 ), 428 . 277 Ebd. 278 Ebd., 429 . 279 Schiller: Ästhetische Erziehung (Anm. 247 ), 639 f. Kursivierungen von Schiller. 280 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 81 und 51 . <?page no="70"?> 70 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« zu können« (121). Wilhelm habe sich mit krankem Königssohn und Puppenspiel an »etwas Abgeschmackte[s]« und »Albernes« (122) gewöhnt. Die Beherrschung seiner Leidenschaften und die Ausbildung nüchterner Reflexion habe er nicht erlernt. Sie gelten dem Turm aber als essentiell. Jarno erhebt sie zum Prinzip nicht nur der Kunst, sondern überhaupt jeder Praxis: Ruhig und vernünftig zu betrachten, ist zu keiner Zeit schädlich, und indem wir uns gewöhnen, über die Vorzüge anderer zu denken, stellen sich die unseren unvermerkt selbst an ihren Platz, und jede falsche Tätigkeit, wozu uns die Phantasie lockt, wird alsdann gern von uns aufgegeben (554). Die Diatribe gegen Phantasie und schlechte Kunst affiziert auch das Gemälde vom kranken Königssohn und seine Rolle im Text. Nur demjenigen stiftet der schöne Schein Sinn und Bedeutung, der über der Kunst die Realität aus dem Blick verloren hat. So könnte es sein, dass das Gemälde nicht von Heilung und Glück berichtet, sondern von der unkurierbaren Verirrung der Einbildungskraft - also von Wilhelm Meister, der partout an seine schicksalhafte Verkettung in Liebesleid und Sehnsuchtsschmerz glauben will. Aber nicht die wie auch immer auszulegende Relevanz des Bildes für das eigene Leben wäre zu begreifen gewesen, sondern nur, dass das Bild schlechterdings nichts bedeutet. Die Rezeption hat freilich gezeigt, dass die Verführungskraft des schönen Scheins groß ist. Nicht nur Wilhelm hat die Konstellation des Gemäldes zur Anwendung auf den Text verleitet. Dass das Bild sogar als Folie diente, wenn die Lehrjahre nicht einmal auf es verweisen, zeigt dabei, wie dankbar die Einbildungskraft auf eingeprägte Muster zurückgreift. Wie schon im Falle von Wilhelms Jugendeindrücken führt der Roman nun auch seinen Lesern vor, dass eine Textdeutung nach Maßgabe des schönen Scheins nichts taugt. Drei Möglichkeiten der Übertragung des Bildgeschehens auf den Text sind in dieser Hinsicht genannt worden. Sie zeigen wie das Gemälde eine Konstellation, in der sich eine Frau zwischen zwei Männern befindet: Mariane zwischen Wilhelm und Norberg, die schöne Gräfin zwischen Wilhelm und ihrem Ehemann sowie schließlich Therese zwischen Wilhelm und Lothario. Die Rolle des unglücklich liebenden Antiochus, der »die süßen Triebe, das schönste Erbteil, das uns die Natur gab, in sich verschließen und das Feuer, das ihn und andere erwärmen und beleben sollte, in seinem Busen verbergen muß« (70), kommt gemeinhin Wilhelm zu. Die drei Frauengestalten werden jeweils identifiziert mit der »Unglückliche[n], die sich einem andern widmen soll, wenn ihr Herz schon den würdigen Gegenstand eines wahren und reinen Verlangens gefunden hat« (ebd.). Die Übertragung auf den Text ist aber - sieht man davon ab, dass die Personen des Textes mit der Familienkonstellation des Bildes nicht übereinstimmen - vor allem deshalb bedenklich, weil Wilhelms eigene Bilddeutung inkonsistent ist. Er legt das Gemälde nach Maßgabe seiner wechselnden »Neigung« (70) aus. So ist für ihn im Gespräch mit dem Unbekannten das Mitleid mit dem Elend von Entsagung und unerfüllter Liebe bestimmend. Bei seiner späteren Begegnung mit Natalie hingegen, als er sich an das Gemälde zurückerinnert, scheint es ihm die Verheißung erotischer Erfüllung zu verkünden (vgl. 235). Deutlich kritisiert aber der Unbekannte eine Welt- und Kunstauslegung, die dem »eigenen Verstande entsag[t]« und den eigenen »Neigungen unbedingten Raum« (71) gibt. Sie führe zu einem Hinschlendern »ohne Überlegung« und zu einem »schwankenden Leben«, in dem man sich durch »angenehme Zufälle determinieren« (ebd.) lasse. Anstatt also seine Befindlichkeiten ins Bild hineinzulesen, hätte Wilhelm seinen Verstand mehr bemühen müssen. Dann hätte er begriffen, dass sentimentalisch nachempfundene Kunstreize nicht das Leben abbilden. Denn das Gemälde stellt gerade den Moment der <?page no="71"?> 71 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende glückhaften Fügung des Liebesgeschehens dar, der mit Wilhelms Herz-und-Schmerz-Deutung nichts zu tun hat und überdies auch die Mariane-Handlung konterkariert. Statt vom schönen Ausgang des antiken Stoffes berichten die Lehrjahre vom banalen Ende einer Beziehung in der Moderne: Wilhelm zieht sich von Mariane zurück, und sie verweigert sich Norberg, der sie sitzen lässt. Auch bei der flüchtigen Liebelei zwischen Wilhelm und der schönen Gräfin - bei der der Text ebenso wenig wie beim Mariane-Komplex explizit auf das Gemälde verweist - greift das Muster vom kranken Königssohn nicht. Antiochus-Wilhelm verweigert seine Rolle. Nirgends ist davon die Rede, dass er sich in Liebe nach der Adligen verzehrt. Nach dem Abschied von ihr (vgl. 202) geht er vielmehr zur Tagesordnung über, auf der die Reise zu Serlo sowie der Beginn der Hamlet -Proben stehen. Nur die Gräfin war »nicht vorsichtig genug, eine aufkeimende Neigung« (348) zu unterdrücken. Nun steigert sie sich hypochondrisch in den »Wahn« (349) hinein, dass sich an der Stelle, an der Wilhelm ihr beim Umarmen das »große mit Brillanten besetzte Porträt ihres Mannes gewaltsam wider die Brust« (348) gedrückt hatte, der »Druck« (349) eines »Krebsschaden[s]« (ebd.) bemerkbar mache. Anstatt zu einer glückhaften Fügung kommt es zur Psychosomatik eines schlechten Gewissens, das Stratonike nie haben musste. Dass aber der Text das Gemälde vom kranken Königssohn - so hat man gemeint - bei der Beziehung zwischen Wilhelm und Therese explizit berufe, ist ein Lesefehler. Von Wilhelm wird überraschend verlangt, seine Braut Therese an Lothario abzutreten. Als er sich gegen solch herzlose Heiratspolitik spontan auflehnt - »Ich dächte, man überließe die Liebhaberei, Heiraten zu stiften, Personen, die sich lieb haben« (554) -, bewege ihn Friedrich mit einer Reminiszenz an das Bild vom kranken Königssohn zum Einlenken (vgl. 606). Wilhelm solle mithilfe des wohlbekannten Bildes einsehen, dass er Therese aufgeben müsse. Statt des unglücklich liebenden Antiochus habe er nun die Rolle des entsagenden Seleukos zu spielen. 281 Doch der Text lässt keinen Zweifel daran, dass Wilhelm zu diesem Zeitpunkt längst auf Therese verzichtet hat. »Alle Ansprüche an Theresen« hat er dem Turm bereits »in die Hand« (562) gelegt. Damit ist er ebenso in den Genuss des »heitere[n] Gefühl[s]« gekommen, ein »Mißverhältnis loszuwerden« (ebd.), wie ihn Therese ihrerseits schon gedrängt hat, nach Italien zu gehen und die Trennung auch räumlich zu vollziehen (vgl. 594). Wo also Entscheidungen schon getroffen wurden, muss das Gemälde keine Überzeugungsarbeit leisten. Es enthält damit auch nicht die vermeintliche Lehre, derzufolge Wilhelm sich zum Entsagenden auszubilden hätte. Viel eher muss man es in Hinsicht auf Natalie lesen, deren Gewinn Wilhelm so in Aussicht gestellt wird, wie ehemals Antiochus Stratonike zu erringen hoffte. Doch insofern sich die Macht von schwärmerischen »Jugendeindrücken« an das Bild knüpft, ist bei der Auslegung Vorsicht geboten. Bilderkritisch ist zu bezweifeln, dass das Gemälde, wo nicht Entsagungsbotschaft, so doch die Lehre von Heilung und Glück für Meister bereithält. In Wirklichkeit wird am Gemälde demonstriert, wie der Turm zur Durchsetzung seiner Interessen die Bildersucht des jungen Mannes ausnutzt. Denn besser als durch Pflicht, Zwang oder Ratio lässt sich ein Schwärmer durch die Einbildungskraft leiten. Meisters Weltwahrnehmung ruht auf ästhetischen Mustern ebenso wie sie sie reproduziert, und es lässt sich sagen, dass nahezu das gesamte Bildmaterial des Romans aus dem Fundus seiner Vorstellungswelt entlehnt ist. Amazone, Königssohn, Saul oder Tankred bringen also ebenso wenig den Mythos wieder wie sie unlösbare Rätsel aufgeben. Sie sind nichts als die 281 So bei Schweitzer: Wilhelm Meister (Anm. 268 ), 432 . <?page no="72"?> 72 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« aus personaler Perspektive erzählten ästhetischen Wahrnehmungsmuster, durch die der Text demonstriert, wie die Weltsicht eines Träumers am Faktischen vorbeigeht. Die mögliche Beziehung des Gemäldes auf Natalie ist im Roman schon von langer Hand angelegt. Das Zentralkapitel der Lehrjahre (IV, 6), die vielberufene Szene auf der Waldlichtung, hatte berichtet, wie sich für Wilhelm neben der Geschichte von der schönen Amazone, auf die er durch Tassos Chlorinde von Jugend an geprägt worden war, vor allem das Gemälde vom kranken Königssohn mit Natalie verknüpft hatte: Alle seine [Wilhelms, M. K.] Jugendträume knüpften sich an dieses Bild. Er glaubte nunmehr die edle, heldenmütige Chlorinde mit eignen Augen gesehen zu haben. Ihm fiel der kranke Königssohn wieder ein, an dessen Lager die schöne, teilnehmende Prinzessin mit stiller Bescheidenheit herantritt (235). Die Kontamination der zwei essentiellen Kunsteindrücke wird in der Regel als Beweis für die doppelte Beglaubigung des folgenden Geschehens gelesen. Nun werde die Wende zum Guten eingeleitet, die sich für Wilhelm durch die vom Gemälde schon lange verheißene Verbindung mit Natalie am Ende zu ereignen scheint. Wirklich ist auch Wilhelm überzeugt, die Kunst habe ihm schon seit langem gezeigt, dass [ … ] uns in der Jugend wie im Schlafe die Bilder zukünftiger Schicksale umschweben und unserm unbefangenen Auge ahnungsvoll sichtbar werden [.] Sollten die Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht schon von der Hand des Schicksals ausgestreut, sollte nicht ein Vorgenuß der Früchte, die wir einst zu brechen hoffen, möglich sein? (ebd.) Doch was Wilhelm schon als Prophezeiung seines Glücks ansieht, führt ihn desto sicherer in die Irre. Eine nüchterne Betrachtung zeigt, dass er erneut ein Opfer des schönen Scheins wird und an eine wunderbare Fügung glaubt, die sich am Romangeschehen nicht ausweisen lässt. Besser aber als »wunderliche[n] Luftgemälde[n]« (207) zu glauben, hätte er die Bilder durchstreichen sollen. Dann hätte er bemerkt, dass auch Natalie, der Liebling einer Forschung, die sie - wie sonst nur Makarie aus den Wanderjahren - zur Personifikation reiner christlicher Tugend und höchster weiblicher Würde erhob, 282 plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheint. Die Szene auf der Waldlichtung entspricht nur in Teilen dem Gemälde vom kranken Königssohn. Wie über Antiochus beugt sich ein Arzt über Wilhelm, der bereits in Liebe zu Natalie-Stratonike - bzw. Natalie-Chlorinde - entbrannt ist und meint, »nie etwas Edleres noch Liebenswürdigeres gesehen zu haben« (227). Dass Natalie aber nicht wie Stratonike zwischen zwei Männern steht, spielt für die anscheinende Anagnorisis ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass Wilhelm nicht liebeskrank, sondern nach dem Überfall physisch verletzt ist. Alle seine erotischen Sehnsüchte projiziert Wilhelm künftig auf Natalie, zumal 282 Schon Daniel Jenisch (Ueber die hervorstechendsten Eigenschaften von Meisters Lehrjahren; oder über das, wodurch dieser Roman ein Werk von Göthen’s Hand ist, Berlin 1797 , 77 ) spricht Natalie die »drey Christentugenden« Glaube, Liebe, Hoffnung zu. Hans-Jürgen Schings (Natalie, Anm. 64 , 51 ) hält bei Natalie die »wohltätige [ … ] praktische [ … ] Weltreligion« einer spinozistischen »Caritas« für wahrscheinlicher. Trunz (Nachwort, Anm. 34 , 700 ) versteht Natalie als »Symbol der Lebenslehre«. Hellmuth Ammerlahn (Natalie und Goethes urbildliche Gestalt, Anm. 66 , 87 ) sieht in Natalie »das universelle biotische Schöpfungsprinzip, den nisus formativus, das Wesen der Bildung schlechthin«, verbildlicht. Monika Fick (Das Scheitern des Genius. Mignon und die Symbolik der Liebesgeschichten in Wilhelm Meisters Lehrjahren, Würzburg 1987 ) deutet Natalie als »irdische Heilige« ( 235 ). Demgegenüber hat Karl Schlechta (Goethes Wilhelm Meister, Anm. 86 , 56 f.) Natalies Kälte, Lieblosigkeit, emotionale Leere und Teilnahmslosigkeit betont. <?page no="73"?> 73 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende sie einen »Mannsüberrock« (227) trägt und damit wie Chlorinde dem Typus der androgynen Frau entspricht. Das Kleidungsstück aber, das Natalie in Wilhelms Augen zur »schöne[n] Amazone« (226) verklärt, ist nicht literarischer Sinnhaftigkeit, sondern nur der Witterung geschuldet. Natalie hatte es »gegen die Einflüsse der kühlen Abendluft von einem ihrer Gesellschafter geborgt« (227). Wilhelm stattet das faktisch Vorliegende mit Versatzstücken seiner Einbildungskraft aus, er »belebt [ … ] die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit« (87). So erhält alles den Anschein von Bedeutung, die realiter nicht vorliegt. Zu dieser Art phantastischer Konstruktion gehört auch der Lichtschein, den Wilhelm um Natalie herum wahrnimmt, als sie sich über ihn beugt und den Mantel über ihn breitet. Es kommt ihm vor, »als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht« (228). Eine Tasso-Reminiszenz verbindet sich für Wilhelm mit dem Ereignis: der Moment jener Traumvision aus dem Befreiten Jerusalem , der dem verzweifelten Tankred den »strahlenden Anblick der verklärten Geliebten und die Offenbarung ihrer Liebe gewährt.« 283 Sogar so wunderbar erscheint Wilhelm die Aureole, dass er Natalie ins Überirdische entrückt und sie für eine »Heilige« (228) hält. Doch in Wahrheit liegt ein physiologisches Phänomen vor, das Goethes Farbenlehre beschreibt. 284 Es hängt mit dem Verhalten der »Netzhaut gegen Hell und Dunkel« zusammen. So bewirken »schwarze und weiße Bilder, die zu gleicher Zeit ins Auge fallen, diejenigen Zustände nebeneinander [ … ], welche durch Licht und Finsternis in einer Folge hervorgebracht wurden.« 285 Als Beispiele nennt § 30: Die Gelehrten, welche auf den Cordilleras ihre Beobachtungen anstellten, sahen um den Schatten ihrer Köpfe, der auf Wolken fiel, einen hellen Schein. Dieser Fall gehört wohl hierher; denn indem sie das dunkle Bild des Schattens fixierten und sich zugleich von der Stelle bewegten, so schien ihnen das geforderte helle Bild um das dunkle zu schweben. Man betrachte ein schwarzes Rund auf einer hellgrauen Fläche, so wird man bald, wenn man die Richtung des Blicks im geringsten verändert, einen hellen Schein um das dunkle Rund schweben sehen. Auch mir ist ein Ähnliches begegnet. Indem ich nämlich auf dem Felde sitzend mit einem Manne sprach, der, in einiger Entfernung von mir stehend, einen grauen Himmel zum Hintergrund hatte, so erschien mir, nachdem ich ihn lange scharf und unverwandt angesehen, als ich den Blick ein wenig gewendet, sein Kopf von einem blendenden Schein umgeben. 286 Paragraph 31 führt aus, dass der Grund des hellen Scheins in der besonderen Rezeptivität zu suchen ist, mit der die Nervenzellen der Retina kontrastierende Lichtreize verarbeiten: Diese Erscheinungen hat man sich folgendermaßen zu erklären gesucht. Der Ort der Retina, auf welchen das Bild des dunklen Kreuzes [es geht um ein dunkles Fensterkreuz vor hellerem Hintergrund, vgl. § 20, M. K.] fiel, ist als ausgeruht und empfänglich anzusehen. Auf ihn wirkt die mäßig erhellte Fläche lebhafter als auf die übrigen Teile der Netzhaut, welche durch die Fensterscheiben das Licht empfingen und, nachdem sie durch einen so viel stärkeren Reiz in Tätigkeit gesetzt worden, die graue Fläche nur als dunkel gewahr werden (ebd., 335). Nimmt die Netzhaut einen dunkleren Gegenstand vor hellerem Hintergrund wahr, erscheint ihr an dieser Stelle die helle Fläche durch den Kontrast noch heller: Es entsteht ein 283 Schings: Amazone (Anm. 63 ), 194 . 284 Als Erste hat darauf Ilse Graham aufmerksam gemacht: »An Eye for the World. Stages of Realization in ›Wilhelm Meister‹«. In: Dies.: Goethe. Portrait of the Artist, Berlin/ New York 1977 , 182 - 226 , hier 199 f. 285 Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. In: HA 13 , 314 - 523 , hier 332 . 286 Ebd., 334 f. <?page no="74"?> 74 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Lichteindruck um den dunklen Gegenstand herum. Die Szene auf der Waldlichtung entspricht dem Muster. Vom Hintergrund der grauen Abenddämmerung - »Der Abend kam herbei, die Nacht drohte hereinzubrechen« (HA 7, 226) - heben sich für Wilhelm das Gesicht und die Gestalt Natalies, die sich über ihn beugt, dunkler ab. Das Lichtphänomen, das nun erzeugt wird, ist damit völlig richtig keine »Phantasmagorie eines Schwärmers« 287 , sondern ein empirisch nachweisbarer optischer Eindruck. Dass der Glanz aber »gültig« 288 sei und objektiv die Wahrheit des innen Geschauten, die Erfüllung aller Hoffnungen durch Natalie, verheiße, dass es sich um eine »Epiphanie« 289 , einen symbolischen Augenblick oder aber um eine pathologische Verwirrung 290 des verletzten Wilhelm handele, sind Konstrukte der Einbildungskraft. Der Text führt anhand eines physikalischen Lichtphänomens die Wirkung des ästhetischen Scheins vor. Ähnlich wie beim Katzengold der Wanderjahre wird demonstriert, wie ein - dort falscher, hier objektiver - Glanz als Projektionsfläche von Schönheit und tieferer Bedeutung dienstbar gemacht wird. Die genannten Lesarten besitzen, bilderkritisch verstanden, nicht mehr Plausibilität als Wilhelms Überzeugung, in die Welt Tankreds und des kranken Königssohns versetzt zu sein oder mit Natalie eine »Heilige« (HA 7, 228) vor sich zu haben. Doch unabweisbar schienen bei Natalie auch der Forschung zumeist die Tugenden christlicher caritas vorzuliegen. Schon aus ihrer Nothilfe auf der Waldlichtung spreche reine »menschenfreundliche [ … ] Teilnehmung« (227): Jedem Bedürftigen hätte Natalie ihre Unterstützung zukommen lassen. Gern hat man also an ihre »edle [ … ] Natur« (228) geglaubt, deren »Betragen gegen Notleidende und Hülfsbedürftige« (418), dem Bericht der Stiftsdame im sechsten Buch zufolge, immer schon »unnachahmlich« (ebd.) und der vollkommenen christlichen Nächstenliebe würdig gewesen sei. Doch in der Waldlichtungs-Szene macht der große Aufwand nachdenklich, mit dem die Hilfeleistung betrieben wird. Dass der mitreisende Arzt Wilhelm untersucht, dass der ausgekühlte Wilhelm Natalies wärmenden Überrock erhält, 291 ist dabei noch begreiflich. Aber Natalie sorgt zusätzlich dafür, dass Wilhelm und Philine von Arzt und einem der Husaren ihrer Reisegesellschaft zum Dorf zurückbegleitet werden und dass Wilhelm dort mehrere Tage beim Pfarrer einquartiert und gesundgepflegt wird. Sie bestreitet dafür sogar sämtliche Kosten - genannt werden: ein »Beutel mit zwanzig Louisdorn« (234) für Philine, ein »Douceur« für den Geistlichen sowie die »Kurkosten« (ebd.) für den Arzt - und lässt auch den Schauspielern »eine ansehnliche Summe« (237) zurück. Diese über das Normalmaß hinausgehende Fürsorge ist nicht auf Natalies allgemeine Menschenfreundlichkeit zurückzuführen. Sie besitzt einen durchaus konkreten Grund. Der Überfall auf die Schauspieler beruht auf einer Verwechslung in den unsicheren Zeiten des Krieges. Die Täter, ein »Freikorps« oder »Marodeurs«, jedenfalls eine »räuberische Bande« (239), hatten es eigentlich auf Natalies adelige Reisegesellschaft abgesehen, die »vor kurzem ihre Güter verlassen ha[tt]e, um den Kriegsbewegungen auszuweichen und sich bis zum Frieden in einer ruhigern Gegend aufzuhalten« (234). »Mit Recht« vermutete 287 Schings: Amazone (Anm. 63 ), 189 . 288 Ebd., 199 . Ebenso Graham: Eye (Anm. 284 ), 220 . 289 Staiger: Goethe (Anm. 39 ), 166 . 290 Schings: Amazone (Anm. 63 ), 197 291 In der Forschung hat man im Kleidungsstück stattdessen den Mantel der für Wilhelm zur Muse gewordenen Natalie gesehen oder sich an die Mantelteilung des Heiligen Martin erinnert gefühlt (vgl. Hee-Ju Kim: Der Schein des Seins. Zur Symbolik des Schleiers in Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, Tübingen 2005 , 98 , und Erich Trunz: »Anmerkungen«. In: HA 7 , 712 - 811 , hier 746 ). <?page no="75"?> 75 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende man bei der Gesellschaft »vieles Geld und Kostbarkeiten« (239) und hatte »genaue Nachricht« (ebd.) von ihrer Reiseroute. Der Zufall wollte es, dass »zum Glücke der vornehmen und reichen Karawane [ … ] die Geringen und Armen zuerst auf den Platz gekommen [waren] und [ … ] das Schicksal erduldet [hatten], das jenen zubereitet war« (ebd.). Dass das Glück der einen also mit dem Unglück der anderen erkauft ist, weiß auch Natalie: »Sehen Sie nur«, sagt sie zum Oheim, »wie man ihn zugerichtet hat! Und leidet er nicht um unsertwillen? « (227) ›Zu unserm Nutzen‹ - das bedeutet ›unsertwillen‹ 292 - ist Wilhelm und sind die Schauspieler Opfer des Überfalls geworden. Weil Natalie und der Oheim profitiert haben und ihre Schätze retteten, fühlen sie sich verpflichtet, den entstandenen Schaden wiedergutzumachen - durch eine immer noch geringe Ausgabe im Verhältnis zu dem, was sie hätten verlieren können. Doch Natalies Hilfsbereitschaft beruht auf mehr als nüchterner Kalkulation. Dafür spricht ihre zunehmende Erregung, in die sie auf der Waldlichtung alsbald gerät. Während der Oheim völlig ruhig und »trocken« (228) bleibt, erkundigt sich Natalie, zunächst »erstaunt« (226) über die sich ihr darbietende Szene, bei Philine genau »nach allen Umständen des Unfalls, besonders aber nach den Wunden des hingestreckten Jünglings« (227), woraufhin sie »unruhig hin und wider« (ebd.) geht. Durch den Bericht der Überfallenen ist ihr klar geworden, dass die Räuber eigentlich auf sie selbst gewartet hatten. »Und leidet er nicht um unsertwillen? « (ebd.), fragt sie also den Oheim und meint das nun im Sinne von ›an unserer statt‹ oder von ›jemanden ersetzen‹ 293 . Natalie erkennt also erschrocken, dass das Unglück ihrer Reisegesellschaft zugestoßen wäre, wenn sie ein wenig früher auf die Lichtung gelangt wäre. Führte man auch zur Sicherheit einen Arzt und einen »Trupp Husaren« (226) mit, so beweist vor allem der verwundete Wilhelm, von dessen Anblick Natalie sich nicht »losreißen« (ebd.) kann, wie groß die Gefahr war, der man entronnen ist. Dass die Schauspieler in die Falle gerieten, die anderen bestimmt war, heißt für Natalie nun aber auch, dass der erwartete Zug der Edelleute der Auslöser für den Angriff war. Die Formulierung »um unsertwillen« lässt sich also zuletzt im Sinne von ›wegen uns‹ lesen. 294 Ihre eigene Reisegesellschaft hat, wenn auch ungewollt, das Unglück für die Schauspieler heraufbeschworen. Natalies Unruhe ist das äußere Anzeichen für ein Bewusstsein ihrer Schuld. Anders als der Oheim macht sie sich Vorwürfe, Unschuldige und Wehrlose durch ihre Angelegenheiten ins Unglück gestürzt zu haben. Daraus erwächst ihr eine moralische Verantwortung, die sie durch die Übernahme aller Kosten und eine extensive Fürsorge wahrzunehmen sucht. Natalies »menschenfreundliche [ … ] Teilnehmung« (227) ist also keine reine, bedingungslose Nächstenliebe, sondern psychologisch - und das heißt: realistisch-objektiv - motiviert. Was in Wirklichkeit Erleichterung, Erschrecken und Schuldgefühle sind, erscheint Wilhelm nur deshalb als die Handlungsweise einer Heiligen, weil er die Umstände nicht kennt und daher auch Natalies »Worte« an den Oheim »nicht verstand« (ebd.). Geradezu unbegreiflich wunderbar muss ihm so die Hilfeleistung vorkommen, die ihm in einem Maße widerfährt, das er nicht zu träumen gewagt hätte. Als er die Hintergründe durch die Nachforschungen des Harfners später begreift, hat die erotisch-literarische Attraktion Natalies bereits so auf ihn gewirkt, dass er nicht etwa desillusioniert ist, sondern »glücklich [ … ], daß ein vorsichtiger Genius ihn zum Opfer bestimmt hatte, eine vollkommene Sterbliche zu retten« (239 f.). 292 Adelung: Wörterbuch (Anm. 152 ) s.v. dein ( 2 ), Bd. 1 , 1441 - 1442 , hier 1441 . 293 Deutsches Wörterbuch, hg. v. Jacob und Wilhelm Grimm (= fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1854 - 1960 ), München 1984 , 33 Bde., s.v. statt (II, D, 4 , e), Bd. 17 , 1003 . 294 Adelung: Wörterbuch (Anm. 152 ), s.v. dein ( 2 ), 1441 . <?page no="76"?> 76 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Nicht nur in diesem Punkt sieht er also am Charakter der jungen Frau vorbei. Auch dass Natalie aus Zuneigung zu ihm handelte oder ihm - wie Stratonike in der Traumvision ihrem Tankred - ihre Liebe offenbarte, erträumt sich Wilhelm nur. Zu verführerisch sind das Tasso-Vorbild und die Hoffnung des kranken Königssohns auf den »heilsame [ … ] Blick« (228) der Natalie-Stratonike, zu reizend auch Natalies »schöne [ … ] Gestalt« (ebd.), die sich abzeichnet, als sie den Überrock auszieht, um ihn über Wilhelm zu breiten. Aber dass Wilhelm, wie es das Gemälde verheißt, bei Natalie sein erotisches Glück fände, wird vom Romanschluss dementiert. Der Turm nutzt Wilhelms Bildergläubigkeit aus, und wo Wilhelm schon einen guten Ausgang und die Erfüllung aller Sehnsüchte zu erkennen meint, zeigen die Lehrjahre die schlechte Realität. Sie zeigt sich übrigens auch in der Struktur des Romanendes, die mit ihren vielen Unstimmigkeiten, plötzlichen Wendungen und nur mehr skizzenhaft zusammengezwungenen Handlungssträngen allen schönen Schein bewusst zerfallen lässt. Indem der Erzähler vorgibt, nichts ausführlicher »mitteilen« zu können, weil die »Begebenheiten« so »drängten« (603), entstehen Bruchstellen, an denen die vermeintlich guten Menschen des Turms als das gezeigt werden, was sie sind: Nüchtern kalkulierende Machtstrategen, die über den Tod des unheilbar wahnsinnigen Harfners mit »geistige[n] Getränke[n]« (605) und Gelagen hinweggehen und daneben in »bedeutende[n]« (603) Absprachen »das Schicksal spiel[en]« oder »Heiraten [ … ] stiften« (554). Insbesondere ihr ostentativer Vernunfternst und ihre Vorliebe für Geheimniskrämerei werden durch Friedrichs Lauschen - »Wie ungezogen« (609), meint der Abbe´ - in all ihren sehr banalen und persönlichen Motiven entlarvt. In Wirklichkeit verfolgt der Turm auch mit der vorgeblichen »Verbindung« (607) von Natalie und Wilhelm seine wesentlich ökonomischen Interessen, die besonders die letzten beiden Bücher des Romans nachhaltig grundieren. Die komplexen Zusammenhänge mögen wegen des Kunstgriffs der Aussparungen und Andeutungen nicht alle aufzuklären sein. Ähnlich wenig wie Wilhelm scheint der Leser nur allzu oft vom Geschehen und seinen Gründen zu begreifen. Dennoch kann man einiges Licht ins Dunkel bringen, indem man Bruchstellen hinterfragt und den schönen Schein nicht für bare Münze nimmt. Der Ausgangspunkt der Turminteressen ist die Forderung, Wilhelm möge zugunsten Lotharios auf Therese verzichten. Schon dieses Ansinnen beruht nicht auf sentimentalen, sondern auf wirtschaftlichen Erwägungen, die sich, obwohl sie durch den Mund verschiedener Personen erzählt werden und in mehrere Bruchstücke zerschnitten sind, wie folgt rekonstruieren lassen. Lothario ist die große Jugendliebe Thereses. Doch bald wird das Gefühl durch Übereinstimmung in praktischen Fragen wie der Aufgaben der Frauen, der Prinzipien ehelichen Zusammenlebens oder der »Landesökonomie« und der »Finanzen« (455) verdrängt. Mehr als an erotischer Attraktion ist Therese an ihrer administrativen Kompetenz gelegen, durch die sie Lotharios Wertschätzung erwirbt. Das Turmoberhaupt, das sich zunächst mehr für Lydie interessiert, bemerkt Thereses Begabung für alles Praktische und überrascht sie mit einem »unvermuteten Antrag« (ebd.). Schon naht der Tag der »Verbindung« (457), als Lothario mit einem Mal allen Kontakt zu Therese abbricht. Er unterhielt wenige Jahre zuvor eine Beziehung zu Thereses Stiefmutter, die unter dem »romantische[n] Name[n]« (458) Frau von Saint Alban reiste und durch erotische Abenteuer ihre emotionale Leere auszufüllen suchte. Der »Jugendfehler«, durch den Lothario mit Therese »verwandt« (532) sei, verhindert die Heirat. Doch bald klärt sich auf, dass Thereses Stiefmutter zwar mit Thereses Vater verheiratet, aber nicht die leibliche Mutter Thereses ist (vgl. 560 f.). Da nun nichts weiter dagegen spricht, sich mit Therese zu verheiraten, nimmt Lothario den alten Plan wieder auf. Da muss er feststellen, dass sich ihm ein <?page no="77"?> 77 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende neues Hindernis in den Weg stellt: Therese hat sich inzwischen Wilhelm versprochen. Also schickt Lothario Jarno zu Wilhelm, um ihn zu bitten, »das edle Mädchen zu einer Verbindung mit Lothario vorzubereiten« (534). Dem gesamten Turm, auch dem Abbe´ (vgl. 595), ist deshalb am Gelingen des Heiratsplans gelegen, weil Lothario durch seine Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - dem »amerikanischen Feldzug« (456) - erhebliche »Schulden [ … ] auf seine Güter geladen« (ebd.) hat. Rettung vor dem drohenden Bankrott hängt nun von guter Verwaltung und umsichtigem Geschäftsgebaren ab. Beide Eheleute müssen sich drauf verstehen. Im Gegensatz zum Großoheim, der Lothario durch eine Verheiratung mit einer »reiche[n] Frau« (ebd.) finanziell sanieren möchte, ist dieser daher der Auffassung, dass »einem wohldenkenden Manne nur mit einer haushältischen gedient sei« (ebd.). ›Haushältisch‹, also im Wortsinn ökonomisch, hat Lotharios Ehefrau zu sein, und geradezu prototypisch entspricht Therese dem Profil. Die Verbindung zwischen ihr und Lothario wird also zum beiderseitigen Nutzen zweier rationaler Ökonomen geschlossen: Therese soll Lotharios Güter in Ordnung halten und erhält dafür ein weit besseres Auskommen als bisher. 295 Wilhelm freilich durchschaut solche wirtschaftliche Logik nicht. Er vermutet eine affaire du cœur , glaubt gar, im Unterschied zum Anführer des Turms Thereses »Neigung [ … ] nie besessen« (562) zu haben und ist verletzt. Dass er am Ende aber doch versöhnt ist und auf Therese verzichtet, ist der psychologisch geschickten Heiratspolitik des Turms zu verdanken. Für ihre ökonomischen Zwecke nutzt sie zunächst Meisters Hochachtung für Lothario. Meister hat sich seit der ersten Begegnung im siebten Buch völlig Lothario verschrieben. So sehr steht er unter dem Einfluss des charismatischen Turmoberhaupts, dass er völlig vergisst, Aurelies Klage über Lotharios Untreue vorzutragen. Stattdessen wird er »gewahr, daß Lotharios Gegenwart ihn zu ganz anderen Gefühlen stimmte« (425): »Freundschaft« und »Liebe« (607) meint er zu spüren und erwidert sie. Seine »Neigung« (439) für den »Freund« (ebd.) ist so lebhaft, dass sie Wilhelm sogar seine »Überzeugung für ihn verleugnen«, die »liebste Leidenschaft« und »besten Wünsche« (ebd.) für ihn aufopfern lässt - »um seinetwillen« (535). So beteiligt er sich nicht nur willig am Plan zur Entfernung Lydies, deren »unbequeme Liebe und Leidenschaft« (438) Lothario lästig werden. Auch als von ihm selbst gefordert wird, zugunsten Lotharios auf Therese zu verzichten, tut er Verzicht. Da er nichts so sehr fürchtet, als dass Lothario ihm seine Zuneigung »entziehen« (607) könnte, bekennt er, Lothario könne »jede Art von Entsagung von mir fordern, ich lege [ihm] hiermit alle meine Ansprüche an Theresen in die Hand [ … ]« (562). Aber dennoch droht Verstimmung. Wilhelm ist »durch die heftigsten Leidenschaften bewegt und zerrüttet« (605) und will schon »ohne Trost in die weite Welt hinausgehen« (607). Damit steht seine Verbindung zum Turm auf dem Spiel. Nicht aus freundschaftlicher Verbundenheit, sondern aus ökonomischen Erwägungen sucht die Sozietät nun den Bruch zu verhindern. Die Schulden zwingen Lothario dazu, sich nach Möglichkeiten der Refinanzierung umzusehen. In der Familie findet er keinen Rückhalt. Der reiche und religiös erwachte Graf, sein Schwager, entzieht »den größten Teil seines Vermögens, da er keine Kinder hat, seinen Verwandten« (348) und vermacht ihn den Herrenhutern. Und Lotharios wohlhabender Großoheim steht der amerikanischen Unternehmung skeptisch gegenüber und hat sich mit seinem Großneffen »einigermaßen darüber entzweit« (456). Erst nach dem 295 Vgl. dazu und zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Familienbegriff das Kapitel 2 . 6 des Goethe-Teils dieser Arbeit. <?page no="78"?> 78 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Tode des Alten (vgl. 492) kann Lothario aus der Erbmasse wieder über »Geld und Kredit« (ebd.) verfügen. In Immobilien will er das Geld anlegen und »wichtige Güter« (ebd.) in der Nachbarschaft kaufen. Doch auch ein »auswärtiges Handelshaus« (ebd.) tritt als Interessent auf: Es gehört Wilhelm und Werner, Wilhelms Jugendfreund, der das Unternehmen, in das er das Vermögen der beiden Väter überführte, verantwortlich leitet. Nachdem der Kauf zum beiderseitigen Nutzen zustande gekommen ist (vgl. 506 f.), kann der Turm nicht mehr riskieren, den zum Geschäftspartner gewordenen Wilhelm durch den Verzicht auf Therese zu brüskieren. Zwar begreift Wilhelm nicht allzu viel von Ökonomischem und wendet nur »wenig Aufmerksamkeit [ … ] auf das wichtige Geschäft [ … ], woran gewissermaßen das Schicksal seines ganzen Vermögens hing« (506). Aber bräche er mit dem Turm oder zöge er als verletzter Liebhaber sein Geld ab, wären auch Lotharios Finanzierungspläne gescheitert. Also bindet ihn der Turm auf andere Art an sich: Natalie wird ihm versprochen. Längst hat Wilhelm sein Herz an Lotharios Schwester verloren, die ihm seine Einbildungskraft schon auf der Waldlichtung zugleich als schöne Amazone und Stratonike vorgestellt hatte. Nun, am Romanende, profitiert der Turm ein letztes Mal von der Wirkung, die - wie der Abbe´ weiß - das Gemälde vom kranken Königssohn seit den Kindertagen auf Meister ausübte. Friedrich rückt den »Kasus« (605) von Wilhelm und Natalie in Parallele zu Antiochus und Stratonike aus der »ägyptischen oder babylonischen Geschichte« (ebd.), bevor er explizit das Geschehen referiert, das auf dem Gemälde abgebildet ist: ›Wie heißt der König? ‹ rief er aus und hielt einen Augenblick inne. ›Wenn Ihr mir nicht einhelfen wollt,‹ [ … ] ›so werde ich mir selbst zu helfen wissen.‹ Er riß die Türflügel auf und wies nach dem großen Bilde im Vorsaal. ›Wie heißt der Ziegenbart mit der Krone dort, der sich am Fuße des Bettes um seinen kranken Sohn abhärmt? Wie heißt die Schöne, die hereintritt und in ihren sittsamen Schelmenaugen Gift und Gegengift zugleich führt? Wie heißt der Pfuscher von Arzt, [ … ] der das erste Mal in seinem Leben Gelegenheit findet, ein vernünftiges Rezept zu verordnen, eine Arznei zu reichen, die aus dem Grunde kuriert, und die ebenso wohlschmeckend als heilsam ist? ‹ (606) Dass sich Stratonike mit Antiochus verbindet und ihn aus seinen emotionalen Leiden erlöst, lässt analog auch Natalie als Wilhelms erotische Wunscherfüllung erscheinen. Auch Wilhelm gesunde durch Natalies Liebe, befinde sich zu guter Letzt am Ende seiner Träume und habe ein »Glück erlangt [ … ], das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte« (610). Doch wiederum zeigt sich, dass in der nüchternen Romanhandlung keine Entsprechung findet, was Wilhelm nach Maßgabe des Gemäldes als glückhafte Wendung oder gar als die Vollendung seines Bildungsprozesses ansieht. Stattdessen wird Wilhelms Optimismus durch Misstöne relativiert. So will schon im Moment, der doch Wilhelms höchste Glückseligkeit im Bild des Königssohns andeuten soll, keine rechte Freude aufkommen. Weder Jubelfeier noch Glückwünsche erhält Wilhelm von der doch sonst an allerlei Rituale gewöhnten Gesellschaft. Vielmehr werden die Anwesenden durch Friedrichs Bildauslegung in »Verlegenheit« (606) versetzt, die sie »hinter einem gezwungenen Lächeln« (ebd.) zu verbergen suchen, danach ist man »still« (ebd.), und noch als Lothario Wilhelm wenig später Natalie zuführt, heißt es: »[A]lles schwieg« (609). Konsternation und nur mühsam gewahrte Contenance passen freilich ebenso schlecht zu Wilhelms vorgeblich höchstem Moment wie auch die Tatsache, dass weder an ein Zusammenleben der beiden Brautleute in spe noch an den Erwerb oder die Verwaltung von Besitz gedacht ist. Völlig zu Recht bemerkt Wilhelm »eine Verabredung, ihn baldmöglichst loszuwerden, und was das Schlimmste war, man ließ sie so offenbar, so ganz ohne Schonung sehen« (567). Wilhelm soll <?page no="79"?> 79 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende mit Felix unverzüglich nach Italien abreisen. Friedrich gibt ihnen zu verstehen: »In zwei Tagen könnt ihr reisefertig sein« (609), und auch Therese ermutigt Wilhelm, dem »schönen Land« entgegenzueilen, »das Ihre Einbildungskraft und Ihr Herz mehr als einmal an sich gezogen hat« (594). Meisters Platz sieht man in Italien, nicht in Amerika oder an der Seite Natalies in der expandierenden Sozietät: 296 Der Träumer, der offen bekennt, »keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln« (563) zu haben, genügt den Anforderungen moderner Ökonomie nicht. Kaum kann es die Sozietät daher erwarten, ihn endlich loszuwerden. Die Wanderjahre erzählen in diesem Sinne das Ende der vermeintlichen Liebesgeschichte. Natalie und Wilhelm sehen sich nie wieder, kommunizieren nur anfangs noch durch - wenige - Briefe, und schließlich wandert Natalie mit der Gesellschaft ohne Wilhelm nach Amerika aus. Nur Wilhelm, der weiterhin an Liebe, Glück und die Präfiguration seines Schicksals im Gemälde glaubt, missdeutet daher die Konsternation der Turmgesellschaft. Er führt sie auf Friedrichs Bildauslegung zurück, die einer »Indiskretion« (607) gleichkomme: Er und Friedrich gehen »viel miteinander um [ … ]«, und nun fürchtet er, dass »die Gesellschaft glauben« werde, er habe [Friedrich] eine so unvorsichtige und unglückliche Konfidenz gemacht« (600), also durch das Geständnis seiner Liebe zu Natalie das »Gastrecht [ … ] verletzt« (607). In Wirklichkeit rührt aber die Peinlichkeit weder von missbrauchter Gastfreundschaft noch von offenbarten Privatgefühlen her. Sie stammt vielmehr vom Kontrast zwischen dem Glücksversprechen des Gemäldes und dem abgekarteten Spiel des Turms, das Friedrich e contrario aufdeckt: Es sieht vor, dass Wilhelm nie mit Natalie leben oder gar die Ehe vollziehen wird. Einen Moment lang weiß sich die Sozietät ertappt, die lieber im Verborgenen handelt. Allen voran ist Natalie verlegen: »Eine leichte Röte überzog [ihre] Wangen«, und daraufhin begibt sich die junge Frau nicht etwa in die Arme ihres Bräutigams, sondern »auf ihr Zimmer« (606). Zur Beschämung hat sie allen Grund. Sie ist der Hauptpreis im Spiel des Turms, das mit Wilhelm eine komplizierte double-bind -Strategie verfolgt. Ein erster Plan zur gleichzeitigen Bindung und Entfernung Wilhelms hatte sich durch den Selbstmord des Harfners zerschlagen: Wilhelm hatte den Melancholiker, den man schon für gesundet hielt, im Auftrag des Turms nach Italien begleiten sollen, um ihn dort »den Seinigen wieder zu[zu]führen« (597). Wohl in ihrem »sehr bedeutende[n] Gespräch« (603) disponieren Lothario und Jarno daher um und erwägen, wovon bislang noch nie die Rede gewesen war: Die Aussicht auf eine Heirat mit Natalie soll Wilhelm, den man weiterhin entfernen möchte, dennoch an den Turm binden. Zwar habe man »keinen Schritt zu dieser Verbindung« (607 f.) getan. Nun aber habe die »Natur gewirkt« (608), und so will der Turm der Heirat nicht im Wege stehen. Doch der Sinneswandel kommt ebenso plötzlich wie Natalies Neigung zu Wilhelm, über dessen weltfremde Art sie sich zuvor noch zumindest gewundert hatte (518 f.). Dass sie sich für ihn entscheidet, wird wie folgt begründet: Sie habe gelobt, heißt es, ihm »ihre Liebe zu bekennen« (609), falls Felix, den man vergiftet glaubt, am Trank des ehemaligen Harfners gestorben wäre, und »jetzt, da das Kind lebt, warum soll sie ihre Gesinnung verändern? « (ebd.) Doch der Entschluss weckt Zweifel. Schon die Stiftsdame notierte, ihre Nichte Natalie habe von Jugend an »keine Art von Liebe [ … ], kein Bedürfnis einer Anhänglichkeit an ein sichtbares oder unsichtbares Wesen« (419) merken lassen. Und deutlich sagt auch Friedrich: »Überhaupt, Schwester, wenn von Liebe die Rede ist, solltest du dich gar nicht drein mi- 296 Nicht an Goethes feiner Zurückhaltung scheiterte die Schilderung der Heirat. Die Lehrjahre sind im Gegenteil voll von Erotik und beschreiben sogar Ehebruch und Inzest. <?page no="80"?> 80 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« schen« (565). Bei Natalie wird die Fähigkeit zur emotionalen Hingabe in Abrede gestellt. Wem wie ihr die Liebe für nichts als ein »Märchen« (538) gilt, kann auch die Verbindung mit Wilhelm schwerlich eine Herzensangelegenheit sein. Warum Natalie den Bund eingeht und sich auf das Spiel des Turms einlässt, wird vom Roman komplex und psychologisch begründet. Auf einer ersten Ebene hat Natalie die Verbindung Therese zu verdanken. Therese hatte sich schon früh gewünscht, mit der Freundin selbst für den Fall »zusammen sein und zusammen bleiben« zu können, dass Lothario heirate. Nun, da sie selbst seine »würdige Gattin« (532) werden soll, erneuert sie ihre Forderung: Wilhelms »Verbindung« mit Natalie sei die »geheime Bedingung« (607), unter der sie Lothario nehme. Eine Doppelhochzeit soll äußeres Zeichen der Verbundenheit werden. Und schließlich: Eine »Entschädigung« (ebd.) habe Wilhelm wohl verdient, nachdem ihm der Turm den Verzicht auf Therese nahelegte. Natalie wird dabei nicht gefragt. Der Turm betreibt eine kalkulierte Heiratspolitik, die auf Gefühle keine Rücksicht nimmt. Dass Natalie Wilhelm nicht kurzerhand einen Korb gibt, liegt daran, dass sie sich den Erwartungen beugt. Dazu ist sie - zweitens - durch ihre außergewöhnliche Hilfsbereitschaft disponiert. Ihre »angenehmste Empfindung war und ist es noch, wenn sich mir ein Mangel, ein Bedürfnis in der Welt darstellte, sogleich im Geiste einen Ersatz, ein Mittel, eine Hülfe aufzufinden« (526), berichtet sie Wilhelm. Dass sie aber dieser Praxis zufolge selbst einmal ein Behelfsmittel sein könnte, hatte Friedrich seiner Schwester vorausgesagt: Ich glaube, du heiratest nicht eher, als bis einmal irgendwo eine Braut fehlt, und du gibst dich alsdann nach deiner gewohnten Gutherzigkeit auch als Supplement irgendeiner Existenz hin (565). Natalie als Lückenbüßerin, als Ehefrau aus Hilfsbereitschaft und als ›Ergänzung‹ angesichts von Wilhelms Nöten? Fest steht jedenfalls, dass Natalie Wilhelms Leid ans Herz geht, in »der Nacht, da das Kind [Felix, M. K.] krank schien und halb auf [Natalies] Schoße ruhte, als [Wilhelm] trostlos vor ihr saß [ … ] und die geliebte Bürde mit ihr teilte [ … ]« (609). Das in diesem Moment abgelegte Ehegelübde wird also nicht aus Liebe, sondern viel eher aus Mitgefühl motiviert gewesen sein. Dass Natalie aber an ihrem Gelübde selbst dann festhält, als Felix gesundet, liegt daran, dass sie nicht eigentlich Wilhelm, sondern ihrem Bruder zu Hilfe kommen will. Nicht für Meisters Existenz, sondern für Lotharios Interessen opfert sie sich, denn immer noch ›fehlt eine Braut‹, und immer noch drohen daher Lotharios Ehepläne zu scheitern. Doch zu einem solchen Schritt bereit zu sein, bedarf es mehr als bloßer Hilfsbereitschaft. Die Lehrjahre skizzieren bei Natalie also dementsprechend - und drittens - eine psychologische Disposition, die Natalies Charakter und Handeln plausibel erklärt. Der Roman deutet in der Turmfamilie das Motiv der Geschwisterliebe an, das wenig später in der Sperata-Geschichte ausführlich und in aller Deutlichkeit entwickelt wird. 297 Natalie ist ganz auf Lothario fixiert. 298 Was Therese bereits weiß - den »trefflichen Mann« habe »die Natur [ … ] Dir so nah gewollt [ … ]! « (532) -, eröffnet Natalie Wilhelm im Gespräch: 297 Goethe sprach von »wiederholte[n] sittlichen Spiegelungen« (HA 12 , 323 ). Vgl. auch die Wanderjahre: In der Novelle Der Mann von fünfzig Jahren herrschen ähnliche Verhältnisse. Es heißt: »Die Baronin hatte ihren Bruder von Jugend auf dergestalt geliebt, daß sie ihn allen Männern vorzog« (HA 8 , 180 ). 298 Ähnlich bereits Schlechta (Goethes Wilhelm Meister, Anm. 86 , 56 ): »Gefühle der Freude oder des Schmerzes hat sie [Natalie] nur für, ja nur durch ihren Bruder Lothario.« <?page no="81"?> 81 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende Mein Dasein ist mit dem Dasein meines Bruders so innig verbunden und verwurzelt, daß er keine Schmerzen fühlen kann, die ich nicht empfinde, keine Freude, die nicht auch mein Glück macht. Ja, ich kann wohl sagen, daß ich allein durch ihn empfunden habe, daß das Herz gerührt und erhoben, daß auf der Welt Freude, Liebe und ein Gefühl sein kann, das über alles Bedürfnis hinaus befriedigt (538). Nur durch Lothario ist Natalies »Herz gerührt und erhoben« worden, nur durch ihn hat sie »Liebe« empfunden, und so berichten noch die Wanderjahre , dass die junge Frau »ihren Bruder nicht von sich lassen wollte« (HA 8, 436). Diese besondere Art der Bindung ist durch die Struktur der Turmfamilie bedingt. Am Ende des sechsten Buchs wird berichtet, dass die vier Geschwister Lothario, Natalie, Gräfin und Friedrich früh zu Waisen werden: Noch vor Friedrichs Geburt stirbt der Vater bei einem Reitunfall, und die Mutter folgt ihm aus Gram nach der Niederkunft (vgl. 416). In der Generation der Onkel und Tanten gibt es keinen Ersatz. Eine ledige Schwester der Mutter stirbt, noch bevor Lothario zur Welt kommt (vgl. 412), und die schöne Seele wird von der Erziehung der Kinder ferngehalten (vgl. 420). Da auch der Großvater - der Vater der schönen Seele - noch vor der Geburt Natalies gestorben ist (vgl. 413), bleibt von der Familie nur der Oheim, eigentlich: Stiefgroßonkel, übrig. Doch anstatt familiäre Geborgenheit zu garantieren, lässt er die Kinder »an verschiedenen Orten« (419) erziehen und »bald hier, bald da in [ … ] Kost« (ebd.) geben. Also konzentriert sich Natalie ganz auf ihren älteren Bruder, der ihr am verlässlichsten jene Fürsorge, Vertrautheit und Sicherheit bieten kann, die ihr ansonsten nicht zuteil wurden. Dass sie das Schicksal der Elternlosigkeit durch eine Bindung an den Bruder zu bewältigen sucht, motiviert ihr Handeln und Denken realistisch und damit ganz ohne die Aura von Heiligkeit, die Natalie, Friedrichs Unkenrufen zum Trotz (vgl. 565), gemeinhin zugeschrieben wird. Denn da Natalie nur auf den Bruder fixiert ist und ihn grenzenlos bewundert - sie sehe nicht, wie er »hätte schöner ausgebildet werden können« (521) -, hat sie sonst und zur Verwunderung ihrer Umwelt »keine Art von Liebe« oder »Anhänglichkeit« (419) ausgebildet. Die Entwicklung des eros wurde bei der jungen Frau behindert. Ihre Deformation fasst sie gegenüber Wilhelm in Worte. Das »Gefühl, das über alles Bedürfnis hinaus befriedigt«, meint die Bruderliebe, und »über alles Bedürfnis hinaus« ist sie, weil der Inzest bei den Turmgeschwistern - im Unterschied zu Sperata und Augustin, die Mignon zeugen - nicht vollzogen wird. Dass die Zuneigung aber »über« alles Bedürfnis hinaushebt, bedeutet auch: Jede Erotik hat Natalie umwillen ihres Bruders unterdrückt. Wilhelm begreift davon nichts. So entgeht ihm auch, was Natalies Antwort auf seine Frage »Sie haben nicht geliebt? « bedeutet. »Nie oder immer« (538) - die Worte haben an bedingungslose caritas und überirdische Wohltätigkeit einer schönen Seele denken lassen. Doch Natalie deutet nur an, sie habe »nie« physisch geliebt, »immer« aber den Bruder. Ihre Liebe macht Natalie zur Sachwalterin von Lotharios Interessen. Als die Heiratspläne des Bruders gefährdet sind, sucht sie, Wilhelm und Therese zum beiderseitigen Verzicht zu bewegen. Sie, die Therese doch anfangs zur Verbindung mit Wilhelm riet (vgl. 530), findet es nun »grausam, [Lothario] ein Glück auf ewig zu entreißen« (536). Und als das Paar nicht hören will und sie sogar um ihren Segen bittet, fügt sie hinzu: Was Gott zusammenfügt, will ich nicht scheiden [ … ], aber verbinden kann ich euch nicht, und kann nicht loben, daß Schmerz und Neigung die Erinnerung an meinen Bruder völlig aus euren Herzen zu verbannen scheint (545). <?page no="82"?> 82 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Ob solchen Drängens hat Therese recht, sich zu empören: »Achtet man mich so wenig, dass man glaubt, es sei so was Leichtes, [Wilhelm] mit [Lothario] aus dem Stegreife wieder umzutauschen? « (538) Wilhelm aber, der Lothario über alles schätzt und fürchtet, dessen »Freundschaft« (607) zu verlieren, wird dem Konkurrenten nicht im Wege stehen. Denn nicht nur »das Leben eines Bruders« (537), sondern auch »das Glück meines [Natalies, M. K.] Lebens« (538) scheint von seiner Entscheidung abzuhängen. Die Lehrjahre zeigen damit erneut und mit kaltem Blick die sozialen und psychologischen Missbildungen menschlicher Verhältnisse. Noch in den Wahlverwandtschaften , berichtet Riemer, war es erklärtes Ziel des Dichters, »soziale Verhältnisse und die Konflikte derselben [ … ] darzustellen.« 299 Und die Wanderjahre erläutern: Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren; es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin (HA 8, 460). Die Lehrjahre führen vor, wie sehr dabei der poetische Schein die banale Faktizität verhüllt. Goethe selbst hat seine Methode im Briefwechsel mit Schiller erläutert. Es sei sein »realistische[r] Tic«, der ihn veranlasse, durch Einbildungskraft »[s]eine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken« 300 . Geradezu »mutwillig« habe er also »Additionsfehler« in seinen Text eingebaut, um vor allem den »ästhetischen Wert« des Gemeinten »ins Licht zu stellen« 301 . Doch bilderkritisch gelesen, spricht der Roman eine deutliche Sprache. An Natalie führt er die Pathogenese von Sinnenfeindlichkeit und caritas aus unterdrückter Erotik vor. Eine übersteigerte Ratio kompensiert bei der jungen Frau die Gefahr sinnlichen Begehrens. Denn gegen die »Natur« und des Abbe´s lässliche Pädagogik des Irrens bringt sie vor: Ebenso nötig scheint es mir, gewisse Gesetze auszusprechen und den Kindern einzuschärfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben. Ja, ich möchte beinah behaupten, es sei besser, nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur hin und her treibt [ … ] (527). So ist Natalie auch auf ihren Bruder Friedrich nicht gut zu sprechen. Sein »lose[s], lockere[s] Wesen« (521) widerspricht Natalies Verzicht auf den eros , den sie umwillen der tabuisierten Neigung zu Lothario leistet. Der Abbe´ habe Friedrich zuviel Freiheit gelassen, kritisiert sie (vgl. 521), und nun meine der junge Mann, seine »Gesinnung« (565) gelte auch für andere. Ihr, der Schwester, aber tue »seine Art von Lustigkeit [ … ] wehe« (556). Offenbar rührt Friedrich an eine Wunde. Natalie ist nicht unempfindlich und ahnt, was ihr unmöglich ist. Schon als junges Mädchen hatte sie, die »selbst keine Art von Liebe« (419) zeigte, mit den »besten Stoffen« ihrer Tante »ein sittsames Bürgermädchen an ihrem Brauttage geschmückt« (418): Natalie, der die Versprechen erotischer Verbindung fern bleiben, projiziert ihre Sehnsucht auf andere. Ähnlich steht es mit der caritas . Nicht aus vollem Herzen wird Natalie zur Wohltäterin. Denn Wilhelm erfasst ganz richtig, dass ihre Hilfsbereitschaft nur die eigene erotische Leere kompensiert: »Lotharios treffliche [ … ] Schwester«, sei »genötigt [ … ], durch Wohltätigkeit den Mangel an eigenem Glück zu ersetzen« (459). 302 Die karitative Veranlagung der jungen Frau ist eine Ersatzbefriedigung. 299 Friedrich Wilhelm Riemer: Goethes Gespräche (Anm. 275 ), Bd. II, 328 (= Gesprächsnotiz vom 28 . 08 . 1809 ). 300 Brief an Schiller vom 9 . Juli 1796 . In: MA 8 . 1 , 208 . 301 Ebd., 209 . 302 Wilhelm verwechselt Natalie an dieser Stelle noch mit der »junge[n] schöne[n] Gräfin« ( 459 ), die ja auch eine Schwester Lotharios ist. Doch wie aus Thereses Schilderung hervorgeht, ist durchaus Natalie gemeint. <?page no="83"?> 83 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Königssohn, Natalie, Romanende Doch immerhin gewinnt Natalie ihrer Lage das Beste ab. Nicht in Verbitterung oder - wie die Stiftsdame - in religiöse Weltfremdheit zieht sie sich zurück, sondern münzt den eigenen Kummer in hilfreiche Tätigkeit für andere um. Als gelehrige Schülerin des Abbe´ erweist sie sich dabei. Der hatte ihr im Sinne seiner Erziehung zur Tätigkeit bedeutet, was es für sie zu tun gebe und wie sie dabei zu verfahren habe: Nur der Abbe´ schien mich zu verstehen, er kam mir überall entgegen, er machte mich mit mir selbst, mit diesen Wünschen und Neigungen bekannt und lehrte mich, sie zweckmäßig befriedigen (527). Es versteht sich, dass der Geistliche nicht zum Inzest riet. Stattdessen machte er Natalies Drang nach praktischer Hilfeleistung ganz im Sinne der Turmgesellschaft nutzbar. Differenzen bleiben nur in Fragen der Pädagogik. Denn Natalie teilt des Abbe´s tolerantes Programm des Irrens - begreiflicherweise - nicht. Sie, deren Neigung unbefriedigt bleiben muss, dringt daher bei anderen umso mehr auf Hilfe »im Augenblick« (527). So erfüllt sie schließlich, was der boshafte Friedrich ihr prophezeit hatte: Nie zu heiraten, bis »irgendwo eine Braut fehlt« (565). Denn freilich ist das Zweckmäßigste, was Natalie sofort und aus Liebe zu Lothario tun kann, Wilhelm zu nehmen. Lothario selbst hatte seine Schwester wohl dazu angehalten. Er erläutert Wilhelm: Unglaublich ist es, was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann, wenn er, ohne herrschen zu wollen, das Gemüt hat, Vormund von vielen zu sein, sie leitet, dasjenige zur rechten Zeit zu tun, was sie doch alle gerne tun möchten, und sie zu ihren Zwecken führt, die sie meist recht gut im Auge haben und nur die Wege dazu verfehlen. [ … ] Es ist keine Schwärmerei, es ist eine Idee, die recht gut ausführbar ist, und die öfters, nur nicht immer mit klarem Bewußtsein, von guten Menschen ausgeführt wird. Meine Schwester Natalie ist hiervon ein gutes Beispiel. Unerreichbar wird immer die Handlungsweise bleiben, welche die Natur dieser schönen Seele vorgeschrieben hat (608). Der Bruder schreibt der Schwester aus erotischem Eigennutz und kraft seiner Autorität als Oberhaupt der Familie und Sozietät vor, was er von ihr erwartet. »Mit klarem Bewußtsein« will er sie und alle anleiten, das »zur rechten Zeit« zu tun, »was sie doch [ … ] gerne tun möchten«, und das bedeutet für Natalie: Da sie am liebsten hilfsbereit ist, möge sie nun entsprechend handeln und in die Heirat mit Wilhelm einwilligen. Lotharios Hochzeitsplänen soll sie nicht im Wege stehen. Und so gut kennt Lothario die heimliche Neigung der Schwester für ihn selbst, dass er sich seiner Sache vollkommen sicher sein kann. Die »Natur« habe Natalie ihre »Handlungsweise [ … ] vorgeschrieben«. Eine »schöne Seele« ist die junge Frau dennoch nicht, auch wenn Lothario ihr diesen »Ehrennamen« (608) verleiht. Goethe redet ironisch gegen Schillers idealistisches Konzept von Seelenschönheit, wie es Über Anmut und Würde entwickelt hatte. Eine schöne Seele sei, heißt es dort, wer scheinbar ohne Reflexion - gleichsam natürlich - das der Reflexion Gemäße tue und so das »freie Prinzipium im Menschen« 303 mit dem sinnlichen Handeln und Erscheinen anmutig in Einklang gebracht habe: Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. 304 303 Schiller: Über Anmut und Würde. In: Ders.: Werke (Anm. 118 ), Bd. 5 , 433 - 488 , hier 445 . 304 Ebd., 468 . <?page no="84"?> 84 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Der Begriff der schönen Seele repräsentiert damit die Idee der Freiheit in der Erscheinung und fasst, weil es sich bei der Freiheit um ein Intelligibles handelt, den anmutigen Menschen als Fiktion eines absoluten Grundes in den Blick. Doch Natalies Art, »natürlich, ohne die mindeste Reflexion« (527) zu handeln, verdankt sich keiner Freiheit, sondern allein dem Zwang inneren Leidens, und eine ›schöne‹ Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft liegt in dieser Art der Bedürfnissublimierung nicht. Goethe wertet damit ein tätiges Handeln zum Wohle der Allgemeinheit keineswegs ab. Er führt es nur auf ein völlig empirisch-realistisches, d. h. psychologisches Motiv zurück, anstatt Schillers kantianischer Autonomiespekulation zu folgen. Dennoch, oder gerade deshalb, behält Lothario recht: Natalie, die sich zunächst noch gegen jegliche Verehelichung verwahrt hatte - »[M]ich sollt ihr gewiß nicht irre machen« (566) -, willigt, freilich aus Scham und Demütigung errötend (vgl. 606), ein. Objektiv hat sie freilich nicht viel zu verlieren, denn wo der Ehemann sogleich nach Italien reisen soll, bliebt die Ehe unvollzogen. Nun aber haben die »guten Menschen« des Turms ein Problem. Als karitatives ›Supplement‹ würde der schwärmerische Wilhelm Natalie kaum nehmen. Auch auf ihrer Seite darf daher der Anschein von Liebe nicht fehlen. Dass er erweckt und von Natalie im Gespräch mit dem Abbe´ sogar bekräftigt wird, ist wohl auf Lothario und Jarno zurückzuführen. In der Nacht, in der Wilhelm und Therese über dem vermeintlich todgeweihten Felix wachen, sitzen sie »am andern Ende des Zimmers« und führen »ein sehr bedeutendes Gespräch« (603). Es ist anzunehmen, dass sie darin die zu einer Verbindung von Wilhelm und Natalie nötigen Schritte erwägen und dass Lothario seine Schwester unverzüglich zum Handeln anhält. Denn noch am selben Abend, so berichtet Friedrich später (vgl. 609), gesteht die sonst kühle und allem Sinnlichen fremde Natalie dem Abbe´ völlig unerwartet und »sehr bewegt« (ebd.), dass sie Wilhelm liebe und ihn zu heiraten gedenke, »wenn das Kind stürbe« (ebd.). Doch Felix überlebt. Der Hochzeitsplan gerät über Natalies Bedingung ins Stocken. Angesichts der später herrschenden Bestürzung ist es gut möglich, dass auch dem Turm Zweifel kommen - mit »keine[m] Schritt« (607 f.) fördert man zunächst die Verbindung, man zaudert, und insbesondere Lothario steht bei Friedrichs Gemäldeauslegung »ohne sich zu rühren« abseits und sieht sinnend »in den Garten hinunter« (606). Doch die Lage verlangt wohl oder übel nach einer Lösung. Es ist Friedrich zu verdanken, dass sie gefunden wird. Seine unberechenbaren Eulenspiegeleien beschleunigen das Geschehen und fungieren als Zufallsprinzip, das die rationale Gesellschaft nach anfänglicher Fassungslosigkeit »zu lenken, zu leiten und zu nutzen« (71) versteht - ganz im Sinne des frühen Gesprächs zwischen Wilhelm und dem Unbekannten. So kommt dem Turm zuletzt doch gelegen, dass Friedrich mit dem Bild des kranken Königssohns an Meisters Phantasie appelliert und ihn weiterhin an Liebe und eine glückhafte Bestimmung glauben lässt. Denn darauf baut Friedrich auf, wenn er Wilhelm kurzerhand erklärt, Natalie werde selbst »jetzt, da das Kind [Felix, M. K.] lebt« (609), bei ihrer Heiratsabsicht bleiben: »Warum soll sie ihre Gesinnung verändern? « (ebd.) Gründe gäbe es dafür schon. Ihre gegenüber dem Abbe´ gestellte Bedingung ist hinfällig, und keinesfalls verwechselt sie Mitleid mit Liebe. Friedrichs Schalk verhehlt nur schlecht den Zwang, dem man Natalie immer noch aussetzt: Sähe sie von ihrem Gelübde ab, würde Lotharios Heirat mit Therese nach wie vor zunichte. So kommt es, dass sich Wilhelm, dem die Einbildungskraft die Wahrheit verdeckt, im Besitz eines unverdienten Glückes (vgl. 610) wähnen kann. Doch genau besehen, bestätigt der Roman zuletzt, was Natalie Wilhelm an anderer Stelle einmal anvertraute: Das, »was uns so manches Buch [ … ] als Liebe nennt und zeigt«, sei ihr »immer nur als ein Märchen« (538) <?page no="85"?> 85 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Lehrbrief, Pragmapoetik des Turms erschienen. Wer außer Wilhelm wird also gleich alles glauben, was über derlei Gefühl in Büchern steht - und seien es die Lehrjahre . 2.3.3 Die Verleihung des Lehrbriefs und die Pragmapoetik des Turms Wirklich sieht Meister nun in der Verbindung mit Natalie erfüllt, was ihm das Schicksal in der Jugend angedeutet habe. Amazone, Chlorinde und Königssohn können nicht irren (vgl. HA 7, 235). Dabei hatte sich schon der Unbekannte bemüht, den jungen Mann zur Räson zu bringen. Meister hatte sich nach dem Verkauf der Kunstsammlung dem Theater zugewandt. Darin sieht er das Wirken des Schicksals, das als eine »Macht über uns waltet« und »mein Bestes und eines jeden Bestes einzuleiten weiß« (71). In solche Lenkung habe man sich voller »Zutrauen« (72) zu ergeben. Der Unbekannte widerspricht. Lieber solle man das eigene Geschick selbst in die Hand nehmen: Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch ein Gott der Erde genannt zu werden (71). Vernunft lehrt rationale Weltkenntnis und die Machbarkeit aller Verhältnisse. Kein Fatum regiert die Welt in der modernen Zeit, sondern menschliche Planung. Sehe man also »in dem Notwendigen etwas Willkürliches« (71) und im »Zufälligen eine Art von Vernunft, der zu folgen sogar eine Religion sei«, erliege man den Wirkungen der Einbildungskraft: Man entsage »seinem eignen Verstande und gebe den »Neigungen unbedingten Raum« (ebd.). 305 Der Unbekannte hält Religion für unvernünftig. An ihr haftet der Ruch unnützen Schlendrians. Durch Zufälle, denen man unvordenkliche Abkunft unterstelle, lasse man sich determinieren, anstatt Zufälle zu leiten. Der ökonomischen Gesellschaft gilt Religion - wie die Kunst - als überholt. Was der Unbekannte vorträgt, ist eine Diatribe gegen Mythologie. 306 Erzählungen vom Götterwalten hatten alles Irdische traditionell auf absolute Lenkung zurückgeführt und damit eine dichterische Realitätsdeutung geschaffen. In den Lehrjahren berichtet noch die Stiftsdame davon, dass auch die Sakralkunst der christlichen Religion mit dem Verfahren arbeitet: Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke verschaffen uns kirchliche Anstalten, Glocken, Orgeln und Gesänge und besonders die Vorträge unserer Lehrer (396). Indessen ist dem Turm derlei transzendente Vormundschaft unwillkommen. Durchaus möge es zwar Dinge geben, »die uns allen unbegreiflich sind« (71). Wenn man aber schon suche, sie sich »einigermaßen denkbar zu machen«, müsse das so geschehen, dass die »Vorstellungsart zu unserm Besten gereicht« (ebd.). Die ökonomische Moderne kümmert sich nicht mehr um Absolutes. Metaphysische Vorschriften und Götterbilder betrachtet man als Einrede gegen Nutzen und mündige Vernunft, die nun die Geschicke der Menschen selbst leiten will. Denn die Vernünftigen durchschauen religiöse Bildlichkeit als Täuschungen der Einbildungskraft, hinter denen sich weit Banaleres abspielt. Ohne den Rekurs auf Übersinn- 305 Genau das tut Meister. Erfüllen sich seine Wünsche, hat er Zutrauen zum Schicksal (vgl. etwa 276 ), kommt es anders, ist er verzweifelt (vgl. 471 ). 306 Natürlich spielt Goethe auf Mythologisches an. Indes gilt wie für Wilhelm: Wer den Mythos ernst nimmt, fällt auf die Wirkung der Einbildungskraft herein. <?page no="86"?> 86 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« liches kann es erklärt werden. Dem Turm geht es um den nüchtern-objektiven Blick auf Reales. Dennoch schafft man Religion nicht schlechterdings ab. Nicht alle Menschen leben gern in einer ›entzauberten‹ Welt. So berichten die Lehrjahre , wie metaphysische Bedürfnisse zur Förderung eigener Interessen nutzbar gemacht werden. Beim Initiationsritual der Lehrbriefverleihung erinnert der Turm nur noch an Religion, um sie für alle Einsichtigen aufzuheben. Als säkulare Umdeutung der communio - der Aufnahme in die Gemeinschaft - ist zu verstehen, dass der Ritus in einer ehemaligen »Kapelle« stattfindet, deren »Altar« durch einen »Tisch« ersetzt ist (493). Und über dem Altar erinnert nur noch ein »Rahmen [ … ]«, der eine »leere, dunkle Öffnung« mit »Vorhang« (494) umgibt, an das traditionell dort befindliche Altargemälde mit seiner zentralen Botschaft von Leben und Sterben des Erlösers. Doch wenn nun der Turm den Vorhang öffnet, werden Wilhelm von bedeutender Stelle aus ganz andere Botschaften verkündet: die Maximen der Turmgesellschaft. Die alte Theodizee und ihr Bildmaterial werden auf diese Weise durch die Oikodizee der wirtschaftlichen Moderne säkularisiert und überformt. Damit ist ausgedrückt, dass das religiöse Heilsversprechen nun in sehr konkret materiellem und diesseitigem Sinne ausgelegt wird und dass zweitens der Prozess solcher Heilsgeschichte nicht mehr dem Willen Gottes, sondern der rationalen Gestaltungskraft des Menschen anheimgestellt ist. 307 Der Turm macht sich dabei Wilhelms Glauben an die Theaterästhetik zunutze, der Meister bereits seit der Schwärmerei für den »mystischen Vorhang« (12) des Puppentheaters verfiel. Zusammen mit den Resten religiöser Architektur verfehlt die Theatralität ihre Wirkung auf den jungen Mann nicht. Jarno erklärt ihm später unmissverständlich, welche Absichten der Turm mit der Inszenierung verfolgt: Nicht allen Menschen ist es eigentlich um ihre Bildung zu tun, viele wünschen sich nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden, Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art von Glückseligkeit. Alle diese, die nicht auf ihre Füße gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und anderm Hokuspokus teils aufgehalten, teils beiseitegebracht (549). Ökonomische Leistungsethik betäubt mit mythologischem Zauber all diejenigen, die an den Segnungen der Vernunft nicht teilnehmen wollen oder können. Wenigstens sollen sie die elitistische Sozietät bei der Durchsetzung ihrer radikalen Reformen nicht stören. Denn die Aura religiösen Geheimnisses fordert Ehrfurcht und nimmt die Skepsis der Welt hinweg. Der Roman berichtet damit von der Funktionalisierung der Bilder und aller ikonographischen Überlieferung durch wirtschaftliche Interessen. Denn der Turm macht sich historische Mythologica zunutze, an die er selbst nicht mehr glaubt und die sich nur desto besser zur Kaschierung seiner Zwecke verwenden lassen. Eine universelle Pragmapoetik ist auf diese Weise skizziert, die die gewünschte Bedeutung nach Bedarf generiert und funktionalisiert. Sie bedeutet das Ende des alten Kunstschönen und die Heraufkunft ökonomisch bedingter Bilder, deren Wirkung in bilderlos-vernünftiger Zeit die Sozietät bewusst kalkuliert. Wie die Gemütserregungskunst ist die Bildermaschinerie des Turms auf Erzielung eines Effekts im Publikum angelegt, aber anders als jene ist sie nüchtern-reflektiert konstruiert und berauscht sich nicht am eigenen schönen Schein, dessen Falschheit sie kennt. 308 307 Noch dem heutigen Kapitalismus kommt trotz aller Krisen noch die quasi eschatologische Verheißung von Fortschrittsprogress und Wohlstandsoptimierung zu. Vgl. aber zu einer Kritik der ›Oikodizee‹ zuletzt Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 5 2010 / 11 , bes. 141 - 178 . 308 Nicht anders verfährt heute die kommerzielle Werbung. Der Vergleich mag eine Aktualisierung sein, er trifft dennoch den Kern der Sache: Auch der Turm ist eine ökonomische Sozietät mit wirtschaftlichen Interessen. Vgl. dazu weiter unten, insbesondere die Kapitel 2 . 3 . 3 und 2 . 6 des Goethe-Teils dieser Arbeit. <?page no="87"?> 87 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Lehrbrief, Pragmapoetik des Turms Dass er dennoch auf all diejenigen wirkt, die nicht gelernt haben, Bildern zu misstrauen, zeigt der Roman paradigmatisch am Beispiel des Wilhelm Meister. Genau weiß der Turm über die ästhetischen Schwärmereien des jungen Mannes Bescheid. Durch ein Netz von Informanten hat man ihn seit seiner Kindheit beobachtet und die Daten im Archiv - der Kapelle, in der die Lehrbriefe verliehen werden und alles Wissen des Turms über seine Mitglieder versammelt ist - in einer mit der »Aufschrift [ … ]« Wilhelm Meisters »Lehrjahre« (497) versehenen »Rolle [ … ]« (ebd.) festgehalten. Darin dürfte sich der Bericht des Abbe´ finden, der die Kunstsammlung des alten Meister aufgekauft und bei dieser Gelegenheit den zehnjährigen Wilhelm kennengelernt hatte, ebenso die Angaben des Unbekannten, der mit Wilhelm das Gespräch über das Schicksal führte. Daneben enthält die Rolle ohne Zweifel auch die Meldung des Offiziers, der Wilhelm während dessen Besuch bei Jarno zur Rede stellte, und darüber hinaus die Einschätzungen der anderen Mitglieder des Turms, mit denen Wilhelm in Kontakt stand und noch steht. So erstaunt es fast nur Wilhelm, dass »so viele Menschen [ … ] [s]einen Lebensweg kannten« (495). Nun aber nutzen sie ihr Wissen und demonstrieren, dass das Handeln von Schwärmern allein durch schönen Schein bestimmt werden kann. Kunstbilder werden so geschickt eingeschaltet, dass sie ihre Wirkung auf Wilhelm nicht verfehlen. Sie sollen zunächst helfen, ihm eine neue Richtung zu geben, ihn also im Sinne der Turmpädagogik zu sozialisieren. Verwendung findet dazu etwa der Geist des Vaters aus Hamlet . Schon bei der Aufführung des Stückes, bei der Wilhelm den Hamlet spielt, nutzt der unbekannte Darsteller des Geistes - wahrscheinlich der Abbe´ selbst (vgl. 551) - die Rolle dazu, Meister die Theaterleidenschaft auszutreiben. Indem er mit einer Stimme spricht, in der Wilhelm »glaubt [ … ], eine Ähnlichkeit mit der Stimme seines Vaters zu bemerken« (322), macht er sich das schlechte Gewissen des Kaufmannssohns dienstbar, der genau weiß, mit der Entscheidung für das Theater die vom Vater in ihn gesetzten Berufshoffnungen enttäuscht zu haben. Deutlich ist dann die Botschaft »Zum ersten- und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh« (328), die der ›Geist‹ Wilhelm zukommen lässt. Und der Abbe´ hat Erfolg. Nur noch einmal wird Hamlet gegeben, und nach dem Theaterbrand, der überhaupt das Ende der Bühnenkunst in der Moderne des Turms ankündigt, verlässt Wilhelm Serlos Theatertruppe alsbald, um bei Lothario in Aurelies Namen Klage zu führen (vgl. 354). Doch der ästhetische Schein wird zweitens auch verwendet, um Wilhelm, der die Erwartungen des Turms nicht erfüllte, unbemerkt - und mit Jarnos Wort - ›beiseitezubringen‹. Auch dafür greift man auf Hamlet und den Geist des Vaters zurück, der schon einmal die gewünschte Wirkung erzielte. Bei der Verleihung des Lehrbriefs erscheint als Höhepunkt der Inszenierung der Geist. Wiederum so, dass Wilhelm die »Stimme seines Vaters zu hören« (495) meint, weist er den jungen Mann zurecht, der gerade im Begriff ist, sich gegen den Turm und seine Pädagogik zu empören: »›Rechte nicht mit uns! [ … ] Du bist gerettet, und auf dem Wege zum Ziel‹« (ebd.). Alle »›meine Wünsche für dich‹« seien mit der sich doch offenbar vollziehenden Aufnahme in den Turm »›mehr als ich sie selbst begriff, erfüllt‹« (ebd.). Geradezu als väterliches Erbteil und Vermächtnis muss Wilhelm die Welt des Turms verstehen. Nun sieht er die Möglichkeit gekommen, dem Vater nach dem Abschied vom Theater vollends unter Beweis zu stellen, dass etwas Rechtes aus ihm wurde. Also fügt er sich, wenn auch »in der verworrensten Lage« (496), in den Ritus. Der Abbe´ hat erneut psychologisch richtig kalkuliert. Denn dem Turm liegt aus ökonomischen Gründen nichts daran, Wilhelm zu verlieren. 309 Aber man muss über ihn, der Bilder nicht durchschaut und 309 Mit dem inzwischen von Werner geführten Handelshaus der Meisters, das immerhin neben Werner <?page no="88"?> 88 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« kein nüchterner Analytiker wird - daher wird er aus allen Entscheidungsprozessen herausgehalten (vgl. 492) - nach Bedarf bestimmen können. Behindern darf er das Handeln des Turms nicht. Die Rezeptionsgeschichte der Lehrjahre führt freilich vor Augen, wie groß nicht nur für Meister die Macht der Bilder ist - und wie schwer es sein kann, den schönen Schein gemäß Goethes Wort zu »entfernen«. Kaum gibt es einen Sachverhalt, der nicht bedeutsam wurde. So hat die Initiationsszene der Lehrbriefverleihung im Zusammenhang mit den Turmrangstufen von »Lehrlingen, Gehülfen und Meistern« (549) an Geheimgesellschaften denken und ein »Erbe der Illuminaten« vermuten lassen: Am Ende werde Wilhelm in die absoluten Wahrheiten des Bundes eingeweiht und zu sittlicher Besserung geführt. 310 Zwar geht es dem Turm wie den Illuminaten um die Bildung eines neuen - freilich ökonomischen - Menschen, zwar äußert auch der Roman jene Zweifel an der dazu angewandten Pädagogik, die den Illuminaten von den Zeitgenossen entgegenschlug. Wenn die Lehrjahre vom ›Zurechtbringen‹ widerspenstiger Personen berichten oder vom ›Beiseiteschaffen‹ renitenter Schwärmer, deutet sich die Befürchtung an, der moderne Mensch sei ein Produkt unbarmherziger Abrichtung. Derlei Sorge reflektiert noch Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818), der den neuen Menschen seines Schöpfers, des Ingolstädter Professors - zu lesen als Anspielung auf Ordensstifter Adam Weishaupt, der in Ingolstadt Professor für Kirchenrecht war -, als ungeschlachtes Monster imaginiert. 311 Doch man glaubte den »Mystifikationen« (549) des Turms zu sehr. Schon Jarno warnt davor, den »Hokuspokus« (ebd.) ernstzunehmen. Lehrbriefritual und Rangstufenrhetorik sind der Sozietät schon längst anachronistisch geworden. Alles, was Wilhelm im Turm gesehen habe, seien nur »Reliquien von einem jugendlichen Unternehmen, [ … ] über das nun alle gelegentlich nur lächeln« (548). Zur Beförderung aufklärerischer Verstandesideale wurde es gegründet, die deutlich genug - und unter Anspielung auf das Kantische sapere aude - dadurch bedeutet sind, dass man »in allen Dingen nichts als Klarheit« (549) wünschte sowie danach strebte, »mit eigenen Augen [zu] sehen« (ebd.) und ein »eigenes Archiv unserer Weltkenntnis [zu] bilden« (ebd.). Doch unter dem Einfluss des Abbe´ legte die Sozietät die bloße Theorie ad acta . Der ehemalige Geistliche lehrt auch Wilhelm gehört, ist Lothario inzwischen in bedeutende Geschäfte eingetreten. Vgl. dazu ausführlich das Kapitel 2 . 5 des Goethe-Teils dieser Arbeit (ab Seite 134 ). 310 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Erbe der Illuminaten (Anm. 65 ). So argumentiert auch die Forschung, die an die ›humane Welt‹ des Turms glaubte. Reinhart Koselleck (Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/ Main 1973 [zuerst 1959 ], 105 - 114 ) hat die geschichtsphilosophische Bedeutung der Geheimbünde bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben. Auch dem Turm geht es um die Lenkung der Geschichte, hingegen nicht um moralische Menschenbildung aus anthropologischem Interesse, sondern um Ökonomie. Vor allem aber macht bei dieser Lesart nachdenklich, dass sich der Turm von seiner eigenen Freimaurer-Rhetorik längst abgewendet hat, und dass Wilhelm von der Sozietät offenkundig nicht aufgenommen, sondern aussortiert wird. Vgl. weiterhin: Rosemarie Haas: Die Turmgesellschaft in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. Zur Geschichte des Geheimbundromans und der Romantheorie im 18. Jahrhundert, Bern 1975 ; Wilfried Barner: »Geheime Lenkung. Zur Turmgesellschaft in Goethes ›Wilhelm Meister‹«. In: Goethe’s Narrative Fiction. The Irvine Goethe Symposium, hg. v. William J. Lillyman, Berlin 1983 , 85 - 109 . Ehrhard Bahr (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1982 ) macht auf die Rollenhaftigkeit der Personen aufmerksam, die der Roman aus Geheimbundromanen entlehnt. Neben dem Emissär - in den Lehrjahren Jarno und der Abbe´ - gilt vor allem die »Bundestochter« - Natalie - als »Haupttyp [ … ]« der Gattung. Ihre Funktion besteht darin, »den Helden dem Bund zuzuführen« ( 173 ). Dass die Lehrjahre aber den Geheimbundroman aktualisieren, muss bezweifelt werden. Als dessen Parodie sind sie vielmehr angelegt. Hier wie auch sonst gilt die Regel, dass Exoterisches stets esoterisch dementiert wird. 311 Vgl. dazu Schings: Erbe der Illuminaten (Anm. 65 ), 195 . <?page no="89"?> 89 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Lehrbrief, Pragmapoetik des Turms die Mitglieder, dass Theorie nichts ohne recht verstandene Praxis sei. Erst in der »Tätigkeit« (ebd.) lerne man sich und andere kennen, erst hier zeige sich »deutlich [ … ], wozu [man] geboren« (549 f.) sei und ob man »jede falsche Tätigkeit, wozu uns die Phantasie lockt« (554), aufzugeben vermöge. Die Sozietät, das zeigen später sehr deutlich Lotharios Reformprojekte, verfolgt nun polit-ökonomische Ziele. Die überkommene Aufklärungsrhetorik wird dazu im Sinne einer Erziehung zur Arbeit und der Einführung einer modernen kapitalistischen Leistungsgesellschaft nach amerikanischem Muster modifiziert: »Hier oder nirgends ist Amerika! « (431) lautet die Parole. Dazu benötigt man keine Schwärmer, sondern nüchtern-aufgeklärte Tatmenschen, die ihre Kenntnisse in den Dienst der rational planbaren Logik ökonomischer Prozesse stellen. »Sinn« und »Tat« (550) fordert man von ihnen. Das Bildungsideal des Turms ist also nicht - wie das der Illuminaten - auf Verbesserung von Moral und Sitten, sondern ganz konkret auf Zweckrationalität und wirtschaftlichen Weitblick ausgerichtet. Im Initiationsritus wird der Neuling damit nicht in ein wie auch immer geartetes Mysterium absoluter Vernunft eingeweiht, sondern auf die Prinzipien einer Leistungsgesellschaft verpflichtet. Soviel banale Nüchternheit könnte so manchen enttäuschen. Also empfiehlt der Abbe´ die Beibehaltung des schönen Scheins aus der Anfangszeit. Der Geistliche, erinnert sich Jarno, »riet uns, jene ersten Formen der Gesellschaft beizubehalten; es blieb daher etwas Gesetzliches in unsern Zusammenkünften, man sah wohl die ersten mystischen Eindrücke auf die Einrichtung des Ganzen« (549). Das Initiationsritual in der ehemaligen Kapelle bedient sich der alten Gottesfurcht nur noch, um den Schein tiefer Bedeutung dort zu generieren, wo keine mehr ist. Die Pragmapoetik des Turms inszeniert nichts als »Hokuspokus«. Die Wanderjahre sagen es offen: Außerdem hat das Geheimnis sehr große Vorteile: denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter. Gewissen Geheimnissen, und wenn sie offenbar wären, muß man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen, denn dieses wirkt auf Scham und gute Sitten (HA 8, 150 f.). Esoterik, weiß der Turm, scheint stets Bedeutsames zu verheißen. Ohne die Inszenierung könnte das Unternehmen scheitern, denn freimütig formulierte Ziele haben den Ruch des Banalen, und niemand blickt offenbar gern ins hässliche Antlitz wirtschaftlicher Strategien und Geschäfte. Die ökonomische Moderne, die mit verächtlicher Radikalität die Täuschungen der Einbildungskraft verwirft, betreibt damit andererseits selbst die Schaffung neuer Bilder. Wenn sie auch ästhetisch wertlos sind, zeigen sie doch, dass selbst eine völlig rational gedeutete Welt nicht ohne den schönen Schein auskommen kann. Es existiert also auch beim Thema der Bilderkritik eine ›Dialektik der Aufklärung‹, derzufolge gerade ein Mehr an Nüchternheit die Entstehung neuer Mystifikationen befördert. So kaschiert auch die Verleihung des Lehrbriefs nur die banale Einsicht, dass sich hinter dem Ritual »nichts« mehr befindet - außer Ökonomie. Soviel rationaler »Ernst« mag »überrasch[en]« (HA 7, 496). Doch der Lehrbrief ist ein Lehr-Brief, der in sentenzhaft-allgemeiner Kürze die pädagogischen und praktischen Prinzipien des Turms erläutert. Er enthält zuvörderst die lapidare »Lehre« (496), dass junge Menschen zur Ausübung praktischer Tätigkeit erzogen werden müssen. »Ausbildung des Kunstsinnes« (548) nennt Jarno derlei Schulung und meint damit nicht so sehr Ästhetisches als vielmehr »Weltkenntnis« und »Bildung« (549). Als erlernbare techne versteht der Turm die zwei Fertigkeiten, und im rhetorischen »Gleichnis« erhielten sie die »Gestalt eines Handwerks [ … ], das sich bis zur Kunst erhob« (548). Den allzu träumerischen Wilhelm fordert man denn auch auf, er möge <?page no="90"?> 90 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« den Inhalt »beherzigen« (496). Nun ist die Voraussetzung aller Praxis objektives Weltwissen. Der »Knabe«, berichtet der Brief, erwirbt es durch »Eindruck« und angeborene »Nachahmung« (496). Jetzt hängt alles von der weiteren Erziehung ab. Dem jungen Menschen muss man beibringen, nicht alles, sondern nur das »Treffliche« zu imitieren. Das bedeutet: Als Vorbild gilt nur der »echte [ … ] Künstler [ … ]« (ebd.) oder »Meister« (497). Er ist jemand, der aus »Geist« heraus handelt und dabei nicht viele Worte macht: Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. [ … ] Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat (496). Der Lehrbrief schildert einen praktischen Tatmenschen, der seine Handlungen sinnvoll, also mit Vernunft (»Geist«) zu planen und auszuführen weiß. Das Turmideal des rationalen Ökonomen, der an die Machbarkeit der Verhältnisse glaubt, ist bedeutet. Lothario wird später den Typus eines solch zielstrebigen Visionärs verkörpern, dessen »Überblick und [ … ] Tätigkeit unzertrennlich miteinander verbunden sind« (553). Auch er handelt lieber, anstatt viel zu sprechen, und so kann nur dessen »Geist« seine »Handlungen« begreifen, der über ein ähnliches Maß an Übersicht verfügt. Wilhelm, der soviel Einsicht nicht besitzt, wird von Jarno ermahnt, Lotharios »Trefflichkeit ein[zu]sehen« (ebd.). Er soll seine Vernunft mehr bemühen. Dann werde er wie der »Schüler« im Lehrbrief »aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und [ … ] sich dem Meister« (497) nähern. Gemeint ist: Wohl soll sich der Schüler mit Welt und empirischer Praxis vertraut machen. Unbekannt bleibt ihm indes noch der Sinn seiner Tätigkeit. Aus dem Handeln allein kann er ihn nicht ableiten. Die Vernunft muss dem Schüler zu Hilfe kommen. Sie erklärt durch Schlüsse den unbegriffenen Zusammenhang, indem sie Zwecke setzt und scheinbar Kontingentes sinnvoll verknüpft. Der Meister verfügt bereits über derlei Befähigung: Lothario vermag richtige Schlüsse aus dem Weltenlauf zu ziehen und die Politik der Sozietät an die Veränderungen anzupassen. Indes kommt nun für die meisten erschwerend hinzu: »Handeln ist leicht, Denken schwer, nach dem Gedanken handeln unbequem« (496). Auch Jarno kennt das Problem: »Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind« (550). Sie sind die Meister. Der Schüler freilich wird im Nacheifern leicht nachlässig. Dazu, sein Leben nach Maßgabe der Vernunft auszurichten, mag er sich nicht gern überreden lassen: »Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge wandeln wir gerne auf der Ebene« (496). Naturbehagen entzieht sich nur zu bereitwillig den Forderungen des Geistes. So wird der Schüler kein Praktiker, sondern Dilettant. Nur »halb« (ebd.) kennt er die Kunst - und handelt ohne vernünftige Übersicht. Also geht er »immer irre und redet viel«. Wer aber nur mit sprachlichen »Zeichen« wirkt, ist ein »Pfuscher« und bringt nichts als »Geschwätz« zustande. Ob der vielen Worte hat er »keine Geheimnisse und keine Kraft« (ebd.). Hingegen gilt für den Turm: »Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste.« Die Sozietät redet nicht. Verschwiegenheit und Mysterien dienen bekanntermaßen dem Machterhalt. Die Politik des Turms soll nicht vorschnell einem Fremden offenbart werden. Auch Wilhelm erfährt erst nach seiner Aufnahme in die Gesellschaft von Lotharios Plänen zur Gesellschaftsreform. Doch es geht auch um den »Geist«. Nicht durch Worte, sondern nur indem Vernunft praktisch wird, kann sie - anhand der Ergebnisse - bewertet werden: »Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat« (ebd.). Hinter soviel Geheimnis verbirgt sich nur die Aufforderung <?page no="91"?> 91 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Lehrbrief, Pragmapoetik des Turms zur richtigen Tat. Nicht reden wie ein Dilettant, sondern wie ein Meister einsichtsvoll handeln soll der moderne Mensch. Der Turm beherzigt seine eigene Lehre bereits. Die drei Praktiker Jarno, Abbe´ und Lothario sprechen wenig, wirken dafür aber umso mehr. Wilhelm hingegen ist der umgekehrte Fall. Der Text gibt zu verstehen, dass der junge Mann in der ökonomischen Gesellschaft nicht angekommen ist. Unproduktive wie ihn - den Typus des lässlichen Schülers - kann man nicht gebrauchen. Die Moral des Briefs ist daher einfach: Schon die Jugend muss in der ökonomischen Moderne zur »Bildung«, also zum meisterhaften Gebrauch der Vernunft, erzogen werden. Von der Schwierigkeit solcher Formung berichtet der Lehrbrief auch: Das Adjektiv »unbequem« zeigt die Mühe an, mit der die »Stufen«, die zum »Gipfel« führen, erklommen werden, und für das notwendige Ausmaß an Zucht zeugt der überraschende »Ernst« (ebd.). Keineswegs wird also Wilhelm, der sich derlei Beschwerlichkeiten nicht unterzog, im Lehrbrief eine gelungene Ausbildung oder gar die Beförderung auf die nächsthöhere Turmrangstufe bescheinigt. Vielmehr dokumentiert der Brief Wilhelms Verabschiedung; er ist die Quittung für eine gescheiterte Lehrzeit. Mit dem Satz »[D]eine Lehrjahre sind vorüber; die Natur hat dich losgesprochen« (497) wird dem jungen Mann die ›Lehre‹ erteilt, dass er sämtliche Ziele verfehlte. Keineswegs hat ihn ja die Natur in ein vernunftgemäßes Leben entlassen. Sie hat es vielmehr aufgegeben, ihn zu einem vernünftigen Mitglied der Gesellschaft zu machen und ihn von diesem Anspruch entbunden. Nichts als Natur wird er bleiben. Von nichts kommt eben nichts, meint also der Turm ganz im Sinne seiner Maxime vom selbständigen Vernunfthandeln. Auch das begreift Wilhelm ebenso wenig wie Sinn und Inhalt der Turmmaximen. Befangen im »feierlichen Augenblick [ … ]« (494), fühlt er sich ganz geehrt, doch offenbar nun in den Kreis der »sonderbaren und weisen Menschen« (497) des Turms aufgenommen zu sein. Übrigens: Wie sehr der Turm das Mysterium zu seinem Prinzip gemacht hat, zeigt nicht zuletzt der Abbe´. Jarno teilt dem verdutzten Wilhelm mit, der Kleriker habe einen »um ein weniges« größeren »Zwillingsbruder« (551). Nun weiß Meister nicht mehr, wer in der Rolle als Unbekannter und Landgeistlicher an ihn herangetreten und ebenso rätselhaft aufgetaucht wie verschwunden ist. Doch die Identität der beiden lässt sich aufklären: Es ist beide Male der Abbe´. Der Zwillingsbruder existiert nicht. Wilhelm kam schon der Geistliche bekannt vor. Er habe bereits mit ihm »gesprochen« (123), erinnert er sich - nämlich in des Abbe´s erster Rolle als Unbekannter. Bei den Zeremonien zur Verleihung des Lehrbriefs meint Meister den Mann wiederzuerkennen: »[E]r glich dem Abbe´, ob er gleich nicht dieselbe Person schien« (494). Doch Wilhelm hätte seinem ersten Eindruck vertrauen können. Denn als Jarno Meister erklärt, der Abbe´ oder sein Zwillingsbruder habe auch den Geist von Hamlets Vater gegeben (vgl. 551), wird deutlich: Der Kleriker ist eine Proteusnatur und reist zudem gern inkognito. Nicht zu deutlich mag man die Absichten des Turms offenbaren. Lieber will der Abbe´ erst in der Praxis erfahren, ob sich jemand zum Mitglied eignet. Je nach dem Charakter des »Irrenden«, den er »leiten« (495) will, wählt er sein Auftreten. Leichter lässt sich so die gewünschte Wirkung erzielen, leichter junge Menschen auf die Forderungen der Sozietät vorbereiten. Auch die Turmmitglieder übersehen nicht immer, was der Abbe´ im Schilde führt - zumal überdies Uneinigkeit über den pädagogischen Ansatz besteht (vgl. 550). Dass aber dennoch niemand an der nützlichen Tätigkeit des Abbe´s zweifelt, sagt Jarno dem begriffsstutzigen Wilhelm: »Freunde können und müssen Geheimnisse voreinander haben; sie sind einander doch kein Geheimnis« (551). Doch soviel Mysterienkult hat in den Lehrjahren seinen Preis. Auf die Finanz- und Arbeitskraft der ›Beiseitegebrachten‹ muss man verzichten. Für eine ökonomisch kalkulie- <?page no="92"?> 92 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« rende Sozietät wie den Turm ist das misslich. Die Wanderjahre berichten in diesem Sinne später, wie eine konsequente Bildung zuviel Verlust vermeiden helfen soll. Sie erzählen, wie Religion und religiöse Kunst in der Pädagogischen Provinz eingesetzt werden, schon die Jugend zu effizienten und gehorsamen Arbeitskräften abzurichten. Ökonomische Zwecke stellt niemand mehr in Frage, den die Lehre von der »christlichen Religion« darüber aufgeklärt hat, noch das eigene Elend als heilige Pflicht anzunehmen. Doch die Lehrjahre sind nicht weniger deutlich. Personen mit religiöser Neigung kommen dem Turm nicht in die Quere. Zu gebrauchen sind sie alle nicht. Schon die schöne Seele wird, weil sie die Innerlichkeit der tätigen Produktivität vorzieht, in ein Kloster verbracht und von der Erziehung der Kinder ausgeschlossen. Über den Grafen und die schöne Gräfin brechen Lothario und Natalie den Stab. Natalie bedauert, dass man ihrer gefühlvollen Schwester nicht »etwas mehr Ernst und Stärke« (521) eingeflößt habe. So aber hat sie während Wilhelms Gastspiel auf dem Schloss eine »aufkeimende Neigung« (348) zum jungen Mann entwickelt, der Erfüllung nicht beschieden ist. Aus erotischem Kummer wendet sich die Adlige also von der Welt ab und jenseitigem Trost zu. Ihr schlechtes Gewissen - immerhin war sie dem Ehebruch bedenklich nah - sublimiert sie überdies als »Krebsschaden« (349): Wilhelm hatte ihr bei der letzten Umarmung ein Porträt des Grafen »gewaltsam wider die Brust« (348) gedrückt. Nun bildet sie sich ein, an der Stelle eine Verhärtung zu fühlen. Doch Wilhelm hat nicht nur die religiöse Schwärmerei der Gräfin zu verantworten. Auch ihren Mann hat er »in die Arme der Frömmigkeit« (432) gejagt. Denn der herrenhuternde Graf, der zum Schluss zum vergesslichen, wunderlichen Alten wird, 312 betreibe nur aus »ängstliche[m] Wahn« (432) seinen Plan, nach Amerika auszuwandern. Ihm gehe es gar darum, Zinzendorf nachzueifern: [ … ] und da er einmal schon beinah überzeugt ist, daß ihm nicht viel fehle, ein Heiliger zu sein, so mag ihm der Wunsch manchmal vor der Seele schweben, womöglich auch noch als Märtyrer zu glänzen (529). Man macht sich also darüber lustig, dass der Graf nur aus Einbildung zum Glauben fand: Nach übersinnlichem Beistand sucht er nur, weil er den verkleideten Wilhelm für den eigenen Doppelgänger und Boten des nahenden Todes gehalten hatte. Doch Lothario ärgert sich über anderes: So gibt mein Schwager sein Vermögen, insofern er es veräußern kann, der Brüdergemeinde und glaubt seiner Seele Heil dadurch zu befördern; hätte er einen geringen Teil seiner Einkünfte aufgeopfert, so hätte er viel glückliche Menschen damit machen und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen können (432). Ökonomie, meint der praktische Lenker der Sozietät, sei eine diesseitige Angelegenheit. Nicht könne man sich im Hier und Jetzt von religiöser Sorge loskaufen. Indem Lothario Wohltätigkeit auf metaphysische Furcht zurückführt, stellt er fest: Besser hätte der Graf weniger, aber vernünftiger investiert. Dann hätte er sich und den Seinen das Paradies auf Erden bauen können, anstatt auf das jenseitige zu hoffen. 312 Hellmuth Ammerlahn geht mit seiner These, der Graf halte Wilhelm für einen Engländer und deute an, Shakespeare sei Meisters geistiger Vater (Goethe und Wilhelm Meister (Anm. 66 ), 61 f., nicht nur der altersschwachen Fabulierlust des Adligen auf den Leim. Auch dass Wilhelm die Bühne verlassen soll und überhaupt Jarnos Einladung zur Shakespeare-Lektüre ganz falsch versteht, spricht dagegen. <?page no="93"?> 93 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Mignon und der Harfner 2.3.4 Mignon und der Harfner Bleiben Mignon und der Harfner. Viel ist über sie geschrieben worden. Dabei hat man immer wieder dafürgehalten, sie brächten den Mythos in die profane Welt des Turms zurück. Die Forschung verwies darauf, dass der Harfner, der während des Theaterbrands Felix töten will, an die biblische Opferung Isaaks durch Abraham gemahne und überdies die »tragische Schuld« 313 des Fatums erfahrbar mache. Mignon in der Rolle der Erminia zitiere hingegen Tassos Jerusalem (vgl. HA 7, 227), als »Mänade« (326) erinnere sie an die griechische Antike und als androgynes Wesen an Platons Symposion mit seinem Mythos von den Kugelmenschen. Die Frühromantiker, die bei dem Mädchen das im Roman lange vermisste Prinzip der Einbildungskraft berücksichtigt glaubten, brachten andere Lesarten auf den Weg. Zur »heilige[n] Familie der Naturpoesie« 314 machten sie Mignon und ihren Vater, und als Sänger- Dichter, Genius oder »Poesiekind« 315 haben beide in diesem Sinne in der Forschung Karriere gemacht. Warum sollte Mignons ungeklärte Herkunft außerdem nicht auf unvordenkliche Abstammung weisen, so dass das elternlose Mädchen das Motiv des Goldenen Kindes aufrufe, das alttestamentliche Prophetie oder Vergils Bucolica angekündigt hatten und von dem sich romantische Eschatologie die schöne Synthese von Vernunft und Sinnlichkeit und die neue Götterwelt einer restituierten Totalität erhoffte. Denn zumindest für Mignons mythopoetische Bedeutsamkeit schien Goethes Bemerkung zu bürgen, der ganze Roman sei nur »dieses Charakters wegen geschrieben« 316 . Und weil Goethe die Lehrjahre 1821 zudem als »durchaus symbolisch« bezeichnet und gemeint hatte, »daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeineres, Höheres verborgen liege« 317 , suchte man Mignon schließlich als Symbol absolut-poetischen Geistes zu deuten. Zu dessen Unvordenklichkeit, die aller Erkenntnis entrückt ist, schien das »Rätsel« (98) Mignon ebenso zu passen wie die Tatsache, dass sich Wilhelm »bei ihr nichts Bestimmtes denken« (110) kann. 318 Doch hier wie auch sonst zeigt sich: Es gibt kein Rätsel. Den schönen Schein unterläuft der Roman, indem er sowohl die Sonderbarkeiten als auch die Lieder Mignons realistisch-empirisch - und das heißt wiederum: psychologisch - als Symptome einer Krankengeschichte motiviert, nachvollziehbar erklärt und so von der mythologischen Phantastik befreit. Unvordenklich sind also weder das Mädchen noch seine Dichtung begründet, und damit ist es ebenso wenig 313 Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre (Anm. 70 ), 76 . 314 Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister (Anm. 9 ), 354 . 315 Monika Fick: Scheitern des Genius (Anm. 282 ), 160 . Im Allgemeinen gilt Mignon als Allegorie der Kunst. Hellmuth Ammerlahn (»Wilhelm Meisters Mignon - ein offenbares Rätsel. Name, Gestalt, Symbol, Wesen und Werden«. In: DVjs 42 ( 1968 ), 89 - 116 ) versteht Mignon als Wilhelms Spiegelbild und betont die Bindung Mignons an die Sphäre des Theaters. Monika Fick (Scheitern des Genius, 86 ) liest Mignon als Figuration des »schöpferische[n] und zugleich unbegreifliche[n] Lebens, das sich in Wilhelm regt«. Franziska Schößler (Goethes ›Lehr‹- und ›Wanderjahre‹, Anm. 70 , 67 f.) meint, das »androgyne Wesen Mignon [sei] als innere Gestalt Wilhelms, als sein inneres Bild« seiner künstlerischen Bestimmung konzipiert, die er jedoch »in den ›Lehrjahren‹ nicht mehr zu realisieren vermag«. Per Øhrgaard (Die Genesung des Narcissus, Anm. 48 68 ) erblickt in Mignon den Ausdruck der narzisstischen »Traumen« Wilhelms. Ebenso deutet Achim Aurnhammers Studie Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur (Köln 1986 ) Mignon als narzisstische Selbstspiegelung Wilhelms, der »seine Existenz in einem anderen Wesen [Mignon] so klar« ( 67 ) wiedererkenne. 316 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 16 . 317 Ebd., 51 . 318 Das kann er freilich so gut wie nie, weshalb seine Ahnungslosigkeit nicht mit transzendentalkritischen Problemen zu verwechseln ist. Monika Fick (Scheitern des Genius, Anm. 282 , 93 ) spricht dennoch von der »Rätselgestalt« Mignon. <?page no="94"?> 94 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« ein gottbegnadeter Genius wie ein Goldenes Kind, und auch in die transzendentale Idee von Naturpoesie sollte man es angesichts seiner psycho-neurotischen Leiden nicht auflösen. Wilhelm nimmt die Plausibilität des Faktischen freilich nicht zur Kenntnis. Dass er sich bei Mignon ›nichts Bestimmtes denken‹ kann, will in diesem Sinne nur sagen: Er kann sich keinen Reim auf das vermeintliche Rätselkind machen. Seine Ahnungslosigkeit stammt aber von seiner Begriffsstutzigkeit her, nicht von einem Intelligiblen. Mit Goethes Symbolbegriff, der zumal erst 1807 in der bekannten Formel ausgearbeitet wurde, hängt Mignon also nicht zusammen. ›Symbolisch‹ meint in der Abfassungszeit der Lehrjahre weniger emphatisch das Verfahren typologisch-objektiver Dichtung, das jedes Besondere zum Repräsentanten vieler gleicher Fälle oder kurz: eines Allgemeinen oder einer Klasse macht - und das trifft auf Mignon, den Typus der unerfüllt und weltverneinenden Sehnsüchtigen, ebenso zu wie auf alle Personen des Romans. 319 So wird sich Goethes Interesse an Mignon viel eher an ihrer Rolle beim Untergang aller Bilder festmachen lassen. Am Mädchen und seinem Tod wird ein Doppeltes demonstriert: Erstens überhaupt das Ende der lyrischen, also sehnsuchtsvollen, Poesie in der Moderne, zweitens aber, wie eine Person als Rätselbild eingeführt und in einem Anteil am Romangeschehen, wie ihn größer nur Wilhelm besitzt, nach und nach völlig durchschaubar gemacht werden kann. Es liegt auf der Hand, an eine Variation des Geheimnisthemas zu denken, dessen Wirkung auf die Einbildungskraft der Turm bei der Verleihung des Lehrbriefs diskutierte. Ziel der Sozietät war es, ihre ökonomische Nüchternheit hinter der Aura des Geheimnisvollen zu verbergen - »[W]enn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter« (HA 8, 150) - und zugleich »alle [ … ], die nicht auf ihre Füße gestellt sein wollten, [ … ] mit Mystifikationen und anderm Hokuspokus« beiseite zu bringen (549). Der Strategie des Turms entspricht das Vorgehen des Romans. Denn auch die Mignon-Figur demonstriert bis heute, dass und wie sehr Esoterik die Einbildungskraft zum Glauben an Tiefsinniges anhalten kann - aller Erklärbarkeit zum Trotz, mit der die Lehrjahre , anders als der Turm, ja keineswegs hinter dem Berg halten. Wird aber der schöne Schein durchgestrichen, zeigt sich im Gegenteil, dass Mignon und der Harfner keinen Platz in der Moderne besitzen und als Relikte einer vergangenen Zeit fungieren, in der man von Dichtung, Schicksal, Glauben und Teufel noch überzeugt war. Mignons Tod und Begräbnis in des Oheims ›Saal der Vergangenheit‹ (vgl. 544) bezieht von daher seine vielsagende Bedeutung. Am ehesten lässt sich Mignon anhand ihrer Herkunft begreifen. So groß ist die Wirkung von Mignons Italienlied, dass schon die Romantiker darüber hinwegsahen, dass sich jenes Land der Zitronen für das Mädchen als Ort einer argen Familiengeschichte entpuppt, bei der die katholische Kirche Mutter und Vater rücksichtslos in den Wahnsinn treibt. Die religiösen Zwangsideen, die allesamt von kirchlichem Machtmissbrauch eingeimpft sind, bezeugen damit eine »Vorstellungsart«, die »zu unserm Besten« (71) kaum sein kann. Nichts hält der Roman von der Nähe zur Religion und scheint schon die spätere romantische Begeisterung für den Katholizismus kritisch in den Blick zu nehmen. Wie die Sperata-Geschichte darlegt, ist Mignon aus dem Inzest der Geschwister Sperata und Augustin, des späteren Harfners, hervorgegangen. Die Kirche bestraft das Vergehen unnachgiebig, zumal Augustin, der Mönch, durch die Beziehung auch gegen sein Keuschheitsgelübde verstieß. Die gläubige Sperata treibt der skrupellose »Geistliche« (586) in alle Höllen des schlechten Gewissens. 319 Vgl. zum Begriff von Typologie und Symbol das Kapitel 2 . 2 des Goethe-Teils. <?page no="95"?> 95 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Mignon und der Harfner Aus Trauer über den Tod ihres Kindes, den man ihr vorgaukelt, verliert sie den Verstand. Die Kirche bleibt davon unbeeindruckt und weiß noch den Tod der Wahnsinnigen in einen Heiligenkult umzufunktionieren (vgl. 592). Augustin, dem Vater, hatte man den Umgang mit Frau, Kind und Verwandten schon länger verboten (vgl. 589). Im Kloster wird er von der Welt abgeschottet. Doch Trennungsschmerz und die Furien des schlechten Gewissens verfolgen auch ihn. Einen ihm mit dem Messer drohenden Knaben glaubt er an seinem Bett stehen zu sehen, die gestaltgewordene Anklage des vom Vater verlassenen Kindes. Augustin ist überzeugt: »[A]lle Schuld rächt sich auf Erden« (136). Der Tod durch einen »unschuldigen Knaben« (437) stehe ihm bevor. Fliehen will er also, »immer in Bewegung« sein, und er deutet selbst auf sein späteres Wanderleben: Noch besser als im Kloster hin- und herzugehen, wäre es, »über Berg und Tal so zu wandeln« (590). So gelingt ihm eines Tages die Flucht, und um ein Haar fällt seiner Kinderangst beim nächtlichen Brand der junge Felix zum Opfer. Der Harfner wähnt, sich durch die Ermordung des Jungen von der Bedrohung zu befreien, die von »himmlischen Mächte[n]« (136) über ihn verhängt worden sei. Noch als es später scheint, Felix habe vom Glas mit vergifteter Mandelmilch getrunken, ist sich Augustin sicher: »[I]ch wußte wohl, daß ich den Knaben töten würde, und er mich« (603). Doch derlei Schicksalsglauben ist kein antikes Fatum, sondern Wahn. Von der Wirklichkeit wird er konterkariert. Felix hat aus der Flasche getrunken und lebt, und nicht tragisch, sondern ganz unnütz ist der Selbstmord, den Augustin aus Verzweiflung begeht. Auch ästhetisch ist der Schicksalsglaube übrigens verjährt. Wilhelm, Serlo und die Mitglieder der Schauspieltruppe hatten über die Unterschiede zwischen Roman und Drama diskutiert. Man meint, daß man dem Zufall im Roman gar wohl sein Spiel erlauben könne, daß er aber immer durch die Gesinnungen der Personen gelenkt und geleitet werden müsse; daß hingegen das Schicksal, das die Menschen, ohne ihr Zutun, durch unzusammenhängende äußere Umstände zu einer unvorgesehenen Katastrophe hindrängt, nur im Drama statthabe; daß der Zufall wohl pathetische, niemals aber tragische Situationen hervorbringen dürfe; das Schicksal hingegen müsse immer fürchterlich sein [ … ] (308). Im Roman begegnen nur Zufälle, deren Meister - ganz im Sinne des Turms - der Mensch bleibt. Wohl mögen sie rühren. Doch kein Schicksal bezeugen sie, dem das Drama seine Protagonisten noch auslieferte. Schon als Roman machen die Lehrjahre also darauf aufmerksam, dass sie keine Tragik mehr enthalten. Wenn die Forschung dem Turm übelgenommen hat, nach dem blutigen Selbstmord des Harfners zu schnell zur Tagesordnung überzugehen, muss man daher auch die Gesellschaft verstehen. Schon einmal (vgl. 602) rettete man den Harfner von den Folgen eines Selbstmordversuchs und suchte ihn davor durch Erziehung zu Tätigkeit und Vernunft von Melancholie und Wahn zu heilen (vgl. 346). Nun aber hat ihn die Gesellschaft als einen hoffnungslosen Fall aufgegeben. Auch Mignon kann der Turm nicht helfen. Das Mädchen, das zunächst bei Sperata aufwuchs, nimmt man der immer kränker werdenden Mutter schließlich fort. Pflegeeltern, »gute [ … ] Leute [ … ] unten am See« (587), dem Lago Maggiore, ziehen es auf, und in »der mehrern Freiheit, die es hatte, zeigte sich schon bald seine besondere Lust zum Klettern« (ebd.). So fällt Mignon der italienischen Gauklertruppe auf. Ein Kind, das sich »mit aller Geschicklichkeit bewegen« (586) kann, »auf den Rändern der Schiffe« (587) zu balancieren und den »Seiltänzern, die sich manchmal in dem Orte sehen ließen, die wunderlichsten Kunststücke nachzumachen« (ebd.) weiß, wäre eine artistische Attraktion. Aus ökonomischem Kalkül entführt die Truppe also kurzerhand das Kind, und um Nachforschungen <?page no="96"?> 96 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« vorzubeugen, täuscht man vor, es sei im See ertrunken (vgl. 588). Im Kreise der Gaukler ergeht es Mignon schlecht. Nur die artistische Pflichterfüllung zählt, und harte Züchtigungen sind an der Tagesordnung (vgl. 103). Doch Mignon leidet besonders unter der Entwurzelung und dem Verlust der Eltern, vornehmlich des Vaters. Ihr durchaus sinnliches Verlangen nach Vater und Heimat - übrigens auch nach Gott, an den sie der Mutter Katholizismus verwies und der in der Idylle der arkadischen Götterlandschaft als ›Vater Äther‹ verbrämt ist - artikuliert sie in Liedern, in denen sie Italien, faute de mieux und aller familiären Not zum Trotz, als Sehnsuchtsziel und verlorenes Paradies inszeniert. Das Mädchen verkörpert den Geist der lyrischen Poesie, die in - freilich nur vorgeblich - naiver Natürlichkeit die Sehnsucht singt und von Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als »Wörterbuch der Seele« 320 und Qualität der Ursprache ausgezeichnet worden war: »Was so viele Alten sagen und so viel Neuere ohne Sinn nachgesagt, nimmt hieraus sein sinnliches Leben: ›daß nämlich Poesie älter gewesen als Prosa! ‹ denn was war diese erste Sprache als eine Sammlung von Elementen der Poesie? « 321 Was als vorreflexive Unmittelbarkeit erscheint, hatte Schiller in seinen gattungstheoretisch und anthropologisch relevanten Begriff des ›Naiven‹ moduliert, bevor es bei Friedrich Schlegel und anderen als transzendentale Idee der Naturpoesie wiederkehrte. Dennoch ist Mignon der zeitgenössischen Theorie nicht ohne weiteres zu subsumieren. Dem Mädchen fehlt zwar zweifellos eine Reflexionsebene, die es in Schillers Sinne als sentimentalisch oder seine Lieder als Kunstpoesie ausweisen würde. Mignon denkt nicht, sie fühlt, und nicht sie, sondern Wilhelm fasst in Worte, was sie singt. Aber die Lehrjahre lassen keinen Zweifel daran, dass die scheinbare Natürlichkeit des Mädchens keineswegs organisch gewachsen, sondern das krankhafte Produkt einer traurigen Familienhistorie ist. Mignons ist damit ebenso wenig ein Kind idyllisch-freier Unmittelbarkeit wie ein Genius. Denn ihre Gesänge zeugen nicht von unvordenklicher Begabung, sondern folgen von frühester Jugend bis zur Pubertät einer historischen Genese, die von den sich verschärfenden Stadien einer psychologischen Krankengeschichte berichtet. Mignons Lieder sind ganz empirisch ihrem Schmerz über den Verlust geschuldet, der sich in ihnen auf ähnliche Weise eine kathartische Linderung verschaffen mag, wie auch die Lieder des Harfners zeitweilig Wilhelms Gemüt beruhigten. So deuten im berühmten Italienlied »Zitronen«, »Goldorangen«, »Myrte«, »Haus«, »Säulen« und »Marmorbilder«, »Fels« und »Flut« (145) zunächst weniger auf Mythologisches als auf durchaus konkrete Bruchstücke der erinnerten Lebenswirklichkeit, wie sie der Bericht des Marchese später nennt: Auf das »Landhause in der Nachbarschaft« mit seinen »Säulen« und »Statuen« (587), wo Mignon oft spielte, auf die »Spaliere [ … ]« mit »Zitronen«, »Pomeranzen« und »zierliche[r] Myrte« (583) sowie auf den »Gießbach« (588), in den das Kind »beim Klettern zwischen den Felsen« (ebd.) gefallen zu sein schien. Ihre Vatersehnsucht, die schon erotische Züge trägt und die sie im Lied als Sehnsucht nach einem »Geliebte[n]« und »Beschützer« (145) variiert, projiziert Mignon ebenso auf Ersatzvorstellungen. An ihren Entführer schließt sie sich an, in dem sie schon ihren Vater zu sehen glaubt (vgl. 98). Doch der Italiener ist nicht an ihr, sondern nur an ihren Kunstfertigkeiten interessiert, die er mit harter Zucht eintrainiert. Die verzweifelte Mignon nennt ihn nur den »großen Teufel« (98). Da gerät sie an Wilhelm. Er kauft sie den Gauklern ab und will sie an Kindes statt annehmen. Das Mädchen ist überglücklich über den 320 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Ders.: Werke in zwei Bänden, hg. v. Karl-Gustav Gerold, München/ Wien 1953 , Bd 1 , 733 - 830 , hier 770 . 321 Ebd. <?page no="97"?> 97 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Mignon und der Harfner neuen »Vater« (144). Er verspricht Mignon die so lange schmerzlich vermisste »Liebe« und »Treue« (142). Bis zur Selbsterniedrigung ist sie bereit, alles für seine Anerkennung zu tun: »Ich will dienen« (106) gelobt sie. Mit Gesten gibt sie zu verstehen, wie gut es ihr zunächst mit der neuen Bezugsperson geht. Einen neuen Gruß »mit über die Brust geschlagenen Armen« (110) hat sie sich, so scheint es, für Wilhelm ausgedacht. Doch es handelt sich nicht nur um eine Laune. Mignon imitiert die aus dem Mittelalter überkommene Gebetshaltung von Priester oder Mönch 322 und bezeugt jenseits aller Rätselhaftigkeit, dass sie sich, wenn nicht eine Erinnerung an ihren Vater Augustin, den Mönch, so doch an den geistlichen Betreuer ihrer Mutter Sperata bewahrt hat. »Jugendeindrücke verlöschen nicht« (514), auch nicht bei Mignon. Doch die Reminiszenz an den Anschein von frühem Kinderglück befördert keine heitere Gegenwart. Schon bald zeigt Mignon ernste psychische Deformationen, die sich recht gut beschreiben und bestimmen lassen. Sperata war zunächst »in dem kleinen Geschöpfe« (586) Mignon »ganz glücklich« (ebd.) gewesen. Unter dem Einfluss des Geistlichen, der aus religiösem Eifer bei ihr die Entstehung eines schlechten Gewissens befördert, ändert sich das. Die mütterliche Fürsorge weicht einem »traurige[n] Verhältnis zu dem Kinde« (587), in dem sich der »Abscheu« (ebd.) vor dem Inzest, den der Geistliche in ihr erregt, ausdrückt: Jämmerlich war es anzusehen, wie die Mutterliebe, die über das Dasein des Kindes sich so herzlich zu erfreuen geneigt war, mit dem schrecklichen Gedanken stritt, daß dieses Kind nicht da sein sollte. Bald stritten diese beiden Gefühle zusammen, bald war der Abscheu über die Liebe gewaltig (ebd.). Die Vorbehalte und der Ekel der Mutter übertragen sich auf das Kind. In Mignon festigen sie die Überzeugung, mit einem Makel behaftet zu sein. Darin darf man den Grund für den Waschzwang sehen, mit dem das Mädchen später bei Wilhelm und den Schauspielern Bestürzung auslöst. Denn weil Mignon sich auch ohne konkreten Anlass häufig säubert - Wilhelm »fand sie oft, daß sie sich wusch. Auch ihre Kleider waren reinlich [ … ]« (110) -, spricht aus ihrer verbissenen Reinlichkeit nicht, wie es den Schauspielern einmal scheint, die nur ungeschickt umgesetzte Absicht, die farbige Schminke zu entfernen, sondern das panische Bestreben, sich von der alten Befleckung reinzuwaschen: Sie [Mignon, M. K.] stelle sich oft an ein Gefäß mit Wasser und wusch ihr Gesicht mit so großer Emsigkeit und Heftigkeit, daß sie sich fast die Backen aufrieb, bis Laertes durch Fragen und Necken erfuhr, daß sie die Schminke von ihren Wangen auf alle Weise loszuwerden suchte und über dem Eifer, womit sie es tat, die Röte, die sie durchs Reiben hervorgebracht hatte, für die hartnäckigste Schminke halte (107). Da das Kind von der Mutter nicht uneingeschränkt geliebt und schließlich sogar weggegeben wird, wendet es sich - obwohl es in Fragen der Religion stark von ihr geprägt bleibt - kategorisch von ihr ab. Nirgends berichtet der Roman, dass es sich nach ihr sehne. Das Verlangen nach Liebe und familiärer Harmonie projiziert es stattdessen auf den fehlenden 322 »[On rencontre] l’attitude des bras place´s en forme de croix sur la poitrine [ … ] assez souvent a` partir du XII e sie`cle. [ … ] [Ce geste] exprime bien la supplication. Aussi les rubriques de certains missels du moyen aˆge prescrivaient-elles au preˆtre de garder cette attitude pendant la prie`re Supplices te rogamus du canon de la messe, et c’est encore celle que prend le ce´le´brant, chez les Chartreux, a` ce moment des saints myste`res. De nos jours, la meˆme position des bras (brachiis ante pectus decussatis) est observe´e, dans diverses congre´gations be´ne´dictines, par le profe`s au moment ou` il s’agenouille au pied pour chanter les paroles: Et non confundas me ab expectatione mea [ … ]« (Louis Gougaud: De´votions et pratiques asce´tiques du moyen aˆ ge, Paris 1925 , 19 f). <?page no="98"?> 98 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Vater. Ihn glaubt es fortan in männlichen Personen vor sich zu haben, in deren Obhut es gegeben ist. Ihrer Autorität ordnet es sich bedingungslos unter. Was bei Mignons Entführer zu keiner tieferen Beziehung führte, scheint sich hingegen bei Wilhelm zunächst zu erfüllen: Er erwidert ihre Zuneigung und schwört sogar, sie nie zu »verlassen« (194). Die familiäre Harmonie, die Mignon nie erlebt hat, bedeutet ihr alles. Nicht schon wieder will sie verlassen werden, und so werden ihre Versuche verständlich, Wilhelm von Philine, Theater und Therese, kurz: von allem fernzuhalten, was ihn ihr entfremden muss. Aber auch sie selbst tut alles, um Wilhelms »Kind« (144) zu bleiben. Um die Ablösung vom Vater sowie die Übernahme einer eigenen Identität und - sexuellen - Selbstbestimmung zu verschieben, wohl aber auch aufgrund der idealisierten väterlichen Männlichkeit verweigert die Pubertierende - Mignon ist »zwölf bis dreizehn Jahre« (98) alt - ihre Geschlechterrolle. Mit dem neuen Vater will sie sich auf diese Weise eng verbunden wissen: »Mignon hielt sich fest an Wilhelm und sagte mit großer Lebhaftigkeit: ›Ich bin ein Knabe: ich will kein Mädchen sein! ‹« (207) Schon so weit hat sich Mignon ihrem Geschlecht entfremdet, dass kaum mehr zu entscheiden ist, ob man »sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte« (91). Denn zwar ist ihr »Körper [ … ] gut gebaut« (98), aber ihre »Glieder« scheinen einen »stärkern Wuchs« zu versprechen oder einen »zurückgehaltenen« (ebd.) anzudeuten. Mignon ist nicht altersgemäß entwickelt. Die Aura der Androgynität, die Mignon umgibt, lässt nicht auf Mythisches schließen, sondern auf eine nicht bewältigte Identitäts- und Autonomiekrise. In dieser Lage kommt Mignon entgegen, dass sie seit ihrer Jugend zum Tragen von Jungenkleidung disponiert war. Um ihrer Kletterlust leichter nachkommen zu können, »liebte sie, mit den Knaben die Kleider zu wechseln«, obwohl das »von ihren Pflegeeltern höchst unanständig und unzulässig gehalten wurde« (587). Was sich nicht ziemt, ist dennoch zweckmäßig, und so zeigt sich wie schon bei Therese und Natalie, dass Frauen in Männerkleidung nicht Amazonen sind, sondern kurzerhand dem Gebot des Praktischen folgen. Doch der Pubertät ist nicht auszuweichen. Mignon - eigentlich die auf eine Form höfischer Freundschaft zurückgehende Bezeichnung für einen Lustknaben am französischen Königshof 323 - entwickelt sich erotisch zu ›la Mignonne‹. Die allzugroße Nähe zum Ersatzvater führt zur Ausbildung inzestuös-ödipalen »Verlangen[s]« (522). Mignons Italienlied, das Wilhelm als »Geliebte[n]« (145) apostrophiert, aber schon der Eiertanz, ein »Fandango« (116), bezeugen erotische Faszination: Mignon hat sich für Wilhelm einen »der ältesten, feurigsten spanischen Werbetänze« 324 ausgesucht. Nach der geglückten Hamletpremiere kommt es fast zum Tabubruch. Der Arzt berichtet, dass Mignon, ermutigt durch Philines lockere Reden und die allgemeine Ausgelassenheit, den »Mut [fühlte], das Wagestück zu versuchen und sich jene Nacht bei Ihnen [Wilhelm, M. K.] einzuschleichen« (523 f.). Kein Mythos, sondern die »lebhaft und gewaltsam« (523) empfundene Leidenschaft lässt Mignon daher in der Vorfreude auf den erotischen Genuss wie eine »Mänade« (326) rasen, und der Vergleich weist dabei darauf, dass den Anwesenden Mignons Benehmen, dessen Grund sie nicht kennen, fremd erscheint. Die Kraft des Gefühls ist es auch, durch die das Mädchen Wilhelm in den Arm beißt (vgl. 327): Was die Psychologie heute als Inkorporationsphantasma bezeichnet, ist Ausdruck der Wollust, wie ihn die Redewendung ›jemanden zum Fressen gern haben‹ schon lange in Worte fasst. Nur der Zufall verhindert nun noch den geplanten Akt: Philine kommt Mignon zuvor (vgl. 525) und schleicht sich, weiß gekleidet, 323 Vgl. Kommentar MA 5 , 736 . 324 Ebd., 739 . <?page no="99"?> 99 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Mignon und der Harfner als Erste in Wilhelms Zimmer. Nun aber weiß Mignon, dass sie den Kampf um den Vater verloren hat, den sie mit Sorge und »Eifersucht« (524) führte. Ein zweiter Herzkrampf - die Rede ist von »entsetzlichen Zuckungen« (524) - ereilt sie, nachdem sie aus Schreck über Wilhelms Ankündigung, fortreisen zu wollen, bereits einen ersten erlitten hatte und mit einem Griff »nach dem Herzen« (143) auf einmal »mit krampfigen Bewegungen des Körpers« (ebd.) niedergesunken war. Aus Schmerz darüber, den Vater nicht halten zu können, der in Felix und Therese eine neue Familie zu gewinnen scheint und Mignon darüber in die Obhut des Turms abschiebt, geht es dem Mädchen zunehmend schlechter: Ihr Herz [ … ] fing auf einmal an zu stocken und drückte wie eine bleierne Last ihren Busen, sie konnte nicht zu Atem kommen, sie wußte sich nicht zu helfen [ … ] (524). Mignon leidet - so deutet das Verb ›drücken‹ an - an Depressionen und, damit einhergehend, an Beklemmung und Angstzuständen. Das deutsche Exil und der drohende Verlust des Vaters setzen ihr zu. Nun sucht ihr der Turm zu helfen. Insbesondere Natalie, der Abbe´ und der Arzt verstehen sich auf die Behandlung von Melancholikern, die sie mit Erfolg (vgl. 335) durchführen und auch - freilich dann vergeblich - beim Harfner anwenden: Man errege ihre [der Kranken, M. K.] Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind, so wird sich kein Wahnsinn einschleichen, und, wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden (346 f.). Natalie, die eine Einrichtung zur Erziehung junger Mädchen leitet (vgl. 514), kümmert sich um Mignon. Eine »Spur der heilsamen Lebensregung« (513) soll ihr zurückgegeben werden. Zu Tätigkeit und Hilfsbereitschaft in Natalies Sinne hält man sie an und beginnt eine Erziehung zur Vernunft, durch die ihre »fremden, ungehörigen Begriffe« (514) von der Welt »an einen richtigen« (ebd.) angeknüpft werden. Doch die Pädagogik des Turms scheitert an der renitenten Patientin. Wilhelm gegenüber, der Mignon auf »weitere Bildung« verpflichten will, erklärt sie: »Ich bin gebildet genug, [ … ] um zu lieben und zu trauern« (488). Und sie fügt hinzu: »Die Vernunft ist grausam, [ … ] das Herz ist besser« (489). 325 Sie wird sich zu Tode sehnen, anstatt in der Welt Fuß zu fassen. So nimmt sie aus Natalies Pädagogik nur, was sie ihrer Sehnsucht integrieren kann. Aus einem Mummenschanz, den die areligiöse Natalie als Diatribe auf christliche Legenden von Engels- oder Christuserscheinung inszeniert (vgl. 514), behält sie eine Vorliebe für das Tragen von Engelskleidern zurück. Mit einer Lilie in der Hand und als Engel mit »weiße[m] Gewand« (525) gekleidet, scheint sie Ruhe zu finden. Doch rein christlich ist die Verkleidung nicht motiviert. Das Mädchen projiziert auf die geschlechtslosen Gottesboten, die »nicht nach Mann und Weib« (516) fragen, seine Probleme mit der Geschlechterrolle. Und wohl hätte Mignon gern, dass ihr Herz »so rein und offen« (515) wäre wie die Lilie und Pflanzenallegorese unbefleckter Empfängnis. Ein frommer Wunsch. Zwar ist das Mädchen jungfräulich geblieben. Doch das weiße Gewand verrät Mignon: Bevor sie sich in der bewussten Nacht in Wilhelms Zimmer hatte schleichen können, war Philine als »ein weißes weibliches Wesen« (524) an ihr vorübergehuscht. Das Verlangen nach dem Vater mischt sich mit der christlichen Mythologie - und bringt Mignon, die »mit Eifer an der katholischen Religion« (577) hängt, zuletzt noch ein schlechtes Gewissen ein. 325 Hans-Jürgen Schings: Natalie (Anm. 64 , 60 ) meint, dass Mignon spinozistisch rede. Dabei verweigert sie sich nur der besseren Einsicht. <?page no="100"?> 100 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« So zerstörerisch wie bei ihrer Mutter wird es nicht. Dennoch liegt der Hinweis auf Sperata nahe, deren katholische Neigung Mignon zur religiösen Empfänglichkeit disponierte. Äußeres Zeichen ist ein Kruzifix, das - durch Sperata, durch Mignon selbst? - auf den Arm des Kindes tätowiert wurde (vgl. 577). 326 Biblischer Bildlichkeit - »Jugendeindrücke verlöschen nicht« (512) - bleibt das Mädchen daher auch treu, als die Seiltänzertruppe sie aus Italien nach Deutschland verschleppt. In ihrer Verzweiflung meint sie, »die Mutter Gottes« sei ihr erschienen und habe »göttliche [ … ] Hülfe« (522) versprochen. Wie bei Sperata (vgl. 591) macht sich auch bei ihrer Tochter Kummer in Visionen Luft. An die Religionskritik des Unbekannten - aus dem Gespräch mit Wilhelm - gemahnt, dass solch übererregte Einbildungskraft »zu unserm Besten« (71) nicht sein kann. Denn um sich des Beistands der Gottesmutter zu versichern, hat Mignon ein Schweigegelübde abgelegt. Der Arzt berichtet: Es [das Mädchen, M. K.] schwur darauf bei sich selbst einen heiligen Eid, daß sie künftig niemand mehr vertrauen, niemand ihre Geschichte erzählen und in der Hoffnung einer unmittelbaren göttlichen Hülfe leben und sterben wolle (522). Mignons Schweigen über ihre Herkunft und Familiengeschichte mochte, zumal poetisch ins Lied Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen (356) gefasst, den Charme eines Mysteriums besitzen. Doch Mignons Motiv nennen die Lehrjahre . Es entpuppt sich als religiöser Schwur einer Verzweifelten, wenn man will, als Folge von Einbildung oder als Aberglaube. Hätte Mignon doch nur geredet. Sehr wahrscheinlich, dass der Turm aus ihren Angaben die Identität und Vaterschaft des Harfners - von der man nur Bruchstücke vermutet (vgl. 437) - und damit Mignons Familie hätte rekonstruieren können. So aber bleibt Mignon der Religion treu, und da sie auf Erden keine Besserung mehr erwartet, transponiert sie ihre unerfüllten Sehnsüchte ins glückliche, ätherische Jenseits (vgl. 515 f.). Als Engel träumt sie von einem jenseitigen »Haus« (ebd.) ohne »Schmerz« und »Kummer« (516) und sieht selbst bereits »völlig aus wie ein abgeschiedner Geist« (525). Damit macht der Roman historische Formen der Religiosität - Mythologie, Katholizismus, Pietismus - als psychopathologische Reflexe eines Leidens und als Trost für Zukurzgekommene durchsichtig. Dass dabei die Tendenz zur Weltflucht in der tätigen Moderne durchaus kritisch gewertet wird, macht neben Mignon vor allem die Stiftsdame augenfällig. Sie ist eine Verwandte der Turmfamilie. Zum Pietismus disponierten sie körperliche Kränklichkeit und Enttäuschungen des Herzens. 327 Nicht von dieser Welt scheint ihr daraufhin das Glück. Dennoch würdigt sie das sechste Buch des Romans: Pietistische Innerlichkeit wird als Substrat transzendentaler Selbstbesinnung und damit des modernen Bewusstseins expliziert. Freilich kann der Turm mit derlei Rückzug aus der Welt nichts anfangen. 328 Das sechste 326 Dass die Tätowierung bei Mignon jedenfalls im frühen Kindesalter vorgenommen wurde, beweist die Tatsache, dass der Marchese seine Nichte an diesem Zeichen wiedererkennt, obwohl er sie seit Jahren nicht gesehen hat (vgl. 577 f.). 327 Der Pietismus wird also von Goethe nur ironisch - als Trost für Zukurzgekommene - erinnert. Vgl. dazu Friedrich Strack: »Selbst-Erfahrung oder Selbst-Entsagung? Goethes Deutung und Kritik des Pietismus in Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Verlorene Klassik? Ein Symposium, hg. v. Wolfgang Wittkowski Tübingen 1986 , 52 - 73 . 328 Übrigens auch Wilhelm nicht. Dass die Bekenntnisse für ihn zu einer »Verständigungslektüre unter Gleichgesinnten« werden, der Meister entnehmen könne, dass »das Streben nach Selbstausbildung« auf die Möglichkeit verweist, am »exemplarischen Bildungsweg anderer zu lernen« (Ortrud Gutjahr: »Theatralität und Innerlichkeit. Zur Bildungsfunktion der ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹ in Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹«. In: Neue Einblicke in Goethes Erzählwerk, hg. v. Raymond Heitz und Christine Maillard, Heidelberg 2010 , 45 - 69 , hier 62 ), dementiert schon Wilhelms Weigerung, sich überhaupt zu etwas zu bestimmen. <?page no="101"?> 101 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Mignon und der Harfner Buch ironisiert Bekenntnisliteratur seit Augustinus: Besser als Introspektion sei allemal zupackende Tätigkeit, und zu dieser Einsicht sucht die Stiftsdame des Oheims ästhetische Erziehung vergeblich zu überreden. Auch Mignon hält nun nichts mehr in der Welt. Schon gilt für sie, was der Marchese über die letzten Tage ihrer Mutter Sperata erzählt: »Auf keinen irdischen Gegenstand richtete sie ihr Aufmerksamkeit mehr [ … ], und ihr Geist machte sich nach und nach von den Banden des Körpers los« (591). Zuletzt verweigert sie die Nahrungsaufnahme. »[A]ufgezehrt« (513, ebenso 508) werde sie nun »von wenigen tiefen Empfindungen« (513), berichten Lothario und Natalie, und zusehends verfällt ihr Körper. Des Arztes Mahnung, das Mädchen »sowohl körperlich als geistig im Gleichgewicht« (525) zu halten, kommt zu spät. Mignon zeigt mit Energiemangel und Erschöpfung bereits die fortgeschrittenen Symptome der Auszehrung: Sie hing sich beim Spazierengehen, da sie leicht müde ward, gern an seinen [Wilhelms, M. K.] Arm. ›Nun‹, sagte sie, ›Mignon klettert und springt nicht mehr [ … ].‹ (528). An der enttäuschten Vaterbezogenheit stirbt sie zuletzt. Schon hatte sie mit ansehen müssen, dass Felix ein vermeintlich größeres Anrecht auf Wilhelms Vaterschaft besaß als sie. Doch vollends zerbricht ihre Hoffnung auf die Ersatzfamilie mit Thereses Ankunft. »Mutter Therese« (543) nennt Felix die tätige Frau, und mit den Worten »Freund« und »Gatte« (544) wendet sie sich an Wilhelm. Eine neue Familie, so scheint es, hat sich gebildet, zu der Mignon nicht gehört. Das liebende Interesse des Vaters hat sie endgültig verloren. An einer letzten Herzschwäche stirbt die schon Entkräftete: Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens Füßen für tot nieder (544). Dass aber Mignon an - durchaus auch erotisch - gebrochenem Herzen stirbt, ist nicht tragisch, sondern überflüssig. Mignon wird das Opfer der »zerstörende[n] Gewalt« (525) der Einbildungskraft. Ebenso wenig wie beim Harfner waltet hier ein Schicksal, dem der Mensch hilflos ausgesetzt wäre. Vielmehr zeigt sich: Mit etwas Vernunft hätten sich die Zufälle des Lebens »leiten« und »nutzen« (71) lassen. Das Leben ist zuletzt machbar. Auf irdische, nicht auf himmlische Hilfe hätte Mignon vertrauen sollen. Dann hätte sie ihren Vater, den Harfner, lebend wiedergesehen und ihn nicht nur nach Italien zurückführen, sondern auch von seinem Schuldkomplex heilen können. Doch zu dem Zeitpunkt, als man Augustins Identität endlich erkennt, ist Mignon bereits tot. Die Forschung hat angesichts der detaillierten Anamnese gelegentlich versucht, eine Diagnose über Mignons Leiden zu stellen. 329 Dabei konnte sie sich darauf berufen, dass Literatur gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein wachsendes Interesse an der benennbaren »(psychischen) Geschichte der Ereignisse« 330 zeigt und zum Zwecke immer realistischerer Charakterzeichnung »die Forschungen und Ergebnisse der wissenschaftlichen Seelenkunde« 331 zunehmend rezipiert. Durchaus bestand aber auch umgekehrt eine »Affinität von 329 Kurt R. Eissler liest Mignons Herzanfall als weiblichen Orgasmus (Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775-1786, hg. v. Rüdiger Scholz, Basel/ Frankfurt a. M. 2 1986 , 2 Bde., Bd. 2 , 878 ). Monika Fick (Scheitern des Genius, Anm. 282 , 99 ) deutet Mignon als »Melancholiegestalt«, unsinnig Thomas W. Kniesche, der Mignon zur Hysterikerin aus Bisexualität macht (»Die psychoanalytische Rezeption von Mignon«. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern, hg. v. Gerhart Hoffmeister, Berlin 1993 , 61 - 81 ). 330 Georg Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, München 1986 , 209 . 331 Ebd., 211 . <?page no="102"?> 102 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Seelenkunde und Literatur« 332 , bei der die dichterische Darstellung psychologischer Phänomene als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln galt und - übrigens noch bis ins 20. Jahrhundert - als Quelle seelenkundlicher Erkenntnis angesehen wurde. So hat man das Mädchen als Melancholikerin oder Hysterikerin bezeichnet. Doch die Bewertung eines Krankheitsbildes setzt vollständige Anamnese voraus. Nun existiert aber in der Tat eine psychogene Erkrankung, die alle vom Roman geradezu lehrbuchhaft erfassten Symptome vereint. Sie geht, wie im Text beschrieben, mit Depressionen, Herz-Kreislauf-Schwäche, Bewegungsdrang, Problemen bei der Geschlechterrolle und zuletzt insbesondere mit der Verweigerung der Nahrungsaufnahme einher und wird von den Betroffenen zudem durch eine hartnäckige Ablehnung der Therapie begleitet: Die Rede ist von der typischerweise bei pubertierenden jungen Frauen auftretenden, heute auch unter dem Namen Magersucht bekannten Anorexia nervosa. 333 Zwar wurde die Krankheit nicht vor den 1850er Jahren klinisch erfasst und trägt den Namen ›Anorexia nervosa‹ erst seit 1887. 334 Dennoch war die Krankheit schon zu Goethes Zeit nicht unbekannt. Unter der Bezeichnung ›Schwindsucht‹ war sie bereits 1689 von Richard Mortons Phtisiologia detailliert beschrieben worden, die bis 1780 vielfach übersetzt und in mindestens 27 Auflagen erschienen war. 335 Durchaus mag Goethe durch seinen Arzt Hufeland - den er, wie etwa beim Thema Wahnsinn, in Fragen der literarischen Gestaltung medizinischer Phänomene und ihrer Therapiemethoden konsultierte 336 - auf das Werk hingewiesen worden sein. 337 Sicher aber waren ihm die noch hagiographische Züge tragenden, »ersten Anorexieberichte [ … ] aus Renaissance und Aufklärung« 338 bekannt. Sie erzählen von märtyrerhaften Wundermädchen, deren verfallender Leib im christlichen Sinne zum Symbol der »Überwindung der irdischen menschlichen Existenz« 339 wird, und noch im Jahr 1800 wurde in Hufelands Journal der praktischen Heilkunde der aufsehenerregende Fall der Anna Maria Kienker geschildert, deren angeblich 18 Monate währendes Hungern sich dann freilich als Betrug herausstellte. Auch die hungernde Mignon im Engelsgewand trägt Züge christlicher Verklärung, und ebenso zeigt Ottilie in den Wahlverwandtschaften ganz ähnliche Symptome der Magersucht, die zur Hagiographie taugen: Sie ekelt sich vor Nahrung, genießt schließlich »so gut wie nichts« 332 Ebd., 213 . 333 So urteilt bereits Angela Maria Coretta Wendt: Eßgeschichten und Es(s)kapaden im Werk Goethes, Würzburg 2006 , 189 - 245 , freilich ohne die Entstehung der Krankheit bei Mignon hinreichend zu begründen. 334 Vgl. Walter Vandereycken/ Ron van Deth/ Rolf Meermann: »Wer entdeckte die Anorexia nervosa? «. In: Dies.: Wundermädchen, Hungerkünstler, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen, Weinheim/ Basel/ Berlin 2003 , 183 - 203 , hier 212 . Mit dem Nachweis eines spezifischen Krankheitsbildes gelang ein Fortschritt gegenüber der Medizin um 1800 , die Auszehrung zumeist noch auf Melancholie, Hypochondrie, Hysterie oder auf körperliche Leiden wie Erkrankungen des Darms oder des Magens zurückgeführt hatte (vgl. ebd., 148 - 182 , bes. 151 ff.). 335 Vgl. ebd., 159 . Der darin aufgestellten Symptomatik - typische Frauenbzw. Mädchenkrankheit, starke Abmagerung, Bewegungsdrang, nervöse oder psychologische Ursache (vgl. ebd., 204 ) -, konnten die Untersuchungen des 19 . Jahrhunderts »im Grunde nicht viel Neues« (ebd.) hinzufügen. 336 Vgl. Philipp H. Rothe: Medizinisches in Goethes Wilhelm-Meister-Romanen, Berlin 2009 , 56 f. 337 Möglich ist auch, dass er durch die Disziplin der empirischen Psychologie, die sich seit 1787 an der Universität Jena etablierte, spezifische Kenntnisse des Krankheitsbildes erwarb. Als Professoren wirkten auch auf dem Gebiet der Psychologie u. a. Carl Christian Erhard Schmid und bereits seit 1778 Justus Christian Loder, bei dem Goethe seine anatomischen Kenntnisse erwarb. Vgl. Paul Ziche: »Anthropologie und Psychologie als Wissenschaften«. In: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800, hg. v. Georg Eckardt et. al., Köln/ Weimar/ Wien 2001 , 73 - 110 , 92 . 338 Irmgard Egger: Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen, München 2000 , 144 . 339 Ebd., 141 . <?page no="103"?> 103 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Mignon und der Harfner (HA 6, 483 f.) mehr und stirbt an Auszehrung, und die Züge ihres Gesichts scheinen sich auf rätselhafte Art und Weise in den Engeln der Kapelle zu reflektieren. 340 Goethes ›realistischer Tic‹ streicht also psychologisch durch, was wie eine Heiligenlegende anmutet. Die Lehrjahre sind dabei auf dem zeitgenössischen »Stand der Medizin« 341 , für den sich Goethe seit dem bewusst als psychologische »historia morbi« 342 konzipierten Werther interessiert hatte. Goethe schrieb noch 1801 an Schiller, die »Poeten« seien auf dem Gebiet der »empirischen Psichologie [ … ] doch eigentlich zu Hause« 343 . Die empirische Beobachtung ließ sich umso eher in objektive Darstellung überführen, als der Dichter von der Seelenkunde mehr wisse als die Wissenschaft. Die Lehrjahre leiten die Psychologie des Hungerns aus Mignons Familiengeschichte her. Gerade aber im Hinblick auf die Familienkonstellation lassen sich bei Magersüchtigen charakteristische Muster erkennen. Gemeinhin gilt die Magersucht als eine Störung der Eltern-Kind-Beziehung, als deren Auslöser meist traumatische Erfahrungen in der frühkindlichen Beziehung zur Mutter gesehen werden. Sie führen dazu, dass sich das »Autonomie- oder Identitätsgefühl« 344 des Kindes nicht ausbildet und dass aufgrund der »ambivalenten Beziehung zur Mutter« 345 die Übernahme der eigenen, weiblichen Geschlechterrolle unmöglich scheint. Doch da sich andererseits die körperlichen Veränderungen während der Pubertät ebenso wenig abweisen lassen wie das Bedürfnis nach Individuation, stellt sich der Eindruck weitgehender Ohnmacht ein. Auf ihn reagiert die Betroffene mit Depressionen 346 und zuletzt mit Nahrungsverweigerung als einer »letzte[n] Bastion autonomer Einflussnahme« 347 : Durch die Verschiebung des Selbstbestimmungswunsches auf den Körper soll die Angst vor dem völligen Ichverlust gebannt werden. Die Krankheit zeitigt mit zunehmendem Verlauf deutliche körperliche Folgen: Natürlich Gewichtsverlust, aber auch gelbliche Hautfarbe, Kälteempfindlichkeit, schnelle Erschöpfung, Herzrhythmusstörungen, 348 ebenso Zwangshandlungen 349 und ein gesteigerter Bewegungsdrang. 350 Bei der Genese der Krankheit spielt zuletzt jedoch nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater eine 340 Vgl. dazu zuerst Stefan Blessin: Die Romane Goethes, Könistein/ Ts. 1979 , 71 ff., dann Jochen Hörisch: »›Die Himmelfahrt der bösen Lust‹ in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Versuch über Ottilies Anorexie«. In: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, hg. v. Norbert W. Bolz, Hildesheim 1981 , 307 - 322 ; ebenso Sheila Dickson: »Two sides of an anorexic coin in ›Die Wahlverwandtschaften‹ and ›Die Verwandlung‹: Ottilie as ›Heilige‹, Gregor as ›Mistkäfer‹«. In: Orbis Litterarum 54 ( 1999 ), 174 - 184 . 341 Philipp H. Rothe: Medizinisches (Anm. 336 ), 143 . Vgl. dort auch Goethes Interesse an der zeitgenössischen Psychiatrie. 342 Der Ausdruck ist durch Lavaters Brief vom 10 . Juli 1777 bezeugt: Johann Caspar Lavater: Vermischte Schriften, Bd. 2 , Winterthur 1781 , 127 . 343 Brief vom 7 . März 1801 an Schiller. In: MA 8 . 1 , 840 . 344 Stephan Herpertz: »Essstörungen«. In: Psychodynamische Psychotherapien. Lehrbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren, hg. v. Christian Reimer und Ulrich Rüger, Heidelberg 2006 , 319 - 328 , hier 324 . 345 Ebd. 346 Vgl. Claus Krüger/ Günter Reich/ Peter Buchheim/ Manfred Cierpka: »Essstörungen und Adipositas. Epidemologie, Diagnostik, Verläufe«. In: Psychotherapie der Essstörungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis - störungsspezifisch und schulenübergreifend, hg. v. Günter Reich und Manfred Cierpka, Stuttgart/ New York 2001 , 24 - 42 , hier 35 . 347 Herpertz: Essstörungen (Anm. 344 ), 324 . 348 Vgl. James N. Butcher/ Susan Mineka/ Jill M. Hooley: Klinische Psychologie, München 2009 , 387 . 349 Vgl. Klaus Fröhlich-Gildhoff: Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern. Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten, Stuttgart 2007 , 105 . 350 Vgl. Vandereyken: Wundermädchen (Anm. 334 ), 204 f. <?page no="104"?> 104 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« »bedeutende Rolle« 351 . Anorektikerinnen, die die Mutter ablehnen, idealisieren desto mehr den Vater. Sie suchen nicht nur seinen Grundsätzen von Dominanz und Leistung zu entsprechen, sondern können ihn bis in ödipale Konstellationen hinein umwerben. 352 Es ist kaum zu übersehen, dass Mignon dem Krankheitsbild entspricht. Ihr Kindheitstrauma sind der Liebesentzug und die - erzwungene - Verstoßung durch die Mutter. Darauf reagiert das Mädchen mit einem gestörten Autonomiestreben und der Verweigerung der weiblichen Sexualität: Kind will sie bleiben und ein Junge noch dazu. Die Abwendung von der Mutter führt zu einer umso engeren Bindung an eine Vaterfigur. Seiner Autorität ordnet sie sich unter - »Ich will dienen« (106) -, und fortan zeigt sie nicht nur beim Eiertanz, sondern auch bei den täglichen Aufgaben einen bislang unbekannten Perfektionismus und Leistungswillen (vgl. 107, 110). So sehr nähert sich Mignon schließlich Wilhelm an, dass es um ein Haar zu einer ödipalen Beziehung kommt: Die erwachende Sexualität der Pubertierenden lässt sich nicht verleugnen. Als die Bindung sich langsam aufzulösen beginnt, entwickelt Mignon Depressionen und Herzkrämpfe, die sich bis zum Herztod steigern. Sie sind ebenso Symptome der Krankheit wie die Verweigerung der Nahrungsaufnahme, mit der Mignon eine letzte Selbstkontrolle ausübt. In engelhafte Geschlechts- und Weltlosigkeit will sie sich hineinhungern. Die Auszehrung treibt sie schließlich in die Erschöpfung. So muss Mignons »bräunliche Gesichtsfarbe« (99) nicht nur als Zeichen ihrer südlichen Herkunft 353 und ihre Probleme mit der nordischen Kälte - »[G]ehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier« (146) - nicht allein als Leiden am Exil verstanden werden. Durchaus lassen auch sie sich als Merkmale der Magersucht explizieren, ebenso wie das Klettern, mit dem Mignon schon früh dem charakteristischen Bedürfnis nach Bewegung nachkam. Mignons außergewöhnliche Kletterlust besitzt aber im Roman nicht nur medizinischpsychologische, sondern auch poetologische Relevanz. Sie wird als Zeichen einer weltflüchtenden Sehnsucht gewertet, die Goethe als Signatur des aufkommenden romantisch-subjektivistischen Zeitalters betrachtete. Schon früh, so wird das Thema eingeführt, liebt es Mignon, die »höchsten Gipfel zu ersteigen, auf den Rändern der Schiffe wegzulaufen und den Seiltänzern [ … ] die wunderlichsten Kunststücke nachzumachen« (587). Und selbst kurz vor ihrem Tod fühlt Mignon noch immer die Begierde, über die Gipfel der Bäume wegzuspazieren, von einem Hause aufs andere, von einem Baume auf den andern zu schreiten. Wie beneidenswert sind die Vögel, besonders wenn sie so artig und vertraulich ihre Nester bauen (528). Das Mädchen sehnt sich aus den Begrenzungen und Zwängen ihres Lebens hinaus. Frei wie ein Vogel und ebenso glücklich und irgendwo heimisch möchte Mignon sein, und das Zuhause ist immer da, wo sie nicht ist. Das Unbehagen am Jetzt und Hier macht sie unruhig, ihr unerwidertes und daher ungestilltes Gefühl drängt die Heimat- und Familienlose immer weiter. Allen Bezug zum beschränkten Irdischen würde sie am liebsten aufheben, und so ist es kein Wunder, dass ihre Sehnsucht nach dem Unbegrenzten sie an die Religion verweist: 351 Günter Reich: »Psychodynamische Aspekte der Bulimie und Anorexie«. In: Psychotherapie der Essstörungen (Anm. 346 ), 51 - 67 , hier 61 . 352 Vgl. ebd., 62 . 353 Im Roman begegnen mit dem Harfner und dem Marchese immerhin noch zwei Personen italienischer Herkunft. Bei keinem von ihnen wird die Gesichtsfarbe als von der der Deutschen abweichend hervorgehoben (vgl. 128 und 571 ). Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch daran, dass Mignon keineswegs aus dem heißen Süditalien, sondern aus dem klimatisch eher gemäßigten Norditalien (aus der »Gegend von Mailand«, 522 ) stammt. <?page no="105"?> 105 2.3 Kunstkritik in den »Lehrjahren«: Mignon und der Harfner Nur noch auf Gottes Liebe und Reich vertraut, wer im Diesseits schon verzweifelt ist. Mignons Ungenügen am Beschränkten variieren die Lehrjahre fortan in anderen Zusammenhängen. Der Eiertanz ist ein einstudiertes Kunststück, das Mignon »wie ein aufgezogenes Räderwerk« (115) nur durch Zwang präzise beherrscht, aber gerade deswegen - trotz seiner für Wilhelm bestimmten erotischen Bedeutung - ohne Gefühl, vielmehr mechanisch, »[s]treng, scharf, trocken, heftig« (ebd.), ausübt. Auch die Probleme mit dem Schreiben hat Mignon nicht etwa ihrer Mutter Sperata, einer Analphabetin (vgl. 586), oder dem nie begonnenen eigenen Bildungsgang zu verdanken. Dass »die Buchstaben [ … ] ungleich und die Linien krumm« (135) bleiben, liegt daran, dass »auch hier ihr [Mignons, M. K.] Körper dem Geiste« (135) widerspricht: Das fortdrängende natürliche Gefühl will sich trotz aller Anstrengung des Kindes nicht in eine rationale und regelhafte Form pressen lassen. Dasselbe Unvermögen ließ sich schon beim Spracherwerb des Mädchens beobachten. Denn »mit Worten konnte es sich nicht ausdrücken, und es schien das Hindernis mehr in seiner Denkungsart als in den Sprachwerkzeugen zu liegen« (586 f.). Mignons Sprachlosigkeit, der übrigens das Schweigegelübde später entgegenkommt, beruht auf der Überzeugung, dass Worte dem tiefen Gefühl aus drei Gründen nicht entsprechen können: Erstens widerspricht die Mittelbarkeit der Sprache der unmittelbar empfundenen Gefühlsgewalt, zweitens wollen Begrifflichkeiten ihren Gegenstand fixieren, anstatt wie die Sehnsucht auf ständiges Fortdrängen angelegt zu sein, und drittens scheint die Allgemeinheit aller Begriffe die Einmaligkeit individuellen Erlebens zu verfehlen. Mignons Satz »Die Vernunft ist grausam [ … ], das Herz ist besser« (489) lässt sich also nicht nur auf die Pädagogik des Turms beziehen. Er bezeichnet auch die »Denkungsart« des Mädchens als ein Bekenntnis zum reinen Gefühl, das mit der Ablehnung jeglicher rationaler, regelgeleiteter Formgebung einhergeht. 354 In der vernünftigen Welt der Turmökonomen muss das Mädchen scheitern, das die Integration in soziale und kommunikative Zusammenhänge verweigert und sich nach der Freiheit eines Vogels sehnt. Kein Zufall dürfte sein, dass Wilhelm im Streitgespräch mit Werner in nahezu gleicher Bildlichkeit die Freiheit eines Dichters reklamiert hatte: »Er [der Dichter, M. K.] [ist] wie ein Vogel gebaut [ … ], um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen [ … ]« (83). Poetologische Relevanz gewinnt Mignons Sprachauffassung aber endgültig im Hinblick auf die in den Roman eingeschalteten Lieder. Gesang und Zitherspiel sind schon früh die ursprünglichen Ausdrucksformen Mignons (vgl. 586). Musik galt seit den Neuplatonikern, in der Neuzeit insbesondere seit Herder und den Romantikern als Medium der poetischen Ursprache, der »Symphonie der Natur« 355 . Wer sie höre, sei zu lyrisch-unmittelbarer Dichtung befähigt. In ihr bleiben »Originalität« (146) und »kindliche Unschuld« (ebd.) des Ausdrucks erhalten. Musik kann zudem als therapeutische Maßnahme zur - kurzfristigen - Bewältigung von Trauer und Melancholie dienen, wie seit David und Saul bekannt ist und mit des Harfners Spiel vor Wilhelm 354 In einem ähnlichen Sinne hatte übrigens Mignons Vater Augustin die sozialen Konventionen und Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft sowie die Vorschriften der Religion zugunsten der reinen - selbst inzestuösen - Liebe verworfen: »Fragt nicht den Widerhall eurer Kreuzgänge, nicht euer vermodertes Pergament, nicht eure verschränkten Grillen und Verordnungen, fragt die Natur und euer Herz [ … ]« ( 584 ). 355 Johann Gottfried Herder: Nachlese zur schönen Literatur und Kunst, hg. v. Johann von Müller, Karlsruhe 1821 , 123 . <?page no="106"?> 106 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« vom Roman erinnert wird (vgl. 136 f.). Zugleich dürfte Mignon entgegenkommen, dass Musik als nahezu unsinnliche Kunst aus den - auch sprachlichen - Begrenztheiten des Hiesigen hinauszuführen scheint. Für den musikalischen Weg in die Transzendenz, der in der Romantik zum Sehnsuchtstopos geriet, hat Goethe 1810 den Ausdruck »Symbolik fürs Ohr« 356 geprägt. In Klängen werde der Gegenstand [ … ] weder nachgeahmt noch gemalt, sondern in der Imagination auf eine ganz eigene und unbegreifliche Weise hervorgebracht [ … ], indem das Bezeichnete mit dem Bezeichnenden in fast gar keinem Verhältnis zu stehen scheint. 357 Auch Mignon wählt die Musik, insofern sie manches zu denken gebe, was durch Reflexion und Sprache nicht zu erfassen sei. Sie hat recht. In ihren Liedern - und auch in denen des Harfners - wird der Gegensatz von Gefühl und Ratio als Unterschied von Oralität und Literalität augenfällig. Denn die Lehrjahre geben die Lieder nur in Wilhelms Version wieder: Er verfasst sie schriftlich, wählt Form, Worte und Metrum, übersetzt sie ins Deutsche und erweist sich dabei überhaupt als ein höchst unzuverlässiger Ausleger. Teilweise kann er die Lieder nur bruchstückhaft wiedergeben, weil er nur ferner »Horcher« (HA 7, 136) ist und nur »ungefähr« (ebd.) versteht, teilweise hat er »nur die letzte Strophe behalten« (334). Immer aber ist seine sprachliche Formgebung ein Gewaltakt, indem sie »die gebrochene Sprache übereinstimmend« (146) macht und das Unzusammenhängende« (ebd.) verbindet. Insofern sich die Lieder also eigentlich der sprachlichen Repräsentation entziehen, haben schon die frühromantischen Leser die Sänger Mignon und Harfner als Figurationen der »Naturpoesie« 358 verstanden, die »dem Ganzen romantischen Zauber und Musik« 359 gebe. Ohne Zweifel erfüllt Mignons Liedproduktion die Merkmale der Schlegelschen Naturpoesie, »formlos [ … ] und bewußtlos [ … ]« 360 und der »Poesie der Worte« 361 , also der Kunstpoesie, vorgeordnet zu sein. Schiller hatte diese poetische Produktionsart in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichung ›naiv‹ genannt. Damit war ein empirischer, d. h. unbewusster Geist gemeint, der in Leben und Dichtung in Bezug auf seine Einstellung zur Welt nicht auswählt, sondern unmittelbar in Erfahrungen gründet. Im Gegensatz zu ihm verfahre ein sentimentalisches Bewusstsein der Welt gegenüber immer reflektiert und abwägend: Leide es unter den Umständen, produziere es Elegien, kritisiere es sie, verfertige es Satiren, und hoffe es auf ein gutes Ende, dichte es Idyllen. Nun gilt für Mignon, dass sie selbst ihre durchweg elegischen Gesänge, die den Verlust eines frühen Glücks beklagen, naiv verfasst. Sehnsucht ist der natürliche Charakterzug des Mädchens. Die Lehrjahre aber betrachten es deswegen nicht als göttliches Kind der Poesie. Ihre Lieder führen sie weder auf einen Gott noch auf die wunderbare Beherrschung der Ursprache zurück, sondern auf ein Seelenleiden. Dezidiert wird zudem das krankhafte Unvermögen, sich in die Zusammenhänge des Hiesigen einzugliedern, als Kritik an der weltvergessenen Subjektivität (vor)ro- 356 Johann Wolfgang Goethe: Briefwechsel mit Zelter, hg. von Hans-Günter Ottenberg et. al. München/ Wien 1991 , 228 (= MA 20 . 1 ). Vgl. dazu und weiterführend zu Goethes Musikästhetik Dieter Borchmeyer: »›Eine Art Symbolik fürs Ohr‹. Goethes Musikästhetik«. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik, hg. v. Walter Hinderer, Würzburg 2002 , 413 - 446 . 357 Brief an Zelter vom 6 . März 1810 . In: MA 20 . 1 , 228 . 358 Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister (Anm. 9 ), 354 . 359 Ebd. 360 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: Ders.: Kritische und theoretische Schriften, ausgew. v. Andreas Huyssen, Stuttgart 1978 , 165 - 224 , hier 166 . 361 Ebd. <?page no="107"?> 107 2.4 Erziehung und Turmpädagogik mantischer Prägung in den Blick genommen. Was schon in Werners Spott über Wilhelms Vergleich zwischen Dichter und Vogel anklang (vgl. 83), kehrt bei Mignon wieder: Nicht subjektiv, sondern objektiv habe der Dichter zu verfahren, und dazu müsse er sich um die Erkenntnis des Faktischen bemühen. Mignon ist dazu nicht bereit. Schon Schlegel hielt fest, dass sie und der Harfner am Ende durch »das Übermaß ihrer eignen Seelengluth« 362 zugrundegehen. Die Gefährdungen romantischer Schwärmerei und Einbildungskraft hat Goethe immer kritisch gesehen, 363 und durchaus in diesem Sinne sind die Melancholietherapien des Turms auch ein Versuch, das Zeitalter zur Hinwendung zum Faktischen sowie zur produktiven Tätigkeit zum eigenen und fremden Wohl anzuhalten. Entsprechend führte Goethe Mignon in Notizen aus dem Jahre 1793 unter dem Stichwort »Wahnsinn des Mißverhältnisses« 364 und meinte damit, Kanzler Müller zufolge: Vom Wahnsinn gab er [Goethe, M. K.] die einfache Definition: dass er darin bestehe, wenn man von der wahren Beschaffenheit der Gegenstände und Verhältnisse, mit denen man es zu tun habe, weder Kenntnis habe, noch nehmen wolle, diese Beschaffenheit hartnäckig ignoriere. 365 Und der Dichter habe hinzugesetzt: »Es gibt einen Eigensinn schlimmster Art, den der Phantasie, oder vielmehr der Einbildungskraft.« 366 Das Diktum betrifft Mignon ebenso wie manch romantischen Leser und nicht zuletzt Wilhelm. Für den Einsichtigen hingegen ist die Welt der Moderne kein Rätsel. Das Leben, dabei bleibt es, ist durchaus machbar. Es kann gelingen - wenn der Phantastik nüchtern vorgebeugt wird. 2.4 Erziehung und Turmpädagogik Derlei Diatribe gegen die Phantasie macht deutlich: »Der zur Vernunft geborene Mensch bedarf noch großer Bildung« (HA 8, 287). Der Lehrbrief hatte bereits dargelegt, dass mit entsprechender Schulung schon in der Jugend zu beginnen sei. Am Beispiel von Wilhelm Meister fragt der Text nun, ob eine Erziehung zu Ratio und Tätigkeit möglich sei - und was aus einem jungen Menschen werde, der sich der Vernunft widersetzt. Goethe hatte 1793 die Relevanz des Themas betont. In sein Notizheft notierte er: »Abbe´: Pädagogischer praktischer Traum« 367 . Dem Geistlichen ist im Roman die Aufgabe übertragen, zur Tätigkeit zu erziehen. Neue Menschen benötigt die neue Zeit, die der Turm im Sinn hat, und zur zweckmäßigen Praxis müssen sie angeleitet werden. Geht es dem Abbe´ besonders um männliche Führungskräfte, ist Natalie daneben mit der Erziehung der Mädchen beauftragt (vgl. HA 7, 514). Zu praktischen Hausfrauen und Verwalterinnen sollen sie ausgebildet werden. Damit 362 Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister (Anm. 9 ), 354 . 363 In einer schönen Studie hat Cornelia Zumbusch gezeigt, dass Goethes Text als ästhetische Immunisierungsstrategie gelesen werden kann, die sich im Sinne einer Affekthygiene gegen die Trivialkultur der Empfindsamkeit und der subjektiven Sentimentalismen richtet und die Voraussetzung für die Gründung und Erhaltung sozialer Gemeinschaften bildet (Die Immunität der Klassik, Frankfurt/ Main 2012 ). Stand, wie gesehen, schon Goethes Spinoza-Lektüre im Zeichen einer Beruhigung der Leidenschaften, lässt ihn das Bemühen um Affektbeherrschung später für Flaubert interessant werden. Vgl. dazu das Flaubert-Kapitel dieser Arbeit. 364 HA 7 , 616 . 365 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 147 . 366 Ebd., 133 . 367 HA 7 , 616 . <?page no="108"?> 108 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« skizziert der Roman einen Epochenwechsel. Erziehung wird aus dem Bereich des Privaten ausgelagert und Institutionen übertragen. Beispiele wie Wilhelm oder Therese zeigen, dass Familien an ihrer Erziehungsaufgabe scheitern oder Begabte aus Missgunst beiseite drängen. Im Interesse seiner Reformpläne will der Turm solche Verschwendung ausschließen und das Humankapital sinnvoll nutzen. Er nimmt also Geeignete auf, entfernt sie aus ihren Familien und bereitet sie auf ein Leben in der ökonomischen Gesellschaft vor. Was wie eine Vorform der Schule oder des Internats anmutet, ist ein Reflex der reformpädagogischen Stiftungen des 18. Jahrhunderts, die, zumeist auf dem Lande und durch Adelige finanziert, eine Gemeinschaft aufgeklärter oder religiöser Gleichgesinnter herauszubilden suchten. 368 Noch die Pädagogische Provinz der Wanderjahre ist nach diesem Muster gestaltet. Bei weitem effizienter und umfassender ist sie angelegt, und sie lässt keinen Zweifel mehr an ihrem Ziel, gute Handwerker für die Belange der stetig wachsenden Arbeitsgesellschaft auszubilden. Der Abbe´ sucht nun schon in seiner Rolle als Unbekannter das Programm des Turms zu verwirklichen. Er will den jungen Meister auf messbare Dienlichkeit verpflichten: »Ich kann mich nur über den Menschen freuen, der weiß, was ihm und andern nütze ist [ … ]« (72). Leidenschaften befördern weder eigenes noch allgemeines Wohl, und mit Einbildungskraft sind keine Geschäfte zu machen. Pflicht, Selbstaufopferung und Tätigkeit für andere sind die Mittel, die der Turm zur Überwindung der subjektiven Befindlichkeit anbietet. Damit hilft die ökonomische Praxis auf ganz empirischem Wege, jene »Beruhigung [de]r Leidenschaften« 369 herbeizuführen, die Goethe durchaus auch für sich selbst herzustellen hoffte. Seine Spinoza-Studien der 1780er Jahre hatten in diesem Sinne zum Ziel, durch die Betrachtung der Dinge sub specie aeternitatis die Subjektivismen des Sturm und Drang zu überwinden und die regellose Einbildungskraft in nüchtern-objektive Bahnen zu lenken. 370 Doch die Lehrjahre legen dar, dass sich dazu besser praktische Tätigkeit als Lektüre eigne. Was Goethe auch aus eigener Erfahrung wusste - etwa seine Voltaire-Übersetzungen der Jahre 1799 bis 1801 waren unter anderem als Melancholietherapie gedacht -, 371 weitet der Roman in eine sozioökonomische Dimension aus. Als Grundlage sozialer Praxis verstanden, sei nüchterne wirtschaftliche Tätigkeit in der Lage, politische Gemeinschaften vernünftig einzurichten und zu erhalten. 372 Schon 1776 hatte Adam Smith in seinem Wohlstand der Nationen gezeigt, dass eine funktionierende Nationalökonomie auf den Rahmen einer freien, bürgerlichen Rechtsstaatlichkeit dränge und angewiesen sei. 373 Diesem Geist des Liberalismus entstammen später die Sozialreformen des Turms, die auf die Verbesserung der Wirtschaftsbedingungen zielen und ein utilitaristisches Handeln ermöglichen wollen, das zugleich mit dem eigenen materiellen 368 Zu denken wäre etwa an die Franckischen Stiftungen in Halle oder an die Gemeinschaft der Philantropen. Goethes Roman nennt die Herrnhuter. 369 Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: HA 10 , 35 sowie 76 - 80 . 370 Vgl. Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik (Anm. 143 ), 477 , 483 . 371 Vgl. dazu: Marcel Krings: »Klassische Korrekturen. Goethe als Übersetzer von Voltaire und Diderot«. In: Vorausdeutungen und Rückblicke. Goethe und Goethe-Rezeption zwischen Klassik und Moderne, hg. v. Bernd Zegowitz et. al., Heidelberg 2013 , 27 - 50 . 372 Durch den Triebverzicht stellt sich also kein Unbehagen in der Kultur ein wie es etwa Freuds gleichnamiger Aufsatz nahelegt. Die Immunisierung gegen die affektiven Zumutungen stellt vielmehr eine Voraussetzung für den Erhalt von Gemeinschaft dar. 373 Die Wirtschaftstheorie Adam Smiths hatte Goethe wohl durch Georg Sartorius kennengelernt, der 1796 ein Handbuch der Staatswirtschaft zum Gebrauche bey akademischen Vorlesungen und beim Privat-Studio herausgegeben hatte, in dem er Smiths wesentliche Positionen erläuterte (vgl. Mahl: Goethes ökonomisches Wissen (Anm. 101 ), 400 ff.). <?page no="109"?> 109 2.4 Erziehung und Turmpädagogik Glück das der Allgemeinheit befördern hilft. In der Arbeitsgesellschaft der Wanderjahre ist es daher bereits oberste Maxime, der »Pflicht« (HA 8, 426) oder »Forderung des Tages« (ebd., 283) nachzukommen. Auf diese Weise soll der Einzelne nicht nur zum Erhalt von Sozialordnung und Prosperität beitragen, sondern das unbedingte Tätigkeitsgebot auch als Richtschnur der eigenen Tauglichkeit verinnerlichen: »Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist« (ebd.). Der Primat ökonomischer Praxis schließt Untätigkeit, lässliche Neigungen oder unproduktive Einbildungskraft aus und führt besser als grüblerische Introspektion zu Selbsterkenntnis, weil er unmittelbar die Probe aufs Exempel verlangt. Von der totalen Arbeitswelt sind die Lehrjahre zwar noch ein Stück weit entfernt. Dennoch berichten auch sie schon, dass Jarno Wilhelm ganz ähnlich zu verstehen gibt, es sei zweckmäßig, wenn der Mensch sich in einer größeren Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen; denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern (HA 7, 493). Arbeit gilt als Anästhetikum der Einbildungskraft. Mehr als grüblerische Introspektion - die Goethe verabscheute - führt sie zu praktischer Selbsterkenntnis und sozialer Hierarchie. Doch der schlichten Einsicht verweigert sich der Mensch. Kaum wolle man »auf [eigene] Füße gestellt« werden, suche allein »Hausmittel zum Wohlbefinden« und jede »Art von Glückseligkeit« (549). Mit anderen Worten: Man ist gern ein wenig faul, und die Forderungen der Vernunft erstickt man in lässlichem Behagen. Schon Mignon - »Die Vernunft ist grausam, [ … ] das Herz ist besser« (489) - hatte den kategorischen Rigorismus der Ratio verworfen. Jarno schimpft über solche »Dummheit«, die der Logik des Turms zuwiderläuft: Das Menschenpack fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was fürchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man muß ihn beiseiteschaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten (433). Mit scharfer Zunge kommt man indessen nicht weiter. Kaum lässt sich ein Unvernünftiger durch Vernunft überzeugen. Also weiß der Turm sein Credo zum Glücksversprechen umzudeuten: Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen; nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein (72). Jeder ist seines Glückes Schmied. Denn angeborene Vernunft setze den Menschen in Stand, seiner konturlosen Natur eine Form zu geben. Gemeint ist: Im Leben gilt es, sich aus der Vielfalt der Begabungen zu einer einzigen Tätigkeit zu bestimmen. Spezialisierung ist schon in den Lehrjahren das Gebot der Stunde. Sogar Wilhelm weiß, obwohl er sich dagegen wehrt, dass der Bürger »einzelne Fähigkeiten ausbilden [soll], um brauchbar zu werden« (291). Jarno hingegen sieht die Sache nüchterner. Er formuliert apodiktisch: »Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst eine Begrenzung bestimmt« (552). Der Mensch sei diverser Tätigkeiten und Empfindungen fähig, und richtig sei es, alle auszubilden, »aber nicht in einem, sondern in vielen« (552). Und in den Wanderjahren fügt Jarno-Montan hinzu: <?page no="110"?> 110 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann, dem eben jetzt genug Raum gegeben ist. Ja, es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in diesem Sinne wirkt (37). Es geht um die Entstehung der arbeitsteiligen Gesellschaft. Die Erkenntnis, dass sie in deutschen und anderen Staaten die Tendenz der Zeit sei, war Gemeingut. Schon Adam Smith hatte in seinem 1776 erschienenen, bereits 1776-78 ins Deutsche übersetzten Wohlstand der Nationen ausgeführt, dass Arbeit - nicht etwa der Ackerboden - die Grundlage allen Wohlstands bilde. 374 Um nun die Arbeitsleistung und damit den Wohlstand zu steigern, empfiehlt Smith das Prinzip der Arbeitsteilung. Am berühmt gewordenen Beispiel der 18 Arbeitsgänge umfassenden Produktion einer Stecknadel wird gezeigt, dass zehn unabhängig voneinander vorgehende Arbeiter täglich nur etwa 20 Stecknadeln pro Kopf produzieren würden. Hingegen seien sie »infolge einer sinnvollen Teilung und Verknüpfung der einzelnen Arbeitsschritte« 375 imstande, täglich etwa 48 000 Nadeln herzustellen, also ein Vielfaches. Ein solches »Zusammenwirken« 376 sei aber nur dann wirklich effizient, wenn jeder Arbeiter in seinem Bereich eine »Spezialisierung« 377 vollzogen habe, die ihn zur vollkommenen und zeitsparenden Ausübung seiner Tätigkeit befähige. Und wie in Manufakturen gelte das Gesetz der Spezialisierung auch in der restlichen Volkswirtschaft, in der jeder Einzelne durch seine »unterschiedlichen Talente« 378 dazu bestimmt werde, sich in Beruf oder Produktion »auf eine bestimmte Tätigkeit zu spezialisieren [ … ] und [sie] zu vervollkommnen« 379 . Auf diese Weise entstehe eine diversifizierte, zunehmend auch technisierte Gesellschaft, deren Arbeitsteilung sich etwa bei Herstellungsprozessen vorteilhaft auswirke: So ist die Wolljacke, die der Tagelöhner trägt, so grob und derb sie auch aussehen mag, das Werk der Arbeit vieler. Der Schäfer, der Wollsortierer, der Wollkämmerer oder Krempler, der Färber, der Hechler, der Spinner, der Weber, der Walker, der Zuschneider und viele andere mußten zusammenwirken, um auch nur dieses anspruchslose Produkt zuwege zu bringen. 380 In Deutschland waren Arbeitsteilung und Spezialisierung aufgrund des relativ spät einsetzenden Industrialisierungsprozesses vorerst noch wenig ausgeprägt. Die Lehrjahre verweisen sie nicht ohne Grund in den Bereich der vom Turm vertretenen Sozialutopien, und erst in den Wanderjahren hat Goethe sie, zumal in ihren technischen Rahmenbedingungen, in aller Konsequenz dargestellt. Doch auch in Deutschland hatte man die Zeichen der Zeit bemerkt, wenn man sie auch zunächst durchaus negativ beurteilte. Schiller hatte im sechsten Brief der Ästhetischen Erziehung über Entfremdung geklagt: Auseinandergerissen wurden jetzt [im Zeitalter der Aufklärung, M. K.] der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er 374 Vgl. Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und hg. v. Host Claus Recktenwald, München 12 2009 , 3 . Goethe hatte das Werk - wie erwähnt - über das Handbuch von Georg Sartorius kennengelernt. 375 Smith: Wohlstand (Anm. 374 ), 10 . 376 Ebd., 15 . 377 Ebd., 10 . 378 Ebd., 18 . 379 Ebd. 380 Ebd., 14 . <?page no="111"?> 111 2.4 Erziehung und Turmpädagogik umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. 381 In der arbeitsteiligen Gesellschaft verstehe niemand mehr, wie sein Tun mit dem sozioökonomischen Ganzen zusammenstimme, nicht länger überblicke das Individuum den Gang der Gattung, und von einer allseitigen Ausbildung der Naturanlagen könne keine Rede mehr sein. Doch die Lehrjahre weisen solche Kritik - die ganz ähnlich auch Wilhelm Meister äußert - durchaus zurück. Ökonomie und Spezialisierung sind die Signatur einer Zeit, die von der Realisierbarkeit eines zukünftigen Heils überzeugt ist und jedermann als seines Glückes Schmied ansieht. Und der Turm ist der Auffassung, dass sich die Menschen notfalls durch Erziehung zuverlässig zu Arbeit und Tätigkeit bilden lassen. Denn ein »glückliches Naturell« besitze wohl der begabte Mensch, aber manches fehle ihm, »wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll, und zwar frühe Bildung«. Dann könne ihm erspart bleiben, wie Wilhelm auf »falsche Wege« der Einbildungskraft zu geraten und »verbilde[t]« (HA 7, 120) zu werden. Er sei dann vielmehr in Stand gesetzt, »zu prüfen und zu wählen« (553), und der Turm stehe ihm bei seiner Entscheidung bei. Hinter dem Turm verbirgt sich keine humanistische Erziehungsanstalt, wie sie die Forschung in den »guten Menschen« (608) um Lothario und Natalie zumeist erblickte. Die Sozietät ist vielmehr eine ökonomische Leistungsgesellschaft, die unter Bildung die Erziehung des Individuums zu Vernunftgebrauch und ökonomischem Nutzen versteht. Der Roman knüpft damit an die Debatte über Erziehung und historischen Progress an, die das überhaupt pädagogische 18. Jahrhundert führte. Die Aufklärung hatte den Glauben an göttliche Vorsehung und Weltenlenkung zersetzt. So diskutierte man die Disponiertheit des Menschen zur Gestaltung der Geschichte. Geschichtsphilosophie sollte klären, ob sich aus dem Weltenlauf die Hoffnung auf praktische Einrichtung eines besseren, d. h. eines Vernunftstaates ableiten lasse. Voltaire urteilte abfällig, in der Geschichte perpetuiere sich allein die beˆtise e´ternelle , und Wieland erblickte im Faktischen nur die - satirische - Geschichte der Abderiten . Auch Kant bemühte zunächst die antike Stadt der Narren und bescheinigte dem Zeitalter »Abderitismus«, den er als »geschäftige Torheit« 382 verstand. Doch gegen derlei Pessimismus hatte sich Rousseau gewendet. Entgegen manch hartnäckiger Legende hatte er nie den retour a` la nature eingefordert. 383 Vielmehr erblickt der Contrat Social das Ziel des Weltenlaufs in einer Vernunftgesellschaft, die der mit Perfektibilität begabte Mensch aus der Einsicht in zivilisatorischen Verfall schließlich einrichten werde. Durch den 381 Schiller: Ästhetische Erziehung (Anm. 247 ), 584 . 382 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. In: Ders.: Werke (Anm. 172 ), Bd. IV, 265 - 398 , hier 354 (= A 138 ). 383 Das Missverständnis und die Wendung gehen auf Voltaires Brief vom 30 . 8 . 1755 an Rousseau zurück, in dem er dem Verfasser der Abhandlung über die Ungleichheit seine »retours a` la nature« vorwarf. Ihre Wirkungsgeschichte in Deutschland beginnt spätestens, als Wieland Voltaires Formulierung 1770 in seine kurze Schrift Über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen aufnimmt, in der es heißt, Rousseau könne dem Menschen »[ … ] keinen besseren Rath geben [ … ], als ›in die Wälder zu den Orang-Utans und den übrigen Affen, ihren Brüdern, zurückzukehren [ … ]‹« (Christoph Martin Wieland: Über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen. In: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 14 , Leipzig 1796 , 89 - 130 , hier 91 f.). Gegen diese Verzeichnung hat Rousseau sein Leben lang ebenso beständig wie nutzlos protestiert. Schon in der neunten Anmerkung der Abhandlung heißt es ja: »Soll man etwa die Gesellschaften zerstören, Mein und Dein abschaffen, zurück in die Wälder gehen und mit den Bären leben? Dies ist eine Schlussfolgerung in der Art meiner Gegner, der ich ebenso gern zuvorkomme wie ich ihnen die Schande lassen möchte, sie zu ziehen« (Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, hg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1998 , 133 ). <?page no="112"?> 112 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Übergang von Natur zu Moralität müsse sich der Widerspruch zwischen ›abderitischer‹ Praxis und den Forderungen der Vernunft beseitigen lassen. Dafür seien sämtliche Naturtriebe dem Primat der Vernunft unterzuordnen. Der Mensch wandle sich dann vom Bourgeois zum citoyen , und konstituiere durch Vertragsbeschluss die Herrschaft der volonte´ ge´ne´rale , die den Rückfall in den natürlichen Egoismus der volonte´ de tous verhindere. Solcher Vernunftprogress vermochte sich indes gegen die Natur nicht zu behaupten. Schon der Philosoph selbst hatte Mühe zu erklären, warum die egoistischen Naturtriebe des Individuums nicht stets die allgemeinen Vernunftgesetze missachten sollten. Der rechtliche Zustand sei also den Menschen, die Natur waren und Vernunft erst werden müssten, nicht sogleich zuzumuten. So könne der Progress nicht ohne eine strikte Erziehung zum citoyen erfolgen, wie sie der Emile entwickelte. Doch die Gegner vermochte auch derlei pädagogischer Optimismus nicht zu überzeugen. Nun wollte der Dissens entschieden sein. Kant, kein Geschichtspessimist, urteilte, die praktische Durchsetzung der Vernunft sei zwar nur einem »Volk von Engeln« möglich, das Egoismus ignoriere. Dennoch sei Vernunftbildung im Heilsplan der Natur zu postulieren, auch wenn er im Geschichtsprozess für das beschränkte Individuum unbeweisbar bleibe. Denn durch Kampf und Zwietracht verfolge die Natur doch den Zweck, die Menschen endlich in ewigen Frieden zu zwingen: Der rohe Antagonismus der Kräfte werde in eine Rechtsgesellschaft der Vernunft münden. In ihr helfe die Natur oder Vorsehung, wenn nicht aus einem unbedingten moralischen Sollen, so doch wenigstens aus Erfahrung die Gesetze zu achten. Theorie und Praxis seien dann keine Gegensätze mehr. Historischer Progress war damit auf ein theoretisches - und teleologisches - Fundament gestellt. Deutlich wurde aber auch, dass man in Deutschland den französischen Rigorismus ablehnte. Nicht strikter Erziehung, sondern der Natur oder göttlichen Fügung wollte man die Bildung des Menschen überlassen. Auch Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit hatte die Ausbildung der Vernunft - in kritischer Distanz zu Voltaires pessimistischer Philosophie de l’Histoire - bereits als natürlichen Prozess beschrieben. Als ontologisches Programm trage der Mensch einen ›Keim‹ seiner Bestimmung zu Humanität und Recht in sich, von dessen freier Entwicklung die Geschichte künde. Und Humboldts Theorie der Bildung des Menschen explizierte noch 1793 ein Ideal vollendeter Bildung, das sich dem Naturdrang des Menschen nach umfassender Welterkenntnis verdanke. Denn die menschliche Natur strebe nach Erweiterung und suche mit ihren vielen Fähigkeiten, Reales zu erfassen. Die gewonnene Erkenntnis verbinde sie immer mehr zu einem Ganzen, von dem her sie sich selbst immer vollständiger verstehe und ausbilde. Auch die Lehrjahre sind vom Progress der Vernunft überzeugt. Der Turm ist damit beschäftigt, ihn voranzutreiben. Doch er glaubt dabei weder an die Macht der Natur noch an die reine Vernunft. Stattdessen betreibt er die Grundlegung einer ökonomischen Vernunft, die mit ihren Reformplänen den Gang der Politik und Geschichte durchaus empirisch steuern will. Nicht nur ermöglicht es in dieser Hinsicht die Erziehung zur Bändigung der Leidenschaften, jene bourgeoisen Naturtriebe zu beseitigen, an deren Existenz die Gesetzgebung in Rousseaus Gesellschaftsvertrag immer zu scheitern drohte. Die Wirtschaft schafft darüber hinaus auch individuelle wie gemeinschaftliche Freiheit und stellt damit das Fundament der neuen Gesellschaft dar. Freilich wäre die ökonomische Vernunft erst in jenem Weltreich des Kapitalismus befriedigend gesichert, das die europäischen und amerikanischen Expansionspläne des Turms nur andeuten. Der Völkerbund aller bürgerlichen Rechtsgesellschaften, den Kant in der Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht auf den Plan der Vorsehung zur Errichtung eines Friedensreichs zurückgeführt hatte, wird <?page no="113"?> 113 2.4 Erziehung und Turmpädagogik damit aber ins Praktisch-Konkrete überführt: Nicht in unabsehbarer Zukunft, sondern in der ökonomischen Praxis des Hier und Jetzt beginnt die Herrschaft der Ratio in den Lehrjahren . Nicht Humboldts Ideal universaler Bildung oder Herders Theorie von der Entwicklung des Naturkeims, sondern die Spezialisierung des Einzelnen wird gefördert. Wohl mochte Humboldt sie als ›nutzloses Wissen‹ und Irrweg seiner Zeit abgetan, wohl mochte Herder nachdrücklich vor ihrer Einseitigkeit gewarnt haben: Alle Menschenbildung, die auf ein ausschließendes unvollkommenes Eins hinausgeht, ist Mißbildung auf Lebenszeit. Bilde den Witz und der Scharfsinn verblühet; bilde Wortgedächtnis und das Bild der Sache, die Einbildung, der Verstand erstirbt; laß die Spekulation frühe reifen; es wird ein Scholastischer Mensch daraus ohne Anschauung und Rührung. 384 Doch der Turm kümmert sich um solche Einreden nicht. Seine Pädagogik moduliert deutsche und französische Konzepte zu einer wirtschaftlichen Leistungsethik angelsächsischamerikanischen Zuschnitts. So erzählt der Roman, wie ökonomischer Zwang empirisch zu zweckrationalem Verhalten nötigt, das mit harter Zucht eingelernt wird. Gemeinsame Ziele, wie sie der Weltbund verfolgt, sollen von gemeinsamen Werten befördert werden, hinter denen die Neigungen des Einzelnen zurückzutreten haben. Vorbereitet ist damit jenes Ende des Individuums, das die Wanderjahre beschreiben. Denn der Einzelne, so hatte Wilhelm schon von Jarno erfahren, müsse lernen, sich »in einer größeren Masse [zu] verlieren« (493). Trotz der Glücksbeteuerung des Turms ist die Zukunft, die sich in den Lehrjahren nur andeutet, die von industrieller Zweckmäßigkeit geschaffene amorphe Masse der Arbeiter. Auf die Epoche der Individualität folgt diejenige des Kollektivismus und der Allgemeinheit. 385 Goethe hat sie im Landgewinnungswerk des Faust II und in den verelendeten Arbeiternomaden der Wanderjahre gestaltet. Doch nicht jeder eignet sich zum Arbeiter. »[N]ur wenig Menschen« gebe es, eröffnet man Wilhelm, die derlei Erziehung »in die Ausführung übertragen« (121) könnten. Noch steht die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaft am Anfang. Zu ihr gehören »bis jetzt nur wenig« Mitglieder. Der Turm rekrutiert also notgedrungen eine Elite von »redliche[n], gescheite[n] und entschlossene[n] Leute[n]« (564). Sie soll die Ideen der Sozietät verbreiten helfen: Jarno in Amerika, der Abbe´ in Russland und Lothario in Deutschland (vgl. 564) sollen die Basis verbreitern und weltumspannende Handelsbeziehungen anknüpfen. Der Abbe´ hat Prinzipien für den Bildungsauftrag vorgegeben. Natalie schildert, wovon der Geistliche »wenigstens eine Zeitlang« überzeugt war. Da hielt er dafür, »dass die Erziehung sich nur an die Neigung anschließen müsse«. Nun sei das »Erste und Letzte am Menschen [ … ] Tätigkeit«. Die Schwierigkeit bestehe nun darin, die Tätigkeit gemäß der eigenen »Anlage« (520) zu wählen. Denn wohl liege in jeder Anlage die »Kraft, sich zu vollenden« (552). Indes errege »unsere zweideutige, zerstreute Erziehung« 384 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden, den zwo Hauptkräften der Menschlichen Seele. In: Herder: Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877 - 1913 , Bd. 8 (Berlin 1892 ), 263 - 333 , hier 325 [erschienen 1775 ]. 385 Voßkamp: Utopie (Anm. 100 , 236 ) stellt fest, dass die Lehrjahre »den Antagonismus zwischen dem ›natürlichen Recht‹ des Subjekts und der ›gesellschaftlichen‹ Notwendigkeit von Institutionen« reflektieren, ohne eine »Lösung von Versöhnung« anzubieten. Doch dabei bleibt es nicht. Der Roman wertet das Recht des Subjekts eindeutig ab. So argumentiert auch Franziska Schößler, die durch die Entstehung einer arbeitsteiligen und mobilen Gesellschaft die Liquidierung der »emphatische[n]«, sich über »Gefühl, Herz und Erinnerung« definierenden Subjektivität dargestellt sieht (»Das Ende des Subjekts: Goethes ›Lehrjahre‹ und Kafkas ›Schloß‹«. In: Das Subjekt des Diskurses, hg. v. Achim Geisenhanslüke et. al., Heidelberg 2008 , 151 - 163 , hier 155 ). <?page no="114"?> 114 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« oftmals »Wünsche«, die den Anlagen widersprächen. Daher gelte es, derlei Verirrungen durch »Anleitung« (520) wieder zu beseitigen. Der Abbe´ ist also »so schätzbar« für die Sozietät, weil ihm die Natur einen »freie[n] und scharfe[n] Blick [ … ] über alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrer Art ausbilden läßt, gegeben hat (552). Der Abbe´ führt dem Turm potentielle Führungskräfte zu und bestimmt den Bereich ihrer späteren Verwendung. Dass ihn aber gerade der dilettierende Wilhelm interessiert, hat die Forschung zumeist hingenommen. Der junge Mann selbst findet es immerhin »sonderbar« (521). Denn durch nützliche Beschäftigung hat er sich bislang nicht ausgezeichnet. Beschämt gesteht er Therese: »Leider hab’ ich [ … ] nichts zu erzählen als Irrtümer auf Irrtümer, Verirrungen auf Verirrungen« (446). Er könne »gegen ihre großen Tugenden nichts [aufstellen], was eine zweckmäßige Tätigkeit beweise [ … ]« (505). Doch die Sozietät investiert in die Zukunft. Lothario hat schon früh »ein Auge auf die hervorkeimende hoffnungsvolle Jugend seines Vaterlands« (265). Der Kaufmannssohn und durch das großväterliche Erbe vermögende Wilhelm scheint über Voraussetzungen zu verfügen, die ihn für den Turm interessant machen. Auch besitzt Wilhelm eine »gute Art, sich gegen Fremde zu betragen« (86) und kann mit »Leichtigkeit [ … ] fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz« (ebd.) führen. Gewinnende Umgangsformen und Sprachkenntnisse sind in einer internationalen Handelsgesellschaft von Vorteil. Nicht nur Therese meint also, Wilhelm habe Potential. Er besitze »das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen« (531). Der moralische Impetus täuscht, wo es um nützliche Tätigkeit geht. Man schätzt am jungen Mann die Energie, mit der er sich seinen Unternehmungen widmet. Schon der Oheim hatte verkündet: Ich verehre den Menschen, der deutlich weiß, was er will, unablässig vorschreitet, die Mittel zu seinem Zweck kennt und sie zu ergreifen und zu brauchen weiß; inwiefern sein Zweck groß oder klein sei, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bei mir erst nachher in Betrachtung. [ … ] der größte Teil des Unheils und dessen, was man bös in der Welt nennt, entsteht bloß, weil die Menschen zu nachlässig sind, ihre Zwecke recht kennen zu lernen [ … ] (405 f). Der Abbe´ folgt derlei Lob des zweckmäßigen Handelns. Mag Meisters Interesse auch unvollkommen dem Theater gegolten haben: Besser sei es, auf dem »eigenen Wege« irrezugehen als »auf fremden Wege recht [zu] wandeln« (520). Nun bleibt übrig, Wilhelm die ästhetischen Flausen auszutreiben und seine Tatkraft in die richtigen Bahnen zu lenken. Dann, erklärt Therese, reiche »alle [ihre] Einsicht [ … ] nicht hin, zu ahnen, was er wirken kann« (532). Ein uneingeschränktes Lob ist das nicht. Die nüchterne Praktikerin befürchtet insgeheim, sie könne sich keinen Bereich vorstellen, in dem Wilhelm zu gebrauchen wäre. Mit derlei charakterlichem Vorbehalt rückt der junge Mann in Analogie zur Stiftsdame. Wohl weiß auch sie, was sie will, und ist zum Handeln nach einmal gefasstem Plan disponiert. Der Oheim schätzt ihre »schöpferische Kraft«: Des Menschen größtes Verdienst bleibt, wenn er die Umstände soviel als möglich bestimmt und sich so wenig wie möglich von ihnen bestimmen läßt. Das ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein großer Steinbruch vor dem Bausmeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufälligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammenstellt. Alles außer uns ist nur Element, ja, ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein <?page no="115"?> 115 2.4 Erziehung und Turmpädagogik soll, und uns nicht ruhen oder rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns auf eine oder die andere Weise dargestellt haben. (405) Zu großen Teilen sind die Ansichten des Turms zu erkennen. Indes nimmt die Fromme Wilhelms Irrtum vorweg. Zur praktischen Tätigkeit ist auch sie nicht zu überreden. Nur um ihr »sittliches Wesen« (405) kümmert sie sich. Derlei Rückzug ins Eigene prägt auch Wilhelm. Wie die Stiftsdame hat er sich um »inner[e] Bildung« bemüht und die »äußeren Verhältnisse« vernachlässigt. Freilich merkt er im Umkreis des Turms, »daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wirken« (491). Also gelobt er Besserung, wo Natalies Tante sich des Oheims pädagogischen Absichten verweigerte. Für sich und andere will Wilhelm, sich an Jarnos Mahnung erinnernd, nun tätig werden: »[N]imm dich zusammen und denke, was du für dich und die guten Geschöpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich knüpfte« (504). Hat sich die Sozietät also doch nicht im Kaufmannssohn getäuscht? Immerhin war er ausgezogen, »[sich] selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden« (290). Das Humboldtsche Bildungsideal mit seinem Anspruch auf allseitige Ausbildung der Anlagen ist zu erkennen. Nach Tätigkeit »in einem weiten Kreise« verlangt Wilhelm (292). Doch als Bürgerlicher habe er keine Aussicht, sein Ziel zu erreichen. Denn im »Wesen« des tätigen Bürgers sei »keine Harmonie«: Die moderne Ökonomie und Sozialstruktur verlange die Ausbildung »einzelne[r] Fähigkeiten« und der Bürger müsse also, »um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen« (291). Der Bürger habe in der Gesellschaft gemeinhin nur zu »leisten«, zu »schaffen«. Bei ihm erkundige sich niemand nach Repräsentation und »Persönlichkeit«, und er dürfe im Gegensatz zum Adligen »nicht fragen: ›Was bist du? ‹, sondern nur: ›Was hast du? ‹« (ebd.). Die »harmonische [ … ] Ausbildung« aller Anlagen und Wesensart sei nur dem Adligen vorbehalten, der schon »durch die Darstellung seiner Person alles gibt«, also repräsentiere und »scheine [ … ]« (291). Wilhelm muss sein Bildungsziel daher aufs Theater führen, in dem »der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen« (292) erscheine. Doch die Theaterbegeisterung verschiebt eine pädagogische und soziale Problematik nur ins Ästhetische. Lieber will Wilhelm spielen als die Herausbildung eines bürgerlichen Selbstbewusstseins durch praktische Tätigkeit befördern. Doch seine soziale Theorie ist längst antiquiert. Noch vor den Einreden des Turms wird deutlich, dass von Wilhelms Ansicht und damit auch von seinem Theaterleben wenig zu halten ist: Das dritte Buch mit seiner Karikatur des Repräsentieradels zeigt, dass dessen Epoche sich dem Ende zuneigt. Die Zukunft gehört nicht der französischen Hofetikette, sondern denen, die im Geiste des englisch-amerikanischen Pragmatismus zweckmäßig handeln. Schon die Architektur beweist, dass Meisters Adelsideal aus vergangenen Zeiten stammt. Das Grafenschloss atmet mit Haupt- und Nebengebäuden den repräsentativen Geist der Prachtbauten a` la Versailles, Lothario hat sein Schloss hingegen nicht schön, sondern zweckmäßig gebaut und vergrößert (vgl. 422 f.). Dazu passt, dass der Turm aus praktischen Menschen jeder Herkunft besteht, und Lotharios Pläne überhaupt die Aufhebung alter Adelsprivilegien und Standesgrenzen vorsehen. Und zuletzt formuliert der Abbe´ gegen Meisters Traum von der ästhetischen universitas : »Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit tun oder genießen will [ … ], der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen« (573). Der Turm glaubt nicht an Meisters Theaterkarriere. Vernünftig will man ihn zu Beschränkung und tätiger Praxis anleiten. Jarno berichtet des Abbe´s Meinung: <?page no="116"?> 116 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« [ … ] alles das [sämtliche Fähigkeiten und Kräfte, M. K.] und weit mehr liegt im Menschen und muß ausgebildet werden; aber nicht in einem, sondern in vielen. Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle können’s nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellen’s dar und viele bedürfen’s (552). Der Abbe´, der das Ideal einer komplementären arbeitsteiligen Gesellschaft verfolgt, wertet wie der Oheim keine Begabung ab. Alle seien im Zusammenwirken des Ganzen potentiell nützlich - und der Geistliche sei überzeugt gewesen, dass sich Erziehung und Tätigkeit an die Neigung, das der eigenen Natur Gemäße zu tun, anzuschließen hätten (vgl. ebd.). Ähnlich wie Adam Smiths Wohlstand der Nationen fasst der Abbe´ eine berufliche Spezialisierung nach Maßgabe der angeborenen »Begabungen« 386 ins Auge. Sie ist im besten Fall ein natürlicher Prozess, in dem der Mensch ohne äußere Anleitung seinen Talenten folgt und durch seine Fähigkeiten zum Wohle der arbeitsteiligen Gesellschaft beiträgt. Diesen sich geradezu selbst koordinierenden Interessensausgleich zwischen Einzel- und Allgemeininteresse bezeichnet Smith mit seiner berühmt gewordenen Metapher der »unsichtbare[n] Hand« 387 . Lasse man den Dingen ihren natürlichen Lauf, stelle sich »ganz von selbst das einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit her« 388 , in dem Wohlstand gerecht verteilt sei. Auch die Turmgesellschaft der Lehrjahre scheint der liberalistischen Maxime des laisser faire anzuhängen. Natalie bezeichnet in diesem Sinne die Haltung des Abbe´ als »Toleranz« (527), und überhaupt agiert die Sozietät zumeist unbemerkt im Verborgenen. Als ökonomische, säkulare Variante der manus invisibilis oder gubernatoris , der Figuration des ebenso unergründlichen wie unvordenklichen Heilshandelns Gottes, hat man sie also verstanden 389 und sie als Providenzersatz bezeichnet, zumal auch sie allen Auserwählten eine - freilich nicht länger religiös, sondern materiell konnotierte - bessere Zukunft verheißt: 390 Das Glücksversprechen des Turms (vgl. 553) meint einen realisierten ökonomischen Eingliederungsprozess nach der amerikanischen Maxime des pursuit of happiness . Wirklich verfolgt ja der Abbe´ in diesem Sinne eine Pädagogik, die sich maßregelnder Eingriffe und deutlicher Anleitung nach Möglichkeit enthalten soll: Nicht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, hält lange damit haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks, aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist (494 f.). Der Turm will den Schüler aus Fehlern lernen lassen, die zu begehen er die Freiheit haben musste: »[D]er Irrtum könne nur durch das Irren geheilt werden« (550). Hinter der Pädagogik des Irrens mag sich auch die Einsicht verbergen, dass strenge Vorschriften und Verbote im allgemeinen Renitenz und Ungehorsam auslösen. Regel und Vernunft werden 386 Smith: Wohlstand (Anm. 374 ), 18 . 387 Ebd., 371 . 388 Ebd., 582 . 389 Vgl. Joseph Vogl: Gespenst des Kapitals (Anm. 307 ), 41 f. Vgl. zur religiösen Tradition Claudius Luterbacher-Maineri: Adam Smith - Theologische Grundannahmen. Eine textkritische Studie, Freiburg/ Wien 2008 und Joh 5 , 17 . 390 Es spricht in diesem Zusammenhang übrigens nicht gegen den Turm, dass trotz aller Bemühungen nicht alle Personen das Bildungsziel erreichen. Auch die Bibel ist bis hinein ins Neue Testament reich an Geschichten, die davon erzählen, dass selbst Gottgefällige vom rechten Glauben abfielen. <?page no="117"?> 117 2.4 Erziehung und Turmpädagogik des Despotismus verdächtigt. Noch in Kleists Allerneuestem Erziehungsplan von 1810 heißt es: »Das gemeine Gesetz des Widerspruchs ist jedermann, aus eigner Erfahrung, bekannt; das Gesetz, das uns geneigt macht, uns, mit unserer Meinung, immer auf die entgegengesetzte Seite hinüber zu werfen.« 391 In den Lehrjahren lehnt sich die ›wahnsinnige‹, auf ihrer Einbildungskraft beharrende Mignon - »Die Vernunft ist grausam« (489) - gegen die Alleinherrschaft der Ratio auf. Auch Wilhelm ist dann umso folgsamer, wenn der Geist des Widerspruchs nicht geweckt wird. Also sucht die Turmpädagogik ihre Absichten bei Wilhelm durch das zu erreichen, was ihnen zu widersprechen scheint. Gerade die Beförderung des Gegenteils werde wegen des Widerspruchsgeistes zum gewünschten Resultat führen. Man unterstützt also Wilhelms theatralische Versuche, um den jungen Mann nur desto sicherer von der Bühne zu entfernen. Was paradox scheinen mag, führt Kleists Erziehungsplan aus: Damit junge Menschen in wünschenswerter Weise geformt würden, solle »eine sogenannte Lasterschule , oder vielmehr eine gegensätzische Schule, eine Schule der Tugend durch Laster » 392 errichtet werden. 393 Für den Turm besteht nun der Sinn von Wilhelms Theaterlaufbahn in der Erkenntnis, dass man sich vor Neigungen und vor »einem Talente hüten [soll], das man in Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat« (551). Doch Wilhelm will das nicht einsehen. Also muss der Turm eingreifen: Im Moment des größten Erfolgs, nach der Hamlet -Premiere, erhält Wilhelm die Botschaft des Geistes, die ihn dazu auffordert, die Bühnenkarriere aufzugeben. Damit zeigt sich, dass die Pädagogik des Irrens Grenzen besitzt. An ihnen wird die vermeintlich ›unsichtbare Hand‹ sehr sichtbar, insofern kein Zweifel daran besteht, dass zuletzt immer Vernunft die Natur lenken und formen muss. Der Turm macht Lebensläufe und greift in das Leben derjenigen ein, für die er sich interessiert und die er »zurechte zu bringen« (436) hofft. Bei aller ökonomischen Ausrichtung redet der Turm doch keinem Marktliberalismus Smithscher Prägung das Wort. 394 Sicher wird man in den Erziehungsplänen eher einen ins Wirtschaftliche gewendeten Reflex reformpädagogischer Bestrebungen des 18. Jahrhunderts sehen können. Daneben lässt sich die Turmpädagogik als Kritik an der Unvollkommenheit bürgerlicher Erziehung lesen. Am schwärmerischen Wilhelm, aber auch an Therese hatte sich gezeigt, dass sie weder zu Produktivität noch zu Vernunft anhält, sondern stattdessen zum »falschen Weg« der Einbildungskraft einlädt. Doch nicht durch ästhetische Schwärmerei, sondern durch ökonomische Begabung wird die neue Gesellschaft eingerichtet. Ressourcen soll man daher mit Blick auf die rationale Ökonomisierung der Gesellschaft nicht verschwenden, meint der Turm, und so bewahrheitet sich, was die Stiftsdame am eigenen Leib erfahren hatte: »Im Praktischen ist doch kein Mensch tolerant! « (419) 391 Heinrich von Kleist: Allerneuester Erziehungsplan. In. Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Ilse-Marie Barth et. al., Frankfurt/ Main 1987 - 1997 , 4 Bde., Bd. 3 ( 1990 ), 545 - 551 , hier 546 . 392 Ebd., 550 . 393 Als Quelle für Kleists Allerneuesten Erziehungsplan hat man bislang Adam Müllers Lehre vom Gegensatz ( 1804 ) betrachtet. Möglicherweise liegt aber auch eine Goethe-Reminiszenz aus den Lehrjahren zugrunde. Kleist hat bekanntlich in einige seiner dichterischen Texte Goethe-Motive eingebaut. Vgl. zu Kleist und Goethe Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe, (Anm. 58 ). 394 Ich stimme hier Lottmann (Arbeitsverhältnisse, Anm. 106 ) zu, der darauf hinweist, dass die »Gegensätze der Eigeninteressen« nicht wie bei Smith durch eine unsichtbare Hand ins Gleichgewicht gebracht werden, sondern durch die Intervention des Turms ( 143 f.). »Radikal-liberal« ist also die Wirtschaft nicht, die die Lehrjahre imaginieren (Stefan Blessin: »Die radikal-liberale Konzeption von ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. In: DVjs 49 ( 1975 ), 190 - 225 ). Auch Vogl, (Kalkül, Anm. 102 , 36 ) geht bei der Herausbildung von Ökonomie und ökonomischem Menschen von einer unsichtbaren Hand aus. <?page no="118"?> 118 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Das Prinzip rationaler Unduldsamkeit verkörpert dabei insbesondere Jarno. In allen Belangen will er kategorisch durchgreifen und streitet mit dem Abbe´ darüber, ob man Meister nicht durch strenge Vorschriften eines Besseren belehren solle. Als rationaler Misanthrop ärgert sich Jarno über die Vernunftfeindlichkeit des »Menschenpack[s]« (433) ebenso wie über Wilhelms Schwäche für »einen herumziehenden Bänkelsänger und [ … ] ein albernes, zwitterhaftes Geschöpf« (193). Auch zögert er nicht, Wilhelm missgelaunt und ungeduldig mit harten Worten zurechtzuweisen: Ohne ihn zu »schonen« (550), sagt er ihm auf den Kopf zu, kein Talent zum Schauspieler zu haben (vgl. 469, 551). Damit entspricht der kalte Analytiker der Maxime der Wanderjahre : »Die Mängel erkennt nur der Lieblose; deshalb, um sie einzusehen, muß man auch lieblos werden, aber nicht mehr, als hiezu nötig ist« (HA 8, 295). Nicht nur Wilhelm bemerkt daher alsbald etwas »Kaltes und Abstoßendes« (162) an Jarno. Doch er hätte schon dem Namen Jarno entnehmen können, mit wem er es zu tun hat. Denn »einen großen Einfluß«, berichtet die Theatralische Sendung , besitzen »Namen [ … ] auf die Vorstellung der Menschen« 395 . Freilich weiß man in den Lehrjahren »nicht recht, was man aus dem Namen machen sollte« (162). Doch Jarno ist eine finnische Variante zu ›Jarmo‹ oder ›Jorma‹, welche wiederum den Namen ›Jeremias‹ abwandelt, die griechische Form des hebräischen ›Jeremia‹, des Propheten des Alten Testaments. 396 Zu denken ist eine Analogie: So wie der Prophet das Volk Israel zur Gottesfurcht anhielt, ist Jarno im Roman der Mahner für rechtes, also vernunftgemäßes Verhalten. Auch am Serbokroatischen mag sich Goethe inspiriert haben. Als Kontraktion von ja´ poc но (›jarosno‹) bedeutet das Adjektiv jaˆ p н o (›jarno‹) dort ›zornig, grimmig, aufgebracht, erbittert‹ 397 und gemahnt so an Jarnos unduldsamen Vernunfteifer. Diese Etymologie mag zunächst entlegen erscheinen. Doch als zusätzliches Geheimnis hat Goethe osteuropäischen Sprachen des öfteren Personennamen entlehnt. Der Name Nachodine in den Wanderjahren etwa stammt von den serbischen bzw. slowakischen Verben nahoditi und nachadzat/ nachodit , ›finden‹. Er deutet auf das Webereizentrum Nachod und darauf, dass man das vermisste Mädchen schließlich doch entdecken wird - im Kontext der sich ausbreitenden Textil- und Weberindustrie. 398 Indessen stößt bloße Ratio in der Pädagogik der Lehrjahre schnell an ihre Grenzen. Jarno weiß es selbst: Er ist ein »schlechter Lehrmeister« (550). Schon an Mignon hatten die Lehrjahre gezeigt, dass schwärmerischer Unvernunft mit Logik nicht beizukommen ist. Psychologisch geschickt, will man den Vorwurf des grausamen Despotismus vermeiden. Gegen die Leitung des Turms soll der Schüler nicht revoltieren. »Zutrauen« (495) soll er stattdessen zu seinen Erziehern fassen. Um so eher sei er dann bereit, seinen Irrtum einzusehen und zu den falschen Anfängen nicht zurückzukehren: Wilhelm, erklärt man ihm, werde »keine [s]einer Torheiten [ … ] zurückwünschen« (495), sondern vielmehr »den Verlust von Zeit und Kräften, den man auf eine solche Pfuscherei [d. i. das Theater, M. K.] gewendet hat, 395 Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. In: MA 2 . 2 , 101 . 396 Vgl. Wilfried Seibicke: Historisches Deutsches Vornamenbuch in 4 Bänden, Berlin 1996 - 2003 , Bd. II, 528 (Jarmo), 527 (Jorma), 597 (Jeremias), 549 (Jeremia). 397 Vgl. Pечник србскохрватског књижевног и народног Jезика (Wörterbuch der serbokroatischen Literatur- und Volkssprache), hg. v. Institut für serbokroatische Sprache, Belgrad 1973 , Bd. VIII, 586 . 398 Der Nachweis bei Peter Horwath: »Zur Namengebung des »nußbraunen Mädchens« in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹«. In: GJb 89 ( 1972 ), 197 - 304 . Allerdings verbirgt sich hinter dem Namen auch ein Schillerbezug. In Nachod stand Wallensteins Schloss. Indem Goethe an das erste realistische Drama des Dichterfreundes erinnert, reflektiert er dessen Abwendung von den idealistischen Anfängen. Vgl. dazu Marcel Krings: »Nachodine oder die empirische Freiheit. Goethes Ontophysik des Geistes als Reflexion auf Schillers Konzession des Realismus«. In: Wirkendes Wort 52 ( 2002 ), 57 - 66 . <?page no="119"?> 119 2.4 Erziehung und Turmpädagogik schmerzlich bedauern« (551). Für die Sozietät steht fest, dass der schauspielernde Wilhelm nur dilettiert. Der grimmige Jarno sagt Wilhelm ohne Nachsicht, es sei ausgemacht daß, wer sich nur selbst spielen kann, kein Schauspieler ist. Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht diesen Namen. So haben Sie z. B. den Hamlet und einige andere Rollen recht gut gespielt, bei denen Ihr Charakter, Ihre Gestalt und die Stimmung des Augenblicks Ihnen zugute kamen (551). Jarno muss es wissen. Er selbst hatte Meister auf dem Grafenschloss mit Shakespeares Dichtung bekannt gemacht. Nur schlecht hatte er mit ansehen können, dass Wilhelm seine Zeit damit verbrachte, »diese Affen [d. i. die Schauspieler, M. K.] menschlicher auszuputzen und diese Hunde tanzen zu lehren« (180). Wilhelm vergeude sein Talent. Getreu seinem Prinzip, »einem Irrenden [ … ] gleich zurufen [zu müssen], und wenn es ein Nachtwandler wäre, den ich in Gefahr sähe, geradenwegs den Hals zu brechen« (550), will Jarno Meister unverzüglich - und ohne weiteres Irren - zu praktischer Tätigkeit bewegen. Weil er ihn als Schwärmer durchschaut, nimmt er Shakespeare zu Hilfe. Die dichterische Darstellung von Welt könne ihre Wirkung auf Wilhelms Einbildungskraft nicht verfehlen. Über den Umweg der Kunst soll der junge Mann Lust auf die Außenwelt bekommen und zur tätigen Beschäftigung mit ihr angeregt werden. Wirklich erkennt er schon bald, »tausend Empfindungen und Fähigkeiten« seien in ihm rege geworden, »von denen er keinen Begriff und keine Ahnung gehabt« (185) habe. Und weiter: Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespeares Welt getan, reizen mich mehr als irgend etwas anderes, in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun [ … ] (192). Jarno ist zufrieden. Meisters Bekenntnisse verheißen schnellen Erfolg, und der junge Mann scheint sich zum Turmmitglied zu eignen: Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tätiges Leben überzugehen, und eilen Sie, die guten Jahre, die Ihnen gegönnt sind, wacker zu nutzen. [ … ] mögen Sie Ihre Kräfte und Talente unserm Dienst widmen, Mühe und, wenn es not tut, Gefahr nicht scheuen, so habe ich eben jetzo eine Gelegenheit, Sie an einen Platz zu stellen, den eine Zeitlang bekleidet zu haben Sie in der Folge nicht gereuen wird (193). Doch die ästhetische Erziehung schlägt fehl. Jarnos Rat bricht dem »Nachtwandler« beinahe den Hals. Denn keineswegs ist er bereit, dem Theater zu entsagen. Wohl will er tätig werden, aber nur auf der »Schaubühne«, von wo aus er Shakespeares Dichtung »dem lechzenden Publikum meines Vaterlandes auszuspenden« (192) und gar zum Gründer eines deutschen Nationaltheaters zu werden gedenkt (vgl. 35). Jarno hat die Wirkung schlecht berechnet, die Kunst auf Wilhelms Einbildungskraft entfaltet. Gebannt wie von »Zauberern, die durch magische Formeln eine ungeheure Menge allerlei geistiger Gestalten in ihre Stube herbeiziehen«, sitzt Meister in seiner Stube und liest. Doch »[u]nglücklicherweise hat der Schwarzkünstler das Wort vergessen, womit er diese Geisterflut wieder zur Ebbe bringen könnte« (185). Der junge Mann ist ein zweiter Zauberlehrling . Die Ratio, das Handwerkszeug des Künstlers ebenso wie des Turmmenschen, beherrscht er nicht. Er bleibt Dilettant. Wilhelm vergisst aber so nicht nur die Welt, zu deren tätiger Praxis ihn Jarno überreden wollte. Er wählt aus allen shakespeareschen Personen ausgerechnet die passivste für eine Aufführung aus: Hamlet. Auf den dänischen Königssohn projiziert er unbewusst seine subjektive Befindlichkeit: »[O]hne zu wissen, was ich tat, [hatte ich] die Rolle des Prinzen übernommen« (217). »Schwankende Melancholie«, »weiche Trauer«, »tätige Unentschlossenheit« <?page no="120"?> 120 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (306), »Hinschlendern« und die Erkenntnis des Schönen »bis auf einen gewissen Grad« (218) zeichnen neben dem Dänen auch Wilhelm aus. Dass man das Stück als Schicksalsdrama versteht (vgl. 308), weist auf Meisters Fatumgläubigkeit, dass man die »äußern Verhältnisse« (296) der Handlung - die Unruhen in Norwegen, den Fortinbrasplot und anderes - zugunsten der Innerlichkeit der Figuren beschneidet, auf seine innere Empfindsamkeit. Hatte aber der Text schon Wilhelms Überzeugungen als antiquiert betrachtet, so zeigt sich nun, dass auch die Aufführung ein einziges ästhetisches Missverständnis ist. Jarno hat recht: Wilhelm spielt nur sich selbst. Als er einmal zweifelt, ob er der Rolle so gerecht werden könne, beruhigt man ihn: »Die Intention des Autors liegt uns nicht so nahe als unser Vergnügen, und wir verlangen einen Reiz, der uns homogen ist« (307). Wirklich kongruiert das Stück vor allem wegen seiner Vater-Sohn-Problematik mit Wilhelm. Die Pädagogen des Turms erkennen Wilhelms unbewusste psychische Bürde sofort und wissen sie sich zunutze zu machen. Denn wie Hamlet leidet Wilhelm darunter, dass der Vater ihn nicht für voll nimmt. Wie Hamlets Vater »eine große Tat auf eine Seele [legte], die der Tat nicht gewachsen ist« (245 f.), so hatte auch der alte Meister vergeblich etwas von seinem Sohn gefordert: Zum konsequent Handelnden solle er sich ausbilden. »[V]erdrießlich« (11) hatte er deshalb Wilhelms ästhetische Eskapaden mit Puppenspiel und Theater beobachtet, und die Mutter berichtete, der Vater wiederhole »immer, wozu es nütze sei, wie man sein Zeit nur so verderben könne« (11). Mit Werners Vater war er zwar übereingekommen, Wilhelm auf Geschäftsreise zu schicken, damit er endlich praktisch werde. Aber er fürchtete - zu recht -, sein Sohn werde dabei »mehr Lehrgeld geben als der Ihrige« (41). Für Wilhelm ist die väterliche Geringschätzung ein Problem. Zwar verbündet er sich noch enger mit der Mutter. Als er aber die Nachricht vom Tod seines Vaters erhält, trifft sie ihn »im Innersten«: Er fühlte tief, wie unempfindlich man oft Freunde und Verwandte, solange sie sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen, vernachlässigt und nur dann erst die Versäumnis bereut, wenn das schöne Verhältnis wenigstens für diesmal aufgehoben ist. Auch konnte der Schmerz über das zeitige Absterben des braven Mannes nur durch das Gefühl gelindert werden, dass er auf der Welt wenig geliebt [ … ] habe (284). Wut hat der Sohn auf den Vater, weil der ihm Liebe und Anerkennung verweigerte. Aus Trotz hat ihn der Sohn also »vernachlässigt«. Dennoch hätte er eine Annäherung gewünscht. Dem Vater hätte er gern bewiesen, dass etwas aus ihm geworden ist. Nun hat er das ›versäumt‹ - durch den unerwarteten Tod des Alten. Es bleiben ihm ein schlechtes Gewissen und die Suche nach männlicher Wertschätzung. Dass er sich nicht noch einmal als unwürdig erweisen will, kommt dem Turm sehr zustatten. 399 Man kann Wilhelm dazu bewegen, seinen theatralischen Ausflug zu beenden. Einbildungskraft, hatte schon Jarno gemeint, solle Wilhelm auf den rechten Weg bringen. Der Abbe´ ist nicht dagegen. Man müsse sie nur richtig anwenden. Der Geistliche gibt also ohne Wilhelms Wissen den Geist des Vaters, als man Hamlet aufführt. Mit »Mißmut« und »einem tiefen Gefühl des Verdrusses« weiß er zu spielen und Meister auf diese Weise den Ton der väterlichen Anklage noch postum zu erinnern. Doch gerade sein »Verlangen« nach dem Vater befördert sein schlechtes Gewissen. Der alte Meister hatte nicht gewollt, dass sein Sohn auf der Bühne stehe. Als der Vater ihm in der Gestalt des Geistes gegenüberzutreten scheint, ist Wilhelm daher »[f]urchtsam« und »verlegen«, ihn quält die »Sorge«, den Geist des Vaters »zu beleidigen«, und »selbst die 399 Man kennt die Verhältnisse im Hause Meister. Schließlich hatte der Abbe´ die Sammlung des Großvaters im Auftrag des Oheims gekauft und sich zu diesem Zweck sieben Tage bei der Familie aufgehalten. <?page no="121"?> 121 2.5 Kunst Unschicklichkeit, ihm als Schauspieler in dieser Situation zu nahe zu treten« (322), bewegt ihn. Als der Geist überdies den Schleier mit der Aufforderung »Zum ersten- und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh! « (328) zurücklässt, ist das der Anfang vom Ende. Nach dem Theaterbrand bricht die Truppe auseinander, Melina wendet sich der Oper zu, und Wilhelm bricht angewidert mit den Schauspielern (vgl. 433 f.). Die Turmgesellschaft kann zufrieden sein. Doch sie will sichergehen, dass Wilhelm seine Lektion wirklich gelernt hat. Bei der Verleihung des Lehrbriefs lässt man den Geist also ein letztes Mal auftreten: Ich bin der Geist deines Vaters [ … ] und scheide getrost, da meine Wünsche für dich, mehr als ich sie selbst begriff, erfüllt sind. Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum andern. Lebe wohl und gedenke mein, wenn du genießest, was ich dir vorbereitet habe! (495) Es geht um Kontinuität. Der Vater gewährt dem Sohn, der dem Theater abgeschworen hat, seine Anerkennung. Die Sozietät kann nun beruhigt sein, dass Wilhelm das väterliche Wohlgefallen nicht aufs Spiel setzen wird: Zum Theater wird er nicht zurückkehren. Doch das »mehr als ich selbst begriff«, das man dem Geist in den Mund legt, ist ironische Zutat: Der alte Meister, jener »brave Mann«, hätte sich gewiss weder seinen postumen Einsatz träumen lassen noch sich überhaupt dazu hergegeben. 2.5 Kunst Der Abbe´ hat ein Meisterstück abgeliefert. Wie es zunächst scheint, hat seine Pädagogik des Irrens bei Wilhelm die Verirrungen der Phantasie mittels Einbildungskraft kuriert. Dass man Wilhelm auf diese Weise zugleich allen Subjektivismus, sein Dilettantentum und seine schwärmerische Kunstpraxis austreiben möchte, darf man auch als Goethes Einrede gegen eine völlig »falsche Tendenz« in der ästhetischen Erziehung lesen. Die ökonomische Avantgarde des Turms, von deren vielköpfigem Personal man nicht in allen Punkten eine kohärente Ansicht erwarten darf, interessiert sich in diesem Sinne entweder gar nicht mehr für Kunst und ihre Wirkungen oder vertritt wie der Abbe´ die Maxime einer objektiven Ästhetik. Sie betont gegen alle ausufernde Gefühlsseligkeit die Notwendigkeit einer vernünftigen Formgebung in Kunst und Leben. Damit entspricht sie Goethes eigenem Grundsatz der Objektivität, der die Bändigung der Leidenschaften nicht nur im praktischen Leben, sondern im Sinne einer Hinwendung zum Faktischen auch in der Kunst einforderte. Damit war jegliche Art von Effektkunst ebenso verworfen wie moralische Lehrstücke oder die Kategorie der Nützlichkeit. 400 Auch der Abbe´ meint im Sinne einer realistisch-objektiven Lebensführung, dass die Kunst vernünftigen Handelns helfe, nicht in »unbestimmte[m] Schlendern« (HA 7, 141) zu verharren, sondern das eigene Geschick selbst zu leiten, indem man es »wie der Künstler eine rohe Materie [ … ] zu einer Gestalt umbilde [ … ]« (72). Die Meisterschaft des Turms, wie sie der Lehrbrief sentenzhaft formuliert, ist praktische Lebenskunst, die lehrt, ein rationales, tätiges Leben wie ein gelungenes Kunstwerk zu achten und zu gestalten. Denn Verstandeskunst setzt für den Einzelnen einen hohen Aufwand an formender Bildung voraus. Durchaus im ästhetischen »Gleichnis« (549) wird er vom Abbe´ in seinem Gespräch mit dem Marchese erwogen (vgl. 572 ff.). Das produktive Genie müsse sich 400 Vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik (Anm. 143 ), 474 und 479 . Zwischen Goethe und Schiller war der von Schiller etwa im Horen-Vorwort formulierte Grundsatz der objektiven Kunst Konsens. <?page no="122"?> 122 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« seiner sämtlichen Fähigkeiten und Kenntnisse versichert haben, um sein Sujet - konkret etwa die Reformprojekte Lotharios - ins Werk zu setzen. Dazu müsse es sich - wie der Turm - aus einer Gesellschaft absondern, die vom Künstler nichts als Gemütsaffekte verlange, die auf Kosten des »wahren Kunstgenusse[s]« (573) leicht zu bedienen seien. Aber diesen Weg eines »kümmerlichen Märtyrertum[s]« (572) wähle nicht leicht ein Künstler. Publikum und Kulturbetrieb dankten es ihm nicht. So unerzogen seien beide, dass sie mit sehr partikularen Ansprüchen die Künstler verdürben. Kunst betrachte man als Morallehre und pädagogisches Exempel und verlange, dass »ein Gemälde [ … ] lehren, ein Schauspiel bessern« solle. Oder man sehe die Werke als Beförderung des Gemütslebens: Eigentlich aber, weil die Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem Wesen selbst keine Gestalt geben können, so arbeiten sie, den Gegenständen ihre Gestalt zu nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören. Alles reduzieren sie auf den sogenannten Effekt, alles ist relativ, und so wird auch alles relativ, außer dem Unsinn und der Abgeschmacktheit, die denn auch ganz absolut regiert (573 f.). Zu denken ist an Melina und seine Theaterunternehmung. Wohl hatte Melina - damals zu Wilhelms Freude - die bürgerliche Laufbahn und ihre Zwänge abgelehnt. Auf dem Theater wollte er mit seiner Frau reüssieren. Doch alsbald genügt ihm die bloße Kunst nicht mehr. Geld will er verdienen, die Truppe als rentables Unternehmen führen. Gegen Hamlet hat er nichts einzuwenden, solange das Stück etwas einbringt. Nach Wilhelms Abschied aber ist er sich mit Serlo einig: Schneller als mit Ansprüchlichem lässt sich mit dem Massengeschmack Kasse machen. Man verlegt sich also auf die Effektkunst Oper - und fesselt wirklich die »ganze Aufmerksamkeit des Publikums an sich« (474). Derlei ästhetische Lässlichkeit tadelt der Abbe´. Im Sinne des Turms wiederholt er Gefühlsverachtung und Wertschätzung des formenden Verstandes. Denn die »meisten Menschen« seien »selbst formlos« und »arbeiten [ … ], den Gegenständen ihre Gestalt zu nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören« (573). So misslingt freilich die Ausbildung der Lebenskunst, und alle Vorhaben bleiben Stückwerk. In Wahrheit dürfe man daher weder »Gewissen«, noch »Moral« oder »Liebe und Haß«, kurz die »armseligsten Bedürfnisse [ … ]« (574) auf die Kunstwerke projizieren. Es gelte vielmehr, eine gute Statue, ein treffliches Gemälde an und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesangs willen zu vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich eines Gebäudes um seiner eigenen Harmonie und Dauer willen zu erfreuen! (573) Was ein Bekenntnis zu interesseloser Kunst ist, heißt in Bezug auf gelungene Lebensführung freilich auch: In der Praxis der Ökonomen spielen weder Moral noch Leidenschaften eine Rolle. Geschäfte werden allein nach Maßgabe kalter und vernünftiger Kalkulation durchgeführt, und wohl mag ein gelungener Coup schließlich wie ein Kunstwerk erfreuen. Dass Kunst aber das Vorliegende ohne subjektive Rücksichtnahmen zu schildern und auf moralische Unterweisung wie auf Gemütserregung zu verzichten habe, führt auch zu den Lehrjahren zurück. Denn durch die objektive Darstellungsweise erschließt sich die Pragmatik des Romans nicht leicht, und so lassen sich die Worte des Abbe´ zuletzt als Plädoyer für einen rationalen Leser verstehen. Dass der Abbe´ freilich um die Aussichtslosigkeit seiner Bildungsprinzipien weiß, ändert nichts daran, dass Wilhelms ästhetischer Dilettantismus gescheitert ist. Doch neben Meister hatte auch der Oheim auf das pädagogische Potential der Kunst gesetzt. Stärker als die <?page no="123"?> 123 2.5 Kunst Generation der Großenkel - Lothario, Natalie, aber auch deren Freundin Therese - hatte er den Widerstreit von Natur und Geist empfunden. Aus »sittliche[m]« und »sinnliche[m]« (405) Wesen bestehe der Mensch, und permanent kämpften sie um die Vorherrschaft. Ein beständiges Entweder-Oder forderten sie dem Menschen ab, wie der Oheim in ökonomischer Metaphorik meint: Man kann die Ware und das Geld nicht zugleich haben; und der ist ebenso übel dran, dem es immer nach der Ware gelüstet, ohne dass er das Herz hat, das Geld hinzugeben, als der, den der Kauf reut, wenn er die Ware in Händen hat (406). Es sei daher notwendig, »Verstand« und »Empfindung« in Einklang zu bringen. Nur dann könne der Mensch wahrhaft produktiv werden und den »ewigen Widerspruch mit sich selbst« (ebd.) vermeiden. Dafür schlägt der Oheim zunächst vernünftige Tätigkeit vor: Alles außer uns ist nur Element, ja, ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns auf eine oder die andere Weise dargestellt haben (405). Der Oheim liefert die Vorform aller Turmideologie. Reflexion und Praxis sind die Bedingungen dafür, dass der Mensch die Möglichkeiten seiner Natur nutzt und ins Werk setzt. Dafür muss er die Umstände bestimmen, sich auf ein Konkretes beschränken, die Mittel zu seinem Zwecke kennen (vgl. 405) und also stets nach etwas streben, »mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit [ … ] verbinden kann« (407). Erst dann beuge er der Gefahr des Dilettantismus vor und lege den Grund für ernsthafte und sinnvolle Tätigkeit. Ansonsten gleiche er den Leuten, »die den Begriff haben, es müsse ein Turm gebauet werden, und die doch an den Grund nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man allenfalls einer Hütte unterschlüge« (406). Das Bild hat dazu beigetragen, die Turmgesellschaft als Umsetzung der pädagogischen Ideen des Oheims zu verstehen. Wohl scheint der Abbe´ Lothario und Natalie im Sinne des Oheims zu leiten, wohl steigen beide zu maßgeblichen Mitgliedern des Turms auf. Doch ganz so einfach liegt die Sache nicht. Zum Oheim geht der Turm schnell auf Distanz. Er hatte freimütig gestanden, in Arbeit allein nie harmonische Erfüllung gefunden zu haben. Natalie berichtet: ›Wenn ich nicht‹, pflegte er zu sagen, ›mir von Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, meinen Verstand ins Weit und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der beschränkteste und unerträglichste Mensch geworden; denn nichts ist unerträglicher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine, gehörige Tätigkeit fordern kann.‹ Und doch mußte er selbst gestehen, daß ihm gleichsam Leben und Atem ausgehen würde, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit etwas nachsähe und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu genießen, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte. ›Meine Schuld ist es nicht‹, sagte er, ›wenn ich meine Triebe und meine Vernunft nicht völlig habe in Einklang bringen können‹ (539). Der Oheim handelt der eigenen Theorie zuwider. Arbeitspflicht und spezialisierende Beschränkung kann er nicht als alleinigen Lebenszweck anerkennen. Seine Natur rebelliert gegen derlei Verstandeszwang, und so kehrt Rousseaus Problem aus dem Gesellschaftsvertrag wieder: Warum sollten egoistische Naturtriebe nicht dem Primat der Ratio hohnlachen? Für die vernünftige Natalie steht daher fest: Der Oheim »war ein sonderbarer Mann« (539). Wohl auch er selbst scheint mit der Willkür seiner Neigungen unzufrieden gewesen zu sein. Wenn nicht Arbeit, so muss etwas anderes ihm zur Harmonie verhelfen: die Kunst. Sie soll den Widerstreit von Geist und Natur versöhnen. Aus therapeutischem Impetus erwirbt der <?page no="124"?> 124 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Oheim daher nicht nur die Sammlung, die Wilhelms Großvater gehörte, sondern besitzt überdies eine Bibliothek von einiger Berühmtheit (vgl. 401). Die Stiftsdame bemerkt den »harmonischen Eindruck« (402) im Haus, der zu Besinnung einlädt und den Betrachter auf sich selbst zurückführt. Und als die Schwester der Stiftsdame verheiratet wird, weiß der Oheim zur Feier eine Musik auszusuchen, »die durch bestimmte und geübte Organe in harmonischer Einheit wieder zum tiefsten und besten Sinne des Menschen sprach und ihn wirklich in diesem Augenblick seine Gottähnlichkeit lebhaft empfinden ließ« (411). Die Betonung der harmonischen Synthese von Natur und Geist spielt auf Schillers Theorie der ästhetischen Erziehung an. Sie sollte der Einseitigkeit der bloßen Vernunfterziehung vorbeugen. Kunst sei die schöne Synthese von Form und Stoff. Kant hatte Schönheit als freies Spiel der Erkenntnisvermögen expliziert, und so könne Kunst ganz praktisch zur Errichtung eines schönen Staats der Freiheit anleiten, in dem der Widerstreit von Sinnlichkeit und Vernunft im ›Spieltrieb‹ vermittelt sei. Derlei Theorie wurde von der romantischen Spekulation fundiert. Die zeitgenössische Philosophie - Fichte, Schelling, Novalis - setzte ab 1795 auf das Absolutidentische als gemeinsamen Grund der beiden von Kant getrennten Reiche. Als »Gottähnlichkeit« deutet ihn der Text an. Der Oheim jedenfalls erklärt seine pädagogischen Ziele der Stiftsdame. »[W]ie im Gleichnisse« stellten Kunstwerke die »moralische Bildung« des Menschen dar, weil sie Handwerk und Genie, Natur und Geist, so vereinten, wie der Mensch es tun solle: [U]nd wir sehen daraus, daß man nicht wohl tut, der sittlichen Bildung einsam, in sich verschlossen nachzuhängen; vielmehr wird man finden, daß derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur strebt, alle Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit er nicht in Gefahr komme, von seiner moralischen Höhe herabzugleiten, indem er sich den Lockungen einer regellosen Phantasie übergibt und in den Fall kommt, seine edlere Natur durch Vergnügen an geschmacklosen Tändeleien, wo nicht an etwas Schlimmerem herabzuwürdigen. (408) Der Oheim weiß ja, wovon er spricht. Seine Leidenschaften hatten ihm immer wieder einen Strich durch die vernünftige Rechnung gemacht. Doch auch an Wilhelms weltfremden Dilettantismus und der Stiftsdame Rückzug in die Innerlichkeit wird kritisch erinnert. Beiden mangelt es an eben der Harmonie, zu der idealistische Kunstdeutung überreden will. Der Oheim will aber so schnell nicht aufgeben. Die Stiftsdame will er ästhetisch erziehen. Also sendet er ihr »seine besten und gefälligsten Kunstwerke« (411), damit sie neben ihrer schwärmerischen Religiosität auch die dargestellte empirische Realität anerkenne, neben dem Geist also auch den Stoff. Die Weltabgewandte erkennt auch des Oheims Absicht: Die Bilder sollten sie »belehren, rühren, bessern« (412). Doch nur zu bald kehrt die junge Frau in sich selbst zurück. Sie beharrt auf ihrer Absage an Natur und Welt, und von der Erziehung ihrer Nichten und Neffen halten die praktischen Menschen des Turms sie von nun an fern. Der Text glaubt damit nicht an ästhetische Erziehung. Auch der Oheim muss am Ende zugeben, dass das Kunstschöne in der Praxis keineswegs den gewünschten Effekt habe. Die empirische Wirklichkeit konterkariert alle idealistische Theorie und kassiert Schillers geschichtsphilosophische Konstruktion des ästhetischen Staates, der die Zerrissenheit der Zeit kunstvoll versöhnen sollte. Die Lehrjahre zeigen das anhand von Wilhelms Theaterversuchen. Auch Meister hatte sich, das Projekt des Oheims vorwegnehmend, nach einer »harmonischen Ausbildung [s]einer Natur« (291) gesehnt, die er meinte, ausschließlich auf dem Theater finden zu können. Doch er zielt auf mehr. Aus seiner Überzeugung will er das Grundgesetz einer »kleinen Republik« (215) machen. Mit den Schauspielern gründet er also <?page no="125"?> 125 2.5 Kunst einen »neuen Staat [ … ]« und lässt sich »zum ersten Direktor« wählen: Man spielt die ästhetische Gesellschaft. Doch nicht in der Wirklichkeit regiert Wilhelm. Laertes stellt fest: »Es ist ein wanderndes Reich [ … ], wir werden wenigstens keine Grenzstreitigkeiten haben« (216). Reales kümmert sich wenig um Schönheit. Schon die Schauspieler selbst haben zumeist anderes im Kopf als Fragen der Kunst oder Interpretation: Philine die Erotik, Melina Finanzielles, Aurelie Liebesleid, und was das dritte und vierte Buch sonst an nicht-ästhetischen Motiven zeigen. Schon Novalis bemerkte, »das viele Intrigieren und Schwatzen und Repräsentieren [ … ] [verrate] das vornehme Schloß und das Weiberregiment - und [errege] eine ärgerliche Peinlichkeit.« 401 Und wenn sich die Gesellschaft später der Oper zuwendet, wird deutlich, dass man sich aus kommerziellen Gründen jener Effektkunst widmet, die des Abbe´s Kunst- und Publikumskritik als »Unsinn« und Zeichen von »Abgeschmacktheit« (574) gescholten hatte. Angesichts solcher Verderbnis seiner Untertanen dankt Wilhelm als Direktor der ästhetischen Provinz ab - und beschwert sich bei Jarno bitterlich über seine schwärmerischen Illusionen und die mangelnde Eignung der Akteure (vgl. 433 f.). Vor den empirischen Motiven der Realität vergeht alle Ästhetik. Schillers frühe Theorie ist damit für den Turm zugleich antiquiert und so unwahr, wie der Dichter es sich selbst eingestanden hatte. Denn wie wenig sich Schiller auf monistische Spekulation einzulassen gewillt war, die seine Theorie einer sentimentalischen Kunst auf den Weg gebracht hatte, bezeugt die dualistische Trieblehre der Ästhetischen Erziehung . Aus ihr spricht die Verlegenheit des Kantianischen Theoretikers. Wie die Synthese von Stoff und Form genau denkbar sein soll, vermag der doch zur Explikation gedachte - seltsam ortlos bleibende - Spieltrieb nicht zu explizieren. Der Zustand völliger Vermittlung könne also wohl »von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden« 402 , und der schöne Staat sei nur »in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln« 403 zu finden. Die Realitätsferne seines Entwurfs wollte der Dichter zwar mindern, indem er Grenzen beim Gebrauch schöner Formen bestimmte. Schöner Schein sei nicht mit Sein und Welterfahrung zu verwechseln. Doch wenn nicht daran gedacht war, Ästhetik in Wirklichkeit zu überführen, ist eingestanden, dass die Schönheit nicht praktisch werden kann. Es ist wahrscheinlich, dass Schillers Skepsis zu einem guten Teil Goethe zu verdanken war. Schon in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten hatte er dem ästhetischen Optimismus seines Freundes entgegengehalten, dass dem Publikum niemals an Fragen der Erziehung, sondern nur an Unterhaltung gelegen sei. Der alte Geistliche meint mit realistischem Argument, dass der Gesellschaft nichts »lästiger ist [ … ], als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert. Alles, was dahin zielt, muß man ja vermeiden [ … ]« (HA 6, 142). Dass Kunst den Menschen also nicht zu einem höheren Wesen oder zum schönen Bürger eines Freiheitsreichs erziehen könne, führt auch noch die späte Nachlese zu Aristoteles’ Poetik aus. 404 Selbst nach einer allen Regeln der Tragödie entsprechenden Theateraufführung werde der Zuschauer »um nichts gebessert nach Hause gehen« 405 und sich »über sich selbst verwundern, daß er eben so leichtsinnig als hartnäckig, eben so heftig als schwach, eben so liebevoll als lieblos sich wieder in seiner Wohnung findet wie er hinaus- 401 Novalis: Fragmente und Studien (Anm. 11 ), 806 . 402 Schiller: Ästhetische Erziehung (Anm. 247 ), 619 . 403 Ebd., 669 . 404 Die Unterhaltungen sind dennoch der Meinung, Kunst könne etwas zur Mäeutik einer bürgerlichen Gesellschaft beitragen. Regelhaftes Verhalten und die Grundsätze einer ›höflichen‹ Gesellschaft lassen sich lernen und können als Vorbild für die reale res publica dienen. 405 Goethe: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik. In: MA 13 . 1 , 340 - 343 , hier 342 . <?page no="126"?> 126 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« gegangen.« 406 Auch Wilhelms Theaterrepublik in den Lehrjahren bezeugt, dass man von Theater und Kunst in pädagogischer und konkret-politischer Hinsicht nicht zuviel erwarten dürfe. Damit rückt zuletzt Wilhelms Absicht, ein deutsches Nationaltheater zu gründen (vgl. 35), in ähnlich skeptisches Licht. Viel eher als durch Theateraufführungen werde sich eine Nation durch Vernunft und gemeinsame ökonomische Interessen bilden lassen, wie sie der Turm bereits verfolgt. Dass er alle Mitglieder auf verbindliche Werte wie Ratio und Tätigkeit verpflichtet, neue Bewerber über alle Standesgrenzen hinweg aufnimmt und überhaupt zum Wohle der Gemeinschaft agiert, lässt ihn bereits als Prototyp einer neuen res publica erscheinen. Wie weit aber der Oheim, um hier zu ihm zurückzukehren, seine Sehnsucht nach Harmonie dennoch im idealistischen Sinne vorantreibt, zeigt der Saal der Vergangenheit. »Sarkophage [ … ]« und »Aschenkästchen« (540) weisen ihn als Begräbnisstätte aus. Doch mit Religion hat der Oheim wie überhaupt der Turm nichts mehr im Sinn. Ein ästhetisch vermitteltes Bildungsprogramm verfolgt er, dessen pädagogische Lektion der Saal - ähnlich wie das Heiligtum der Pädagogischen Provinz au den Wanderjahren - verkündet. Architektur, Malerei, Plastik und Musik - in den »halbrunden Öffnungen« (542) des Saals können sich Chöre und Orchester verbergen - hat der Oheim synästhetisch verbunden. Durch »die zusammentreffende Kunst« und ihre Wirkung soll der Besucher erfahren, »was der Mensch sei und was er sein könne« (540). Es soll eingesehen werden, dass der Mensch sich planvoll zum Meister in der Kunst zweckmäßiger Tätigkeit und Arbeit fortentwickelt. Als »Gleichnis« (408) für derlei Progress wird die »Geschichte der Kunst« (ebd.) eingesetzt. Denn der Oheim ist überzeugt, nur historisch sei der Weg zur Bildung zu begreifen. Man müsse, erklärt er in einer Sprache, die stark an Wilhelms Lehrbrief erinnert, erst die beschwerlichen Stufen des Mechanismus und des Handwerks, an denen der fähige Mensch sich jahrhundertelang hinaufarbeitet, kennen [ … ], um zu begreifen, wie es möglich sei, daß das Genie auf dem Gipfel, bei dessen Anblick uns schwindelt, sich frei und fröhlich bewege (408). Also hat der Oheim im Saal der Vergangenheit Epochen der Kunstgeschichte darstellen lassen, die zivilisatorischen Progress als Resultat fortschreitender Arbeit begreifbar zu machen suchen. »[Ä]gyptisch« (539) ist die Türe mit den beiden Granitsphinxen - sie dient wie in den ägyptisierenden Mysterien- und Geheimbundorden als Schwelle der Initiation 407 -, und an die griechische Antike gemahnen marmorne »Pfeiler [ … ]« oder »Gewölbe [ … ]« (540) ebenso wie Bilder von »Könige[n]«, die »die Götter am Altare anrufen« (541). Auch die dargestellten Szenen familiären Lebens - »Mutter«, »Kind«, »Braut«, »Bräutigam«, »Vater«, »Sohn« (ebd.) - machen die Entwicklung des einzelnen Menschen über Generationen hinweg als immer gleiche Geschichte der individuellen Bildung deutlich, die zugleich eine Integration in soziale Funktionszusammenhänge ist. Um ihnen gerecht zu werden, muss der Mensch schon früh seine Naturanlagen ausbilden und produktiv einsetzen: 406 Ebd., 342 f. 407 In Goethes Groß-Cophta steht Cagliostro in Verbindung zu ägyptischer Esoterik (vgl. MA 4 . 1 , Kommentar 956 ). Auch in der Zauberflöte ist der Weisheitstempel ägyptisch gehalten. Vgl. dazu Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München/ Wien 2005 . Zu Goethes Absicht, einen zweiten Teil der Zauberflöte zu verfassen, vgl. Dieter Borchmeyer: »Goethe, Mozart und die ›Zauberflöte‹«. In: Ders.: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, Frankfurt/ Main 2005 , 251 - 279 . <?page no="127"?> 127 2.5 Kunst Vom ersten frohen Triebe der Kindheit, jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu üben, bis zum ruhigen abgeschiedenen Ernste des Weisen konnte man in schöner, lebendiger Folge sehen, wie der Mensch keine angeborene Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen (ebd.). Der Einzelne soll Verstand - das »Handwerk« als regelgeleitetes reflektiertes Tun - und Natur - die »angeborene Neigung« - zu derjenigen Synthese zusammenführen, die ihm die Kunst und Architektur des Saals in »Einheit und Verbindung« (540) schon vollendet vor Augen stellen. Auf diese Weise könne auch die Moderne an die Harmonie der Alten anschließen, von der die Kunstgeschichte Zeugnis ablege. Der Begabte werde dann »frei und fröhlich« seinem Handwerk nachkommen und also gern den Pflichten entsprechen, denen er in einer zunehmend ökonomischen Gesellschaft ohnehin nicht entgehen kann. Hinter dem ästhetischen Programm des Saals ist damit die Erziehung zu permanenter Tätigkeit wiederzuerkennen, in deren Geiste der Oheim die Gründergeneration des Turms ausbildete. Die Kunstgegenstände werden dabei keineswegs aufgrund ihrer rein ästhetischen Qualitäten geschätzt, sondern dienen nur der Illustration des Bildungsprogramms. Schon die Übersendung der Gemälde an die Stiftsdame geschah in diesem Sinne aus pädagogischer Absicht, und es ist überhaupt davon auszugehen, dass der Oheim auch die Kunstsammlung des alten Meister nicht aus zweckfreier Begeisterung für das Schöne erwarb, sondern sie als weitere Lektion seiner Erziehung zur Arbeit in den Dienst nehmen wollte. Natürlich spielt die pädagogische Funktionalisierung der Kunst auf Schillers Essay Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen an, den Goethe aufmerksam, aber zweifelnd, gelesen hatte. Besonders die Symboltheorie des 14. Briefs will bekanntlich den Widerstreit zwischen Formtrieb und Stofftrieb aufheben und damit das zentrale Problem des Menschen lösen. Könnten Geist und Natur versöhnt werden, stünde dem Menschen die »Idee seiner Menschheit«, also die »Vollendung seines Daseins« oder seine » ausgeführte Bestimmung » 408 vor Augen. Derlei Idealzustand sei freilich nie ganz zu erreichen. Dennoch könne er im ästhetischen Schein dargestellt werden. Denn Kunst wecke den Spieltrieb als Synthese von Materie und Form und lasse als zusammengefügt erscheinen, was in der Wirklichkeit nicht zusammengefügt ist. Schöne Kunst ist Symbolik des Einheitsgrundes von Materie und Form und verweist in ihrer Bildlichkeit an die - unbegreifbar bleibende - Idee des »Unendlichen«. Aus solcher Synthese leitet der Aufsatz eine Symbolik der Geschichte ab. Denn durch die Jahrhunderte lasse sich in der Welt eine immer stärkere Dissoziation von Leben und Wissen, gesellschaftlicher Praxis und Gesetz, beobachten. Nun vermittele das Kunstwerk aber Physis und Form und könne dadurch zum Analogon einer zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung werden: des ästhetischen Staats. In ihm werde das Spiel zum Grund des kulturellen Seins. Es sei die Form der Praxis, in der die Erfüllung der Regeln Spaß mache. In den Lehrjahren hat sich der Oheim Schillers Theorie in ganz ähnlichem, wenn auch ökonomischem Sinne zurechtgelegt. Die Kunst soll gleichnishaft lehren, dass die historische Bestimmung des Menschen ihn zur - tätigen - Synthese von Natur und Geist aufrufe. So macht die Kunstgeschichte des Saals der Vergangenheit jene Entwicklung des Menschen als Bildung zur ökonomischen Praxis kenntlich. In ihr wirken Handwerk und Neigung so zusammen, dass alle Arbeit »heiter und frei«, also spielend, von der Hand geht. Die neue Polis, die der Oheim im Sinn hat, ist ein schönes Gemeinwesen der Tätigkeit, und zu ihrem 408 Schiller: Ästhetische Erziehung, (Anm. 247 ), 612 . Wie im Original kursiv. <?page no="128"?> 128 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« utopisch-idealischen Charakter passt, dass Wilhelm das Bilderprogramm des Raums nicht nur der Vergangenheit, sondern »der Gegenwart und der Zukunft« (541) zuordnen will: »So war alles und so wird alles sein! « (ebd.) Nebenbei - und in Parallele zu den Überzeugungen des Turms - wird gezeigt, wie im Staat der Arbeit die Religion obsolet wird. In ihm sollen wie im Saal »Leben« (ebd.) und »die reinste Heiterkeit« (540) herrschen, ein irdischer »Himmel« (541) ist für Arbeiter und Besucher bereitet. Der Raum ist die säkulare Kirche eines praktischen Diesseitskults, bei dem Leistung und Erfolg schon im Hier und Jetzt ein sehr konkretes Heil versprechen. Denn leben soll der Mensch nicht, ohne seine Anlagen sinnvoll zu benutzen und sich in den Progress der Bildung einzureihen. Dann heben »Kunst und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab« (540) auf, und das bedeutet: Über der permanenten Arbeit wird nicht nur die eigene Sterblichkeit vergessen, sondern auch alle Trauer verabschiedet. Dass sich die Mitglieder des Turms über keinen einzigen Todesfall - zu nennen sind Oheim, Aurelie, Wilhelms Vater, Mignon, Harfner - grämen, zeigt, dass die aufs Irdische konzentrierte Moderne den seelsorgerischen Trost der Religion ebenso wenig mehr benötigt wie sie unter dem Druck der Geschäfte noch Zeit für ihn aufbringen kann. Indessen verwundert der große Aufwand, den der Oheim zur Feier des Hiesigen und überhaupt zur ästhetischen Erziehung betreibt. Kunstsammlung und Saal der Vergangenheit sind ohne Zweifel kostspielige Liebhabereien. Sie lassen darauf schließen, dass sich der Oheim seiner Sache nicht sicher ist. Und so schwer wie er mögen auch andere davon zu überzeugen sein, dass die Aufgabe des Menschen nur in nützlicher Ausübung der Neigungen, also in nichts als zweckmäßiger Arbeit, bestehe. So muss der Bombast der Bilder und Kunstarten dazu dienen, immer aufs Neue von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich in ökonomische Bedingungen einzufinden. Doch inmitten aller Ikonographie hat sich der Oheim einen gewissen Freiraum bewahrt. Als »Marmorbild eines würdigen Mannes« (540) hat er sich »auf einem prächtigen Sarkophagen« (ebd.) im Saal abbilden lassen: Er hielt eine Rolle vor sich und schien mit stiller Aufmerksamkeit darauf zu blicken. Sie war so gerichtet, daß man die Worte, die sie enthielt, bequem lesen konnte. Es stand darauf: »Gedenke zu leben« (ebd.). Die Botschaft ist nicht als Aufruf zu uneingeschränkter Produktivität zu verstehen. Vielmehr fordert sie dazu auf, bei aller Arbeitspflicht die empirischen Bedürfnisse nicht zu vergessen und eben »das mit Leidenschaft zu genießen«, was man unter dem Gesichtspunkt der reinen Zweckdienlichkeit »nicht immer loben und entschuldigen« (539) könne. 409 Denn der Sarkophag gemahnt daran, dass das Leben kurz ist und unter der Mühsal der Arbeitswelt allzu schnell verstreichen kann. Der Oheim, der dazu ermutigt, sich der totalen Tätigkeit hin und wieder zu entziehen, ist in der modernen Gesellschaft nicht uneingeschränkt angekommen. Dass sein persönliches Wollen gelegentlich weder dem Arbeitsethos noch dem allgemeinen Wohl entspricht, weist aber nicht zuletzt auf den Verdacht hin, es könne die ökonomische Gesellschaft durchaus unharmonisch und nur um den Preis strenger Unterord- 409 Die Forschung (Schings: Natalie (Anm. 64 ), 70 ) hält die Devise für spinozistisch im Sinne einer Entsagung der Leidenschaften und einer auf Gotteserkenntnis ausgerichteten Lebensweise. Der Oheim hingegen mahnt gerade dazu, in mitten aller Arbeitspflicht die empirischen Bedürfnisse nicht zu vernachlässigen. Doch auf Spinozas Ethik der Bändigung aller Leidenschaften wird auch die vermeintlich als letzte Wahrheit verkündete Turmforderung nach Entsagung und rationaler Lebenskunst zurückgeführt. Die Lehrjahre aber berichten nirgends von einer philosophischen Prägung der Turmoberen. Die von ihnen angemahnte Wendung zur Ratio geschieht nicht aus hehrer Weisheit, sondern entstammt dem empirisch-praktischen Druck der Ökonomie. <?page no="129"?> 129 2.5 Kunst nung des Einzelnen eingerichtet sein. Für die Mitglieder des Turms sind das später keine Fragen mehr. Die rationalen Praktiker haben sich der Herrschaft der ökonomischen Vernunft untergeordnet. Zu den Kuriosa im Umfeld des Saals der Vergangenheit gehört zuletzt, dass scheinen will, Wilhelm erkenne dort endlich die Prinzipien objektiver Kunst. Dass er seine subjektivistischen Neigungen nun offenbar korrigiert, geht auf eine Kritik Schillers zurück, der nach der Lektüre der ersten Fassung der Lehrjahre moniert hatte, Wilhelm sei ihm im Saal der Vergangenheit noch zu sehr der alte Wilhelm, der im Hause des Großvaters am liebsten bei dem kranken Königssohn verweilte, und den der Fremde, im ersten Buch, auf einem so unrechten Weg findet. Auch noch jetzt bleibt er fast ausschließend bei dem bloßen Stoff der Kunstwerke stehen und poetisiert mir zu sehr damit. 410 Besser solle Goethe ihn doch am »Anfang einer glücklicheren Krise« zeigen, die Meister »zwar nicht als Kenner, denn das ist unmöglich, aber doch als einen mehr objektiven Betrachter« 411 ausweise. Goethe, dem Freund im Allgemeinen für Vorschläge dankbar, änderte entsprechend, und so konnte man Meister nun doch für lernfähig halten und auf richtigem Wege wähnen. Doch Goethe war nicht gewillt, sich von Schiller aus dem Konzept bringen zu lassen. Nur zum Schein hatte er sich auf die Kritik eingelassen, und so lässt sich zeigen, dass Wilhelms folgende Anspielungen auf die Ästhetik von Moritz und Kant seinen Kunstsinn als ein einziges Missverständnis inszenieren. Wilhelm bemerkt im Saal, dass außer den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten [die Bilder im Saal der Vergangenheit, M. K.] erregten [ … ], noch etwas andres gegenwärtig zu sein [schien], wovon der ganze Mensch sich angegriffen fühlte. Auch Wilhelm bemerkte es, ohne sich davon Rechenschaft geben zu können. »Was ist das«, rief er aus, »das, unabhängig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgefühl, das uns menschlichen Begebenheiten und Schicksale einflößen, so stark und zugleich so anmutig auf mich zu wirken vermag? Es spricht aus dem Ganzen, es spricht aus jedem Teile mich an, ohne daß ich jenes begreifen, ohne daß ich diese mir besonders zueignen könnte! (541) Meister wendet zeitgenössische Theorie an. Die Vieldeutigkeit jedes vollkommenen Werkes, hatte die Kritik der Urteilskraft expliziert, lasse die Einbildungskraft des Betrachters ohne Begriff schematisieren. 412 Auf keine Formel sei also das Werk zu bringen. Doch gerade im Reiz solcher ästhetischen Reflexion liege die eigentliche Anziehungskraft der Kunst. Die unausdeutbare Wechselbeziehung zwischen Ganzem und Teilen deutet auf das freie Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand, das die Kritik als Verfahren reflexiver Kunstdeutung geschildert hatte. Und wenn Meister feststellt, der Saal wirke auf ihn »unabhängig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgefühl, das uns menschliche Begebenheiten und Schicksale einflößen«, so sind sowohl Moritz’ Forderung nach der Uneigennützigkeit des Kunstgenusses als auch die Kantische Wendung vom ›interesselosen Wohlgefallen‹ 413 aufgerufen. Mit diesen Grundsätzen widerruft Wilhelm, was er dem Abbe´ im frühen Gespräch anvertraut hatte. An einem Kunstwerk, hatte er gesagt, reize ihn allein der »Gegenstand«, nicht die »Kunst« (70). Nun meint er, dass nicht Subjektivität, sondern Objektivität der Maßstab 410 Brief an Goethe vom 9 . Juli 1796 . In: MA 8 . 1 , 215 . 411 Ebd. 412 Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 172 ), § 35 , 137 . 413 Ebd., § 5 , 48 . <?page no="130"?> 130 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« gelungener Kunst sei. Keine romantische Gefühlsdichtung, sondern Vernunft, Formgebung und ästhetisches Wohlgefallen sind aufgerufen. Doch Goethes Pointe ist: Mag Wilhelm auch die Theorie referieren, von ihrer Anwendung versteht er dennoch nichts. Er irrt sich. Des Oheims Kunst ist weder interesselos noch ohne Begriff oder Bedeutung. Sie ist lehrhaft: Zum sehr konkreten Glauben an die Machbarkeit eines irdischen Arbeitsparadieses will sie erziehen. Schon der Abbe´ hatte sich derlei Pädagogik verbeten. Kunst solle weder »lehren«, noch »bessern« oder einen »Effekt« (573) erreichen. Doch der »Zauber« (541), den der Saal der Vergangenheit auf Wilhelm ausübt, kündet von der Wirkung der Kunst - und von des jungen Mannes unveränderter Empfänglichkeit für ästhetische Reize. Damit ist bedeutet: Nicht auf Vernunft, sondern auf Einbildungskraft beruht Wilhelms Urteil. Der Saal verführt den jungen Mann dazu, kantisch zu schwärmen. Sowohl an des Oheims Intention als auch am Wesen objektiver Kunst sieht Wilhelm also vorbei. Goethe gibt Schiller zu bedenken, dass Meister damit ebenso wenig am Anfang einer »glücklicheren Krise« steht wie er ein ›objektiver Betrachter‹ wird. Die Lehrjahre berichten auch späterhin nur, dass er sich gegen die Macht von Gefühl und Einbildungskraft nicht zu behaupten vermag. Bis zum Ende lassen ihn das Bild der Amazone und die Erinnerung an den kranken Königssohn nicht los. Auf keinen fruchtbaren Boden fiel also die Ermahnung des Abbe´s, Subjektivismen und ästhetische Erziehung zurückzuweisen. Wenn beides dem Geistlichen zuwider ist, macht er sich jedoch zuweilen selbst die Wirkung des Saales der Vergangenheit zunutze. Anlässlich der Exequien Mignons deutet er des Oheims ästhetische Erziehung in einen totalen Arbeitskult um, der über Mignon unbarmherzig den Stab bricht. An der Feier ist nichts echt. Schon dass Mignon, die sich ins Dasein nicht finden konnte, zum Anlass eines emphatischen Lebenskults avanciert, markiert die Intention der Sozietät. 414 Gegen die »Trauer« der Chorknaben, die zunächst um die Verstorbene »weinen« und sie »vermissen« (575), setzt der Chor die Aufforderung, aus der »Nacht« ins »Leben« zurückzueilen: »Tag und Lust und Dauer ist das Los der Lebendigen« (ebd.). In Rede steht das Turmethos der unbedingten Tätigkeit, das Trauer schnell suspendiert. Die Knaben begreifen denn auch: »Auf! wir kehren ins Leben zurück. Gebe der Tag uns Arbeit und Lust, bis der Abend uns Ruhe bringt, und der nächtliche Schlaf uns erquickt« (576). Im Unterschied zu Mignon gilt es, nicht trübselig zu verharren, sondern den Arbeitsrhythmus wieder aufzunehmen und Zweckmäßiges zu vollbringen. Mit »heilige[m] Ernst« (578), den ähnlich schon Wilhelms Lehrbrief vom Meister forderte (vgl. 496), soll man bei der Sache sein, in jenem steten Wechsel von Tätigkeit und Ruhepause, den der Arbeitstag strukturiert. Die Maxime des »Gedenke zu leben«, mit der der Oheim sich gelegentlich dem Arbeitszwang entzog, modulieren die Turmökonomen zur Feier eines Lebens, das nichts als Arbeit bedeutet. Die Mühsal des arbeitsamen Daseins weiß der Chor dabei geschickt durch den Mythos vom schönen Leben zu verhüllen. In der Welt möge jedem »in der Schönheit reinem Gewande [ … ] die Liebe mit himmlischem Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit« (576) begegnen. Damit ist gemeint: Durch das gelungene - schöne - Arbeitswerk, das man hingebungsvoll - mit Liebe - betrieben habe, könne man sich unvergänglichen Ruhm erwerben. Die ästhetische Erziehung, die der Oheim zur Feier harmonischer Tätigkeit betrieb, hebt der rationale Turm auf, der sich für Kunst nicht interessiert. An ihre Stelle treten Ermahnungen, Pflicht und eine praktische Anleitung, die Na- 414 Demgegenüber hält Hellmuth Ammerlahn (Imagination und Wahrheit. Anm. 67 , 317 ) die Szene für einen ästhetischen Dichtungskult. Die tote Mignon sei »Opfer des Lebens und Kunstwerk«, ein »zum lebensfördernden Kunstwerk verklärtes Opfer des dichterischen Leidens.« <?page no="131"?> 131 2.5 Kunst talie den jungen Frauen ebenso vermittelt wie Lothario und Abbe´ den Männern. Nichts, meinen die Mitglieder der Sozietät, erzieht so gut zur Arbeit wie die Arbeit selbst. Noch posthum korrigiert der Kult des tätigen Lebens zuletzt auch Mignons Lebensverweigerung. Durch Einbalsamierung soll am Körper derjenigen, die sich im Leben den Tod wünschte, im Tod der »Schein des Lebens« (577) bewahrt werden. Die Hinwendung zum Diesseits, zu praktischer Vernunft und medizinischer »Kunst und Sorgfalt« (ebd.) triumphiert am Ende über Mignons Jenseitssehnsucht, und mit ihrem Schein bannt sie eine Lebensverneinung, die den Überzeugungen des Turms zuwiderlief. Die Illusion des Lebens verstärken die »Engelkleider [ … ]« (ebd.), die Mignon zuletzt nicht mehr ablegen wollte und die man dem Mädchen angezogen hat - obwohl sie für Mignon Zeichen ihres Abschieds von der Welt gewesen waren: Zieht mir das weiße Kleid nicht aus! Ich eile von der schönen Erde Hinab in jenes feste Haus. (515) Selbst den letzten Wunsch des Mädchens nach einem katholischen Begräbnis achtet der Turm nicht. Wohl gibt man ein wenig geweihte Erde mit in das Kopfkissen der Toten. Doch »den Gebräuchen der Kirche« (577) widerspricht die Einbalsamierung. »Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden« 415 , hält die Bibel allen Versuchen der Konservierung entgegen. Der Turm jedoch glaubt nicht an Religion, und wichtiger sind ihm Lebenskult und Beförderung der ökonomischen Vernunft. Beides spricht aus der Rede, die der Abbe´ zuletzt an Mignons Sarg hält. Voller Mythologie ist auch sie. »Todesgöttin«, »Lebensfaden« und »Parze« gemahnen an Antikes, das »Öl« (576) des Lebens erinnert an Christliches. 416 Doch nur schlecht verhehlen die Worte über das »liebe, liebe Kind« (575), dass der Geistliche in Wahrheit mit einem gescheiterten Leben abrechnet. Nur »wenig« wisse er zu sagen, zu »tief [ … ] verschlossen [ … ]« sei Mignon gewesen, als dass man ihre »innersten Angelegenheiten« habe »erraten« können. Von der aufzehrenden »Neigung« zu Wilhelm habe sie weder »Kunst« noch »Geschicklichkeit des Arztes« oder die »sorgfältigste Freundschaft« (576) heilen können. Die Vorwürfe des Vernünftigen sind klar. Sie betreffen eine Existenz, an der nichts »deutlich« (ebd.) war und die sich von den Methoden des Turms nicht helfen lassen wollte. Dass das Mädchen noch dazu mit »heilige[m] Vertrauen« an »seinem Gott« hing und eine »Neigung« verspürte, »sich äußerlich zu erniedrigen« (577), hat man in der rationalen Welt des Turms ebenfalls mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Nicht viel also hält der Abbe´ von Mignon, und dass seine Rede keineswegs ein Ausdruck des Mitgefühls ist, verrät die Wahl der Sprache: Auf »[F]ranzösisch« hat der ehemalige Geistliche die Rede gehalten, anscheinend »um des Marchese willen« (ebd.), der kein Deutsch spricht. Doch der Abbe´ knüpft an die Kritik des französischen Repräsentieradels an, die das dritte Buch des Romans vortrug. Ebenso obsolet wie die höfische Lebensform ist auch die französische Sprache und Kultur. Zu erwägen ist, dass ihr schon bald die amerikanische den Rang ablaufen wird. 417 Im Land der ökonomischen Zukunft ist Lothario schon gewesen, und Jarno plant, dorthin auszuwandern, um die internationale Ausweitung der Sozietät zu befördern. So mag sich aber die obsolete Sprache wie keine andere für die Bestattung des 415 Gen 3 , 19 . In der Einheitsübersetzung heißt es: »Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück.« 416 Vgl. Mt 25 , 1 - 13 . 417 Oder jene englische, deren Mobiliar bereits Wilhelms Elternhaus prägte und den nüchterneren Kaufmannsstil des Turms andeuten mag (vgl. 12 ). <?page no="132"?> 132 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Mädchens eignen, dessen Existenz der Turm als ebenso antiquiert angesehen hatte. Zudem kommt dem Abbe´ der schlechte Leumund des Französischen entgegen, den Aurelies Sprachschelte aufrief. Die junge Frau erhielt von Lothario von dem Zeitpunkt an französische Briefe, ab dem er die Geliebte »los sein wollte« (342). Gegenüber Wilhelm ereifert sich die Enttäuschte über die »perfide Sprache« Französisch, die zu »Reservationen, Halbheiten, Lügen [ … ] eine treffliche Sprache« sei: Perfid ist treulos mit Genuß, mit Übermut und Schadenfreude. O, die Ausbildung einer Nation ist zu beneiden, die so feine Schattierungen in einem Worte auszudrücken weiß! Französisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander recht betrügen und belügen können! Seine [Lotharios, M. K.] französischen Briefe ließen sich noch immer gut genug lesen. Wenn man sich’s einbilden wollte, klangen sie warm und selbst leidenschaftlich; doch genau besehen, waren es Phrasen, vermaledeite Phrasen! (342) Aurelies Kritik bringt stereotype Vorbehalte gegen die elegante Sprache höfischen Umgangs vor. Der Abbe´ weiß von solchen Möglichkeiten in seiner Rede Gebrauch zu machen. Zwar hat er sich des Französischen als »Sprache der Welt«, also lingua franca des kulturell gebildeten Europa, bedient. So konnte er voraussetzen, dass alle Anwesenden ihn verstehen würden. Doch was er sagt, meint er nicht, und für derlei wohlklingendes Gleißwerk eignen sich jene »Schattierungen« und »Phrasen«, die das Französische als Sprache des schönen Scheins und der Mystifikation bereithält. Der Saal der Vergangenheit ist damit in den Augen des Turms ein Ort des Überlebten, in dem all das museal aufbewahrt und zu Grabe getragen wird, wofür in der ökonomischen Gesellschaft keine Verwendung mehr besteht: Mignon, das Französische und der Oheim mitsamt seiner Kunst. »Wohl verwahrt«, singen die Jünglinge des Chors, sei nun alles »schöne Gebild der Vergangenheit« (578), und so kann es der Gegenwart nicht als seliges Angedenken, sondern als warnendes Beispiel taugen. Dass mit solcher Inszenierung nun sowohl des Oheims pädagogische Ästhetik als auch Mignon, die Figur sentimentalischer Dichtung, verabschiedet werden, zeigt an: Weder der Abbe´ noch andere Turmmitglieder interessieren sich mehr für Mythologie oder Gefühlskunst. Doch im Folgenden lassen die Lehrjahre erkennen, dass in Fragen der Ästhetik auch der Abbe´ nicht mit Unterstützung rechnen kann. Die junge Generation kann überhaupt allen Kunstdingen nichts mehr abgewinnen. Des Abbe´s Ideal objektiver Kunst kümmert sie ebenso wenig wie des Oheims ästhetische Erziehung. Kein Künstler gehört daher zur Gesellschaft. Überein kommt sie nur in der Frage der ökonomischen Tätigkeit. Alle Mitglieder sind der Auffassung, dass nicht Kunst, sondern allein empirische Praxis die Menschen zu Bürgern einer neuen Gesellschaft erziehen könne. Klug also, dass der Abbe´ die Jugend weitgehend mit Ästhetischem verschont. Anders der Oheim. Er hatte sich gewünscht, sein Gut mit allen künstlerischen Besitztümern nur einer Person zu überlassen, die zu kennen, zu schätzen und zu genießen weiß, was es enthält, und die einsieht, wie sehr ein Reicher und Vornehmer besonders in Deutschland Ursache habe, etwas Mustermäßiges aufzustellen (410). Für Natalie entscheidet er sich. Doch weder sie noch die anderen Großenkel setzen das Erbe des Alten fort. Die junge Frau, die Wilhelm voller Verehrung »im Hause des würdigen Oheims« (519) und inmitten der Gemälde und Marmorbilder aus des Großvaters Sammlung wiederfindet, bekennt Meister freimütig: <?page no="133"?> 133 2.5 Kunst Die Reize der leblosen Natur, für die so viele Menschen äußerst empfänglich sind, hatten keine Wirkung auf mich, beinah noch weniger die Reize der Kunst [ … ] (526). Natalie ist zwanghaft praktisch veranlagt. Mit des Oheims Besitztümern kann sie nichts anfangen. Die »Naturaliensammlung« (517) mit ihren »geschnittenen Steine[n]« (69), für die der Oheim sich begeistert (vgl. 539), lässt sie so kalt wie seine idealistisch deutbare Kunstsammlung. Die Wirkungen der Kunst, besonders in Liebessachen, gelten ihr als »Märchen« (538): Die Schwester, die den Bruder liebt, verbietet sich im Wissen um die Unerfüllbarkeit ihrer Sehnsucht die schwärmerische Einbildungskraft. Auch Therese, die Freundin, schätzt Kunst und Sentiment wenig. Nur wenige Bücher besitzt die Praktikerin in einem Wandschrank. Welch ein Unterschied zum Oheim: Sogar Wilhelm erkennt, dass ihre kleine Bibliothek »wirklich bloß durch Zufall zusammengekommen« (460) ist. Einige Erbauungsschriften sind unter den Büchern. Die liebeskranke Lydie sucht in ihnen religiösen Trost. Therese nutzt solche Suche nach Lebenshilfe für eine Religionskritik: Ich kann überhaupt nicht begreifen [ … ], wie man hat glauben können, dass Gott durch Bücher zu uns spreche. Wem die Welt nicht unmittelbar eröffnet, was sie für ein Verhältnis zu ihm hat, wem sein Herz nicht sagt, was er sich und andern schuldig ist, der wird es wohl schwerlich aus Büchern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind, unsern Irrtümern Namen zu geben (460). Die Praktikerin stimmt in die Religionsverachtung des Turms ein und verwirft Bibel und Mythologie. Ihr gelten die tradierten Berichte vom Absoluten als Hokuspokus. Nur Schwärmer oder Leidende glauben an sie. Wozu aber sich mit Unbegreiflichem beschweren, wenn der Welt tätige Aufgaben unmittelbar einsichtig sind? Nun kann sich Therese derlei Offenheit leisten. Noch hat sie im Turm keine Funktion. Die Sozietät jedoch hatte nur inoffiziell den Glauben für antiquiert erklärt: Man benötigt die Aura religiöser Ehrfurcht noch. Therese aber figuriert als Parodie der Gefühlsseligkeit. Während eines Gesprächs mit Wilhelm über Lothario, dem Therese zugetan ist, zeigt die junge Frau zwar die üblichen Zeichen der Empfindsamkeit: »Ein Seufzer erweiterte ihre Brust«, und »in ihrem rechten Auge blinkte eine schöne Träne«. Aber sofort fügt die Nüchterne hinzu: Glauben Sie nicht [ … ], daß ich so weich, so leicht zu rühren bin! Es ist nur das Auge, das weint. Ich hatte eine kleine Warze am untern Augenlid, man hat sie mir glücklich abgebunden, aber das Auge ist seit der Zeit immer schwach geblieben, der geringste Anlaß drängt mir eine Träne hervor (443). Keine Gefühlsregung liegt vor. Die Träne wird auf physische Defizienz zurückgeführt. Der Turm weint nicht - ganz anders als noch Wilhelm. Dass der scharfsinnige Jarno Therese also die »drei schönen Eigenschaften: Glaube, Liebe, Hoffnung völlig« (532) abspricht, hat damit seine Berechtigung: »›Statt des Glaubens‹, sagte er, ›hat sie die Einsicht, statt der Liebe die Beharrlichkeit und statt der Hoffnung das Zutrauen‹« (ebd.). Christliche Tugenden hat die Praktikerin längst zu vernünftiger Praxis säkularisiert. Bleibt Lothario. Von klein auf interessiert er sich für »Pistolen« und »Jagdflinte« (417), und als er sich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg engagiert, wird deutlich: Mit andern als mit ästhetischen Mitteln gedenkt er, eine neue Gesellschaft einzurichten. Jarno lobt denn auch an Natalies Bruder vor allem dessen »Tätigkeit«. Lothario befinde sich »immer im Fortschreiten«, breite sich aus und reiße »jeden« (553) mit sich fort. »[N]ichts« soll ihm bei seinen Unternehmungen »im Wege« (506) stehen. Eine zerstörerische Kraft eignet ihm also nach wie vor und gefährdet die Arbeit des Medikus: <?page no="134"?> 134 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Vielleicht könnte Lothario in einem Tage zerstören, woran dieser [d. i. der Medikus, M. K.] jahrelang gebaut hat; aber vielleicht teilt auch Lothario in einem Augenblick andern die Kraft mit, das Zerstörte hundertfältig wiederherzustellen (553). Der grimmige Jarno will sagen: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Die Sozial- und Wirtschaftsreformen des Turms nehmen auf das Leben des Einzelnen keine Rücksicht. Solange wie möglich soll der Arzt zwar »einen jeden in seinem Kreis beförder[n]« (553), also die Arbeitsfähigkeit erhalten. Man zögert aber nicht, Menschen »in einem Tage« dem Allgemeinwohl zu opfern. In diesem Sinne hatte Jarno schon längst von Wilhelm gefordert, sich an die neue Zeit zu gewöhnen: Es sei gut, wenn der Mensch »sich in einer größeren Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen« (493). Das Ende des Individuums in der Masse ist also durchaus im physischen Sinne zu verstehen. Bis zur Selbstaufopferung, fordert der Turm, sei noch die Pflicht zu versehen. Auch ohne des Oheims zeitigen Tod im Buch (vgl. 492) begreift man also, dass die ökonomische Moderne über den »sonderbaren Mann« hinweggeht. Übrigens trauert man ihm nicht nach. Praktisches gilt es zu erledigen. Lothario muss »die hinterlassenen Güter in Besitz« nehmen. Er hatte sich ohnehin mit dem Oheim überworfen. Denn der hatte den amerikanischen Ausflug des Enkels und die damit verbundenen Kosten missbilligt. Die amerikanische Unabhängigkeit kümmert ihn nicht. Besser als für eine »Idee« (431) in den Krieg zu ziehen sei es, für die Geschwister zu sorgen und zu Hause tätig zu werden. Doch Lothario wollte nicht hören. Da der Oheim seinen »Feldzug« nicht finanzierte, hat der Enkel sogar »Schulden [ … ] auf seine Güter geladen« (456). Nun muss er seine Finanzen sanieren. Zu seinem Ärger wollte ihm der Graf, sein Schwager, dabei nicht helfen. Der Adlige hat sich in den Kopf gesetzt, sein Vermögen lieber den Herrenhutern zu vermachen und »seinen Verwandten zu entziehen« (348). »[Z]ur rechten Stunde«, stellt man daher fest, ist der Oheim gestorben - endlich hat man »Geld und Kredit« für den schon lange geplanten Kauf von Gütern in der »Nachbarschaft«. Kapital muss angelegt werden. Freilich kommt ungelegen, dass ein »auswärtiges Handelshaus« (492) sich ebenfalls für die Immobilie interessiert. Werner ist es (vgl. 499), der sein und Meisters Unternehmen führt und sich nach Investitionsmöglichkeiten umsieht. Dabei bevorzugt er Grundstücke, weil sie - Lotharios Reformplänen zum Trotz - noch steuer- und abgabenfrei sind (vgl. 507 f.). Der Kaufpreis wird so aber zwischen den beiden Parteien immer weiter hinaufgetrieben. Doch man habe es mit »einem klugen Manne« zu tun. Zum beiderseitigen Vorteil will man »gemeine Sache« machen und »ökonomisch« überlegen, »wie wir die Güter teilen können, so dass ein jeder ein schönes Besitztum erhält« (492). Doch auch Werner weiß, mit wem er es zu tun hat. Er befürchtet, bei der Aufteilung skrupellos übervorteilt zu werden. Den Verhandlungsführern ruft er also ihre Verbindung zu Wilhelm ins Gedächtnis: ›Wenn Sie es mit diesem jungen Manne, wie es scheint, gut meinen [ … ], so sorgen Sie selbst dafür, daß unser Teil nicht verkürzt werde [ … ].‹ Jarno und der Abbe´ versicherten, daß es dieser Erinnerung nicht bedürfe (499 f.). Werner hat die beiden ertappt. Nun erst kann das Geschäft abgeschlossen werden (vgl. 508). Pikant ist für Wilhelm dabei, dass das Kapital für die Investition aus dem Verkauf seines Elternhauses stammt, den Werner nach dem Tode des alten Meister getätigt hatte. Auf das neue Grundstück sollte Wilhelm ziehen, um »Verbesserungen« (288) durchzuführen und das Gut später mit Gewinn zu veräußern. Doch dass Wilhelm tätiger Grundherr werde, <?page no="135"?> 135 2.5 Kunst verhindert der Turm. Die Immobilie sieht der junge Mann nie. Kein neues Heim erwächst ihm bei den Ökonomen. So hat Werner nicht unrecht, ein wenig skeptisch gegen Wilhelms neue Bekannte zu sein. Für »gute Menschen« (608) oder gar »heilige Männer« (547) hält er sie nicht: Mehr als ein dienstfertiger Freund hat mir versichert, du lebtest mit einem liederlichen jungen Edelmann, führtest ihm Schauspielerinnen zu, hälfest ihm sein Geld durchbringen und seiest schuld, dass er mit seinen sämtlichen Anverwandten gespannt sei (500). Nur die Forschung hat Werner nicht getraut. Und es stimmt ja auch: Der Mann ist ein Spießbürger, ein »arbeitsamer Hypochondrist« (499), dessen Vorstellung von Glück sich in bieder-tätigem Familienleben erschöpft (vgl. 287 und 500 f.). Dennoch hat er nicht ganz unrecht: Lothario ist ein arger Frauenheld - das bedeutet schon das englische Wort lothario - und sogar in blutige Liebeshändel verstrickt. Mit dem Oheim hat er sich zerstritten, für den Grafen hat er nur Spott übrig, und über Wilhelm sind zumindest Philine und Mignon in den Kreis des Turms eingeführt worden. Für das, was Werner sonst an Erotischem insinuiert, gilt indessen: Die bürgerliche Moral verzerrt ihm allzu sehr die Perspektive. Und die Kunstsammlung? Inmitten all der praktischen Tätigkeit hat man sie da gelassen, wo sie nicht stört: im Schloss des Oheims. Nur der Abbe´ führt manchmal noch einen kunstsinnigen Besucher - etwa den Marchese - durch die Säle (vgl. 572). Die Moderne entfernt Kunst aus dem privaten Umfeld und verwahrt sie im Museum. 418 Nicht schön, sondern zweckmäßig ist die ökonomische Gesellschaft, und so verbannt sie das ästhetisch Schöne aus dem alltäglichen Leben. Kunst hat damit ihre überlieferten Funktionen verloren. Der Text hatte an mehrere historisch erinnert: biblische imitatio , religiöse Erbauung, schließlich ästhetische Erziehung. Auch der kunsthistorische Wert, aufgrund dessen der Oheim als »großer Liebhaber« (69) die Kunstsammlung von Wilhelms Großvater erworben hatte, spielt für die anderen Turmmitglieder keine Rolle mehr. Sie interessieren sich für Kunst nur noch als Wertanlage und nehmen auf diese Weise die Geldspekulationen des modernen Kunstmarkts vorweg. Nur der Wert der Sammlung verhindert, dass die Sozietät nicht überhaupt zu Ikonoklasten wird. Denn der unbekannte Abgesandte des Turms - also der Abbe´ -, den der Oheim mit der Akquisition beauftragte, hatte Wilhelm schon zu Anfang der Lehrjahre erklärt: Ihr Großvater war nicht bloß ein Sammler, er verstand sich auf die Kunst, er war in einer frühern glücklichern Zeit in Italien gewesen und hatte Schätze von dort mit zurückgebracht, welche jetzt um keinen Preis mehr zu haben wären (68). 418 Solches mag Hegels These vom Ende der Kunst erinnern, derzufolge Kunstwerke im Zeitalter der Logik immer schon den Charakter des Vergangenen besitzen und den Modernen nur noch als museale Artefakte entgegentreten. So heißt es in einer bekannten Passage der Phänomenologie des Geistes metaphorisch: »Den Werken der Muse fehlt die Kraft des Geistes, dem aus der Zermalmung der Götter und Menschen die Gewißheit seiner selbst hervorging. Sie sind nun das, was sie für uns sind, - vom Baume gebrochne schöne Früchte, ein freundliches Schicksal reichte sie uns dar, wie ein Mädchen jene Früchte präsentiert; es gibt nicht das wirkliche Leben ihres Daseins, nicht den Baum, der sie trug, nicht die Erde und die Elemente, die ihre Substanz, noch das Klima, das ihre Bestimmtheit ausmachte, oder den Wechsel der Jahreszeiten, die den Prozeß ihres Werdens beherrschten. - So gibt das Schicksal uns mit den Werken jener Kunst nicht ihre Welt, nicht den Frühling und Sommer des sittlichen Lebens, worin sie reiften, sondern die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988 , 490 f.). Bestenfalls noch - in Nietzsches Sinne - antiquarisch betrachtet die Moderne damit Kunstwerke. <?page no="136"?> 136 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Man weiß also, welch horrende Summe den Oheim das Kunstkabinett kostete (vgl. 69), und betrachtet die Sammlung vor dem Hintergrund der fortschreitenden Wertentwicklung als gute Investition. Weiter aber kümmert man sich nicht um sie. Auch in den alten Schlössern wohnt man schließlich noch, ohne sich um ihre Restaurierung zu sorgen. 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie Indessen trennen Oheim und Turm nicht nur ästhetische Welten. Die Sozietät wendet sich vor allem deshalb vom Alten ab, weil sie eine andere Anthropologie vertritt. Der Oheim hatte eingestehen müssen, dass zuletzt die Natur im Menschen die Oberhand behalte - trotz Arbeit und Kunst breche er immer wieder aus der Disziplin aus und gestatte sich manches, das die Vernunft nur tadeln könne: Und doch mußte er [der Oheim, M. K.] selbst gestehen, daß ihm gleichsam Leben und Atem ausgehen würde, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit etwas nachsähe und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu genießen, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte. ›Meine Schuld ist es nicht‹, sagte er, ›wenn ich meine Triebe und meine Vernunft nicht völlig habe in Einklang bringen können‹ (HA 7, 539). Der Turm missbilligt indes derlei Einrede des Kontingenten. Auf Kosten der Pflicht soll das Leben nicht einmal von Zeit zu Zeit genossen werden. Doch nicht andere Wege der Harmonie will man einschlagen. Den Menschen will man unbarmherzig unter die Suprematie des Geistes zwingen. Nur als Vernunftwesen, das Pflicht und Selbstaufopferung permanent den eigenen Neigungen vorzieht, ist er der produktiven Ökonomie nützlich. Die Residua der Natur müssen also beseitigt werden. Für den Turm steht fest: Ökonomische Prozesse müssen stets berechenbar sein. Außerdem gilt es, möglichst jeden in die Produktionsabläufe einzubeziehen. Eine »größere Masse«, hatte Jarno im Sinne solcher Ausweitung wirtschaftlicher Herrschaft erklärt, sei zu konstituieren. Kaum ist also hinnehmbar, dass sich drei Fünftel der Anzuwerbenden - von Mignon, Harfner, Lydie, Aurelie und Wilhelm überleben nur die beiden Letzteren - durch Freitod ihrer ökonomischen Bestimmung entziehen. Die geplante Erziehung zur Vernunft soll derlei vorbeugen. Doch man will mehr. Als zu renitent erweist sich oftmals der Mensch, als Vergeudung von Potential die späte Bildung. Wilhelm formuliert es in seiner Diktion: »Wie glücklich ist der über alles [ … ], der, um sich mit dem Schicksal in Einigkeit zu setzen, nicht sein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwerfen braucht! « (459) Anstatt wertvolle Arbeitszeit ungenutzt verstreichen zu lassen, wäre es also besser, den Menschen bereits von klein auf ans Notwendige zu gewöhnen. Bisherige Bildungsträger - Familie, Religion, Kunst - waren dazu nicht in der Lage. Man zielt daher auf eine Gesellschaftsreform, die Bestehendes schneller und umfassender in vernünftige Bahnen lenken soll. Lothario gibt die Parole aus. Er zielt auf eine zweckrationale Ökonomisierung der Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild. 419 Während seiner Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hat er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten moderne ökonomische Verhältnisse vorgefunden. Nun sollen auch in Deutschland alte Zöpfe abgeschnitten werden: »Hier oder nirgends ist Amerika! « (431) lautet also die Parole. Der nur rund 20 Jahre vor Abfassung der Lehrjahre gegründete Staat figuriert als Beispiel für ein 419 Vgl. im Folgenden Marcel Krings: »Die entgötterte Welt. Religion und Ökonomie in Goethes ›Lehrjahren‹«. In: ZfdPh 127 ( 2008 ), 161 - 176 . <?page no="137"?> 137 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie zweckmäßig eingerichtetes Land unter dem Primat des Ökonomischen. 420 Noch das - bereits kurz erwähnte - späte Gedicht Den Vereinigten Staaten macht aus Goethes Bewunderung für solchen Wirtschaftspragmatismus kaum einen Hehl: Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, Hast keine verfallene Schlösser Und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit. 421 Um auch die deutsche Gesellschaft nützlich und effizient zu organisieren, denkt Lothario an die Aufhebung des Feudalsystems. Trotz seiner Schulden und ungeachtet der Einrede Jarnos will er, der Gutsherr, auf finanzielle Privilegien verzichten. Zwar müsse er »auf gewissen Rechten strack und streng halten« und könne auch »die Dienste [s]einer Landleute nicht entbehren«. Rentabel und diszipliniert muss das Gut auch weiterhin geführt werden, freie Berufswahl wird also nicht - oder wenigstens nicht allen Bevölkerungsgruppen - zugestanden. Andere »Befugnisse« seien indessen »nicht ganz unentbehrlich«, so dass der Besitzer »davon [s]einen Leuten auch was gönnen« könne. Die wachsenden »Einkünfte« (430) sollen erstmals zum Vorteil für die Bauern ausfallen. Lothario erwägt damit entweder eine Gewinnbeteiligung oder einen Abgabenerlass für seine Angestellten. Weiterhin geht es ihm um die Abschaffung des »Lehns-Hokuspokus« (507), um die Aufhebung der Steuerfreiheit sowie um ein flexibleres Erbrecht und freie Heiratswahl (vgl. 507 f.). Der philiströse Werner entsetzt sich vor soviel Veränderung. Seine Reaktion hat nicht wenig dazu beigetragen, dass sich Lothario in der Forschung des Rufs erfreut, Anwalt der sozial Bedürftigen zu sein. Er setze fort, was das 18. Jahrhundert - etwa durch die Sozialreformer Justus Möser, Graf Rantzau - an Möglichkeiten der Bauernbefreiung auf den Weg gebracht hatte. 422 Und auch im Text fallen die drei Schlagworte der französischen Revolution. Freiheit - »freie Tätigkeit« (507) von Menschen »mit freien Augen« (508) - folge aus der Neuordnung von Erbrecht und Heirat. Durch die Steuerpflichtigkeit des Grundbesitzes erreiche man »Gleichheit« (507) von Bauer und Edelmann vor dem Gesetz. Und Brüderlichkeit sei die Gewinnbeteiligung: Man säkularisiert das Ethos der herrenhuter »Brüdergemeinde« im Sinne sozialer Fürsorge und verspricht den Arbeitern einen pekuniären »Himmel auf Erden«. Lotharios Ausruf »Hier oder nirgends ist Herrnhut! « (432) weist dafür die Richtung. Doch derlei jakobinisches Pathos täuscht. Lothario ist kein Sozialrevolutionär. Das Chaos einer Umwälzung kann die ökonomische Sozietät nicht brauchen. Maßvolle Reformen sollen die Veränderungen nur mit Billigung der staatlichen Obrigkeit ins Werk setzen (vgl. 507). Weder Gerechtigkeitssinn noch Altruismus treiben Lothario dabei an. Er bleibt ein Geschäftsmann, der bei seinen Projekten durchaus eigene, empirische Interessen verfolgt. So denkt er an erster Stelle daran, sich schnell von seinen Schulden zu befreien, eine Aufgabe, bei der ihm der Oheim jegliche Unterstützung verweigert hatte. Was Lothario also anderen abgibt, soll 420 Vgl. dazu ausführlich Gustav Körner/ Michael Sielaff: »Goethe und die Volkswirtschaftslehre«. In: GJb 119 ( 2002 ), 165 - 182 . Vgl. ebenso Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen (Anm. 101 ). 421 HA I, 333 . 422 Zu Goethes Kenntnissen über Möser vgl. Mahl: Goethes ökonomisches Wissen (Anm. 101 ), 253 - 264 . <?page no="138"?> 138 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« sich für ihn selbst auch lohnen: »Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt« (430), meint er, und fügt hinzu: Selten sind unsere Aufopferungen tätig, wir tun gleich Verzicht auf das, was wir weggeben. Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen (432). Keine Opfer will Lothario bringen. Sein Geld will er nicht einfach nur »weggeben«, sondern etwas dafür erhalten. Angespielt wird auf die wörtliche Bedeutung von Rendite - das Zurückgegebene. Denn indem die Bauern am Gewinn beteiligt oder in Zeiten des »wachsenden Vorteil[s]« (430) von gewissen Abgaben befreit werden, ist mehr noch als durch schieren Zwang ein Anreiz für Produktivität geschaffen. Brüderlichkeit entpuppt sich also als Suche nach Ertragsmaximierung. Von ihr zeugen auch Lotharios weitere Vorschläge. Freiheit versteht die Sozietät nicht als Menschenrecht, sondern als notwendiges Mittel zum Warenverkehr: Erbrecht und Lehnswesen stehen mit ihren rigiden Abgabe- und Besitzpflichten der freien Wirtschaft im Wege. Sie müssen im Interesse einer Ökonomisierung der Gesellschaft reformiert werden, die hier ähnlich wie bei Adam Smith als »System der natürlichen Freiheit« 423 vorgestellt ist. Es basiert auf den angeborenen Begabungen und - wie bei Lothario - auf dem Eigeninteresse seiner Akteure, wie Smith am bekannten Beispiel ausführt: Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschensondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. 424 Zum System der Freiheit gehört nicht zuletzt, dass der Staat in die Dynamik der Einzelinteressen - im Roman die Transaktionen des Turms - nicht eingreifen solle. Nur durch eine angemessene »regelmäßige Abgabe« (507) wünscht Lothario die Obrigkeit an seinen Geschäften zu beteiligen und sich überdies Rechtmäßigkeit zu sichern. Dafür erwartet er, dass man dem Grundbesitzer erlauben solle, mit seinen »Gütern nach Belieben zu schalten« (507). In Rede steht damit die freie Verkäuflichkeit von Grund und Boden - und dass Immobilien auf diese Weise zum lohnenden Spekulationsobjekt werden können, hatte das Geschäft zwischen Werner und dem Turm bereits gezeigt. Auch ein neues Erbrecht befördere ökonomische Prozesse. Nicht mehr nur dem Erstgeborenen will man das Land vererben. Besser sei es, wenn wir [die Güter] nicht in so großen Massen zusammenhalten müßten, daß wir sie unter unsere Kinder gleicher verteilen könnten, um alle in eine lebhafte freie Tätigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschränkten und beschränkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genießen wir immer die Geister unserer Vorfahren hervorrufen müssen (507). Die Zahl der Handelskontakte und Möglichkeiten soll vervielfältigt werden. Die Geschichte Augustins und seiner Brüder hatte gezeigt, dass Zweit- und Drittgeborene allein in Militär oder Klerus ein Auskommen finden konnten. Nun will man auch sie an wirtschaftlicher Aktivität beteiligen. Jegliche Bestimmung zur ökonomischen Untätigkeit gilt es zu vermeiden. Und ebenfalls antiquiert sind Aristokraten, die sich - wie im dritten Buch - auf unproduktive Ästhetik zurückziehen oder ihr Leben durch überkommene Privilegien sorgen- 423 Smith: Wohlstand (Anm. 374 ), 582 . 424 Ebd., 17 . <?page no="139"?> 139 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie frei gestalten. Zur Rechtfertigung der Existenz taugt allein sinnvolle Arbeit. Zuletzt ist auch der Begriff der Gleichheit zweckmäßig. Denn »in den neuern Zeiten, wo so viele Begriffe schwankend werden«, muss man damit rechnen, dass der Bauer den abgabenfreien »Besitz des Edelmanns für weniger gegründet« (507) ansieht als den eigenen. Die Aufhebung der Steuerfreiheit soll - zusammen mit der Gewinnbeteiligung der Bauern - den eigenen Besitz sichern und der Gefahr einer Revolution vorbeugen, wie sie sich durch die Sprengkraft der sozialen Frage noch kurz vor der Abfassung der Lehrjahre etwa im sächsischen Bauernaufstand von 1790 oder, weitaus folgenreicher, ein Jahr zuvor in der Französischen Revolution gezeigt hatte. 425 Man kennt im Roman die politischen Tendenzen der Zeit. Jarno eröffnet dem ahnungslosen Wilhelm, »daß uns große Veränderungen bevorstehen, und daß die Besitztümer beinahe nirgends mehr recht sicher sind« (563). Doppelt sieht sich der Turm also vor. Neben den Reformen will er sich zur weltweit tätigen Gesellschaft ausbauen: Es ist gegenwärtig nicht weniger als rätlich, nur an einem Orte zu besitzen, nur an einem Platze sein Geld anzuvertrauen, und es ist wieder schwer, an vielen Orten Aufsicht darüber zu führen; wir haben und deswegen etwas anderes ausgedacht: aus unserm alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. Wir assekurieren uns untereinander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe (563 f.). Es geht um finanzielle Sicherheit und Garantie. Als global player will man sich in Amerika, Russland und Deutschland gegenseitig bei der Wahrung des Besitzstandes unterstützen. Das ökonomische Prinzip erhält damit universelle Geltung. Es macht deutlich, dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht auf der Entfaltung reiner Vernunft beruht. Nicht aus hehrer Einsicht werden Weltbürgertum und Gesellschaft der - geschäftlichen - Vernunft eingerichtet. Gegen Rousseau, Kant und Schiller bringen die Lehrjahre erneut vor, dass sich der Progress des Historischen empirischen Motiven verdankt - dem wirtschaftlichen Interesse zweckmäßig handelnder Menschen. Nur Einbildungskraft und Begriffszauber verhindern, dass Träumer wie Wilhelm den Lauf der »Welthändel« (563) begreifen. So erweist sich also der Turm nicht als Gesellschaft zur Förderung der schönen Humanität, sondern als profitorientierte kapitalistische Organisation. In diesem Sinne hatte schon Novalis festgestellt: »Die Oeconomische Natur ist die Wahre - Übrig bleibende .« 426 Damit zeichnet der Roman für Deutschland das Bild einer Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zur modernen, durch Ökonomie geprägten Bürgerlichkeit. 427 Dabei gibt nicht 425 Zu Gründen und Verlauf des sächsischen Bauernaufstands vgl. Karlheinz Blaschke: Ereignisse des Bauernkrieges 1525 in Sachsen. Der sächsische Bauernaufstand 1790, Berlin 1978 sowie Michael Wagner: »Der sächsische Bauernaufstand und die Französische Revolution in der Perzeption der Zeitgenossen«. In: Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, hg. v. Helmut Berding, Göttingen 1988 , 149 - 165 . 426 Novalis: Fragmente und Studien (Anm. 11 ), 806 . 427 Reinhart Koselleck (»Drei bürgerliche Welten? Theoriegeschichtliche Vorbemerkung zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich«. In: Europa und die Civil Society, hg. v. Krzystof Michalski, Stuttgart 1991 , 118 - 129 ) datiert die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft auf das 19 . Jahrhundert. Deren Bürgern ging es darum, »Teilhabe an der Staatsgewalt zu gewinnen, um ihre wirtschaftlichen Interessen sicherzustellen« ( 122 ). So entstand der »Raum arbeitender und wirtschaftlich aktiver Bürger, in dem das individuelle Leistungsprinzip vorherrschte« (ebd.) und in dem die Gesellschaft nach »Leistung, Reichtum und persönlichem Verdienst« ( 126 ) hierarchisiert wurde. Die Lehrjahre nehmen diese Entwicklung vorweg. Wilhelm Voßkamp (Utopie, Anm. 100 ) spricht daher von einer »Sozialutopie« des »modernen«, »zweckrationalen und politisch klugen Verhaltens« ( 238 ). Zum Begriff der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ vgl. ausführlich auch Manfred <?page no="140"?> 140 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« mehr »die philisterhafte Welt des Handelsbürgertums«, sondern der »durch die Prinzipien der bürgerlichen Aufklärung gebildete Reformadel« 428 der Turmsozietät den Ton an. 429 Lothario und sein Umkreis erheben den arbeitenden Menschen zur Grundlage von Wohlstand und Gesellschaft und zweifeln die Legitimation des absolutistischen Staates mit dem Argument an, er sei aufgrund seiner starren Strukturen weder in der Lage, die immer stärker sich vernetzenden Eigeninteressen zu überblicken noch sie zu fördern. Damit steht eine ökonomisch motivierte Staatskritik im Raum, wie sie Adam Smith bereits geäußert hatte: Ein Staatsmann, der es versuchen sollte, Privatleuten vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihr Kapital investieren sollten, würde sich damit nicht nur, höchst unnötig, eine Last aufbürden, sondern sich auch gleichzeitig eine Autorität anmaßen, die man nicht einmal einem Staatsrat oder Senat, geschweige denn einer einzelnen Person getrost anvertrauen könnte, eine Autorität, die nirgendwo so gefährlich wäre wie in der Hand eines Mannes, der, dumm und dünkelhaft genug, sich auch noch für fähig hielte, sie ausüben zu können. 430 Mit dem Plädoyer für ein größtmögliches Verschwinden des souveränen Staates zeichnet sich schon der Weg zum bürgerlichen Verfassungsstaat ab, in dem der Vorrang dem freien Einzelinteresse gebührt. Zwar hat Goethe dreißig Jahre später in den Wanderjahren und Faust II eine pessimistische Bilanz gezogen. Lothario, Lenardo und Faust sind in den beiden Werken der Typus der Neuzeit, der mit dem Ziel einer wirtschaftlichen Kolonisation der Welt über die Grenzen Europas hinausgreift. Fausts Mahnung, der Mensch »stehe fest und sehe sich hier um; / Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm« (HA 3, 344, V. 11445) will in diesem Sinne zur Einsicht in die rationale Machbarkeit der Verhältnisse überreden. Doch die Auswanderungspläne, der funktional-arbeitsteilige ›Bund‹ der Wanderjahre , das sich ausbreitende Maschinenwesen sowie Fausts brutales Landgewinnungswerk legen vor allem davon Zeugnis ab, dass die ökonomische Moderne weder auf Menschen noch auf Tradiertes Rücksicht nimmt. 431 Damit steht ein historischer Progress in Rede, der unbarmherzig über diejenigen hinweggeht, die sich in ihn nicht schicken können. Demgegenüber begreifen die Lehrjahre den Ökonomisierungsprozess noch als Chance. Zwar verschließen auch sie die Augen nicht vor seinen sozialen Folgen. Doch gemessen am gesamten Figurenpersonal Riedel: »Bürgerliche Gesellschaft«. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner et. al., Stuttgart 1972 - 1992 , 8 Bde., Bd. 2 ( 1975 ), 719 - 800 . 428 Voßkamp (Anm. 100 ), 232 . 429 Damit zeichnen die Lehrjahre den Aufstieg des vom bürgerlichen Handelsethos geprägten Kaufmannstypus nach, den das 18 . Jahrhundert seit Lessing literarisch gestaltete (vgl. Peter Michelsen: »Der unruhige Bürger. Der Bürger und die Literatur im 18 . Jahrhundert«. In: Ders.: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Würzburg 1990 , 9 - 39 ) und der sich in der Komödie der Zeit schon längst durchgesetzt hatte (vgl. zuletzt Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing, Tübingen 2005 ). 430 Smith: Wohlstand (Anm. 374 ), 371 . 431 Demzufolge achtet auch die Forschung in neuerer Zeit wieder mehr auf sozial-ökonomisch fundierte Kontroversen in den Lehrjahren und zieht in diesem Zusammenhang auch den Bildungshumanismus des Turms in Zweifel. Vgl. Arne Eppers: Miteinander im Nebeneinander. Gemeinschaft und Gesellschaft in Goethes Wilhelm Meister-Romanen, Tübingen 2003 und Markus Steinmayr: »Die Textur der Bildung. Goethes ›Wilhelm Meister‹«. In: Lust am Kanon, hg. v. Susanne Koche et. al., Frankfurt/ Main 2003 , 85 - 100 . Dabei kann sie sich auf prominente Vorgänger berufen: Auf die Verdrängung des Adels durch das Bürgertum geht ein Rolf-Peter Janz: »Zum sozialen Gehalt der ›Lehrjahre‹«. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, hg. v. H. Arntzen et.al., Berlin 1975 , 320 - 340 ; Karl Schlechta (Goethes Wilhelm Meister, Anm. 86 ); Heinz Schlaffer (Exoterik und Esoterik, Anm. 4 ) spricht vom »Zerstörungsroman« ( 222 ) Lehrjahre. <?page no="141"?> 141 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie bleiben sie marginal. Mit Ausnahme von Mignon, Augustin und Aurelie ist am Ende niemand schlechter, die meisten sogar besser gestellt als zu Anfang. Das liegt vor allem daran, dass Lothario um die sozialen Risiken seines Unternehmens weiß und aus ihnen eine persönliche Verantwortung ableitet. Denn der Turm arbeitet nicht nur für den allseitigen Gewinn, sondern auch für gegenseitige Versorgung. Durchaus ist die Sozietät als Modell einer »Familie« (429) angelegt, und Oberhaupt und »Vormund« (608) Lothario weiß, dass »der nur ein guter Vater ist, der bei Tische erst seinen Kindern vorlegt« (508). Mit der wie auch immer unterschiedlich sich vollziehenden Absicherung von Therese, Philine, Lydie oder Felix, aber auch mit den therapeutischen Bemühungen um Mignon oder den Harfner ist im Turm das Modell eines Sozialstaats skizziert, der seinen Bürgern Hilfe und Unterstützung gewährt. 432 Einem radikalen Marktliberalismus Smithscher Prägung reden die Lehrjahre also ebenso wenig das Wort, wie sie überhaupt als literarische Gestaltung einer konkreten politökonomischen Theorie zu verstehen sind, sondern sie betonen die Notwendigkeit staatlicher Intervention. Die alte Feudalgesellschaft kannte das Prinzip der Verantwortung hingegen noch nicht. Wie das Beispiel der um ein Haar verelendeten Therese zeigt, überließ sie jeden dem Schicksal, und so vertritt der Turm auch in dieser Hinsicht den zivilisatorischen Fortschritt. Dennoch soll der Primat des Ökonomischen durchgesetzt werden. Es lässt sich zeigen, dass die neue Maxime auch in den privaten, zwischenmenschlichen Bereich ausgreift. Der Turm schafft neue Formen des sozialen Zusammenlebens, da seiner Analyse nicht entgangen ist, dass bürgerliche Kleinfamilie und adelige Standesehe ausgedient haben. 433 Zu beschränkt ist ihr Wirkungskreis, als dass sie an weltweiten Veränderungen teilnehmen könnten - oder wollten. Soll nun das neue Familienmodell der modernen Form der Gemeinschaft entsprechen, scheint es seltsam genug angelegt. Der Roman löst den alten Familienverband auf, zeigt unvollständige und zerrüttete Familien oder verrätselt Deszendenz bis zur Grenze des Nachvollziehbaren. Offenbar ist daran gedacht, die natürliche durch eine künstliche Familie zu ersetzen. Ihr Merkmal ist die Vaterlosigkeit: Lothario, Natalie, die Gräfin und Friedrich, aber auch Therese, der Abbe´ und - nicht zuletzt - Wilhelm sind Halb- oder Vollwaisen. Doch die Vaterlosigkeit ist nicht länger eine Tragödie. Sie avanciert vielmehr zum Zeichen der Freisetzung aller zu einer Funktion, die selbst gewählt werden kann. Bürgerlicher Zwang des Hausvaters, wie ihn noch Wilhelm zu spüren bekam, und Rückzug ins Private sind antiquiert. Das Prinzip der neuen Gemeinschaft bleibt Meister sichtlich ein Geheimnis: »[ … ] ich verstehe es auch nicht« (553), gesteht er Jarno, der ihm den Lehrbrief auslegt. Auch die Forschung erkennt im Turm zumeist nur den Versuch, »to uphold the institution of fatherhood« 434 , und hält dafür, die neue Familie befördere Wilhelms gelungenen »Eintritt in die Gesellschaft« 435 . Die Sozietät stehe gar für »Kontinuität« und »Evo- 432 So auch Lottmann: Arbeitsverhältnisse (Anm. 106 ), 143 . 433 Vgl. im Folgenden Marcel Krings: »Geld oder Liebe. Familienmodelle in Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹«. In: Text & Kontext 30 ( 2008 ), 112 - 149 . 434 Aus gender-Perspektive Elisabeth Krimmer: »Mama’s Baby, Papa’s Maybe: Paternity and Bildung in Goethe’s Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: The German Quarterly 77 ( 2004 ), 257 - 277 , hier 269 , ebenso Stefan Hajduk (»Identität und Verlust. Der Wandel des Familienbildes und die Dynamik der Geniuspsychologie in ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹«. In: Weimarer Beiträge 55 ( 2009 ), 196 - 220 ), der in Wilhelms Integration in den Turm die »Herauslösung aus mutterfixierter Befangenheit« ( 202 ) und die Übernahme der »Position des Vaters« (ebd.) erkennen will. 435 Bengt Algot Sørensen: »Über die Familie in Goethes ›Werther‹ und ›Wilhelm Meister‹«. In: Orbis Litterarum 42 ( 1987 ), 118 - 140 , hier 118 . <?page no="142"?> 142 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« lution« 436 und sei eine »idyllic community« 437 . Davon kann die Rede kaum sein. Anderes haben die Lehrjahre im Sinn, und so modulieren sie das Thema Familie neu, das im 18. Jahrhundert Konjunktur hatte. In Deutschland hielt man die Familie für die natürliche Form des sozialen Lebens. Rousseaus Contrat Social und Emile sowie Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit hatten sie den Institutionen des modernen Staates entgegengesetzt. In der Zivilisation sah man nichts als widernatürliche Verfremdung des Ursprünglichen. Die Natur war also in Mode, und eine Idyllisierung erfuhr sie - und mit ihr die Familie - alsbald durch Goldsmiths Vicar of Wakefield oder Vossens Luise . Derlei Schwärmerei überhöhte romantische Spekulation. Ihre Familienmodelle sind nach evangelischem Muster gebildet. Sie zeugen von der eschatologischen Hoffnung, es möge sich die Synthese von Natur und Geist im liebenden Wort erfüllen, das so aus präreflexiver Ursprünglichkeit zum Seienden komme wie Jesus zu den Menschen. Also harrte das Älteste Systemprogramm des ›höheren Geistes‹, der, »vom Himmel gesandt«, die »neue Religion« 438 ästhetischer Totalität unter den Menschen stifte. Hölderlin hoffte in Brod und Wein auf das Kommen des Versöhners als »des Höchsten Sohn« 439 , der das eschaton vollende, weil die geschichtlich erinnerten Zeichen als Spur der Götter in versöhnende Zukunft wiesen. Novalis glaubte in den Lehrlingen zu Saı ¨s an den »Messias der Natur« 440 , den er als »Xstus« 441 oder »blühendes Kind« 442 imaginierte. Nur Kleist trieb ironisches Spiel mit vermeintlich absoluter Abstammung. Hinter seinen Patchwork-Familien verbirgt sich die Parodie auf die biblische Überlieferung, der göttlich gezeugte Jesus sei bei Josef und Maria aufgewachsen. 443 Goethe freilich hielt vom Regress in die Idylle ebenso wenig wie von spekulativer Konstruktion. Ihrer Weltferne zog er den nüchternen Blick auf Vorhandenes sowie auf Formen des sozialen Wandels vor. Lotharios Reformprojekte sollen nicht zuletzt dem Rückzug ins Private vorbeugen, zu dem bereits der alte Meister und Werners Vater neigten, der eine in Form prächtiger Interieurs, der andere in Form genießerischer Geselligkeit (vgl. 40 f.). Auch Werner isoliert sich. Freund Wilhelm vertraut er sein »lustiges Glaubensbekenntnis« an: »[ … ] seine Geschäfte verrichtet, Geld geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht mehr bekümmert, als insofern man sie nutzen kann« (287). Aussichtslos also, dem Philister den Horizont zu erweitern. Und der Adel? Neben der Untätigkeit obsoleten Repräsentierens beharrt er auf seinen - lokalen - Privilegien. Zum Vertreter einer »vorrückende[n] Zeit« (430) macht ihn das nicht. Reaktion und Spießertum will der Turm nun mit der freien Heiratswahl begegnen. Neue gesellschaftliche Dynamik soll durch die »Vermischung der Stände« entstehen. Zwar hatte Therese noch Bedenken. Es gebe, meint sie, 436 Ebd. 437 Heidi M. Schlipphacke in ihrem ansonsten anregenden Aufsatz »›Die Vaterschaft beruht nur überhaupt auf der Überzeugung‹: The Displaced Family in Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Journal of English and German philology 102 ( 2003 ), 390 - 412 , hier 408 . 438 Friedrich Hölderlin: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Jochen Schmidt, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1992 - 1994 , Bd. II, 575 - 577 , hier 577 . 439 Ders.: Brod und Wein. Ebd., I, 372 - 382 , hier 382 . 440 Novalis: Die Lehrlinge zu Saı ¨s. In: Ders.: Werke (Anm. 11 ), Bd. I, 236 . 441 Ebd., 160 . 442 Ebd., 167 . 443 Vgl. dazu Marcel Krings, »Der Typus des Erlösers. Heilsgeschehen in Kleists ›Prinz von Homburg‹«. In: DVjs 79 ( 2005 ), 64 - 95 . <?page no="143"?> 143 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie den Menschen nichts mehr zu reden, als wenn einmal eine Heirat geschieht, die sie nach ihrer Art eine Mißheirat nennen könne. Und doch sind die Mißheiraten viel gewöhnlicher als die Heiraten; denn es sieht leider nach einer kurzen Zeit mit den meisten Verbindungen gar mißlich aus. Die Vermischung der Stände durch Heiraten verdienen nur insofern Mißheiraten genannt zu werden, als der eine Teil an der angebornen, angewohnten und gleichsam notwendig gewordenen Existenz des andern keinen Teil nehmen kann. Die verschiedenen Klassen haben verschiedene Lebensweisen, die sie nicht miteinander teilen noch verwechseln können, und das ist’s, warum Verbindungen dieser Art besser nicht geschlossen werden; aber Ausnahmen und recht glückliche Ausnahmen sind möglich (461 f.). Ständische Vorbehalte gegen die Mesalliance aber relativiert die nüchterne Verwalterin selbst. Denn ohnehin seien die meisten Ehen unglücklich, und überdies sei der Bund über Standesgrenzen hinweg gelegentlich denkbar. Bleibt das Problem der Lebensverhältnisse. Es wird erst von Lothario gelöst. Die Kinder und Erben seien in eine lebhafte freie Tätigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschränkten und beschränkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genießen wir immer die Geister unserer Vorfahren hervorrufen müssen. Wieviel glücklicher wären Männer und Frauen, wenn sie mit freien Augen umhersehen und bald ein würdiges Mädchen, bald einen trefflichen Jüngling ohne andere Rücksichten durch ihre Wahl erheben könnten (507 f.). Argument ist: Über alles setzt sich Ökonomie hinweg. »Ohne andere Rücksichten« kann eine neue Generation handeln, für die allein Tätigkeit zählt. Der wirtschaftlich-freie Blick prüft nun auch die Eheschließung. Schließlich will man die überkommenen, aber kargen und »beschränkenden« Privilegien profitabel erweitern. Dazu sollen sich die Partner auf gemeinsame Arbeit verstehen. Die Sozietät betrachtet damit die Ehe als reine Wirtschaftsgemeinschaft. Nicht Standesunterschiede bestimmen mehr über das Eheglück, sondern ein vergleichbarer Grad an Tätigkeit. In diesem Sinne hatte bereits die praktische Therese Wilhelm erläutert: »Für mich kenne ich nur eine Missheirat, wenn ich feiern und repräsentieren müsste [ … ]« (462). Sein neues Ehemodell lebt der Turm selbst vor. Schillers Kritik an den drei »Mißheiraten« 444 am Ende der Lehrjahre trifft nicht den Kern der Sache. Wohl missachten die Verbindungen die Standesgemäßheit. Jarno, immerhin der mutmaßlich »natürliche [ … ] Sohn« (162) des Prinzen, nimmt die verarmte, kleinbürgerliche Lydie. Wilhelm, der Kaufmannssohn, soll die landadelige Natalie erhalten. Und ihr Bruder, »Baron« (429) Lothario, will mit Therese, deren Vater ein »Edelmann dieser Provinz« (447) war, gar eine Enterbte ehelichen, die ihr Leben auf einem kümmerlichen »Freigut« (461) fristet. Lothario und Therese stellen neue, wirtschaftliche Prinzipien der Ehe auf, die auf Nutzen und freier Heiratswahl basieren. Streit hatte sich zwischen Baron und Oheim nicht zuletzt an der Art und Weise entzündet, wie der Verschuldung des jungen Mannes zu begegnen wäre. Der Oheim, berichtet Therese, habe Lothario »eine reiche Frau geben« wollen. Doch der lehnt ab. Einem »wohldenkenden Manne« sei »nur mit einer haushältischen gedient« (456). Nicht Reichtum allein zählt, wo es mehr auf die Fähigkeit zum Wirtschaften und zur Mehrung des Gewinns ankommt. Da der Oheim das nicht begreift, will Lothario selbst auf Brautschau gehen. Für Therese entscheidet er sich. Die junge Frau ist ihm bereits auf dem Gut der älteren Dame als Muster einer tätigen Verwalterin aufgefallen. Thereses Wohltäterin hatte ihr die Stelle angeboten, nachdem Therese von der Mutter enterbt worden war. Nun hatte sie »in dem Kampf mit Verwalter und Gesinde« zu helfen sowie darüber zu 444 Brief an Goethe vom 5 . Juli 1796 . In: MA 8 . 1 , 198 . <?page no="144"?> 144 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« wachen, dass sich kein »Unterschleif« (451) einstelle. Lothario kommt das entgegen. An ihre »höchste Stelle« sei eine Frau zu versetzen, und keine höhere gebe es als »das Regiment des Hauses«: Wenn der Mann sich mit äußern Verhältnissen quält, wenn er die Besitztümer herbeischaffen und beschützen muß, wenn er sogar an der Staatsverwaltung Anteil nimmt, überall von Umständen abhängt und, ich möchte sagen, nichts regiert, indem er zu regieren glaubt, immer nur politisch sein muß, wo er gern vernünftig wäre, versteckt, wo er offen, falsch, wo er redlich zu sein wünschte; wenn er um des Zieles willen, das er nie erreicht, das schönste Ziel, die Harmonie mit sich selbst, in jedem Augenblicke aufgeben muß: indessen herrscht eine vernünftige Hausfrau im Innern wirklich und macht einer ganzen Familie jede Tätigkeit, jede Zufriedenheit möglich. Was ist das höchste Glück des Menschen, als daß wir das ausführen, was wir als recht und gut einsehen? daß wir wirklich Herren über die Mittel zu unsern Zwecken sind? Und wo sollen, wo können unsere nächsten Zwecke liegen als innerhalb des Hauses? (452 f.) Männer, meint Lothario, unterliegen äußeren Sachzwängen. Politik und Wirtschaft erfordern, dass man Grundsätzen zuwider handele und die Mittel nach dem Zweck bestimme. Dennoch stelle sich nicht immer der Erfolg ein. In beschränkterem, häuslichen Kreis soll daher die Frau wirken. Wohl überblickt sie da nur Konkretes. Aber nach ihrem Willen geschieht dafür, was sie avisiert. Nicht nur hält sie Mann und Familie so den Rücken frei. Auch zur Wahrung des Besitzstandes trägt sie bei. Denn ihre »regelmäßige Tätigkeit«, »immer wiederkehrende Ordnung« und »Zweckmäßigkeit« verschafft ihrem Manne die wahre Unabhängigkeit, die häusliche, die innere; das, was er besitzt, sieht er gesichert, das, was er erwirbt, gut benutzt, und so kann er sein Gemüt nach großen Gegenständen wenden und, wenn das Glück gut ist, das dem Staate sein, was seiner Gattin zu Hause so wohl ansteht (453). »Regiment«, Hausordnung und ›haushältisch‹ machen deutlich: Auf oikonomı ´a , wörtlich Haushaltung, ist angespielt. Einige Männer handeln bereits aus dem Geiste der Ökonomie. Nun sollen die Frauen folgen. Lothario und der Turm plädieren für die Wirtschaftlichkeit ehelicher Verbindungen und Familien. Das ökonomische Modell, das der Turm schon praktiziert, fundiert die Partnerwahl der neuen Zeit. Jarno kann Lydie wohl versorgen, und die junge Frau, die ihre Leidenschaften übermannen und die sich »in nichts schicken« (451) kann, avanciert später in den Wanderjahren - zusammen mit Philine - zur Näherin der Sozietät. Wieder hat man die Zeichen der Zeit erkannt: Aus der aufkommenden Textilindustrie mit Maschinenwesen und Massenfertigung weiß man Profit zu schlagen. Auf wirtschaftlichem Fundament steht auch der Bund zwischen Wilhelm und Natalie. Der Kaufmannssohn ist von Hause aus begütert, und Handelspartner Werner wird beider Reichtum zu mehren wissen. Der verschuldete Lothario muss froh sein, das solvente Unternehmen durch den gemeinsamen Grundstückskauf und schließlich durch die Ehe mit Natalie an den Turm zu binden. Darauf aber, dass Wirtschaft Ehen und damit auch potentielle Familien stiftet, deutet der Text zuletzt selbst hin. Wilhelm wird schon bald nach seiner Ankunft »im Hause« Lothario behandelt, als gehöre er zur »Familie« (429). Auf den neuen oikos 445 und seine Gemeinschaft 445 Reinhart Koselleck (Drei bürgerliche Welten, Anm. 427 , 123 ) führt aus, dass der Begriff sich bis zum 18 . Jahrhundert auf die »Hauswirtschaft und auf die Binnenherrschaft über ein Haus« bezog und seitdem eine Ausweitung erfuhr, die als Ökonomie den »Bereich der staatsübergreifenden, kapitalabhängigen, wissenschaftlich-technisch vorangetriebenen Industriegesellschaft« bezeichnet. Die Lehrjahre illustrieren diesen Übergang augenfällig. <?page no="145"?> 145 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie ist angespielt, wie sie auch Novalis festgehalten hatte: »Wilhelm soll oeconomisch werden durch die oeconomische Familie, in die er kommt.« 446 Die Vorherrschaft des Ökonomischen führt dazu, dass die biologische Abstammung in der neuen Familie keine Rolle mehr spielt. Jeder, ob Mann, ob Frau, der sich auf Tätigkeit versteht oder derlei Befähigung wenigstens für die Zukunft verheißt, wird aufgenommen. 447 Nun kann die Sozietät wachsen. Umso wichtiger aber, dass einer die Richtung vorgibt und auf Zusammenhalt achtet. Lothario interpretiert dafür die Rolle des bürgerlichen Familienvaters für sich neu. »Vormund von vielen« möchte er sein, und sie ohne herrschen zu wollen [ … ], leite[n], dasjenige zur rechten Zeit zu tun, was doch alle gerne tun möchten, und sie zu ihren Zwecken führe[n], die sie meist recht gut im Auge haben und nur die Wege dazu verfehlen (608). Der Baron beansprucht die Aufsicht über die Mitglieder des Turms. Er bestimmt ihre Verwendung und bildet sie aus - zum gemeinsamen wirtschaftlichen Nutzen. Lothario übt damit keine Herrschaft im feudaladeligen Sinne mehr aus, sondern fungiert als Muster eines Unternehmers. Die Strategie des Unternehmens - etwa die Reformprojekte - legt er, teils gegen den Widerstand Jarnos, fest. Derweil führt ihm der Abbe´ neue potentielle Führungskräfte zu, und Natalie und Therese kümmern sich gemäß der Vorstellungen des Barons um die Erziehung der Frauen (vgl. 467 und 514). Nun muss die Familie zusammengehalten werden. Man benötigt ein Substitut für die biologische Abstammung, die bisher Gemeinschaft stiftete. Lothario findet es im ökonomischen »Bund« (608), den er mit Wilhelm schließt. Schon vorher hatte der junge Meister gespürt, dass man ihn mit geschäftlichen »Banden« (568) an die Sozietät fesseln wolle. Dass also die gemeinsame Verständigung auf wirtschaftlichen Geist der neuen Familie Kooperation und corporate identity sichert, beweisen auch die Wanderjahre . Der tüchtige Lenardo, der seine Arbeiter zur produktiven Gemeinschaft zusammenfasst und ihr das Überleben sichert, wird nur »das Band« (HA 8, 413) genannt. Die neuen Regeln des Zusammenlebens haben freilich durchaus ihren Preis. Gefühlskälte zieht ein, wenn nicht nur Biologie, sondern auch zwischenmenschlicher Zusammenhalt auf gemeinsame Tätigkeit reduziert werden sollen. Neben Wilhelm scheint nur der alten Barbara aufgefallen zu sein, dass die ökonomische Familie fürs Herz »eine ewige, elende Gefangenschaft« (HA 7, 568) in nüchterner Pragmatik riskiert. Die verschlagene Kupplerin, ehemals Marianes Dienerin, eröffnet Wilhelm: Wenn Ihr schimpfen wollt, so geht in Eure großen vornehmen Häuser, da werdet Ihr Mütter finden, die recht ängstlich besorgt sind, wie sie für ein liebenswürdiges, himmlisches Mädchen den allerabscheulichsten Menschen auffinden wollen, wenn er nur zugleich der reichste ist. Seht das arme Geschöpf vor seinem Schicksale zittern und beben und nirgends Trost finden [ … ] (478). Von Liebe ist in der Moderne nicht länger die Rede. Aus eros wird oikos . Die Vernunfterziehung duldet keine Gefühlsverwirrung mehr, und unerbittlich wird die Entsagung von aller Sinnlichkeit gefordert. Lothario geht mit eigenem Beispiel voran. Zwar, meint er, sei nichts so angenehm wie neue Verliebtheit. 446 Novalis: Fragmente und Studien (Anm. 11 ), 801 . 447 Der Turm ist also kein reiner Männerbund, wie die Forschung gelegentlich meint. <?page no="146"?> 146 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« [U]nd doch wollt’ ich diesem Glück für mein Leben entsagt haben, wenn mich das Schicksal mit Theresen hätte verbinden wollen. Man ist nicht immer Jüngling, und man sollte nicht immer Kind sein. Dem Manne, der die Welt kennt, der weiß, was er darin zu tun, was er von ihr zu hoffen hat, was kann ihm erwünschter sein, als eine Gattin zu finden, die überall mit ihm wirkt, und die ihm alles vorzubereiten weiß, deren Tätigkeit dasjenige aufnimmt, was die seinige liegen lassen muß, deren Geschäftigkeit sich nach allen Seiten ausbreitet, wenn die seinige nur einen gerade Weg fortgehen darf. Welchen Himmel hatte ich mir mit Theresen geträumt! nicht den Himmel eines schwärmerischen Glücks, sondern eines sichern Lebens auf der Erde [ … ] (467). Pueril sind erotische Abenteuer - und vor allem liegen sie außerhalb der Ehe. Denn der Erfahrene wünscht sich keine weltfremde Schwärmerei, sondern tätige Ordnung und materielle Sicherheit im familiären Alltag. Planbarer Kontrolle soll auch das Private unterliegen. Unerbittlich überträgt man daher das ökonomische Denken auf Häusliches und verdrängt den eros aus dem Bund fürs Leben. Für Lothario, den Frauenhelden, ist der Schritt am größten. Auf was er nun in einer Verbindung verzichten will, illustriert die Episode mit der Pächterstochter. Zehn Jahre zuvor war sie »ziemlich lange« seine Geliebte, und beide hatten sich »sehr lieb« (464). Lothario ist nun durch die langsame Rekonvaleszenz nach seiner Duell-Verwundung sentimentalisch gestimmt. Aus »Schwachheit« beschließt er, Margarete, die gerade bei ihrem Vater auf dem alten Pachthof weilt, mit einem Besuch zu überraschen. Erinnerung und »süße Empfindungen« (464) fließen zusammen und setzen die Einbildungskraft des Barons in Gang. »Abendsonne«, »wilde [ … ] Rosen« (465) und weibliche Gegenwart verbreiten eine »angenehme Illusion« (470). Auf Lothario wirkt alles »so lieblich, so anmutig, so reizend« (464), dass er »nicht ohne Regung des Herzens« (465) bleibt. Schon scheint sich Vergangenes mit Margaretes »Muhme« (466) wiederholen zu wollen. Doch trotz der Verführungen des eros erkennt Lothario, dass er einer »Zauberwelt« (465) aufsitzt: Die junge Frau entzieht sich ihm, und bei Margarete selbst ist der Baron nicht mehr sonderlich willkommen. Es zeigt sich, dass zu seiner Schwärmerei ein gehöriges Maß an Verdrängung des Realen gehört hatte. Erotischen Charme sieht nur noch er im Vorgefallenen. Denn die Beziehung zwischen ihm und Margarete dauerte nur, bis - so darf man konjizieren - er die Geliebte verließ und finanzieller und emotionaler Desolation überantwortete (vgl. 471). »Wie oft«, erinnert sich die junge Frau, »habe ich mir gewünscht, Sie nur noch einmal in meinem Leben wiederzusehen! ich habe es in Augenblicken gewünscht, die ich für meine letzten hielt« (471). Möglich auch, dass zumindest eines ihrer vielen Kinder von ihm stammt. Um den Fehltritt Margaretes zu kaschieren oder die junge Frau aus dem Einflussbereich des lüsternen Grundherren zu entfernen, hat man sie »weit weg verheiratet« (464). Doch nie ist sie über ihr emotionales Leid hinweggekommen. Ihre frühere »Munterkeit« hat sich in »ein stilles Nachdenken« (470) verwandelt. So begreift Lothario, dass für ihn nichts mehr zu holen ist. Die Vergangenheit wiederholt sich nicht. Auch ohne den Hinweis auf das Mignon-Motiv der Orangen (»Orangenwald [ … ]«, 471) hält die Episode für Lothario die Lehre bereit, dass erotische Sehnsucht schön sein mag, aber dass allein Schwache oder pathologische Schwärmer ihr erliegen. Besser ist es, die Täuschung des eros mit Vernunft aus der Welt zu schaffen und sich dem »sichern Leben auf der Erde« (467) zuzuwenden. Gegen die Sentimentalität, die derlei »Gespenstergeschichten« beförderte, lässt Lothario - wie schon im Falle des Harfners - den »Doktor [holen], dass er uns von dem Überreste dieser Stimmung erlöse« (466). Die Abwendung von der Sinnlichkeit stellt der Text als gesellschaftlichen Reifungs- und Gesundungsprozess dar. Doch man kann an dem Entsagungsvorsatz auch scheitern. Schon Therese ist sich bewusst, dass <?page no="147"?> 147 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie zwar der Verstand der Männer sich nach Haushälterinnen umsehe, daß aber ihr Herz und ihre Einbildungskraft sich nach andern Eigenschaften sehne, und daß wir Haushälterinnen eigentlich gegen die liebenswürdigen und reizenden Mädchen keinen Wettstreit aushalten können (453 f.). Eine Pächterstochter würde die nur Nüchterne wohl auch jetzt noch aus dem erotischen Feld schlagen. Freilich kann Therese ruhig sein. Sie weiß um die bindende Kraft des oikos . Schon bei der »mißlich[en]« (461) Ehe ihrer Eltern hatte die junge Frau erlebt, dass die Wirtschaftlichkeit der Verbindung sowie der gemeinsame Besitz ein stabilisierender Faktor blieb. Trotz der Zerrüttung wollte man »das Eheband nicht aufheben, man befand sich, bürgerlich gesprochen, zu wohl« (560). So kann sie sich auch bei Lothario, »wenn er ihr Gatte gewesen wäre«, vorstellen, ein außereheliches »Verhältnis zu ertragen«, wenn es nur ihre häusliche Ordnung nicht gestört hätte; wenigstens äußerte sie oft, daß eine Frau, die das Hauswesen recht zusammenhalte, ihrem Manne jede kleine Phantasie nachsehen und von seiner Rückkehr jederzeit gewiß sein könne [sic] (461). Soll sich also der Gemahl ruhig von Zeit zu Zeit anderswo umschauen - Ökonomie dominiert über die erotische Grille. Wer gibt schon gleich die materielle Absicherung für eine Schwärmerei auf, wer Ordnung und Tätigkeit für die Konfusion des Gefühls? Schon Lotharios Affäre mit Margarete hatte keine Zukunft, und für Wilhelm explizierte die Mariane- Episode, dass sich von Liebe allein nur schlecht leben lässt. Umwillen produktiver Verlässlichkeit optiert der Turm also für unerotische Verbindungen, in denen Liebe nicht vorkommt. Jarno weiß wohl, dass Lydie »aus Liebe zu einem andern«, nämlich Lothario, »verzweifelt«. Und nur »unter einer gewissen Bedingung« (566) willigt die junge Frau überhaupt in den Bund ein - wohl der, dass die Ehe nicht vollzogen werde. Jarno ist es recht. Er schätzt an seiner Braut - wie schon an Wilhelm - ohnehin hauptsächlich ihre Begeisterungsfähigkeit und weiß, wie schon im Grafenschloss, anderswo auf seine Kosten zu kommen. Nicht viel anders stehen die Dinge bei Wilhelm und Therese. Man stellt Vorbedingungen und wägt den Nutzen ab. Er sucht eine Mutter für Felix und eine »Gehülfin« (504) für sich selbst. Und auch sie eröffnet ihrem zukünftigen Gatten mit »freundlichen Worte[n]«, dass ihn keine »Leidenschaft, sondern Neigung und Zutrauen« (530) mit ihr zusammenführe. Nur der »ruhigste Verstand« (535), erklärt sie, habe die geplante Verbindung eingeleitet. Denn nun, nachdem sich die Ehe mit Lothario für Therese zerschlug, soll Wilhelm »das Glück [ihres] Lebens machen« (537). Über geschäftliche und private Modalitäten werde man sich schon einig werden: Was an uns selbst, was an unsern Verhältnissen der Ehestand verändert, werden wir durch Vernunft, frohen Mut und guten Willen zu übertragen wissen. [ … ] Sie verzeihen mir gewiß, wenn ich mich manchmal meines alten Freundes [Lothario, M. K.] herzlich erinnere; dafür will ich Ihren Sohn als Mutter an den Busen drücken. Wollen Sie mein kleines Haus sogleich mit mir teilen, so sind sie Herr und Meister, indessen wird der Gutskauf [zwischen Wilhelm und dem Turm, M. K.] abgeschlossen. Ich wünschte, daß dort keine Einrichtung ohne mich gemacht würde, um sogleich zu zeigen, daß ich das Zutrauen verdiene, das Sie mir schenken (530). Die Ehe wird zur Vertragsgemeinschaft. Erbrachte Leistungen garantieren eigene Rechte. Denn auch Frauen hegen erotische Phantasien. Nicht offensiv, sondern aus der Ferne verehren sie zumeist den Angebeteten. Doch sowenig wie die Männer müssen Lydie und Therese dabei auf die Sicherheit der Ehe verzichten. Und mit Blick auf Anzüglichstes hatte schon Barbara gemeint, eine unerfüllt Verheiratete könne sogar Trost finden, wenn ihr <?page no="148"?> 148 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« eine erfahrene Freundin begreiflich macht, dass sie durch den Ehestand das Recht erwerbe, über ihr Herz und ihre Person nach Gefallen disponieren zu können (478). Dass man den oikos miteinander teilt und ordnet, blendet privateste Sinnlichkeit aus. Liebt man sich also nicht, so reicht die Sympathie für zweckmäßige Besitzverwaltung aus. Der Eifer aber, mit dem sich Therese die Mitbestimmung über den Immobilienkauf ausbedingt, deutet nicht nur auf ökonomisches Pflichtbewusstsein. Die Praktikerin befürchtet insgeheim, der Gatte Wilhelm lasse es an Sachverstand fehlen. Schon einmal hatte sie erklärt, »alle [ihre] Einsicht reich[e] nicht hin, zu ahnen, was er wirken kann« (532). Doch der Kelch geht an ihr vorüber. Thereses Familiengeschichte fördert zu Tage, dass Lothario sich nur mit der Stiefmutter eingelassen hatte. Einer Verbindung von Therese und Baron steht nun nichts mehr im Wege. Wilhelm soll also Natalie erhalten. Darüber ist er nicht unglücklich, denn zu Therese habe ihn ohnehin nur »väterliche Liebe« in der »Gestalt einer Neigung« hingezogen. Natalie aber vereinige in ihm »alle Empfindungen [ … ], die den Menschen glücklich machen sollten«. Das Herz fließt ihm über: ›Ja‹, sagte er zu sich selbst, indem er sich allein fand, ›gestehe dir nur, du liebst sie, und du fühlst wieder, was es heiße, wenn der Mensch mit allen Kräften lieben kann‹ (568). Zur Schwärmerei gesellt sich die Einbildungskraft. Nicht viel hat Meister seit Mariane dazugelernt. Zudem hat ihn seine Amazonenphantasie auf Natalie festgelegt: War nicht schon früher die schnell vorübergegangene Gestalt der Amazone deiner Einbildungskraft immer gegenwärtig? Und du hattest sie nur gesehen, du kanntest sie nicht. Nun, da du sie kennst, da du ihr so nahe warst, da sie so vielen Anteil an dir gezeigt hat, nun sind ihre Eigenschaften so tief in dein Gemüt geprägt als ihr Bild jemals in deine Sinne (568 f.). Doch weder kennt Wilhelm Natalie, noch hat sie wirklichen Anteil an ihm genommen. 448 Am ökonomisch-unsentimentalen Charakter von Natalie und Turm sieht Meister vorbei. Sein Empfinden und seine Liebesrhetorik stammen aus einer anderen, älteren Welt. Im Turm haben sie keinen Platz mehr - sowenig wie Schwärmerei, Literatur, Einbildungskraft oder Kunst. Dass Wilhelm in des Oheims Schloss angesichts der Sammlung des Großvaters ernsthaft meint, sich »in seinem Erbteile« (520) wiederzufinden, inszeniert sein Turmabenteuer als ein einziges Missverständnis. Der Turm kann mit Wilhelms eros nichts anfangen. Nach Italien will man ihn daher entfernen, und in »zwei Tagen« soll er »reisefertig« (609) sein. Schon der alte Meister hatte seinen Sohn auf Geschäftsreise geschickt, um ihm die ästhetischen Flausen auszutreiben. Doch an einen erneuten Versuch der Erziehung zur Tätigkeit ist nicht gedacht. Wilhelm hat sich im Turm nicht bewährt, und so dient die Reise dazu, ihn von seiner Braut zu trennen. Friedrich berichtet, wie die »Zeremonien« für Meister aussehen sollen: Die lassen sich an den Fingern herzählen, Ihr müßt reisen, die Einladung des Marquis kommt Euch herrlich zustatten. Seid Ihr nur einmal über die Alpen, so findet sich zu Hause alles, die Menschen wissen’s Euch Dank, wenn Ihr etwas Wunderliches unternehmt, Ihr verschafft ihnen damit eine Unterhaltung, die sie nicht zu bezahlen brauchen. Es ist eben, als wenn Ihr eine Freiredoute gäbt; es können alle Stände daran teilnehmen (609). Weder an häusliches Zusammenleben noch an bürgerliche Leistungsehe ist gedacht, wo erst Wilhelms Reise die Angelegenheiten des Turms wieder ins Reine brächte. Was gemeint ist, 448 Vgl. zu Natalie ausführlich weiter oben im ihr gewidmeten Unterkapitel 2.3.2. <?page no="149"?> 149 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie weiß Wilhelm selbst: Lothario und Therese warten »auf seine Entfernung [ … ], um sich trauen zu lassen« (605). Friedrichs böse Zunge lässt keinen Zweifel daran, was vom gutgläubigen Ehemann in spe zu halten sei, der sich so leicht wegschaffen ließ. Wohlfeilen Stoff für jedermanns Klatsch und Tratsch werde er abgeben - eine abgeschmackte letzte Variante der »Vermischung der Stände durch Heiraten« (461). Dass Wilhelm das Spiel nicht durchschaut, liegt an seiner Einbildungskraft. Er ist überzeugt, »Heiraten« würden durch Personen gestiftet, »die sich lieb haben« (554). Therese und Lothario bestärken ihn darin: Wilhelms »Herz« (607) fordere Natalie, die »Natur« habe also zwischen beiden »gewirkt« (608). Zudem verstellt dem jungen Mann die christliche Semantik den Blick, die der Turm für die Heiratspläne geschickt zu benutzen weiß. Natalie habe gelobt, Wilhelm ihre »Hand anzubieten« (609), nun will man die Brautleute »zum Altare« (607) gehen sowie sich »trauen« (605) sehen, und der »Pfaffe« werde sich um alle »Formalität« (609) kümmern. Schon meint Wilhelm, sein »Glück erlangt« (610) zu haben. In Wahrheit aber ist alles »Hokuspokus« (549). Schon früher (vgl. 71 und 549) hatten Jarno und der Abbe´ die Nützlichkeit religiösen Bedürfnisses für ihre Zwecke erkannt. Diejenigen, die »nicht auf ihre Füße gestellt sein wollten«, könne man mit »Mystifikationen« (549) und Mythologie gefahrlos beiseite bringen - ohne dass sie die ökonomische Leere hinter soviel Ritual bemerkten. Durch seine religiös-erotische Empfänglichkeit begreift Wilhelm also nicht, dass Eheschließungen in der Moderne nicht mehr metaphysisch fundiert sein müssen. Man lebt in Zeiten der auf gegenseitigem Nutzen beruhenden Vertragsehe, die sich als Versorgungsgemeinschaft der beiden Partner versteht. Davon kann bei der Verbindung von Wilhelm und Natalie kaum die Rede sein, von der allein der Turm profitiert. Meister hingegen wird auf den eros verzichten müssen und Natalie nie wieder sehen, und noch die Briefe der Wanderjahre lassen ermessen, wie schwer dem jungen Mann die Sehnsucht zusetzt. So scheint es, als habe der Turm die Fruchtlosigkeit seiner Erziehungsversuche erkannt. Weiter will man sich mit Wilhelm nicht abgeben. Wirklich hätte der junge Mann schon bei Jarnos Religionskritik erkennen müssen, dass es dem Unternehmen auch bei den Vermählungen um anderes als um einen metaphysischen Zeugen geht. Ihre alte Rückbindung - wörtlich re-ligio - an Absolutes wird durch den neuen »Bund« (608) profaner Geschäftsinteressen ersetzt. Die Ökonomie erklärt neben Kunst, Biologie und eros auch die Religion für unnütz. Das neue Familienmodell löst damit vollends die alte - bürgerliche wie adlige - Kernfamilie ab. Dieser Prozess lässt sich an der Chronologie des Romans ablesen. Die Lehrjahre beginnen mit der Familie des alten Meister - einer bürgerlichen Kernfamilie der Spätaufklärung, wie sie sich aus der Großfamilie des frühen 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte 449 - und enden mit der Sozietät. Der Druck des Ökonomischen führt zur Ausweitung der Perspektive. Derlei reflektiert der Text durch das Geflecht verschiedener paralleler Handlungsstränge, die ab dem siebten Buch den Roman durchziehen. Nicht länger steht allein Wilhelm im Mittelpunkt - auch das ein Zeichen für den sich ankündigenden Bedeutungsverlust des Individuums in der funktionalen Gesellschaft. In diesem Sinne verdienten also nicht erst die Wanderjahre , ein »Totalitätskunstwerk« 450 genannt zu werden. Die Sozietät will mit der Kritik des eros und der Einführung des ökonomischen Bandes zwischen den Menschen auch die zwei letzten Übel der Kernfamilie beseitigen. Dem Turm ist nicht entgangen, 449 Zur Entwicklung vgl. Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie, Reinbek/ Hamburg 1977 sowie Schlipphacke (Anm. 437 , 398 f.). 450 Hermann Broch: »James Joyce und die Gegenwart«. In: Ders.: Schriften zur Literatur I: Kritik, Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9 . 1 , hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt/ Main 1975 , 63 - 91 , hier 65 . <?page no="150"?> 150 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« dass das alte Modell sowohl erotische Deformationen beförderte als auch äußerst instabil war: Auf die wankelmütige Liebe allein lässt sich bei der Gründung von Familien kaum bauen. Nicht auf Dauer waren die Verbindungen also angelegt, und manch eine Fehlbildung erzeugten sie. Wirklich zeigen die Lehrjahre allein unvollständige oder zerrüttete Familien - oder lösen Verwandtschaftsverhältnisse bis an die Grenze des Nachvollziehbaren auf. Das alte Modell hat versagt. Der Zerfall lässt sich schon an Familie Meister ablesen. Sie besteht aus Wilhelm, Vater und Mutter sowie einigen nur am Rande erwähnten »Schwestern« (24), von denen Werner überraschenderweise später eine heiratet (vgl. 286 und 501). Der vermögende Großvater war viel gereist und hatte in Kunst investiert. Nach seinem Tod, der zu Beginn des Romans 12 Jahre zurückliegt (vgl. 68 f.), hat sein Sohn, Wilhelms Vater, die Sammlung »ins Geld gesetzt« (40), um Teilhaber an des alten Werner Handelsunternehmen zu werden. Wilhelm und seinen Schwestern will der alte Meister nicht Kunst, sondern »Güter [ … ] hinterlassen, auf deren Besitz er den größten Wert legte« (40). Gern hätte er nun gesehen, dass auch Wilhelm Kaufmann geworden wäre. Doch der Sohn, der sich - ein Urahn Tonio Krögers - zum Schönen hingezogen fühlt, setzt des Vaters bürgerliche Handelstugend nicht fort. Mit Geld und Geschäftlichem kann er nichts anfangen und lässt später lieber von Werner sein Kapital verwalten. Die Familie bricht auseinander: Wilhelm schließt sich erst den Schauspielern an, bevor ihn der Turm endgültig aus alten familiären Bindungen entfernt - und ihn schließlich sogar nach Italien schickt. Noch während Wilhelms theatralischen Versuchen stirbt überdies der alte Meister (vgl. 284). Damit stellt sich für die Familie die Frage des wirtschaftlichen Überlebens. Auch bedrängen Erbschleicher und sonstige Profiteure Mutter und Schwester. Weil Wilhelm fern ist und sich nicht kümmert, wittert Werner seine Chance. An Wilhelm schreibt er: Der gute Alte war kaum verschieden, als auch in der nächsten Viertelstunde schon nichts mehr nach seinem Sinne im Hause geschah. Freunde, Bekannte und Verwandte drängten sich zu [ … ]. Du wirst mir also verzeihen, mein Lieber, wenn ich bei dieser Gelegenheit auch an meinen Vorteil dachte, mich Deiner Schwester so hülfreich und tätig als möglich zeigte und ihr, sobald es nur einigermaßen schicklich war, begreiflich machte, daß es nunmehr unsre Sache sei, eine Verbindung zu beschleunigen, die unsre Väter aus allzu großer Umständlichkeit bisher verzögert hatten (286). Der alte Meister hätte der Verbindung niemals zugestimmt. Wahrscheinlich, dass der alte Herr, der die Pracht liebte, Werner als zwar praktische, aber knauserige Krämerseele durchschaute und der Tochter die Ehe mit dem Spießbürger ersparen wollte. Seine Menschenkenntnis hat ihn nicht getäuscht. Sogar auf Wilhelm macht der Jugendfreund später einen unvorteilhaften Eindruck: Er war viel magerer als damals, sein spitzes Gesicht schien feiner, seine Nase länger zu sein, seine Stirn und sein Scheitel waren von Haaren entblößt, seine Stimme hell, heftig und schreiend, und seine eingedrückte Brust, seine vorfallenden Schultern, seine farblosen Wangen ließen keinen Zweifel übrig, daß ein arbeitsamer Hypochondrist gegenwärtig sei (498 f.). Die Schwester ist zu bedauern. Wilhelms Aufgabe wäre es gewesen, sie vor dem Mann zu bewahren. Doch er lässt zu, dass der Händler die Angelegenheiten der Familie neu ordnet und ihn selbst aus dem Haus treibt: »Vor dem ersten halben Jahre bedürfen wir Deiner nicht« (288). Damit triumphiert Ökonomie über alte Familienbande. Von der Notlage der Meisters profitiert der praktische Geschäftsmann. Schon im spießbürgerlichen Zerrbild sind die späteren Reformen des Turms zu erkennen. In der Ehe kommt es auf den beiderseitigen Nutzen <?page no="151"?> 151 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie an. Werner bietet materielle Sicherheit: Mutter und Schwester ziehen zu Werner, das Haus der Meisters wird verkauft (vgl. 286) und der Ertrag in den Kauf des Gutes investiert, für das sich auch der Turm bereits interessiert. Als Gegenleistung gebiert Werners neue Frau ihrem Mann Kinder (vgl. 501) und ist mit der Mutter »[h]aushälterisch« (500) tätig. Dass aber die neue oikonomı ´a nicht recht überzeugt, ist nicht die Schuld der Frauen. Werner führt das - strenge - Regiment im Haus: Er verwehrt seinem Vater die verschwenderische Bewirtung der Freunde (vgl. 287), lehnt alles »Überflüssige [ … ]« (ebd.) ab, ist bei allem am Geldwert interessiert und fühlt sich am wohlsten, wenn er sich »um die übrige Welt« (ebd.) außerhalb des Geschäftlichen nicht kümmern muss. Solcher Rückzug ins Bürgerlich-Private ist jedoch antiquiert. Der Turm überwindet ihn. Doch auch Wilhelms Familie hatte ihn gelebt. Des alten Meisters »Haushalt ging einen gelassenen und einförmigen Schritt, und alles, was sich darin bewegte und erneuerte, war gerade das, was niemanden [sic] einigen Genuß gab« (41). Solche Abgeschiedenheit ist nicht uneingeschränkt fruchtbringend. Die Intimität der Familie befördert erotische Fehlbildungen. Zu ausschließlich prägen Frauen den jungen Wilhelm. Sie verzärteln ihn zum feminin-weltfernen Schwärmer, indem sie seine Neigung zum Theater wecken und unterstützen. Doch nicht nur staffieren die Schwestern dem Bruder seine Theaterwelt aus (vgl. 24): Er ist auch zu stark auf die Mutter bezogen. Zusammen mit ihr verbündet er sich gegen den Vater, der von den Theaterversuchen des Sohnes nicht begeistert ist und seine Unzufriedenheit auch die Gattin spüren lässt (vgl. 12). Die hatte Wilhelm das Puppenspiel geschenkt und dem Heranwachsenden das Theater als erotischgeheimnisvolle Welt eröffnet. Für Mutter und Schwester rächt sich das. So sehr ist Meister schon bald aufs Theater fixiert, dass er es selbst nach dem Tod seines Vaters nicht verlässt, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Wirklich beschreibt der Text Wilhelms Eintritt in die Theaterwelt als erotische Initiation in effigie . Schon der Zehnjährige wähnt, der »mystische [ … ] Vorhang« (12) des Puppenspiels verhülle ein »Rätsel« (18). Meister erinnert sich, mit welchem Gefühl er am Morgen nach der Vorstellung dem abgebauten Puppenspiel nachspürte: »Ach, wer eine verlorene Liebe sucht, kann nicht unglücklicher sein, als ich mir damals schien« (17). Das den Heranwachsenden faszinierende Unbekannte ist das Reich des eros . Nun will Wilhelm alles daran setzen, hinter das Geheimnis zu kommen. Wie das Puppenspiel funktioniert, möchte er wissen. Was er eigentlich meint, verdeutlicht die erotische Schlüssel-Schloss-Metaphorik des Textes (vgl. 19). Eine große »Ehrfurcht« empfindet Meister für die verschlossenen Türen, hinter denen er ein »Heiligtum« (ebd.) vermutet. Nur manchmal darf er »einen verstohlnen Blick« (19 f.) ins lockende Tabu tun: Wenn die »Mutter« (19) das Heiligtum öffnet. Der pubertierende Sohn hat inzestuöse Phantasien entwickelt, und das Motiv variieren die Lehrjahre später bei Natalie, Mignon und Sperata-Augustin. »[A]hnungsvolle Freuden« (20) verschafft Wilhelm aber nun der Genuss einer - geschlechtlich konnotierten - gedörrten »Pflaume« (ebd.), die ihm die Mutter aus der stets abgeschlossenen Speisekammer reicht. Auf den Raum hat er ohnehin »[s]eine Sinne am schärfsten gerichtet« (ebd.). Eines Tages gelingt ihm der Einbruch ins Verbotene. Mit »einigen getrockneten Äpfeln« (ebd.) hat er sich gerade versehen, als er die Puppenspiel- Marionetten sowie das Textbuch entdeckt. Wilhelms an Einbildungskraft reiche Erinnerungen bemühen den Mythos vom Sündenfall. Er maskiert das Banalere: Über die verbotene Frucht ist der Heranwachsende nun sowohl in Machart des Theaters als auch in den sexus eingeweiht. Besser hätte er daran getan, der Verführung zu widerstehen und Reales nicht aus dem Blick zu verlieren. Gleiches gilt im Übrigen für seine Mutter. Nicht nur aus theatralischen Gründen besteht sie auf Heimlichkeit. Denn die Familie ist zerrüttet, und vorsich- <?page no="152"?> 152 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« tig deutet der Text ein Verhältnis mit dem Hausfreund und Leutnant an. Schon in Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung , dem Vorläufer der Lehrjahre , hatte der Erzähler bedauert, sagen zu müssen daß diese Frau [ … ] noch in ihren ältern Jahren eine Leidenschaft für einen abgeschmackten Menschen kriegte, die ihr Mann gewahr wurde, nicht ausstehen konnte, und worüber Nachlässigkeit, Verdruß, Hader sich in den Haushalt ein schlich [sic]; daß, wäre der Mann nicht ein redlicher treuer Bürger, und seine Mutter eine gutdenkende billige Frau gewesen, schimpflicher Ehe- und Scheidungsprozeß die Familie entehrt hätte. 451 Es zeigt sich wie schon bei Thereses Eltern, dass die - bürgerliche - Fassade gewahrt bleiben muss, auch wenn die Eheleute sich längst einander entfremdet haben. Dass Goethe die Lage in den Lehrjahren nicht mehr deutlich ausführt, verdankt sich seinem gewandelten Kunstkonzept. Denn nun verschleiert der schöne Schein hier wie sonst die Prosa der Verhältnisse. Doch gilt wie in der Sendung , dass der Bürgersfrau die eintönig-zurückgezogene Lebensführung ihres Mannes im Alltag langweilig geworden sein mag. Und schon Marianes aufreizende Hosenrolle hatte an den Topos erotischen Verdachts gegen das Militär erinnert, den die Lustbarkeiten von Schauspielerinnen und Offizieren auf dem Grafenschloss später aufnehmen. Im Falle der Meisters hatte der praktisch begabte bel ami das Puppentheater gebaut (vgl. 18) - wohl hier schon in geheimem Einverständnis mit der Mutter, die es gegen die Pläne ihres Mannes den Kindern schenkt. Überdies hat der Leutnant sich durch seine Hilfe beim Hausbau das Vertrauen des alten Meisters erworben. Geschickt weiß er das zu benutzen, den »Freund« (18) von der Wiederaufnahme der Aufführungen zu überzeugen. Ein »Nachspiel« hat er dabei geplant, in dem ein »Hanswurst« (ebd.) mit seinen »Absätzen klappert [ … ]« (19). Die Anspielung erhellt aus dem Romanverlauf. Die sinnliche Verführerin Philine wird später »Pantöffelchen mit hohen Absätzen« (93) tragen, eine »Pariser Arbeit« (301), deren erotisches Potential - neben der als sittenlos verrufenen französischen Hauptstadt - vor allem durch ihr Geklapper angezeigt wird. Das »Klipp! Klapp! « (ebd.), meint Serlo, verheiße immer ein nächtliches Stelldichein: Es ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die Türe tut sich auf, man erkennt ein liebes pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbei, die Vorhänge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein (ebd.). Derlei Verlangen würde den Leutnant freilich sonst manche Vorbereitung kosten. Nun aber geben ihm die Theaterproben den Vorwand an die Hand. Leicht kann er so ins Haus kommen und tut das auch »mehrmals« die Woche »zu ungewöhnlicher Zeit« (22). Auch der Sohn des Hauses bekommt das mit. Wilhelm erblickt den Offizier eines Tages »im Heiligtume sehr geschäftig« (19) - und wird von der Mutter am weiteren Zuschauen gehindert. Ihr ist die erotische Indiskretion peinlich. Doch Wilhelms Schlüssel-Schloss-Metaphorik lässt ermessen, wie sehr er von nun an den »Zusammenhang« (19) versteht. Überflüssig also, dass der Hausfreund eigens den Wunsch äußert, den Heranwachsenden »in diese Geheimnisse einzuweihen« (21). Nur Wilhelms Vater begreift nichts vom Ehebruch. Der »ganz frisch fertig gewordene [ … ] Hanswurst«, den der Leutnant bei seinem »Nachspiele [ … ] produzieren« (18) will, meint - in theatralischem Doppelsinn - den gehörnten Alten. Die erotische Bezogenheit aufs Theater wird Wilhelm dennoch von nun an nicht mehr aufgeben. Zu sehr ist Meisters Theaterleidenschaft das Produkt einer ins Schwärmerische 451 Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung (Anm. 395 ). In: MA 2 . 2 , 14 . <?page no="153"?> 153 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie fehlgeleiteten Mutterbindung. Über der Erotik hat der Sohn gelernt, Reales nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der Text konstatiert, dass zum Träumer wird, wer zuviel mit Frauen zusammen ist. »Gewiß« sei es, dass derlei theatralische Liebe, welche Rosenlauben, Myrtenwäldchen und Mondschein erst beleben muß, auch sogar Hobelspänen und Papierschnitzeln einen Anschein belebter Naturen geben kann. Sie ist eine so starke Würze, daß selbst schale und ekle Brühen davon schmackhaft werden (57 f.). Der Vater vermag Wilhelm jedenfalls nicht mehr zum tätigen Geschäftsmann zu formen. Lieber erprobt sich Meister schon bald mit seiner kleinen Truppe an Tankreds und Chlorindes Liebe (vgl. 26 f.), bevor es die Jugend - Wilhelm ist bald 14 (vgl. 32) - nach erster Erfahrung drängt: Unter den jungen Schauspielern ergeben sich »verschiedene kleine Liebesgeschichten« (31). Das Thema setzt Wilhelms Beziehung zur Schauspielerin Mariane fort. In erregender Hosenrolle fasziniert sie den jungen Mann. Ihr zeigt er die Marionetten, und mit dem »Hauptschlüssel« (73) will er bei ihr »ins Heiligtum der Liebe« (74) eindringen. Dass Mariane sich nebenbei vom finanzstarken Norberg aushalten lässt und eine lässliche Boudoirintimität pflegt, erweitert das Motiv zur sozialen Wertung. Man hat »Vorurteile« (292). Bekanntlich galten Schauspielerinnen wenig mehr als Prostituierte - und dass das Bürgertum um derlei niedrige Zweideutigkeit weiß und sie sich durchaus nicht ins Haus holen will, beweist schon die Tatsache, dass Meisters Puppenspiel im für Bedienstete bestimmten »obersten Stocke« (21) des Hauses stattfindet und die Theateraufführungen vollends in »eine kleine Stube« im Haus eines »Gespielen« (28) ausgelagert werden. Meister sieht darüber hinweg. So gefällt es ihm auch bei den Gauklern und Schauspielern, die er im »Landstädtchen« (90) kennenlernt. Philine gibt den Ton vor. Sie, deren Name vom griechischen Verb philein , lieben, stammt, bittet sich von Wilhelm eine Rose aus (vgl. 91). Überdies ist die Aktrice verführerisch. Laertes erklärt sie daher zur »wahre[n] Eva« und »Stammutter des weiblichen Geschlechts« (100). Der Mythos erinnert an Wilhelms Speisekammer-Erlebnis und - in Wahrheit - an die promiske Macht weiblicher Erotik. Auch bei Meister wirken alsbald Philines »frevelhafte [ … ] Reize« (107). Mit »Eifersucht« (135, 140) quittiert er Friedrichs und des Stallmeisters Besuch bei der Schauspielerin. Was in Rede steht, hatten schon die Gaukler Narziß und Landrinette angedeutet. So große Beliebtheit genossen sie beim männlichen und weiblichen Publikum, dass sie es nach der abendlichen Vorstellung mit intimen Rendezvous erfreuten (vgl.104). Auf dem Grafenschloss setzt sich der erotische Schabernack schließlich fort. Offiziere treiben Kurzweil mit den Schauspielerinnen (vgl. 163), die man derweil ungerührt im nur schlecht bewohnbaren Alten Schloss unterbringt. Die Gräfin und Wilhelm kommen sich näher, und vom Sog solch wohlfeiler Sinnlichkeit profitieren ebenfalls Jarno und die Baronin. Auch der Adel weiß demnach, wie man sich sorgenfrei unterhält. Mit der Realität aber haben solche Vergnügungen nichts zu tun. Es sind zerfallende Modelle des Zusammenlebens, die nicht auf Dauer angelegt sind. Schon die flatterhafte Philine hatte durch ihre stets wechselnden Verehrer bewiesen, dass man schließlich nicht wisse, »wie lange man beisammen bleibt« (94). Und Serlo setzt hinzu: »Eine jede gute Sozietät existiert nur unter gewissen Bedingungen« (341). Der Erzähler pflichtet bei: Überhaupt ist es leider der Fall, daß alles, was durch mehrere zusammentreffende Menschen und Umstände hervorgebracht werden soll, keine lange Zeit sich vollkommen erhalten kann. Von einer Theatergesellschaft so gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel Freunde so gut wie von einer Armee läßt sich gewöhnlich der Moment angeben, wenn sie auf der höchsten Stufe der Vollkom- <?page no="154"?> 154 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« menheit, ihrer Übereinstimmung, ihrer Zufriedenheit und Tätigkeit standen; oft aber verändert sich schnell das Personal, neue Glieder treten hinzu, die Personen passen nicht mehr recht zu den Umständen, die Umstände nicht mehr zu den Personen; es wird alles anders, und was vorher verbunden war, fällt nunmehr bald auseinander (343). Die Bedingung vollkommener Bindungen ist der eros . Mehr als die Gebote der Vernunft stiftet er Affinität in den alten Modellen menschlicher Gemeinschaft. Auf ihn gründen sich - wenigstens anfänglich - Familie und Theatertruppe. Aus Natürlichem ist die Gesellschaft gewachsen. Die sinnliche Philine, Inkarnation der Erotik, hatte denn auch die Schauspieler zusammengehalten: Sie hatte mit großer Geschicklichkeit Serlo zu unterhalten und die übrigen mehr oder weniger zu reizen gewußt. Sie ertrug Aureliens Heftigkeit mit großer Geduld, und ihr eigenstes Geschäft war, Wilhelmen zu schmeicheln. So war sie eine Art Bindungsmittel fürs Ganze [ … ] (343 f.). Doch so »idealisch« (345) die Verhältnisse auch angemutet haben mögen: Die Sicherheit war trügerisch. Das Risiko des eros besteht in seinem Wankelmut, durch den er alle Formen der Gemeinschaft ebenso gut auflösen kann. Schon ihre Gunst hatte Philine nach Lust und Laune verteilt. Dauerhaft und verlässlich sind solche Bande nicht, und Philines Frage »[W]enn ich dich lieb habe, was geht’s dich an? « (235) bestreitet gar vollends, dass aus dem Gefühl Verpflichtungen ableitbar seien. Als die Schauspielerin abreist, fällt die Gemeinschaft auseinander. Der »Verlust« der Liebe wird »fühlbar« (344): »Nun gab es auch bald innerliche Unruhen und manches Mißvergnügen« (345). Die Truppe wird »gemein« (ebd.), und Wilhelm wendet sich bald von ihr ab. Rivalitäten breiten sich aus, und aus ökonomischer Profitgier wendet man sich Anspruchslosem zu - der Oper. Wie leicht die Wechselfälle des eros aber auch zu Einsamkeit, Leid oder psychischen Deformationen Anlass geben können, zeigen im Roman - neben Wilhelms sinnlichen Aventüren - die zerrütteten Familien, unglücklich Liebenden und illegitimen oder sonstwie unwillkommenen Kinder. Jarno, Lydie, Therese, Sperata und der Oheim sind deren Hauptvertreter. Jarno ist der »natürliche [ … ] Sohn« (162) des Prinzen, ein Unfall der Liebe also. Von Glück kann er sagen, dass sich der Vater immerhin um seine Versorgung kümmert: Die »geheimste[n] Geschäfte« des Prinzen darf Jarno als »dessen rechte[r] Arm« (ebd.) führen. Lydie hingegen ist solche Fürsorge nicht beschieden. Das Bürgermädchen ist verarmt (vgl. 454) und wohl deshalb in Thereses Familie abgeschoben, damit es ein Auskommen habe. Dafür wird es zu Thereses Gesellschafterin »erzogen« (448). Die nüchterne Praktikerin hat es in ihrer Familie jedoch selbst nicht leicht. Sie ist das »untergeschobene [ … ] Kind« (560) des Vaters und seiner Geliebten. Schon Philine hatte das anzügliche »Liedchen vom Kuckuck« (101) angestimmt und damit auf die Täuschungen des eros angespielt. Thereses Stiefmutter, die Ehefrau des Vaters, kann keine Kinder bekommen. Die sinnliche Leere kompensiert sie mit Gefühlsexzessen: Mit Lydie und anderen spielt sie Theater, leistet sich Liebschaften und Verehrer - unter anderem Lothario - und reist unter dem »romantische[n] Namen« Frau von St. Alban (458). Doch ihr Ansehen ist in Gefahr. Bei den Nachbarn gerät sie wegen ihrer Unfruchtbarkeit ins Gerede, im Haushalt droht der Bedeutungsverlust (vgl. 560). Auch wünscht sich ihr Mann Nachkommen. Also treffen die Eheleute eine Vereinbarung. Der Vater darf mit der Erlaubnis seiner Frau ein Kind mit der Geliebten zeugen. Als »rechtmäßiges« (ebd.) führt man es im Haus ein. Doch der anfängliche beiderseitige Vorteil rentiert sich nicht. Die Eheleute entfremden sich. Der Stiefmutter ist das Kuckuckskind, das der Vater liebt, ein Dorn im Auge. Therese berichtet: <?page no="155"?> 155 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie [ … ] ihre [der Mutter, M. K.] Neigung konnte ich nicht erwerben, sie verachtete mich, und ich weiß noch recht gut, daß sie mehr als einmal mit Bitterkeit wiederholte: ›Wenn die Mutter so ungewiß sein könnte als der Vater, so würde man wohl schwerlich diese Magd für meine Tochter halten‹ (448). Die Mutter weitet ihre Eskapaden aus. Doch die extravagante Lebensweise kostet Geld. Zwischen den Eheleuten gibt es darüber manchen Disput. Schließlich einigt man sich: Der Vater kauft die »Gegenwart« seiner Frau »mit einer ansehnlichen Summe« (450) ab. Er finanziert also ihre Reisen und damit ihre Entfernung aus dem familiären Kreis, in dem es für alle unerträglich geworden ist. Doch wie soll sie sich nach seinem Tode finanzieren? Also weiß sie die Neigung des Vaters trotz allem wiederzugewinnen. Als Alleinerbin setzt er sie ein und legt »das Glück seines Kindes« (561) in ihre Hände. Aber die Stiefmutter denkt nicht an Fürsorge. Zu lange hat sie Therese schon ertragen. Nach dem Tod des Vaters vertreibt sie die Stieftochter vom Gut, und nur eine »Dame in der Nachbarschaft« (451), die Therese eine Stelle als Verwalterin anbietet und später etwas Geld vermacht, verhindert die völlige soziale Desolation. Therese selbst weiß nichts von ihrer Abstammung. Stark auf den nüchterntätigen Vater bezogen, verachtet sie der Mutter lässlichen Überschwang und hasst Verschwendung ebenso wie die erotische Unordnung, die sich durch die Affären im Haus ausbreitet: Ich wußte alle ihre [der Mutter und ihrer Liebhaber, M. K.] Zusammenkünfte, aber ich schwieg und sagte meinem Vater nichts, den ich zu betrüben fürchtete; endlich aber ward ich dazu genötigt. Manches konnten sie nicht unternehmen, ohne das Gesinde zu bestechen. Dieses fing an, mir zu trotzen, die Anordnungen meines Vaters zu vernachlässigen und meine Befehle nicht zu vollziehen; die Unordnungen, die daraus entstanden, waren mir unerträglich [ … ] (449). Die oikonomı ´a muss akkurat versehen sein. Therese entwickelt aus der Abneigung gegen die Mutter sowohl ihre charakteristische Verachtung der Sinnlichkeit und Schwärmerei als auch den Hang zur Kontrolle und Ordnung: Jeder solle nur genießen, »insofern er dazu berechtigt« (451) sei. Mit Vernunft und Tätigkeit will sie beim Vater den Verrat der Mutter kompensieren. Wohl sind unschwer die Positionen zu erkennen, die Therese im Gespräch mit Lothario und Wilhelm vorbringt (vgl. 453, 461, 530). Dass dies Bekenntnis zur Tätigkeit indessen nicht so sehr auf praktischer Vernunft, sondern eher auf einem verqueren Verhältnis zum eros beruht, hatte die junge Frau stets verschwiegen. Immerhin hatten aber die Eltern im richtigen Alter den Nachwuchswunsch verspürt. Sperata und der Oheim sind hingegen erotische Alterssünden. Bei Sperata fürchtet man den Spott der Nachbarschaft über den allzuspäten Nachwuchs. Die Familie beschließt, die späte gesetzmäßige Frucht der Liebe mit eben der Sorgfalt zu verheimlichen, als man sonst die frühern zufälligen Früchte der Neigung zu verbergen pflegt (582). Das Mädchen wird bei den Nachbarn untergebracht und den anderen Kindern der Familie verschwiegen. Doch der eros wird auch hier zum Verhängnis. Wieder kollidiert er mit sanktionierten Regeln des Zusammenlebens. Die unbewusste geschwisterliche Sympathie zwischen Augustin und Sperata hat die Annäherung der beiden begünstigt und zum inzestuösen Verhältnis wachsen lassen. Die bürgerliche Gesellschaft, die Freunde, vor allem aber die Kirche dulden die Tabuverletzung nicht. Schwester und Bruder bringt man auseinander, ihr Kind, Mignon, wird früh der Mutter weggenommen und von »guten Leuten« (587) erzogen. Nicht nur die Eltern leiden indes - bis zum Wahnsinn - unter der erzwungenen Trennung. <?page no="156"?> 156 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Und der Oheim? Seine Herkunft ist komplizierter als die anderer Figuren herzuleiten. Dennoch gibt es eine Parallele zu Sperata. Auch der Oheim ist eine verspätete Frucht der Liebe. Der »Stiefbruder« (383) des Vaters der Stiftsdame ist »um vieles jünger« (384) als sein Halbbruder und deutet also ein Altersabenteuer des Großvaters an. Von der Mutter des Oheims - der eigentlich also der Stiefonkel der schönen Seele und der Stiefgroßonkel der Turmgeneration ist - erfährt man nur, dass sie eine »sehr reiche« Frau war, von deren »nahen und fernen Verwandten« der Oheim »noch ein großes Vermögen zu hoffen« (ebd.) habe. Das ist freilich ein Glücksfall für die Familie. Nicht nur kauft der Oheim die Kunstsammlung, sondern das Geld wird auch zum Grundkapital des Turmunternehmens. Der Vater der Stiftsdame und ihrer zwei Schwestern besitzt hingegen nur ein »mäßige[s] Vermögen«. Heimlich hofft man daher, die drei Kinder würden einst die »Erben« (ebd.) des Oheims. Wirklich kümmert er sich um die Halbverwandten. Beruflicher Verdruss und privates Unglück - Frau und Sohn starben früh - lassen ihn sich auf sein Gut zurückziehen. Nun hat er viel Zeit, andere »glücklich zu machen« (385). Mit der schönen Seele fängt er an. Den »Platz einer Stiftsdame« (385) besorgt er seiner Tochter, deren religiöse Schwärmerei er als unheilbare Weltabgewandtheit erkennt. Die mittlere Schwester stirbt an einer »Brustkrankheit« (412). Bleibt die jüngste. Für den Oheim, der die eigene Kinderlosigkeit wenigstens mit fremdem Nachwuchs ausgleichen möchte, ist sie die letzte Hoffnung. Verheiraten will er sie also, ihr eine glänzende »Aussicht« (385) auf eine gute Partie verschaffen. Kein eros ist dabei im Spiel. Der Onkel nimmt die Turmpolitik vorweg und ist für Vernünftiges und Versorgung. Dass die junge Frau auf eine heimliche Liebe verzichtet (vgl. ebd.) und auch die Ehe später »nicht ganz glücklich« (412) ist, interessiert ihn nicht. Die »Freude« sieht ihm bei dem Gedanken »aus den Augen, [ … ], was er für sie und ihre Kinder« (410) tun wolle. Denn fruchtbar ist die Ehe: Lothario, Natalie, die schöne Gräfin und Friedrich gehen aus ihr hervor. Dafür sterben andere: Der Stiefbruder des Oheims und Vater der drei Geschwister (413), der Ehemann der jüngsten Schwester (416), schließlich diese selbst (ebd.). Von der Generation der Eltern bleibt nur eine Tante - die Stiftsdame, die man allerdings von den Kindern fernhält. Die Erziehung übernimmt der einzige Überlebende der Großvatergeneration: der Stief-Großonkel. Wohl nur aufgrund seiner relativen Jugend - er dürfte nicht viel älter sein als die Elterngeneration - wird er Oheim genannt. Nicht umsonst aber schildert der Text derlei verzwickte Deszendenz. Das Modell der neuen Familie wird vorbereitet. Denn die alte Kernfamilie löst sich auf, und die vier Waisenkinder des Turms können so wenig wie unwillkommene Kinder der Liebe auf häusliche Geborgenheit zählen. Familiäre Bande sind nahezu aufgekündigt, die Personen beziehungslos. Nun ist es an der Zeit, die isolierten Überreste der zerfallenen Familien neu - und anders - zusammenzufassen. Ein »junger Mensch«, weiß der Abbe´, habe »immer Ursache [ … ], sich anzuschließen« (567). Zu lange haben die Kapriolen des eros und die biologische Gemeinschaft über das Glück des Menschen entschieden. Dem modernen Zeitalter der Mach- und Planbarkeit erscheinen sie als unkalkulierbare Risikofaktoren. Um ihrer Herr zu werden, verbannt man alle Sinnlichkeit aus den neuen Formen des Zusammenlebens. Das Ende von Liebe und Leidenschaft zeigt der Roman typologisch beim Theaterbrand. Den Flammen fallen nicht nur das Theater und Augustins Harfe (vgl. 336), sondern vor allem Philines Pantoffeln, die Attribute fleischlicher Attraktion, zum Opfer (vgl. 334). Die Katastrophe markiert das Ende der alten Welt. Keine erotische Beziehung findet sich nach dem Brand mehr im Text. 452 Das Zeitalter der Ökonomie bricht an, in dem um den Preis des 452 Ähnlich auch aus gender-Perspektive Sabine Groß: »Sexuell offene, erotisch enziehende Frauen heiratet <?page no="157"?> 157 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie Triebverzichts Tätigkeit und Vernunft den neuen Zusammenschluss stiften sollen. Unerotisch sind deshalb alle vom Turm beförderten Verbindungen. ›Gesellschaftsverträge‹ verdrängen die allzu flüchtigen Momente der Lust. Die neue Familie macht die Zugehörigkeit von einer Willensentscheidung abhängig. Vor allem spielt nun keine Rolle mehr, ob ein Kind legitim ist oder nicht. Man wählt die Mitglieder nach Kriterien wirtschaftlicher Rentabilität aus: Im wörtlichen Sinne ist die neue Familie eine Adoptionsgemeinschaft, in die aufgenommen wird, wer sich eignet. Doch der Roman weiß, dass er seiner Zeit voraus ist. Utopische Züge im Wortsinn - ou topos bedeutet Nicht-Ort - trägt darum die Turmfamilie. Nachdem ihm Natalie auf der Waldlichtung erschien, fahndet Wilhelm vergebens nach ihr: Man suchte nach dem Orte, den die edle Familie während des Kriegs zu ihrem Sitz erwählt hatte, man suchte Nachrichten von ihr selbst auf; allein der Ort war in keiner Geographie, auf keiner Karte zu finden, und die genealogischen Handbücher sagten nichts von einer solchen Familie (238 f.). Es mag verständlich sein, dass die weltumspannende Sozietät, die mit biologischer Deszendenz bricht, nirgends verzeichnet ist. Dem Turm gehört aber die Moderne. Die Utopie nimmt also die Zukunft vorweg: Unaufhaltbar wird Altes durch den Progress des Ökonomischen verdrängt werden. Die Lehrjahre explizieren im Folgenden das neue Adoptionsverfahren an Wilhelm und Felix. Nicht leicht ist beider Verwandtschaft zu bestimmen, und der Text gibt sich alle Mühe, die biologische Abstammung des Jungen zu verschleiern. Drei Varianten der Deszendenz werden angeboten. Felix, so die erste, sei Wilhelms und Marianes Kind. Dafür sprechen Barbaras Bericht (vgl. 481) und Marianes Briefe (vgl. 483), ebenso die Meinung des Abbe´s: »Felix ist Ihr Sohn! « (497), bescheidet er den zweifelnden Meister. Demnach wäre der etwa drei Jahre alte Knabe, den Wilhelm bei Aurelie sieht (vgl. 251), sein Kind, das er kurz vor seinem Bruch mit Mariane - der ebenfalls etwas mehr als drei Jahre zurückliegt - gezeugt hätte. Der alte Polterer, der zu Wilhelms Theatertruppe stößt, berichtet übereinstimmend, die Schauspielerin habe drei Jahre zuvor aufgrund der Schwangerschaft ihre Anstellung verloren. Er habe sie daraufhin eine Zeitlang finanziell unterstützt, seine Zahlungen aber eingestellt, als er nicht einmal mehr »Danksagungsbriefe« (114) erhielt. Weiteres ist Barbaras Schilderungen zu entnehmen. Wohl bald nach der Geburt des Sohnes muss Barbara Aurelies Bekanntschaft gemacht haben. Nun »schwatzt« Barbara »Aurelien die Sorge für des Kindes Erziehung« (488) auf. Sie selbst findet bei Serlos Schwester ein Auskommen als Kinderfrau (vgl. 253), später setzt Wilhelm ihr eine kleine Pension aus (vgl. 488). Nun aber gibt es Probleme. Denn die zweite Variante stiftet Ungewissheit: Auch Norberg könnte das Kind mit Mariane gezeugt haben. Ebenso wie Wilhelm glaubt er - geschickt durch Barbara darin bestärkt - an seine Vaterschaft (vgl. 43 und 488). Zu überzeugend fällt die Datierung auch in die Zeit seines Verhältnisses mit der Schauspielerin. Im Unterschied zu Meister sendet er sogar anfangs Geld für den Unterhalt, das allerdings die ungetreue Alte »für sich behielt« (488). Inmitten der allgemeinen Verwirrung kommt zumindest sie auf ihre Kosten - und amüsiert sich vor Wilhelm darüber, wie leicht Männer Kuckuckskinder als die eigenen ansähen: man nicht, gebietet der Text - und weist den Weg aus der Gefahr. Die gesellschaftliche Kanalisierung der Erotik ist ihre Unterdrückung und Ersetzung durch das Modell der bürgerlichen Ehe, das eine entsprechende psychische Modellierung und Sublimierung voraussetzt« (»Diskursregelung und Weiblichkeit: Mignon und ihre Schwestern«. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern, hg. v. Gerhart Hoffmeister, Berlin 1993 , 83 - 99 , hier 96 ). <?page no="158"?> 158 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Denn das versichere ich Sie, wenn ich ein Mann wäre, mir sollte niemand ein Kind unterschieben; aber es ist ein Glück für die Weiber, daß die Männer in diesen Fällen nicht so scharfsichtig sind (ebd.). Damit nicht genug. Die dritte Variante gibt Felix als Kind Aurelies und Lotharios aus. Schon Philine vermutet Anzügliches. Aurelie habe ihren Ehemann »mit einem Edelmanne« betrogen, »der ein prächtiger Mensch sein muß«. Der habe ihr »ein Andenken hinterlassen« (248). Ganz Unrecht hat Philine nicht. Aurelie selbst gesteht Wilhelm später das Verhältnis mit Lothario (vgl. 263) sowie die Kinderlosigkeit ihrer im Übrigen unglücklichen Ehe. Doch Aurelie ist in Wahrheit sowenig Mutter wie Lothario Vater: Madame Melina berichtet, Barbara habe Aurelie »vorgespiegelt«, Felix sei ein Sohn Lotharios, und die Eigenheit haben wir Weiber, dass wir die Kinder unserer Liebhaber recht herzlich lieben, wenn wir schon die Mutter nicht kennen oder von Herzen hassen (485 f.). Die dritte Variante stimmt nicht. Aurelie hätte sich an eine Schwangerschaft wohl erinnert. Immerhin erklärt sich Aurelies Fürsorge für den fremden Jungen. Barbara weiß, wie man mit der von Lothario Verlassenen reden muss. Jarno berichtet, wirklich habe »[e]in altes Weib« (469), also Barbara, das Kind zu Aurelien gebracht. »[M]it Leidenschaft« habe die junge Frau es aufgenommen, weil sie hoffte, »ihre Leiden durch seine Gegenwart zu lindern« (ebd.). Die Alte hatte leichtes Spiel für ihre Geschichte: Mariane muss bereits vor der Aufnahme des Kleinen bei Aurelie gestorben sein - in bitterer Armut und begraben allein von Barbara (vgl. 481). Dennoch war der frühe Tod wohl ein Geschenk. Wäre Mariane später verschieden und hätte sie womöglich noch eine letzte Rolle in Serlos Truppe übernommen, wären ihre letzten Tage wohl unerfreulich gewesen: »Von Herzen«, meint Madame Melina, hassen verlassene Geliebte die Frauen, die der ehemalige Liebhaber zur Mutter macht. Und Lothario? Übereinstimmend hatte er Wilhelm, der ihn der mangelnden Fürsorge für Felix beschuldigte, schon vorher auseinandergesetzt: Sie irren sich, mein Freund, [ … ], Aurelie hatte keinen Sohn, am wenigsten von mir, ich weiß von keinem Kinde, sonst würde ich mich dessen mit Freuden annehmen; aber auch im gegenwärtigen Falle will ich gern das kleine Geschöpf als eine Verlassenschaft von ihr [Aurelie, M. K.] ansehen und für seine Erziehung sorgen. Hat sie sich denn irgend etwas merken lassen, daß der Knabe ihr, daß er mir zugehöre? (468) Die Frage beweist indes, dass auch er seiner Sache nicht ganz sicher ist. In seinen Beziehungen wusste er auch auf seine Kosten zu kommen, und keinesfalls hätte Felix »am wenigsten« von Lothario stammen können. Der Baron spielt auf Zeit. Als man Beweise nicht vorlegen kann, rückt er von seiner Zusage wieder ab, für den Knaben sorgen zu wollen. Was Felix betreffe, eröffnet er dem verdutzten Wilhelm, »den, dächt’ ich, nähmen Sie selbst zu sich« (469). Der Vorstoß soll nicht nur Teil des Erziehungsprogramms der Sozietät werden. Der verschuldete Lothario scheut wohl auch die Kosten des Unterhalts. Mag also Wilhelm Felix nehmen und ebenso Therese Mignon (vgl. ebd.). Doch Wilhelm hätte es gern etwas genauer. So leicht will er sich nicht zum Vater bekehren lassen. Die biologische Tradition familiärer Zugehörigkeit kann er so schnell nicht hinter sich lassen. Wie aber soll Meister über die Paternität entscheiden? War er, war doch Norberg der Vater? Zum Problem wird, dass die Quellen - Barbaras Bericht und Marianes Briefe - unzuverlässig sind. Nicht nur durch die Lügengeschichte ist Barbaras Glaubwürdigkeit kompromittiert. Schon früher <?page no="159"?> 159 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie hatte die skrupellose »Kupplerin« (478) nicht gezögert, Mariane ihren materiellen Interessen zu opfern (vgl. ebd.). Madame Melina sagt es Wilhelm: »Der Alten ist freilich wenig zu trauen; doch wer Unwahrheit zu seinem Nutzen ersinnt, kann auch einmal wahr reden, wenn ihm die Wahrheiten nützlich scheinen« (485). Und nützlich war Barbara erschienen, den jungen Meister seiner Vaterschaft zu versichern: Die Alte braucht Geld, weil Norberg die Unterhaltszahlungen inzwischen eingestellt hat (vgl. 488). Geschickt erzählt Barbara nun so, dass Wilhelm ihr eine Pension aussetzt. Doch eine sichere Auskunft ist derlei Bericht nicht. Kaum würde die Frau Wilhelm verärgern und ihre Zukunft riskieren wollen. Zudem sind auch Marianes Briefe nicht eindeutig. Wohl fordern sie die Sympathie des Lesers, weil Werner - Wilhelms »grausamer Schwager« (486), der von der Verbindung nichts hält - sie »zurückgewiesen« (482) und damit Meisters Kenntnisnahme verhindert hatte. Wohl versichert die junge Schauspielerin Wilhelm beredt ihrer Liebe (vgl. 482 f.), wohl ist - neben Barbaras Bericht - auch Norbergs entrüstetem Schreiben zu entnehmen, dass sie sich Wilhelms Rivalen verweigerte (vgl. 487). Doch vom Usus vor der Schwangerschaft berichtet Mariane nicht, und begreiflich ist, dass die leidenschaftlich Liebende nicht riskieren will, Meister durch ein Geständnis ihrer Untreue zu verlieren. Die Sache ist nicht aufzuklären. Marianes Kind hat keinen eindeutigen Vater. Der Text parodiert mit der Schauspielerin, die auf mysteriöse Weise schwanger ist und verarmt umherirrt, die biblischen Mythen des göttlichen Kindes und der unbefleckten Empfängnis. Denn anders als im Neuen Testament enthüllt sich das Rätsel der Zeugung als banale Verwirrung aus Untreue. Und so hatte schon der Name Mariane die Schauspielerin nur in die ironische Nachfolge der Gottesmutter gestellt. So wie Josef bleibt auch Wilhelm nichts übrig, als Vertrauen in die Tugendhaftigkeit seiner Frau zu setzen. Schwer genug fällt es ihm, dem der metaphysische Bürge fehlt. Nicht nur muss er sich wohl über die blonde Haarpracht (vgl. 251) des kleinen Felix wundern, die sich von seiner eigenen braunen Haarfarbe (vgl. 306) so unterscheidet. Auch scheinbare »Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Kinde«, die er vor dem Spiegel sucht, sprechen keine eindeutige Sprache: Ward es ihm dann einen Augenblick recht wahrscheinlich, so drückte er den Knaben an seine Brust, aber auf einmal, erschreckt durch den Gedanken, daß er sich betrügen könne, setzte er das Kind nieder und ließ es hinlaufen. ›O! ‹ rief er aus, ›wenn ich mir dieses unschätzbare Gut zueignen könnte, und es würde mir dann entrissen, so wäre ich der unglücklichste aller Menschen! ‹ (489 f.) Wilhelm fürchtet eine vorschnelle emotionale Bindung. Vergeblich sucht er Gewissheit in Barbaras Bericht: So wahrscheinlich das alles lautete, und so schön es zusammentraf, traute Wilhelm doch noch nicht, sich der Freude zu überlassen; er schien sich vor einem Geschenke zu fürchten, das ihm ein böser Genius darreichte (488). Und noch später wird er zögern, seinem Jugendfreund Werner die »doch immer zweideutige Geschichte« (501) von Felix zu erzählen. Dem Turm kann derlei Zaudern nicht recht sein. Noch versucht man, aus Wilhelm einen praktischen Menschen zu machen. Schon Lothario hatte die Vaterspflichten daher als willkommene Möglichkeit angesehen, Meisters weiteren Entwicklungsgang zu befördern: Was »sogar die Frauen an uns ungebildet zurücklassen, das bilden die Kinder aus, wenn wir uns mit ihnen abgeben« (469). Man beschleunigt nun Wilhelms Entschluss. Mit einem abgekarteten Initiationsritual, das sich an die Verleihung des Lehrbriefs anschließt, führt der Abbe´ Meister nachdrücklich in die Vaterrolle ein: <?page no="160"?> 160 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Felix ist Ihr Sohn! und der Gesinnung nach war seine abgeschiedne Mutter Ihrer nicht unwert. Empfangen Sie das liebliche Kind aus unserer Hand, kehren Sie sich um, und wagen Sie es, glücklich zu sein! (497) Auch die Sozietät kennt des Rätsels Lösung nicht. Auf Gewissheit kommt es aber nicht mehr an. Der Turm weist soziale Rollen zu, ohne sich um biologische Abstammung zu kümmern. Als effektvollen Klimax der Inszenierung lässt man Felix auftreten, den man zu diesem Zweck aus Thereses Obhut »entführt« (525) hat. Wilhelm zögert nun nicht länger. Immerhin fragt er noch, woher das Kind »gerade in diesem Augenblick« (ebd.) komme. Dann aber nimmt er den Sohn »in die Arme« und drückt »ihn an sein Herz. ›Ja, ich fühl‹s [ … ], ›du bist mein! ‹« (ebd.). Mit der Adoption - wörtlich Annahme - wählt er Sohn und Vaterrolle. Doch die Pointe des Rituals versteht er nicht. Denn mit des Abbe´s abschließenden Worten, »Heil dir, junger Mann! deine Lehrjahre sind vorüber; die Natur hat dich losgesprochen« (ebd.), ist gemeint: Nicht Biologie und eros sollten mehr die familiäre Zugehörigkeit bestimmen. »Die Vaterschaft beruht überhaupt nur auf der Überzeugung« (559), sagt später Friedrich in einem vergleichbaren Fall ungeklärter Paternität, bei dem nicht zu beweisen ist, ob er selbst oder ob Wilhelm mit Philine ein Kind zeugte. Das Zeitalter der Wahl und des Vertrags ist angebrochen. Zugleich bedeuten die Worte des Abbe´s also: Gefühlsüberschwang, Schwärmerei und Einbildungskraft sind in der neuen Epoche nicht am Platz. Vom Meister wird Nüchternheit erwartet. Wilhelm aber »fühlt« lieber. Hat man ihm nicht eben sein eigenes Kind zugeführt? Von Lossprechung und Adoption begreift nichts, wer in Kategorien biologischer Abkunft empfindet. Meisters Aufnahme in den Turm veranschaulicht damit wirklich jenes Missverständnis, auf das sein Name schon ironisch hinweist: Ein »Meister« - laut Jarno und Lehrbrief der höchste Turmrang (vgl. 497 und 549) - ist Wilhelm Meister nicht. Der Text bleibt seiner Absicht treu, den schönen Schein durchzustreichen. Dem Abbe´ geht es freilich um Pädagogisches. Wilhelm will er durch die neue Vaterrolle zur Umkehr bewegen. Aus Meisters »unbestimmte[m] Schlendern« (141) soll zu guter Letzt ein tätiges und im Sinne des Turms glückliches Leben werden, also eines, das sich auf Konkretes beschränkt. Felix, das »glückliche Kind« (251), soll das Mittel zum Zweck sein. Es trifft sich, dass das Kind schon bei Wilhelms Abschied von Aurelie mehr Verantwortung von Meister gefordert hatte: »Höre! bringe mir einen Vater mit« (356). Und beim Wiedersehen der beiden trägt er ihm mit den ersten Worten die Rolle an: »Vater! was hast du mir mitgebracht? « (485) Auch der Sohn hat also bereits gewählt. Von der neugewonnenen Funktion verspricht man sich nun, dass Wilhelm Verantwortung für das Kind übernimmt und durch dessen objektiven Wissensdrang zum Interesse an der bisher vernachlässigten äußeren Welt angehalten wird. Die durch Jarno verordnete Shakespeare-Lektüre hatte Wilhelms Absicht, »in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun« (192), nicht befördert. So denkt man an Adoption als Korrektiv der - antiquierten - Literatur. Wirklich bemerkt Meister durch die »Neugierde, die Wissbegierde des Kindes« schon bald, welch ein schwaches Interesse er an den Dingen außer sich genommen hatte, wie wenig er kannte und wußte. An diesem Tage, dem vergnügtesten seines Lebens, schien auch seine eigene Bildung erst anzufangen; er fühlte die Notwendigkeit, sich zu belehren, indem er zu lehren aufgefordert ward (498). Denn der Sohn glaubt »nicht anders, sein Vater müsse alles wissen« und »quält [ … ] ihn oft mit Fragen« (502). Dem Schwärmer, der sich bisher nur mit der »inneren Bildung« beschäftigt und darüber die »äußeren Verhältnisse ganz und gar vernachlässig[t]« (491) hatte, <?page no="161"?> 161 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie kommt das ungelegen. Er ist in der Tat »nicht viel bekannter mit den Gegenständen« (498) als sein kleiner Sohn, und »recht lebendig« fühlt er die eigene »Beschränkung«. Nun hat er »Anlaß, sich nach Gegenständen zu erkundigen, denen er sonst wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte« (503). Derlei objektive Bildung ist die Voraussetzung jeder Praxis. Im Sinne des Turms klärt sie über Konkretes auf, das mit Vernunft erfasst und genutzt werden kann. Indem der Vater dem Sohn Dinge benennt und Naturphänomene - Wind oder Flamme - erklärt (vgl. 502 f.), deutet er die Welt wie die Sozietät als eine prinzipiell beherrsch- und begreifbare. Die Wendung zur Außenwelt verdankt sich indes nicht allein der Wissbegierde des Sohnes. Wilhelm fühlt durchaus väterliche Verantwortung für sein Kind. Eine »Pflicht des Vaters« empfindet er, »den Seinigen den Genuß vorzubereiten, zu verschaffen und zu erhalten« (501 f.). Auch derlei Fürsorge verlangt praktisches Wissen - und Handeln. Längst schon operiert die Turmfamilie für allgemeinen Gewinn und gegenseitige Versorgung. Nun sieht Wilhelm die Notwendigkeit selbst ein: Umwillen des Sohnes ist er entschlossen, seinem schwärmerischem Egoismus zugunsten verantwortungsvoller Tätigkeit abzuschwören. Fragwürdig wird Meister nun seine bisherige Lebensführung, als er sich zur Rechenschaft über sich selbst auffordert. Anhand der »Rolle seiner Lehrjahre« (504), die er sich aus dem Turm kommen lässt, wird er »über sich selbst aufgeklärt«. Die Sozietät hat ihn in ihren Aufzeichnungen »eben nicht geschont« (505), und die Beurteilung befördert Meisters Erkenntnis, bislang nichts Zweckmäßiges zuwege gebracht zu haben. Eine confessio , die Wilhelm in einem »Selbstgespräch« (504) vor sich ablegt, gesteht die Unterlassungen zu: Sind wir Männer denn [ … ] so selbstisch geboren, daß wir unmöglich für ein Wesen außer uns Sorge tragen können? Bin ich mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? Ich zog das liebe Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei hab’ ich es aufs grausamste vernachlässigt. Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es so sehr strebte? Nichts! Ich überließ es sich selbst und allen Zufälligkeiten, denen es in einer ungebildeten Gesellschaft nur ausgesetzt sein konnte; und dann für diesen Knaben, der dir so merkwürdig war, ehe er dir so wert sein konnte, hat dich denn dein Herz geheißen, auch nur jemals das geringste für ihn zu tun? (503 f.) Mignon und Felix hat Meister vernachlässigt. Für ihre Bildung - also die Erziehung zu Ratio und Tätigkeit - hat er nichts getan. Dabei hätte er gerade für Mignon Segensreiches bewirken können. Allerdings hätte er dafür von Beginn an die Logik der Adoption verstehen müssen. Dann hätte er begriffen, dass die Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem Mädchen als das erste Beispiel des neuen Aufnahmeverfahrens fungierte. Aus Mitleid über Mignons Schmerz hatte Wilhelm die Vaterrolle übernommen und ausgerufen: »Mein Kind! [ … ] mein Kind! Du bist ja mein! Wenn dich das Wort trösten kann. Du bist mein! Ich werde dich behalten, dich nicht verlassen! « (143) Und wie später bei Felix hatte Meister die Adoption anschaulich bekräftigt, indem er »sein Kind immer fester in Armen« (144) hielt. Nun wäre es seine väterliche Aufgabe gewesen, das Mädchen und sich selbst zur Vernunft zu bilden. Doch nicht nur Mignon erweist sich als renitente Schülerin. Auch Wilhelm freut sich später mehr über den vermeintlich gezeugten Sohn und vernachlässigt das allzu eindeutige Adoptivkind. Die Ratio hätte aber dazu angehalten, die Sorgfaltspflicht für Felix und Mignon gleichermaßen wahrzunehmen. Auf derlei Bekenntnis folgt nun die contritio . Wilhelm »schämt [ … ] sich fast« (505) seines wenig zielgerichteten Lebensweges. Doch die Reue befördert den Entschluss: <?page no="162"?> 162 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Es ist nicht mehr Zeit, dass du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer vergeudest; nimm dich zusammen und denke, was du für dich und die guten Geschöpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich knüpfte (504). Die Wendung ›sich zusammennehmen und denken‹ lässt ermessen, dass der junge Mann nun die Tage überströmender Herzensergießungen verabschieden will. Auf die Linie des Turms schwenkt er ein, der Bildung als vernünftige Beschränkung forderte. Wirklich interessiert sich Wilhelm recht unvermittelt für »Baumschulen« und »Gebäude« seiner Güter und sinnt »darauf, das Vernachlässigte wiederherzustellen und das Verfallene zu erneuern« (502). Erhaltung des Eigentums und Weitergabe des Erworbenen an die Nachkommen sind starke Motive für Handeln und Handel. Auch der alte Meister hatte seinem Sohn Güter »hinterlassen« wollen, »auf deren Besitz er den größten Wert legte« (40). Nun beschließt Wilhelm gleichfalls: Alles, was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegenwachsen, und alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben. In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben (502). Zum zweiten Mal bescheinigt der Text dem jungen Mann das Ende der Lehrjahre. Nun ist er Vater und Bürger, und daraus folgt, dass ihm Kontinuität des Besitzes, tätige Verantwortung für andere und - schon vorher - Verzicht auf den eros zugemutet sind. Der Begriff ›Bürger‹ gemahnt überdies an die Rousseausche Pädagogik, die der contrat social des Turms ins Praktische modifizierte: Zum rational-ökonomischen citoyen hat man, so scheint es, Wilhelm gebildet, der Vernunft über die Natur setzt. Doch schon bald formuliert der Text Zweifel. Einsicht in Pflicht und Verantwortung ist gut. Ganz »[i]n diesem Sinne« hat Wilhelm das Geforderte begriffen. Besser noch als die Theorie ist aber die praktische Umsetzung. Doch Wilhelm selbst schürt Skepsis, ob den Worten auch Taten folgen werden. Er ruft aus: Wenn doch der Mensch sich nicht vermessen wollte, irgend etwas für die Zukunft zu versprechen! Das Geringste vermag er nicht zu halten, geschweige wenn sein Vorsatz von Bedeutung ist (490). »Von Bedeutung« sind Wilhelms Entschlüsse gewiss. Schließlich sollen sie das Ende seiner Lehrjahre markieren. Doch nichts wird aus seinem Plan, dem Sohn Besitz und Bildung zu garantieren. Weder bewohnt noch bewirtschaftet Meister sein Landgut, und keine der notwendigen Maßnahmen zur Instandhaltung lässt er durchführen. Wilhelm träumt sich bloß zum Praktiker. Dass er seine unbeständige Begeisterung nicht abgelegt hat, zeigt sich auch bei der Frage der Bildung. Der frischgebackene Vater bemerkt, daß wirklich der Knabe mehr ihn als er den Knaben erziehe. Er hatte an dem Kinde nichts auszusetzen, er war nicht imstande, ihm eine Richtung zu geben, die es nicht selbst nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte, waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre alten Rechte getreten (503). Derlei Lässlichkeit gegen Naturlaunen hat mit der Vernunftbildung des Turms nichts zu tun. Zuwenig weiß der Vater, der selbst »eine ganz falsche Richtung« (550) genommen hat, von einer Erziehung zur Ratio. Die Anleitung des Sohns überfordert den, der nicht citoyen wurde, sondern bourgeois blieb: Ihn macht der Doppelsinn von ›Bürger‹ als jemand kenntlich, der lieber ebenso behaglichen wie verlockenden Naturtrieben nachgibt. Auch Felix, seine »Unarten« zeigen es an, wird wohl ein Mensch der Natur bleiben. Doch zum größeren Problem <?page no="163"?> 163 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie in den Lehrjahren wird, dass Wilhelm die Logik der Adoption nicht begriff. Das »Gefühl des Vaters« (502) hat er erworben. Über das Problem, dass ein Gefühl nicht schon wirkliche Paternität bezeugt, sieht er hinweg. Sein biologisches Kind meint er in den Armen zu halten. Über die traditionelle Begründung von Vaterschaft führt er die Natur und den eros wieder als Grund von Gemeinschaft in die Sozietät ein - und begreift nicht, dass beides längst obsolet ist. Auch wofür man die diffizilen pädagogischen Forderungen des Turms befolgen solle, ist ihm im Grunde unklar: O, der unnötigen Strenge der Moral! [ … ] da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen. O, der seltsamen Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und mißleitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert! Wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege selbst zu beglücken! (502) Meister rechnet mit dem Turm und dessen Pädagogik des Irrens ab. Zur bürgerlichen Vernunfterziehung bekennt sich nicht, wer argwöhnt, durch ihre »Anforderungen« missgeleitet und verwirrt worden zu sein. »Moral« meint in diesem Sinne die Vorschriften des Handelns, die der Turm seinen Mitgliedern zumutet. Die Vernunft verdächtigt Wilhelm nach wie vor des Despotismus. Auch mit dem praktischen Drängen auf Spezialisierung kann er nichts anfangen. Auf das »Ende«, also den Zweck und Nutzen eines Tuns, will der weltfremde Träumer nicht permanent hingewiesen werden. Lieber will er der Natur vertrauen. Denn sie sorge durch eros und Vaterschaft dafür, dass der Mensch aus sich heraus das Genügende tue. Bildung soll keine Zwecke setzen, sondern allein das Mittel zum Wohlfühlen an die Hand geben. Wozu also Bürger werden, wenn man doch schon Mensch sei? Natürliche Humanität, meint Wilhelm, solle natürliche Fraternität stiften und die Gemeinschaft und Zwänge der Ökonomie substituieren. Als er für Felix Spielzeug »besser, ordentlicher, zweckmäßiger« einrichten will und der Sohn daraufhin die Lust verliert, ruft er aus: »Du bist ein wahrer Mensch! [ … ] komm mein Sohn! komm, mein Bruder, laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können! « (569) Das Motiv der unzertrennlichen Brüder war Wilhelm schon in seinem Traum (vgl. 425 f.) begegnet. Den Dioskuren-Mythos ruft es auf. Doch dahinter ist bedeutet: Es geht um die Fortsetzung des Gleichen. Der Sohn, der sich schon in der Jugend an Zwecke nicht gewöhnen kann, wird ebenso zum schwärmerischen Dilettanten wie der Vater. Wirklich zeigen die Wanderjahre später, dass ihm selbst die Pädagogische Provinz keine Vernunftbildung vermitteln kann: In Unehren und ohne Abschluss wird er vorzeitig entlassen. Zum tätigen Menschen der Moderne konnte er nicht erzogen werden. Dennoch lässt Wilhelm nun nicht mehr vom Sohn. Dass der Turm anderes mit ihm vorhat und ihn als Begleiter des Marchese ohne Felix nach Italien schicken möchte, interessiert ihn nicht. Eigensinnig beharrt er darauf, »daß ich meinen Felix mitnehmen und ihn überall mit hinführen darf« (567). Nur »schwerlich«, meint aber der Abbe´, könne diese Bedingung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten »zugestanden werden« (ebd.). Nur das Entgegenkommen des Marchese, der Wilhelm dankbar ist, sich um Mignon gekümmert zu haben, und erlaubt, dass der Sohn mitreise (vgl. 594), verhindert das völlige Zerwürfnis. Wilhelm begreift nicht, dass die neue Turmfamilie nicht mehr auf häusliche Enge und permanentes Zusammenleben gegründet ist, sondern sich weltweit ausbreitet und die Mitglieder großen Entfernungen aussetzt. Noch die Wanderjahre zeigen mit der Gesellenvorschrift, niemals länger als drei Tage an einem Ort zu bleiben, die moderne Forderung nach mobiler Flexibilität. Und auch die Arbeitermassen des späten Romans haben begriffen, dass <?page no="164"?> 164 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« man der Arbeit nachreisen muss. Den privaten Preis der neuen Zeit - Trennung - will Meister aber nicht zahlen. Mit seiner Weigerung, sich auf die Forderungen der Vernunft einzulassen, spitzt Wilhelm die Position des Oheims zu. Der hatte zugegeben, dass sich Triebe immer wieder über die Maßregeln der Ratio hinwegsetzen. Meister revoltiert vollends und a` la Herder gegen das Korsett des Geistes: Nur die »liebliche Weise« (502), mit der Natur und »Triebe« (70) die Anlagen des Menschen bildeten, garantiere freie Entwicklung. Der Turm hat sich im jungen Mann getäuscht. Denn Jarno hatte erklärt: Wir sprachen nach unserer Art nur diejenigen los, die lebhaft fühlten und deutlich bekannten, wozu sie geboren seien, und die sich genug geübt hatten, um mit einer gewissen Fröhlichkeit und Leichtigkeit ihren Weg zu verfolgen (549 f.). Lebhaft, kein Zweifel, fühlt Wilhelm, und der Turm hatte dieses Zeichen einer Naturanlage zur Selbsttätigkeit an ihm geschätzt. Doch Meister ließ sich auf den Weg der Tätigkeit und Vernunft nicht bringen. Und fröhlich und beschwingt ist der junge Mann, der sich von der neuen Familie übervorteilt wähnt, auch nicht. Renitent bekennt er Jarno: »[ … ] was ich kann, will oder soll, weiß ich gerade seit jenem Augenblick [der Lossprechung, M. K.] am allerwenigsten« (550). Die Revolte aus dem Mund des Schwärmers formuliert ein Misstrauen gegen die Leitung der Vernunft. Auch der Roman gibt zu bedenken, dass der Versuch der Sozietät, den Menschen mittels tätiger Vernunft mit sich »in Einheit zu bringen« (405), einen hohen Preis fordert. Schon vorher hatten die Lehrjahre konzediert, daß die Summe unserer Existenz, durch Verstand dividiert, niemals rein aufgehe, sondern daß immer ein wunderlicher Bruch übrigbleibe (270). Der Mensch ist nicht Geist allein. Meisters Einrede bringt wie das Geständnis des Oheims Natürliches zur Geltung, das sich in vernünftiger Tätigkeit nicht erschöpft. Statt Harmonie stellt sich ein Entweder-Oder von »Herz« und »Klugheit« (569) ein, und der empfindsame Wilhelm leidet an der Geringschätzung und Unterdrückung des Sinnlichen. Doch nun kommt in Betracht: Mit seiner Klage hat Meister unrecht. Der Text hatte schon früh auf die »harte Schule« der Bildung aufmerksam gemacht, in der man lernen müsse, puerile Illusionen zu verabschieden: [ … ] die meisten [Menschen, M. K.] [werden] von ihren frühern Empfindungen nur durch eine harte Schule geführt werden, in welcher sie, nach einem kümmerlichen Genuß, gezwungen sind, ihren besten Wünschen entsagen und das, was ihnen als höchste Glückseligkeit vorschwebte, für immer entbehren zu lernen (14). Die Poesie des Herzens muss der Prosa der Verhältnisse weichen. Realistisch muss der Mensch gebildet werden, um sich in der Welt zu behaupten. Die Moderne fordert also vom Einzelnen, unreifen Träumen abzuschwören - und mehr noch als die Lehrjahre erzählen die Wanderjahre später die sozialökonomischen Folgen solchen Verzichts. Auch Wilhelm soll mit Theater und Mariane dem unwägbaren eros ebenso abschwören wie der unproduktiven Einbildungskraft. Also macht er die Erfahrung, dass die Gebote der Ökonomie »grausam« (536, 537, 553) sind. Nach dem Nutzen wird der Mensch beurteilt. Anstatt all seine Anlagen auszubilden, muss er sich spezialisieren und seine Kunst als Fachmann ausüben. Familiäre Bindungen und Individualität werden der Tätigkeit geopfert, und persönliches Glück ist vor allem die materielle Absicherung. Human ist die neue Gesellschaft nicht. Der Geist kennt kein »[S]chonen« (550), denn mit »grausame[r] Bestimmtheit« (553) geht er zu Werk, und <?page no="165"?> 165 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie seine »Strenge der Moral« (502) schreibt den Katalog praktischer Tugenden vor. Wilhelm findet das freilich ganz »unnötig [ … ]« (ebd.). Doch Natalie gibt zu bedenken: Jeder gebildete Mensch weiß, wie sehr er an sich und andern mit einer gewissen Roheit zu kämpfen hat, wie viel ihn seine Bildung kostet, und wie sehr er doch in gewissen Fällen nur an sich selbst denkt und vergißt, was er andern schuldig ist. Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe; und doch, wenn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will, sich überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein (518). Bildung ist Bildung zur Vernunft. Wohl mag sie einen hohen Preis fordern. Sie zwingt die natürliche »Roheit« des Menschen unter ihr Gesetz und ruft sie zur Pflicht: Nicht Egoismus, sondern Tätigkeit zum allgemeinen Wohle sind verlangt. Die zwanghaft eifrige Natalie weiß selbst, wovon sie spricht. Doch im Hintergrund steht die Idee zivilisatorischer Verfeinerung. Schon Rousseau hielt dafür, dass der zur perfectibilite´ fähige Mensch erst dann zum citoyen werde, wenn Naturwillkür durch die Gesetzgebung der Vernunft abgelöst wäre. Freilich der Turm begreift die Vollendung nicht als dauerhaften Zustand. Immer, meint man, bleibe der Mensch auch Natur, und beständig sei auf Bildung zu achten. Der Marchese hat recht: »Die Forderungen [sind] unendlich, die er [der wahre Künstler, M. K.] an sich selbst zu machen hat, unsäglich der Fleiß, der zu seiner Ausbildung nötig ist« (572). Aber die Mühe muss man sich schon machen. Natalie warnt vor falscher Rücksicht der Lehrer. ›Überbildete‹ Naturen wie Wilhelm, die weder Entsagung noch Pflichterfüllung gelernt haben, mögen zwar ›schön‹ sein. Sie besitzen aber keinen Platz in der Welt, und hart mag erscheinen, dass die ökonomische Moderne über zarte Träumer hinweg geht. Objektive »Wahrheit«, meinte Goethe, wolle aber eben »ernst erforscht und rücksichtslos angeschaut und angewendet sein.« 453 Zu ihr gehört zuletzt auch, dass der Turm nur in den Augen von Gefühlsmenschen wie Wilhelm eine Anstalt reiner Inhumanität ist. Denn durchaus verfolgen die Innovationen der Sozietät den Zweck, Übelstände des alten Gesellschaftsmodells fruchtbringend zu überwinden. An materielle Versorgung ist gedacht. Der Analyse des Turms zufolge hatte die Zerrüttung der biologischen Familie zumeist finanzielle Notlagen zur Folge. Harten Zwängen war ausgesetzt, wer die Absicherung der Gemeinschaft verloren hatte. Dass verarmte Töchter wie Lydie zu reicheren Pflegefamilien gegeben werden, erscheint noch am wenigsten peinvoll. Doch es gibt andere Fälle. Wilhelms Schwester muss den pedantischen Werner nehmen, und dass Therese ein Auskommen hat, verdankt sie nur ihrer Wohltäterin und damit dem Zufall. Die Melinas werden von ihren Familien verstoßen, weil sie sich für ihre Heirat nicht an herkömmliche Begriffe von Standesgemäßheit halten. Ein kümmerliches Leben auf dem Theater müssen sie also fristen. Mignon trifft es schließlich am härtesten. Das Mädchen wird entführt und mittels physischer Gewalt auf ihre Verwendung in der Gauklertruppe abgerichtet. Der Turm macht solcher Willkür ein Ende, wie er schon die alte Gemeinschaft zur ökonomischen Familie uminterpretiert hatte. Er deutet den modernen Wohlfahrtsstaat an. Die Sozietät übernimmt für alle Personen in ihrem Umkreis soziale Verantwortung. 454 Niemand findet sich am Ende ohne Versorgung wieder. Dafür sieht man gern, 453 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 178 . 454 Franziska Schößler (Goethes Lehr- und Wanderjahre, Anm. 70 , 150 ) bringt das in Zusammenhang mit der Einführung des Versicherungsgedankens in der zweiten Hälfte des 18 . Jahrhunderts, die als Form »anonym-institutionalisierte[r] Fürsorge« die praktizierte christliche Nächstenliebe säkularisieren. <?page no="166"?> 166 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« dass das ökonomische Programm des Turms Beachtung findet und umgesetzt wird. Lydie schließt also mit Jarno einen Vertrag zur beiderseitigen Zufriedenheit, obwohl Lydie dem Abbe´ anfangs misstraute - er sei »fähig, wegen einer Grille die Menschen in Not zu lassen« (462) - und Jarno die junge Frau, die »hier gar nichts [nutzt]«, am liebsten »weggeschafft« (435) hätte. Die flatterhafte Philine wird bei Friedrich zur praktischen Ehefrau, und Therese mit dem tätigen Lothario zum Muster des neuen Bundes. Doch es gibt auch Personen, die sich trotz der Fürsorge des Turms nicht zum vernünftigen Menschen machen lassen wollen. So begreift Wilhelm nicht, dass er mit ein wenig mehr Verstand an manchen Geschäften der Sozietät teilhaben könnte. Aurelie begeht aus Herzeleid und Stolz Selbstmord, andere finden religiöse Auswege aus den Zwängen der Praxis. Vor allem aber Mignon und der Harfner scheitern am neuen Bildungskonzept. Ausführlich schildert der Text die Maßnahmen des Turms. In ihnen zeigt sich eine moderne, pragmatisch-rationale Heilkunde: Auch die Gesundheit erscheint zuletzt mit den geeigneten Verfahren als machbar. Natalie kümmert sich um die wahnhafte Mignon und sucht sie zur Vernunft und Weltkenntnis zu erziehen (vgl. 514). Auch bei Augustin hat man zunächst »Hoffnung, den Unglücklichen zurechte zu bringen« (436). Schnell hat man bei ihm Wahnsinn diagnostiziert. Goethe meinte, er bestehe darin, dass »man von der wahren Beschaffenheit der Gegenstände und Verhältnisse, mit denen man es zu tun habe, weder Kenntnis habe, noch nehmen wolle.« 455 So habe sich beim Harfner, findet der Medikus, eine »Idee« festgesetzt, die »keinen Einfluß ins tätige Leben habe oder ihn [den Harfner, M. K.] wohl gar vom tätigen Leben abziehe« (348). Gemeint sind sein paranoider Schuldkomplex sowie die Überzeugung, ein Kind werde ihn töten. Medikus und Landgeistlicher diskutieren nun die »Methode, Wahnsinnige zu kurieren« (346). In der arbeitenden Gesellschaft kann das nicht geschehen. Die ökonomische Familie soll im Funktionieren nicht behindert werden. Augustin gibt man aufs Land in die »Kost« (ebd.) des Geistlichen, also ins Sanatorium. Dort empfiehlt man Folgendes zur Behandlung des Patienten: Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind, so wird sich kein Wahnsinn einschleichen, und, wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden (346 f.). Hypochonder halten ihr Leiden für außergewöhnlich. Derlei pathologischen Egoismus will man brechen. Nicht soll sich der Kranke »vor andern auszeichnen«, sondern »im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen [ … ] leben« (347). In Rede steht der - auch Wilhelm zugemutete - Verzicht auf Individuelles zugunsten einer Tätigkeit, wie sie die Masse verrichtet. Auf dass Augustin also arbeite, lässt man ihn Harfenunterricht geben und Gartenarbeit verrichten. Die Lieder, in der er seinen individuellen Schmerz artikulierte, gewöhnt man ihm durch die Lektüre der Massenware »Zeitung« (438) ab: Die Moderne substituiert Kunst durch praktische, weltzugewandte Nachrichten. Bleibt Augustins exzentrisches Aussehen. Als ehemaliger Mönch trägt er noch »Bart« und »Kutte« (347). Doch als Wilhelm ihn im Schloss des Oheims wiedersieht, erkennt er ihn kaum: Er war in der gewöhnlichen Tracht eines Reisenden, reinlich und anständig gekleidet, sein Bart war verschwunden, seinen Locken sah man einige Kunst an, und was ihn eigentlich ganz unkenntlich machte, war, daß an seinem bedeutenden Gesichte die Züge des Alters nicht mehr erschienen (595). 455 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 147 . <?page no="167"?> 167 2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie Das Gewöhnliche ersetzt alle Exaltiertheit. Die Parallele zu Wilhelm liegt auf der Hand. Auch er hatte sich unter dem Einfluss des Turms neu gekleidet - zur Freude Werners, der begrüßt, dass der Jugendfreund sein Sturm-und-Drang-Habit abgelegt habe. Darin sei er - »mit offnem Halse, halbfreier Brust, großer Krause, herumhängenden Haar, rundem Hut, kurzem Westchen und schlotternden langen Hosen« (501) - ohnehin »nur noch zwei Finger breit vom Hanswurst« (ebd.) entfernt gewesen. Bürgerliche Kleidung vereinheitlicht. Sie ist die Uniform des vernünftigen Zeitalters. Die Pädagogische Provinz der Wanderjahre wird die Kleidervorschriften schildern, mit denen schon die Jugend auf ihren Platz in der Masse vorbereitet wird. Doch auch Augustin ist dem Turm nun wieder willkommen. Schließlich »betrug [er] sich sehr vernünftig« (596) und ist dem Arzt dankbar, »wieder in einer menschlichen Gesellschaft erscheinen« (ebd.) zu können. Das neue Sozialwesen ist die Gemeinschaft der Einsichtigen. Doch beim Harfner richten die Bemühungen des Turms zuletzt nicht viel aus. Zwar hat er das Prinzip der vernünftigen Lebensbeherrschung von seinen Lehrern übernommen. Freilich nicht in deren Sinne wendet er es an. Denn weiterhin glaubt er an ein unentrinnbares Schicksal, das im Leben »Leiden« und »Schmerzen« (597) über ihn verhängt habe. Kontrollieren und ertragen lässt sich das Fatum nur im Bewusstsein der Möglichkeit, sich ihm jederzeit entziehen zu können: Augustin erkauft sich die praktische Lebenslenkung durch die Freiheit zum Selbstmord. Ein Fläschchen Opium führt er zu diesem Zweck immer bei sich, als »Gegengift« zum »Gift« (ebd.) des Lebens. Im geordneten Umfeld des Sanatoriums mag das gutgehen. Doch in der Welt, hatte bereits der Abbe´ dem jungen Wilhelm erklärt, herrsche kein Schicksal, sondern »Notwendigkeit« und »Zufall« (71). Die Aufgabe der Vernunft sei es, beide zu beherrschen und das »Zufällige [ … ] zu lenken, zu leiten und zu nutzen« (ebd.). Und: »Gedenke zu leben« (540) hatte schon der Oheim als Devise des praktischen Menschen ausgegeben. Doch die vernünftige Lebensführung verlangt von Augustin schließlich zuviel. Das Romanende, bei dem Unvorhergesehenes dominiert, zeigt, dass der Harfner von drei Zufällen in den Selbstmord getrieben wird. Der erste ist, dass der Graf einen »Dislokationsplan« (599) für das eng besetzte Schloss anfertigt, der den Harfner ausgerechnet zum Zimmergenossen des Abbe´s bestimmt. Der zweite, dass der Harfner in diesem Zimmer das »Manuskript« (603) mit der Sperata-Geschichte findet. Dabei hatte man beschlossen, »gegen Augustin das tiefste Stillschweigen zu beobachten« (597), weil man eine überspannte Reaktion ahnte. Wirklich ist der Harfner nun »überzeugt, daß er nicht länger leben dürfe« (603). Schuld und Verzweiflung lassen ihn das Opium vorbereiten. Doch als - drittens - der unartige Felix offenbar in einem unbeobachteten Moment von der vergifteten Mandelmilch getrunken hat und man für sein Leben fürchtet (vgl. 601), steht für Augustin fest: »[I]ch wußte wohl, daß ich den Knaben töten würde, und er mich! « (603) Die Zufälle überfordern ihn. Sein Vertrauen in die Leitung der Vernunft ist erschüttert. Das »unerbittliche Schicksal« (208) wähnt er aufs Neue am Werk, und »ohne Hoffnung« fällt er in seinen »alten Zustand« (597) des Wahns zurück. Mit einem Schermesser schneidet er sich die Kehle durch. Dabei wäre einzusehen gewesen: Mag auch nicht immer alles nach dem Willen der Vernunft geschehen, so lässt sich mit ihr doch selbst noch das Unvorhergesehene mildern. Auch Augustin kann der Arzt die Luftröhre wieder »zusammenfügen« (602) und ihm das Leben retten. Zudem bemüht man sich aufzuklären, ob Felix, der keine Anzeichen einer Vergiftung zeigt, überhaupt von der Milch kostete. Der Arzt kombiniert bereits richtig: Das Kind habe nicht aus dem vergifteten Glas, sondern aus der Flasche getrunken (vgl. 603). Doch Augustin kann das Geschehene nicht mehr »[r]uhig und vernünftig [ … ] betrachten« (554). Aller Besonnenheit entzieht sich der Kranke, indem er <?page no="168"?> 168 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« nachts seinen Verband löst und verblutet. Damit bestätigt er, was schon der Oheim über den ähnlich pathologischen Fall der Mignon gesagt hatte: Nicht allein die ersten Blüten fallen ab [ … ], sondern auch Früchte, die, am Zweige hängend, uns noch lange die schönste Hoffnung geben, indes ein heimlicher Wurm ihre frühere Reife und ihre Zerstörung vorbereitet (542). Und Felix? Dass er nicht aus dem Glas, sondern aus der Flasche trank, sieht die Kritik zumeist als letzte Einrede der Natur gegen den Geist. Denn hätte sich die Unart nicht durchgesetzt, wäre der Knabe gestorben. In Frage stehe damit sämtliche Vernunftbildung des Turms. Wirklich ist ein Problem der Erziehung aufgerufen. Aurelie hatte sich um die Bildung des Knaben gekümmert. Doch eine gute Pädagogin war die junge Frau nicht. Schnell wird sie »ungeduldig« (253) mit dem Kind und versäumt so eine konsequente und fortdauernde Schulung. Da sie jedoch in ihren Forderungen nicht nachlässt, überträgt sich ihre Unruhe auf das Kind: Das lebhafte Kind war unter einem solchen Druck höchst ungeduldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und zurechtwies. Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigenarten, die man auch Unarten zu nennen pflegt, und die sie ihm keineswegs nachzusehen gedachte. Er trank zum Beispiel lieber aus der Flasche als aus dem Glase [ … ] (282). Doch Sanktionen scheren den Jungen nicht. Selbst lange »Lektion[en]« hört er sich an, »ohne daß er darauf je einige Besserung hätte spüren lassen.« Dafür hängt er »leidenschaftlich« (ebd.) an Barbara, die ihm alles durchgehen lässt. Kaum verwunderlich also, dass auch Wilhelm später mit dem unerzogenen Knaben seine Probleme hat. Aber Felix weiß dennoch, dass man eigentlich anderes von ihm erwartet. Dass er sich verbotenerweise aus der Flasche bediente, streitet er zunächst aus schlechtem Gewissen ab. Dann aber vertraut er sich Natalie an: Du bist doch gut, [ … ], du zankst nicht, du schlägst mich nicht, ich will dir’s nur sagen, ich habe aus der Flasche getrunken! Mutter Aurelie schlug mich immer auf die Finger, wenn ich nach der Karaffine griff, der Vater sah so bös aus, ich dachte, er würde mich schlagen (604). Beim Knaben ist die Vernunft nicht zur Maßgabe der Praxis geworden. Ohne Zweifel hat die Erziehung ihren Zweck verfehlt. Aber niemand - außer Wilhelm - bestreitet, dass man Kindern Grenzen setzen muss. Argument ist also: Nicht die Natur weiß alles besser, sondern Kinder mögen zuweilen die Anweisungen ihrer Lehrer oder Eltern missachten, ohne dass daraus weiterer Schaden entsteht. Das Ganze ist ein Zufall, der, anders als beim Harfner, keine tödlichen Folgen hat. Der Text spielt auf die Bedeutung des Namens ›Felix‹ an: Das »glückliche Kind« (251) hat Glück gehabt. Doch auch bei diesem Geschehen hatte die Vernunft schon ihre Maßnahmen getroffen. Der Arzt hat Essig kommen lassen und zur vorsorglichen Behandlung auch sonst alles »Rätliche« (602) unternommen. Die Wanderjahre fassen später bündig zusammen: »Es geschieht nichts Unvernünftiges, das nicht Verstand oder Zufall wieder in die Richte brächten; nichts Unvernünftiges, das Unverstand und Zufall nicht mißleiten könnten« (HA 8, 298). <?page no="169"?> 169 2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte 2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte Der Roman nähert sich dem Ende. Vieles ist über das Finale und über Friedrichs Schlussworte geschrieben worden, die einen Bibelvergleich bemühen. Die Kritik hielt sich zumeist an Goethes eigene Hinweise. Bekanntlich hatte der Dichter Anfang der 1820er Jahre rückblickend über die Entstehung des Romans bis zum Jahr 1786 gemeint: Die Anfänge Wilhelm Meisters hatten lange geruht. Sie entsprangen aus einem dunklen Vorgefühl der großen Wahrheit: daß der Mensch oft etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt ist, unternehmen und ausüben möchte, wozu ihm Fertigkeit nicht werden kann; ein inneres Gefühl warnt ihn abzustehen, er kann aber mit sich nicht ins klare kommen und wird auf falschem Wege zu falschem Zwecke getrieben, ohne daß er weiß, wie es zugeht. Hiezu kann alles gerechnet werden, was man falsche Tendenz, Dilettantismus usw. genannt hat. Geht ihm hierüber von Zeit zu Zeit ein halbes Licht auf, so entsteht ein Gefühl, das an Verzweiflung grenzt, und doch läßt er sich wieder gelegentlich von der Welle, nur halb widerstrebend, fortreißen. Gar viele vergeuden hiedurch den schönsten Teil ihres Lebens und verfallen zuletzt in wundersamen Trübsinn. Und doch ist möglich, daß alle die falschen Schritte zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, ausspricht und bestätigt, ja sich zuletzt mit klaren Worten ausspricht: »Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.« 456 Die Lehrjahre also als Bildungsroman, Meister als Beispiel einer gelingenden Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft, als Exempel einer Abkehr von allem Dilettantismus? Neben der Forschung lasen auch realistische Dichter des 19. Jahrhunderts den Text in diesem Sinne, und es scheint gar, als habe man ihn überhaupt zum Muster der Gattung erklärt. Noch etwa Kellers Malerroman Grüner Heinrich - der durch des Abbe´s Vergleich des Dilettanten mit einem Maler (vgl. 122) angeregt scheint - berichtet von der Notwendigkeit, sich einer dem Gemeinwohl nützlichen Tätigkeit zuzuwenden. Doch in den Lehrjahren liegt die Sache so eindeutig nicht. Wohl ist mit der Erziehung zur realistisch-empirischen Vernunft das »unschätzbare [ … ] Gute [ … ]« bezeichnet, zu dem der Roman hinführe. Doch mehr als eine »Ahnung« vermittelt der Roman vom Gelingen des ›Projekts Moderne‹ nicht. Der Turm skizziert vorerst nur den Weg, den eine sozio-ökonomische Transformationsgesellschaft zu nehmen hätte. Wohl mag solche Bildung, daran lassen die Lehrjahre keinen Zweifel, vom Einzelnen einen hohen Preis fordern. Doch angesichts der vormodernen Unvernunft, wie sie etwa die Jugendgeschichten Thereses, Wilhelms und Mignons erwägen, erscheint dem Turm der Preis allemal angemessen: Im Hintergrund stehen die Ideen von wirtschaftlicher und individueller Freiheit, Leistung und sozialer Verantwortung, wie sie im Kern den modernen ökonomischen Wohlfahrtsstaat kennzeichnen. Nun mögen die neuen Vorgaben zwar überzeugend sein und grundlegende Prinzipien der Arbeitsgesellschaft des 19. Jahrhunderts vorwegnehmen, sie ändern nichts daran, dass die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen der alten Welt im Wesentlichen noch unverändert intakt sind. Feudalaristokratisch ist die Gesellschaft nach wie vor strukturiert, und ein selbstbewusstes und politisch weitblickendes Handelsbürgertum scheint fast völlig zu fehlen. Nicht zuletzt deshalb ist der verarmte Landadel der Turmfamilie Träger der Reformen, und so wie seinen Projekten eignet auch ihm ein utopischer Zug. Auch hinsichtlich der Erziehung des Individuums bleibt der Roman notgedrungen bei Andeutungen. Natalies Mädchenpensionat mag gedeihen, die 456 Goethe: Tag- und Jahreshefte. In: HA 10 , 429 - 528 , hier 432 . <?page no="170"?> 170 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Rekrutierungen des Abbe´ mögen sich für den Turm auszahlen, und durchaus sind Geeignete zu finden. Doch noch zeigen sich die gesellschaftlichen Auswirkungen nicht, und dass überdies auch die ausgereifteste Pädagogik ihre Ziele verfehlen kann, erweisen die Lehrjahre am Beispiel des Protagonisten. Wilhelm, der Meister schon heißt, aber nie einer wird, gerät im Leben nichts. Nur seine Umgangsformen und seine äußere Erscheinung haben sich angenehm entwickelt (vgl. 499 und 501). Durchaus sieht aber wie das blühende Leben aus, wer von Arbeitsmühsal nichts weiß und sich überhaupt von allen Zwängen eines Berufslebens fernhält. So will scheinen, dass Wilhelm Meister in der deutschen Literaturgeschichte nicht als Exempel segensreicher Bildung, sondern als liebenswürdiger Versager hätte Karriere machen sollen, eben als jener »Schwachmatikus« 457 , den Friedrich Schlegel zu seinem Bedauern in ihm erblickte. Im Unterschied zu seinen Verwandten, tumben Toren wie Parzival, Simplicissimus und Hans im Glück, die am Ende allesamt ihrer Bestimmung gerecht werden oder ihr Glück machen, hätte er der Unbelehrbare sein sollen. Es kam anders. So besaßen zunächst andere den schärferen Blick dafür, dass die Lehrjahre kein Bildungsroman sind, sondern von einem verfehlten Entwicklungsgang berichten und dazu den Typus des ewig untauglichen und irreflexiven jungen Mannes einführen. Goethe-Bewunderer Flaubert konzipierte nach dem Muster des Wilhelm Meister seinen Fre´de´ric Moreau aus der Education Sentimentale , und dem Vorbild des Franzosen folgte Kafka mit Protagonisten, die von den an sie gestellten Forderungen nichts wissen oder wissen wollen und zuletzt in einem Panoptikum des Scheiterns zugrundegehen. Der Problematik der Auslegung war sich Goethe von Anfang an bewusst. Er habe bis 1796 »Ernst gemacht«, die »frühe Konzeption auszubilden«, und nun fehle ihm »beinahe selbst der Maßstab« 458 zur Beurteilung. Und Eckermann vertraute er 1825 unter Rückgriff auf prägnante Formulierungen an: Es gehört dieses Werk übrigens zu den inkalkulabelsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet, indem er sagt: Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen und ein Königreich fand. Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als dass der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange. 459 Selber wollte der Dichter sein Werk nicht ausdeuten, dessen bewusste »Unvollkommenheit« ihm am meisten »Mühe gemacht« 460 hatte. Also beließ er es bei dem Hinweis auf Friedrichs letzte Worte, mit denen die Lesart vom glückhaften Gelingen aller Bildung bedeutet sei. Wollte aber Goethe nicht auf jede »ausgesprochene Tendenz« verzichten? Was Eckermann genügte, wird man daher so einsinnig wie er nicht lesen dürfen. Die Stelle problematisiert den schönen Schein und gibt zu bedenken: Wenn der Text auszusagen »scheint«, dass Wilhelm trotz aller Flausen schließlich doch zum Bürger werde, muss der Einwand ernstgenommen werden, dass der Schein trügt. Damit ist an das Thema der Dis- 457 Friedrich Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie. In: Ders.: Kritische Ausgabe seiner Werke, hg. v. Ernst Behler, München/ Paderborn/ Wien u. Zürich 1981 , Bd. 16 , 94 (Nr. 115 ). 458 Goethe: Tag- und Jahreshefte. In: HA 10 , 446 . 459 Eckermanns Gespräche mit Goethe, 18 . Januar 1825 . In: MA 19 , 128 . 460 Brief an Schiller vom 30 . Oktober 1797 . In: MA 8 . 1 , 444 . <?page no="171"?> 171 2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte krepanz von Exoterik und Esoterik erinnert, wie es als Differenz von Form und Stoff noch 1796 zwischen Goethe und Schiller verhandelt worden war. 461 Der dichterische Schein verdeckt die Wahrheit und muss auf sie hin erst durchgestrichen werden. Nun ist weder das auf den ersten Blick ersichtlich, noch überhaupt das Verfahren, wie »mit prosaischen, wohlfeilen [sic] Stoff ein poetischer Effekt erreicht« 462 werden kann, und erschwert wird die Auslegung auch durch Goethes objektiven Stil, der sich aller Wertungen oder Parteinahmen - zumeist - enthält und Faktisches schildert. Dennoch sprechen die Kritik an der ungebändigten Einbildungskraft, die Pragmapoetik des Turms mit ihrer Verachtung für naive Bildergläubigkeit und bereits Wilhelms erstes Gespräch mit dem Unbekannten eine ebenso beredte Sprache wie auch Goethes gelegentliche Reflexionen über Fragen des Stils. Man wird daher sagen können, dass die Lehrjahre je umsichtiger gelesen werden müssen, desto mehr Bilder sie einschalten. Natürlich lässt sich dabei eine negative Pragmatik oder gar eine wie auch immer geartete Moral nicht einfach einem Text unterstellen, der nach dem Prinzip der Objektivität vorgeht und Wirklichkeit deskriptiv in den Blick nimmt. Als einen Ausdruck dieses Verfahrens darf man begreifen, dass die Lehrjahre nicht einseitig werten. Durchaus werden Bilder nicht entwertet, sondern in ihrer ästhetischen Schönheit gewürdigt. Und durchaus werden die Stärken und Schwächen Wilhelms und der Turmgesellschaft - nicht immer nur sachlich - vor Augen geführt. Dennoch werden sie insgesamt gegeneinander abgewogen, und dabei zeigt sich, dass Wilhelms Dilettantismus und ästhetische Phantastereien von Nachteil sind. Denn keinen Zweifel lässt der Text an der von ihm geschilderten Realität, die jenseits der beschränkten Figurenrede Wilhelms erkennbar ist und vor deren Hintergrund sich die Verirrungen, Verzerrungen und Fehlinterpretationen Meisters deutlich abzeichnen. Denn nur allzu oft sieht Wilhelm am Sinn des Geschehens vorbei, und überhaupt eignet sich schlecht als Stütze der Auslegung, wer wie er von den Handlungen des Turms vieles nicht mitbekommt, gar nicht in sie eingeweiht wird oder scheinbare Rätsel trotz aller Hinweise nicht aufzulösen vermag. Der Abgleich von Figurenrede und komplexem Geschehen ebenso wie die Rekonstruktion derjenigen Zusammenhänge, die Wilhelm vorenthalten bleiben, sind Aufgabe der Interpretation. Dabei leisten ihr zum einen die Hinweise einiger Figuren gute Hilfe, etwa die klaren Worte Jarnos, die auf die Pragmapoetik und Bilderkritik des Turms aufmerksam machen und das entsprechende Verfahren des Romans perspektivieren. Zum anderen sind immer wieder Erzählerkommentare eingeschaltet, die das Gemeinte teils offen, teils angedeutet zu denken geben. Offen, wenn etwa Wilhelm und sein ästhetischer Enthusiasmus vor allem in den ersten Büchern kaum verhohlen ironisch gefärbt sind. Mehr angedeutet, wenn der Erzähler wie etwa am Anfang des siebten Buches zu Bildern greift, die eben deshalb im Sinne einer Pragmatik auszulegen sind, weil sie zur Handlung auf den ersten Blick nichts beitragen. Wilhelm ist dort im Auftrag Aurelies auf dem Weg zu Lothario. Nach dem Einschub des sechsten Buches, der Bekenntnisse der schönen Seele, beginnt Buch sieben abrupt mit einer Landschaftsbeschreibung: Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen; ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging stürmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an (421). 461 Vgl. dazu die Darlegungen der obigen Unterkapitel zu Exoterik und Esoterik. 462 Trunz: Nachwort (Anm. 34 ), 685 . <?page no="172"?> 172 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Meister knüpft an das Naturphänomen banale Betrachtungen darüber, dass »eben die schönsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde« (ebd.) erschienen. An der Bedeutung des Regenbogens sieht er auf diese Weise vorbei. Dabei hat ihn der Erzähler nicht von ungefähr an den Beginn des Buches gestellt, das Wilhelms endgültigen und nun auch räumlichen Eintritt in den Turmbezirk einleitet. So ist der Bogen als Eingangsportal zu verstehen, durch das der Weg in die neue Zeit der ökonomischen Sozietät führt. Verständige können sich darüber freuen. Denn freilich ist an das alte Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk zu denken, durch das Israel zur Hoffnung auf Heil berechtigte und unter allen Völkern auserwählt wurde. Die alte Überlieferung säkularisiert der Turm zwar. Aber auch sein Angebot eines neuen »Bund[es]« (608) ist nach dem Muster heilsgeschichtlicher Dimension konstruiert, das nun ökonomisches Wohlergehen und einen Himmel auf Erden zu schaffen verheißt. Bis heute hat sich an der prinzipiellen Faszinationskraft wirtschaftlicher Zukunftsversprechen kaum etwas verändert, und wohl mögen sich die Mitglieder der Sozietät bereits als privilegierte Gemeinschaft der schönen neuen Zeit verstehen. Wohlwollend betrachtet der Erzähler ein solches Unternehmen insgesamt. Höher als Poesie und Einbildungskraft ist allemal die Wirtschaft zu bewerten: Sie schafft individuelle wie gemeinschaftliche Freiheit und stellt das Fundament der neuen Gesellschaft dar, wie es zur selben Zeit auch die Novellen der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten ins Auge fassen. Gegen den Primat des Wirtschaftlichen revoltierte daher die Meister -Kritik des Novalis, die eine neue Welt lieber als Produkt transzendental gegründeter Phantasie ausweisen wollte. Die ökonomistische Intention der Sozietät will aber den Beweis erbringen, dass der Gang der Sozialgeschichte empirisch steuerbar sei. Ihre Erfüllung findet die ökonomische Vernunft dabei freilich erst in jenem Weltreich des Kapitalismus, das die europäischen und amerikanischen Expansionspläne des Turms nur andeuten. Der Völkerbund aller bürgerlichen Rechtsgesellschaften, den Kant in der Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht auf den Plan der Vorsehung zur Errichtung eines Friedensreichs zurückgeführt hatte, wird damit aber ins Praktisch-Konkrete überführt: Nicht in unabsehbarer Zukunft, sondern in der ökonomischen Praxis des Hier und Jetzt beginnt die Herrschaft der Ratio in den Lehrjahren , und unmittelbar sichtbar sind ihre Errungenschaften. So operiert die Ästhetik des Scheins vor allem an Stellen mit voller Berechtigung, an denen es um die Einbildungskraft geht, die Reales nicht zur Kenntnis nimmt. Am Romanende und an Friedrichs Schlussworten, die in Goethes zitierten Bemerkungen zweimal genannt werden, wird sie zuletzt nochmals eindrücklich exemplifiziert. Sie will vor jeder vorschnellen Lesart warnen, und passt überdies zu dem Verständnisvorbehalt, dass - wie oben im Natalie-Kapitel ausführlich dargelegt - schon Wilhelms Funktion und Verbleib im Turm sowie die Pläne zu seiner Heirat mit Natalie mehr als zweifelhaft sind. In diesem Sinne hat man wohl zu wenig gesehen, dass der schöne Schein besonders am Beschluss des Romans durch Ungereimtheiten und allerlei Widersprüche unterlaufen wird. Hätte Goethe, wäre ihm bei Wilhelm an einem Lob der Bildung und schönen Tugend gelegen gewesen, nicht eindeutiger zuspitzen müssen? Bereits kurz nach dem Erscheinen des Textes stellte Novalis aus der Perspektive des enttäuschten Romantikers fest, dass Goethe offenbar anderes im Sinn gehabt hatte. »Hinten wird alles Farce« 463 , notierte er, als er sich davon überzeugt hatte, dass der Roman von den Hoffnungsbildern der Einbildungskraft kein einziges einzulösen gewillt war. Von den historisch-biblischen Anleihen, derer sich Friedrich auf den letzten Seiten bedient, von 463 Novalis: Fragmente und Studien (Anm. 11 ), 806 . <?page no="173"?> 173 2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte seinen »hundert Zitaten und eulenspiegelhaften Anspielungen« (605) ist nicht eine ernst gemeint. Nur einen halbgelehrten »Hokuspokus« (549) führt Friedrich auf, und seine das Alte Testament bemühenden Schlussworte sind umso unglaubwürdiger, als dem Turm Religion längst obsolet geworden war. Aber scheint nicht Friedrich dem zunächst noch liebeskranken Wilhelm die unverhoffte Wendung zum Glück mit Natalie bedeuten zu wollen? Am Beispiel des Bildes vom kranken Königssohn, auf dem Antiochus Stratonike gewinnt, stellt er ihm - wie bereits erwähnt - die Stillung seines erotischen Verlangens in Aussicht. Doch von einer solch wunderbaren Fügung berichtet nicht nur die »ägyptische [ … ] oder babylonische [ … ] Geschichte« (605). Der Turm moduliert die alte Überlieferung ins Christliche und montiert - ähnlich wie bei der Bilderhäufung beim Gemälde vom kranken Königssohn - einen weiteren Mythos hinzu. Lothario eröffnet Wilhelm, er werde sich wider Erwarten mit Natalie verbinden können. Die Braut trägt einen sprechenden Namen: dies natalis weist auf die Weihnachtsgeschichte, 464 auf deren nächtliches Geschehen schon Friedrichs Lied angespielt hatte: O, ihr werdet Wunder sehn! Was geschehn ist, ist geschehn. Was gesagt ist, ist gesagt. Eh’ es tagt, Sollt ihr Wunder sehn. (606) Friedrichs Zitat beruft die Verkündigung der Engel, durch die den Menschen die Geburt des Erlösers eröffnet wurde: Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. 465 Die christliche Überhöhung der antiken Vorlage meint: So wie Seleukos dem Sohn seine Braut überlässt, erhält der weltliche Wilhelm Natalie, die »Heilige« (228) und Verkörperung der Vernunft, die den Menschen der Allerhöchste anvertraute. Nun, am Ende des Romans, will scheinen, dass Vernunft und Welt zusammenstimmen, und weil der Mensch, der sich seiner Vernunft bedient, ein »Gott der Erde« (71) zu sein vermag, verheißt die Hochzeit zumal eine geschichtsphilosophische Hoffnung auf einen Neuen Bund: Nach vielerlei Irrungen werde alles Faktische endlich vernünftig. Die Geschicke der Menschen und des Zeitalters können zum glücklichen Ende geleitet werden, das die neue Heilige Familie von Wilhelm, Natalie und Felix schon zu garantieren scheint. Denn aus der Verbindung von Welt und Vernunft fließt jenes Glück, das Felix in seinem Namen mit sich führt, und als ein glückliches Reich der Vernunft könnte es wohl das »Königreich« 466 alttestamentlicher Prophetie variieren, das mit dem Bund eingerichtet werde. Wilhelm ist davon überzeugt. Er habe höchstes »Glück erlangt« (610), und meint damit die Verbindung mit Natalie ebenso wie Felix, die Verkörperung des Glücks. Die Turmbilder 464 Vgl. dazu Peter Pfaff: »Plädoyer für eine typologische Interpretation von ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. In: Text & Kontext 5 ( 1977 ), 37 - 55 , hier 49 . 465 Mk 2 , 8 - 11 . 466 Jes 9 , 5 f. <?page no="174"?> 174 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« scheinen ihm also zu verstehen zu geben, dass er, versehen mit den Inkarnationen der Vernunft und des Glücks, schon jetzt Herrscher im Vernunftreich sei. So ist er offenbar, mit Goethes Worten, »trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele« gelangt. Friedrichs Schlussworte jedenfalls bedeuten es ihm vermeintlich: Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand (610). Anderes als ein Königreich zu suchen, hatte wie Saul auch Wilhelm im Sinn. Jedoch übel erging es ihm auf seinen »falschen Wegen« nicht, und keinen schlechten Tausch machte er, als er sich der Lenkung des Turms fügte. Ihr verdankt Wilhelm die angebliche Herrschaft im Reich zweckmäßiger Tätigkeit, die ihm immer bestimmt gewesen sei. Doch in Wahrheit stimmt für Wilhelm nichts von alldem. Nichts als subjektive Täuschung ist das, was er für sein Glück hält. Meister fällt auf den schönen Schein herein. Beim »Hokuspokus« (ebd.) assistiert Friedrich, dessen Metier von jeher »Tollheit« (558) und Eulenspiegeleien sind. Wilhelm hätte verwundern müssen, dass gerade der missratene Turmsohn für die ernstgemeinte Verkündigung weihnachtlicher Freude in Frage kommen soll. Dabei wäre auch zu beachten gewesen, dass Friedrich sein Bildungswissen auf ganz zweifelhafte Art erworben hat. Mit Philine bewohnt er erst seit kurzer Zeit ein Schloss zur Miete, in dem er eine zwar kompendiöse, aber doch ausgesuchte Bibliothek gefunden [hat], enthaltend eine Bibel in Folio, Gottfrieds Chronik, zwei Bände Theatrum Europaeum, die Acerra Philologica, Gryphii Schriften und noch einige minder wichtige Bücher (558). Für den Turm, der für Kunst, Wissenschaft und Religion im Großen und Ganzen nicht viel übrig hat, sind das keine Maßstäbe. Auch Friedrich ist alles andere als religiös. Für ihn taugen die Werke nur noch zu einer Bildungsparodie. Denn aus »lange[r] Weile«, berichtet er Wilhelm, läsen er und Philine manchmal »gegeneinander, und immer nur stellenweise, aus einem Buch wie aus dem andern« (ebd.). Dabei seien sie sogar auf den Gedanken gekommen, zuweilen »nach einer alten verdorbenen Sanduhr« zu lesen, »die in einigen Minuten ausgelaufen« sei: Schnell dreht sie das andere herum und fängt aus einem Buche zu lesen an, und kaum ist wieder der Sand im untern Glase, so beginnt das andere schon wieder mit seinem Spruch, und so studieren wir wirklich auf eine wahrhaft akademische Weise, nur daß wir kürzere Stunden haben und unsere Studien äußerst mannigfaltig sind (ebd.). Wilhelm hätte also wissen können, wer ihm da später vermeintliche Wahrheiten ankündigen möchte. Wahllos und ohne Erkenntnisinteresse hat der ausgelassene Friedrich gelesen - und dabei die Lebensferne des akademischen Bücherstudiums ebenso parodiert wie das adelige Ideal gesellig-eleganter Unterhaltung. Denn er meint, die oberflächliche Lektüre nach Zeit bereite auf die »gute Gesellschaft« vor, »wo man für unschicklich hält, irgendeine Materie zu lange fortsetzen oder wohl gar gründlich erörtern zu wollen« (ebd.). Wohl wahr, dass Wilhelm einst im Grafenschloss gegen das höfische Parlieren verstoßen hatte, als er dem verdutzten Fürsten Racine auszulegen für nötig hielt. Doch inzwischen haben die Lehrjahre keinen Zweifel daran gelassen, dass ästhetisches Bücherwissen und Repräsentationsadel antiquiert sind. Friedrich zitiert also Lebensmodelle, die ebenso alt sind wie die <?page no="175"?> 175 2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte Bücher, die er liest. Nur aus historischen Versatzstücken besteht sein Wissensschatz. Ernst ist also auch das nicht mehr zu nehmen, was der nur Halbgebildete später dem überraschten Meister verkündet. Nichts weniger als ein weihnachtliches »Wunder« (606) noch vor Tagesanbruch deutet er an. Doch Banaleres steckt dahinter. Die Gesellschaft kommt eben »immer abends zusammen« (605), und Friedrich vermutet nach seinen Anspielungen auf das Gemälde vom kranken Königssohn, bei Natalie und dem Abbe´ die Lösung des Problems auf den Weg gebracht zu haben. Etwas Unerwartetes werde nun geschehen. In diesem Sinne hatte der Text schon vorher von »wunderbare[n] Begebenheiten« (604) gesprochen und den Tod des Harfners sowie Felix’ Rettung gemeint. Friedrich liebt die rhetorische Übertreibung. »[S]chwadronieren«, »lächerliche Lobrede[n]« (606) und »große[s] Geschrei« (608) sind seine Sache. Als er Wilhelm zum schnellen Aufbruch nötigt - »In zwei Tagen könnt ihr reisefertig sein« (609) -, eröffnet er ihm, die »Menschen wissen’s Euch Dank, wenn Ihr etwas Wunderliches unternehmt« (609). Die Modulation ist bezeichnend. Das unvorhergesehene »Wunder« der Eheschließung wird zum seltsamen Geschehen. Niemand könne begreifen, meint Friedrich, warum sich der Bräutigam in spe so leicht aus dem Weg räumen lasse und auf seine Braut verzichte. Dankbar sei man ihm aber für die Gelegenheit zum Tratsch. Nicht unbedingt das Allerbeste denkt Friedrich von Wilhelm. Aber nebenbei gibt er jene empirische Grundlegung der Literatur, wie sie auch die kurz nach den Lehrjahren entstandenen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten enthalten werden. Dort legt der alte Geistliche dar, dass der Mensch »kleine Fehler und Mängel lustig« finde und daher besonders gern bei Geschichten [verweile], wo er den guten Menschen in leichtem Widerspruch mit sich selbst, seinen Begierden und seinen Vorsätzen findet, wo alberne und auf ihren Wert eingebildete Toren beschämt, zurechtgewiesen oder betrogen werden, wo jede Anmaßung auf eine natürliche, ja auf eine zufällige Weise bestraft wird [ … ]. 467 Im Klatsch der empirischen Alltagswelt, wie ihn im Roman auch Friedrich erwartet, finde sich der Stoff der Literatur, der als psychologischer conte moral vom Autor gestaltet wird und von einem spezifischen Fehlverhalten eines Menschen berichtet. Dem Muster entsprechen nicht nur die Erzählungen der Unterhaltungen , sondern bereits Stoff und Gegenstand der Lehrjahre : Alltäglich ist der »allerelendste [ … ] Stoff«, den Goethe wählte, herumziehendes Komödiantenvolk und armselige Landedelleute« 468 , und dass sich der Protagonist »in leichtem Widerspruch mit sich selbst« und »seinen Vorsätzen« befindet, vergeblich »zurechtgewiesen« und daher am Ende »betrogen« wird, ist der Reiz der Geschichte. Denn wirklich bleibt die Sozietät bis zuletzt davon überzeugt, Wilhelm sei zu nichts zu gebrauchen, und schickt ihn mit dem Sohn nach Italien. Auch Jarno hat längst begriffen, dass der junge Mann in der Moderne nicht ankommt und sieht also »seinen Vorschlag«, mit ihm zusammen »nach Amerika zu reisen, selbst als kein Hindernis« (567) für Wilhelms neue Aufgabe an. Anstatt ihn ins Land unbegrenzter Möglichkeiten mitzunehmen, wird ihn der Turm im alten Land der Sehnsucht los. Dass er dort Mignons Erbe werden soll (vgl. 594), ist bezeichnend: Ein unheilbarer Träumer bleibt Wilhelm, und ganz zu Unrecht hatte er gemeint, sein »Erbteil [ … ]« (520) liege im Turm oder der Sammlung des Großvaters, deren Wert für die Sozietät er missversteht. 467 HA 6 , 144 . 468 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 81 . <?page no="176"?> 176 2. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« In diesem Sinne ist auch Friedrichs biblisches Schlusswort ein zweifelhaftes Kompliment. Friedrich meint, Wilhelm komme ihm vor »wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, des Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand« (610). Wilhelm pflichtet bei: Er habe nun ein »Glück erlangt [ … ], das er nicht verdiene« (ebd.). Doch den Sinn des Bibelvergleichs durchschaut er nicht. Er besteht zunächst in einem Rückverweis auf den Anfang der Lehrjahre . Das Puppenspiel, das Wilhelm von seiner Mutter erhielt, wird mit der Schilderung eines zeittypischen David-Dramas eingeführt, in dem neben David, Goliath, Samuel und Jonathan auch Saul auftritt (vgl. 12 f.) und dessen Puppenarsenal am folgenden Abend bei Mariane die erotische »Einleitung glücklicher Stunden« (16) wird. Friedrichs Worte erinnern damit an die fatale Wirkung minderästhetischer »Jugendeindrücke« (512), durch die sich ein junger Mensch an etwas »Abgeschmackte[s]« (122) gewöhne und von denen sich zu emanzipieren der Turm Wilhelm schon früh nahegelegt hatte. Wilhelm, der die vertraute biblische Bildlichkeit noch am Ende des Romans für bare Münze nimmt und sich an die Einbildungskraft hält, schlug die Ermahnungen in den Wind. Dabei kommt ihm wohl entgegen, dass auch die Geschichte Sauls nach dem für Wilhelm so prägenden Muster des Gemäldes vom kranken Königssohn montiert ist. Wie die Bücher Samuel berichten, hatte Israel um Einrichtung einer Königsherrschaft ersucht. Saul, dem ersten König der Juden, hatte Gott, der Herr, daraufhin ebenso widerwillig irdische Gewalt übertragen, wie auch Seleukos Stratonike erst spät an Antiochus abtrat. Doch von einer Stabilität der Verhältnisse kann in der Bibel die Rede nicht sein. Die Herrschaft Sauls war wohl zu Anfang gut und gerecht, doch bald schon verlor er allerhöchste Gunst, wurde schwermütig und machte seinem Leben ein Ende. 469 Friedrichs Schlussworte wollen damit andeuten, dass Wilhelm mit dem Turm ein Herrschender in der neuen ökonomischen Zeit hätte werden können, und dass ohne den Beistand der Sozietät die Epoche über ihn hinweggehen werde. Kaum hat er also sein Glück erlangt. Ohnehin hätte ihn ein Rückblick auf das Gespräch mit dem Unbekannten darüber belehren können, dass Glück weder naturhafter Gefühlsgenuss noch ein unverdient-zufälliges Resultat höherer Lenkung ist, sondern ein folgerichtiges Produkt vernünftigen Könnens, durch das sich der Mensch in der Welt zum Besten einrichtet. Glück ist der meisterhafte Gebrauch der Vernunft und ein im ökonomischen Sinne realisierter pursuit of happiness nach amerikanischem Vorbild. Dazu muss die eigene formlose Natur veredelt werden, bevor sie die Verhältnisse und Lebensumstände tätig prägen kann. Wilhelm hatte für diesen Bildungsgang keinen Sinn. Das liegt auch daran, dass er bis zuletzt an seinem Glauben an ein Schicksal und damit an eine »Macht, die über uns waltet und alles zu unserm Besten leitet« (71), festhält. Das frühe Gespräch mit dem Unbekannten ist aufgerufen, in dem Wilhelm auf einer glückhaften »Reihe von unerwarteten Vorfällen« beharrte, die den Menschen »endlich ans Ziel« bringen könne, das er »selbst noch kaum ins Auge gefaßt« (71 f.) hatte. Der Unbekannte hingegen lehnte allen Schicksalsglauben ab. Selbst sei der Mensch aufgerufen, 469 Auf die düstere Parallele weist hin Friederike Eigler: »Wer hat ›Wilhelm Schüler‹ zum ›Wilhelm Meister‹ gebildet? ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ und die Aussparungen einer hermeneutischen Verstehens- und Bildungspraxis«. In: Goethe Yearbook 3 ( 1986 ), 93 - 119 , hier 113 . Lothar Bluhm (»›Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis‹ … «: ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ zwischen »Heilung« und »Zerstörung«. In: »daß gepfleget werde der feste Buchstab«, hg. v. Lothar Bluhm und Achim Hölter, Trier 2001 , 122 - 140 ) kann sich bei der Deutung von Friedrichs Bibelvergleich zwischen positiver und negativer Deutung nicht entscheiden. Insgesamt hält die ältere Forschung das Romanende für glückhaft (vgl. etwa Röder: Glück, Anm. 48 , ebenso Schings: Amazone, Anm. 63 ). In der letzten Zeit sind demgegenüber die Brüche und Unwahrscheinlichkeiten in der Handlung profiliert worden, die ein glückliches Ende zweifelhaft werden lassen und unterlaufen (vgl. etwa Schößler: Lehr- und Wanderjahre (Anm. 70 ), 167 ff.). <?page no="177"?> 177 2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte mittels Vernunft seine Geschicke zu leiten und sich in der Kunst der ökonomischen Zweckmäßigkeit zu bilden. In diesem Sinne diente die Pädagogik des Turms als Providenzersatz dazu, bei dieser Selbstermächtigung zu helfen und die antiquierte Theodizee in der modernen Oikodizee aufzuheben. Unverdientes Glück kann es also nicht geben, wo alles auf richtige Planung und Machbarkeit hinausläuft. An Wilhelm wird damit zuletzt demonstriert, dass der Typus des tumben Toren oder des Hans im Glück, dem in Friedrichs Schilderung auch Saul entspricht, in der Moderne durchaus keinen Platz besitzt. Der Roman berichtet also vom Scheitern der Vernunftbildung. Nicht bei jedem führt der empirische Zwang ökonomischer Praxis zur Genese praktischer Begabung. Die Rückblenden des Textes zeigen, dass Wilhelm am Ende nicht weiter ist, als er es anfangs war. So bleibt er der »arme [ … ] Hund« 470 , als den Goethe ihn bezeichnete. Zum brauchbaren citoyen wird nicht, wer wie er den »Wert eines Königreichs« (610) immer noch nicht kennt und zuletzt auch in Fragen der Eheschließung und Familie erotischer träumt als es dem Turm recht sein kann. Denn von Adoption und Vertragsehe begreift Wilhelm nichts, der mit Felix am Prinzip biologischer Deszendenz festhält und bei der Verbindung mit Natalie die Liebe am Werk glaubt - obwohl er von seiner Braut schon nach zwei Tagen getrennt wird. Ihm entgeht so bis zuletzt, dass der Turm alte Familienmodelle auflöst und Personen im Sinne eines Sozialverbandes ökonomischer Leistungsorientierung neu und effizienter als bisher zusammenfasst. Von der modernen Welt ist er am Ende glücklos entfremdet. Dass er davon nichts bemerkt, ist abschließend auf seine Bildergläubigkeit zurückzuführen. Berichten die Lehrjahre vom Ende der ikonographischen Überlieferung, das der Zwang wirtschaftlicher Interessen herbeiführt, hat Wilhelm die ästhetische Lektion nicht gelernt. Unbeirrt erblickt er noch zuletzt nichts als seine Geschicke im Gemälde vom kranken Königssohn oder in anderen historischen Mythologica, nach deren Maßgabe er seine Weltwahrnehmung gegen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit konstruiert. Dass er also weiterhin nur sich und die eigene natürliche »Neigung« (70) in Kunstwerken reflektiert findet, zeigt, wie wenig er sich in Kunst und Leben zum Prinzip vernünftiger Formgebung bilden konnte. Wilhelms unbelehrbare Wertschätzung der schlechten ästhetischen Qualität des Bildes - wegen der es beim Großvater »im äußersten Vorsaale« (70) hing - deutet auf die Irrtümer, derer sich fehlende Vernunft nach wie vor schuldig macht. Denn wenn das Gemälde am Ende des Textes im Schloss des Turms wiederkehrt - ebenfalls im »Vorsaal« (606) - und Wilhelm aufs Neue seinem Reiz verfällt, ist bedeutet, dass von ebenso schlechter Kunst wie das Bild auch Meisters Lebensführung zeugt, der seines Glückes vernünftiger Schmied nicht sein wollte. Dass ihn aber nur seine Einbildungskraft an den schönen Schein glauben lässt, zeigt nochmals, wie sehr unerkannte Bildlichkeit über Reales hinwegtäuschen kann. Schon der Unbekannte hatte in seinem ersten Gespräch mit Wilhelm darauf hingewiesen, dass die Textur des Faktischen richtig begriffen und ausgelegt werden müsse. Wer sich aber wie Meister die Nüchternheit des Zeitalters durch ästhetische Staffagen verstellt, gewinnt »keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln« (563). Als eindringliche Lektüreanweisung ist das aufzufassen. Auch das »Gewebe« der Lehrjahre , im wörtlichen Sinne die Textura und also der Text des Romans, ist vernünftig, nüchtern und bilderkritisch zu lesen, wenn man hinter seine Methode kommen will. 470 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 51 . <?page no="178"?> 3. »En haine du re´alisme«. Die zwei Seiten des style in Flauberts Education sentimentale Ridiculus sum. (Mme Bovary) 3.1 Flaubert und die Forschung Seit über einhundert Jahren gehört Flauberts Education sentimentale zum kanonischen Bestand der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. So verzweigt und international verwoben ist die Rezeptionsgeschichte, dass sie inzwischen nahezu unüberschauber geworden ist. Kaum eine Theorie, für die Flaubert nicht in Anspruch genommen, die nicht am Beispiel seiner Werke vorgeführt, kaum ein Dissens, der, seit die französische Kritik Flaubert zum modernen Autor par excellence erhob, über der Lektüre seiner Texte nicht ausgefochten worden wäre. Die Geschichte der Flaubert-Kritik ist in besonderem Maße eine Methodenschau. In ihrer Heterogenität der Kafka-Forschung vergleichbar, besteht ihr grundlegender Streitpunkt doch ganz ähnlich wie bei Goethes Lehrjahren nur in einer prinzipiellen Frage: wie der Status der literarischen Bilder und damit des schönen Scheins zu bewerten sei. Die Differenziertheit der interpretatorischen Ansätze macht eine umfassende Rekapitulation der Ergebnisse ebenso unmöglich wie sie verwirrend wäre. Die Schwerpunkte und großen Linien lassen sich jedoch subsumierend angeben. Publikum und Kritik haben sich mit der Education lange Zeit schwer getan. Nur wenige Zeitgenossen erkannten den Rang des Romans bei seinem Erscheinen 1869, und 40 Jahre sollte es dauern, bis er mit einer Studie von Rene´ Dumesnil zum festen Gegenstand der Literaturwissenschaft wurde. Flaubert suchte sich die Enttäuschung mit der Konzeption seines Werks zu erklären. Es fehle die »faussete´ de la perspective« (Corr V, 568/ 7. 3. 1879) 1 , und überhaupt sei er einer »mauvaise me´thode esthe´tique« (Corr III, 518 f./ 20. 8. 1866) gefolgt. Das war nicht als Inferioritätstopos gemeint, sondern kreidete den Misserfolg der literarischen Dummheit an, die Flaubert dem Publikum lange nachtrug (»De cela, je garde rancune au public«, Corr V, 746/ 19. 11. 1879). Die Abneigung war freilich gegenseitig. Die Kritiker lasen die Education als Fortsetzung jenes skandalträchtigen Immoralismus, wegen dem man dem Autor schon einmal anlässlich der Madame Bovary den Prozess gemacht hatte. Die »e´pisode de la Turque« (Corr IV, 135/ 3. 12. 1869) - den Bordellbesuch Fre´de´rics - verstand man als erneutes Beispiel der »bassesse« (ebd.) Flauberts, und man beschimpfte den Autor als »cre´tin« (ebd., 134) und »canaille« (ebd.). Am Realismus des Romans störte also die »vulgarite´« 2 , überhaupt aber die Dominanz scheinbar sinnloser Sammlungen von Ge- 1 Gustave Flaubert: Correspondance, hg. v. Jean Bruneau und Yvan Leclerc, 5 Bde., Paris 1973 - 2007 [Bd. 1 : 1973 ; Bd. 2 : 1980 ; Bd. 3 : 1991 ; Bd. 4 : 1998 ; Bd. 5 : 2007 , im Folgenden zitiert als Corr mit römischer Band- und arabischer Seitenangabe sowie Datum]. 2 Jules Barbey D’Aurevilly: »›L’Education sentimentale. Histoire d’un jeune homme‹, par M. Gustave <?page no="179"?> 179 3.1 Flaubert und die Forschung genständen (»bric-a`-brac« 3 ), wenn nicht die Form schlichtweg als »sec, pesant, monotone« 4 empfunden wurde. Zudem könne Flaubert nicht einmal »e´motion[s] naturelle[s]« 5 darstellen, weshalb die Education ein »abus mise´rable du talent« 6 sei. Erst das Eintreten Zolas und George Sands für den Roman befreite die Lektüre von den moralischen Vorbehalten und trug dazu bei, dem Werk bis heute einen prominenten Platz in der Literaturgeschichte zu sichern. Sand lobte die »science de de´tails« 7 der Education , deren »e´tude de la vie re´elle« 8 dieselbe sei wie bei Balzac und vor deren Suche nach dem Wahren jede moralische Bewertung zurückzustehen habe (»il n’y a pas de question morale« 9 ). Ebenso schätzte Zola in seinen zwei dem Roman gewidmeten Besprechungen die »me´thode [ … ] essentiellement descriptive« 10 , welche die »vie nerveuse« 11 des Zeitalters beschreibe, und prophezeite dem Text eine weitreichende Wirkungsgeschichte: »On reviendra sur ›L’Education sentimentale‹, on en comprendra l’e´tonnante profondeur, dans la monotonie apparente.« 12 Als Nachfahre der großen Realisten des 19. Jahrhunderts ließ sich Flaubert nun begreifen, von dem ein gerader Weg noch zum Naturalisten Zola führe. Dass diese Einschätzung die Qualität des Romans nicht völlig traf, dämmerte manchen freilich mit dem Erscheinen einer Reihe von Artikeln, die der eng mit Flaubert befreundete Guy de Maupassant zwischen 1876 und 1888 veröffentlichte. 13 Darin unterstützt durch die 1887 erschienenen Souvenirs intimes 14 von Flauberts Nichte Caroline Commanville, betonte er die Bedeutung des Stils und der ästhetischen Methode für Flauberts literarisches Werk und wandte sich gegen die Unterstellungen Maxime Du Camps, dessen Souvenirs Litte´raires Flauberts schwierigen, oft stockenden Schreibprozess auf die angebliche Erkrankung an Epilepsie zurückgeführt hatten. 15 Maupassant zufolge sei der Autor der Education weder ein pathologischer Fall noch ein Realist, sondern ein Idealist, für den »la forme est l’œuvre elle-meˆme« 16 : »Flaubert n’a point son style, mais il a le style« 17 , der nach der einzig möglichen Entsprechung von Gedanke und Wort suche, sich durch imperson- Flaubert«. In: Le Constitutionnel, 29 . 11 . 1869 , zitiert nach: Flaubert. Textes re´unis et pre´sente´s par Didier Philippot, Paris 2006 , 293 - 300 , hier 295 (im Folgenden zitiert als Philippot). Vgl. dazu auch Christine Schmider: »›Etre la matie`re‹. Gustave Flauberts Poetik des Materiellen«. In: Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, hg. v. Thomas Strässle und Caroline Torra-Mattenklott, Freinbrug/ Berlin 2005 , 55 - 73 , hier 58 . 3 D’Aurevilly: L’Education sentimentale (Anm. 2 ), 297 . 4 Louis-Edmond Duranty: »›L’Education sentimentale‹ de M. Flaubert«. In: Paris, 20 . 11 . 1869 , zitiert nach: Philippot (Anm. 2 ), 281 - 286 , hier 285 . 5 Francisque Sarcey: »›L’Education sentimentale‹, Encore M. Flaubert«. In: Le Gaulois, 3 ./ 4 . 12 . 1869 , zitiert nach: Philippot (Anm. 2 ), 301 - 310 , hier 303 . 6 Ebd. 305 . 7 George Sand: »›L’Education sentimentale. Histoire d’un jeune homme‹, par Gustave Flaubert«. In: La Liberte´, 21 . 12 . 1869 , zitiert nach Philippot (Anm. 2 ), 311 - 316 , hier 314 . 8 Ebd., 315 . 9 Ebd., 314 . 10 Emile Zola: »Causerie«. In: La Tribune, 28 . 11 . 1869 , zitiert nach Philippot (Anm. 2 ), 287 - 292 , hier 290 . 11 Ebd., 288 . 12 Ders.: »Revue dramatique et litte´raire«. In: Le Voltaire, 9 . 12 . 1879 , zitiert nach Philippot (Anm. 2 ), 431 - 434 , hier 434 . 13 Versammelt in Guy de Maupassant: Pour Gustave Flaubert, Paris 1986 . 14 Caroline Commanville: Souvenirs intimes. In: Gustave Flaubert: Corespondance. Premie`re se´rie (1830-1850), Paris 1887 , I-XLIII. Darin heißt es über Flaubert: »Il avait pris l’art pour son dieu« (X), und in jedem seiner Werke gebe es eine »union intime entre fond et forme« (XXV). 15 Vgl. Maxime Du Camp: Souvenirs Litte´raires, hg. v. Michel Chaillou, Paris 1984 , 37 . 16 Maupassant: Pour Gustave Flaubert (Anm. 13 ), 28 . 17 Ebd., 29 . <?page no="180"?> 180 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« nalite´ und impassibilite´ auszeichne und die Welt in Schönheit aufzuheben trachte. Damit standen Kritik und Leserschaft Ende des 19. Jahrhunderts vor der Alternative, Flaubert entweder als Realisten oder als Vertreter des l’art pour l’art und damit als Vorläufer der Symbolisten zu lesen. 18 Ähnlich wie in der Goethe-Rezeption musste damit der Status der ästhetischen Bilder verhandelt werden: War die mimetische Repräsentation des Faktischen und damit die Exoterik des Textes das Entscheidende - oder war es Flauberts vielberufener Stil, der die schöne Bildlichkeit in esoterischer Negativität durchzustreichen und in reiner Ästhetik zu überhöhen schien? 19 3.1.1 Flaubert, der Realist Die Kritiker, die in Flaubert den Realisten sahen, sind, historisch gesehen, in der Mehrheit. Ihre Untersuchungen fragen nach der Art und Weise der referentiell abgebildeten Welt mit ihren historischen Fakten und - etwa sozialkritischen - Verortbarungen. Gehen Sie auf Flauberts Stil ein, begreifen sie ihn als spezifische Darstellungs- und Erzähltechnik für die Exoterik des Textes. Die Studie des Arztes Rene´ Dumesnil (1906) ist dafür exemplarisch. 20 Sie sieht »he´re´dite´« und »milieu« als Bedingungen für Flauberts Literatur an, also seine - wie immer zu definierende 21 - Neurose und den Arztberuf des Vaters. Lasse sich so die »recherche de l’objectivite´« 22 als literarische Analogie zu den medizinisch-wissenschaftlichen Einflüssen erklären, führe Flauberts spezifische Veranlagung doch zu einer pessimistischen »me´lange du romantisme et de Sciences positives« 23 : Der Mensch habe immer eine nicht mit der Realität übereinstimmende Selbstwahrnehmung (»se concevoir autre qu’il n’est« 24 ), vor deren Hintergrund alles Faktische zur Enttäuschung führen müsse. Als Vertreter der »Desillusionsromantik« las die Education auch die 1920 erschienene, Hegels Ästhetik auf die Formen der Prosa übertragende Theorie des Romans von Georg Lukacs. 25 Das Subjekt, das sich angesichts einer ideenlos-nichtigen Realität lyrisch in sich selbst zurückziehe und auf jede aktive »Rolle in der Gestaltung der äußeren Welt« 26 verzichte, finde den schlagendsten Beweis für sein »Sich-nicht-bewähren-Können« im trägen »Ablauf der Zeit als Dauer« 27 : 18 Kurios, dass 1942 ausgerechnet der Mallarme´-Schüler Paul Vale´ry Flaubert als realistischen Autor begriff und seinen ästhetischen Sprachmissbrauch geißelte: Flaubert beschreibe noch das Banalste mit einem geschliffenen Stil, der dem Gegenstand nicht angemessen sei, und errichte auf diese Weise nur »des monuments sylistiques a` la platitude provinciale et bourgeoise« (Paul Vale´ry: »La Tentation de (saint) Flaubert«. In: Ders.: Œuvres, hg. v. Jean Hytier, Paris 1957 - 1960 , 2 Bde., Bd 1 ( 1957 ), 613 - 619 , hier 614 f.). 19 Hier wie sonst folge ich mit dem funktionalen Begriffspaar Exoterik-Esoterik dem Aufsatz von Heinz Schlaffer: »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen«. In: GJb 95 ( 1978 ), 212 - 226 . Vgl. dazu ausführlich die Seiten 12 - 13 der Einleitung dieser Arbeit. Zu zeigen bleibt, dass sich auch Flaubert das Verfahren einer doppelten Buchführung für seinen style zunutze gemacht hat. 20 Rene´ Dumesnil: Flaubert. Son he´re´dite´, son milieu, sa me´thode, Paris 1906 . ( 1947 erschien eine nur wenig veränderte Neuauflage des Werks unter dem Titel: Gustave Flaubert. L’homme et l’œuvre, Paris 1947 .) 21 Vgl. dazu Gertrud Festetics: Der Fall Flaubert. Wissenschaftshistorische Analyse einer Verleumdung, Wien 2003 . 22 Dumesnil: Flaubert ( 1906 , Anm. 20 ), 226 . 23 Ebd., 301 . 24 Ebd., 307 . 25 Georg Lukacs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt 3 1965 [zuerst Berlin 1920 ], 119 . 26 Ebd., 120 . 27 Ebd., 123 . <?page no="181"?> 181 3.1 Flaubert und die Forschung: Flaubert, der Realist Das Strömen der Zeit dokumentiert die Beharrlichkeit des Sinnlosen, das »Dahinsiechen« des »Wesentliche[n]« 28 , gegen die das Subjekt nichts vermag. Darum sei sie für die Education als Roman der »transzendentalen Heimatlosigkeit der Idee« 29 nicht nur konstitutiv, sondern überwinde die Heterogenität der dargestellten Realität auch als »vereinigende[s] Prinzip«, das dem Text den »Anschein einer aus sich blühenden Organik« 30 verleihe. Albert Thibaudets umfangreiche Flaubert-Studie von 1922 31 versteht die Education als Zeitdokument, das vom politischen und emotionalen Scheitern einer ganzen Generation berichte und die verachtete Romantik durch Beobachtung und Ironie liquidiere. 32 Für die exakte Schilderung bediene sich Flaubert des style , den Thibaudet grammatikalisch inventarisiert. 33 Auch Hugo Friedrichs in Deutschland lange maßgebliche Monographie Drei Klassiker des französischen Romans (1939) 34 begreift Flauberts Texte als »Liquidation der Romantik« und als »Höhepunkt des Pessimismus in Frankreich« 35 . Quasi-wissenschaftlich und objektiv demonstriere Flaubert den »Ekel an allem Wirklichen« 36 und den »Hass auf den Bourgeois« 37 , suche aber gleichzeitig die verächtliche Realität durch den Stil zu bewältigen: Dessen »Erkenntniswille [ … ]« 38 verhindere die »Flucht« 39 in die ästhetische Illusion und bewirke eine heroische »Zuwendung zum ungeliebten Wirklichen« 40 . Auch Erich Auerbach liest Flauberts Romane in seiner großangelegten Studie Mimesis (1946) als Darstellung einer verhassten niederen sozialen Schicht. 41 Wenn aber die Texte nur Dummheit zeigten, finde sich Klugheit nur in der Sprache des Autors, die die »Dummheit durch bloßen Bericht entlarvt« 42 . Erich Köhlers Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur 43 lesen Flauberts Education in den 1960/ 70er Jahren als zeit-und bürgerkritisches Dokument der »Energielosigkeit« 44 und leeren Schwärmerei. In den 1950er Jahren fragt die französische critique the´matique verstärkt 28 Ebd., 126 . 29 Ebd., 123 . 30 Ebd., 128 . 31 Albert Thibaudet: Gustave Flaubert, Paris 1963 [zuerst 1922 , neu erschienen 1935 ]. 32 Vgl. ebd., 149 f. So bis zum heutigen Tag etwa bei Gise`le Se´ginger (Flaubert. Une poe´tique de l’histoire, Straßburg 2000 ). Zur Kritik des Anspruchs auf universale Deutung von Geschichte vgl. Dorothee Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert, München 2002 , 265 - 285 . Rainer Warning hat 1997 und 1999 das Konzept der Flaubertschen Ironie als Zugleich von Distanzierung und Bewahrung der realistischen Referenz beschrieben (»Flaubert und Fontane«. In: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 8 ( 1997 ), 3 - 69 , hier v. a. 28 ; »Ironischer Schein: Flaubert und die ›Ordnung der Diskurse‹«. In: Ders.: Die Phantasie der Realisten, München 1999 , 150 - 184 [zuerst 1982 ]). 33 Vgl. Thibaudet: Flaubert (Anm. 31 ), 221 - 293 . 34 Hugo Friedrich: Drei Klassiker des französischen Romans. Stendhal - Balzac - Flaubert, Frankfurt/ Main 7 1973 [zuerst 1939 ]. 35 Ebd., 104 und 105 . 36 Ebd., 114 . 37 Ebd., 117 . 38 Ebd., 132 . 39 Ebd., 133 . 40 Ebd., 132 . 41 Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/ München 4 1967 [zuerst 1946 , verfasst zwischen 1942 und 1945 ], 452 . 42 Ebd., 456 . 43 Erich Köhler: »Gustave Flaubert«. In: Ders.: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur, hg. v. Henning Kraus und Dietmar Rieger, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 1987 , 75 - 123 (= Bd. 6 , 2 , Das 19 . Jahrhundert II). 44 Ebd., 115 . <?page no="182"?> 182 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« nach dem »imaginäre[n] Universum eines Autors« 45 , um daraus eine Produktionsästhetik zu entwickeln. Georges Poulet befand in seiner Studie aus dem Jahre 1950 46 , in Flauberts Texten spiegele sich der vergebliche Versuch des Autors wider, zu einer Synthese von »moi« und »non-moi« 47 zu gelangen. Fühle sich das Ich eins mit seiner Umwelt, reagiere der Text mit »tableaux a` n’en plus finir« 48 . Dann aber folge die »de´chirure« 49 , bei der das Ich aus der Synthese des Moments herausfalle und in verzweifelter Sehnsucht nach dem Verlorenen zurückbleibe usw. Aus der zirkulären Abfolge der Zustände solle der Stil durch die Herstellung einer Synthese befreien. Eine ähnlich zirkuläre, aber physiologisch begründete Theorie des Stils legte 1954 Jean-Pierre Richard vor. 50 Flauberts Suche nach Aneignung und literarischer Repräsentation der äußeren Objekte sei in »digestion« und »rumination« 51 dem Prozess der Nahrungsaufnahme (»manger« 52 ) vergleichbar. Einerseits könne der Autor von der Speise nicht genug bekommen, andererseits führe ihr Übermaß zur »nause´e« 53 , in der sich die Objekte auflösten. Durch den »travail stylistique« solle dann wieder eine »perspective de solidification progressive« 54 eröffnet werden. Angesichts der recht heterogenen Stilbegriffe kommt der 1972 erschienenen Monographie Die ästhetische Begriffswelt Flauberts 55 des Hugo-Friedrich-Schülers Gerhard Frey das Verdienst zu, Flauberts ästhetische Positionen Objektivität, impartialite´ , impassibilite´ und impersonnalite´ aus den Briefen heraus - wenn auch als erzähltechnisches Verfahren - entwickelt und gesichert zu haben. Flauberts Schreiben kennzeichne ein »Doppelcharakter« aus leidenschaftslosem, aufs Allgemein-Typische zentriertem Realismus und lyrischem Mitempfinden des Autors. 56 Marthe Roberts Flaubert-Studie En haine du roman (1982) 57 greift im Folgenden auf die Psychoanalyse zurück. Flauberts Texte seien ein Reflex eines aus Liebesenttäuschungen, Krankheit und Elternkritik entstandenen Kindheitstraumas und bewegten sich zwischen den Polen des zu allem entschlossenen »baˆtard« und des vom Leben entsetzten »enfant trouve´« 58 . Zeichne der erstere für die Faktensammlungen und die »livres raisonnables« 59 verantwortlich, so setze der zweite die »livres mystico-fantastiques« 60 und die Arbeit an Satz und sprachlicher Reinheit ins Werk. Daneben konzentrierte sich die Forschung seit den 1980er Jahren zunehmend auf sprachliche, sprachkritische oder narratologische Fragestellungen. Die 1990 erschienene Monographie Flaubert und der Gemeinplatz von Frank Leinen liest Stereotype als 45 Schmider (Anm. 2 ), 56 . 46 Georges Poulet: »Flaubert«. In: Ders.: Etudes sur le temps humain, Paris 1950 , 308 - 326 . Poulet hat 1979 eine überarbeitete Version seines älteren Textes veröffentlicht: »Flaubert«. In: Ders.: Les Me´tamorphoses du cercle, Paris 1979 , 385 - 406 . 47 Poulet: Flaubert ( 1950 , Anm. 46 ), 303 . 48 Ebd., 317 . 49 Ebd., 318 . 50 Jean-Pierre Richard: »La Creation de la Forme chez Flaubert«. In: Ders.: Litte´rature et sensation, Paris 1954 , 119 - 219 . 51 Ebd., 123 . 52 Ebd., 122 . 53 Ebd., 125 . 54 Ebd., 210 . 55 Gerhard Frey: Die ästhetische Begriffswelt Flauberts. Studien zur ästhetischen Terminologie der Briefe Flauberts, München 1972 . 56 Vgl. ebd., 200 . 57 Marthe Robert: En haine du roman. Etude sur Flaubert, Paris 1982 . 58 Vgl. ebd., 51 ff. 59 Ebd., 138 und 142 . 60 Ebd. <?page no="183"?> 183 3.1 Flaubert und die Forschung: Flaubert, »poe`te de la forme« Überwindung der frühen Sprachskepsis Flauberts: Sei sprachliche Authentizität unmöglich, richte Flaubert das verbrauchte Wortmaterial durch bloße zitierende Darstellung wieder zur provisorischen Verwendung her. 61 Ulrich Schulz-Buschhaus führt in seinen Flaubert-Studien aus dem Jahre 1995 Flauberts Objektkompilationen auf die rhetorische Figur des Zeugma zurück, die Reihung semantisch heterogener, syntagmatischer Einheiten, 62 und hält dafür, die Poetik des Zitats sei die Antwort auf die ansonsten angesichts des Primats der ide´es rec ¸ues unvermeidliche »Rhetorik des Verstummens« 63 . Claudia Jünkes narratologische Studie aus dem Jahre 2003 beobachtet in den dargestellten Diskursen allein eine »Referenz auf außerfiktionale Wirklichkeitsmodelle« 64 , der sie eine sozialkritische »Enthüllungsabsicht« 65 und »aktive Polemik« 66 gegen die Dummheit der Zeit unterstellt, bevor 2010 auch die Monographie von Andrea Landvogt narratologisch-linguistisch vorgeht 2010 67 . Yvan Leclerc legt 2007 eine auf Realitätsgehalt, Motive und Bauprinzip der Education konzentrierte Studie vor 68 , und Pierre-Marc de Biasi macht 2009 schließlich auf die literarische Konstruktion der Realität in der Education aufmerksam, die einerseits »factice« und »autore´fe´rence´e«, andererseits aber ein »double du monde qui ne repose que sur lui-meˆme« 69 sei. 3.1.2 Flaubert, poe`te de la forme Im Gegensatz zu einer Forschung, die Flaubert im Wesentlichen für einen Realisten hält, deutet ein anderer Teil Flauberts Stil unter extremer Heterogenität der Methode als Versuch der esoterischen Aufhebung des Faktischen und des Entzugs aller Referenz. Den dazu von Maupassant Ende des 19. Jahrhunderts vertretenen Ansatz hat Marcel Proust in seinem bekannt gewordenen Artikel »A propos du ›style‹ de Flaubert« von 1920 weitergeführt. 70 Obwohl insgesamt gegen Flauberts Stil eher ablehnend, 71 hebt Proust doch die »beaute´ 61 Vgl. Frank Leinen: Flaubert und der Gemeinplatz. Erscheinungsformen der Stereotypie im Werk Gustave Flauberts, Frankfurt a. M./ Bern 1990 , 38 f. 62 Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: »Zeugma und zeugmatische Erfahrung in Flauberts ›L’Education sentimentale‹«. In: Ders.: Flaubert - Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster 1995 , 47 - 62 . Ebenso deskriptiv konstatiert Sylvie Triaire eine Strategie der »de´liaison«: Sylvie Triaire: Une esthe´tique de la de´liaison. Flaubert (1870-1880), Paris 2002 . 63 Ulrich Schulz-Buschhaus: »Statt eines Nachworts: Die moderne Rhetorik des Schweigens und die postmoderne Poetik des Zitats«. In: Ders.: Flaubert (Anm. 62 ), 133 - 142 , hier 139 . 64 Claudia Jünke: Die Polyphonie der Diskurse. Formen narrativer Sprach- und Bewußtseinskritik in Gustave Flauberts ›Madame Bovary‹ und ›L’Education sentimentale‹, Würzburg 2003 , 10 . Freilich hätte dann Sartre unrecht und Flaubert wäre ein auteur engage´ (vgl. zu Sartres Flaubert-Kritik das folgende Unterkapitel). 65 Ebd. 66 Ebd., 14 . 67 Ulrike Landvogt: Discours cite´s. Eine äußerungs- und erzähltechnisch fundierte Typologie der Redewiedergabe am Beispiel von Gustave Flaubert, Heidelberg 2010 . 68 Yvan Leclerc: Gustave Flaubert: L’Education sentimentale, Paris 1997 . 69 Pierre-Marc de Biasi: »›Qu’est-ce que cela veut dire, la re´alite´? ‹ Le cryptage du re´el dans ›L’Education sentimentale‹«. In: Le Flaubert re´el, hg. v. Barbara Vinken und Peter Fröhlicher, Tübingen 1009 , 61 - 78 , hier 78 . De Biasi hat darüber hinaus der Flaubert-Forschung durch die critique ge´ne´tique, also die Forschungen zur Textgenese anhand der Handschriften der Arbeitshefte, neue Impulse gegeben und den älteren Ansatz von Marie-Jeanne Durry erweitert. Vgl. Marie-Jeanne Durry: Flaubert et ses projets ine´dits, Paris 1950 sowie Gustave Flaubert: Carnets de travail, hg. v. Pierre-Marc de Biasi, Paris 1988 . 70 Marcel Proust: »A propos du ›style‹ de Flaubert«. In: La Nouvelle Revue franc ¸aise, 1 . 1 . 1920 , zitiert nach: Philippot (Anm. 2 ), 733 - 744 . 71 Zur Kritik an Prousts Vorwurf, Flaubert habe keine einzige »belle me´taphore« (ebd., 733 ) geschrieben und also einen nicht ganz gelungenen Stil, vgl. Laurent Adert: Les mots des autres. Lieu commun et cre´ation <?page no="184"?> 184 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« grammaticale« 72 hervor, die im spezifisch neuen Gebrauch »du passe´ de´fini, du passe´ inde´fini, du participe pre´sent, de certains pronoms et de certaines pre´positions« 73 , des »imparfait [ … ]« 74 und des »blanc« 75 liege, also in Techniken, die alle »action« in »impression« 76 und Ereignislosigkeit überführten. Ähnlich nennt die Studie von Jean Rousset (1962) 77 - Madame Bovary gewidmet - mit dem Wechsel von Träumerei und Handlung Textelemente des Flaubertschen ›livre sur rien‹, das in reiner Inhalts- und Handlungslosigkeit (»inaction« 78 ) bestehe, nie aber ganz erricht werden könne. Erst das gegen die ältere critique the´matique gerichtete, die Lesart der nouvelle critique bündelnde Kolloquium von Ce´risy (1966) und in seiner Folge vor allem die anglo-amerikanische Postmoderne haben Flauberts literarisches Verfahren zum bloß selbstreferentiellen Spiel der Signifikanten erklärt. In ihrem Aufsatz »Flaubert le pre´curseur« (1965) erhebt Nathalie Sarraute Flauberts ›livre sur rien‹, das »de´barrasse´ des personnages, des intrigues et de tous les vieux accessoires« 79 sei sowie Flauberts »langage vide« 80 , »qui ne renvoie a` rien d’autre qu’a` lui-meˆme« 81 , zum Vorläufer des nouveau roman . Ge´rard Genettes Essai Silences de Flaubert (1966) konstatiert in Flauberts Überfluss an Objektbeschreibungen eine »e´vasion du sens dans le tremblement inde´fini des choses« 82 , die vom »refus de l’expression« künde und den »discours [ … ] a` son envers silencieux« 83 verweise. Roland Barthes führte in seinem Essai L’effet de re´el (1968) aus, Flaubert erzeuge eine »illusion re´fe´rentielle«, bei der »le signifie´ est expulse´ du signe«. 84 So entstehe nur noch ein leerer »effet de re´el«, der das Zeichen entleere (»vider le signe«) und die überkommene, realistisch-mimetische »esthe´tique de la repre´sentation« 85 in Frage stelle. Jonathan Culler hält in seiner Monographie Flaubert. The Uses of Uncertainty (1974) für das Paradigma postmoderner Literarizität. Seine Texte setzten zwar Refernz nicht völlig aufs Spiel, führe aber zu einer thematischen »inconclusiveness« oder »indeterminacy« 86 und »frustrates« auf diese Weise alle Versuche »to make sense of it.« 87 Auch der Artikel von Naomi Schor (1976) dekonstruiert den referentiellen, autorbezogenen Ansatz der critique romanesque dans les œuvres de Gustave Flaubert, Nathalie Sarraute et Robert Pinget, Villeneuve-d’Ascq 1996 , 26 : Proust habe die Effekte der »stylisation du discours des personnages« verkannt. 72 Proust (Anm. 70 ), 734 . Der Anlass des Artikels ist eine Verteidigung Flauberts gegen eine Kritik Albert Thibaudets, die zwei Monate vorher in der Nouvelle Revue franc ¸aise erschienen war (vgl. Philippot, (Anm. 2 ), 719 - 726 ). 73 Ebd., 733 . 74 Ebd., 735 . 75 Ebd., 740 . 76 Ebd., 735 . 77 Jean Rousset: »Madame Bovary ou le livre sur rien«. In: Ders.: Forme et Signification. Essais sur les structures litte´raires de Corneille a´ Claudel, Paris 1962 , 109 - 133 . 78 Ebd., 133 . 79 Nathalie Sarraute: »Flaubert le pre´curseur«. In: Preuves 168 ( 1965 ), 3 - 11 , hier, 11 . 80 Ebd., 11 . 81 Ebd., 4 . 82 Ge´rard Genette: »Silences de Flaubert«. In: Ders.: Figures I, Paris 1966 , 223 - 244 . 83 Ebd., 242 . 84 Roland Barthes: »L’effet de re´el«. In: Ders.: Œuvres comple`tes, hg. v. Eric Marty, Bd. 2 ( 1966 - 1973 ), Paris 1994 , 479 - 484 , hier 484 [zuerst 1968 ]. Schon 1953 hatte Barthes in einem Essai die Auffassung vertreten, bei Flaubert liege eine Art von »enchantement« vor, bei dem »les signes persuadent bien plus qu’ils n’expriment« (Roland Barthes: Le degre´ ze´ro de la litte´rature, Paris 1953 , 54 ). 85 Barthes: Effet ( 1968 , Anm. 84 ), 484 . 86 Jonathan Culler: Flaubert. The Uses of Uncertainty, London 1974 , 136 . 87 Ebd., 19 . <?page no="185"?> 185 3.1 Flaubert und die Forschung: Flaubert, »poe`te de la forme« the´matique , sucht ihn dann aber durch die »critique structuraliste« 88 zu ergänzen und so zu einer subjektlosen e´criture der »the´matique restreinte« 89 zu gelangen, die als Ziel des style den »silence du discours« 90 ansieht. 1978 erkennt dann Shoshana Felman in Flauberts Texten die alle Referenz dekonstruierende Absicht, den Leser über »l’arbitraire du signe« 91 nachdenken zu lassen, die »illusion re´aliste et re´fe´rentielle« 92 zu brechen und so zu einer »lecture qui arreˆte le sens« 93 zu gelangen. In Deutschland argumentiert die Monographie von Ehrhart Linsen (1981), bei Flaubert finde sich ein radikaler Zweifel an der »Ausdrucksfähigkeit der Sprache« 94 , der zur sinnlosen »Redundanz von Leerformeln« 95 und zu einer »Entrealisierung der Objekte« 96 führe. Nicht postmodern, sondern sprachkritisch beschreibt hingegen Pierre Bergounioux (1972) bei Flaubert die vergebliche Sehnsucht, etwas sagen zu wollen, das sich dem »re´seau du signifiant« 97 entzieht. Zu diesem Zweck suche er »de libe´rer le langage de connotations inde´sirables« 98 , rette sich angesichts der Übermacht immergleicher Diskurse in eine nur darstellende »e´criture comme intransivite´« 99 und im Spätwerk in die Erkenntnis sprachlicher Fremdbestimmung. Claudine Gothot-Mersch (1983) deutet Flauberts fortschreitenden Verzicht auf direkte Rede als »me´fiance« 100 gegen den mit Dialogen verbundenen »effet de re´alisme« 101 , der die Arbeit am style erschweren würde, bevor Laurent Aderts Monographie Les mots des autres (1996) 102 den Ansatz von Bergounioux zu einer umfassenden Poetik des Zitats erweitert: 103 Niemals könne sich das Ich erkennend aus der »he´te´rographie« 104 befreien, sondern nur eine »e´criture de [l’]alie´nation« 105 leisten, die aber gerade durch den Verzicht auf das eigene Sprechen der Dummheit entkommt. Die Studie Flaubert, une e´thique de l’art pur von Gise`le Se´ginger (2000) verbindet das Sprachproblem mit dem stilistischen Verfahren und zeigt, dass Flaubert die »repre´sentation du me´diocre« 106 durch eine reine Kunst einer »silence du texte« 107 zu suspendieren suche, dass aber eine »e´criture sans parole« 108 immer eine Illusion bleibe. Harald Nehrs 88 Naomi Schor: »Pour une the´matique restreinte. Ecriture, parole et diffe´rence dans ›Madame Bovary‹«. In: Litte´rature 22 ( 1976 ), 30 - 46 , hier 30 . 89 Ebd., 42 . 90 Ebd., 45 . 91 Shoshana Felman: »Gustave Flaubert. Folie et cliche´«. In: Dies.: La Folie et la chose litte´raire, Paris 1978 , 157 - 213 , hier 167 . 92 Ebd. 93 Ebd., 169 . 94 Ehrhart Linsen: Subjekt-Objektbeziehungen bei Balzac, Flaubert und Nathalie Sarraute unter besonderer Berücksichtigung der Sprachproblematik, Frankfurt a. M./ Bern 1981 , 140 . 95 Ebd., 143 . 96 Ebd., 242 . 97 Pierre Bergounioux: »Flaubert et l’autre«. In: Communications 19 ( 1972 ), 40 - 50 , hier 42 . 98 Ebd., 43 . 99 Ebd., 46 . 100 Claudine Gothot-Mersch: »La parole des personnages«. In: Travail de Flaubert, hg. v. Raymonde Debray-Genette, Paris 1983 , 199 - 221 , hier 202 . 101 Ebd., 203 . 102 Laurent Adert: Mots (Anm. 71 ). 103 Freilich wies schon Auerbachs Mimesis auf die Sprache des Texts selbst hin, die sich als einzige der allgemeinen Dummheit entziehe (vgl. Anm. 41 , 456 ). Vgl. auch Rainer Warning (Anm. 32 , ( 1999 )). 104 Adert: Mots (Anm. 71 ), 24 . 105 Ebd., 168 . 106 Gise`le Se´ginger: Flaubert, une e´thique de l’art pur, Paris 2000 , 107 . 107 Ebd., 162 . 108 Ebd. <?page no="186"?> 186 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Beiträge von 2003 und 2007 gehen den immer schon vom Stereotyp vermittelten Wahrnehmungsformen in der Education nach, die keine getreue Realitätsabbildung leisten, sondern durch den style zeigen, wie ein »kollektive[r] Imaginationsfundus« 109 in Kitsch umschlägt. Der Aufsatz von Olivier Pot (2009) deutet den Stil als »collection« 110 von geschilderten Gegenständen, der zu »de´fonctionnalisation« und »de´rationnalisation« führe und die Objekte jeder »saisie intellectuelle« 111 entziehe. Daneben hat es sich seit den 1970er Jahren eingebürgert, Flauberts Poetik der Referenzlosigkeit ein außerliterarisches, reales und konkret fassbares Motiv zu unterstellen, das etwa in der Biographie des Autors, in der Psychologie oder in den Lehren positiver Wissenschaften gefunden wird. So deutet die große unvollendete Monographie Jean-Paul Sartres, L’Idiot de la famille , Flaubert 1972 aus marxistisch-psychoanalytischer Perspektive. 112 Der Titel ist ein Wortspiel von griech. idiotes , Privatmann, und ›Idiot‹ in der heutigen Bedeutung als geistig Unzurechnungsfähiger - in Anlehnung an Flauberts psychische Krisen ab 1843 - und spielt darauf an, dass Flauberts Schreiben eine doppelte Neurose zugrunde liege, eine subjektive, die sich in Flauberts epileptisch-nervöser, durch mangelnde Elternliebe bedingter Krankheit zeige, sowie eine objektive, die sich aus der widersprüchlichen Situation des Schriftstellers im 19. Jahrhundert zwischen aufklärerisch-humanistischem Ideal und lähmender bürgerlicher Realität ergebe. Führe die erstere Neurose zu einer defizitären Kunst, Flauberts Schreibblockaden und zu seiner geistigen Zurückgebliebenheit, so bedinge die zweite Flauberts spezifische Passivität und die Negativität seiner Literatur, die aus der Sicht von Sartres litte´rature engage´e verurteilt und als bloß solipsistisches Dokument des Scheiterns abgewertet wird. 113 Pierre Bourdieu versteht Flauberts e´criture in seiner 1992 erschienenen Studie Die Regeln der Kunst als »Versuch der Selbstobjektivierung , der Selbstanalyse, der Sozioanalyse« 114 . So manifestiere sich in der Education die sozio-psychologische Genese der »reinen Ästhetik« 115 gemäß der »Logik der doppelten Ablehnung« 116 von Realismus und Formalismus und als Resultat einer am Beispiel Flauberts erläuterten Eroberung künstlerischer Autonomie. Karin Westerwelle (1993) 117 kommt auf psychoanalytische oder psychologische Ansätze zurück und deutet etwa Madame Bovary als Hysterikerin, in deren 109 Harald Nehr: Das sentimentalische Objekt. Die Kritik der Romantik in Flauberts ›Education sentimentale‹, Heidelberg 2007 , 13 . Ebenso Ders.: »Sehen im Klischee - Schreiben im Klischee. Zum Verhältnis von Wahrnehmung, bildender Kunst und Künstlern in Gustave Flauberts ›Education sentimentale‹«. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 27 ( 2003 ), 117 - 130 . 110 Olivier Pot: »Re´alisme du lieu commun: le fantasme de la collection«. In: Le Flaubert re´el (Anm. 69 ), 79 - 104 , hier 100 . 111 Ebd., 99 . 112 Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857, 4 Bde., Hamburg 1977 - 1979 [zuerst 1971 u. d. T.: L’Idiot de la famille. Gustave Flaubert 1821-1857, Paris 1971 - 1972 ]. Zur Deutung des Werks vgl. Traugott König: »Von der Neurose zur absoluten Kunst«. In: Sartres Flaubert lesen. Essays zu ›Der Idiot der Familie‹, hg. v. Traugott König, Hamburg 1980 , 9 - 26 ; Manfred Frank: »Archäologie des Individuums. Zur Hermeneutik von Sartres ›Flaubert‹«. In: Ders.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt/ Main 1989 , 256 - 333 . Zur Kritik an Sartres Ansatz vgl. Karin Westerwelle: Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit. Balzac, Baudelaire, Flaubert, Stuttgart 1993 , 338 f. 113 Vgl. Sartre: Idiot (Anm. 112 ), Bd. IV, 147 - 204 . 114 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/ Main 1999 , 54 f. [zuerst 1992 u. d. T.: Les re`gles de l’art. Gene`se et structure du champ litte´raire, Paris]. 115 Ebd., 174 . 116 Ebd. 117 Westerwelle: Ästhetisches Interesse (Anm. 112 ). <?page no="187"?> 187 3.1 Flaubert und die Forschung: Flaubert, »poe`te de la forme« Leiden und Todesszene sich Flauberts Lebens- und Kunstekel reflektiere, der nicht abgebaut, sondern nur wie bei einer Vergiftung - bei Madame Bovary durch Arsen, bei Flaubert durch Tinte - erbrochen werden könne. Die Monographie Sprachkunst und Kunstsprache von Klaus Pape (1996) 118 diagnostiziert bei Flaubert hingegen ein Trauma der Sprache: Weil sie das Denken nur unvollständig und in einem »Akt der Aggression« 119 fixiere, lade sie ihm gegenüber eine Schuld auf sich, die Flaubert durch die freilich nie zu erreichende Aufhebung des semantischen Gehalts abzutragen suche. Ähnlich wie schon Westerwelle sieht 1999 auch Jana Ziganke bei Flaubert »Inkorporationsphantasmen« 120 am Werk, die die Texte als Körper des Autors durchsichtig machen, der die beˆtise voller Ekel in sich aufnimmt und an ihr zu ersticken droht. Sich aber mittels Sprache von der Sprache zu reinigen, sei, wiewohl immer angestrebt, unmöglich. Im Sinne einer Liquidierung romantischer Subjektivität oder einer Negativität des Subjekts liest die Arbeit Asketisches Schreiben von Jörg Dünne (2003) Flauberts style -Projekt. In der Askese des Textes arbeite das Subjekt kontrolliert an der Selbstdistanzierung, 121 könne sich aber der romantischen Selbstaffektion nicht entziehen und veräußere am Ende seine starke Subjektivität an die Dummheit des zitierten »Diskursuniversums« 122 . Christine Schmiders Aufsatz aus dem Jahre 2005 konstatiert in Flauberts Schreibverfahren das Zusammenspiel von asketisch-männlichem Triebverzicht und weiblich-schlaffer exzessiver Sättigung. 123 Flaubert mache mittels einer »exorzistischen[n] Geste gegenüber einer fantasmatischen Weiblichkeitsimagination« 124 den Verzicht literarisch fruchtbar. Als asketisches Schriftprojekt einer Entäußerung des empirischen Eigenen liest Flaubert schließlich auch Barbara Vinkens Studie Durchkreuzte Moderne (2009). 125 Dabei bemüht sie das Vorbild der Kenosis, also der Selbstentäußerung Christi, in der sich als durchkreuztes Kreuz die »Unzulänglichkeit alles Menschlichen« 126 zeige und in deren literarisch-stilistischer Modifikation Vinken eine spezifische »Kastrationsdynamik« 127 Flauberts am Werk sieht. Andere Forschungen der neuesten Zeit sind zunehmend durch eine erneute, schon von Richard 1954 in Anschlag gebrachte Hinwendung zu den Lebenswissenschaften gekennzeichnet. So schlägt Christine Ott 2006 mit einer »poe´tique alimentaire« 128 bei Flaubert ein physiologisches Konzept des Stils zwischen Verschlingen und Askese vor, Thomas Stöber stellt im selben Jahr eine Opposition zwischen kalter Distanzierung und einer biologistisch-vitalistischen, »exzessive[n] e´criture« 129 aus »Norm-Transgressionen« 130 und Gewalt fest, Martin Koppenfels spricht 2007 von einer Affektpolitik Flauberts, 118 Klaus Pape: Sprachkunst und Kunstsprache bei Flaubert und Kafka, St. Ingbert 1996 . 119 Ebd., 55 . 120 Jana Ziganke: Infinite Schreibstrategien bei Sade, Flaubert und Beckett, Bielefeld 1999 , 116 . 121 Vgl. Jörg Dünne: Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne, Tübingen 2003 , 228 und 256 . 122 Ebd., 363 . 123 Christine Schmider: »Visionen der Askese. Orgiastisches Schreiben bei Gustave Flaubert«. In: Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung, hg. v. Irmela Marei Krüger-Fürhoff und Tanja Nusser, Bielefeld 2005 , 115 - 132 , hier 125 ff. 124 Ebd., 130 . 125 Vgl. Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt/ Main 2009 , 13 . 126 Ebd., 26 . 127 Ebd., 19 . 128 Christine Ott: »Die´te´tique litte´raire et poe´tique alimentaire chez Flaubert«. In: Nouvelles Lectures de Flaubert. Recherches allemandes, hg. v. Jeanne Bem und Uwe Dethloff, Tübingen 2006 , 9 - 25 . 129 Thomas Stöber: Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus - Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola, Tübingen 2006 , 100 . 130 Ebd., 14 . <?page no="188"?> 188 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« der sich als »immuner Erzähler« 131 zu einem »Pathos der Distanz« 132 umerzieht und sich der im Roman geschilderten Gefühlswelt verweigert, um sich nicht selbst mit ihr zu infizieren, und Niklas Bender deutet 2009 die Education als literarischen Ort einer »wechselseitigen Durchdringung« 133 von Geschichtsinszenierung und lebenswissenschaftlichem Diskurs. Die Monographie von Michel Brix (2010) versteht Flauberts e´criture dann literarhistorisch als ästhetische »rupture radicale dans l’histoire de la cre´ation litte´raire« 134 , weil sie sich gegen die »esthe´tique subjectiviste des re´alistes« 135 wende, bevor die Studie Stil als Schöpfung (2013) von Cordula Reichart Flauberts Stil in seinem »heuristischen, geistesgeschichtlichen und kulturhistorischen Potenzial« 136 erschließen möchte und in der Lösung von der Referenz Flauberts Versuch erkennt, den modernen Stilbegriff als Durchkreuzung ( rewriting ) der klassischen, logozentrischen und abendländisch-aufgeklärten Tradition, vor allem der »ikonoklastischen Ästhetik des Christentums« 137 , neu zu bestimmen. Bei aller Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Thesen ist freilich auffällig, dass Flauberts e´criture der Referenz ebenso wie diejenige der Referenzlosigkeit auf ein Spiel zweier Momente zurückgeführt wird. Der Realist Flaubert nutze den style (1) zur Repräsentation von Welt (2), wohingegen sich der antirealistische Flaubert des style (1) bediene, um die dargestellte Wirklichkeit - oder Subjektivität oder psychische Dispositionen - (2) aufzulösen. Die Bewertung des style entscheidet also über die Kategorisierung Flauberts. Nun will aber scheinen, dass die Ausschließlichkeit der Positionen Flauberts Literaturverfahren nicht gerecht wird. Die Befürworter des Realismus verkennen jene »haine du re´alisme« (Corr II, 643/ 30. 10. 1856) und den »affranchissement de la mate´rialite´« (ebd., 31/ 16. 1. 1852), die Flaubert in seinen Briefen als Fluchtpunkt seines Schreibens ausgab. Die Parteigänger leerer Signifikanz hingegen ignorieren den durchaus vorhandenen mimetischen plot , der ohne die vom Autor verzweifelt gesuchten »faits re´els« (Corr III, 734/ 14. 3. 1868) nicht voranschreiten konnte: » L’Education sentimentale en reste la`. Les faits me manquent.« (ebd., 319/ 15. 4. 1863) So lässt sich das scheinbare Paradox auflösen, demzufolge derselbe style zu zwei miteinander unvereinbaren Resultaten führe: In Wahrheit ist der Stil als Synthesis konzipiert, die beide Momente, Referenz und Referenzlosigkeit, umfasst, und er kann es umso mehr, als er bei Flaubert nicht nur eine inventarisierbare Erzähltechnik, sondern vor allem eine Poetik meint. Sind Flauberts hinlänglich bekannte Maximen impersonnalite´ , impassibilite´ und impartialite´ ebenso wie die berühmten blancs und der Gebrauch des imparfait also nichts als erzähltechnische Mittel zur Repräsentation einer zwar radikal neuen, aber immer noch durchaus realistischen Art der Verschriftlichung von Welt, so ist der Stil auch die ideale Poetik der Negativität, die alle exoterischen Bilder durchstreichen und den schönen esoterischen Schein der Zeichenlosigkeit herstellen soll. Es geht damit um den Status der Bilder: Nicht Mimesis, sondern Tilgung der Wirklicheit soll herrschen, und dabei muss 131 Vgl. Martin Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007 , 112 ff. 132 Ebd., 110 . 133 Niklas Bender: Kampf der Paradigmen. Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin. Flaubert, Zola, Fontane, Heidelberg 2009 , 20 . 134 Michel Brix: L’Attila du roman. Flaubert et les origines de la modernite´ litte´raire, Paris 2010 , 7 . 135 Ebd., 58 . 136 Cordula Reichart: Stil als Schöpfung. Zur Genesis der Moderne bei Baudelaire und Flaubert, München 2013 , 217 . 137 Ebd., 320 . <?page no="189"?> 189 3.2 Flaubert und die Selbsterfassung dennoch gelten, dass die zwei Ebenen des Stils, Exoterik und Esoterik, nicht voneinander zu trennen sind und Referenzlosigkeit ebenso wenig auf Kosten des Realismus starkzumachen ist wie umgekehrt. Denn damit nichts ist, muss vorher etwas sein, und so bedarf der Stil für sein Werk der Vernichtung gerade der von ihm perhorrheszierten seienden Wirklichkeit, die er mit seiner niemals still zu stellenden ›Furie des Verschwindens‹ verfolgt. Seit langem und bis heute wird Flaubert dank seiner negativen e´criture mit dem emphatischen Attribut der Modernität, ja des ›Vaters‹ der modernen Literatur ausgezeichnet: »Qui mettrait en doute, de nos jours, que l’e´crivain normand est le pe`re de la fiction moderne, celle qui met l’accent, non sur l’e´ve´nement raconte´, mais sur la manie`re dont cet e´ve´nement est raconte´? « 138 Dabei wurde freilich zumeist übersehen, dass selbst die Zeugung der Moderne keine creatio ex nihilo ist. Auch Väter haben - zumindest auf Erden - Vorbilder. Nun findet aber in Flauberts Briefen kein Name häufiger rühmende Erwähnung als derjenige Goethes. Voller Bewunderung las Flaubert ab den 1830er Jahren Goethes Werke, betrieb einen regelrechten Goethe-Kult und strafte all diejenigen mit Verachtung, die sich seiner Begeisterung nicht anschlossen. Nicht nur als Vorläufer in Erzähltechnik und persönlichem Stil betrachtete Flaubert aber den Deutschen, so dass er etwa den Grundsatz der quasi-wissenschaftlichen Objektivität des Erzählens von ihm übernehmen konnte. Auch und vor allem auf die Poetik der Negativität war Flaubert bei Goethe gestoßen, und damit auf das Prinzip der Bilderkritik, das er freilich entscheidend modifizierte. So hatte er früher als andere die Pragmatik der Lehrjahre begriffen, die er in ihrer Esoterik als Anti-Bildungsroman erkannte, und konzipierte schon die erste, besonders aber die zweite Education als ihren französischen Nachfahren. Es wird im Flaubert-Teil dieser Arbeit daher nun zunächst darum gehen, Flauberts style von Goethe her als Spiel von Exoterik und Esoterik zu verstehen und ihn damit als ästhetisches Verfahren, nicht als Ausdruck einer psychischen Befindlichkeit, zu begreifen. In einem zweiten Schritt wird die Education als literarische Filiation der Lehrjahre in den Blick genommen und auf ihre stilistischen und intertextuellen Einschreibungen hin analysiert. Damit ist das Ziel ein doppeltes: Zum einen mit dem erstmals durchgeführten Vergleich der beiden epochalen Romane einem Desiderat der Forschung Abhilfe zu schaffen, zum anderen die literarische Moderne in Frankreich in ihrer Abkünftigkeit aus der Weimarer Klassik zu verorten. 3.2 Flaubert und die Selbsterfassung Ursprünglich entstammt Flauberts Schreiben der Suche nach Selbsterfassung, die von einer grundsätzlichen Sprach- und Erkenntniskritik und einem Misstrauen gegen romantische Allmachtsphantasien absoluter Subjektivität bestimmt ist. So klagt der Autor früh darüber, wie schwer sein Ich, das Schöne oder überhaupt das Reich der Ideen in Worte zu fassen seien. Die Relevanz seiner Überlegungen lässt sich in der Entwicklung vom Frühzum Spätwerk nachzeichnen und für die Bereiche der Identitätskonstituierung, der Sprache und des literarischen Stils beschreiben. Dass Flaubert sich transzendentalkritisch reflektierte und zu begründen suchte, ist bekannt. Briefwechsel und Frühwerk benennen als ›analyse‹, ›critique‹, ›anatomie‹ oder ›dissection‹ eine Selbstbeobachtung, die unter der Hülle der Physis mit naturwissenschaftlicher Objektivität das Ich freilegen will. »Je me suis moi-meˆme fran- 138 Brix: L’Attila du roman (Anm. 134 ), 8 . <?page no="190"?> 190 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« chement disse´que´ au vif« (Corr II, 346/ 6. 6. 1853) 139 , heißt es in einem Brief von 1853, und von seiner »manie de l’analyse« (Corr I, 282/ 8./ 9. 8. 1846) komme er, Flaubert, nicht los. Die Figur des Jules aus der ersten Education sentimentale (1843-45) teilt diese Leidenschaft: »[C]hez lui, comme chez les autres il e´tudiait l’organisme complique´ des passions et des ide´es, il se scrutait sans pitie´, se disse´quait comme un cadavre« 140 , »se de´taillait, se de´crivait, s’analysait jusqu’a` la dernie`re fibre, se regardait au microscope, ou se contemplait dans son ensemble.« 141 Wer sich aber beständig zu sich selbst ins Verhältnis setzt, ist nie ganz bei sich. Auch Flaubert wusste, dass sein Hang zur Selbstzergliederung ebenso »de´plorable« (Corr I, 282/ 8./ 9. 8. 1846) wie »peu droˆ le [ … ]« (Corr II, 346/ 6. 6. 1853) war. Dass überhaupt galt: »Penser, c’est le moyen de souffrir« (Corr I, 273/ 4./ 5. 8. 1846), bestätigte noch Flauberts Nichte Caroline Commanville in ihren Souvenirs intimes : »Il y avait dans la nature de Gustave Flaubert une sorte d’impossibilite´ au bonheur, et cela par un besoin continuel de retourner sans cesse en arrie`re, de comparer, d’analyser.« 142 Besaß die Reflexion Nachteile für das Leben, lohnte sie sich doch für die literarische Arbeit. 1852 fasste Flaubert das Ergebnis seiner »observation merveilleuse du moi« 143 in Worte, die immer wieder zitiert werden: Il y a en moi, litte´rairement parlant, deux bonshommes distincts: un qui est e´pris de gueulades , de lyrisme, de grands vols d’aigle, de toutes les sonorite´s de la phrase et des sommets de l’ide´e; un autre qui fouille et creuse le vrai tant qu’il peut, qui aime a` accuser le petit fait aussi puissamment que le grand, qui voudrait vous faire sentir presque mate´riellement les choses qu’il reproduit; celui-la` aime a` rire et se plaı ˆt dans les animalite´s de l’homme (Corr II, 30/ 16. 01. 1852). Das Ich (»moi«) bestehe aus einem Streben nach Ablösung von allem Irdischen und einem entgegengesetzten Streben zum Faktischen. Schwinge sich das erstere zu den Höhen der Idee auf, konzentriere sich das zweite auf die Materialität der Dinge und die naturhaft-tierische Seite des Menschen. Ein Mischwesen aus Geist und Körper ist der Mensch also. Aus seiner spezifischen Verfasstheit ergibt sich eine Zerrissenheit, die das Ich sich immer als das andere seiner selbst wahrnehmen lässt und die Identität zersetzt: »[J]’ai cru me connaı ˆtre dans un temps, mais a` force de m’analyser je ne sais plus du tout ce que je suis.« (Corr I, 246/ 10. 07. 1845) Als Gegensatz von Geist und Natur oder von Subjekt und Objekt erwog schon die Romantik die Aporie des Bewusstseins, und Flaubert erinnert sie in Tagebüchern, Korrespondenz und Werken: Der Körper ist ontonom durch Naturgesetze bestimmt, die Prinzipien des Geistes hingegen sind Autonomie und reine Freiheit, die dazu nötigen, sich über alle Einschränkung hinwegzusetzen. Nur ein Geist, der sich aus allen Fesseln befreit hätte, könnte sich rein erfassen. Werke und Briefe bezeugen, dass Flauberts Reflexionen daher schon von Beginn an um die Forderung kreisen, alles Irdische hinter sich zu lassen. Selbsterfassung bedeutet die radikale, aber problematische Entsagung von der Empirie, und 139 Schon 1838 begegnet die Metapher des Sezierens: »Je disse`que sans cesse« (Corr I, 35 / 26 . 12 . 38 ). Flauberts Werke und Briefe werden (wie z. T. schon erwähnt) hier und hinfort nach folgenden Ausgaben zitiert: Gustave Flaubert: Correspondance, hg. v. Jean Bruneau und Yvan Leclerc, 5 Bde., Paris: Gallimard 1973 - 2007 [Bd. 1 : 1973 ; Bd. 2 : 1980 ; Bd. 3 : 1991 ; Bd. 4 : 1998 ; Bd. 5 : 2007 , zitiert als Corr mit römischer Band- und arabischer Seitenangabe sowie Datum]; Gustave Flaubert: Œuvres de jeunesse, hg. v. Claudine Gothot-Mersch und Guy Sagnes, Paris: Gallimard 2001 [zitiert als OJ mit Seitenangabe]; Gustave Flaubert: L’Education sentimentale. In: G. F.: Œuvres, hg. v. Albert Thibaudet und Rene´ Dumesnil, Paris: Gallimard 1952 , 31 - 457 [zitiert als ES mit Seitenangabe]. Andere Werke werden an Ort und Stelle zitiert. 140 Flaubert: L’Education sentimentale (1845). In: OJ 833 - 1080 , hier 963 . Weiterhin zitiert als ES ( 1845 ). 141 Ebd., 1007 . 142 Caroline Commanville: Souvenirs intimes (Anm. 14 ), XXXII. 143 ES ( 1845 ), 1070 . <?page no="191"?> 191 3.2 Flaubert und die Selbsterfassung daraus speisen sich von Beginn an Flauberts Verachtung des bloß Physischen ebenso wie seine suizidalen Phantasien. Die Entdeckung der ›deux bonshommes‹ und ihres Dualismus ist freilich älter als der Brief von 1852. 144 Schon Mitte 1846 hält Flaubert in einem Brief fest: [ … ] j’ai fait nettement pour mon usage deux parts dans le monde et dans moi: d’un coˆ te´ l’e´le´ment externe, que je de´sire varie´, multicolore, harmonique, immense, et dont je n’accepte rien que le spectacle, d’en jouir; de l’autre l’e´le´ment interne, que je concentre afin de le rendre plus dense et dans lequel je laisse pe´ne´trer, a` pleines effluves, les plus purs rayons de l’Esprit, par la feneˆtre ouverte de l’intelligence (Corr I, 322/ 31. 8. 1846). Auch hier begegnet die Zweiteilung des Ich in differente Relate. Dem empirischen und ganz auf Sinnlichkeit begrenzten Äußeren (»l’e´le´ment externe«) wird eine Innenwelt (»l’e´le´ment interne«) gegenübergestellt, die das Reich des reinen Geistes umfasst. Dessen Bürger zu werden, ist nicht gefahrlos. Bereits in Smar (entstanden 1838/ 39 145 ) wird - als Faust - Variation - die Versuchung des Menschen durch den ins Unendliche strebenden Geist erzählt. Schon hat der nach Erkenntnis suchende Einsiedler Smar sich vom Weltenlärm zurückgezogen. In einer Art neuem Sündenfall folgt er aber alsbald der Verheißung Satans, erst dann frei, unbedingt und wie Gott zu sein, wenn er sich radikal von allem Physischen löse. Gibt der Geist aber der Verlockung des Meta-Physischen nach und schwingt sich wie Smar zum Flug in die reine Freiheit auf, stellt er alsbald fest, dass ihm nichts Irdisches mehr genügen kann: Niemals, das ist die Lehre aus Smars nun folgendem, ebenso verzweifeltem wie vergeblichem Abstieg in die Niederungen des Hiesigen, kann selbst das Gesamt an Endlichem dem Absoluten kommensurabel werden. Also triumphiert der Teufel, und Smar bezahlt seine Hybris durch eine Defizienz an Sein. Wohl mag er nun das Gewicht der Physis beklagen: »[P]rison de chair, je te maudis! [ … ] pourquoi suis-je attache´ a` ce cadavre qui me traı ˆne sur la terre, moi qui veux voler dans les cieux et partir dans l’infini? « 146 Die ›Erdenschwere‹ des Physischen - um ein Wort Kafkas zu verwenden - hält den zum Unendlichen strebenden Geist gleichwohl auf der Erde fest und fesselt ihn ans immer unzulängliche Empirische. Wer einmal reflektiert hat, lautet die Moral dieses ins Säkulare gewendeten Sündenfallmythos, gewinnt Denken und Bewusstsein nur um den Preis eines problematischen Selbstverhältnisses und der Einsicht in die Unfreiheit des Geistes. 1863 heißt es bündig: »Hommes d’aspirations ce´lestes, nous sommes tous enfonce´s dans les fanges de la terre jusqu’au cou.« (Corr III, 353/ 23. 10. 1863) Wie in Kafkas bekanntem Kettenaphorismus aus der Zürauer Zeit 147 erscheint der Mensch als defizientes Doppelwesen, das seine beiden Pole Körper und Geist zu keiner Synthese zusammenzubinden weiß. Am Erreichen des Unendlichen hindert ihn die irdische Bürde, am Aufgehen in der reflexionslosen Physis die Disponiertheit zum Geist: Oh! la chair, la chair! de´mon qui revient sans cesse, vous arrache le livre des mains et la gaı ˆte´ du cœur, vous fait sombre, fe´roce, e´goı ¨ste et sui gaudens ; on le repousse, il revient, on y ce`de avec enivrement, on s’y rue, on s’y e´tale, la narine s’ouvre, le muscle se tend, le cœur palpite, on retombe l’œuil humide, ennuye´, brise´. C’est la` la vie: un espoir et une de´ception. 148 144 Auf die Relevanz der Entdeckung für Flauberts Sprachbegriff und Dichtung wird im Kapitel 3 . 4 des Flaubert-Teils dieser Arbeit eingegangen. 145 Vgl. OJ, 1398 . 146 Flaubert: Smar. Vieux myste`re. In: OJ 537 - 615 , hier 612 . 147 Zum Verhältnis Kafkas zu Flaubert vgl. das Kapitel 4 . 6 des Kafka-Teils dieser Arbeit. 148 Flaubert: [Cahier intime de 1840-1841]. In: OJ 727 - 756 , hier 744 . <?page no="192"?> 192 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Unter dem Blickwinkel des Geistes sei das Leben ein Dämon, weil es sich mit dem Versprechen von physischer Selbstzufriedenheit (»sui gaudens«) und der Hoffnung auf Heimat in den Sinnen und im Hiesigen niemals abweisen lasse. Gern schenkt der empirische Teil des Menschen dieser Verheißung Glauben. Doch der Geist sorgt dafür, dass die Hoffnung regelmäßig enttäuscht werde. Nicht in tierisch-sinnlicher Vitalistik finde Genügen, wer seine Freude gerade in die lebensferne Weltabgeschiedenheit eines Buchs und damit in den Bereich der Literatur setze. Wer Freiheit, Identität und Erkenntnis sucht, muss missbilligen, dass nicht nur im Bereich theoretischer Vernunft, sondern auch auf dem Gebiet des praktischen Handelns nur allzu leicht das irreflexive Empirische die Oberhand behält. Besonders im Bereich des eros muss das Ich seine Entmächtigung eingestehen. Dass kategorische Pflicht und moralisches Handeln in Liebessachen keine bindenden Instanzen sind, hat Flaubert schon in seinen frühen Romanen gestaltet. Ehebruch, gewissenlose Kreuzung von Mensch und Affe sowie blutige Vergewaltigung sind nur einige der Variationen des Themas, die Quidquid volueris und die erste Education durchspielen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich schon aus Gründen der Vorsicht das reine Denken aus der Liebe zwischen Mann und Frau verbannt sehe: »[N]e leur dites pas [aux femmes, M. K.] qu’il y a en vous une aspiration e´norme de retourner a` l’inconnu, a` l’infini [ … ]. Ne leur dites pas, oˆ penseurs au front paˆle, ne leur dites pas de vous accompagner dans votre voyage ni de gravir la montagne avec vous; car elles n’ont pas l’œil assez suˆ r pour contempler les pre´cipices de la pense´e, ni la poitrine assez large pour respirer l’air des hautes re´gions.« 149 Geschlechterstereotyp wird den Männern das Denken, den Frauen das Gefühl zuerkannt. Das ›Ewig-Weibliche‹ ziehe also nicht ›hinan‹, sondern nur hinab in die Niederungen der Sinnlichkeit, und besser sei es daher, vom Geist ganz zu schweigen: Ein partnerschaftliches Leben nach seinen Gesetzen sei aufgrund der Defizienz der Frau unmöglich. Vielleicht darf man in den Zeilen auch eine resignierte Anspielung auf Louise Colet vermuten. Flauberts Briefwechsel mit seiner Geliebten kündet vom langjährigen Versuch, die junge Frau zum Verzicht auf Sinnlichkeit und stattdessen zur Liebe in und durch Schrift zu überreden. 150 Nicht in erfüllter Erotik, sondern in ihrer Aufopferung für den Erkenntniswillen des Geistes liege das Heil einer Liebesbeziehung, und man kann in der schieren Quantität des Geschriebenen durchaus das Bedürfnis Flauberts sehen, den »sacrifice« (Corr II, 402/ 21. 8. 1853) des Gefühls einzufordern, den eros zu sublimieren und sich die junge Frau - im Wortsinn - buchstäblich vom Leib zu halten. Nie hat Louise Colet wohl ihren Geliebten verstanden. Was sollte sie auch von einem Mann halten, der gerade einem seiner Freunde voller Stolz mitgeteilt hatte: »Je rentre [ … ] plus que jamais dans l’ide´e pure, dans l’infini« (Corr I, 263/ 7. 4. 1846), und der daher nun auch von ihr den Verzicht auf Zweisamkeit und Hingabe einforderte? Kaum ließ er ja einen Zweifel an dem, was für ihn Priorität besaß: »Mais ce n’est pas tout que d’eˆtre aime´. La vie ne se passe pas en effusions de tendresse. Cela est bon, cela est exquis a` des moments rares et solennels. Ce qui rend les jours doux, c’est l’e´panchement de l’esprit, la communion des ide´es, les confidences des reˆves qu’on fait [ … ].« (ebd., 339/ 13. 9. 1846) Besser als krude Sinnlichkeit seien das Denken und 149 ES ( 1845 ), 951 . 150 Vgl. dazu Barbara Vinken: Durchkreuzte Moderne (Anm. 125 ), 46 und 53 - 58 . Natürlich wurden auch Probleme der Kunst verhandelt, und Flaubert schärfte die Grundsätze seiner Poetik gerade am Widerstand, den Louise Colet ihnen entgegenbrachte. <?page no="193"?> 193 3.2 Flaubert und die Selbsterfassung die gemeinsame Teilhabe am Reich der Ideen. So grenzt Flaubert im Brief an Louise Colet vom 21. 8. 1853 die Neigungen des Körpers und des Geistes deutlich voneinander ab: Les satisfactions du corps et de la teˆte n’ont rien de commun. [ … ] Si vous voulez a` la fois chercher le Bonheur et le Beau, vous n’atteindrez ni a` l’un, ni a` l’autre. Car le second n’arrive que par le Sacrifice. L’art, comme le dieu des Juifs, se repaı ˆt d’holocaustes. Allons! de´chire-toi, flagelle-toi, roule-toi dans la cendre, avilis la matie`re, crache sur ton corps, arrache ton cœur; tu seras seul, tes pieds saigneront. [ … ] Mais [ … ] tu seras e´claire´e du dedans. - Tu te sentiras le´ger et tout esprit. Et apre`s chaque saigne´e la chair pe`sera moins (Corr II, 402/ 21. 8. 1853). 151 Der jungen Frau wird eine Mortifikation empfohlen. Um ›ganz Geist‹ (»tout esprit«) zu werden, habe sie das Gewicht der Erdenschwere auf ein Mindestmaß zu reduzieren: Der Körper soll durch Selbstkasteiung und Vernichtung (»holocauste«) weitgehend ausgelöscht werden. Dann sei der Mensch leichter (»le´ger«), ihn binde immer weniger ans Irdische und er könne sich umso eher ins Reich der Freiheit, der Schönheit und des Geistes aufschwingen. Die drastische Wortwahl spricht für die Relevanz, die Flaubert seinem Anliegen beimisst. Zerreißen (»de´chirer«) solle Louise Colet sich, sich geißeln (»se flageller«), den Körper bespucken und sich das Herz herausreißen. Die Freuden des Kopfes (»les satisfactions de la teˆte«) fordern ihr Opfer. 152 Die Beziehung Flaubert-Colet konnte auf dieser Grundlage nicht mehr gedeihen. Weder einsam (»seul«) wollen Liebende gemeinhin sein noch auf Leidenschaft verzichten, und so trug sich Louise Colet zunehmend schwer mit ihrem widerspenstigen Liebhaber. Der endgültige Bruch mit Flaubert im Jahre 1855 ist wohl auf ihre Beziehung mit Alfred de Vigny zurückzuführen - sowie darauf, dass Flaubert seinerseits dem Fleischlichen Tribut gezollt hatte. Seine schon 1854 begonnene Liaison mit der Schauspielerin Be´atrix Person 153 strafte das asketische Ethos seiner Korrespondenz Lügen und stellte nachdrücklich unter Beweis, dass die Verlockungen des Irdischen die Bemühungen um Selbsterkenntnis, Geistwerdung und Freiheit beständig hintertrieben. Längst schon hatte Flaubert aber neben dem eros einen weiteren Bereich ausgemacht, der Erdenschwere unabweisbar vor Augen führte: die Gesetze und Konventionen der bürgerlichen Außenwelt. Man weiß, in welchem Ausmaß in Frankreich nach den gescheiterten Revolutionen von 1830 und 1848 der status quo der Bourgeoisie dominierte, 154 und schon 151 Jörg Dünne hat gezeigt, dass Flaubert in seinen Briefen eine empfängerspezifische Strategie verfolgte. Weiblichen Briefpartnerinnen und ihrer vorgeblichen Emotionalität gegenüber betonte er die Anforderungen des Geistes (der von Dünne sogenannten ›schwachen Subjektivität‹) und festigte die eigene Position. Hingegen findet sich in den Briefen an männliche Briefpartner vor allem der Ausdruck ›starker Subjektivität‹, also der sich selbst unproblematischen, empirischen Existenz (vgl. Dünne: Asketisches Schreiben (Anm. 121 ), 234 , 252 ). 152 Ähnlich nachdrücklich hat später Kafka die Vernichtung des Körpers eingefordert. Selbstmordphantasien und das in Tagebüchern und Werken immer wiederkehrende Messermotiv sprechen von immer neuen Versuchen, sich der Heteronomie des Daseins zu entledigen. Vgl. dazu ausführlich den Kafka-Teil der Arbeit. 153 Bereits seit August 1854 gibt es keinen Kontakt mehr zwischen Flaubert und Colet, die sich während der ganzen Beziehung nur zwanzig Mal sahen (vgl. Dictionnaire Gustave Flaubert, hg. v. Jean-Benoı ˆt Guinot, Paris 2010 , s.v. Colet (Louise), 152 .). Weiterhin wird das Werk zitiert als Dictionnaire Flaubert. Zur Beziehung Flauberts vgl. Brief vom 2 . 8 . 1854 und Kommentar (Corr. II, 1261 ), zur Beziehung Colets vgl. Kommentar (Corr II, 1258 ). 154 Vgl. dazu etwa Stefan Suchanek-Fröhlich: »Der Aufstieg des Bürgertums zur Macht«. In: Ders.: Kulturgeschichte Frankreichs, Stuttgart 1966 , 554 - 617 ; G. de Bertier de Sauvigny: Die Geschichte der Franzosen, Hamburg 1980 , 298 , 303 ff. und 309 ff.; Frankreich. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, hg. v. Günther Haensch und Hans J. Tümmers, München 1991 , 38 - 44 , hier 43 . <?page no="194"?> 194 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Flauberts frühe Werke und Briefe explizieren in diesem Sinne die sozial-ökonomischen Zwänge, denen das gesellschaftliche Leben unterworfen war. Sie betrafen das, was das 19. Jahrhundert »choisir un e´tat« (Corr I, 49/ 23. 7. 1839) nannte, also Berufswahl und bürgerliche Existenz. Bereits seit den 1830er Jahren beklagt Flaubert wie die meisten seiner literarischen Figuren, dass vor dem Hintergrund der bourgeoisen Normierung des gesellschaftlichen Handelns kaum Spielräume für den Geist bestünden. Der Zwang des comme il faut sowie des on (›man‹) mit seinen unreflektierten Vorurteilen - von Flaubert später im Dictionnaire des ide´es rec ¸ues katalogisiert - bestimmt die Karrieren und Erwartungen. Noch 1872 macht Flaubert aus seiner Verachtung keinen Hehl: »Quel eˆtre que on ! En voila` un que je me´prise profonde´ment! Il faut tout faire en vue de sa propre conside´ration a` soi et pisser sur la teˆte de on « (Corr IV, 571/ 8. 9. 1872). Doch auch sprachliche Drastik verhehlt nicht, dass die Selbstbestimmung misslang. Schon dem jungen Flaubert gilt als ausgemacht, dass Wert und Stellung eines Menschen allein nach dem gesellschaftlichen Nutzen bewertet würden: »[I]l faut eˆtre un homme utile et prendre sa part au gaˆteau des rois en faisant du bien a` l’humanite´ et en s’empiffrant d’argent le plus possible« (Corr I, 49/ 23. 7. 1839). Um also ein »homme honneˆte« (ebd.) zu werden, müsse man sich dem Gang der verhassten bürgerlichen Gesellschaft anpassen: »Allons, faisons-nous bien voir, poussons-nous, rampons, le´chons le cul, songeons a` nous e´tablir, prenons une femme, marions-nous, parvenons, etc« (ebd., 225/ 1. 5. 1845). Bourgeoise Bürgerlichkeit verpflichte zu Geltungssucht und Kriecherei, die mit Existenzgründung und Heirat fortgesetzt werde. Individualität werde also vernichtet, wo jeder abgerichtet sei, ein Herdentier zu werden, »un de ces hommes du grand troupeau, ni bons ni me´chants, ni grands ni trop petits, avec une figure comme tout le monde et un esprit comme les autres.« 155 Wer wie Flaubert den Anspruch des freien Geistes betont hatte, musste - um ein misanthropisches Wort Schopenhauers zu verwenden - den gewöhnlichen Bourgeois als »Fabrikwaare der Natur« 156 verachten. Überhaupt missfiel Flaubert die allgemeine Betonung der Nützlichkeit. Im Bild der ›deux bonshommes‹, von denen einer handele, der andere aber denke und kritisiere, 157 hatte er bereits expliziert, dass der Geist nicht im bürgerlichen Sinne praktisch werde. Die Klage über den Primat der Opportunität entsprach dem literarisch-kritischen Zeitgeist um 1830. Denn längst hatte auch die Kunst nützlich zu sein und sich - etwa im Sinne der sozial-revolutionären Ideale der Saint-Simonisten oder als Schule bürgerlicher Tugend - in den Dienst des zivilisatorischen und moralischen Fortschritts zu stellen. Solche Instrumentalisierung hatte wohl am polemischsten The´ophile Gautier im Vorwort der Mademoiselle de Maupin (1835) moniert und damit die Frustration der Intellektuellen über das juste milieu Frankreichs zum Ausdruck gebracht. Gegen die Maxime der Nützlichkeit insistiert der Text auf Autonomie und Nutzlosigkeit der Kunst. 158 Literatur tauge nicht zur Be- 155 ES ( 1845 ), 984 . 156 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Ders.: Werke in fünf Bänden, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988 , Bd. I, 255 . Schopenhauer begann in Frankreich erst ab den 1850 er Jahren bekannt zu werden. Flaubert las Schopenhauer intensiv ab 1879 und stellte fest: »C¸a me va« (Corr V, 659 / 13 . 6 . 1879 ). Vgl. dazu Michel Brix: »Flaubert, Schopenhauer et le pessimisme«. In: Revue Flaubert 7 ( 2007 ), http: / / flaubert.univ-rouen.fr/ revue/ revue 7 / brix.pdf. Als Erster hatte Nietzsche den Zusammenhang zwischen Schopenhauers Pessimismus und Flaubert hergestellt (vgl. dazu Jörg Dünne: »Le ve´sicatoire et l’asce`se: Flaubert, Schopenhauer, Nietzsche«. In: Nouvelles Lectures de Flaubert (Anm. 128 ), 27 - 40 ). 157 Das Cahier intime (Anm. 148 ), 738 stellt dazu fest: »[ … ] il est vrai qu’il y a en chaque homme deux hommes, celui qui agit et celui qui critique [ … ].« 158 In diesem Sinne hat Pierre Bourdieu die Entstehung des l’art pour l’art mit der Weigerung der Schrift- <?page no="195"?> 195 3.2 Flaubert und die Selbsterfassung förderung religiöser oder moralischer Bürgerbildung. Sie verweigere sich den Versuchen der Vereinnahmung ebenso wie überhaupt allem Praktischen und sei zu nichts gut außer zur Herstellung von zweckfreier Schönheit: Il n’y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir a` rien; tout ce qui est utile est laid, car c’est l’expression de quelque besoin, et ceux de l’homme sont ignobles et de´gouˆ tants, comme sa pauvre et infirme nature. - L’endroit le plus utile d’une maison, ce sont les latrines. 159 Die Betonung des ›interesselosen Wohlgefallens‹, durch die Gautier in Frankreich zum Initiator des l’art pour l’art und zu einem führenden Kopf der Parnassiens avancierte, war eine gezielte Provokation. 160 Flaubert, der Gautiers Werk und Geschicke mit Interesse verfolgte 161 und den ab 1849 auch eine enge Freunschaft mit dem Schriftsteller verband, 162 konnte sich der Rehabilitierung der Literatur als nutzloser Kunst ebenso anschließen wie dem elitistischen Kult der Schönheit oder dem Bruch mit den bürgerlichen Konformismen. In diesem Sinne demonstrieren schon seine frühen Werke - noch ohne die spätere Formreflexion - die verhasste hässliche Praxis und moralische Verkommenheit der bürgerlichen Welt, der man sich durch den Rückzug in die Innerlichkeit zu verweigern habe. In Quidquid volueris ist Monsieur Paul das Paradigma eines »monstre [ … ] de la civilisation« 163 , aus dem nichts als gewissenlose Ruhmsucht und moralische Verwahrlosung sprechen. Durch die monströse Kreuzung von Affe und Mensch erwirbt sich Paul allgemeine Achtung, sogar die »croix d’honneur« 164 , und nimmt dabei Zerrüttung und Verderben der Affenkreatur, deren Mutter und der eigenen Braut völlig indifferent in Kauf. 165 Deutlicher noch verfolgen die Me´moires d’un Fou das Thema des Außenseitertums allen Geistes. Der Erzähler, ein angehender Poet, hat sich dem Bereich des Geistes zu- und von der Welt abgewandt, die ihn steller begründet, sich von der Gesellschaft determinieren zu lassen. Der l’art pour l’art als drittes literarisches Feld neben dem art bourgeois und dem art social basiere auf autonomer Produktion und sei nur denjenigen zugänglich, die in diesen literarischen Code eingeweiht seien (Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. (Anm. 114 ), 174 - 186 sowie 203 ). 159 The´ophile Gautier: Mademoiselle de Maupin, Pre´face. In: Ders.: Romans, contes et nouvelles, hg. v. Pierre Laubriet, 2 . Bde., Paris 2002 , Bd. 1 , 211 - 244 , hier 230 . 160 Die Formel ist Kantisch. Die - heterogene - Theorie des l’art pour l’art leitet sich von der deutschen Autonomieästhetik her, die, vermittelt über die Lektüre der Weimarer Klassik und der deutschen Frühromantik, im romantischen Frankreich rezipiert wurde, vor allem durch die Synopsen, die Heinrich Heine dem französischen Publikum in seiner Romantischen Schule verschaffte. Der Ausdruck ›l’art pour l’art‹ ist nicht Gautiers Schöpfung. Der früheste Beleg ist eine Notiz im Tagebuch Benjamin Constants von 1804 , das freilich erst 1895 veröffentlicht wurde. 1833 findet sich der Begriff dann in einem, De l’art actuel betitelten, Beitrag von Hippolyte Fortoul in der Revue encyclope´dique (vgl. dazu L’art pour l’art. Der Beginn der modernen Kunstdebatte in französischen Quellen der Jahre 1818 bis 1847, hg., übersetzt und kommentiert von Roman Luckscheiter, Bielefeld 2003 , 16 f. bzw. 92 f.). Vgl. weiterhin Philippe van Tieghem: »L’art pour l’art et le Parnasse«. In: Ders.: Les grandes doctrines litte´raires en France de la Ple´iade au Surre´alisme, Paris 1968 , 235 - 242 ; sowie Norbert Kohl: »L’Art pour l’art in der Ästhetik des 19 . Jahrhunderts«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 8 ( 1978 ), 159 - 174 . 161 Vgl. bereits den frühen Brief vom 15 . 03 . 42 : »Ce malheureux The´oph[ile] Gautier est accuse´ d’immoralite´ par M. Faure, on met en prison les e´crivains et on paye les pamphle´taires« (Corr I, 97 / 15 . 3 . 1842 ). 162 Die Freundschaft hielt bis zu Gautiers Tod im Jahre 1872 an, der Flaubert schwer zusetzte: »La mort de mon pauvre The´o, bien que pre´vue, m’a e´crase´« (Corr IV, 593 / 25 . 10 . 72 ). 163 Flaubert: Quidquid volueris. In: OJ, 241 - 272 , hier 250 . 164 Ebd., 257 . 165 Vgl. dazu Horst-Jürgen Gerigk (»Gustave Flaubert: Quidquid volueris«. In: Ders.: Der Mensch als Affe in der deutschen, französischen, russischen, englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Hürtgenwald 1989 , 94 - 99 ), der den Affen als Künstler-Paria in der Revolte deutet. <?page no="196"?> 196 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« aufgrund seines Strebens zum Immateriellen für einen »fou« 166 hält und erotische Verlockungen nicht einlöst. 167 Nun rechnet der Verletzte mit der Verachtung ab, die ihm die völlig auf »injustice«, »pre´juge´s«, »force« und »e´goı ¨sme« 168 gegründete Gesellschaft entgegenbrachte. Eine »aversion pour les hommes« 169 hat der so Erniedrigte zurückbehalten und klagt über die »socie´te´ abaˆtardie« 170 und die »aridite´ de la civilisation qui desse`che et e´tiole tout ce qui s’e´le`ve au soleil de la poe´sie et du cœur« 171 . In der Welt verkümmert (»e´tioler«) jedes Streben nach Geist oder Ästhetik. Eindringlich bezeugen diese Gewissheit Flauberts Briefe. Spätestens seit dem Beginn der 40er Jahre durchzieht sie ein abgrundtiefer Hass auf das, was Flaubert als Sammelbegriff für Geistferne, schlechten Geschmack und als Charakteristikum der bürgerlichen Epoche ansieht: die beˆtise . »[I]l paraı ˆt que le vent tourne a` la beˆtise ge´ne´rale« (Corr I, 115/ 21. 7. 1842), vermutet er schon 1842 inmitten der Vorbereitungen auf das Juraexamen des ersten Studienjahrs, 172 die er noch als Pflicht achtet, aber als Weg zum bourgeoisen Konformismus zunehmend verabscheut. Bereits hier findet sich jener Bürgerhass, den Flaubert 1867 in einem Schreiben an George Sand im bekannten Grundsatz (»axiome«) zusammenfasst: Axiome: la haine du Bourgeois est le commencement de la vertu. Moi, je comprends dans ce mot de ›bourgeois‹ les bourgeois en blouse comme les bourgeois en redingote. C’est nous, et nous seuls, c’est-a`-dire les lettre´s, qui sommes le Peuple, ou pour parler mieux, la tradition de l’Humanite´. Oui, je suis susceptible de cole`re de´sinte´resse´e, et je vous aime encore plus de m’aimer pour cela. La beˆtise et l’injustice me font rugir. Et je gueule , dans mon coin, contre un tas de choses ›qui ne me regardent pas‹ (Corr III, 642/ 17. 5. 1867). Flauberts verachtet gleichermaßen das Bürgertum (»bourgeois en redingote«, also ›im Gehrock‹) und die Arbeiterschaft (mit dem Attribut der einfachen »blouse«): Politisch unreif und unfähig zu echtem Progress, sei das Volk ebenso »borne´« (ebd., 643/ 21. 5. 1867) wie das Bürgertum, sei sein Zorn, wie er sich im April 1867 im Streik der Schneider (›greˆve des tailleurs‹) manifestierte, bloß »transitoire« (ebd.). Nicht einmal die Staatsform mache einen Unterschied. Bereits 1853 stellt Flaubert rückblickend fest, dass die Zweite Republik (1848-52) keineswegs in eine wünschenswerte Verwirklichung politischer Ideale gemündet habe. Das Credo der Gleichheit habe vielmehr nur zu einer allgemeinen Vermassung und zu einer nivellierenden Mittelmäßigkeit in Gesellschaft und Kunst geführt: Nous sommes tous enfonce´s au meˆme niveau dans uns me´diocrite´ commune. L’e´galite´ sociale a passe´ dans l’Esprit. On fait des livres pour tout le monde, de la science pour tout le monde, comme on construit des chemins de fer et des chauffoirs publics. L’humanite´ a la rage de l’abaissement moral (Corr III, 437/ 22. 9. 1853). 166 Flaubert: Me´moires d’un Fou. In: OJ, 461 - 515 , hier 472 . 167 Der jugendliche Erzähler liebt Maria, eine um einiges ältere Ehefrau und Mutter einer Tochter. Aus der Bekanntschaft entwickelt sich nichts. Man hat die Episode auf eine autobiographische Reminiszenz Flauberts an seine Bekanntschaft mit Marie Schle´singer zurückgeführt und in ihr die Urszene einer ödipalen Veranlagung Flauberts sehen wollen (Vgl. Marthe Robert: En haine du roman, (Anm. 57 ), 36 - 51 ). 168 OJ, 472 . 169 Ebd. 170 Ebd., 478 . 171 Ebd. 172 Zur Prüfung wird Flaubert wegen seiner zahlreichen Fehlstunden nicht zugelassen. Erst im Dezember 1842 wird er die Prüfung ablegen. <?page no="197"?> 197 3.2 Flaubert und die Selbsterfassung Flauberts Ekel vor der Demokratisierung ist das politische Gegenstück zur elitistischen Poetik des l’art pour l’art . Es ist der Ekel Hussonnets, der in der zweiten Education sentimentale angesichts der revolutionären Erstürmung der Tuilerien durch den pöbelnden Mob ausruft: »Les he´ros ne sentent pas bon« 173 und den »mythe« 174 eines »peuple souverain« 175 verspottet. Doch Flauberts Zeitdiagnose verbesserte sich auch im Second Empire (1852-70) nicht. Der unaufhaltsame, auch ökonomische Aufstieg des Bürgertums kassierte die sozialutopischen Hoffnungen der beiden Revolutionen von 1830 und 1848 und führte zu einem gesellschaftlichen status quo , der Besitzstände sicherte und einer ganzen Generation die Aussicht auf sozialen und intellektuellen Progress nahm. 176 Auch Flaubert gehörte zu den Enttäuschten. In der zweiten Education skizzierte er in der Figur des Finanzbürgers Dambreuse paradigmatisch den Triumph des bürgerlich-materialistischen Prinzips, der keine Zweifel an der zeit- und systemüberdauernden Gegenwart der beˆtise ließ. 177 Nichts habe man in Frankreich aus der jüngeren Geschichte gelernt. Eine Briefpassage aus dem Jahr 1867, inmitten der Lektüre über die Revolution von 1848 für die zweite Education verfasst, ist ebenso Bürgersatire wie sie die inkriminierte Dummheit der 1848er auch im aktuellen Geschehen wiederzuerkennen meint: ›L’horizon politique se rembrunit.‹ Personne ne pourrait dire pourquoi? Mais il se rembrunit, il se noircit, meˆme. Les bourgeois ont peur de tout! peur de la guerre, peur des gre`ves d’ouvriers, peur de la mort (probable) du Prince Impe´rial. C’est une panique universelle. Pour trouver un tel degre´ de stupidite´, il faut remonter jusqu’en 1848! - Je lis, pre´sentement, beaucoup de choses sur cette e´poque. L’impression de beˆtise que j’en retire s’ajoute a` celle que me procure l’e´tat contemporain des esprits, de sorte que j’ai sur les e´paules des montagnes de cre´tinisme (Corr III, 629/ 8. 4. 1867). »Stupidite´«, »cre´tinisme« und »beˆtise« sind Ausdrücke für den unabänderlichen Immobilismus des Historischen. Die Chance, den Gang der Geschichte sinnvoll zu bestimmen, habe man verspielt. Die Folgen, fürchtete Flaubert, seien nicht nur politisch, sondern vor allem ästhetisch: Die Zeit werde am Ende über den Anspruch der Idee ebenso hinweggehen wie überhaupt über alles Schöne. Der ›mauvais gouˆ t‹ der Bürger dominiere auch die Kunst und vernichte jene strenge Ästhetik, der Flaubert sich alsbald verpflichtet wusste. »[D]es livres pour tout le monde« (Corr II, 437/ 22. 9. 1853) werde man schreiben, ebenso massentauglich wie minderwertig. In der bloß sentimentalischen Kitschliteratur, die Emma Bovary bevorzugt, aber auch in den ästhetischen Dilettantismen Pellerins in der Education hat Flaubert den Niedergang der Kunst ebenso gestaltet wie im Kunsthandel des Jacques Arnoux: Was dort angeboten wird, 173 Flaubert: L’Education sentimentale (= ES, Anm. 139 ), 320 . 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Vgl. dazu Suchanek-Fröhlich: Kulturgeschichte (Anm. 155 ). 177 Bereits 1855 , drei Jahre nach Einrichtung des Kaiserreichs, stellt er voller Zorn fest: »Je sens contre la beˆtise de mon e´poque des flots de haine qui m’e´touffent« (Corr II, 600 / 30 . 9 . 55 ). Ähnlich pessimistisch befindet er 1866 : »Il y a un fond de beˆtise dans l’humanite´ qui est aussi e´ternel que l’humanite´ ellemeˆme. L’instruction du peuple et la moralite´ des classes pauvres sont, je crois, des choses de l’avenir. Mais quant a` l’intelligence des masses, voila` ce que je nie, quoi qu’il puisse advenir, parce qu’elles seront toujours des masses. Ce qu’il y a de conside´rable dans l’histoire, c’est un petit troupeau d’hommes (trois ou quatre cents par sie`cle, peut-eˆtre) et qui depuis Platon jusqu’a` nos jours n’a pas varie´; ce sont ceux-la` qui ont tout fait et qui sont la conscience du monde« (Corr III, 479 / 16 . 1 . 66 ). Und noch 1871 , ein Jahr vor dem Ende des Second Empire, kommt er, sogar mit Majuskel, zu demselben Urteil: »Nous ne souffrons que d’une chose: la Beˆtise. - Mais elle est formidable et universelle« (Corr IV, 411 / 14 . 11 . 71 ). <?page no="198"?> 198 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« ist nichts als Schund, dessen Verkaufswert in der Möglichkeit grenzenloser Reproduktion liegt. Das industrielle Jahrhundert entwertet die Singularität eines Unikats zugunsten des ubiquitären Warencharakters. 178 »Le temps est passe´ du beau« (Corr II, 76/ 24. 4. 1852), folgerte Flaubert 1854 und stimmte seinem Freund Gautier darin zu, dass die bloß aufs Nützliche abgestellte Epoche alle Schönheit kassiere: »La beaute´ n’est pas compatible avec la vie moderne.« (Corr III, 416/ fin de novembre 1864) Einige Jahre später vertraute er dem Maler und Schriftsteller Claudius Popelin resigniert an: Je suis convaincu que nous entrons dans un monde hideux, ou` les gens comme nous n’auront plus leur raison d’eˆtre. On sera utilitaire et militaire, e´conome, petit, pauvre, abject. La vie est en soi quelque chose de si triste, qu’elle n’est pas supportable sans de grands alle´gements (Corr IV, 257/ 28. 10. 1870). In der nüchternen Moderne werde die Kunst abzudanken haben. Dem Primat alles Technisch-Ökonomischen könne sie nicht standhalten. Die Welt der Zukunft sei also nicht schön, sondern ›klein‹, ›armselig‹ und ›niederträchtig‹. Und weil sie nicht länger auf die Vertreter einer » conscience du monde« (Corr III, 479/ 16. 1. 1866) hören werde (»les gens comme nous«), lässt sich denken, dass sie sich ihrer Abscheulichkeit (»hideux«) nicht einmal bewusst sein wird. 3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l'exte´rieur« Auf die Zeitkritik reagierte Flaubert mit einer umfassenden »nause´e de la vie« (Corr I, 282/ 8./ 9. 8. 1846), einem Ekel vor dem Leben und seiner Niedrigkeit, den der Briefwechsel unter wechselnden Bezeichnungen variiert. Als »de´gouˆ t de la vie moderne« (Corr III, 59/ 29. 1. 1859) betrifft er alle Phänomene der empirischen Welt sowie die Existenz in einem emphatischen Sinne: »Je suis plus que jamais harasse´ par l’existence et de´gouˆ te´ de tout« (Corr IV, 464/ 21. 1. 1872). Alle Realität ist hassenswert und verächtlich. An den Schriftsteller und Verleger Laurent-Pichat schreibt Flaubert 1859 im Rahmen des Bovary -Prozesses: Croyez-vous donc que cette ignoble re´alite´ [ … ] ne me fasse tout autant qu’a` vous sauter le coeur? Si vous me connaissiez davantage, vous sauriez que j’ai la vie ordinaire en exe´cration (Corr II, 635/ 2. 10. 1856). Nur wenige Tage später findet sich in einem Brief an Edma Roger des Genettes, eine Freundin Louise Colets, die folgende Ausführung: »On me croit e´pris du re´el, tandis que je l’exe`cre. Car c’est en haine du re´alisme que j’ai entrepris ce roman« (Corr II, 643/ 30. 10. 1856). Der Autor verwahrt sich gegen das Missverständnis, er habe mit der Bovary einen realistischen Roman vorgelegt und sei überhaupt ein Realist. Dass man aber den Einwand des Autors bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zuwenig wahrgenommen hat, ist erstaunlich. Kaum sind ja die drastischen Äußerungen überhörbar, durch die sich Flau- 178 So bekanntlich später auch die These von Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main 1991 , 435 - 508 (= Gesammelte Schriften Bd. I, 2 ) der von der technischen ›Zertrümmerung der Aura‹ eines Kunstwerks spricht: »Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ›Sinn für das Gleichartige in der Welt‹ (Joh.[annes] V Jensen) so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt« (ebd., 440 , kursiv im Original). <?page no="199"?> 199 3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l'exte´rieur« berts de´gouˆ t Ausdruck verschaffte. Als ›gueuler‹ - ›schreien‹, ›brüllen‹ oder ›wettern‹ - bezeichnete Flaubert selbst die wüst-unflätigen Beschimpfungen, die er seiner Zeit entgegenschleuderte: »Et je gueule , dans mon coin, contre un tas de choses ›qui ne me regardent pas‹« (Corr III, 642/ 17. 5. 1867). 179 Zum Generalangriff gegen die Umstände passte der Schutzheilige, den Flaubert sich wählte: den Märtyrer Sankt Polykarp von Smyrna. 180 Ihm schrieb man den Ausspruch zu: »Mon Dieu! Mon Dieu! Dans quel temps m’avez-vous fait vivre! « 181 , und in solcher Klage über die Verderbtheit der Zeit konnte sich Flaubert wiedererkennen: Dans quel gaˆchis nous pataugeons! Quel niveau! Quelle anarchie! La me´diocrite´ se couvre d’intelligence. Il y a des recettes pour tout, des mobiliers voulus et qui disent: ›Mon maı ˆtre aime les arts. Ici on a l’aˆme sensible. Vous eˆtes chez un homme grave! ‹ Et quel discours! quel langage! quel commun! Ou` aller vivre, mise´ricorde! Saint Polycarpe avait coutume de re´pe´ter, en se bouchant les oreilles et s’enfuyant du lieu ou` il e´tait: ›Dans quel sie`cle, mon Dieu! m’avez-vous fait naı ˆtre! ‹ Je deviens comme Saint Polycarpe (Corr II, 407/ 21. 8. 1853). Verzweifelt sucht er nach Verbündeten. 1854 fordert er Louise Colet auf, mit ihn zusammen um jeden Preis den Kampf gegen die Bürgergesellschaft zu führen: Die - so wörtlich - ›Flut von Scheiße‹ (»flot de merde«), die sie produziere, müsse nach Möglichkeit aufgehalten werden: Dussions-nous y pe´rir (et nous y pe´rirons, n’importe), il faut par tous les moyens possibles faire barre au flot de merde qui nous envahit. - [ … ] gueulons donc contre les gants de bourre de soie, contre les fauteuils de bureau, contre les mackintosh, contre les cale´facteurs e´conomiques, contre les fausses e´toffes, contre le faux luxe, contre le faux orgueil (Corr II, 517/ 29. 1. 1854)! Ebenso lautstark vorgetragen wie aussichtslos war Flauberts Vorhaben. Man nahm, zumal vor dem Erscheinen der Bovary , das Flaubert schlagartig bekannt machte, kaum Notiz von ihm und seiner Zivilisationskritik. Denke er also an den Weltenlauf, den er nicht beeinflussen könne, steige ihm »la merde a` la bouche« (Corr II, 600/ 30. 9. 1855), notierte er voller Resignation. Nur manchmal vermochte er sich in bittere Ironie zu retten. Die französische Gesellschaft werde in zwanzig Jahren so beschränkt sein, dass man an die Bürger des Kaiserreichs als Wahrer der Eleganz und guten Manieren (»talons rouges«) zurückdenken werde: De quelque coˆ te´ qu’on pose les pieds on marche sur la merde. Nous allons encore descendre longtemps dans cette latrine. On deviendra si beˆte d’ici a` quelques anne´es que, dans vingt ans, je suppose, les bourgeois du temps de Louis-Philippe sembleront e´le´gants et talons rouges (Corr II, 244/ 29. 1. 1853). Wer irreversiblen Ekel vor der Niedrigkeit des Irdischen empfindet und dem Anspruch der Idee gehorchen will, muss alles Hiesige verwerfen - oder wenigstens den Kontakt zur Empirie nach Möglichkeit abbrechen. So verbot sich aktive Parteinahme: »L’action m’a toujours de´gouˆ te´ au supreˆme degre´. Elle me semble appartenir au coˆ te´ animal de l’existence (qui n’a senti la fatigue de son corps! combien la chair lui pe`se! ) (Corr II, 257/ 5. 3. 1853). Zwar ließ sich von einem Untergang der Gesellschaft im Cahier intime träumen: »Il me 179 Hervorhebung von Flaubert. 180 Vgl. zur Vita Lexikon der christlichen Ikonographie, begr. v. Engelbert Kirschbaum, hg. v. Engelbert Kirschbaum und Wolfgang Braunfels, Freiburg 1968 - 1976 , 8 Bde., Bd. 8 ( 1976 ), 219 - 220 . 181 Dictionnaire Flaubert, s.v. Polycarpe (Saint), 552 . <?page no="200"?> 200 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« plairait assez de voir toute la civilisation s’e´crouler comme un e´chafaudage de mac ¸on avant que l’e´difice ne soit construit.« 182 Doch gegen die Wirklichkeit vermochten solche Sehnsüchte nichts. Aus der Niedrigkeit der Welt konnten nur radikale Askese und konsequente Negativität zu Geist und Selbsterfassung befreien. 1853 hielt Flaubert fest: »Mais moi je la de´teste, la Vie. [ … ] Mes tendresses d’esprit sont pour les inactifs , pour les asce`tes , pour les reˆveurs« (Corr II, 478/ 14. 12. 1853). 183 Den basso continuo der Absage an die Welt stimmt in diesem Sinne schon eine frühe Briefstelle an. Der Freund Ernest Chevalier wird beschworen: Nous, demeurons chez nous; du haut de notre balcon regardons passer le public, et si parfois nous nous ennuyons trop fort, eh bien, crachons-lui sur la teˆte, et puis continuons a` causer tranquillement et a` contempler le soleil couchant a` l’horizon (Corr I, 117/ 22. 7. 1842). Der Bürgerverachtung - ›spucken wir ihnen auf den Kopf‹ - werden die weltentsagende Betonung der Innenwelt und Privatsphäre (»demeurons chez nous«) sowie der Aufschwung in die Region der Idee (in der Wendung »du haut de notre balcon« bedeutet) an die Seite gestellt. In den folgenden Jahren variiert Flaubert diese Themen in der Korrespondenz. 1842, im bekannten Brief an seinen ehemaligen Lehrer, Henri Gourgaud-Dugazon, folgt aus dem Bekenntnis der Aversion gegen das Leben - »[J]e vous avoue [ … ] que je ne suis pas fait pour toute cette vie mate´rielle et triviale« (Corr I, 94/ 22. 1. 1842) -, der Entschluss, nicht Anwalt, sondern Schriftsteller zu werden: Chaque jour [ … ] j’admire de plus en plus les poe`tes [ … ]. Voici donc ce que j’ai re´solu. J’ai dans la teˆte trois romans, trois contes de genres tout a` fait diffe´rents et demandant une manie`re toute particulie`re d’eˆtre e´crits. C’est assez pour pouvoir me prouver a` moi-meˆme si j’ai du talent, oui ou non (ebd.). 184 Mit der Entscheidung, den nützlichen Bürgerberuf zu verwerfen, entscheidet sich Flaubert für ein Leben jenseits der Gesellschaft und der verhassten Praxis: Pour vivre, je ne dis pas heureux (ce but est une illusion funeste), mais tranquille, il faut se cre´er un dehors de l’existence visible, commune et ge´ne´rale a` tout, une autre existence interne et inaccessible a` ce qui rentre dans le domaine du contingent, comme disent les philosophes (Corr I, 271/ 4. 6. 1846). Die ›innere Existenz‹, die aller Kontingenz enthoben wäre, meint den Bereich der Literatur und des Geistes. Schon Gautier hatte im Vorwort zu Albertus (1833) die Weltferne des l’art pour l’art und des Schriftstellers betont: »L’auteur du pre´sent livre n’a vu du monde que ce qu’on voit par la feneˆtre, et il n’a pas envie d’en voir davantage.« 185 Und auch Flaubert zog sich in den Elfenbeinturm der Innerlichkeit (»tour d’ivoire«) zurück, der den Höhen der Idee (»pre`s du ciel«) schon nahe komme: 182 OJ, 739 . 183 Hervorhebungen M. K. 184 Jean Bruneau vermutet, bei den drei Texten könnte es sich um Novembre, den ›conte oriental‹ Les Sept Fils du derviche und Bouvard et Pe´cuchet in der Fassung des sottisier handeln (vgl. Corr I: Notes et variantes, 833 - 1153 hier 891 ). 185 Zit. nach Claudine Gothot-Mersch: »Pre´face«. In: The´ophile Gautier: Emaux et Came´es, Paris 1981 , hg. v. Claudine Gothot-Mersch, 7 - 22 , hier 9 . Dasselbe Argument kehrt 1852 im Vorwort zu Emaux et Came´es wieder: »Comme Goethe sur son divan/ A Weimar s’isolait des choses/ Et d’Hafiz efeuillait les roses,/ Sans prendre garde a` l’ouragan/ Qui fouettait mes vitres ferme´es,/ Moi, j’ai fait Emaux et Came´es« (ebd., 25 ). Damit folgt Gautier dem verbreiteten Fehlurteil, Goethe sei ein Vorläufer des l’art pour l’art gewesen. <?page no="201"?> 201 3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l'exte´rieur« Laissons l’Empire marcher, fermons notre porte, montons au plus haut de notre tour d’ivoire, sur la dernie`re marche, le plus pre`s du ciel. Il y fait froid quelquefois, n’est-ce pas? Mais qu’importe! On voit les e´toiles briller clair et l’on n’entend plus les dindons (Corr II, 180/ 22. 11. 1852). Wohl sah Flaubert, dass dem Streben nach Geist ein Opfer zu bringen war. Angesichts der Kälte der reinen Transzendenz (»il y fait froid«), welche die vom Leben abrückende Existenz umgibt, forderte Flaubert daher von sich und anderen allerletzte Entschlossenheit: »Elanc ¸ons-nous dans l’ide´al! « (Corr II, 517/ 29. 1. 1854) 186 Als der Vater 1844 in Croisset - abseits von Rouen - einen kleinen Landsitz erwarb, ergriff er immerhin die Gelegenheit zur vita contemplativa . Er sollte das Haus nach dem Tod der Eltern und Geschwister bis zu seinem Lebensende bewohnen. Dort, im »cabinet de travail« 187 und fern der Welt, schrieb und las er und ging dem Geschäft des gueuler nach. Besuche in Rouen oder gar Paris, die sich vor allem nach dem Erscheinen der Bovary nicht mehr völlig vermeiden ließen, machte er nur ungern. Croisset wurde ihm zum Ort asketischer Einsamkeit. Oft hielt er Kontakte - zumal zu Personen weiblichen Geschlechts - nur per Brief. An Marie-Sophie Leroyer de Chantepie, mit der er ab 1858 eine rege Korrespondenz führte, ohne sie selbst je persönlich kennenzulernen, schrieb er nicht ohne Stolz, er lebe nun schon in völliger Weltferne, »comme un moine« (Corr II, 795/ 23. 1. 1858). Das - ästhetisch motivierte - mönchische Ideal hätte er gern auch bei anderen umgesetzt gesehen. Von seinem Freund Alfred Le Poittevin etwa verlangte er die gleiche Enthaltsamkeit. Wie er selbst möge er endlich mit allem Äußerlichen brechen: »Fais comme moi. Romps avec l’exte´rieur , vis comme un ours - un ours blanc - envoie faire foutre tout, tout et toi-meˆme avec, si ce n’est ton intelligence« (Corr I, 252/ 16. 9. 1845). 188 Die animalische Metaphorik, mit der Flaubert seine Existenz in Croisset umschrieb, ist Selbstportrait des Schriftstellers. Flauberts »Bestiarium« 189 umfasst unter anderem: »cheval de fiacre« (Corr V, 401/ 10.(9.)7.1878), »phoque« (Corr II, 15/ 3. 11. 1851) (Seehund), »porc-e´pic« (Corr I, 288/ 11. 8. 1846) (Stachelschwein), sowie »rhinoce´ros« (Corr IV, 650/ 12. 3. 1853), lastsame, wehrhafte oder für sich lebende Tiere. Sie sind Synonyme für die Mühen des Schreibens und der Weltentsagung sowie für das Leiden an der selbstgewählten Askese. Denn die Negativität des Geistes bedrängt die empirische Existenz so, dass sie sich in Übersprunghandlungen aus Derbheit und Ironie Entlastung verschafft. Flaubert war sich der psychischen Logik bewusst, die Einschränkung in Exzess umschlagen ließ: »Il en est toujours ainsi . La privation radicale d’une chose en cre´e l’exce`s « (Corr II, 543/ 4. 4. 1854). 190 In diesem Reflex manifestiert sich die ins Rhetorische verschobene Spur 186 Jean-Paul Sartre hat demgegenüber in seiner großangelegten Studie L’idiot de la famille (Sartre: Idiot, Anm. 112 ). Flauberts Verzicht auf eine politisch engagierte Literatur kritisiert. Wer das Absolute nicht in der Wirklichkeit finde, suche es in der Kunst und negiere als »Ritter des Nicht-Seins« (ebd., IV 149 ) alle Realität. Aus Flauberts Werk spreche daher nur noch Solipsismus, es sei ein Dokument des Scheiterns (vgl. ebd., 147 - 204 ) und mache den l’art pour l’art als Neurose der Nachromantik durchsichtig (vgl. ebd., 147 ). Doch wer so argumentiert, setzt die litte´rature engage´e absolut und übersieht, dass sich zumindest die objektive Pragmatik von Flauberts Werken durchaus als Gesellschaftskritik auslegen lässt. 187 Seine Nichte Caroline Commanville hat es in ihren Souvenirs intimes (Anm. 14 , XX) beschrieben: »C’e´tait une large pie`ce, trop basse de plafond, mais tre`s e´claire´e au moyen de ses cinq feneˆtres dont trois donnaient sur la partie du jardin s’e´tendant en longueur et deux sur le devant de la maison. On avait une jolie vue sur les gazons, les plates-bandes de fleurs et les arbres de la longue terrasse, la Seine apparaissait encadre´e dans les feuillages d’un tulipier splendide.« 188 Hervorhebung von Flaubert. 189 Julian Barnes: »Das Flaubert-Bestiarium«. In: Ders.: Flauberts Papagei, aus dem Englischen von Michael Walter, Köln 2004 , 56 - 76 . 190 Hervorhebung von Flaubert. <?page no="202"?> 202 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« körperlichen Leidens, eben die »coˆ te´ animal« (ebd., 257/ 5. 3. 1853) als andere Seite des strengen Kunstwillens, die dem Autor unablässig in die ästhetische Parade fährt. Der Mechanismus lässt sich - die Tiere variierend - im Briefwechsel verfolgen. 1853 wird der Schriftsteller zum Maulwurf: » Il faut se renfermer , et continuer teˆte baisse´e dans son œuvre, comme une taupe« (ebd., 437/ 22. 9. 1853). 191 Wie das Tier hat er blind für die Außenwelt sein und sich nur der Arbeit an seinem - ästhetischen - Bau zu widmen. 192 Und 1868 stellte Flaubert seiner Askese die Verschlossenheit einer Auster an die Seite: »Je vis absolument comme une huı ˆtre. Mon roman est le rocher qui m’attache et je ne sais rien de ce qui se passe dans le monde« (Corr III, 796/ 9. 9. 1868). Indessen scheint Flaubert wenigstens anfänglich den Widerspruch nicht bemerkt zu haben, in dem er bei näherem Hinsehen lebte. Denn mochte er sich auch aus der Welt zurückgezogen haben, die Fesseln der Empirie hatte er nicht völlig durchtrennt. Im Leben aber lässt sich dem Leben nicht aus dem Weg gehen, und dass der sonst so scharfzüngige Kritiker der Bourgeoisie in Croisset noch dazu selbst als bürgerlicher rentier sein Auskommen hatte, ist ein Paradox, das Pierre Bourdieu treffend als das des »antibürgerliche[n] Bürger[s]« 193 bezeichnet hat. Zwei Umständen hatte Flaubert seine Existenz in Croisset zu verdanken: der finanziellen Absicherung durch seine Eltern - der Vater war der angesehene »chirurgien en chef« (Corr II, 697/ 30. 3. 1857) im Hoˆ tel-Dieu von Rouen - und seiner psychischen Krise vom Herbst 1843. Sie ist von der Forschung längst in aller Breite zum Thema gemacht worden. 194 Maxime du Camp hatte sie in seinen Souvenirs Litte´raires von 1882/ 83 öffentlich bekannt gemacht und in verunglimpfender Absicht gegen den ehemaligen Freund ausgespielt: Dessen intellektuelle Entwicklung sei 1843 durch »[l]e mal sacre´« 195 , also die Epilepsie 196 , ebenso ins Stocken geraten wie der immer wieder stockende Schaffensprozess, die Werke seien daher minderwertig: »Ma conviction est ine´branlable: Gustave Flaubert a e´te´ un e´crivain d’un talent rare, sans le mal nerveux dont il fut saisi, il euˆ t e´te´ un homme de ge´nie.« 197 Caroline Commanville, die Nichte Flauberts, hat in ihren 1887 erschienenen Souvenirs Intimes sowohl gegen diese Verleumdung als auch gegen die Indiskretion protestiert. 198 Ihr Onkel sei kein Epileptiker gewesen, sondern habe an einer Nervenkrankheit, einer »maladie nerveuse« 199 , gelitten, und überdies habe er an seine Freundschaften hohe Anfor- 191 Hervorhebung von Flaubert. 192 Es ist übrigens erstaunlich, dass auch Kafka sich in zwei Erzählungen - Der Dorfschullehrer, besonders aber Der Bau - der Maulwurfs-Metaphorik bediente. Die sowohl ästhetisch als auch biographisch begründete Nähe Kafkas zu Flaubert scheint in mancherlei, vor allem aber in komparatistischer Hinsicht bislang noch nicht umfassend erforscht. Zuletzt hat die Forschung eine Studie zu Flauberts und Kafkas Affenfiguren vorgelegt: Barbara Vinken/ Gerhard Neumann: »Kulturelle Mimikry. Zur Affenfigur bei Flaubert und Kafka«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 ( 2007 ), 126 - 142 (Sonderheft). 193 Bourdieu: Regeln der Kunst (Anm. 114 ), 186 . 194 Vgl. das Folgende. 195 Maxime Du Camp: Souvenirs Litte´raires (Anm. 15 ), 37 . An anderen Stellen spricht Du Camp von »la grande ne´vrose« ( 37 ), »attaques de nerfs« ( 38 ), »convulsion« ( 39 ) und »affection nerveuse« ( 40 ). 196 Le nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabe´tique et analogique de la langue franc ¸aise, hg. v. Josette Rey- Debove und Alain Rey, Paris 2000 , s.v. sacre´, 1 . 1 , 2261 . Weiterhin wird das Wörterbuch zitiert als Le Petit Robert. 197 Du Camp: Souvenirs Litte´raires (Anm. 15 ), 43 . 198 Ebenso wie schon 1884 der Patensohn Flauberts, Guy de Maupassant. In seiner Etude sur Gustave Flaubert hatte er Du Camp kritisiert, der die Krankheit Flauberts publik gemacht und den Zusammenhang zwischen ihr und dem Werk hergestellt hatte. Maupassant argumentiert im Gegensatz dazu, dass die Auswirkungen der Krankheit auf Flaubert nur gering gewesen seien (vgl. Guy de Maupassant: Etude sur Gustave Flaubert. In: Ders.: Pour Gustave Flaubert (Anm. 13 ), 35 - 112 , hier 40 f.). 199 Caroline Commanville: Souvenirs intimes (Anm. 14 ), X. Wenn Sartre in seiner voluminösen Flaubert- <?page no="203"?> 203 3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l'exte´rieur« derungen gestellt, »que parfois supportaient difficilement ceux qui en e´taient l’objet«. 200 Unterstützung erhielt ihre Einschätzung 1906 durch den Arzt Rene´ Dumesnil. Er stellte in seiner Flaubert-Biographie fest, der Schriftsteller habe nicht an Epilepsie, sondern an »attaques d’hyste´rie a` forme e´pileptoı ¨de, avec un fort appoint ne´vropathique« 201 gelitten. Im Übrigen sei du Camps Erinnerungsbuch »re´dige´ dans le dessein de nuire« 202 . Weil aber Du Camp die Verbindung zwischen Krankheit und Ästhetik hergestellt hatte, bemüht sich die Forschung bis heute um eine eindeutige Diagnose. Dabei zieht man zumeist die einschlägigen Passagen aus Flauberts Korrespondenz heran. In einem Brief an Ernest Chevalier beschreibt Flaubert die Krise von 1843: Sache donc, cher ami, que j’ai eu une congestion au cerveau, ce qui est a` dire comme une attaque d’apoplexie en miniature, avec accompagnement de maux de nerfs que je garde encore parce que c’est bon genre. J’ai manque´ pe´ter dans les mains de ma famille [ … ]. Je suis dans un foutu e´tat, a` la moindre sensation tous mes nerfs tressaillent comme des cordes a` violon, mes genoux, mes e´paules et mon ventre tremblent comme la feuille (Corr I, 203/ 1. 2. 1844). In Übereinstimmung mit solchen »maux de nerfs« ist in späteren Briefen rückblickend von einer »e´poque nerveuse« (Corr II, 128/ 6. 7. 1852), von »nerfs enthousiastes avec le cœur lent« (ebd., 58/ 20. 3. 1852) oder von einer »maladie nerveuse« (ebd., 697/ 30. 3. 1857) die Rede, wenn sich Flaubert nicht gar selbst als »vieil hyste´rique« (Corr III, 591/ 12. 1. 1867) bezeichnet. Man wird die Krankheit also - im Rückgriff auch auf Commanville und Dumesnil - am ehesten als eine Art Nervenkrankheit, Neurasthenie oder Hysterie bezeichnen müssen. 203 Schon 1909 folgerte aber Rene´ Descharmes aus solcher Uneindeutigkeit: »[I]l suffira sans doute de ranger cette maladie dans le groupe tre`s ge´ne´ral des ne´vroses.« 204 Warum aber einen, der Empirisches sein Leben lang verachtete, überhaupt auf die Konstellationen des Natürlichen reduzieren? Wer sich von allem Hiesigen freischreiben will, sollte nicht an psychische Dispositionen rückgebunden werden. 205 Immerhin besaß die Krankheit für Flaubert einen entscheidenden Vorteil: Das leidige Pariser Jura-Studium konnte er aufgeben. Niemand machte Anstalten, dem Kranken wieder das anstrengende Studium in der Großstadt zuzumuten, dem Flaubert auch vor seiner Krise nur mit Mühe gewachsen schien. Es scheint in der Familie um diese Zeit beschlossen worden zu sein, dem Sohn die Zwänge einer Ausbildung und eines bürgerlichen Berufs zu ersparen. Flaubert konnte sich also dem Schriftstellerhandwerk widmen. Eine Notiz von 1846 bezeugt, dass auch er selbst die Ereignisse von 1843 - er war 22 Jahre alt - in diesem Sinne als Einschnitt bewertete: studie behauptet, »im Gehirn des Kleinen war vielleicht etwas von seiner Geburt an nicht in Ordnung: Epilepsie - das war der Name, den man Flauberts ›Krankheit‹ gab - bedeutete im Grunde unheilbare Idiotie«, so handelt es sich um Spekulationen. (Sartre: Idiot (Anm. 112 ), Bd. I, 16 ). Du Camp scheint der erste gewesen zu sein, der die These von der Epilepsie vorbrachte, und heftig hat man ihm darin widersprochen. Auch von Idiotie kann kaum die Rede sein. 200 Caroline Commanville: Souvenirs intimes (Anm. 14 ), XXVIII. 201 Rene´ Dumesnil: Flaubert (Anm. 20 ), 94 . 202 Rene´ Dumesnil: Flaubert. L’homme et l’œuvre (Anm. 20 ), 484 . 203 Karin Westerwelle (Ästhetisches Interesse (Anm. 112 ), 426 ff.) spricht von Flauberts hysterischem Lebensekel, ebenso Jana Ziganke (Schreibstrategien (Anm. 120 ), 116 ), Marthe Robert (En haine du roman (Anm 57 ), 82 ff.) hält Flauberts Krankheit hingegen für Epilepsie. 204 Rene´ Descharmes: Flaubert. Sa vie, son caracte`re, ses ide´es avant 1857, Paris 1909 , 195 . 205 In diesem Sinne auch Dünne: Asketisches Schreiben (Anm. 121 ), 222 f. Dass es sich übrigens, wie Barbara Vinken (Durchkreuzte Moderne, Anm. 125 , 19 ) meint, bei Flauberts Wunsch nach Verbannung des Eigenen aus der Schrift um eine »Kastrationsdynamik« handeln soll, bleibt zweifelhaft. <?page no="204"?> 204 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Celui qui vit maintenant et qui est moi ne fait que contempler l’autre qui est mort. J’ai eu deux existences bien distinctes. - Des e´ve´nements exte´rieurs ont e´te´ le symbole de la fin de la premie`re et de la naissance de la seconde. Tout cela est mathe´matique. Ma vie active, passionne´e, e´mue, pleine de soubresauts oppose´s et de sensations multiples, a fini a` 22 ans. A cette e´poque, j’ai fait de grands progre`s tout d’un coup, et autre chose est venu. Alors j’ai fait nettement pour mon usage deux parts dans le monde et dans moi: d’un coˆ te´ l’e´le´ment externe, que je de´sire varie´, multicolore, harmonique, immense, et dont je n’accepte rien que le spectacle, d’en jouir; de l’autre l’e´le´ment interne, que je concentre afin de le rendre plus dense et dans lequel je laisse pe´ne´trer, a` pleines effluves, les plus purs rayons de l’Esprit, par la feneˆtre ouverte de l’intelligence (Corr I, 322/ 31. 8. 1846). Doch wie passte Flauberts Bürgerhass zur neuen, bürgerlichen Lebensweise (»l’e´le´ment externe«) auf dem Landgut? Flaubert benötigte eine geraume Zeit, um sich über seine neue Lage Klarheit zu verschaffen. Weder in der soeben zitierten Passage noch einige Jahre später sah er eine Schwierigkeit darin, zugleich Bürger und Künstler zu sein. Noch 1853 lautete sein ›praktischer Grundsatz‹ in dieser Sache ähnlich wie 1846: »Oui, je soutiens (et ceci, pour moi, doit eˆtre un dogme pratique dans la vie d’artiste) qu’il faut faire dans son existence deux parts: vivre en bourgeois et penser en demi-dieu« (Corr II, 402/ 21. 8. 1853). Natürlich war offenkundig, dass das Leben in Croisset eine mehr als günstige Ausgangslage für den ›Halbgott‹ der Kunst darstellte. Die bürgerliche Existenz sollte den Künstler nicht verdrängen, sondern ihn erst ermöglichen. Nicht eine Geisteshaltung, sondern eine Art Kokon stellte Croisset dar, in den sich Flaubert vor der Welt zurückziehen konnte. 206 In dem Maße, wie die Bürgerkritik sich zur Konstante entwickelte, wurde Flaubert die eigene Bürgerlichkeit aber immer zweifelhafter. »[J]e suis parfois bien ennuye´ du bourgeois que j’ai sous la peau« (Corr III, 531/ 22. 9. 1866), vertraute er George Sand 1866 an. Doch den Bürger wurde er nicht los. Stattdessen war anzuerkennen, dass das Problem der Selbstbegründung im eigenen Leben wiederkehrte: Ein Rest an Empirie verhindert die völlige Befreiung von der irdischen Materialität. Aus dem Dilemma hat Flaubert keinen Ausweg gefunden. Oft spricht aus den Briefen zwar die Überzeugung, den Weg zu Geist und Askese zurecht eingeschlagen zu haben. 1853 schreibt Flaubert: »Non, ce qui me soutient, c’est la conviction que je suis dans le vrai , et si je suis dans le vrai, je suis dans le bien« (Corr II, 303/ 30. 4. 1853). 207 Noch 1865, inmitten der Arbeit an der zweiten Education , heißt es ebenso: »Je crois eˆtre dans le vrai« (Corr III, 441/ 26. 5. 1865). Doch diesen Zeugnissen ästhetischer Sicherheit steht eine Äußerung Flauberts gegenüber, die seine Nichte Caroline Commanville überliefert. Auf einem der letzten Spaziergänge mit ihr, nach dem gemeinsamen Besuch bei einer Freundin, die sie inmitten ihrer Kinder (»au milieu d’enfants charmants«) angetroffen hatten, habe Flaubert nachdenklich gesagt: ›Ils sont dans le vrai‹, me dit-il, en faisant allusion a` cet inte´rieur de famille honneˆte et bon. ›Oui‹, se re´pe´tait-il a` lui-meˆme gravement. 208 Die Formel ›eˆtre dans le vrai‹, die doch auf ästhetische Überzeugung gemünzt war, wird nun auf ein rein empirisches Familienglück übertragen. Doch nicht das Bedauern darüber, kein 206 Anton Tschechow hat eine ganz ähnliche Existenz in seiner Erzählung Der Mensch im Futteral beschrieben. Doch wäre es ganz falsch zu glauben, dass Flaubert die Augen vor der zeitgenössischen Realität verschlossen hätte. Durch seine Korrespondenz zieht sich eine Fülle zeitkritischer Kommentare, die von Bemerkungen zur Tagespolitik über die 1848 er-Revolution und das Empire bis hin zur Besetzung Frankreichs durch die preußischen Truppen reichen. 207 Hervorhebung von Flaubert. 208 Caroline Commanville: Souvenirs intimes (Anm. 14 ), XLII. <?page no="205"?> 205 3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l'exte´rieur« Familienvater geworden zu sein - wie Caroline Commanville in ihren Souvenirs vermutet: »Dans les dernie`res anne´es regretta-t-il [Flaubert, M. K.] de ne pas avoir pris la route commune? « 209 - wird aus Flaubert gesprochen haben. Wahrscheinlich, dass er sich gegen Ende seines Lebens die Beharrlichkeit der Empirie eingestand, die kein Aufwand aufzuheben vermag. Mag sie auch irreflexiv sein, ist sie doch dem Leben zugewandt und insofern gegenüber den negativen Forderungen der Kunst im Recht. Freilich musste es für Kunst und Geist immer ein Ärgernis sein, dass sich Empirisches weder in der Gesellschaft noch im eigenen Leben völlig ausschalten ließ. Noch ein später Brief demonstriert den Ekel vor dem Leben und dem eigenen Dasein, dessen physische Gebrechlichkeit besonders im Falle einer Krankheit mehr als sonst deutlich wurde: [J]’ai une grippe abominable, je tousse, je mouche, je crache et j’e´ternue sans discontinuer, avec accompagnement de fie`vre la nuit. De plus un joli bouton fleurit au milieu de mon front entre deux plaques rouges. Bref, je deviens extreˆmement laid et je me de´gouˆ te moi-meˆme (Corr IV, 770/ 22. 2. 1874). In Hinfälligkeit und Entstellung schien die Physis zu triumphieren. Flaubert reagierte darauf mit einem extremen Hass auf die Fesseln des Körpers, der sich bis zu suizidalen Phantasien steigerte. »Il arrive un moment ou` l’on a besoin de se faire souffrir , de haı ¨r sa chair, de lui jeter de la boue au visage, tant elle vous semble hideuse« (Corr II, 218/ 27. 12. 1852) 210 , lautet eine Passage aus einem Brief von 1852, die angesichts des Übergewichts an Fleischlichkeit den Willen zu rücksichtsloser Selbstkasteiung und körperlicher Erniedrigung bezeugt. Der Anspruch des Geistes bedrängt die Existenz und imaginiert Möglichkeiten der Befreiung aus dem irdischen Gefängnis. Deren radikalste ist die völlige Selbstvernichtung: »Je voudrais n’avoir ni corps ni cœur, ou plutoˆ t je voudrais eˆtre creve´ car la mine que je fais ici-bas est d’un ridicule exage´re´« (Corr I, 279/ 6./ 7. 8. 1846). Die eigene Lächerlichkeit, jenes » ridiculus sum » 211 aus der Strafarbeit des Charles Bovary, kann vor der Reflexion nicht gerechtfertigt werden. Die Herauslösung aus dem Dasein wäre daher der reinste Akt der Negativität. Als suizidaler Akt wird er im Frühwerk erwogen. Selbstmordgedanken finden sich, prominent ausgeführt, in Novembre aus dem Jahr 1842. Ihr Ausgangspunkt ist die vertraute Klage über die Last des Fleisches, die der Freiheit im Wege steht. Was läge also näher, als der Physis radikal zu entsagen? So befindet der vom Leben und der Liebe enttäuschte Erzähler: »[J]e suis ne´ avec le de´sir de mourir. Rien ne me paraissait plus sot que la vie et plus honteux que d’y tenir.« 212 Wer wie er, der Schriftsteller, »contre la vie, contre les hommes, contre tout« 213 eine namenlose Wut (»rage sans nom« 214 ) empfinde, dem müsse der Tod schön erscheinen. Schon Kindern könne man ansehen, dass sie sich in ihren Spielen aus dem Todesverlangen heraus willentlich aus dem Leben zu schaffen suchten. Man müsse also davon ausgehen, dass eigentlich jeder Mensch den Tod liebe: Alors la mort m’apparut belle. Je l’ai toujours aime´e; enfant, je la de´sirais seulement pour la connaı ˆtre, pour savoir qu’est-ce qu’il y a dans le tombeau et quels songes a ce sommeil; je me souviens avoir souvent gratte´ le vert-de-gris de vieux sous pour m’empoisonner, essaye´ d’avaler des e´pingles, 209 Ebd. 210 Hervorhebung von Flaubert. 211 Flaubert: Madame Bovary. In: Ders.: Œuvres (Anm. 139 ), Bd. I, 291 - 614 , hier 295 . 212 Flaubert: Novembre. Fragments de style quelconque. In: OJ 757 - 831 , hier 774 . 213 Ebd., 777 . 214 Ebd. <?page no="206"?> 206 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« m’eˆtre approche´ de la lucarne d’un grenier pour me jeter dans la rue … Quand je pense que presque tous les enfants font de meˆme, qu’ils cherchent a` se suicider dans leur jeux, ne dois-je pas conclure que l’homme, quoi qu’il en dise, aime la mort d’un amour de´vorant? il lui donne tout ce qu’il cre´e, il en sort et il y remonte, il ne fait qu’y songer tant qu’il vit, il en a le germe dans le corps, le de´sir dans le cœur. 215 Von derlei Sterbeverlangen getrieben, spielt der Erzähler immer wieder mögliche Todesarten durch - Tod durch Sturz in die Tiefe, Erdolchen, Erschießen oder Überfahrenwerden -, mittels derer er den Exitus herbeiführen will: Il est si doux de se figurer qu’on n’est plus! [ … ] Et je montais au haut des tours, je me penchais sur l’abı ˆme, j’attendais le vertige venir, j’avais une inconcevable envie de m’e´lancer, de voler en l’air, de me dissiper avec les vents; je regardais la pointe des poignards, la gueule des pistolets, je les appuyais sur mon front, je m’habituais au contact de leur froid et de leur pointe; d’autres fois, je regardais les rouliers tournant a` l’angle des rues et l’e´norme largeur des roues broyer la poussie`re sur le pave´, je pensais que ma teˆte serait ainsi bien e´crase´e, pendant que les chevaux iraient au pas. 216 Doch die Phantasien, die dem Wunsch nach Entlastung von der Empirie geschuldet sind (»il est si doux de se figurer qu’on n’est plus«), verfangen nicht. Immer wieder, so berichtet ein zweiter Erzähler später, habe der empirische Lebenswille den Schriftsteller vor dem Schritt in den Tod bewahrt: Il songea un instant s’il ne devait pas en finir, personne ne le verrait, pas de secours a` espe´rer, en trois minutes il serait mort; mais, de suite, par une antithe`se ordinaire dans ces moments-la`, l’existence vint a` lui sourire, sa vie de Paris lui parut attrayante et pleine d’avenir, il revit sa bonne chambre de travail, et tous les jours tranquilles qu’il pourrait y passer encore. 217 Im Moment der konkreten Lebensgefahr insistiert die Empirie auf ihrem Recht. Ihrer Einrede widersteht keine Logik, erst recht nicht eine der Negativität. Angesichts der reinen Vernichtung erscheint selbst ein verächtliches Leben besser als keines - und also folgt der Schriftsteller den Verheißungen künftigen Glücks. Auch Flaubert blieb auf der höchsten Treppenstufe des Elfenbeinturms (»au plus haut de notre tour d’ivoire, sur la dernie`re marche« (Corr II, 180/ 22. 11. 1852)) stehen. Es bleibt dabei: Ein Rest an Empirie ist nicht aufzuheben. Er kettet den ins Freie strebenden Geist umso fester ans Hiesige. Der Tod wird auf diese Weise immer aufgeschoben. Damit wird das negative Bemühen zum infiniten Zyklus, der im Bereich des Rhetorisch-Stilistischen - so wird im folgenden Kapitel zu zeigen sein - noch den überwiegenden Teil von Flauberts Ästhetik kennzeichnet. Wo aber nicht aktiv Hand an die Existenz gelegt werden konnte, durfte die Hoffnung aufs Lebensende dennoch nicht endgültig begraben sein. Novembre findet in diesem Sinne den Ausweg eines langsamen Absterbens, das auf der Konsequenz des todessehnsüchtigen Geistes (»par la seule force de la pense´e«) beruht: Enfin, au mois de de´cembre dernier, il mourut, mais lentement, petit a` petit, par la seule force de la pense´e, sans qu’aucun organe fut malade, comme on meurt de tristesse [ … ]. 218 215 Ebd. 216 Ebd., 778 . 217 Ebd., 831 . 218 Ebd. <?page no="207"?> 207 3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l'exte´rieur« Obwohl dieses Ende, wie der zweite Erzähler sogleich anmerkt, nur eine Romanfiktion sei, die man »par amour du merveilleux« 219 anerkennen möge, dürfte es sich in Wahrheit um eine Idealvorstellung Flauberts handeln. Die Aussicht auf einen Tod aus reinem Denken schien dem Geist jenes Richteramt zu überantworten, das ihn ebenso zum Ankläger der Physis wie zum Exekutor machte. Doch die Wunschvorstellung blieb auf die Literatur beschränkt. Flaubert selbst dachte sich nicht aus dem Leben hinaus. Er vertagte die endgültige Entscheidung. Denn einerseits brachte er das von der Kunst repräsentierte Denken gegen das Leben in Stellung und rühmte sowohl ästhetischen Rausch als auch asketische Entlastung: »De sorte que, pour ne pas vivre, je me plonge dans l’Art, en de´sespe´re´; je me grise avec l’encre comme d’autres avec du vin« (Corr III, 65/ 18. 12. 1859). Die Kunst soll dem Autor das Leben vom Hals schreiben (»pour ne pas vivre«). Doch daraus muss man nicht auf den Vollzug schließen. Denn andererseits galt gerade die Negativität der Kunst als lebensverlängernde Maßnahme: Quel foutu me´tier [das Schreiben, M. K.]! quelle sacre´e manie! Be´nissons-le pourtant ce cher tourment. Sans lui, il faudrait mourir. La vie n’est tole´rable qu’a` la condition de n’y jamais eˆtre (Corr II, 255/ 5. 3. 1853). Das Leben bedeutet den Tod. Aus solcher Morbidität errette nur die Kunst, indem sie aus der Teilhabe am Zeitlichen befreie. Dafür müsse man sie segnen (»Be´nissons-le«) und ein gewisses Maß an Qual und Pein sogar wertschätzen lernen (»ce cher tourment«). Nun mag die sublime Paradoxie nicht völlig überzeugen, dass ausgerechnet ein Verzicht auf das Dasein von den Nöten der Sterblichkeit entbinde. Zudem war auch der Schreibprozess schmerzhaft genug. Briefe zeugen von Flauberts geradezu körperlicher Marter, gegen den Überdruss am Sein anzuschreiben. Dass die Kunst Vernichtung fordere und empirische Glückseligkeit ausschließe, führt ein Brief vom September 1853 aus: Rien ne s’obtient qu’avec effort; tout a son sacrifice. La perle est une maladie de l’huı ˆtre et le style, peut-eˆtre, l’e´coulement d’une douleur plus profonde. N’en est-il pas de la vie d’artiste, ou plutoˆ t d’une œuvre d’Art a` accomplir, comme d’une grande montagne a` escalader? Dur voyage, et qui demande une volonte´ acharne´e! D’abord on aperc ¸oit d’en bas une haute cime. Dans les cieux, elle est e´tincelante de purete´, elle est effrayante de hauteur, et elle vous sollicite cependant a` cause de cela meˆme. On part. Mais a` chaque plateau de la route, le sommet grandit, l’horizon se recule, on va par les pre´cipices, les vertiges et les de´couragements. Il fait froid et l’e´ternel ouragan des hautes re´gions vous enle`ve en passant jusqu’au dernier lambeau de votre veˆtement. La terre est perdue pour toujours, et le but sans doute ne s’atteindra pas. C’est l’heure ou` l’on compte ses fatigues, ou` l’on regarde avec e´pouvante les gerc ¸ures de sa peau . L’on n’a rien qu’une indomptable envie de monter plus haut, d’en finir, de mourir. [ … ] Mourons dans la neige, pe´rissons dans la blanche douleur de notre de´sir, au murmure des torrents de l’Esprit, et la figure tourne´e vers le soleil (ebd., 432/ 16. 9. 1853)! Alles Tun fordere sein Opfer. Wie die Perle das Produkt einer Krankheit der Auster sei, so beruhe auch ein Kunstwerk auf Anstrengung und Schmerz. Einer Bergbesteigung vergleichbar sei seine Produktion. Höhe und Einsamkeit der Regionen des Geistes wirken sich auf die empirische Befindlichkeit aus. Sie trennen vom Irdischen ab (»la terre est perdue pour toujours«), Kälte durchdringt die Kleidung (»jusqu’au dernier lambeau de votre veˆtement«), mit Entsetzen (»e´pouvante«) sieht der Bergsteiger-Autor auf die Schrunden, die er sich 219 Ebd. <?page no="208"?> 208 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« zuzog (»gerc ¸ures de sa peau«), und wünscht sich den Tod (»indomptable envie [ … ] de mourir«). Dabei weiß er, dass er, der die Welt bereits verlor, trotz seiner Mühen den Gipfel niemals erreichen wird (»le but sans doute ne s’atteindra pas«). Weder reine Selbsterfassung noch das von aller Empirie befreite Kunstwerk wird es also je geben. Die Vergeblichkeit ist dem Schreibprozess inhärent, der sich doch gerade an ihr immer aufs Neue entzündet. In makabrer Drastik insistieren andere Briefstellen auf dem Selbstopfer für die Schrift, wenn sie explizit die Schreibfeder mit einem Dolch (»poignard«) vergleichen: Personne, depuis qu’il existe des plumes, n’a tant souffert que moi par elles. Quels poignards! et comme on se laboure le cœur avec ces petits outils-la` (ebd., 838/ 31. 10. 1858)! 220 Die Messermetaphorik, die Flaubert schon seit 1838 kennt und im semantischen Feld des Sezierens (›disse´quer‹) erschloss - »Je disse`que sans cesse« (Corr I, 35/ 26. 12. 1838) -, bezieht sich in den 1850er Jahren auf den Versuch, im Schreibakt aus dem empirischen Menschen den intelligiblen herauszuschneiden. Eine Passage klagt in diesem Sinne über die häufig empfundene Kälte des Skalpells im Fleisch - »Que des fois j’ai senti dans mes meilleurs moments le froid du scalpel qui m’entrait dans la chair! « (Corr II, 124/ 3. 7. 1852) -, eine andere beruft die Vorstellung einer vollkommenen Kunst, die den Schriftsteller wie ein Dolchstich (»comme un coup de stylet«) durchzucken und das Denken zum Schönen befreien würde: J’en conc ¸ois pourtant un, moi, un style: un style qui serait beau, que quelqu’un fera a` quelque jour [ … ], et qui serait rythme´ comme le vers, pre´cis comme le langage des sciences, et avec des ondulations [ … ], un style qui vous entrerait dans l’ide´e comme un coup de stylet [ … ] (Corr II, 79/ 24. 4. 1852). Die Stelle ist um das Wortspiel »style« und »stylet« (Dolch, Stiletto) herum aufgebaut. Denn die beiden Substantive stammen vom lateinischen stilus ab, das sowohl den Stil als auch - ursprünglich - den Schreibgriffel meint: 221 So ist das Schreibgerät zugleich Stichwaffe und Mordinstrument, und der vollkommene Stil das Resultat einer Bluttat. Dennoch blieb es dabei, dass Flaubert die geforderte Konsequenz schreibend aufschob. Dabei wird ihm auch vor Augen gestanden haben, dass die auf die Spitze getriebene Askese auch das Ende jeglicher Literatur bedeutet hätte. Reine Negativität höbe neben allem Empirischem auch die Materialität der Schrift auf. Der Rest an Empirie, den Flaubert immer zu minimieren bemüht war, erwies sich damit als ebenso verächtlich wie notwendig. Daraus folgte, dass auch der negative Anspruch reiner Selbsterfassung utopisch blieb. Der vielbeschworenen Qualen des Denkens und der Kunst, »les affres de l’art« (Corr II, 234/ 12. 1. 1853), konnte sich Flaubert nicht entledigen. Sein Leben lang war ihm beides eine unheilbare Wunde (»incurable plaie«), die er sich selbst ebenso zufügte wie er ihre Heilung immer verhinderte: »Je suis abruti d’art et d’esthe´tique et il m’est impossible de vivre un jour sans gratter cette incurable plaie, qui me ronge« (ebd., 752/ 6. 8. 1857). 220 Ganz ähnlich - durch den Wunsch nach dem Abschied aus dem Hiesigen - sind übrigens die Messerphantasien Kafkas begründet. Vgl. dazu das Kafka-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 221 Le Petit Robert, s.v. stylet ( 2412 ) und style ( 2411 ). <?page no="209"?> 209 3.4 Die Genese des »style«: Exoterik und Esoterik 3.4 Die Genese des style: Exoterik und Esoterik Die ideale, ihrer selbst gewisse oder freie Existenz verschob Flaubert in die Kunst. Literatur sollte die ersehnte Immaterialität herbeischreiben und der verächtlichen beˆtise reine Geistigkeit entgegensetzen. Insofern ist auch Flauberts Ästhetik aus dem Bemühen nach Askese abzuleiten: Sie setzt den Kampf gegen Hiesiges mit den Mitteln der Kunst fort. Solche Literatur prägt das Bestreben nach Ablösung von den Niederungen der Wirklichkeit, und in diesem Sinne ist sie anti-realistisch. Wohl aber steht dann auch die Wiederkehr jenes asketischen Dilemmas zu erwarten, das die Aufhebung des Realen beständig vertagt. Über Jahre hinweg hat Flaubert diese ästhetische Position in Briefen und Werken entwickelt und dargelegt. Eine systematische Poetik im strengen Sinne hat er dabei nicht formuliert. Wohl nicht im Theoretisieren erblickte er seine eigentliche Kompetenz. Als er etwa 1872 Hegels Vorlesungen über die Ästhetik las, bekannte er, völlig »abruti [ … ]« (Corr IV, 505/ 31. 3. 1872) - ›benommen‹ - zu sein. Schwerer wog freilich die Kritik, die er an der Form jeglicher Ästhetik übte. Als steriles, theoretisches System enthalte sie weder Leben noch Gefühl und könne so das Schöne nicht erfassen: On e´tudie sur des mannequins, sur des traductions, d’apre`s des professeurs, des imbe´ciles incapables de tenir l’instrument de la science qu’ils enseignent, une plume, je veux dire, et la vie manque! l’amour! l’amour, ce qui ne se donne pas, le secret du bon Dieu, l’aˆme, sans quoi rien ne se comprend (Corr II, 427/ 7. 9. 1853). 222 Ästhetiker zergliedern die um keine Terminologie besorgte Formenvielfalt in kontradiktorische Epochen und Begrifflichkeiten. Die dabei entstehende Verwirrung hat Flaubert in seinem letzten, Fragment gebliebenen Roman Bouvard et Pe´cuchet satirisch geschildert: D’abord, qu’est-ce que le Beau? Pour Schelling, c’est l’infini s’exprimant par le fini; pour Reid, une qualite´ occulte; pour Jouffroy, un fait inde´composable; pour De Maistre, ce qui plaı ˆt a` la vertu; pour le P. Andre´, ce qui convient a` la raison. 223 Unzulänglich ist jegliche ästhetische Schule. Also sah Flaubert von der Gründung einer eigenen ab: »J[e] veux prouver l’insuffisance des e´coles, quelles qu’elles soient, et bien de´clarer que nous n’avons pas la pre´tention, nous autres, d’en faire une et qu’il n’en faut pas faire« (Corr II, 427/ 7. 9. 1853). Zwar hielt ihn das nicht davon ab, seine ästhetischen Überzeugungen immer wieder darzulegen und auch in Gesprächen vehement zu vertreten. 224 Doch mehr als das Bedürfnis nach systematischer Begründung waren es wohl situativ bedingte Notwendigkeiten - etwa ästhetische Differenzen oder die perhorrheszierte Emotionalität seiner weiblichen Briefpartnerinnen -, die ihn zur Vergewisserung seiner Position anhielten. Die Forschung hat Flauberts literarische Grundsätze, wie sie sich in den Briefen finden, im Wesentlichen zusammengestellt. Schon Maupassant und Caroline Commanville betonten 222 Ebenso macht sich auch die Passage vom 18 . 6 . 73 über ästhetisierende Professoren lustig: »Je lis maintenant l’esthe´tique du sieur Le´vesque, professeur au Colle`ge de France. Quel cre´tin! Brave homme du reste, et plein des meilleures intentions. Mais qu’ils sont droˆ les, les universitaires, du moment qu’ils se meˆlent de l’Art« (Corr IV, 677 / 18 . 6 . 1873 )! 223 Flaubert: Bouvard et Pe´cuchet. In: Œuvres (Anm. 139 ), 711 - 990 , hier 840 . 224 Zola hat in einem Beitrag für den Messager de l’Europe (Juli 1880 ) eins dieser Streitgespräche beschrieben: »Quand il [Flaubert, M. K.] s’e´chauffait dans une discussion, il en arrivait a` nier tout ce qui n’e´tait pas le style« (zit. nach Dictionnaire Flaubert, s.v. style, 655 - 657 , hier 657 ). <?page no="210"?> 210 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« die Bedeutung, die Flaubert unpersönlicher Objektivität in seinen Texten beimaß. 225 Kritiker brachten den Verzicht auf Persönliches schon früh mit der Methode naturwissenschaftlicher Analyse in Verbindung. 226 Dabei konnten sie auf Sainte-Beuves berühmtgewordenes Diktum aus dessen Bovary -Rezension zurückgreifen, das dem Arztsohn Flaubert medizinischsezierendes Schreiben unterstellte: »Fils et fre`re de me´decin distingue´s, M. Gustave Flaubert tient la plume comme d’autres le scalpel.« 227 Nun galt Flaubert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Autor des Realismus. Dabei wurde freilich übersehen, dass er sich nicht allein der Mimesis verpflichtet wusste. So lassen seine Briefe die ganze Mühsal und Komplexität jener Arbeit an der Ästhetik ermessen, die ihn bis zu seinem Tod beschäftigte. Ein idealer Stil (»le style«) schwebte Flaubert vor, der zunächst nicht leicht fassbar wurde: A mesure que j’e´tudie le style je m’aperc ¸ois combien je le connais peu et j’en ai parfois des de´couragements si intimes que je suis tente´ de laisser tout la` et de me mettre a` faire des choses plus aise´es (Corr I, 478/ Oktober 1847). Doch 1846 beginnen konkretere Reflexionen mit der Forderung, auf persönliche Gefühle in der Literatur zu verzichten. Gegen das Sentiment führt Flaubert die ästhetische Form ins Feld, gegen das unmittelbare Involviertsein ein ›interesseloses‹ Wohlgefallen am Schönen: Il ne faut pas toujours croire que le sentiment soit tout, dans les arts, il n’est rien sans la forme. Tout cela est pour dire que les femmes qui ont tant aime´ ne connaissent pas l’amour, pour en avoir e´te´ trop pre´occupe´es, elles n’ont pas un appe´tit de´sinte´resse´ du Beau (Corr I, 296/ 12. 8. 1846). Kunst sei keine Herzensergießung. Das persönliche Erleben stehe der Kunstproduktion geradezu entgegen. In einer Wendung gegen jede Romantik - und damit ebenso gegen das eigene Frühwerk wie gegen die Mehrheit der zeitgenössichen französischen Autoren - verlangt Flaubert die Reinigung von allen Affekten. Nicht hitzig, sondern kühl und überlegt müsse man schreiben: »Il faut e´crire plus froidement. [ … ] Tout doit se faire a` froid, pose´ment« (Corr II, 252/ 27. 2. 1853). Die Fundstellen in den Briefen lassen sich fast nach Belieben ergänzen. »La passion ne fait pas les vers« (ebd., 127/ 6. 7. 1852), schreibt Flaubert 1852, oder wiederum antiromantisch: J’aime ma petite nie`ce comme si elle e´tait ma fille [ … ]. Mais que je sois e´corche´ vif, plutoˆ t que d’exploiter cela en style! Je ne veux pas conside´rer l’art comme un de´versoir de passions, comme un pot de chambre un peu plus propre qu’une simple causerie, qu’une confidence. Non! non! la Poe´sie ne doit pas eˆtre l’e´cume du cœur. [ … ] La personnalite´ sentimentale sera ce qui plus tard fera passer pour pue´rile et un peu niaise, une bonne partie de la litte´rature contemporaine (ebd., 557/ 22. 4. 1854). 228 Die Kunst dürfe kein ›Ausfluss der Leidenschaften‹ (»de´versoir 229 de passions«) sein. Dergleichen »prostitutions personnelles en art« (ebd., 145/ 1. 9. 1852) verachtete Flaubert. Wer seine Existenz von aller Physis befreien will, muss auch in Kunstsachen auf die Liquidierung 225 Vgl. Guy de Maupassant: Etude sur Gustave Flaubert (Anm. 199 ), 47 sowie Caroline Commanville: Souvenirs intimes (Anm. 14 ), XXXVII. 226 Dumesnil: Flaubert (Anm. 20 ), 95 f; Friedrich: Drei Klassiker (Anm. 34 ), 104 f; Frey: Ästhetische Begriffswelt (Anm. 55 ), 162 f. 227 Sainte-Beuve: »Gustave Flaubert«. In: Ders.: Panorama de la litte´rature franc ¸aise de Margue´rite de Navarre aux fre`res Goncourt. Portraits et Causeries, hg. v. Michel Brix, Paris 2004 , 1429 - 1444 , hier 1444 [zuerst: Le Moniteur, 4 . 5 . 1857 ]. 228 Hervorhebungen von Flaubert. 229 ›De´versoir‹ bedeutet eigentlich ›Überlaufvorrichtung‹. <?page no="211"?> 211 3.4 Die Genese des »style«: Exoterik und Esoterik der eigenen Person drängen: »Nul lyrisme, pas de re´flexions, personnalite´ de l’auteur absente« (ebd., 40/ 31. 1. 1852). Flaubert hat das Prinzip einer solchen nüchternen und entpersönlichten Literatur impersonnalite´ (Unpersönlichkeit) genannt und es bereits in der Bovary angewendet: Madame Bovary n’a rien de vrai. C’est une histoire totalement invente´e ; je n’y ai rien mis ni de mes sentiments ni de mon existence. L’illusion (s’il y en a une) vient au contraire de l’impersonnalite´ de l’œuvre. C’est un de mes principes, qu’il ne faut pas s’e´crire (Corr II, 691/ 18. 3. 1857). 230 Der Ausmerzung romantischer Befindlichkeit folgte diejenige des urteilenden Subjekts. Der Autor solle sich auch aller persönlichen Meinungen enthalten: Je trouve [ … ] qu’un romancier n’a pas le droit d’exprimer son opinion sur quoi que ce soit. [ … ] Le premier venu est plus inte´ressant que M. G. Flaubert, parce qu’il est plus ge´ne´ral , et par conse´quent plus typique (Corr IV, 575/ 5. 12. 1866). 231 Übrig blieb eine Literatur, die in interner Fokalisierung und im style indirect libre auch narratologisch auf ein übergeordnetes Autorwissen verzichtet. Ohnehin könne das beschränkte Individuum den Gang der Menschheit nicht angemessen auf den Begriff bringen. Urteile verfälschten immer die Realität: »On fausse toujours la re´alite´ quand on veut l’amener a` une conclusion qui n’appartient qu’a` Dieu seul« (Corr III, 352/ 23. 10. 1863). Und auch Philosophie, Religion oder Kunst gingen jeweils von einer parti pris aus, so dass sie nur wie durch farbige Gläser hindurch (»verres de couleur«) auf die Dinge sähen: [N]ous pataugeons dans une barbarie de sauvages: la philosophie telle qu’on la fait et la religion telle qu’elle subsiste sont des verres de couleur qui empeˆchent de voir clair parce que: 1. on a d’avance un parti pris; 2. parce qu’on s’inquie`te du pourquoi avant de connaı ˆtre le comment; et 3. parce que l’homme rapporte tout a` soi. ›Le soleil est fait pour e´clairer la terre.‹ On en est encore la` (Corr II, 786/ 12. 12. 1857). Also hätten kein Autor und kein großes Buch je geurteilt: »Aucun grand ge´nie n’a conclu et aucun grand livre ne conclut, parce que l’humanite´ elle-meˆme est toujours en marche et qu’elle ne conclut pas« (ebd., 718/ 18. 5. 1857). Gegen die »rage de vouloir conclure« (Corr- III, 353/ 23. 10. 1863) setzte Flaubert kalte Beobachtung: » Observons , tout est la`« (ebd.). Sie sollte in der Literatur alle »fictions« (ebd.) - also falsche Urteile - vermeiden helfen und Faktisches vorurteilslos in seiner Wahrheit wiedergeben: »[I]l faut dire le vrai« (Corr II, 202/ 9. 12. 1852). Flauberts Poetik der Moderne ist keine des Erfindens, sondern eine des objektiven Beobachtens, des »observer«, »voir« oder des »e´tudier«. Man müsse die Sachen eben sehen, wie sie seien: »Donc cherchons a` voir les choses comme elles sont et ne voulons pas avoir plus d’esprit que le bon Dieu« (ebd., 284/ 27. 3. 1853). Die Arbeit des »e´tudi[er] scientifiquement« (ebd., 716/ 18. 5. 1857) habe ein Autor zu leisten, und sie rückte die auf Wissen und Wahrheit abgestellte Literatur in die Nähe einer quasi wissenschaftlichen Tätigkeit. Damit war Flaubert gegenüber der zeitgenössischen, romantisierenden Literatur in Frankreich reichlich unzeitgemäß. Doch auch in der Auseinandersetzung mit ihr hat er sein Dogma vertreten 232 und die wertfreie Weltbeobachtung 1857 zum - neben der impersonnalite´ - zweiten Grundsatz der impartialite´ (Unparteilichkeit) erhoben: 230 Hervorhebungen von Flaubert. 231 Hervorhebung von Flaubert. 232 So notierte er zum Beispiel über den Romantiker Balzac, er sei zwar ein »grand homme« gewesen, aber aufgrund eines »de´faut de style« (Corr II, 366 / 28 . 6 . 53 ) weder ein »poe`te« (Corr V, 133 / 23 . 11 . 76 ) noch ein »e´crivain« (ebd.). Victor Hugo wurde kaum milder beurteilt. Er habe zwar Genie, ihm fehle aber die <?page no="212"?> 212 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Eh bien! je crois que jusqu’a` pre´sent on a fort peu parle´ des autres. Le roman n’a e´te´ que l’exposition de la personnalite´ de l’auteur et, je dirais plus, toute la litte´rature en ge´ne´ral, sauf deux ou trois hommes peut-eˆtre. Il faut pourtant que les sciences morales prennent une autre route et qu’elles proce`dent comme les sciences physiques, par l’impartialite´. Le poe`te est tenu maintenant d’avoir de la sympathie pour tout et pour tous , afin de les comprendre et de les de´crire. Nous manquons de science, avant tout [ … ] (Corr II, 785/ 12. 12. 1857). 233 Als objektiv-sachlichen Autor und Verfechter eines kühlen wissenschaftlichen Realismus las man Flaubert nun. 234 Der Exoterik 235 seiner Texte nach - also nach dem äußerlichen Anschein des plots - schienen etwa die Romane historisch-realistische Studien. Madame Bovary galt als Sittengemälde des unerfüllten, in etwa zeitgenössichen Landlebens, Salammboˆ als historisierender Ausflug nach Karthago und die Education sentimentale als Geschichtsroman der gescheiterten Revolution von 1848. Auch die Verehrung, die die Naturalisten Flaubert in seinen letzten Lebensjahren entgegenbrachten, rührte wohl daher, dass man in ihm den Wegbereiter der eigenen szientifischen Theorien vermutete. Freilich hätte nachdenklich machen können, dass sich der so Geschätzte jeder Vereinnahmung entzog: »Loin de moi ceux qui se pre´tendent re´alistes, naturalistes [ … ]. Tas de farceurs, moins de paroles et plus d’œuvres! « (Corr V, 391/ 3. 6. 1878), und dass er Zola vorwarf, niemand wisse, was mit naturalistischer Literatur gemeint sei. 236 Auch sprach Flauberts Aussage, er habe Madame Bovary geradezu »en haine du re´alisme« (Corr II, 643/ 30. 10. 1856) verfasst, unverhohlen gegen die Subsumierung unter die Mimetiker - übrigens ebenso wie die Tatsache, dass der Autor sich über die Urteile, die über ihn kursierten, längst lustig gemacht hatte. Der Dictionnaire des ide´es rec ¸ues , von Flaubert als Enzyklopädie der beˆtise konzipiert, führt unter dem Stichwort romans aus: »Il y a des romans e´crits avec la pointe d’un scalpel [ … ].« 237 Die Dummheit des bürgerlichen Kunstsachverstands gipfelt ausgerechnet in Sainte-Beuves Diktum über die Bovary . Freilich mag Flauberts Reserviertheit überraschen. Hatte er sich etwa nicht selbst zum Autor eines objektiven Realismus erklärt? Der Widerspruch ist jedoch weder Versehen noch Einzelfall. Nahezu keine der stilistischen Positionen in Flauberts Briefen bleibt unbestritten. Wo aber der These die Gegenthese folgt, hebt sich alle Bedeutung auf. Auch deshalb ließ sich an keine konventionelle Regelpoetik denken: Was bliebe am Ende auch von ihr übrig, wenn sie sich selbst abzuschaffen scheint? Das Verfahren ist negativ. In seinem Bestreben, Signifikanz aufhzuheben, lässt es sich Flauberts Willen an die Seite stellen, sich im Leben von aller Physis zu befreien. Dass man Flaubert aber für einen Autor des Realismus halten konnte, zeigt ebenso wie seine Entrüstung, dass auch seine Schrift immer noch eine empirischmaterielle Seite besaß. Gabe »de faire des bonshommes vrais« (Corr IV, 774 / 28 . 2 . 74 ), und auch gegen die »purete´ de forme« habe er mit seinem Hang zur »chaleur d’un style palpitant« und zum ausufernden Metaphernreichtum immer wieder verstoßen. Zola rügte er in einem Brief wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen die Neutralität des Autors im Vorwort zu La Fortune des Rougon (vgl. Corr IV, 424 / 1 . 12 . 1871 ). 233 Freilich heißt es bereits 1842 : »Comprenons chaque chose et n’en blaˆmons aucune, c’est le moyen de savoir beaucoup [ … ]« (Corr I, 96 / 24 . 2 . 42 ). 234 Vgl. zur Geschichte dieser Lesart das obige Kapitel ›Flaubert, der Realist‹. 235 Zum Begriff vgl. Schlaffer: Exoterik und Esoterik (Anm. 19 ). 236 »Je suis content du succe`s pe´cuniaire de Zola. Mais c ¸a ne consolide pas le Naturalisme (dont nous attendons toujours la de´finition« (Brief an Guy de Maupassant, Corr V, 507 / 22 . 1 . 79 ). 237 Flaubert: Le dictionnaire des ide´es rec ¸ues. In: Œuvres (Anm. 139 ), Bd. II, 999 - 1023 , hier 1021 . <?page no="213"?> 213 3.4 Die Genese des »style«: Exoterik und Esoterik Flauberts Poetik der Negativität wird etwa am vielberufenen dritten Prinzip des style deutlich, das die Forschung als impassibilite´ (Ungerührtheit, Gefasstheit) kennt. Wohl eine Konkretisierung der impersonnalite´ , 238 fomuliert es doch eine Einrede gegen jene Abwesenheit des Autors, die als Grundlage der Literatur gelten sollte: L’auteur, dans son œuvre, doit eˆtre comme Dieu dans l’univers, pre´sent partout, et visible nulle part. L’art e´tant une seconde nature, le cre´ateur de cette nature-la` doit agir par des proce´de´s analogues: que l’on sente dans tous les atomes, a` tous les aspects, une impassibilite´ cache´e et infinie (Corr II, 204/ 9. 12. 1852). Gegen die strenge Entpersönlichung heißt es nun, der Autor solle in seinem Werk ›überall anwesend‹ (»pre´sent partout«) sein, freilich so, dass er ›nirgends sichtbar‹ (»visible nulle part«) sei. Der Dichter als alter creator setze nach göttlichem Vorbild eine zweite Weltschöpfung ins - ästhetische - Werk. Bei dieser Nachahmung müsse er in Analogie zu den Schöpfungsprinzipien des Allerhöchsten verfahren, die mit deutlich spinozistischen Zügen 239 als unsichtbare Allgegenwart und ›verborgene und unendliche Ungerührtheit‹ (»impassibilite´ cache´e et infinie«) bestimmt werden. So soll auch für den Schriftsteller gelten, dass er leidenschaftslos vorzugehen und in seinem Werk überall präsent zu sein habe. An Louise Colet schreibt Flaubert: Toi disse´mine´e en tous, tes personnages vivront, et au lieu d’une e´ternelle personnalite´ de´clamatoire, qui ne peut meˆme se constituer nettement, faute de de´tails pre´cis qui lui manquent toujours a` cause des travestissements qui la de´guisent, on verra dans tes œuvres des foules humaines. [ … ] L’art [ … ] doit rester [ … ] inde´pendant de son producteur (Corr II, 61 f./ 27. 3. 1852). Der Autor bleibe gerade durch die von ihm erfundenen Personen anwesend - obwohl er sich in sie gerade ›verstreue‹ (»disse´miner«), hinter sie zurücktrete und dadurch unsichtbar werde. Negativität mag zwar fordern, die immer und vor aller Reflexion bestehende Last der Empirie, auch der eigenen, zu beseitigen. Doch bei der Liquidation des Autors handelt es sich nur um eine ästhetische - und narratologische 240 - Illusion, die zur Exoterik des Textes gehört: Der Verzicht auf Autorkommentare erweckt nur den Anschein der Objektivität. Nicht wirklich unabhängig vom Verfasser (»inde´pendant de son producteur«) ist das literarische Kunstwerk. Das zeigt die Äußerung Flauberts: »Madame Bovary, c’est moi« 241 ebenso wie die folgende Briefstelle zum Saint Antoine , in der sich Flaubert an die Stelle seines Heiligen versetzt: La passion ne fait pas les vers. - Et plus vous serez personnel, plus vous serez faible. J’ai toujours pe´che´ par la`, moi; c’est que je me suis toujours mis dans tout ce que j’ai fait. - A la place de saint Antoine, par exemple, c’est moi qui y suis. La tentation a e´te´ pour moi et non pour le lecteur. - Moins on sent une chose, plus on est apte a` l’exprimer comme elle est (comme elle est toujours , en elle-meˆme, dans sa ge´ne´ralite´, et de´gage´e de tous ses contingents e´phe´me`res). Mais il faut avoir la faculte´ de se la 238 So schon Frey: (Ästhetische Begriffswelt (Anm. 55 ), 169 und 200 ), der impersonnalite´ und impassibilite´ jeweils als Einheit von Empathie und Objektivität beschreibt. 239 Vgl. zu Flauberts Spinozismus ausführlich das folgende Unterkapitel zu Flaubert und Goethe. 240 Vgl. zur Illusion einer vollkommenen Erzähler Jünke: Polyphonie (Anm. 64 ): Die durchaus existierenden Diskrepanzen zwischen Figurenperspektive und fiktiver Realität werden durch »Erzählerkommentare« ( 124 ) markiert, und deutlich sind die Figuren oft »unzuverlässige Fokalisierungsinstanzen« ( 125 ) 241 Flaubert habe dies zu Ame´lie Bosquet gesagt, einer Schriftstellerin, die er 1858 in der Bibliothe`que Municipale von Rouen kennengelernt hatte. Vgl. Dictionnaire Flaubert, s.v. Bosquet, Ame´lie, 73 - 74 , sowie Corr II, 1357 . <?page no="214"?> 214 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« faire sentir . Cette faculte´ n’est autre que le ge´nie. Voir. - Avoir le mode`le devant soi, qui pose (Corr II, 127 f./ 6. 7. 1852). 242 Der Schreibprozess verstößt gegen die impersonnalite´ . Sie sei zwar wichtig für die Erfassung reiner Phänomenalität. Doch entgegen seiner eigenen Theorie habe er, Flaubert, sich immer in die Werke eingebracht (»je me suis toujours mis dans tout ce que j’ai fait«), weil die Voraussetzung für die literarische Schöpfung laute, eine darzustellende Sache selbst zu fühlen (»se la faire sentir«). So hat Flaubert auch Wert auf eigene Erfahrungen gelegt und etwa die in der Education beschriebene Kutschreise von Rouen nach Paris zum Zwecke besserer Wiedergabe selbst unternommen. 243 Freilich musste sich der Autor von diesem Textgehalt an Eigenem immer wieder schreibend befreien. Entsprechende Behauptungen, etwa: » Madame Bovary n’a rien de vrai. C’est une histoire totalement invente´e ; je n’y ai rien mis ni de mes sentiments ni de mon existence« (Corr II, 691/ 18. 3. 1857) 244 , sind daher bei aller Widersprüchlichkeit keine Fehler in der Theorie, sondern sie markieren den Punkt, an dem die negative Poetik Empirisches aufzuheben trachtet. Richtig hätte Flaubert daher formulieren müssen, er habe versucht, die eigene Befindlichkeit aus den Texten herauszuschreiben. Dass aber sein Vorhaben nur bis zu einem gewissen Grad erfolgreich sein konnte, mag dazu beigetragen haben, Flaubert das stereotype Urteil über die kalt und wie mit einem Skalpell geschriebene Bovary verächtlich zu machen. Doch die impassibilite´ redet nicht nur gegen das Prinzip strenger Unpersönlichkeit. Sie betrifft auch die Überlegungen zur impartialite´ . Denn die vorurteilsfreie und rein phänomenale Weltbetrachtung verträgt sich kaum mit einem Autor, der in seinen Figuren - und im plot - anwesend bleibt. Die dargestellte Welt zeichnet keine objektive Realität auf, sondern beruht auf den ästhetischen und sonstigen Vorlieben des Autors. Was immer in einem Text zur Sprache kommt, ist das Resultat einer vom Autor vorgenommenen Auswahl: 245 L’art n’est pas la re´alite´. Quoi qu’on fasse, on est oblige´ de choisir dans les e´le´ments qu’elle fournit. Cela seul [ … ], est de l’ide´al, d’ou` il re´sulte qu’il faut bien choisir (Corr V, 568/ 7. 3. 1879). Die nach Gutdünken konstruierende Kunst ist von der Realität unterschieden, die in ihrer Phänomenalität nichts bevorzugt. Die bloße Wiedergabe kruder Fakten, die man Flaubert gemäß der impartialite´ lange nachsagte, ist also gar nicht beabsichtigt. Ein Realist in diesem Sinne ist Flaubert nicht, und infolgedessen hatte er an seiner »haine du re´alisme« (Corr II, 643/ 30. 10. 1856) keinen Zweifel gelassen. Dass man aber Flaubert überhaupt einsinnig las, liegt daran, dass der Stil die ausgesuchten Elemente der Realität vorurteilslos darzustellen sucht: Die Exoterik des Textes generiert den Schein von Objektivtät und macht die subjektive Bearbeitung des Autors ebenso wie dessen Existenz vergessen. Dass sie aber als irreduzibler Rest vorhanden bleibt, markiert die Grenze des Projekts einer Ausmerzung aller Befindlichkeit aus der Literatur. In einer charakteristischen Pendelbewegung verharren die Texte zwischen den Polen von Geist und Empirie, von denen einer auf den anderen verweist. 242 Hervorhebungen von Flaubert. 243 Vgl. dazu Pierre-Marc de Biasi: Le cryptage du re´el (Anm. 69 ), hier 74 . 244 Hervorhebung von Flaubert. 245 In diesem Sinne spricht Rene´ Wellek (»Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft«. In: Ders.: Grundbegriffe der Literaturkritik, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 2 1971 , 161 - 182 ) davon, dass der Realismus sein Ziel der Objektivität nie erreiche, weil er nicht eine »völlig getreue Darstellung der Wirklichkeit« ( 174 ) liefere, sondern immer »didaktisch, lehrhaft, reformierend« ( 181 ) sei. So heißt es folgerichtig gegen den als reine Aufzeichnungsästhetik verstandenen Realismus: »Letzten Endes ist die realistische Theorie schlechte Ästhetik; denn alle Kunst ist ›Schaffen‹ und bildet eine eigene Welt des Scheins und der symbolischen Formen« ( 182 ). <?page no="215"?> 215 3.4 Die Genese des »style«: Exoterik und Esoterik Indessen reichten Flauberts ästhetische Überlegungen weiter. Eine Briefpassage führt den Gedanken ein, dass der Stil neben der Exoterik auch die Esoterik des Textes generiert. Denn dargelegt wird, dass dem Autor das real Vorliegende nur als Ausgangspunkt für eine literarische Überformung dient: Il ne s’agit pas seulement de voir. Il faut arranger et fondre ce que l’on a vu. La Re´alite´, selon moi, ne doit eˆtre qu’un tremplin . Nos amis sont persuade´s qu’a` elle seule, elle constitue tout l’Art! Ce mate´rialisme m’indigne (Corr V, 337/ 8. 12. 1877). 246 Bislang hatte gegolten, dass Literatur bei aller subjektiven Grundierung doch das real Vorliegende abbilden müsse. Nun wird behauptet: Die Realität sei nur das ›Trampolin‹ (»tremplin«) für die Kunst. Die Metapher zeigt, dass auch die Esoterik des Textes eine Variante der Negativität ist. Das Materiell-Empirische, das manche für das einzige Element der Kunst hielten, sei nicht das Entscheidende. Vielmehr habe sich die Literatur von ihm gerade freizuschreiben. Wie ein Trampolinturner aus seinem Sportgerät müsse der Autor aus der Realität die Kraft für den Sprung über alles Reale hinaus gewinnen. Um sich von der Empirie loszumachen, müsse sie freilich ästhetisch weiterverarbeit werden (»arranger«, »fondre«). Erst als Transfiguration dessen, was der Autor durch seine Arbeit des voir und observer wahrnahm, kommt die Literatur zu ihrem Recht. 247 Stellte die negative Textexoterik also den Anschein der Objektivität her, so liquidiert ihn die Esoterik wieder, indem sie die dargestellte Wirklichkeit und mit ihr das mimetische Erzählen vernichten will. Die beiden Ebenen des Stils können erklären, warum die literarhistorischen Einordnungen Flauberts so unterschiedlich waren - und bis heute zumeist noch sind. Einzusehen bliebe, dass die Einseitigkeit, mit der die Positionen reklamiert wurden, in die Irre geht. Flauberts Stil beruht auf einer Poetik der Negativität, die These und Antithese umfasst. Das literarische Spiel zwischen den Polen Geist und Empirie oder negativem und positivem Prinzip inszeniert die zwei Seiten des Stils, Esoterik und Exoterik, als Synthesis zweier Gegensätze: Le style est autant sous les mots que dans les mots. C’est autant l’aˆme que la chair d’une œuvre (Corr III, 22/ 15. 5. 1859). Der Stil ›in‹ den Worten (»dans les mots«) meint die Exoterik, der Stil ›unter‹ den Worten (»sous les mots«) die Esoterik. Die Exoterik sorge dafür, dass ›Fleisch‹ (»la chair«) auf das erzählerische Gerippe komme, also sinnlich fassbare Bildlichkeit und plot . Esoterisch sei hingegen die ›Seele‹ (»l’aˆme«) des Werks, die andere als fleischliche Gelüste kennt. Wie Körper und Seele erst zusammen den Menschen ausmachen, verleihen auch Exoterik und Esoterik erst zusammen dem Werk seine spezifische Gestalt. Ohne den Geist wäre der Körper nur biologische Materie, ohne Physis der Geist ungebunden und flüchtig. Für das Kunstwerk bedeutet das: Ohne Esoterik wäre der Text Realismus, ohne Exoterik gestaltlose Idee, also nichtig. Die anthropomorphe Analogie gibt freilich zu denken Anlass, dass sich in dieser Kunst ein Dilemma wiederspiegelt, mit dem Flaubert auch im Leben vertraut war. Exoterik und Esoterik, Körper und Geist, Satz und Gegensatz widerstreiten zwar, nie aber hebt eins das andere vollständig auf. Uneindeutigkeit und Zurücknahme lassen sich an den einzelnen Prinzipien ebenso zeigen wie am Disput, den sie in der Frage austragen, ob Literatur Reales darstellen oder aufheben solle. Flauberts Poetik bricht sich zuletzt immer an 246 Hervorhebung von Flaubert. Die Äußerung fällt mit Blick auf die Naturalisten. 247 Corr II, 416 / 26 . 8 . 53 : »Je suis de´vore´ maintenant par un besoin de me´tamorphoses. Je voudrais e´crire tout ce que je vois, non tel qu’il est, mais transfigure´.« <?page no="216"?> 216 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« der Empirie: an der Beharrlichkeit des Hiesigen, das den Geist durch physisches Leben ebenso wie durch die Konventionen des Denkens - Grammatik, Begrifflichkeit, Logik - an sich fesselt. Seine Vorstellung von einer Esoterik des Stils hat Flaubert in einem bekannten Brief an Louise Colet ausführlich expliziert: Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien, un livre sans attache exte´rieure, qui se tiendrait de lui-meˆme par la force interne de son style, comme la terre sans eˆtre soutenue se tient en l’air, un livre qui n’aurait presque pas de sujet ou du moins ou` le sujet serait presque invisible, si cela se peut. Les œuvres les plus belles sont celles ou` il y a le moins de matie`re; plus l’expression se rapproche de la pense´e, plus le mot colle dessus et disparaı ˆt, plus c’est beau. Je crois que l’avenir de l’Art est dans ces voies. Je le vois, a` mesure qu’il grandit, s’e´the´risant tant qu’il peut, depuis les pylones e´gyptiens jusqu’aux lancettes gothiques, et depuis les poe`mes de vingt mille vers des Indiens jusqu’aux jets de Byron. La forme, en devenant habile, s’atte´nue; elle quitte toute liturgie, toute re`gle, toute mesure; elle abandonne l’e´pique pour le roman, le vers pour la prose; elle ne se connaı ˆt plus d’orthodoxie et est libre comme chaque volonte´ qui la produit. Cet affranchissement de la mate´rialite´ se retrouve en tout [ … ]. C’est pour cela qu’il n’y a ni beaux ni vilains sujets et qu’on pourrait presque e´tablir comme axiome, en se posant au point de vue de l’Art pur, qu’il n’y en a aucun, le style e´tant a` lui tout seul une manie`re absolue de voir les choses (Corr II, 31/ 16. 1. 1852). Die Stelle ist oft missverstanden worden. Das ›Buch über nichts‹ (»livre sur rien«), das nahezu keinen Gegenstand mehr hätte (»qui n’aurait presque pas de sujet«), zielt nicht auf reine Inhaltslosigkeit ab. Schon die Exoterik des Stils spricht dagegen, ebenso aber Flauberts während der Arbeit an der Education sentimentale geäußerte Klagen, es fehle ihm für den Roman an - historischen - Fakten und sie zu gewinnen, sei äußerst zeitaufwendig. 248 Gemeint ist das Gegenteil: Der Text müsse nach wie vor mit Fakten, plot und Stoff angereichert sein - aber so, dass dies alles unsichtbar werde (»invisible«). Prosa, schreibt Flaubert an Louise Colet, »a besoin d’eˆtre bourre´e de choses et sans qu’on les aperc ¸oive « (ebd., 446/ 30. 9. 1853). 249 Sichtbar, das gilt in der Literatur seit Ekphrasis, descriptio und ut pictura poiesis , sind in einem Text aber durch Begriffe generierte Bilder, die Welt mimetisch vor die Augen des Lesers stellen. Hinter der Exoterik steht also das esoterische Streben nach einer Vernichtung aller Bildlichkeit und Begrifflichkeit, das Flaubert als ›Befreiung des Textes von aller Materialität‹ (»affranchissement de la materialite´«) bezeichnet: das Ideal der fabula rasa , bei der Mimesis zugleich antimimetisch wird. Das Ideal einer radikal entstofflichten, reinen Kunst (»Art pur«) ist bezeichnet. Für sie existiert im strengen Sinne kein Gegenstand mehr, weil sie durch ihren Stil alle in die Absolutheit der Idee aufgelöst habe (»manie`re absolue de voir les choses«). Dann bilde sie »l’aˆme des choses« (Corr IV, 1000/ Ende Dezember 1875) ab, indem sie eine Sache so zeige »comme elle est toujours , en elle-meˆme« (Corr II, 127/ 6. 7. 1852), also in ihrem ewigen Wesen jenseits ihrer kontingenten Erscheinung (»de´gage´e de tous ses contingents e´phe´me`res« (ebd.)). Es ist jene ästhetische Suche nach Wahrheit, für die Flaubert ein quasi-wissenschaftliches Vorgehen gefordert hatte. 250 248 Am 15 . 4 . 63 schreibt Flaubert: »L’Education sentimentale en reste la`. Les faits me manquent« (Corr III, 319 / 15 . 4 . 1863 ). Und am 14 . 3 . 68 heißt es: »Et puis, quoi choisir parmi les Faits re´els? Je suis perplexe. C’est dur! Quant aux renseignements a` recueillir, c ¸a me demande un temps terrible« (ebd., 734 / 14 . 3 . 1868 )! 249 Hervorhebung von Flaubert. Vgl. Hans Blumenberg: »Das leere Weltbuch«. In: Ders.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/ Main 1 1986 [ 1981 ], 300 - 324 . 250 Die Arbeit an der Entstofflichung wird an anderer Stelle einem ästhetischen Gottesdienst verglichen. In <?page no="217"?> 217 3.4 Die Genese des »style«: Exoterik und Esoterik Die Entstofflichung des Textes, seine Befreiung von aller ›Bindung an Äußeres‹ (»attache exte´rieure«) sollte nicht nur Mimesis und Referenz betreffen, durch die Literatur auf Reales verweist, sondern auch die Materialität der Sprache, die in Prosodie, Lautbild und Zeichenkörper eine sinnlich-sonore Qualität besitzt. Reine Kunst verlangt eine reine Form, die das ästhetische Absolute adäquat wiedergebe: »[ … ] l’Ide´e n’existe qu’en vertu da sa forme« (Corr I, 350/ 18. 9. 1846). Für die Liquidation der konkreten Referenz sah Flaubert daher die Auflösung des Besonderen ins Allgemeine vor, dem Problem der Materialität sollte mit einer Arbeit an Wort und Klang begegnet werden. Im treffenden Wort (»mot juste« (Corr V, 31/ 3. 4. 1876)) und lautlichen Reinklang (»purete´ du son« (Corr II, 137/ 22. 7. 1852)) sollte sich die gesuchte Entstofflichung einstellen. Die Besessenheit, mit der Flaubert am Sprachmaterial arbeitete, ist weder rein rhetorische Stilübung 251 noch ein pathologischer Tick des Autors. 252 Denn von der Wortwahl - der Form - hängt ab, ob die Idee angemessen zur Sprache gebracht werden kann. An Mlle Leroyer de Chantepie schreibt Flaubert: Vous me dites que je fais trop attention a` la forme. He´las! c’est comme le corps et l’aˆme; la forme et l’ide´e, pour moi, c’est tout un et je ne sais pas ce qu’est l’un sans l’autre. [ … ] La pre´cision de la pense´e fait (et est elle-meˆme) celle du mot (Corr II, 785/ 12. 12. 1857). Präzises Denken führt zum präzisen Wort, und überhaupt gehörten Denken und Sprache zusammen wie Geist und Körper. Dann aber existiert für einen Gedanken nur ein einziger angemessener Ausdruck, die »formule supreˆme« 253 . Sie zu finden, ist die Aufgabe des Schriftstellers: »Tout le talent d’e´crire ne consiste apre`s tout que dans le choix des mots« (Corr II, 137/ 22. 7. 1852). Das reine Sprachzeichen sollte die eigene Materialität aufheben und den Blick auf die Idee freigeben: Ce que je voudrais nettement exprimer, c’est la marche ascendante du style, le muscle dans la phrase qui devient chaque jour plus dessine´ et plus raide. Ainsi [ … ], l’ide´e se pre´cise et la phrase se resserre, s’e´claire; elle laisse rayonner en elle l’ide´e qu’elle contient dans un globe de cristal, mais la lumie`re est si pure et si e´clatante qu’on ne voit pas ce qui la couvre. 254 der künstlerischen Formgebung, einer »chimie merveilleuse« (Corr II, 463 / 6 . 11 . 53 ) befreie der Schriftsteller die erzählten Fakten aus ihrer Verwurzelung im Hiesigen, so dass sie ›wie der reine Weihrauch des Geistes‹ ins Absolute aufstiegen: »Le Fait se distille dans la Forme et monte en haut, comme un pur encens de l’Esprit vers l’Eternel, l’immuable, l’absolu, l’ide´al« (ebd., 485 / 23 . 12 . 53 ). Es gilt in diesem Sinne der Grundsatz: »L’artiste doit tout e´lever« (ebd., 362 / 25 . 6 . 53 ). Mit dem Prozess der Vergeistigung begründet Flaubert übrigens den Vorrang der Prosa vor der Poesie. Denn anders als Verse wende sich Prosa »moins aux sens« (ebd., 446 / 30 . 9 . 53 ), und überhaupt fehle ihr alles »de ce qui fait plaisir« (ebd.), so dass sie als »art plus immate´riel« (ebd.) zu gelten habe. 251 So noch bei Thibaudet (Flaubert (Anm. 31 ), 221 - 185 ), der die bis heute sicher umfangreichste Liste der stilistischen Besonderheiten Flauberts aufstellt, ohne dass sich der Sinn solcher Stilübungen recht erschließt. 252 So Du Camps Unterstellung, Flauberts oft stockender Arbeitsprozess sei der angeblichen Epilepsie des Autors geschuldet (Souvenirs Litte´raires (Anm. 15 , 37 - 43 ). 253 Dictionnaire Flaubert, s.v. forme, 294 - 295 , hier 295 (Äußerung Flauberts zu Gautier im Journal von Edmond und Jules de Goncourt, Eintrag vom 3 . 1 . 57 ). 254 Gustave Flaubert: Pyre´ne´es-Corse. In: OJ, 645 - 726 , hier 675 . Ebenso am 7 . 6 . 1844 : »J’aime par-dessus tout la phrase nerveuse, substantielle, claire, au muscle saillant, a` la peau bistre´e: j’aime les phrases maˆles et non les phrases femelles« (Corr I, 210 / 7 . 6 . 1844 ). Ähnliche Äußerungen finden sich etwa am 7 . 9 . 1853 : »[L]e style c’est la vie! c’est le sang meˆme de la pense´e« (Corr II, 427 / 7 . 9 . 1853 )! und am 27 . 3 . 53 : »[L]e forme est la chair meˆme de la pense´e.« Das Resultat ist dann ästhetische Schönheit, die Flaubert ebenfalls durch einen physiologischen Prozess expliziert hatte: »[L]a Beaute´ transsude de la forme« (Corr I, 350 / 18 . 9 . 46 ), schwitzt sich also durch die Form aus. <?page no="218"?> 218 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Das Spiel von Exoterik und Esoterik wirkt hier als empirische Vitalität des Zeichenkörpers (»muscle«) und als sie übersteigende »me´taphysique dans l’art« 255 : Sie zielt auf die Befreiung von der Form (»de´gagement de la forme« 256 ), um den Gedanken wiederzugeben (»pour rendre la pense´e« 257 ). Freilich sind Denken und Sprache wandelbar, unscharf und beschränkt. Anstatt die reine Idee zu erfassen, können sie sich des irdischen Ballasts - etwa der Semantik und Grammatik - nicht entledigen. So klagt Flaubert über die Unabschließbarkeit des literarischen Schaffensprozesses: »Que de re´pe´titions de mots je viens de surprendre! Que de tout , de mais , de car , de cependant ! Voila` ce que la prose a de diabolique, c’est qu’elle n’est jamais finie« (Corr II, 364/ 28. 6. 1853). Und gerade dieser Vergeblichkeit sind die aufwendigen und langwierigen Korrekturen geschuldet, in denen Flaubert gesucht hat, alle Begrifflichkeit in eine reine Gestalt aufzulösen. Dazu sollte auch der Sprachklang (»son«) beitragen. Dem »rapport entre le mot juste et le mot musical« (Corr V, 31/ 3. 4. 1876) spürte Flaubert in seinem gueuloir nach, bei dem Schreien und Schreiben sich zu entsprechen hatten. 258 In langen und lauten Sitzungen, an denen sich niemand stören durfte, 259 stellte er seine Texte im Arbeitszimmer auf die akustische Probe. Solange brüllte (›gueuler‹) er sie förmlich heraus, bis er mit ihrer »musique« 260 zufrieden war und die »expression juste« (Corr V, 26/ 10. 3. 1876) gefunden hatte, die zugleich auch »l’harmonieuse« (ebd.) war. Die Arbeit brachte ihn des Öfteren bis an den Rand körperlicher Erschöpfung: La teˆte me tourne, et la gorge me bruˆ le, d’avoir cherche´, buˆ che´, creuse´, retourne´, farfouille´ et hurle´ de cent mille fac ¸ons diffe´rentes, une phrase qui vient enfin de se finir. - Elle est bonne. J’en re´ponds; mais ce n’a pas e´te´ sans mal (Corr II, 540/ 25. 3. 1854). 261 Das Verfahren ist der - esoterische - Versuch, die materiale - exoterische - Widerständigkeit des Lautkörpers zu minimieren. Obwohl er natürlich aussprechbar und mit dem Herzblut des Autors verfasst sein sollte, 262 durften sich weder Grammatik noch Wortwahl oder Stilmittel störend bemerkbar machen. Flaubert ließ eine Passage nur gelten, wenn sie ohne einen »pli grammatical« (Corr II, 523/ 19. 2. 1854) sowie »sans assonances ni re´pe´titions« (Corr IV, 1000/ Ende Dezember 1875) geschrieben war. Solch ästhetische Sprachmusik sollte 255 Flaubert: Pyre´ne´es-Corse (Anm. 254 ), 676 . 256 Ebd. 257 Ebd. 258 Vgl. Flauberts Überzeugung: »La prose doit poivoir eˆtre lue tout haut. Les phrases mal e´crites ne re´sistent pas a` cette e´preuve; elles oppressent la poitrine, geˆnent les battements du cœur, et se trouvent ainsi en dehors des conditions de la vie« (Pre´face aux Dernie`res chansons ( 1872 ), zitiert nach Dictionnaire Flaubert, s.v. gueuloir, 329 - 330 , hier 330 ). 259 Vgl. Emile Zola: »A Croisset, cette me´thode e´tait bien connue, les domestiques avaient ordre de ne pas se de´ranger quand ils entendaient Monsieur crier« (zitiert nach Dictionnaire Flaubert, s.v. gueuloir, 329 - 330 , hier 330 ). 260 Ebd. »Pour e´prouver ses phrases, il les ›gueulait‹, seul a` sa table, et il n’en e´tait content que lorsqu’elles avaient passe´ par son ›gueuloir‹, avec la musique qu’il voulait.« 261 Vgl. z. B. auch 21 . 3 . 53 : »Je suis exte´nue´ d’avoir gueule´ toute la soire´e en e´crivant« (Corr II, 275 / 21 . 3 . 1853 ). 262 »Une phrase est viable, quand elle correspond a` toutes les ne´cessite´s de la respiration. Je sais qu’elle est bonne lorsqu’elle peut eˆtre lue tout haut« (von Guy de Maupassant berichtete Äußerung Flauberts in La Revue bleue, 19 .- 26 . 1 . 84 , zitiert nach Dictionnaire Flaubert, s.v. phrase, 544 - 545 , hier 545 ). Vgl. auch: »Il faut avoir, avant tout, du sang dans les phrases, et non de la lymphe, et quand je dis du sang, c’est du cœur. Il faut que cela batte, que cela palpite, que cela e´meuve. Il faut faire s’aimer les arbres et tressaillir les granits« (Corr II, 557 / 22 . 4 . 1854 ). <?page no="219"?> 219 3.4 Die Genese des »style«: Exoterik und Esoterik die Schrift von ihrer Referenz lösen und in eine asemantische Schönheit überführen, die Flaubert als ›glatte Oberflächen‹ bezeichnete (»des surfaces lisses« (Corr II, 79/ 24. 4. 1852)). Vom Text bliebe nur der bloße Klang des Wortmaterials zurück, der sich anhöre wie »une langue e´trange`re que tu n’entendais pas« (Corr I, 252/ 16. 9. 1845) 263 . Die Unbegreiflichkeit solch reiner Signifikanten versetze den Leser in einen Zustand des Traums und realisiere das höchste Ziel der Kunst: »faire reˆver« (Corr II, 417/ 26. 8. 1853). Wie ein Traum führt Flauberts idealer Text aus der Beschränktheit des Hiesigen hinaus. Die entstofflichte Schrift wird damit zum Garanten und Ausdruck ästhetischer Schönheit, die Flaubert als Entsprechung von Idee und Form auf klanglicher - (»plus une ide´e est belle, plus la phrase est sonore« (Corr II, 785/ 12. 12. 1857)) - und formaler Ebene begreift: Il n’y a pas de belles pense´es sans belles formes, et re´ciproquement. La Beaute´ transsude de la forme dans le monde de l’Art [ … ]. De meˆme que tu ne peux extraire d’un corps physique les qualite´s qui les constituent, c’est-a`-dire couleur, e´tendue, solidite´, sans le re´duire a` une abstraction creuse, sans le de´truire en un mot, de meˆme tu n’oˆ teras pas la forme de l’Ide´e, car l’Ide´e n’existe qu’en vertu de sa forme. Suppose une ide´e qui n’ait pas de forme, c’est impossible; de meˆme une forme qui n’exprime pas une ide´e. [ … ] On reproche aux gens qui e´crivent en bon style de ne´gliger l’Ide´e, le but moral; comme si le but du me´decin n’e´tait pas de gue´rir, le but du peintre de peindre, le but du rossignol de chanter, comme si le but de l’Art n’e´tait pas le Beau avant tout (Corr I, 350/ 18. 9. 1846)! Die Parole »le Beau avant tout« macht die Form eines Werks zum Maßstab der Schönheit (»la Beaute´ transsude de la forme«), und eine Form ist schön, wenn sie die Idee möglichst vollständig wiedergibt. Damit setzt sich der style von jeder zeitgenössischen Literatur ab. Denn er wendet sich gegen praktischen Nutzen und moralische Erziehung, und nur scheinbar vorbehaltslos folgt Flauberts Credo der Schönheit Gautiers l’art pour l’art . Zwar konnte sich Flaubert Gautiers Betonung zweckfreier Schönheit ebenso anschließen wie er auch dessen impersonnalite´ und Objektivität schätzte. 264 Aber dass die Texte des Freundes artifizielle Paradiese frivoler Verfeinerung entwarfen oder zu romantisierenden Mantel-und- Degen-Aventüren gerieten - wie Mademoiselle de Maupin oder Capitaine Fracasse -, missfiel ihm. Nicht in der Wahl eines exquisiten Stoffes sollte sich die ›haine du re´alisme‹ zeigen, sondern in der Arbeit mit dem faktisch Vorliegenden, dessen abjekte Hässlichkeit und Banalität durch den style ins Ästhetische zu transformieren wären. Daher verabscheute Flaubert neben der Realität ebenso die »fausse ide´alite´« (Corr II, 644/ 30. 10. 1856) und beharrte auf seiner Differenz zu Gautier: »L’art ne doit pas faire joujou , bien que je sois partisan aussi entiche´ de la doctrine de l’art pour l’art, comprise a` ma manie`re (bien entendu)« (Corr III, 587/ 9. 1. 1867). Freilich stand - bei aller Theorie - die praktische Realisierung des style für Flaubert selbst in Frage. Briefliche Äußerungen wie » Je sais comment il faut faire . Oh mon Dieu! si j’e´crivais le style dont j’ai l’ide´e, quel e´crivain je serais! « (Corr II, 30/ 16. 1. 1852) belegen, dass Flaubert seiner Methode nicht sicher war. Das schöne Ideal einer Sprache ohne Sprache stellte sich zunehmend als unerreichbar heraus. 265 263 Das Zitat ist bezogen auf den »intervalle entre moi et le monde« (ebd.), den Flaubert anhand des Beispiels von der unverständlichen Fremdsprache exemplifiziert. Flauberts Texte sollen diese Fremdheit aber auch im Leser generieren. 264 Vgl. das Vorwort von Gautiers Capitaine Fracasse: »On n’y trouvera [im Roman, M. K.] aucune the`se politique, morale ou religieuse. Nul grand proble`me ne s’y de´bat. On n’y plaide pour personne. L’auteur n’y exprime jamais son opinion. C’est une œuvre purement pittoresque, objective, comme diraient les Allemands« (In: The´ophile Gautier: Romans, contes, nouvelles (Anm. 159 ), Bd. II, 637 - 639 , hier 638 ). 265 So auch Ziganke (Schreibstrategien (Anm. 120 ), 216 ): Das »Anschreiben gegen die Unmöglichkeit, mit <?page no="220"?> 220 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« 3.5 Sprachkritik und Poetik des Zitats Die fabula rasa war dazu angetan, die Möglichkeiten der Sprache zu überfordern. Dass sich kaum denken ließ, wie sich Begriffe gegen sich selbst zu wenden und im reinen Schriftakt aufzuheben hätten, war Flaubert selbst klar. Die Genese des Stils verknüpfte er daher eng mit einer Reflexion über die Grenzen von Sprache. Schon im Frühwerk der 1830er Jahre wird die Möglichkeit sprachlicher Repräsention von Außersprachlichem bezweifelt. Erkenntniskritisch argumentieren etwa die Me´moires d’un Fou , niemals könnten »les mots« ein ästhetisches oder metaphysisches »infini« wiedergeben: »[C]omment rendre par la parole cette harmonie qui s’e´le`ve dans le cœur du poe`te et les pense´es de ge´ant qui font ployer les phrases [ … ]? « 266 Smar spricht die Schuld daran noch den »grammariens« 267 zu, die das ehemals freie, nicht-begriffliche Denken durch die Regeln von Grammatik und Syntax auf eine Seite Papier ›nageln‹ würden (»[V]ous la fixez, vous la collez, vous la clouez sur une mise´rable feuille de papier avec un mot bien paˆle et bien sec« 268 ). Erst die Briefe der 1850er und 1860er Jahre lasten jene Defizienz nicht der Sprache an, sondern leiten sie aus einer Kritik des Denkens selbst ab, das sich einer nur mittelbaren Begrifflichkeit bediene. Die »intelligence finie« (Corr II, 716/ 18. 5. 1857) des Menschen verhindere jede »connaissance absolue du vrai et du bien« (ebd.) und bewirke, dass sich »[e]n fait de me´taphysique« (ebd., 179/ 22. 11. 1852) dasjenige nicht sagen lasse, was nicht »tre`s net dans l’esprit« (ebd.) sei. Daraus folgt für die Literatur als Begriffskunst, dass sie ebenso »borne´« (ebd.) ist wie das Denken. Bei Metaphysica versage jegliche »force plastique« der Schrift: »[L]a plume ne va pas loin« (ebd.). Dass jeder Versuch, Absolutes zu repräsentieren, sich also der Amphibolie schuldig mache, wie Kant die Verwechslung von Idee und Sache nannte, 269 belegt Flaubert am prominenten Beispiel der biblisch-toristischen Kunde von Gott: Vous vous e´tonnez de ma rage antireligieuse, en voici la raison imme´diate: c’est qu’a` chaque moment dans mes e´tudes, je touche a` la Bible, et dans la Bible, au Dieu actuel, a` celui des catholiques, qui m’exaspe`re de plus en plus par son coˆ te´ restreint, borne´, oriental, monarchique. C’est un Louis XIV, un sultan, je ne sais quoi d’humain, qui me semble, en de´finitive, tre`s pie`tre [ … ] (Corr III, 131/ Ende 1860). Menschliche Rede verzeichnet Absolutes immer zu einem »je ne sais quoi d’humain« und verfehlt es so. 270 Verkündigung und Repräsentation des Allerhöchsten sind »restreint« und »pie`tre«, weil sie nie in direkte, sondern nur in mittelbare Bild- und Begrifflichkeit gekleidet sein können. Sprache gegen Sprache zu operieren«, führe zu Flauberts charakteristischem »infinite[n] Schreiben«, ebenfalls Pape: Sprachkunst (Anm. 118 ), 306 . 266 Flaubert: Me´moires d’un Fou (Anm. 166 ), 470 . 267 Ebd., 597 . 268 Ebd. 269 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Ders.: Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983 , Bd. 2 , 291 (= B 325 ff.). 270 Es betrifft nicht nur die katholische, sondern alle Religionen: »Mais la manie`re dont parlent de Dieu toutes les religions me re´volte, tant elles le traitent avec certitude, le´ge`rete´ et familiarite´. Les preˆtres surtout, qui ont toujours ce nom-la` a` la bouche, m’agacent. C’est une espe`ce d’e´ternuement qui leur est habituel: la bonte´ de Dieu, la cole`re de Dieu, offenser Dieu, voila` leurs mots. C’est le conside´rer comme un homme et, qui est pis, comme un bourgeois. On s’acharne encore a` le de´corer d’attributs, comme les sauvages mettent des plumes sur leur fe´tiche« (Corr III, 67 f./ 18 . 12 . 59 ). <?page no="221"?> 221 3.5 Sprachkritik und Poetik des Zitats Doch auch die sprachliche Repräsentation von Innerweltlichem schien problematisch. Insbesondere das romantisierende Frühwerk, das eine sich einzigartig wähnende Individualität zum Ausdruck bringen will, beschwert sich über die Allgemeinheit der Begriffe, welche die Artikulation des Extraordinären verhindert. Die über das Normalmaß sich erhebende Wahrnehmung des Ausnahmemenschen bricht sich an der Massenware der Sprachzeichen, die nie auf Singuläres, sondern stets aufs Charakteristische oder Typische zielen. Können auf diese Weise zwar ganze Objektklassen unter einen Begriff subsumiert werden, finden weder der Einzelfall noch singuläres Erleben einen adäquaten sprachliche Ausdruck. Die Me´moires d’un Fou klagen also: »Comment rendre par des mots ces choses pour lesquelles il n’y a pas de langage, ces impressions du cœur, ces myste`res de l’aˆme inconnus a` elle-meˆme, comment vous dirai-je tout ce que j’ai ressenti [ … ].« 271 Dass sich die lebendige Anschauung in den Abstraktionen begrifflicher Passe-partouts verliert, führt in Novembre schließlich zur desillusionierenden Erkenntnis sprachlicher Heteronomie. Denn noch wenn der Sprecher sich selbst auszudrücken meint, manifestiert sich in seiner Rede nur Fremdes: Das Ich spricht nicht, sondern wird von der Sprache gesprochen. Damit war eine Kritik sprachlicher Alterität auf den Weg gebracht, wie sie sich 1871 am prägnantesten in Rimbauds Formeln »C’est faux de dire: Je pense. On devrait dire: On me pense« 272 und »Je est un autre« 273 ausdrückte - bevor Nietzsche das Ich wenig später vollends zur grammatischen »Fiktion« 274 erklärte. Auch bei Flaubert reproduziert das Ich beständig ein bereits vorgegebenes Sprachmaterial und wird zum ›Kopisten‹ von Diskursen: 275 [P]arfois des ide´es gigantesques me traversaient tout a` coup l’esprit [ … ]. J’en e´tais e´branle´, e´bloui; mais quand je retrouvais chez d’autres les pense´es et jusqu’aux formes meˆmes que j’avais conc ¸ues, je tombais, sans transition, dans un de´couragement sans fond; je m’e´tais cru leur e´gal et je n’e´tais plus que leur copiste! Je passais alors de l’enivrement du ge´nie au sentiment de´solant de la me´diocrite´ [ … ]. 276 In der Unvermeidbarkeit reduplizierter Aussagen erkennt das ehemals selbstbewusste Ich sein sprachlich induziertes Mittelmaß. Kann die »logosphe`re« 277 nicht verlassen werden und sind alle Sprecher auf dieselben diskursiven Gegebenheiten festgelegt, sagt jeder bis zum Exzess dasselbe. Abgenutzte Diskurse, Cliche´s und Stereotype (»lieux communs«), eine »langue use´e« (Corr III, 17/ 18. 2. 1859) werden auf diese Weise zum Merkmal einer Kommunikation, in der alle unterschiedslos kongruieren: Restaient donc ces e´ternels lieux communs qui sont l’aliment ine´puisable de la conversation entre les hommes, points de contact par lesquels le dernier goujat et le plus grand ge´nie du monde se ressemblent, je veux dire le vin, la bonne che`re et les fillettes [ … ]. 278 271 Flaubert: Me´moires d’un Fou (Anm. 166 ), 490 . 272 Ebd. 273 Brief an Georges Izambard, 13 . Mai 1871 . In: Arthur Rimbaud: Œuvres Comple`tes, hg. v. Antoine Adam, Paris 1972 , 248 . 274 Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre. In: Ders.: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 1957 , Bd. III, 540 . 275 Vgl. zum Kopieren von Diskursen bes. Adert: Mots (Anm. 71 ) und Bergounioux: Flaubert (Anm. 97 ), ebenfalls Leinen: Flaubert und der Gemeinplatz (Anm. 61 , 38 ff.). Dünne (Asketisches Schreiben (Anm. 121 ), 296 ) nennt die Schwundstufe des Subjekts, die sich nur noch im Zitat konstituiert, »spektrale Subjektivität«. 276 Flaubert: Novembre (Anm. 212 ), 776 . 277 Adert: Mots (Anm. 71 ), 169 . 278 ES ( 1845 ), 1049 . <?page no="222"?> 222 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Das stereotype Rudiment von Sprache mit seinen verächtlich-dummen Allgemeinplätzen nahm Flaubert freilich spätestens ab den 1850er Jahren als literarische Chance wahr. Denn die Unmöglichkeit, Individuelles begrifflich adäquat zu reproduzieren, kam der schriftstellerischen Neuausrichtung entgegen, die alles Empirische vernichten und romantische Subjektivität liquidieren sollte. Eine Kunst wird damit entworfen, die im konsequenten Verzicht auf eigene Reflexion und Befindlichkeit das Selbstopfer des Geistes inszeniert. 279 Nur wer nicht mehr denkt, hat das richtige gedacht, und diejenige Literatur ist die reflektierteste, die nur noch aus einer Montage von Diskursen besteht. Schien also größtmögliche impersonnalite´ gerade durch die paradoxe Absenz des Sprechers in seinem Sprechen herstellbar, fasste Flaubert das Material eines solchen Buchs 1852 unter dem Titel Dictionnaire des Ide´es rec ¸ues zusammen. Es sollte »pas un mot de mon cru« (Corr II, 208/ 16. 12. 1852) enthalten und eine Sammlung »de tout ce qu’on approuve« (ebd.) darstellen, also ein Kompendium aller Gemeinplätze und Diskurse. Überdies wollte Flaubert sein Lexikon auch als Warnung vor sprachlichem Mittelmaß verstanden wissen. Dass »le me´diocre [ … ] le seul le´gitime« (ebd.) sei, sollte den Lesern in einem Maße vor Augen geführt werden, dass sie nicht mehr wagen würden zu sprechen, »de peur de dire naturellement une des phrases qui s’y [im Lexikon, M. K.] trouvent« (ebd., 209). Sicher ist das Projekt daher auch als ein Reflex des Flaubertschen Hasses auf Bürger und beˆtise zu verstehen. Vor allem aber markiert es ein gewandeltes Verständnis von Sprache: Der romantische Versuch des Frühwerks, mit dem Eigenen zur Sprache zu kommen, wird nun aufgegeben. Wenn alles Sprechen nur die Wiederholung von bereits abgenutzten Diskursen ist, entgeht Literatur der Gefahr des infiniten Regresses nur noch, indem sie Stereotype nicht mehr selbst spricht, sondern bewusst aufzeichnet: »L’Art est une repre´sentation, nous ne devons penser qu’a` repre´senter« (Corr II, 157/ 13. 9. 1852). Nur die rein objektive Darstellung - oder Sammlung - von Diskursen entgeht dem Vorwurf der beˆtise und des Mittelmaßes. Damit wird die Literatur zum einzigen Ort, in dem Diskurse gerade durch ihre Repräsentation auf ihre Beschränktheit hin durchsichtig gemacht und suspendiert werden können. Der Autor übernimmt dabei nur noch die Rolle des Stoffsammlers und die Aufgaben der dispositio und elocutio , also der Anordnung und stilistischen Ausarbeitung. 280 ›Intransitiv‹ 281 hat man dieses Verfahren Flauberts genannt, weil es auf eine Positionierung außerhalb von Sprache ebenso wie auf einen subjektiven Standpunkt verzichtet: Quelle forme faut-il prendre pour exprimer parfois son opinion sur les choses de ce monde, sans risquer de passer, plus tard, pour un imbe´cile? Cela est un rude proble`me. Il me semble que le mieux est de les peindre, tout bonnement, ces choses qui vous exaspe`rent (Corr III, 711/ 18. 12. 1867). Im späten, Fragment gebliebenen Roman Bouvard et Pe´cuchet darf man ohne Zweifel die konsequenteste Umsetzung der neuentwickelten Poetik sehen. Der Versuch der beiden Kleinbürger, in verschiedenen, fundamentalen wie nebensächlichen Fachbereichen zu einer gesicherten Erkenntnis zu gelangen, mündet in der verstörenden Einsicht in die logosphärische Relativität allen Wissens: Die abendländische Überlieferung besteht nur aus einem Wirrwarr konkurrierender Diskurse. Am Ende - so ist Flauberts Skizzen zu entneh- 279 Dünnes ›spektrale Subjektivität‹, die die ›starke Subjektivität‹ veräußert und sich im Kopieren von Diskursen an die ›schwache‹ anzunähern sucht, hat in diesem Sinne das autonome Denken aufgekündigt (vgl. Asketisches Schreiben, Anm. 121 , 258 ). 280 Vgl. Adert: Mots (Anm. 71 ), 170 . 281 Zuerst Bergounioux: Flaubert (Anm. 97 ), 46 , dann Adert: Mots (Anm. 71 ), 169 . <?page no="223"?> 223 3.5 Sprachkritik und Poetik des Zitats men - resignieren die beiden Wissenshungrigen und widmen sich in völliger Zurückgezogenheit einer Tätigkeit als bloße Kopisten der Tradition: »Copier comme autrefois. [ … ] Ils s’y mettent.« 282 Die stilistische Schwierigkeit bestand indessen nicht nur in diesem Roman darin, die verhassten Stereotype und Plattheiten gemäß dem Grundsatz der impartialite´ objektiv wiederzugeben: »Ce a` quoi je me heurte, c’est a` des situations communes et un dialogue trivial. Bien e´crire le me´diocre et faire qu’il garde en meˆme temps son aspect, sa coupe, ses mots meˆme, cela est vraiment diabolique [ … ]. C¸a s’ache`te cher, le style« (Corr II, 429/ 12. 9. 1853)! Unparteilich habe der Schriftsteller selbst das von ihm Verachtete, das Mittelmäßige, Alltägliche und Triviale, aufzuzeichnen. Bestehen Wirklichkeit und Sprache also aus nichts als »choses vulgaires« (ebd., 229/ 3. 1. 1853), müssen sie auch im Buch ihren Platz haben. 283 An niederer Wirklichkeit sparte Flaubert also nicht, und seine Briefe enthalten eine Vielzahl von Beschwerden über das Personal seiner Romane: »Il me faut faire parler, en style e´crit, des gens du dernier commun, et la politesse du langage enle`ve tant de pittoresque a` l’expression« (Corr II, 160/ 19. 9. 1852)! Doch es gebe weder »beaux ni vilains sujets« (ebd., 31/ 16. 1. 1852), sondern der Autor habe noch das Abjekte gut (»bien«) zu schreiben. Dafür, dass aus der Darstellung von Mittelmäßigem nicht einfach mittelmäßige Literatur wird, steht der Stil ein. Er verpflichtet nicht nur zum Ethos des vorbehaltslosen Aufzeichnens, sondern vernichtet überhaupt jeden Gegenstand und Stoff: Aus der Perspektive des »Art pur« betrachtet, gebe es »aucun [sujet], le style e´tant a` lui tout seul une manie`re absolue de voir les choses« (Corr II, 31/ 16. 1. 1852). Flaubert macht also ab den 1850er Jahren die Einsicht fruchtbar, dass sich gerade durch die nivellierende Zitathaftigkeit aller Rede das Ideal eines bedeutungsfreien Schriftakts perspektivieren ließ. Das livre sur rien ist in der Reiteration von nahezu aussagelosen Diskursen bereits angelegt: Abgenutzte Gemeinplätze können einen Bedeutungsgehalt kaum mehr beanspruchen und generieren nur noch eine Schwundstufe von Sinn. Damit wertet Flauberts Poetik gerade die Defizienz der Sprache zum Garanten der fabula rasa um und nutzt die zwei Seiten des Stils, um in der Schilderung des Objektiven über das bloß Faktische hinauszugehen. Die Exoterik zeichnet realistisch auf, stellt Referenz - sei sie auch auf ein Minimum reduziert - fest und disponiert den plot . Die Esoterik hingegen will Referenz aufheben und Sprache aus mittelbarer Begrifflichkeit zum signe pur befreien. Die Poetik des Zitats gibt also die »aspirations ce´lestes« (Corr III, 353/ 23. 10. 1863) keineswegs auf: Gerade die Negativität der Kunst soll durch ihre »e´le´vation virtuelle« (Corr II, 405/ 21. 8. 1853) den Willen zum »escalader le Ciel« (Corr III, 353/ 23. 10. 1863) und die Suche nach »ve´rite´« (ebd., 131/ Ende 1860) beförden helfen. Doch auch eine Sprache, die gegen Sprache anschreibt, bleibt mittelbar. Handlung musste erzählt werden, und auch der völlige Verzicht auf Persönliches erwies sich als unmöglich. 284 Vom Bereich reiner Signifikanz ließ sich also nichts aussagen. Nur in Flauberts ästhetischer Symbolik konnte er bedeutet werden - und sie tröstete darüber hinweg, dass die vollkommene Schrift immer vertagt werden musste. 282 Flaubert: Bouvard et Pe´cuchet. In: Œuvres (Anm. 139 ), Bd. II, 987 . 283 Deutlich wird hier nochmals der Unterschied zu den Parnassiens, die der banalen Wirklichkeit durch ausgesucht romantische Stoffwahl oder die Beschreibung von spezifisch exotischen Gegenständen zu entkommen suchten und sich also - am Maßstab Flauberts gemessen - auf die Darstellung der mediokren zeitgenössischen Welt nicht einließen. 284 Vgl. dazu die Briefe vom 14 ./ 15 . 8 . 1846 (Corr I, 301 - 303 ) und vom 6 . 7 . 1852 (Corr II, 126 - 129 ). Dass ein Roman auf einen plot angewiesen bleibt, stellt der Brief vom 30 . 9 . 1853 (ebd., 443 - 446 ) fest. <?page no="224"?> 224 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe« Die Genese des Stils ist ohne die Orientierung an Goethe nicht denkbar. Flaubert betrachtete den Deutschen mit Entschiedenheit als sein bedeutendstes Vorbild, und seine Verehrung für den Vorgänger kannte kaum Grenzen. Ihm verdankte der Franzose nicht nur stilistischästhetische Impulse für das Romanwerk, sondern wusste sich mit ihm auch im Ringen um die Sprache - les affres de l’art - wie mit einem Leidensgenossen verbunden. Mit seiner Verehrung für Goethe stand Flaubert dabei in Frankreich keineswegs allein. 285 Hatten sich die meisten literarischen Zeitgenossen in Deutschland von Goethe abgewendet, seit romantische Kritik ihn als Inbegriff des kalten und weltentrückten Olympiers beschrieben hatte, war er gerade von den französischen Romantikern in großer Breite rezipiert und wertgeschätzt worden. Dabei nahm man den Deutschen freilich vor allem als Autor des Werther wahr. Mit Benjamin Constants Adolphe oder Chateaubriands Rene´ lagen seit dem Beginn des Jahrhunderts Variationen des Wertherschen Melancholie-Themas vor, die dem mal de sie`cle literarischen Ausdruck verliehen. Im Folgenden hatte Ge´rard de Nerval 1828 seine bedeutende Übersetzung des Faust vorgelegt, die dazu beitrug, Goethe in Frankreich zum Dichter des Absoluten und zum Wegbereiter einer schwarzen Romantik zu machen. Wurde auf diese Weise das bis dahin gültige negative Urteil der Madame de Stael über das Werk revidiert, 286 rückten nun auch weitere Texte in den Blick. Wilhelm Meisters Lehrjahre etwa lagen nach einer ersten, noch bruchstückhaften Übersetzung (Sevelinges 1802) ab 1829 in der Übertragung von Toussenel vollständig vor, 287 ab 1843 dann in einer neuen Übertragung von Anne de Carlowitz, zu der auch die Wanderjahre gehörten, 288 und noch 1861 erschien die Lehrjahre -Übersetzung von The´ophile Gautier fils, dem Sohn des mit Flaubert befreundeten Parnasse-Dichters The´ophile Gautier. 289 Schneller wurden hingegen die 1809 erschienenen Wahlverwandtschaften übersetzt (Raymond et.al. 1810; neu ebenfalls Carlowitz 1844). 290 Kaum zu überblicken sind daneben die journalistische Goethe-Rezeption - vor allem in der Revue des deux Mondes oder der Revue Germanique - 291 sowie die literarischen Goethe-Adaptionen. 292 Neben arrivierten Autoren wie Balzac, dessen Vautrin aus dem Pe`re Goriot (1834/ 35) deutlich mephistophelische Züge trägt und dessen Modeste Mignon (1844) auf die gleichnamige Figur der Lehrjahre anspielt, griffen auch weniger bekannte Schriftsteller auf das Motiv Goethe zurück, das auch biographisch nutzbar gemacht wurde. Louise Colet etwa hatte 1839 eine Komödie mit dem Titel La jeunesse de Goethe verfasst, in der ein liebeskranker Goethe zum Schluss glücklich von seinem Leiden kuriert wird. 293 Dass Flaubert Goethe intensiv und voller Bewunderung gelesen hat, ist von der frankophonen Komparatistik schon seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts herausgestellt 285 Vgl. dazu immer noch die ausführliche Studie von Fernand Baldensperger: Goethe en France. Etude de litte´rature compare´e, Paris 1904 . 286 Vgl. ebd., 129 . 287 Vgl. Fernand Baldensperger: Bibliographie critique de Goethe en France, Paris 1907 , 142 f. 288 Vgl. Marilynn Jane Unger Smith: Flaubert, Reader of Goethe, Ann Arbor/ Michigan 1974 , 36 ; Baldensperger: Bibliographie (Anm. 287 ), 143 . 289 Vgl. ebd. 290 Vgl. ebd., 153 . 291 Vgl. Smith: Flaubert, Reader of Goethe (Anm. 288 ), 19 . 292 Vgl. dazu Baldensperger: Bibliographie (Anm. 287 ), 144 - 150 . 293 Vgl. Flaubert, Brief vom 2 . 10 . 1847 (Corr I, 476 / Oktober 1847 ) an Louise Colet sowie die Anmerkung. Vgl. dazu Smith: Flaubert, Reader of Goethe (Anm. 288 ), 23 . <?page no="225"?> 225 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe« worden. 294 Anhand der Briefe lasse sich zeigen, dass »nulle admiration n’e´clate plus franchement que celle de Goethe» 295 , und es gebe bereits ab etwa 1835 einen kontinuierlichen Prozess der »lente assimilation« 296 , in dessen Verlauf der Franzose zum »continuateur de Goethe« 297 geworden sei: In allen wichtigen Etappen seines Schriftstellerlebens sei der Deutsche »pre´sent« gewesen. 298 Wirklich findet Goethe in Flauberts Korrespondenz zwischen 1838 und 1880 wie kein anderer hyperbolische Erwähnung. Als »grand homme« (Corr I, 47/ 15. 7. 1839), »pe`re Goethe« (Corr IV, 922/ 30. 4. 1875) oder »immense ge´nie« (Corr II, 86/ 8. 5. 1852) wird er zum Ideal eines Dichters stilisiert, der Homer, Dante, Shakespeare, Rabelais, und Byron ebenbürtig an die Seite zu stellen sei 299 und unerreichbares Vorbild bleiben müsse: »[J]e ne vise pas a` eˆtre un Goethe, parce que les chandelles paˆlissent devant le soleil [ … ] (Corr I, 421/ 20. 12. 1846). In seinen literarischen Zirkeln in Croisset oder Paris - in der Stadtwohnung am Boulevard du Temple - betrieb Flaubert einen regelrechten Goethe-Kult. Die Brüder Goncourt berichten, dass die sonntäglichen Gespräche Themen von »Bouddha a` Goethe« 300 umfassten und dass Flaubert von der »immense impression« 301 gesprochen habe, die der Anfang des Faust auf ihn gemacht habe. Zola schildert, wie Turgenjew »nous traduisit a` livre ouvert des pages de Goethe, en phrases comme tremble´es, d’un charme pe´ne´trant.« 302 Unbedingt setzte Flaubert bei Freunden und Schriftstellern die Verehrung für den Deutschen voraus und strafte mit höhnischer Verachtung, wer Goethes Größe nicht anerkannte. Von einem Gespräch mit Victor Hugo etwa teilt Flaubert seiner Briefreundin George Sand mit: Vous me conseillez [ … ] de fre´quenter le pe`re Hugo! Eh bien! il m’a de´sole´ la dernie`re fois que je l’ai vu. Ce qu’il a dit de sottises sur Goethe est inimaginable, croyant par exemple qu’il a fait Le Camp de Walstein [sic], et attribuant Les Affinite´s e´lectives a` Ancillon! n’ayant jamais entendu parler du Prome´the´e et trouvant Faust une œuvre faible! Cette visite m’a rendu litte´ralement malade (Corr IV, 916/ 27. 3. 1875)! 303 Flauberts eigene Hochachtung für Goethe stützte sich hingegen auf eine umfangreiche Textbasis. Briefäußerungen berichten entweder von eigener Lektüre oder lassen doch zumindest auf die - wie auch immer genaue - Kenntnis der folgenden Werke schließen, die Flaubert, der kein Deutsch sprach, jeweils in französischer Übersetzung zugänglich waren: Die Wahlverwandtschaften , 304 Faust , 305 Götz von Berlichingen , 306 Prometheus , 307 Satyros oder der 294 Sie hat die Relevanz von Flauberts Beschäftigung mit Goethe zumeist durch - nicht immer evidente - motivisch-inhaltliche Textvergleiche zu erweisen gesucht, wie sie auch Le´on Degoumois (Flaubert a` l’Ecole de Goethe, Genf 1924 ) und Smith (Flaubert, Reader of Goethe, Anm. 288 ) z. T. unternehmen. 295 Rene´ Lauret: »L’art classique d’apre`s Goethe et Flaubert«. In: Les Marches de l’Est ( 15 . November 1911 ), 167 - 175 , hier 167 . 296 Degoumois: Ecole de Goethe (Anm. 294 ), 16 . 297 Ebd., 8 . 298 Vgl. ebd., 30 . 299 Vgl. etwa die Briefe vom 26 . 8 . 1853 (Corr II, 417 ) und 4 . 11 . 57 (ebd., 774 ). 300 Dictionnaire Flaubert, s.v. Dimanche, 212 - 213 , hier 212 . 301 Ebd., 268 . 302 Ebd., s.v. Faust, 212 . 303 Ähnliche Urteile finden sich über Maxime Du Camp (Corr II, 595 f./ 19 . 9 . 1855 ) oder Barbey d’Aurevilly und Alexandre Dumas fils (Corr IV, 712 / 7 . 9 . 1873 ). 304 Corr III, 883 , Corr IV 916 . 305 Corr II, 166 , Corr III 874 306 Corr II, 43 . 307 Corr IV, 914 . <?page no="226"?> 226 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« vergötterte Waldteufel , 308 Die Leiden des jungen Werther 309 sowie Wilhelm Meisters Lehrjahre . 310 Hinzu kommen nicht weiter bezeichnete Dichtungen, die sich in jenen ›zwei Bänden‹ Goethe befanden, die Flaubert 1863 ›verschlang‹, 311 weiterhin Goethes Gespräche mit Eckermann, die Flaubert im Jahre 1870 erneut las, 312 außerdem vermutlich Dichtung und Wahrheit . 313 In der Bibliothek in Croisset befanden sich in französischer Übersetzung ein Band mit Gedichten Goethes, 314 ein Band Theaterstücke, 315 der Werther in einer Übersetzung von 1872 316 sowie die Lehrjahre (in der Übersetzung von Gautier fils). 317 Die Bibliothek enthielt sogar in deutscher Sprache den Werther , eine Sammlung von Goethes Gedichten und den fünften Band einer Goethe-Gesamtausgabe mit Rezensionen, Schriften über deutsche und auswärtige Literatur sowie zur Naturwissenschaft. 318 Daneben lassen sich Goethe-Reminiszenzen in Flauberts Werken nachweisen. Sie zeigen, dass Flauberts Bekanntschaft mit einzelnen Goethe-Texten zum Teil schon deutlich älter ist als die Briefe angeben. Dem ersten Briefbeleg des Werther aus dem Jahre 1852 etwa gehen Flauberts Werther -Lektüre von 1838 und die Erwähnung des Werks in Me´moires d’un Fou (1838), Novembre (1842) und der ersten Education (1843-45) voraus (Vgl. Corr II, 86/ 8. 5. 1852). 319 Das Frühwerk Smar (1838/ 39), eine Faust -Adaption und unmittelbare Frucht der Faust -Lektüre an Ostern 1838, 320 dokumentiert Flauberts Vertrautheit mit Goethes Drama, lange bevor es 1852 brieflich genannt wird. Die Pudelszene im 26. Kapitel der ersten Education lässt sich unschwer als Reminiszenz an die Studierzimmerszene des Faust lesen, in der sich Mephisto als ›des Pudels Kern‹ zu erkennen gibt. Später - in Madame Bovary - nimmt die rätselhafte Erscheinung des Kaufmanns Lheureux, der in der Kutsche nach Yonville aus einem Windhund entstanden zu sein scheint, das Motiv auf. Auch die Lehrjahre scheint Flaubert früher gelesen und literarisch fruchtbar gemacht zu haben, als die Briefe vermuten lassen. Genau datierte Lesezeugnisse fehlen freilich. Wird der Roman in der Korrespondenz zum ersten Mal am 23. Oktober 1853 erwähnt, hatte ihn 308 Corr IV, 922 . 309 Corr II, 86 , 402 . 310 Corr II, 455 , Corr V, 814 . 311 Corr III, 332 / 24 . 6 . 1863 : »J’ai avale´ deux volumes de Goethe (que je ne connaissais pas) [ … ].« 312 Corr IV, 194 , 203 . Dabei wird es sich wohl um die folgende Übersetzung gehandelt haben: Conversations de Goethe, recueillies par Eckermann, trans. Emile De´lerot, Paris: Charpentier 1863 . Vorausgegangen war ein Jahr zuvor eine erste Übersetzung von J. N. Charles. 313 Vgl. Jean Bruneau: Les De´buts litte´raires de Gustave Flaubert, Paris 1962 , 400 f. 314 Johann Wolfgang von Goethe: Poe´sies. Traduites pour la premie`re fois par le Baron Henri Blaze, auteur de la traduction de Faust, avec une pre´face du traducteur. - Paris, Charpentier, 1843 . Vgl. http: / / flaubert.univ-rouen.fr/ bibliotheque/ 05 gp.php#g, 14 . 12 . 2012 . 315 Johann Wolfgang von Goethe: The´aˆ tre. Traduction nouvelle, revue, corrige´e et augmente´e d’une pre´face par M. Xavier Marmier. - Paris, Charpentier, 1848 . Vgl. ebd. 316 Johann Wolfgang von Goethe: Werther. Traduction nouvelle, pre´ce´de´e de conside´rations sur la poe´sie de notre e´poque par Pierre Leroux. Hermann et Dorothe´e. Traduction nouvelle avec une pre´face par M. Xavier Marmier. - Paris, Charpentier & Cie, 1872 . Vgl. ebd. 317 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meister. Traduction comple`te et nouvelle par M. The´ophile Gautier fils, Paris, Charpentier, 1861 , 2 volumes. Vgl. ebd. 318 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, Stuttgart, J. G. Cotta, 1869 ; Ders.: Gedichte. - Neue Ausgabe - Stuttgart, J. G. Cotta, 1868 ; Ders.: Sämmtliche Werke, Paris, Tetot fre`res, 1836 . Fünfter Band: Mit Bildniss und Facsimile. Vgl. http: / / flaubert.univ-rouen.fr/ bibliotheque/ 05 pz. php#ouvrag 04 , 14 . 12 . 2012 . 319 Vgl. zur Datierung von Flauberts Lektüre Jean Bruneau: De´buts litte´raires (Anm. 313 ), 31 . Zu Flauberts Werther-Zitaten vgl. Dagmar Giersberg: Je comprends les Werther (Anm. 13 ). 320 Corr II, 166 / 1 ./ 2 . 10 . 1852 . Vgl. ebd., 21 . <?page no="227"?> 227 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Psychologie eines Verhältnisses Flaubert möglicherweise bereits in der seit 1829 vorliegenden Übersetzung von Toussenel zur Hand oder war durch Übertragungen - etwa der Mignon-Thematik - und Kontrafakturen auf ihn aufmerksam geworden. 321 Spätestens im Laufe des Jahres 1843 wird er den Roman aber in der neu erschienen Carlowitz-Übersetzung gelesen haben. 322 Doch schon Flauberts Freunden fiel auf, dass bereits die erste, Anfang 1843 begonnene Fassung der Education sentimentale , Maxime Du Camps bekanntem Zeugnis zufolge, eine Lehrjahre - Adaption war. 323 Damit begann sich Flauberts Goethe-Rezeption vom romantischen Goethe- Bild in Frankreich abzusetzen: Ausgerechnet die Lehrjahre als Roman der nüchternen Weimarer Klassik dienten als Vorbild für Flauberts ersten längeren Prosatext, der bereits eine objektive Kunst forderte und aus dem - mutatis mutandis - 1869 die zweite Fassung der Education hervorging. 324 Mit der antiromantischen Wende und der Abkehr vom eigenen Frühwerk geht auch die gewichtige Rolle einher, die Flauberts Briefe ab den 1850er Jahren und der Arbeit an Madame Bovary Goethes klassischer Ästhetik zuerkannten. Damit kommt Goethes Kunsttheorie und den Lehrjahren - die Flaubert auch zur Legitimation des style zitiert - entscheidende Bedeutung bei der Entstehung der modernen Prosa zu. Erstaunlich scheint also, dass die Forschung erst in jüngster Zeit Goethes Funktion für Flauberts poetische Verfahrensweise zum Thema gemacht 325 und die Relevanz der Lehrjahre für die Education noch gar nicht eingehend untersucht hat. Dabei wäre die Frage doch zu klären, warum genau Flaubert den Meister -Roman und seinen Autor schätzte. 3.6.1 Die Psychologie eines Verhältnisses Zunächst fällt Psychologisches ins Auge. Flaubert erblickte im Deutschen einen Verbündeten im Kampf mit den »affres de l’art«. Das eigene tagtägliche Ringen um das mot juste und um die Befreiung der Sprache von aller Materialität fand seinen tröstlichen Reflex in den Sprachmühen Goethes, die Flaubert mehrfach zitiert: 321 Baldensperger: Bibliographie (Anm. 287 ), nennt etwa die Übersetzungen, die Mme de Stael, Xavier Marmier und The´ophile Gautier vor 1843 von Mignons Italienlied verfertigt hatten (vgl. ebd., 80 f. und 149 ). 1816 war ein Theaterstück (Caigniez: La Petite Bohe´mienne) erschienen, das Mignons Leben erfolgreich adaptierte (vgl. ebd., 150 ). In der Malerei lagen seit dem Salon von 1839 Mignon-Bilder von Ary Scheffer vor, nach denen Aristide Louis 1843 Kupferstiche anfertigte (vgl. ebd., 151 ). Darüber hinaus hatten die Lehrjahre vor 1843 in einer Reihe von literarischen Werken ihren Niederschlag gefunden, deren bekannteste Victor Hugos Notre-Dame de Paris (durch die Person der Esmeralda) und George Sands Consuelo (durch die Suche nach dem rechten Weg oder durch Geheimgesellschaften) sind (vgl. ebd., 148 und 150 ). 322 Davon geht Degoumois aus, vgl. Ecole de Goethe (Anm. 294 ), 45 ; ebenso Benjamin F. Bart (Flaubert, Syracuse 1967 , 111 ). Bruneau (De´buts litte´raires, Anm. 313 , 396 ff.) schließt einen direkten literarischen Niederschlag der Lehrjahre ebenso wie Pierre Marc de Biasi (Gustave Flaubert. Une manie`re spe´ciale de vivre, Paris 2011 , 285 ) aus. 323 Dazu später das Kapitel 3 . 7 des Flaubert-Teils dieser Arbeit. 324 Vgl. zum Vergleich der beiden Fassungen und zum Stil der ersten Education immer noch Hans-Robert Jauß: »Die beiden Fassungen von Flauberts ›Education sentimentale‹«. In: Heidelberger Jahrbücher 1 / 2 ( 1957 / 58 ), 96 - 116 , außerdem Antoine Naaman: Les de´buts de Gustave Flaubert et sa technique de la description, Paris 1962 sowie schon vorher A. Coleman: Flaubert’s literary development in the light of his Me´moires d’un Fou, Novembre and Education sentimentale (Version of 1845 ), Baltimore/ Paris 1914 . 325 Zu nennen ist besonders Norbert Christian Wolf: »Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils«. In: Poetica 34 ( 2002 ), 125 - 170 ; Giersberg (Je comprends les Werther, Anm. 13 ) geht nur den Werther-Reminiszenzen in der Education nach. <?page no="228"?> 228 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« La matie`re est quelque chose de si lourd a` porter par l’ide´e (et de si embeˆtant en soi), qu’on n’en alle`ge le poids que par sa perfection meˆme. Rappelons-nous ce grand mot de Goethe qui est attristant, mais consolant pour nous autres, les petits: ›J’aurais peut-eˆtre e´te´ un poe`te, si la langue ne se fuˆ t pas montre´e indomptable‹, et il parlait de l’allemand, qui a la quantite´ et la rime a` la fois, la faculte´ de composer des mots et d’en faire comme dans le grec (Corr II, 229/ 3. 1. 1853)! 326 Der Verweis auf Goethe und der damit verbundene Inferioritätsgestus dienen - neben der Legitimation des eigenen Künstlertums durch den prominenten Vorgänger - der Befreiung von dichterischen Selbstzweifeln. Da selbst dem unerreichten Vorbild offenbar nicht alles gelang, bräuchten sich erst recht seine kleinen Nachfolger - »nous autres, les petits« - der eigenen Unvollkommenheit nicht zu schämen. Freilich war das zugleich als Ansporn zu künftigem Gelingen durch harte Arbeit gemeint, für die sich Flaubert ebenfalls auf Goethe berief: Dessen Wort »Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages« aus den Wanderjahren und den Sprüchen in Prosa wird zur Forderung nach dichterischer Disziplin umgemünzt. In vielfacher Wiederholung gehört es geradezu zum Kanon der Flaubertschen Schlüsselbegriffe der 1850er Jahre: »›Qu’est-ce que ton devoir? L’exigence de chaque jour‹, a dit Goethe« (Corr II, 13/ 23. 10. 1851). 327 Pflicht und Ethos des Schreibens folgen daraus - »Faisons notre devoir, qui est de taˆcher d’e´crire bien« (Corr II, 317/ 26. 4. 1853) -, und keinesfalls dürfe man davon abweichen: »Ne sortons pas de la`« (ebd., 250/ 23. 2. 1853). Doch auch im Bereich des Persönlichen wird der Deutsche zum Maßstab stilisiert. Das Paradox der eigenen Existenz, das Leben eines bourgeois zu führen und dabei gleichzeitig alles Bürgerliche zu verabscheuen, sucht Flaubert durch den Verweis auf Goethe zu rechtfertigen. Man müsse »prendre la vie par les moyens termes«, damit das »ide´al reste haut«: Quand Goethe e´pousa sa servante, il venait de passer par Werther . Et c’e´tait un maı ˆtre homme et qui raisonnait tout. Oui, je soutiens (et ceci, pour moi, doit eˆtre un dogme pratique dans la vie d’artiste) qu’il faut faire dans son existence deux parts: vivre en bourgeois et penser en demi-dieu. Les satisfactions du corps et de la teˆte n’ont rien de commun (ebd., 402/ 21. 8. 1853). Goethes Leben zeige, dass ein Leben im bürgerlichen Mittelmaß die literarische Produktion nicht nur nicht behindere, sondern mit ihr nicht das Geringste zu tun habe. Denn selbst der »maı ˆtre homme« und alles bedenkende Goethe habe nach dem Werther -Roman seine Hausangestellte geheiratet. Gemäß diesem Vorbild sucht sich auch Flaubert in der Beziehung zu Louise Colet davon zu überreden, dass physische Bedürfnisse (»les satisfactions du corps«) und dichterisches Ideal einander nicht ausschließen müssen - selbst wenn er die Verbindung mit seiner Geliebten alsbald löste. Dass aber Christiane Vulpius, auf die Flaubert anspielt, nie die Angestellte Goethes gewesen ist, macht augenfällig, wie sehr Flauberts Goethe-Bild gemäß den eigenen Lebensumständen geformt ist. Hinter die Arbeit am Mythos treten die historischen Fakten zurück. 326 Ebenso am 1 . 6 . 1853 : »Pourquoi, a` mesure qu’il me semble me rapprocher des maı ˆtres, l’art d’e´crire, en soi-meˆme, me paraı ˆt-il plus impraticable et suis-je de plus en plus de´gouˆ te´ de tout ce que produis? Oh! le mot de Goethe: ›J’eusse peut-eˆtre e´te´ un grand poe`te, si la langue ne se fuˆ t montre´e indomptable! ‹ Et c’e´tait Goethe« (Corr II, 338 / 1 . 6 . 1853 )! Das Goethe-Zitat gibt nicht ganz richtig das 30 . Venetianische Epigramm wieder: »Was mir das Schicksal gewollt es wäre verwegen,/ Das zu fragen: denn meist will es mit vielen nicht viel./ Einen Dichter zu bilden, die Absicht wär’ ihm gelungen,/ Hätte die Sprache sich nicht unüberwindlich gezeigt« (In: HA I, 181 ). Wolfgang Matz (1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, Frankfurt/ Main 2007 , 86 ) hat freilich recht, wenn er gerade Flauberts Ringen um das richtige - also der Sache angemessene - Wort als »schlagendes Argument« gegen jene Kritiker anführt, die bei Flaubert nur die Liquidation aller Referenz erkennen wollen. 327 Ebenso am 23 . 2 . 53 (Corr II, 250 ), 26 . 4 . 53 (ebd., 317 ) und 18 . 12 . 59 (Corr III, 66 ). <?page no="229"?> 229 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Psychologie eines Verhältnisses Auch bezüglich der relativen Isoliertheit im literarischen Feld konnte sich Flaubert mit Goethe einig sein. So wird Flaubert in den Unterhaltungen mit Eckermann sicher die eigene Abscheu vor der beˆtise eines Publikums wiedererkannt haben, das sich längst von ansprüchlicher Literatur abgewendet habe. Goethes Klage über die fehlende ästhetische Bildung und Bildbarkeit des Theaterpublikums intoniert in diesem Sinne Eckermanns Aufzeichnung vom 20. März 1825: Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. [ … ] Ich schrieb meine Iphigenie und meinen Tasso und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen. Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb Alles wie zuvor. [ … ] Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich Euch ein ganzes Dutzend Stücke wie die Iphigenie und den Tasso geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie gesagt, [ … ] es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen. 328 Die Ernüchterung, die mit der nachlassenden zeitgenössischen Rezeption der Prosatexte Goethes einherging, mündet schließlich in die bekannte Absage daran, die »Wünsche des großen Haufens« 329 zu erfüllen: Meine Sachen können nicht populär werden ; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen, und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind. 330 Das Bekenntnis zum ästhetischen Elitismus teilte Flaubert. Immer gebe es nur Wenige - vielleicht nur »trois ou quatre cents par sie`cle« (Corr III, 479/ 16. 1. 1866), die über dem Massengeschmack stünden. Der großen Menge hingegen bedeuteten die Angelegenheiten der Kunst nichts: »Qu’est-ce que c ¸a fout a` la masse, l’Art, la poe´sie, le style? Elle n’a pas besoin de tout c ¸a. Faites-lui des vaudevilles« (Corr II, 358/ 20. 6. 1853). Solcher Bürgerhass rührte vom Bewusstsein der zunehmdenen Unzeitgemäßheit her, die sich mit Blick auf Goethe, den Leidensgenossen, leichter ertragen ließen. Denn Desinteresse und Unverständnis des Lesepublikums - vom Skandalerfolg der Bovary und von den Trois contes einmal abgesehen - hatten auch in Flaubert tiefe Spuren hinterlassen: »Je sens que je suis un Fossile, un individu qui n’a plus de raison d’eˆtre dans le monde, maintenant« (Corr IV, 617/ 30. 11. 1872). So las er Goethe »pour me remonter le bourrichon« (Corr III, 314/ 29. 3. 1863) und als Legitimation des eigenen anti-bürgerlichen Impetus. Doch auch im Sinne einer praktischen Lebenshilfe und schriftstellerischen Ermutigung ließ sich Goethe nutzbar machen. 331 Die Lehrjahre werden berufen, dem prosaischen Zeitalter zum Trotz das Ideal des Kunstschönen nicht aufzugeben: »Prends courage, et si la vie est mauvaise, si le soleil est paˆle, est-ce que l’ide´al n’est pas bon, et l’Art resplendissant? C’est la`, c’est la` qu’il faut aller, comme dit la Mignon de Goethe« (Corr II, 455/ 23. 10. 1853). Der Verweis auf Goethe soll überdies dem Leiden an der Fremdheit im Zeitalter lindernd entgegenwirken, das sich für Flaubert durch den frühen Tod der meisten seiner wenigen Freunde zum Gefühl persönlicher Verlassenheit steigerte. 332 Als Flaubert 1870 vom Tod seines geschätzten Lek- 328 Goethe: Gespräche mit Eckermann. In: MA 19 , 513 . 329 Ebd., 678 . 330 Ebd., 266 . 331 Ähnlich auch Giersberg: Je comprends les Werther (Anm. 13 ), 16 . 332 Ähnlich hatte sich auch Goethe zunehmend privat und literarisch isoliert gefühlt. Besonders über den Tod Schillers war er daher untröstlich. Zunehmend vermisste er die Auseinandersetzung mit dem früh verstorbenen Jüngeren, mit dem zusammen er »sich alles klar zu machen, Theorien von dem, was [wir] <?page no="230"?> 230 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« tors erfuhr, zitierte er Goethes Wort »[U]nd so, über Gräber, vorwärts« 333 , mit dem der Deutsche auf den Tod des Sohnes August reagiert: »Il y a si peu de gens qui aiment ce que j’aime [ … ]! Connaissez-vous dans ce Paris, qui est si grand, une seule maison ou` l’on parle de litte´rature? [ … ] Je me re´pe`te le mot de Goethe: ›Par-dela` les tombes, en avant! ‹ et j’espe`re m’habituer a` mon vide. Mais rien de plus« (Corr IV, 191/ 21. 5. 1870). Der Goethe-Verweis gemahnt an das Ethos der Literatur. Disziplin und stetige Arbeit werden wie bei Goethe - dessen Hypochondriefeindlichkeit etwa die Behandlung der Krankheit des Harfners in den Lehrjahren zeigt - als Vorbeugung gegen Melancholie empfohlen: »C’est a` force de travail que j’arrive a` faire taire ma me´lancolie native« (Corr III, 409/ 6. 10. 1864). Auf diese Weise lasse sich der Gesundungsprozess jener spezifisch goetheschen Hinwendung zum Leben gestalten, die Flaubert als Objektivität und waches Beobachten des Faktischen bewunderte und nun mit Goethe zum Prinzip der eigenen anti-romantischen Poetik erhob. Wohl am Beispiel der Devise des Oheims aus den Lehrjahren , »Gedenke zu leben! « (HA 7, 540), führt er in einem Brief an Mlle de Chantepie aus: »Inte´ressez-vous donc a` la vie: memento vivere . C’e´tait la devise que le grand Goethe portait sur sa montre, comme pour l’avertir d’avoir l’œil incessamment ouvert sur les choses de ce monde« (Corr III, 137/ 15. 1. 1861). 334 Goethe als Meister einer tätigen, gelassenen Lebensbeherrschung wird Flaubert in diesem Sinne auch zum persönlichen Vorbild. Gern hätte er den eigenen Ekel vor der Zeit, den Abscheu vor dem Publikum und die Anfälle von Melancholie mit derjenigen Ruhe ertragen, die schon Madame de Stael Goethe zuschrieb 335 und die Flaubert aus Goethes Werken und anderen Schriftzeugnissen herauszulesen meinte: »Oˆ calme du grand Goethe, personne ne t’admire plus que moi, car personne ne te posse`de moins« (Corr IV, 491/ 3. 3. 1872)! Sogar in Spinozas Ethik vertiefte sich Flaubert deshalb, von deren Affektenlehre, die zum Zwecke vollkommener Erkenntnis die ruhige und vernunftgeleitete Beherrschung aller Gemütserregungen empfiehlt, Goethe im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit berichtet, sie zur »Beruhigung [s]einer Leidenschaften« 336 gelesen zu haben. Wohl Goethes Wendung von der »alles ausgleichende[n] Ruhe Spinozas« (ebd.) paraphrasierend, schreibt Flaubert an Mlle de Chantepie: Emile Saisset a traduit, je crois, L’Ethique . Il faut lire cela. [ … ] Oui, il faut lire Spinoza. Les gens qui l’accusent d’athe´isme sont des aˆnes. Goethe disait: ›Quand je me sens trouble´, je relis L’Ethique .‹ Il vous arrivera peut-eˆtre, comme a` Goethe, d’eˆtre calme´e par cette grande lecture (Corr II, 774/ 4. 11. 1857). geschaffen hatten, zu ergrübeln [suchte]« (Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 2 ), 178 ). Nun könne er »eigentlich mit niemanden [sic] mehr über die [ihm] wichtigsten Angelegenheiten sprechen«, da niemand seine Prämissen« (ebd.) verstehe. 333 Goethe: Briefwechsel mit Zelter. In: MA 20 . 2 , 1454 . 334 Das Motto ließ sich nicht nachweisen, ebensowenig Flauberts Quelle für das Zitat, vgl. Corr III, 1115 . Es handelt sich also wohl um eine Lehrjahre-Reminiszenz, in jedem Fall aber um ein weiteres Beispiel für Flauberts Arbeit am Goethe-Mythos. 335 In ihrem Werk De l’Allemagne, der neben Heines Romantischer Schule maßgeblichen Quelle deutscher Kulturvermittlung in Frankreich, spricht Madame de Stael bei Goethe von »froideur«, »indiffe´rence« und »impartialite´« (Madame de Stael: De l’Allemagne, hg. v. Simone Balaye´, 2 Bde., Paris 1968 , Bd. 1 , 191 ). Aus diesen Charakterzügen leitet sie im Folgenden die Goetheschen Ästhetik der Ruhe her: »Comme on se fait toujours la poe´tique de son talent, Goethe soutient a` pre´sent qu’il faut que l’auteur soit calme, alors meˆme qu’il compose un ouvrage passionne´, et que l’artiste doit conserver son sangfroid pour agir plus fortement sur l’imagination de ses lecteurs« (ebd., 190 ). 336 Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, hg. v. Erich Trunz, 10 1994 , 35 (= Hamburger Ausgabe Bd. 10 ). <?page no="231"?> 231 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Ästhetischer Transfer Auf der psychologischen Ebene dienen die Goethe-Reminiszenzen somit der Legitimation im französischen literarischen Feld, das von der bürgerlich-romantischen Literatur dominiert wurde. Daneben besitzt Flauberts Goethe-Kult vor allem therapeutische Funktion. Praktische Lebenshilfe, schriftstellerische Ermutigung sowie Melancholieprophylaxe stehen im Vordergrund. Die Hinwendung zur Objektivität und die Spinoza-Lektüre deuten aber bereits spezifisch ästhetische Interessen an. 3.6.2 Ästhetischer Transfer Im Laufe der 1840er Jahre wandte sich Flaubert von der französischen Goethe-Rezeption ab, die den Deutschen als Romantiker deutete. Sinnbildlich galt Flaubert nun der im Frühwerk bewunderte Werther nur noch als »une des mansardes de cet immense ge´nie [Goethe, M. K.]« (Corr II, 86/ 8. 5. 1852). 337 In Goethes Werk hatte er den anti-subjektivistischen Klassizismus bemerkt, den er ebenso zur Überwindung der eigenen sentimentalen Anfänge nutzte wie zur Entwicklung neuer ästhetischer Prinzipien. Seine folgenden Werke lassen sich etwa ohne die an Goethe geschulte Objektivität oder den quasi-wissenschaftlichen Anspruch der Kunst kaum denken, und durch solchen deutsch-französischen Transfer wird die Weimarer Klassik zu einem der Pfeiler moderner Prosa. Schon im frühklassischen Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789) hatte Goethe der Literatur einen Platz neben den Naturwissenschaften sichern wollen. 338 Der Stil, als vollkommene Kunst ausgezeichnet, ist empirische, wissenschaftliche Betrachtung der Dinge, die, durch den Künstler reflektiert, auf ein Charakteristisches kondensiert und in begrifflicher Sprache repräsentiert wird. Solch »reflektierte Objektivität« 339 impliziert zunächst die Beimischung der Manier und der subjektiven Befindlichkeit des Künstlers, verlangt aber beider weitestmögliche Überwindung in der Allgemeinheit der Darstellung. 340 So bildet sie eine Konstante der klassischen Goetheschen Ästhetik. Selbst wenn Flaubert den frühen Essay nicht gekannt haben sollte, konnte er Goethes Ablehnung des schwärmerischen Gefühls in Kunstdingen sicher den Maximen und Reflexionen (heute: Sprüchen in Prosa ) entnehmen, die ausführen: »Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im Kleinen hab’ ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht? « 341 Besonders aber der Aufsatz von 1789 gestaltet objektive Kunst als Garanten einer spinozistischen Naturontologie des Stils. Das empirische Betrachten der Dinge soll demgemäß zu einer Wesensschau führen, die auf die scientia intuitiva des Spinoza verweist. Damit wird das begrenzte Besondere zur Modifikation eines Allgemeinen oder Absoluten, das durch den Künstler geschaut, reflektiert und in einem Werk des Styls repräsentiert werden könne. Aus dem Bestreben, alles Partikulare auf ein Allgemeines durchsichtig zu machen, hat Goethe die bekannte Definition der Symbolik entwickelt: 337 Dazu im Einzelnen Giersberg: Je comprends les Werther (Anm. 13 ). Der Werther spielt in den folgenden Werken Flauberts nur noch eine untergeordnete Rolle und wird zunehmend verworfen. 338 Vgl. zum Folgenden ausführlich das Goethe-Kapitel dieser Arbeit. 339 Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771-1789, Tübingen 2001 , 376 . 340 Vgl. dazu Wolf: Ästhetische Objektivität (Anm. 325 ), 131 341 Johann Wolfgang Goethe: Sprüche in Prosa, hg. v. Harald Fricke, Frankfurt/ Main 1993 , 50 , Nr. 1 . 320 . <?page no="232"?> 232 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. 342 ›Symbolisch‹ wird der Verweis auf ein Transzendentes genannt, das aufgrund seiner Unvordenklichkeit weder zu verstehen noch auszusprechen sei - in keiner der »Sprachen« von Theologie, Philosophie, Wissenschaft, Kunst oder anderen. Spinozas Ontologie, die in Zeiten transzendentaler Kritik den Vorwurf erkenntniskritischer Naivität auf sich gezogen hatte, wird damit - unter dem Einfluss Schillers und Schellings - zugunsten des kantischen nescimur absolutum aufgegeben. 343 Der Erkenntnisvorbehalt zeigt also, dass das noch auf Wesensschau ausgerichtete ›Styl‹-Konzept von 1789 keineswegs, wie oft behauptet, eine »Vorstufe der Symbolik« 344 darstellt. Zwar ist auch die Symbolik auf ein Allgemeines - die »Idee« - ausgerichtet, aber insofern Absoluta nur für einen intellectus archetypus , nicht aber für den menschlichen Geist zu erfassen sind, markiert sie zugleich die »Grenzen der möglichen Produktion« 345 des Künstlers. Dass eine solche symbolische Literatur in Richtung auf eine »ontologische [ … ] Abwertung des künstlerischen Gegenstandes« 346 tendierte, hat Goethe deutlich gesehen. Gegenüber Sulpiz Boissere´e hat er 1815 geäußert, es sei erst die »höchste Höhe« 347 , wenn »der Kunst der Gegenstand gleichgültig wird, sie rein absolut, der Gegenstand nur der Träger ist« 348 , da sei »[d]er Spielmann [ … ] begraben« 349 . Doch eine absolute Kunst, die auf eine ästhetische Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen und damit auf eine Entstofflichung des Faktischen abzielt, lag Goethe nicht an. Trotz des Strebens ins Intelligible galten nach wie vor der Grundsatz der Objektivität und das Festhalten am Gegenstand. Boissere´e berichtet Goethes entsprechenden Vorbehalt: »Wir hingen am Gegenstand und müssen daran hängen, das sei recht, das gehöre zur ganzen Ansicht [ … ].« 350 Natürlich ist die Kunst die »würdigste [ … ] Auslegerin« 351 der Natur und soll durch ihre Repräsentationsarbeit den Blick auf ein Unendliches lenken. Dass die Kunst aber die Erscheinungen in Richtung auf ein hinter ihnen verborgenes Jenseits übersteige oder sie dadurch gar entwerte, hat Goethe trotz des kantisch anmutenden Begriffs ›Idee‹ in der Symboldefinition immer bestritten. Seine Naturmorphologie hatte ihn davon überzeugt, dass allem Besonderen ein Allgemein-Unvordenkliches mitgegeben sei, weshalb das empirische Phänomen gerade nicht aus den Augen verloren werden dürfe. 342 Ebd., 207 , Nr. 2 . 72 . 2 . 343 Vgl. dazu ausführlich das Kapitel 2 . 2 des Goethe-Teils der vorliegenden Arbeit. 344 So etwa bei Claudia Kestenholz: »Emphase des Stils. Begriffsgeschichtliche Erläuterungen zu Goethes Aufsatz über ›Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil‹«. In: Comparatio 2 / 3 ( 1991 ), 36 - 56 ; auch bei Wolf: Ästhetische Objektivität (Anm. 325 ), 133 . 345 Goethe: Diderots Versuch über die Malerei. In: MA 7 , 517 - 565 , hier 558 . 346 Wolf: Ästhetische Objektivität (Anm. 325 ), 135 . Es geht auch nicht, wie Wolf vermutet, um ein »Autonomiepostulat [ … ] gegenüber religiösen Stoffen« (ebd.). 347 Friedrich Wilhelm Riemer: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hg. v. Wolfgang Herwig, Stuttgart/ Zürich 1969 , 6 Bde., Bd. 2 , 1087 (= Gespräch mit Sulpiz Boissere´e vom 15 . September 1815 ). 348 Ebd., 1086 . 349 Ebd., 1087 . 350 Ebd. Dass Goethe aus »theorieimmanenten Gründen« (wie Wolf: Ästhetische Objektivität (Anm. 325 ), 136 meint) geradezu als Vorläufer des l’art pour l’art anzusehen sei, scheint daher nicht plausibel. 351 Sprüche in Prosa (Anm. 341 ), 24 , Nr. 1 . 122 . <?page no="233"?> 233 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Ästhetischer Transfer Aus der Einsicht, dass der Mensch »das Eine Urbedingende« 352 nicht gewahr werden könne, folgt zweierlei. Erstens habe sich der Künstler ebenso wie der Naturforscher vor Abstraktionen und theoretischen Deutungen - etwa nach dem Muster der Kausalität - zu hüten und in strenger Objektivität an die Erscheinung zu halten. Doch aus der erkenntniskritischen Defizienz kann die Dichtung - zweitens - Kapital schlagen. Denn über das, was man nicht wissen kann, vermag sie Geschichten zu erfinden. Zur Erzeugung eines schönen ästhetischen Scheins steht ihr die Summe des historisch Überlieferten zur Verfügung. Dichtung kleidet also einen unerkannten, aber psychologisch realen Grund in ein mythologisches Gewand. Anstatt aber so ein Unvordenkliches zu berufen, von dem der Mensch nichts wissen kann, ruft Kunst dazu auf, sich an das Wahrscheinliche und empirisch Plausible zu halten. Kunstkritisch muss Goethes Anweisung gelesen werden: »Schönheit und Geist muß man entfernen, wenn man nicht ihr Knecht werden will.« 353 Die formale Qualität der Dichtung ist damit keine absolute Sinnstiftung, sondern negativ zu lesender Schein, eben eine Mythologie, die bei Absoluta die Waffen der Erkenntnis streckt, ansonsten aber durchaus objektiv berichtet. Dass Kunstmuster als Deutungsfolie für Reales in die Irre führen, demonstrieren die Lehrjahre anhand von historischen Mythologica von Tasso, Bibel und Antike bis hin zum Gemälde vom kranken Königssohn. Mit ihrer Hilfe legt der Kaufmannssohn Wilhelm Meister die Welt aus, und erweist, dass die Einbildungskraft eines Schwärmers ins Phantastische abgleitet, anstatt die bildlose, nüchtern-ökonomische Moderne zur Kenntnis zu nehmen. Der Roman berichtet also von einem verhinderten Bildungsgang, der - mit Hegel zu sprechen - die ›Poesie des Herzens‹ gerade nicht in die ›Prosa der Wirklichkeit‹ überführt. Mit dem Verfahren der Kunstkritik war der Literatur eine neue formale Methode gewonnen. Es ließ sich so schreiben, dass hinter der Exoterik des schönen Scheins ein esoterisch Gemeintes verborgen lag, auf das hin alle Ästhetik durchgestrichen werden musste. Diese zwei Seiten des literarischen Stils hat Goethe in allen Phasen der zunehmenden Erkenntnisvorbehalte ins Werk gesetzt. Sie operieren mit historischen Mythologica und einer schönen, geschliffenen Oberflächensprache, die vom besonderen Fall - Goethes Roßmarkt-Brief spricht von der »Hydra der Empirie« 354 - abstrahiert, ihn als »Repräsentant« einer Reihe ähnlicher Fälle ansieht und ins Allgemeine führt. Literatur hebt also einen Gegenstand nicht auf, sondern kleidet ihn in eine - zunehmend negativ zu lesende - schöne Form. Ihr Vorteil liegt aber darin, dass sie auf keinen spezifischen Stoff mehr angewiesen ist: Jeglicher Gegenstände kann sie sich annehmen, um einen kunstkritischen Schein zu generieren. So lässt sich Goethes erwähnte Äußerung, es sei die »höchste Höhe« 355 , wenn »der Kunst der Gegenstand gleichgültig wird«, als Erweiterung des »rigoros-klassischen Gegenstandskanons« 356 durch die Form lesen. Die Leistungsfähigkeit des Verfahrens demonstrieren Goethes Texte. Nicht leicht geben sie den Blick auf die eigentliche Nüchternheit des Stoffs frei, der der prosaischen Wirklichkeit der Zeit entnommen ist und die »Darstellung des empyrisch pathologischen Zustands des Menschen« 357 ins Werk setzt. Zuweilen will es gar scheinen, als habe der Autor bewusst geradezu Banales gewählt. Besonders Wilhelm Meisters 352 Ebd., 54 , Nr. 1 . 347 . 353 Ebd., 38 , Nr. 1 . 231 . 354 Brief an Schiller vom 16 ./ 17 . August 1797 . In: MA 8 . 1 , 393 . 355 Riemer: Goethes Gespräche (Anm. 347 ), Bd. 2 , 1087 . 356 Wolf: Ästhetische Objektivität (Anm. 325 ), 135 . 357 Brief an Schiller vom 25 . 11 . 1797 . In: MA 8 . 1 , 452 <?page no="234"?> 234 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Lehrjahre hatten schon 1795 die formalen Möglichkeiten des symbolischen - d. h. hier noch typologischen - Erzählens erprobt und gezeigt, dass Kunstbilder weder zur Erschließung des Faktischen taugen noch zur Erfassung des Intelligiblen. 358 Hinter den ästhetischen Phantasien Wilhelm Meisters, dessen personaler Perspektive der Roman folgt, werden mit kaltem Blick die sozialen und psychologischen Missbildungen menschlicher Verhältnisse geschildert. Zu diesem Zweck wendet sich der Roman der niederen Wirklichkeit seiner Zeit zu und lässt »Avanturiers, Comoedianten, Maitressen, Krämer und Philister« 359 auftreten. Goethe selbst bemerkte in diesem Sinne, er habe für die Lehrjahre den »allerelendsten Stoff [ … ] wählen müssen, der sich nur denken lasse, herumziehendes Komödiantenvolk und armselige Landedelleute« 360 , und vollends sei Wilhlem Meister ein »armer Hund« 361 . Dass dies bis heute so wenig ernst genommen wurde, liegt weniger am - nur scheinbaren - Humanitätsideal der Turmgesellschaft und ihrem rhetorischen Pathos, sondern vor allem an der Form des Romans. Sie behandelt erstens - wie Goethe Kanzler Müller 1821 anvertraute - alle Personen »durchaus symbolisch«, also so, dass hinter ihnen »durchaus etwas Allgemeines, Höheres verborgen liege« 362 . Wilhelm etwa wird so zum Typus des Schwärmers, Lothario zu dem des Anführers, Barbara zu dem der Kupplerin, Therese zu dem der Praktikerin usw., und hinter der Allgemeinheit der Typologie tritt der allzu ›elende‹ Einzelfall zurück. Zweitens aber besteht die Romanform aus dem charakteristischen Spiel mit dem Stil. Schon Schiller, dem ersten Leser der Lehrjahre , fiel »ein sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung« 363 auf, für das er »keinen rechten Namen« 364 wisse. Der Roman stelle ein durchaus nüchternes Thema »der wirklichen Welt« 365 mit großem Aufwand an »poetische[r] Tiefe und Dunkelheit« 366 dar. Schiller hatte bemerkt, dass die dichterische Darstellung mit ihrem Gegenstand nicht übereinstimmen muss. Ästhetischpoetische Verklärung kann damit über den eigentlich repräsentierten gemeinen - oder wie im Wallenstein historisch-trockenen - Inhalt hinwegtäuschen. Zugleich ruft sie mit Exoterik und Esoterik die zwei Seiten des Stils auf und wird das Instrument einer Kunstkritik. Denn wer sich wie Wilhelm vom schönen Schein blenden lässt, sieht am real Vorliegenden vorbei und kommt offenbar in der ökonomischen Moderne nicht an, deren insgesamt segensreiche Heraufkunft der Roman mit den Praktikern der Turmgesellschaft schildert. Dass sie sich mit Ausnahme des Abbe´s nicht mehr für das Kunstschöne interessieren und durchaus in nüchterner Zeit leben, ist dabei als Prognose zu lesen: In der ökonomischen Moderne gehe das Schöne zugrunde. Für Goethes Lehrjahre hat allen voran Novalis dieses Thema und die negative Ästhetik der Bilder bemerkt. Die zwei Seiten des Stils, die bereits Schiller aufgefallen waren, werden vom ihm ebenso beschrieben wie das Ende des Schönen, das der Roman verhandelt. 367 Doch mit solchem Misstrauen gegen den exoterischen Schein stand 358 Wolf und Schings überschätzen die Relevanz Spinozas für den Roman. Die spinozostische Ontologie spielt weder für die Lehrjahre eine Rolle noch für den Begriff des Symbols, der in den 1790 er Jahren eben ›typologisch‹ meint. Vgl. dazu ausführlich das Kapitel 2 . 2 des Goethe-Teils dieser Arbeit. 359 Novalis: Fragmente und Studien. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, 3 Bde., Darmstadt 1978 , Bd. II, 751 - 848 , hier 807 . 360 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe, hg. v. Renate Grumach, München 1982 , 82 . 361 Ebd., 52 . 362 Ebd., 51 . 363 Brief an Goethe vom 20 . 10 . 1797 . In: MA 8 . 1 , 439 f. 364 Ebd. 365 Ebd., 440 . 366 Ebd. 367 Vgl. dazu das Kapitel 2 . 2 des Goethe-Teils. <?page no="235"?> 235 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Ästhetischer Transfer Novalis weitgehend allein. Die Mehrzahl der Leser nahm die Bilder für bare Münze und las die Lehrjahre als ein Zeugnis bürgerlichen Aufstiegstrebens und als einen Bildungsroman. Goethe, der durchaus wusste, was für ein »tolle[s] Zeug (Cujonerie)« 368 er dem Publikum zugemutet hatte, bemerkte in diesem Sinne noch 1821 gegenüber Kanzler Müller, »[l]ange Zeit sei das Buch mißverstanden worden, anstößig gewesen. Die guten Deutschen brauchten immer gehörige Zeit, bis sie ein vom Gewöhnlichen abweichendes Werk verdaut, sich zurecht geschoben, genüglich reflektiert hätten.« 369 Vieles spricht demgegenüber dafür, dass Flaubert Goethes Stilbegriff besser erfasste. Zum Teil charakteristisch modifiziert, erhob er ihn zum poetologischen Ausgangspunkt der zweiten Education . Goethes ›wissenschaftlicher‹ Anspruch - von der frühen Schrift Einfache Nachahmung bis in die Nachklassik hinein entwickelt - half bei der Liquidation literarischer Schwärmerei. Literatur sei nicht - so führen die Briefe an Louise Colet aus - die spontane oder genieästhetische Aufzeichnung der privaten Gefühle des Autors. Sie sei vielmehr eine methodische und reflektierte Tätigkeit. Unter Berufung auf Goethes Maxime, derzufolge »[b]ei jedem Kunstwerk [ … ] bis ins Kleinste [ … ] alles auf die Conception [ankomme]« 370 , führt Flaubert aus: »Re´fle´chis, re´fle´chis avant d’e´crire. Tout de´pend de la conception . Cet axiome du grand Goethe est le plus simple et le plus merveilleux re´sume´ et pre´cepte de toutes les œuvres d’art possibles« (Corr II, 157/ 13. 9. 1852). Geht Literatur auf diese Weise vor, erwirbt sie sich das von Flaubert angestrebte Formideal, den Stil - »le style, la forme, le Beau inde´finissable re´sultant de la conception meˆme « (Corr II, 691/ 18. 3. 1857) -, und wird in ihrem Anspruch auf sprachliche Erfassung des Faktischen »pre´cis comme le langage des sciences« (ebd., 79/ 24. 4. 1852). Wird das anti-romantische Streben nach einer Verwissenschaftlichung der Kunst von Goethe her begründet, kehren auch Goethes Betonung der Beobachtung beim Studium der Gegenstände sowie auch sein Verzicht auf Schlussfolgerung oder Kausalität bei der Naturerforschung bei Flaubert wieder: On fausse toujours la re´alite´ quand on veut l’amener a` une conclusion qui n’appartient qu’a` Dieu seul. Et puis, est-ce avec des fictions qu’on peut parvenir a` de´couvrir la ve´rite´? L’histoire, l’histoire, et l’histoire naturelle! Voila` les deux muses de l’aˆge moderne. C’est avec elles que l’on entrera dans des mondes nouveaux. Ne revenons pas au Moyen Age. Observons , tout est la`. Et apre`s des sie`cles d’e´tudes il sera peut-eˆtre donne´ a` quelqu’un de faire la synthe`se. La rage de vouloir conclure est une des manies les plus funestes et les plus ste´riles qui appartiennent a` l’humanite´. Chaque religion, et chaque philosophie, a pre´tendu avoir Dieu a` elle, toiser l’infini et connaı ˆtre la recette du bonheur. Quel orgueil et quel ne´ant! Je vois, au contraire, que les plus grands ge´nies et les plus grandes œuvres n’on jamais conclu. Home`re, Shakespeare, Goethe, tous les fils aı ˆne´s de Dieu (comme dit Michelet) se sont bien garde´s de faire autre chose que repre´senter (Corr III, 353/ 23. 10. 1863). Ähnlich wie bei Goethe wird das Gebot des Beobachtens (»Observons«) - an anderer Stelle heißt es: »On n’est plus homme. On est œil « (Corr I, 364/ 27. 9. 1846) - mit einer prinzipiellen Erkenntnisdefizienz des Menschen begründet, der in die Zusammenhänge des Faktischen nicht schauen könne. Darauf hatte bereits Flauberts Sprachkritik aufmerksam gemacht, die die begriffliche Erfassung des Absoluten bezweifelte. 371 Der Schriftsteller habe sich daher auf 368 Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe (Anm. 360 ), 50 . 369 Ebd., 51 . 370 Goethe: Sprüche in Prosa (Anm. 341 ), 25 , Nr. 1 . 137 . 371 Flaubert war mit Goethes Wahlverwandtschaften wohlvertraut (vgl. Corr III, 88 ), die eine entschiedene Sprach- und Erkenntniskritik vorbringen. Diese Linie lässt sich daher von Goethe über Flaubert bis zu Nietzsche weiterverfolgen, dessen Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ( 1873 ) aus <?page no="236"?> 236 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« ein reines Darstellen (»repre´senter«) seines Stoffes zu beschränken und vor allem Schlussfolgerungen (»conclusion«) zu vermeiden, wie sie Geschichtswissenschaft und Religion aus vermeintlicher Einsicht in den Weltenlauf oder seinen absoluten Grund vornähmen. Sie sind nur Fiktionen (»fictions«) oder »des verres de couleur qui empeˆchent de voir clair« (Corr II, 786/ 12. 12. 1857), die nur davon Zeugnis ablegen, dass »[n]ous manquons de science« (ebd.). Den Erkenntnisgehalt historischer Mythologica beurteilt Flaubert also kritisch. Durchaus mag dabei Goethes Aphorismus aus den Maximen und Reflexionen von Bedeutung gewesen sein: »Der denkende Mensch hat die wunderliche Eigenschaft, daß er an die Stelle, wo das unaufgelöste Problem liegt, gerne ein Phantasiebild hinfabelt [ … ].« 372 Aus dem an Goethe geschulten Credo des wissenschaftlichen, ›reinen‹ Darstellens folgt Flauberts Objektivitätsgebot, das sich in der Begriffstrias von impersonnalite´ , impartialite´ und impassibilite´ artikuliert. Ohne emotionale Anteilnahme habe der Autor das Vorliegende zu schildern - »Je crois que le grand art est scientifique et impersonnel« (Corr III, 579/ 15. 12. 1866) 373 - und dabei auch seine eigenen Vorlieben zurückzustellen: Le roman n’a e´te´ que l’exposition de la personnalite´ de l’auteur et, je dirais plus, toute la litte´rature en ge´ne´ral, sauf deux ou trois hommes peut-eˆtre. Il faut pourtant que les sciences morales prennent une autre route et qu’elles proce`dent comme les sciences physiques, par l’impartialite´. Le poe`te est tenu maintenant d’avoir de la sympathie pour tout et pour tous , afin de les comprendre et de les de´crire (Corr II, 787 f./ 12. 12. 1857). In anderen Worten kommt Flaubert hier auf Goethes Missbilligung der Manier zurück. Um eine objektive Bestandsaufnahme des Faktischen sein zu können, soll Literatur partikulare Subjektivismen vermeiden und den Gegenstand privilegieren. Ist Goethe bereits Vorbild bei der Ausmerzung des Sentiments - »J’ai pleure´ a` des me´lodrames qui ne valaient pas quatre sous et Goethe ne m’a jamais mouille´ l’œil, si ce n’est d’admiration« (Corr II, 433/ 16. 9. 1853) -, ist er es auch bei der angestrebten Ungerührtheit oder Unparteilichkeit ( impartialite´ ) der literarischen Repräsentation von ›Welt‹: »Home`re, Rabelais, Michel-Ange, Shakespeare, Goethe m’apparaissent impitoyables« (ebd., 417/ 26. 8. 1853), stellt Flaubert über die ›unbarmherzige‹ Objektivität Goethes fest und wendet damit jenen Topos vom ›kalten Olympier‹ ins Positive, mit dem die (früh)romantischen Zeitgenossen in Deutschland Goethes Klassizismus beklagt hatten. 374 Wie sehr sich Flaubert aber auch bei der Rezeption seines neuen Stils als ›continuatuer de Goethe‹ erwies, zeigt übrigens Sainte-Beuves bereits zitiertes Wort über den naturwissenschaftlich-kühlen Stil der Bovary : »Fils et fre`re de me´decin distingue´s, M. Gustave Flaubert tient la plume comme d’autres le scalpel.« 375 Auch der Metaphorizität der Sprache folgerte, das »›Ding an sich‹ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) [sei] auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth« (Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980 , Band 1 , 875 - 890 , hier 880 ). Vgl. zum Zusammenhang mit Goethe das Kapitel 2 . 2 des Goethe-Teils dieser Arbeit. 372 Goethe: Sprüche in Prosa (Anm. 341 ), 151 , Nr. 2 . 32 . 1 . 373 Vgl. dazu auch bereits am 18 . 3 . 57 (Corr II, 691 ): »Madame Bovary n’a rien de vrai. C’est une histoire totalement invente´e; je n’y ai rien mis ni de mes sentiments ni de mon existence. L’illusion (s’il y en a une) vient au contraire de l’impersonnalite´ de l’œuvre. C’est un de mes principes, qu’il ne faut pas s’e´crire. L’artiste doit eˆtre dans son œuvre comme Dieu dans la cre´ation, invisible et tout-puissant; qu’on le sente partout, mais qu’on ne le voie pas. Et puis, l’Art doit s’e´lever au-dessus des affections personnelles et des susceptibilite´s nerveuses! Il est temps de lui donner, par une me´thode impitoyable, la pre´cision des sciences physiques! « 374 Vgl. etwa Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974 , 175 - 181 . 375 Sainte-Beuve: »Gustave Flaubert«. In: Ders.: Panorama de la litte´rature franc ¸aise de Margue´rite de Navarre <?page no="237"?> 237 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Ästhetischer Transfer das literarische Frankreich erhob damit den Vorwurf der Gefühllosigkeit gegen einen Autor, der objektiv verfuhr - und Goethes unzeitgemäßen Stil zur Grundlage der modernen französischen Prosa machte. Lange blieb dabei unbeachtet, dass er seinen style auch an Goethes frühklassischem Spinozismus der 1780er Jahre orientierte und insbesondere den Begriff der impassibilite´ pantheistisch grundierte. 376 Die Spinoza-Rezeption, mit der sich Flaubert gegen »die spiritualistische Philosophie und den Sentimentalismus der zeitgenössischen Literatur« 377 abgrenzte, machte ihn wie seinerzeit Goethe als unzeitgemäßen Autor kenntlich und darf als weiteres Moment seiner Bürgerverachtung verstanden werden. Das Werk dieses Philosophen hatte Flaubert durch seinen Freund Alfred Le Poittevin kennen gelernt, der es noch in den letzten Nächten vor seinem Tod im Jahre 1848 immer wieder gelesen hatte. 378 Das Ausmaß seiner Bewunderung sowie den Konnex zu Goethe bezeugt ein von ihm verfasstes Huldigungsgedicht, das sich in Flauberts Abschrift unter Flauberts Dokumenten und Papieren fand: A Goethe J’ai ve´cu de ta vie et grandi sous ton aile. Vers tes e´crits, vers toi je me sentais porte´ Ainsi qu’on l’est souvent vers la divinite´ … Je comprends maintenant la secre`te influence Qui m’attira vers toi de`s mon adolescence Et comment mon esprit sans relaˆche agite´ Fut e´pris a` l’aspect de ta se´re´nite´ … L’ardente volupte´ rarement nous appelle Sans que la passion ne nous jette apre`s elle; [sic] Pour le culte de l’art quel homme y renonc ¸a Autre que le grand Goethe ou le grand Spinoza. 379 aux fre`res Goncourt. Portraits et Causeries, hg. v. Michel Brix, Paris 2004 , 1429 - 1444 , hier 1444 [zuerst: Le Moniteur, 4 . 5 . 1857 ]. 376 Bereits die ältere Forschung hat auf den Spinozismus Flauberts aufmerksam gemacht (vgl. bereits Jean Bruneau: De´buts litte´raires (Anm. 313 ), 444 - 464 ; Albert Gyorgyai: »Flaubert et Spinoza«. In: Les Amis de Flaubert 39 ( 1971 ), 11 - 22 ; Frey: Ästhetische Begriffswelt (Anm. 55 ), 201 f.), freilich ohne daraus genauen Nutzen für den Stilbegriff zu ziehen oder das Vorbild Goethe zum Thema zu machen. Vgl. dazu jetzt die umfassende Studie von Norbert Christian Wolf: »Der kalte Blick. Goethes und Flauberts ästhetischer Spinozismus«. In: Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur, Kunst und Ästehtik, hg. v. Martin Bollacher et. al., Würzburg 2010 , 29 - 56 . 377 Wolf: Der kalte Blick (Anm. 376 ), 54 . 378 7 . 4 . 48 (Corr I, 495 ): »Jusq’au moment ou` il lui a e´te´ impossible de rien faire, il lisait Spinoza jusqu’a` 1 heure du matin, tous les soirs dans son lit.« Ebenso rückblickend am 4 . 11 . 57 (Corr II, 774 ): »J’ai perdu, il y a dix ans, l’homme que j’ai le plus aime´ du monde, Alfred Le Poittevin. Dans sa maladie dernie`re, il passait ses nuits a` lire Spinoza.« Le Poittevin kannte Spinozas Werk bereits seit dem Jahr 1843 , vgl. Corr I, 1044 . 379 Zitiert nach Fernand Baldensperger: Bibliographie (Anm. 287 ), 204 . Lange Zeit waren die Autorschaft und der genaue Wortlaut umstritten. E. W. Fischer (Etudes sur Flaubert ine´dit, Leipzig 1908 , 10 ) sprach das - nicht zitierte - Gedicht Flaubert zu. Auch Baldensperger (Bibliographie, Anm. 287 , 204 ), der es von Fischer erhielt, führt es unter dem Autor Flaubert, fügt aber hinzu, dass Flauberts Nichte, Caroline de Commanville, ihren Onkel nicht für den Verfasser halte. Schon Degoumois (Ecole de Goethe, Anm. 294 , 22 ) argumentiert dann auf der Basis der Ausgabe der Werke Alfred Le Poittevins, dieser, selbst ein Schriftsteller und Flauberts enger Freund, habe das Gedicht verfasst, und Flaubert habe es nur abgeschrieben. Die drittletzte Zeile hat Baldensperger nicht richtig entziffert. Sie lautet: »Sans que la passion <?page no="238"?> 238 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Das Gedicht beruft Goethe und Spinoza als Vorbilder bei der Beruhigung der Leidenschaften und dem »culte de l’art«. Damit verwirft es romantische Subjektivismen in Kunstsachen und ruft zur ästhetischen Objektivität auf. In diesem Zusammenhang konnte Flaubert insbesondere schon die Verpflichtung zum observer , also zur genauen Betrachtung der Dinge selbst, durch Spinoza legitimieren. 380 Dessen Ethik , die Flaubert bis zum Lebensende immer wieder las, 381 beschreibt eine Ontologie der Natur als organisches Ganzes oder Gott. Ihre Unvordenklichkeit könne durch die scientia intuitiva , also das intellektuelle Anschauen der Dinge - intuere bedeutet ›betrachten‹ -, im Sinne einer Wesens- und zugleich Gotteserkenntnis überwunden werden: »[H]oc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum.« 382 Aus Spinozas intellektueller Anschauung konnte Flaubert also das empirische Studium des objektiv Vorhandenen ableiten, dem die Kunst im Sinne fortschreitender Erkenntnis zu entsprechen habe. Damit befand er sich wiederum in der Nachfolge Goethes, dessen bekannter Brief an Jacobi vom 5. Mai 1786 die ›Betrachtung der Dinge‹ und damit den quasi-wissenschaftlichen Anspruch der Literatur ebenfalls aus Spinozas scientia intuitiva entwickelt: Wenn du sagst man könne an Gott nur glauben [ … ] so sage ich dir, ich halte viel aufs schauen, und wenn Spinoza von der Scientia intuitiva spricht, und sagt: Hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum; so geben mir diese wenigen Worte Muth, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen die ich reichen und von deren essentia formali ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann [ … ]. 383 Aus Spinozas substantialistischem Pantheismus lässt Flaubert nun aber ebenfalls den zentralen Stilbegriff der impassibilite´ folgen. In einem Brief vom Dezember 1852 heißt es: L’auteur, dans son œuvre, doit eˆtre comme Dieu dans l’univers, pre´sent partout, et visible nulle part. L’art e´tant une seconde nature, le cre´ateur de cette nature-la` doit agir par des proce´de´s analogues: que l’on sente dans tous les atomes, a` tous les aspects, une impassibilite´ cache´e et infinie (Corr II, 204/ 9. 12. 1852). Autor und Werk werden in Analogie zum spinozistischen Gott und seiner Schöpfung gerückt. 384 Der Ethik zufolge ist Gott als »antianthropomorph [ … ]« 385 , zugleich aber als in allem Geschaffenen präsent und allgegenwärtig konzipiert. Gott als natura naturans gilt als ewiger Grund aller Dinge ( natura naturata ), die »in Gott sind und ohne ihn weder sein noch ne nous guette aupre`s elle« (cf. Smith: Flaubert, Reader of Goethe (Anm. 288 ), 21 ). Auch Smith folgt der Version von der Verfasserschaft Le Poittevins. 380 Flauberts eigene Spinoza-Lektüre ist ab dem 4 . 11 . 57 bis in die 1870 er Jahre hinein belegt, vgl. Briefe vom 29 . 4 . 70 (Corr IV, 184 ), 21 . 5 . 70 (ebd., 190 f.), 26 . 2 . 72 (ebd., 486 f.) und 31 . 3 . 72 (ebd., 506 f.). 381 Flaubert hatte Spinozas Ethik nachweislich vor 1857 gelesen (vgl. Corr II, 774 / 4 . 11 . 57 ). Bruneau nimmt an, dass er das Werk zwischen 1843 und 1848 kennenlernte (vgl. De´buts litte´raires (Anm. 313 ), 445 ). Ab 1870 ist zusätzlich die Lektüre des Tractatus theologico-politicus belegt, vgl. Brief vom 29 . 4 . 70 (Corr IV, 184 ). 382 Spinoza: Ethik, hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999 , 182 (Teil II, Propositio 40 , Scholium 2 ). In der Übersetzung von Wolfgang Bartuschat: »Diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee dessen, was die Essenz gewisser Attribute ausmacht, weiter bis zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen.« 383 Goethes Briefe und Briefe an Goethe, hg. v. Karl Robert Mandelkow, München 1976 , 6 Bde., Bd. I, 508 f. 384 Vgl. dazu auch Wolf: Der kalte Blick (Anm. 376 ), 57 . 385 Ebd., 49 . <?page no="239"?> 239 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Ästhetischer Transfer begriffen werden können.« 386 Der Autor als »second Maker« 387 muss bei der Schöpfung seiner ästhetischen Welt entsprechend verfahren: Wie Gott hat in seinem Werk überall anwesend, aber nirgends sichtbar (»visible nulle part«) zu sein. Dieser Verzicht auf die Erzählerpräsenz in den Texten - Flauberts impersonnalite´ - geht einher mit jener Haltung der impassibilite´ , die man als ›Ungerührtheit‹ oder ›Teilnahmslosigkeit‹ übersetzen könnte. Auch sie ist aus der Ethik abgeleitet. Ihr erster Teil führt aus, dass alle Dinge mit Notwendigkeit aus Gott folgten. 388 In der Schöpfung zeigten sich daher niemals Präferenzen oder Zwecke, sondern nur eine wertneutrale Kette von Kausalitäten. Urteile, die sie - etwa moralisch - bewerteten, seien also nichts als »Einbildungen« 389 des Menschen. Er sei es gewohnt, die Dinge nach dem Nutzen oder Schaden zu beurteilen, den sie für ihn hätten, und daher unterstelle er auch dem Schöpfer zweckorientiertes Handeln. Wolle man aber Faktisches adäquat erfassen, müsse man seine Gleichgültigkeit betrachten lernen und sich als Autor die impassibilite´ des Schöpfers aneignen: 390 Flauberts dezidierte Absage an Schlussfolgerungen (›conclure‹) und Werturteile sowie sein Streben nach objektiver Beobachtung des Faktischen haben hier ihre Ursache. Flauberts »spinozistisch inspirierte[r] Objektivismus« 391 muss in seiner Bedeutung für die Genese der modernen Prosa sicher »deutlich aufgewertet werden« 392 . Dennoch ist seine Relevanz für die Literatur, darin übrigens Goethes Spinoza-Lektüre ganz ähnlich, weniger in der Verbindlichkeit einer philosophischen Lehre zu sehen als vielmehr in der methodischen Grundlegung einer formalen Verfahrensweise: Mit Recht hat man von »ästhetische[m] Spinozismus« 393 gesprochen. Allen Versuchen der Forschung zum Trotz, gerade die Lehrjahre auf die Lebenslehren der Ethik abzubilden, sind weder Goethes Roman noch die Education sentimentale ihrem Inhalt nach spinozistisch zu nennen. 394 Gleichwohl machen beide Ro- 386 Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999 , 1 . Teil, Lehrsatz 29 , Anmerkung, 65 . 387 Shaftesbury: Soliloquy, or Advice to an Author. In: Ders.: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, hg. v. Lawrence E. Klein, Cambridge 1999 , 70 - 162 , hier 93 . 388 Vgl. Spinoza: Ethik (Anm. 382 ), 1 . Teil, Anhang, 79 . 389 Ebd., 85 . 390 Welche Mühe das für Flaubert selbst darstellte, belegen die Klagen über Dummheit und Mittelmäßigkeit. Dennoch sollten ja die Dinge aufgezeichnet werden. In der nötigen Selbstüberwindung zum Niedrigen und Verächtlichen dürfte übrigens die Vorbildfunktion begründet liegen, die Flaubert für Rilke innehatte. Geradezu paradigmatisch sah Rilke die Forderung nach Objektivität in Flauberts Le´gende de Saint- Julien l’Hospitalier verwirklicht, in dem der Heilige sich zum Pestkranken ins Bett legt. In einem Brief vom 19 . 10 . 1907 notiert Rilke: »Sowenig eine Auswahl zugelassen ist, ebensowenig ist eine Abwendung von irgendwelcher Existenz dem Schaffenden erlaubt [ … ]« (in: Ders.: Briefe, hg. v. Horst Nalewski, Frankfurt/ Main 1991 , 2 Bde., Bd. I, 280 ). Der Malte-Roman setzt aber schließlich das Scheitern eines jungen Dichters ins Werk, der sein Programm des ›sachlichen Sagens‹ nicht umsetzen kann. Tod und Hässliches können nicht wertfrei angenommen werden. Vgl. dazu Marcel Krings: Selbstentwürfe. Zur Poetik des Ich bei Vale´ry, Rilke, Celan und Beckett, Tübingen 2005 , 83 - 132 . 391 Wolf: Der kalte Blick (Anm. 376 ), 54 . 392 Ebd. 393 Ebd., 45 . Schon Bruneau hatte freilich auf die rein ästhetische Grundierung von Flauberts Spinoza- Lektüre abgehoben: »L’ide´al de Spinoza e´tait le Penseur, qui, en perfectionnant l’Entendement ou la Raison, parvient a` la fe´licite´ supreˆme de l’homme, qui naı ˆt de la connaissance intuitive de Dieu [ … ]. L’ide´al - paralle`le - de Flaubert, ce sera l’Artiste, qui reproduit dans son œuvre la totalite´ de l’existence, sans distinction de bien ou de mal, et en montrant les causes et les effets. En ce sens, mais en ce sens seulement, Flaubert est spinoziste [Hervorhebung M. K.]« (De´buts litte´raires (Anm. 313 ), 453 ). Für Goethe ließ sich zeigen, dass ihm Spinozas Ontologie im Sinne einer zunehmenden Erkenntnis- und Kunstskepsis in Klassik und Nachklassik fragwürdig wurde. 394 So meint freilich Hans-Jürgen Schings (»Natalie und die Lehre des †††. Zur Rezeption Spinozas in <?page no="240"?> 240 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« mane mit dem Objektivitätsgebot literarischen Ernst: Sie wenden sich mit Vorliebe der niederen sozialen Wirklichkeit zu und erproben auf diese Weise die Möglichkeiten des neuen, teilnahmslosen oder ›reinen‹ Darstellens. Gerade im Falle von verächtlichen Gegenständen musste sich erweisen, ob sie ohne wertende Kommentierung literarisch repräsentierbar waren. Wie Goethe schildert auch Flaubert - etwa in Madame Bovary , aber auch in der Education - »des gens du dernier commun« (Corr II, 160/ 19. 9. 1852). In ihrem »dialogue trivial« (ebd., 156/ 13. 9. 1852) mit seinen »choses vulgaires« (ebd., 229/ 3. 1. 1853) findet sich »le me´diocre « (ebd., 429/ 12. 9. 1853) der Epoche ebenso wieder wie ihre »beˆtise« (Corr III, 629/ 8. 4. 1867). Von solchen brieflich überlieferten Klagen über das mittelmäßige und ›allergewöhnlichste‹ Figurenarsenal ist freilich in den Romanen selbst nichts - oder kaum etwas - zu finden. Anstatt die persönliche Verachtung der Autoren zu reproduzieren, verfahren sie objektiv: Indem sie das Faktische bis hin zu Flauberts Ästhetik des Zitats nüchtern aufzeichnen, enthalten sie sich jeder Wertung und überlassen dem Leser das Urteil über die Pragmatik des Textes. Freilich war es Flaubert nicht um einen kruden Naturalismus zu tun. Flauberts Schrifttraum vom »livre sur rien« (Corr II, 31/ 16. 1. 1852) zielte auf ein »affranchissement de la mate´rialite´« (ebd.), in dem der »style« alle Gegenstände auf ihr Substrat des ästhetischen Absoluten transparent machen sollte. Solche Negativität der Schrift, die in den Texten auch den Antagonismus von realistischer Exoterik und antistofflicher Esoterik verantwortet, beruht auf einer - freilich entscheidend modernisierten - Lektüre von Goethes Symbolik. Bereits Goethes typologisches Schreiben ab 1798 hebt ein Besonderes ins Allgemeine, wie der Roßmarkt-Brief oder auch die folgende Passage aus den Maximen und Reflexionen (heute: Sprüchen in Prosa ) ausführen: Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät. 395 Offenbar unter Anspielung auf die Goethesche Schreibregel - die auf die Differenz zwischen Goethes und Schillers dichterischem Verfahren abhebt - legt Flaubert 1862 Hippolyte Taine seine eigene »maxime« dar: »Ne jamais partir comme Hugo, Schiller, d’une ge´ne´ralite´ qu’on individualise, mais d’une particularite´ qu’on ge´ne´ralise, comme Goethe, Shakespeare.« 396 Denn die Einbildungskraft mache das Kontingente, Relative, Beschränkte (»quelque chose de contingent, de relatif, de restreint« (Corr II, 480/ 18. 12. 1853)) oder Zufällige (»l’Accidentel« (Corr IV, 1000/ Ende Dezember 1875)) des »fait vrai« (Corr II, 480/ 18. 12. 1853) auf das Allgemein-Typische hin durchsichtig: »[E]n imaginant, on reproduit la ge´ne´ralite´« (ebd.). 397 So abstrahiere der Autor etwa von konkreten Persönlichkeiten, indem er sie in einem einzigen Typ zusammenfasse: ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹«. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 89 / 90 / 91 ( 1985 - 1987 ), 37 - 88 ) für die Lehrjahre. Wolf (Der kalte Blick, Anm. 376 ) differenziert und lässt für die Lehrjahre und die Education nur einen ›ästhetischen‹ Spinozismus gelten. 395 Goethe: Spüche in Prosa (Anm. 341 ), 368 , Nr. 6 . 17 . 1 . Vgl. dazu bereits Wolf: Ästhetische Objektivität (Anm. 325 ), 158 . 396 Zit. nach Degoumois: Ecole de Goethe (Anm. 294 ), 7 ; Baldensperger: Bibliographie (Anm. 287 ), 176 . 397 Gleichlautende Formulierungen finden sich zum Beispiel in den Briefen vom Ende Dez. 1875 (»Je me suis toujours efforce´ d’aller dans l’aˆme des choses, et de m’arreˆter aux ge´ne´ralite´s les plus grandes [ … ]« <?page no="241"?> 241 3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«: Ästhetischer Transfer Ce qui distingue les grands ge´nies, c’est la ge´ne´ralisation et la cre´ation. Ils re´sument en un type des personnalite´s e´parses et apportent a` la Conscience du genre humain des personnages nouveaux (ebd., 164/ 25. 9. 1852). 398 Ein Text besitzt neben der »valeur plastique« 399 daher auch eine über sie hinausgehende »signification ge´ne´rale« 400 . Die zwei Seiten des Stils - Empirie und Idee - sind wiederzuerkennen, und dass der Stil nun nicht nur auf die typologische Qualität des Einzelfalls, sondern auf dessen Aufhebung in ein Absolutes zielt, hat Flaubert wohl von Goethes Symboldefinition her entwickelt. Sie lautet wie bereits erwähnt: Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe. 401 Flauberts entsprechende Formel - »Le Fait se distille dans la Forme et monte en haut, comme un pur encens de l’Esprit vers l’Eternel, l’immuable, l’absolu, l’ide´al« (Corr II, 485/ 23. 12. 1853) - beschreibt analog dazu die Verwandlung einer Erscheinung (»le Fait«) in ein ästhetisches Bild (»la Forme«), das in Richtung auf ein Metaphysicum (»Idee« oder »l’absolu«) perspektiviert wird. Dieser Schritt zur ›reinen Kunst‹ eines l’art pour l’art , den Goethe nicht mitgegangen wäre, lässt sich dennoch als radikale Konsequenz aus dem Goetheschen Symbolbegriff sowie aus Gedanken der Weimarer Klassik verstehen. Denn die Tendenz des Symbols zur Transzendierung des Gegenstands, Goethes von Boissere´e überlieferte Äußerung über die absolute Kunst, der ihr Stoff ›gleichgültig‹ werde, sowie auch Schillers Überlegungen zur ›Vertilgung des Stoffes durch die Form‹ werden von Flauberts Programm des ›livre sur rien‹ »konsequent in ihr Extrem getrieben« 402 . Wohl als Vorläufer hat Flaubert Goethe also - irrtümlich - gelesen. Der Brief vom 26. 8. 1853 legt nahe, dass er bei Goethe jene Exoterik und Esoterik bemerkte, die als Folge künstlerischer Entstofflichung die zwei Ebenen des Stils ausmachen: Ce qui me semble, a` moi, le plus haut dans l’Art (et le plus difficile), ce n’est ni de faire rire, ni de faire pleurer, ni de vous mettre en rut ou en fureur, mais d’agir a` la fac ¸on de la nature, c’est-a`-dire de faire reˆver . Aussi les tre`s belles œuvres ont ce caracte`re. Elles sont sereines d’aspect et incompre´hensibles. Quant au proce´de´, elles sont immobiles comme des falaises, houleuses comme l’Oce´an, pleines de frondaisons, de verdures et de murmures comme des bois, tristes comme le de´sert, bleues comme le ciel. Home`re, Rabelais, Michel-Ange, Shakespeare, Goethe m’apparaissent impitoyables . Cela est sans fond, infini, multiple. Par de petites ouvertures on aperc ¸oit des pre´cipices; il y a du noir en bas, du vertige. Et cependant quelque chose de singulie`rement doux plane sur l’ensemble! C’est l’e´clat de la lumie`re, le sourire du soleil, et c’est calme! c’est calme! et c’est fort [ … ] (Corr II, 417/ 26. 8. 1853). Unterhalb des esoterischen Scheins, den der style herstellt, befinde sich auch bei Goethe der Abgrund (»pre´cipices«) der Exoterik: die Schwärze (»noir«) jener verächtlichen Realität, die (Corr IV, 1000 / Ende Dezember 1875 )) und 6 . 7 . 52 (»Moins on sent une chose, plus on est apte a` l’exprimer comme elle est [comme elle est toujours, en elle-meˆme, dans sa ge´ne´ralite´]« (Corr II, 127 / 6 . 7 . 1852 )). 398 Am 5 . 12 . 1866 heißt es in einer Volte gegen literarische Manifestationen der individuellen Autorpersönlichkeit ganz ähnlich: »Je trouve meˆme qu’un romancier n’a pas le droit d’exprimer son opinion sur quoi que ce soit. [ … ] Le premier venu est plus inte´ressant que M. G. Flaubert, parce qu’il est plus ge´ne´ral, et par conse´quent plus typique« (Corr III, 575 / 5 . 12 . 1866 ). 399 ES ( 1845 ), 1036 . 400 Ebd. 401 Goethe: Sprüche in Prosa (Anm. 341 ), 207 , Nr. 2 . 72 . 2 . 402 Wolf: Ästhetische Objektivität (Anm. 325 ), 146 . <?page no="242"?> 242 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« zunächst den Stoff des Romans stellt und deren »miasmes e´cœurants« (Corr II, 485/ 23. 12. 1853 (›widerliche Ausdünstungen‹) oder »putre´factions« (ebd.) (›Fäulnis‹) ästhetisch zu überwinden gerade die Voraussetzung einer gelungenen Seite Literatur ist: »A-t-on compte´ tout ce qu’il faut de bassesses contemple´es pour constituer une grandeur d’aˆme? tout ce qu’il faut avoir avale´ de miasmes e´cœurants, subi de chagrins, endure´ de supplices, pour e´crire une bonne page«(ebd.)? Goethe sei mit diesem Schreibverfahren »un naturaliste qui e´tait romantique, - ou un romantique qui e´tait naturaliste, autant l’un que l’autre« (Corr V, 814/ 2. 2. 80) 403 , gewesen: Wie ein Naturalist habe er Fakten aufgezeichnet, wie ein Romantiker habe er sie in einem ästhetischen Jenseits aufzuheben getrachtet. Als Muster der Methode wird explizit Mignons Italienlied aus den Lehrjahren berufen, in dem das Mädchen das glücklichere Leben im Süden zum Ideal erhebt: »[S]i la vie est mauvaise, si le soleil est paˆle, est-ce que l’ide´al n’est pas bon, et l’Art resplendissant? C’est la`, c’est la` qu’il faut aller, comme dit la Mignon de Goethe« (Corr II, 455/ 23. 10. 1853). Jedoch ist das eine produktive Fehllektüre. Die zwei Ebenen des Stils stehen bei Goethe und Flaubert unter umgekehrten Vorzeichen. Bei beiden Autoren steht aber das Gelingen des negativen Schreibakts in Frage. So spricht aus den Werken eine gemeinsame Kunstskepsis, die wiederum spiegelbildlich angelegt ist: Goethes Texte bezweifeln die Überwindbarkeit des Scheins, diejenigen Flauberts die Überwindbarkeit der Materialität. So stellen Goethes Lehrjahre die Abbildbarkeit des Faktischen insgesamt zwar nicht in Abrede. Dennoch weisen sie mit ihrer Kritik der phantastischen Einbildungskraft bereits auf die Gefahr hin, das Urteilsvermögen fehlzuleiten. Flauberts ›livre sur rien‹ hingegen droht gerade an der Materialität von Stoff und Sprache - hier etwa an Lautlichkeit oder mittelbarer Begrifflichkeit - zu scheitern, die sich jeweils als irreduzibler Rest gegen den negativen Schreibakt behauptet. Insofern Flaubert gerade das Problem der Sprache von Goethe herleitet, bezeugt er nochmals sein produktives Missverstehen: La matie`re est quelque chose de si lourd a` porter par l’ide´e (et de si embeˆtant en soi), qu’on n’en alle`ge le poids que par sa perfection meˆme. Rappelons-nous ce grand mot de Goethe qui est attristant, mais consolant pour nous autres, les petits: ›J’aurais peut-eˆtre e´te´ un poe`te, si la langue ne se fuˆ t pas montre´ indomptable‹, et il parlait de l’allemand, qui a la quantite´ et la rime a` la fois, la faculte´ de composer des mots et d’en faire comme dans le grec (Corr II, 229/ 3. 1. 1853)! Dass die Sprache unbeherrschbar (»indomptable«) sei, war von Goethe freilich nicht auf ihre Fähigkeit zur Vertilgung des Stoffes gemünzt, sondern auf ihre Eignung zur Aufhebung des Scheins. Dennoch lässt sie ihr materiales Residuum nicht als geeignetes Instrument erscheinen, »de s’assimiler le Vrai par l’interme´diaire du Beau« (Corr II, 698/ 30. 3. 1857), also das ideal Wahre mittels des Schönen - ästhetisch - zu konstruieren. Die nachdrücklich mit Goethes letzten Worten legitimierte Forderung nach »ve´rite´« (ebd.) - »Goethe s’e´criait en mourant: ›De la lumie`re! de la lumie`re! ‹ Oh! oui, de la lumie`re! duˆ t-elle nous bruˆ ler jusqu’aux entrailles« (ebd.) - kann die Literatur so niemals restlos erfüllen. 403 Die Äußerung bedeutet also nicht, wie Giersberg (Je comprends les Werther (Anm. 13 ), 20 ) meint, dass es Flaubert mit Epochenbezeichnungen nicht so genau nahm. <?page no="243"?> 243 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane 3.7 Die Lehrjahre und die Education-Romane Goethes Lehrjahre gehören für Flaubert zu den Werken, mit denen er psychologische Strategien und die Genese des style legitimiert. Obwohl sie einschlägig zitiert werden, fehlen jedoch genaue Lektürzeugnisse ebenso wie spezifische Reflexionen über den Roman. Das Schweigen Flauberts kann indessen ein durchaus beredtes sein. Denn Flauberts Vertrautheit mit den Lehrjahren und vor allem Zweck und Umfang ihrer literarischen Anverwandlung sind durchaus zu erschließen. Wahrscheinlich kannte Flaubert Goethes Roman schon vor dem Beginn des Jahres 1843. Ab dem 1. Februar 1843 war in der Revue inde´pendante George Sands lockere Lehrjahre -Adaption Consuelo erschienen, die Flaubert geradezu verschlungen hatte. 404 Die zeitgenössische Kritik hatte die Nähe zu den Lehrjahren sofort bemerkt, 405 was als Beleg für die zunehmende Rezeption des Romans gelten kann, und auch Flaubert werden weder die Goethe-Reminiszenzen noch die Möglichkeiten ihrer schriftstellerischen Gestaltung entgangen sein. Denn noch im Februar 1843, also im selben Monat, beginnt er mit der Arbeit an der ersten Education sentimentale , 406 die er schon durch ihren Titel in die Nachfolge Goethes stellt: Der Begriff ›e´ducation‹ deutet auf einen Bildungs- oder Erziehungsprozess, der sich durchaus von den ›Lehrjahren‹ herschreiben mochte und in der zweiten Romanfassung von 1869 erhalten blieb. 407 Die Vermutung aber, Flauberts erster Roman variiere ebenso wie Sands Consuelo Goethes Wilhelm Meister , hat im Folgenden - wie erwähnt - Flauberts ehemaliger Freund Maxime Du Camp in seinen Souvenirs Litte´raires gestützt. Sie schildern eine Lesung aus der ersten Education , die Flaubert im Sommer 1845 durchführte: Souvent il [Flaubert] nous relisait des passages de l’Education sentimentale [ … ]. Un jour, je l’interrompis pour lui dire: ›Prends garde, ce que tu viens de lire se trouve presque textuellement dans le Wilhelm Meister de Goethe‹. Il releva la teˆte et riposta: ›Cela prouve que le Beau n’a qu’une forme.‹ 408 Du Camps Bericht über Flauberts nahezu wörtliche Übernahmen aus den Lehrjahren nennt freilich die inkiminierte Passage nicht. 409 Er ist zudem mit dem Ziel verfasst, Flauberts literarische Produktion als Beleg für eine Epigonalität zu verunglimpfen, die ihre Zweitrangigkeit nicht eingestehen will. Dennoch mag auch eine zweifelhafte Absicht auf einer sachlich zutreffenden Beobachtung beruhen. 1845, das zeigt der beschriebene Lektüreumfang, 404 Vgl. Flauberts Brief an George Sand vom 27 . 12 . 1866 (Corr III, 582 ), in dem er von einer erneuten Lektüre des Romans berichtet: »J’ai pris Consuelo, que j’avais de´vore´ jadis dans la Revue inde´pendante. J’en suis, derechef, charme´.« 405 Vgl. Baldensperger: Goethe en France (Anm. 285 ), 180 ff. 406 Abgeschlossen im Januar 1845 . Über den weiteren Entstehungsprozess ist nichts Genaues bekannt. Vgl. zur Datierung: OJ, 1508 . 407 Vgl. Degoumois. Ecole de Goethe (Anm. 294 ), 45 ff sowie OJ, 1520 . Gegen die These Jean Bruneau: De´buts litte´raires (Anm. 313 ), 400 . Der deutsche Begriff der ›Bildung‹ ist im Französischen unübersetzbar. der Titel von Goethes Roman lautet im Französischen: Les anne´es d’apprentissage. Der Begriff ›apprentissage‹ legt den Akzent eher auf die Lerntätigkeit eines Lehrlings oder Lernenden selbst, ›e´ducation‹ eher auf die Vermittlung von außen bzw. auf die Mittel zu dieser Vermittlung (vgl. Le Petit Robert, s.v. apprentissage, 119 , bzw. e´ducation, 807 ). De Biasi (Manie`re spe´ciale, Anm. 322 , 284 ) macht auf die semantische Uneindeutigkeit des Titels aufmerksam, der entweder »e´ducation du sentiment« oder »e´ducation purement sentimentale« bedeuten kann. 408 Maxime Du Camp: Souvenirs Litte´raires 1822-1850, Genf 1993 , 221 (= Re´impression de l’e´dition de Paris 1906 ). 409 Degoumois (Ecole de Goethe, Anm. 294 , 45 ff.) vermutet, Du Camp könnte das Theaterthema, die Parallele zwischen Jules/ Lucinde und Wilhelm/ Mariane oder das unglückliche Ende der beiden Liebesgeschichten aufgefallen sein. <?page no="244"?> 244 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« war Flaubert längst ein Bewunderer Goethes, auch wenn er erst in den Briefen der 1850er Jahre entsprechende ästhetische Grundsätze formulierte. Nicht nur die 1843 neu erschienene Übersetzung von Carlowitz jedoch wird Flaubert nochmals auf die Aktualität der Lehrjahre hingewiesen haben. 410 Denn erstens besaß das Romanthema, die Entscheidung zwischen Künstler- und Bürgerexistenz und damit die Probleme der Integration des Einzelnen in die Gesellschaft, zunehmende Relevanz für die Epoche: Deutlich greift also die erste Education das Motiv auf, und indem sie für Henry, einen der beiden Protagonisten, den Verlust aller Träume zum Preis des gesellschaftlichen Erfolgs macht, lässt sie sich als Ausdruck der Resignation lesen, mit der die Schriftsteller auf die Verbürgerlichung des Zeitalters reagierten. Zweitens aber schienen die Lehrjahre sogar die persönliche Situation Flauberts mit ihrem Schwanken zwischen Künstlertum und Bürgerberuf abzubilden: Die zunehmend ungeliebte Juristenlaufbahn, zu der ihn der Vater verpflichtet hatte, gab Flaubert erst nach der schweren psychischen Krise vom Herbst 1843 - also während der Arbeit an der Education - zugunsten der Literatur auf. So konnte er sich zwar wie der Schriftsteller Jules, der zweite Protagonist seines Textes, jenseits der Gesellschaft einrichten, galt aber nach bürgerlichem Maßstab als gescheitert: ein idiot - Privatmann - de la famille . Flauberts Roman reflektiert damit vor dem Hintergrund der Lehrjahre durchaus eine autobiographische Problematik, die den Text noch als Jugendwerk kenntlich macht. Nicht zuletzt die spätere, an Goethe entwickelte Reserve gegen alles Subjektive mag dazu beigetragen haben, den Roman in der vorliegenden Form zu verwerfen - er sollte für immer »dans mon carton« (Corr II, 460/ 28. 10. 1853) bleiben - und ihn erst 1869 in einer völlig veränderten zweiten Fassung zu publizieren. Auch ihre Entstehung scheint freilich eng mit Goethes Roman verknüpft zu sein. Denn erneut steht das von Flaubert am 29. März 1862 411 erstmals erwähnte Werkkonzept in zeitlicher Nähe zum Erscheinen einer Lehrjahre -Übersetzung, die diesmal The´ophile Gautier fils 1861 vorgelegt hatte und die sich in Flauberts Bibliothek befand. Und wiederum mögen sich die weitere Ausarbeitung ab dem 12. Dezember 1862 und der Arbeitsbeginn am 1. September 1964 412 nicht zuletzt einer weiteren Lehrjahre -Adaption verdanken: Dem Capitaine Fracasse The´ophile Gautiers. Über Entstehungsprozess und Erscheinen der Buchausgabe am 7. November 1863 413 war Flaubert gut informiert und hielt den Text für »une merveille de style, de couleur et de gouˆ t« (Corr III, 358/ 16. 11. 1863). Gautiers Mantel- und Degenroman, der sich schon im Vorwort als »œuvre [ … ] objective, comme diraient les Allemands« 414 bezeichnet und damit in die Tradition der Objektivität Goethescher Prägung stellt, berichtet von den Abenteuern des ästhetisch dilettierenden Baron de Sigognac. Wie 410 Degoumois vermutet, wie bereits erwähnt, dass Flauberts Kenntnisse der Lehrjahre sich der Lektüre dieser Übersetzung verdanken. Vgl. Ecole de Goethe (Anm. 294 ), 25 und 45 . 411 Flauberts Bericht über ein Romanprojekt haben die Brüder Goncourt an diesem Tag in ihrem Journal festgehalten, vgl. Jean Bruneau: »Sur la gene`se de l’Education sentimentale«. In: Flaubert e il pensiero del suo secolo, hg. v. Giovanni Bonaccorso et. al., Messina 1984 , 235 - 248 , hier 237 f. Am 21 . 10 . 1862 (Corr- III, 254 ) folgt eine Erwähnung in Flauberts Korrespondenz. 412 Vgl. Bruneau: Gene`se (Anm. 411 ), 238 und 235 . Das Datum 1 . September 1864 ist auf Flauberts Romanmanuskript vermerkt. Bereits am 4 . April 1864 erwähnt Flaubert aber, dass er im Begriff sei, ein Buch zu beginnen (»Me voila` commenc ¸ant un livre qui me demandera probablement plusieurs anne´es.«) 413 Vgl. Briefe vom 3 . 4 . 63 (Corr III, 317 ) und 16 . 11 . 63 (ebd., 357 ). Der Text erschien vorher als Fortsetzungsroman zwischen dem 25 . Dezember 1861 und dem 10 . Juni 1863 in der Revue nationale et e´trange`re (vgl. The´ophile Gautier: Romans, contes et nouvelles (Anm. 159 ), Bd. 2 , 1407 ). 414 The´ophile Gautier: Le Capitaine Fracasse. In: Ders.: Romans, contes et nouvelles (Anm. 159 ), 637 - 1106 , hier 638 . <?page no="245"?> 245 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane Wilhelm Meister wird er Mitglied in einer Truppe herumziehender Schauspieler (»des come´diens de province en tourne´e« 415 ), deren Mitglieder bis ins Detail den Figuren der Lehrjahre entsprechen: Die hübsche Isabelle ruft die erotisch attraktive Philine auf, Pedant, Leander und Scapin die ebenso typenhaften Teile von Serlos Truppe, und im Schloss des Marquis wird ebenso wie in dem des Grafen aus den Lehrjahren eine Vorstellung gegeben. Vor allem aber sind die kleine Chiquita und Agostin zwar schurkenhaft und baskisch verfremdete, aber dennoch bis hin zu den Namen deutlich erkennbare Pendants zu Mignon und Augustin. 416 Konnte Flaubert also erneut auf die Möglichkeiten produktiver Lehrjahre -Rezeption und damit auf sein liegengebliebenes Romanprojekt aufmerksam werden, so lehnte er die romantisierende Handlung des Capitaine und überhaupt Gautiers Vorliebe für ästhetisierende Artifizialität ab. Flauberts Romane wenden sich der banalen Wirklichkeit der Zeit zu, die sie ästhetisch überhöhen. Bezeichnete sich Flaubert also durchaus als »partisan [ … ] de la doctrine de l’art pour l’art« (Corr III, 587/ 9. 1. 1867), so legte er doch Wert auf seine in diesem Punkt abweichende Auslegung und Praxis (»comprise a` ma manie`re (bien entendu)« (ebd.)). Übrigens mögen Goethes Lehrjahre mit ihrem realistischen und vor allem ›elenden‹ Stoff für Flaubert in diesem Sinn ebenso aufschlussreich gewesen sein wie sie für ihn wohl auch eine entscheidende Rolle bei der Entstehung längerer Prosa gespielt haben. Mimetisches Geschehen muss welthaltiger erzählt werden, und so umfasst die erste Education mit einem Mal 250 Seiten, 417 wohingegen sich Flauberts vorangehende Schriften - zumeist Variationen leidender Innerlichkeit - bereits nach höchstens 70 Seiten ( Novembre ) erschöpfen. Dies, der Entstehungskontext, aber auch die psychologisch oder ästhetisch motivierte Orientierung am Vorbild Goethes und der Lehrjahre scheint dafür zu sprechen, dass die beiden Education -Romane durchaus an ihr prominentes Vorbild anschließen und keineswegs als Gegenentwürfe zu verstehen sind. Die entsprechende Zurückhaltung der Forschung - sie zeigt sich auch in der verschwindend geringen Zahl komparatistischer Untersuchungen 418 - ist wohl auf das Fehlen genauer Lektürebelege ebenso wie auf den vermeintlichen Mangel an motivischen Parallelen zurückzuführen. Besonders dürfte sich aber die Rezeptionsgeschichte der Lehrjahre ausgewirkt haben. Sie klassifizierte den Text in Deutschland und mehr noch in Frankreich als paradigmatischen Bildungsroman, dem Flauberts resignative Education offenbar nicht entsprach. Fragten ältere Arbeiten zumeist nur nach der - dürftigen - Wiedererkennbarkeit Goethescher Figuren, 419 schien jedenfalls auch neueren Untersuchungen der Bildungsprozess und der spezifische plot der beiden Flaubert- 415 Ebd., 660 . 416 ›Chiquita‹ ebenso wie ›Mignon‹ sind von der Grundbedeutung ›klein‹ abgeleitet. Vgl. zu den Parallelen schon Baldensperger: Goethe en France (Anm. 285 ), 183 . 417 Seitenangaben folgen der Ple´iade-Ausgabe (Anm. 139 ). Die zweite Education umfasst 430 Seiten. 418 Eigentlich liegen nur folgende, zum Teil bereits ältere Untersuchungen vor: Walter Goder: Erziehungsproblem und Entwicklungsroman bei Flaubert, in der Beziehung auf Goethe, Tübingen 1951 , zur Methode des ›unterbrechenden‹ Erzählverfahrens in der Education und den Wanderjahren der schöne Aufsatz von Hans Staub: »Der Weber und sein Text«. In: Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser, hg. v. Gerhard Buhr et. al., Würzburg 1990 , 533 - 553 ; Marc Redfield: Phantom Formations. Aesthetic Ideology and the Bildungsroman, Ithaca, NY 1996 , Monique Verret: »Roman de formation et fin des temps«. In: La Fin des Temps, hg. v. Ge´rard Peylet, Talence 2000 , 181 - 187 , 419 Vgl. Degoumois: Ecole de Goethe (Anm. ( 294 ), 45 ff., sehr kurz Baldensperger: Goethe en France (Anm. 285 ), 184 , ebenfalls nur kurz Marianne Bonwit: »Flaubert auf Goethes Spuren: In Italien und im ›Chaˆteau des cœurs‹«. In: PMLA 65 ( 1950 ), 388 - 396 , hier 389 . Louis Morel (»›Wilhelm Meister‹ en France«. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 9 ( 1909 ), 65 - 94 ) erwähnt Flauberts Education seltsamerweise nicht. <?page no="246"?> 246 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Texte zu unterschiedlich, als dass etwas anderes als Differenzen in den Fokus rücken konnte. 420 Ob aber auch Flaubert die Lehrjahre als Bildungsroman las, blieb dabei ebenso unberücksichtigt wie die Frage, ob kontrafaktische Adaptionen nicht mehr noch als an der bloßen Personengestaltung an Form und Motivik ausweisbar sein können. 3.7.1 Bildung und Schwärmerei An erster Stelle steht das Thema der Bildung. Schon die Romantitel deuten auf einen Lehr- und Lernprozess, durch den die Protagonisten - ›e´ducation‹ verweist auf das lateinische ›ex ducere‹, also ›herausführen‹ - alte Defizienzen überwinden und zu neuen Erkenntnissen angeleitet werden sollen. Doch um welche es sich handelt, ist ebenso umstritten wie die Frage, ob Wilhelm seinen Nachfolgern Jules und Henry oder Fre´de´ric beim Erreichen des Bildungsziels mit gutem Beispiel vorangeht. Zu oft sind die Lehrjahre als Bildungsroman gelesen worden, der von Wilhelms glückhafter Eingliederung in die Turmgesellschaft berichte. Im Sinne einer Hinwendung zur ›Prosa der Wirklichkeit‹ gebe der junge Mann die ›Poesie des Herzens‹ auf, entwickele sich zum Meister und werde damit zum wertvollen Mitglied der schönen und humanen Welt von Lothario und Natalie. Doch ganz offenbar dementiert der Roman solch bürgerlichen Optimismus. 421 Zwar betrachtet auch er Bildung als Bildung zur Vernunft, die die natürliche Lässlichkeit des Menschen überwindet. Doch zu nichts eignet sich Wilhelm. Weder ein Gutsherr noch ein Dichter, geschweige denn ein Kaufmann wird aus ihm, und beharrlich schlägt er alle Ermahnungen der Sozietät in den Wind, mit mehr Verstand einer konkreten Tätigkeit nachzugehen. Der junge Mann bleibt bis zuletzt ein ästhetischer Träumer und Dilettant, der von seiner Einbildungskraft daran gehindert wird, sich angemessen zur Wirklichkeit zu verhalten. So kann ihn die ebenso wenig schöne wie rein humane, sondern ökonomische Sozietät nicht brauchen. Damit sind die Lehrjahre die Parodie eines Bildungsromans: Sie schildern, wie Wilhelm Meister an der Aufgabe scheitert, zum nüchtern-praktischen Vernunftmenschen zu werden und in der ökonomischen Moderne Fuß zu fassen. Die Hinwendung zum Faktischen, die sich bei Goethe aus dem aufgeklärten Glauben an die rationale Gestaltbarkeit aller Verhältnisse speist, ist freilich schon in Flauberts erster Education deutlich resignativ konturiert. Der Roman trägt einen durchaus negativeren Bildungs- oder besser: Erziehungsbegriff vor. Das Schicksal des Sklaven Itatoe` verdeutlicht den Sinn des Titels: Son pe`re l’avait vendu pour un paquet de clous; il e´tait venu en France comme domestique. Il avait vole´ und foulard pour une femme de chambre qu’il aimait - on l’avait mis cinq ans aux gale`res. - Il e´tait revenu de Toulon au Havre a` pied pour revoir sa maı ˆtresse; il ne l’aivait pas retrouve´e. - Il s’en retournait maintenant au pays des Noirs. Celui-la` aussi avait fait son e´ducation sentimentale (OJ 978). 420 Symptomatisch Baldensperger: Goethe en France (Anm. 285 ), 184 ): »On est tente´ [ … ] de songer a` une influence lointaine de ›Wilhelm Meister‹ a` propos de l’›Education sentimentale‹ [ … ]: mais c’est ici moins un ›apprentissage‹ qu’une de´formation [ … ].« Dieselbe Unterscheidung dann bei Verret: Roman de formation (Anm. 418 ) und Goder: Erziehungsproblem (Anm. 418 ). Redfield (Phantom Formations, Anm. 418 ) hingegen äußert prinzipielle Zweifel an der Existenz von Bildungsromanen und hält sie für eine Phantomgattung. Nirgends werde die Einordnung eines Ich in ein allgemeines System geschildert (vgl. ebd., 63 f.). Das scheint etwas weit gegriffen. Der Ansicht aber, dass sowohl Goethe als auch Flaubert die Bildungserwartungen unterlaufen, stimme ich zu (vgl. ebd., 203 ). 421 Vgl. dazu ausführlich das Kapitel 2 . 3 . 3 des Goethe-Teils dieser Arbeit. <?page no="247"?> 247 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Bildung und Schwärmerei ›Education sentimentale‹ meint einen Desillusionierungsprozess, der Entsagung und resignative Einordnung in die Verhältnisse lehrt. Mit den Lehrjahren kommt er durchaus in der Forderung überein, dass alle Schwärmerei überwunden werden müsse. Die Kritik an Phantastereien führt Flaubert - das Adjektiv ›sentimental‹ bedeutet »qui concerne l’amour« 422 - am Beispiel der Liebe durch. Doch von Goethes Glauben an die prinzipielle Bildbarkeit des Menschen ist nicht viel geblieben, wo Individuen durch Enttäuschungen immer nur auf die schlechte Wirklichkeit verwiesen werden: Weder Bildung noch produktive Gestaltung des Faktischen fördert eine Ernüchterung, die den Weltenlauf als unaufhebbaren Fatalismus und Diktat der Dummheit erlebt. An der Figur des Henry wird das illustiert. Nachdem die enthusiastische, aber ehebrecherische Beziehung zu Emilie - einer Vorläuferin der Emma Bovary - an Geldsorgen und der Banalität der immergleichen Liebesschwüre gescheitert ist, lässt der junge Mann seine Geliebte sitzen und macht Karriere als Kaufmann und zynisch-gewissenloser, mit einem Wort: desillusionierter Politiker. Seine Integration in eine nüchterne Welt der bürgerlichen beˆtise , der Durchschnittsexistenzen und der Zweckrationalität reüssiert, weil er ihre Spielregeln anerkannt hat und selbst Mittelmaß wird. Die andere Möglichkeit des Umgangs mit Enttäuschungen führt der passivere Jules vor Augen. Wie Wilhelm Meister zunächst ein dilettierender Literat mit einer Vorliebe für Schauspielerinnen, wird er von Lucinde nur ausgenutzt und schließlich verlassen. Doch anders als Goethes Protagonist kehrt er sich daraufhin von ästhetischen Schwärmereien ab, zieht sich aus der Welt zurück und entwickelt eine Kunst, die mit dem Abschied vom Sentiment, mit der »e´tude du style« und der »impartialite´« (ebd., 1033) bereits zentralen Grundsätzen der Flaubertschen Ästhetik entspricht. Solche Weltflucht in die Kunst macht ihn zum »grand artiste« (ebd., 1075) und zeichnet die Literatur als einzig mögliche Gegenwelt zu jener banalen Wirklichkeit aus, in die Henry sich einfügte. Ernüchtert eine schlechterdings prosaische Welt also jeden, gibt der Roman mit Henry und Jules die Alternative der Integration in die Gesellschaft oder des Rückzugs in die Kunst zu denken - und privilegiert Letzteres: Die erste Education ist zugleich ein Desillusions- und ein Künstlerroman, der davon berichtet, wie aus dem Abscheu vor der Welt ›große‹ Literatur entsteht. So erscheint möglich, dass Flaubert 1843 die Lehrjahre entsprechend seinem Bürgerhass und Pessimismus adaptierte oder dass er Goethes Text als Desillusionsroman las, in dem Wilhelm Meister seine schwärmerischen Ideale aufgibt und sich - aber als Dichter? als Kaufmann? - in die ökonomische Turmgesellschaft hineinfinden muss. Wie kaum ein anderer berichtet der Roman ja von der Heraufkunft eines bürgerlichen Zeitalters, das für Flaubert gut 50 Jahre später freilich nur noch Korrumpiertheit bedeutet. Die Popularität des Themas von den verlorenen Illusionen war in Frankreich gerade durch Balzacs Illusions perdues (1837-43) unterstrichen worden, und so ist plausibel, dass auch Flaubert Goethes Bildungsglauben in Ernüchterung wendete. Doch von der Verachtung, mit der die erste Education der bourgeoisen Dummheit und Mittelmäßigkeit begegnet, ist jedenfalls in den Lehrjahren keine Rede. Zwar geht die frühökonomische Turmgesellschaft in der Tat wenig zimperlich mit potentiellen Mitgliedern um. Aber an der Berechtigung rationaler Härten bestehen im Interesse des Gemeinwohls ebenso wenig Zweifel wie an der Notwendigkeit einer bürgerlich-effizienten Neuordnung der Gesellschaft. Formuliert jedoch schon die erste Education eine Einrede gegen soviel Reformoptimismus, konstatiert die zweite Education von 1869 den umfassenden Bankrott des Bürgertums, der nun neben dem Moralischen und 422 Vgl. Le Petit Robert, s.v. sentimental, 2323 . <?page no="248"?> 248 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Erotischen auch das Politische und Ästhetische betrifft. In einer Epochenbilanz berichtet der Text vom Zusammenbruch aller Träume, die sich im Wesentlichen aus einem Übermaß von Dilettantismus und Schwärmerei nicht in die Realität umsetzen ließen. Illusorisch sind daher die Pläne zur 1848er Revolution ebenso wie die erotischen oder ästhetischen Sehnsüchte der einzelnen Figuren. So durchläuft jedes Individuum einen Desillusionierungsprozess, der sich gemäß Flauberts Manuskriptnotiz im Gang des Politischen widerspiegelt: »Montrer que le Sentimentalisme (son de´veloppement depuis 1830) suit la Politique et en reproduit les phases.« 423 Das Scheitern der Revolution ist damit zugleich das Scheitern einer ganzen Generation, der die Exaltiertheit ihrer Hoffnungen im Privaten und Politischen den Blick auf das Faktische verstellte. Nach 1848 sind aber noch die mittelmäßigsten Träume ausgeträumt. Nun wird die Dummheit universell, das konservative Bürgertum siegt - und mit ihm ein Mittelmaß, in das es sich zu integrieren gilt: »On se re´fugie dans le me´diocre, par de´sespoir du beau qu’on a reˆve´! « (ebd., 299) Damit ist der Titel Education sentimentale ironisch zu verstehen: Die ›Lehrjahre des Gefühls‹ sind keine Schule der Empfindungen, sondern eine Abrechnung mit der Schwärmerei, und sie vermitteln kein Bildungsprogramm, sondern Verachtung und Resignation. Durchweg auf verfehlte Lebensläufe blickt der Text am Ende zurück und zeigt dabei besonders am Beispiel Fre´de´rics, dass sich die vergeblichen revolutionären Träume in den gescheiterten Liebesbeziehungen spiegeln. Fre´de´rics Verbindungen mit Louise Roque, Rosanette, Mme Arnoux, Mme Dambreuse sowie seine »autres amours« (ES 448) verlaufen allesamt unglücklich und sind an die Wendepunkte der politischen Entwicklung Frankreichs gekoppelt. Am 22. Februar 1848, dem ersten Tag der Erhebung, findet das geplante Stelldichein mit Mme Arnoux nicht statt und präludiert auf diese Weise das Scheitern der Revolution. Den Juniaufstand von 1848 verschläft Fre´de´ric mit Rosanette im - nur scheinbaren - Paradies Fontainebleau, und solche Realitätsferne befördert ebensowenig ein stabiles Zusammenleben wie die 2. Republik eine neue Ordnung. 424 Am 1. Dezember 1851, dem Vorabend des Staatsstreichs Louis-Napole´ons, lässt Mme Dambreuse die Besitztümer der Mme Arnoux versteigern und versetzt damit der Beziehung zu Fre´de´ric ebenso den Gnadenstoß wie auch die 2. Republik zugrunde geht. Der Tag des Staatsstreichs selbst beendet dann Fre´de´rics Verbindung zu Louise: Bei seiner Rückkehr nach Nogent muss er feststellen, dass die von ihm verschmähte Frau gerade Deslauriers geheiratet hat. Fre´de´rics weitere, nicht einmal mehr namentlich genannte Beziehungen illustrieren daraufhin nur noch die Schalheit der bürgerlichen Epoche, während der die Zeit - angedeutet in den Flaubertschen blancs - stillzustehen scheint. 1867, im Alter von 46 Jahren, zieht Fre´de´ric Bilanz. Zusammen mit Deslauriers, der sich trotz seines Namens ebenso wenig Lorbeeren verdient hat wie er selbst, erinnert er sich an einen gemeinsamen Bordellbesuch (»la Turque«, 456) im Jahre 1837. Peinlich war die Sache geendet. Fre´de´ric hatte alsbald aus »embarras« (ebd.) Reißaus genommen und war dabei gesehen worden, was seiner Reputation ebenso schadete wie derjeniges Delausriers, den Fre´de´rics Mutter noch Jahre später verdächtigte, »qu’il avait conduit son fils dans des lieux de´shonneˆtes« (ebs., 46). Doch dreißig Jahre später wird das erotische Fiasko verklärt: »C’est la` ce que nous avons eu de meilleur! « (ebd., 457), sind sich beide einig. Noch im Fehlschlag und gerade weil es unerfüllt blieb, lockte das Liebesleben die Heranwachsenden mit geheimer Verheißung. Nun 423 Zit. nach Marie-Jeanne Durry: Projets ine´dits (Anm. 69 ), 187 . 424 Barbara Vinken (Durchkreuzte Moderne, Anm. 125 , 235 ff.) liest die Bäume im Park von Fontainebeau als Todeszeichen, das auf das nahende Ende der Liebe und der Republik hindeute. <?page no="249"?> 249 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Bildung und Schwärmerei hat sie das Leben gelehrt, dass Liebe unglücklich, Erotik schal und Lockungen banal werden können, kurz: dass die Realität immer hinter den Erwartungen zurückblieb. Das Abenteuer der Turque präludiert in dieser Hinsicht die künftige Ernüchterung, und indem der Text am Ende zyklisch auf den Anfang verweist, leugnet er jegliche Entwicklung. In Leben und Geschichte gebe es eben einen »de´faut de ligne droite« (ebd., 455), der linearen Fortschritt verhindere, und in der Darstellung solch allgemeinen Misslingens ist die Education sentimentale eine Parodie des Bildungsromans. Darin entspricht sie nun freilich genau Wilhelm Meisters Lehrjahren , die Flaubert womöglich inzwischen neu und anders in den Blick genommen hatte. Durch die zwei Seiten des Stils unterlaufen sie den Gestus des Bildungsromans und machen auch ihren Titel - ebenso wie den Namen des Protagonisten - als ironisch kenntlich. Denn nichts hat Wilhelm am Ende gelernt, und kein ›Meister‹ der neuen Zeit ist er geworden. Dass sein Nachname zugleich die - rhetorisch freilich obsolete - höchste Turmrangstufe, den Meister, bezeichnet, ist nichts als schöner Schein. Wirklich spricht im Folgenden die Konzeption des Protagonisten dafür, dass Flaubert seine zweite Education »presque textuellement« - um Du Camps Formulierung hier zu übernehmen - an die Lehrjahre anschloss. So dürfte auch die Education von 1869 ein Zeugnis einer Lehrjahre -Rezeption sein, die den Roman nicht wie üblich als Exempel segensreicher Entsagung und bürgerlicher Arbeitsmoral las, sondern als Geschichte eines Scheiterns. 425 Warum soll Flaubert Goethe nicht gegen den allgemeinen Strich gelesen haben? Auch dem romantischen Goethe-Bild der Zeit, das im Deutschen hauptsächlich den Verfasser des Werther sah, setzte er das des wissenschaftlichen Dichters der Objektivität entgegen, und furchtbar konnte er sich über Fehlurteile erregen. Jedenfalls führt die Education am Beispiel des Protagonisten nun deutlicher als noch bei Henry oder Jules das Thema der fatalen Schwärmerei ein, das schon Goethes Roman prominent behandelte. Denn wie Goethes Wilhelm Meister taugt auch Flauberts Fre´de´ric Moreau nicht zum aktiven Leben nach bürgerlichem Maßstab. Schon sein Jura-Examen besteht er nur mit Mühe und im zweiten Versuch. Danach promoviert er zwar immerhin (vgl. ES 119), doch als er sich in einer Nogenter Kanzlei bewähren soll, erweist er sich zur Enttäuschung aller als völlig unfähig: Il n’y [in der Kanzlei, M. K.] montra ni science ni aptitude. On l’avait conside´re´ jusqu’alors comme un jeune homme de grands moyens, qui devait eˆtre la gloire du de´partement. Ce fut und de´ception publique (ebd., 124). Niemals übt er nach dieser Blamage wieder einen Beruf aus. Auch aus seinen Plänen, Dichter, Maler oder Historiker zu werden, wird nichts. Sie sind sämtlich ästhetische Phantastereien, die, zumeist aus Larmoyanz oder Schwärmerei begonnen, über das Stadium des Dilettantismus nicht hinauskommen und alsbald aufgegeben werden. Schon Wilhelm Meister hatte sich nur aus Inbrunst und Sentiment zum Dichter geträumt. Auch die erste Education hatte literarische Betätigung auf Sentimental-Erotisches zurückgeführt - »les amants ont la rage d’e´crire« (OJ 882) -, und so sieht sich zuletzt Fre´de´ric durch Privatgefühle und Leidenschaft zum Komponisten, Maler oder Schriftsteller bestimmt: 425 Zur Rezeptionsgeschichte der Lehrjahre vgl. ausführlich die Unterkapitel zu Exoterik und Esoterik im Goethe-Kapitel dieser Arbeit. <?page no="250"?> 250 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Fre´de´ric, dans ces derniers temps n’avait rien e´crit; ses opinions litte´raires e´taient change´es: il estimait par-dessus tout la passion; Werther, Rene´, Frank, Lara, Le´lia et d’autres plus me´diocres l’enthousiasmaient presque e´galement. Quelquefois la musique lui semblait seule capable d’exprimer ses troubles inte´rieurs; alors, il reˆvait des symphonies; ou bien la surface des choses l’appre´hendait, et il voulait peindre. Il avait compose´ des vers, pourtant; Deslauriers les trouva fort beaux, mais sans demander une autre pie`ce (ES 46 f.). Fre´de´ric ist ein sentimentaler Enthusiast, der in der Kunst ein »de´versoir de passions« (Corr II, 557/ 22. 4. 1857) sieht und sie zur Steigerung der eigenen Befindlichkeit konsumiert. Vor die Wahl gestellt, »un grand peintre ou un grand poe`te« (ES, 82) zu werden, entscheidet er sich für das Erstere nicht aus Kunstwillen oder Begabung, sondern weil »les exigences de ce me´tier le rapprocheraient de Mme Arnoux« (ebd.) - weil er also als Maler in der Nähe der geliebten Mme Arnoux bleiben könne: Ihr Mann führt zu diesem Zeitpunkt noch den Kunsthandel L’Art industriel , der ein »journal de peinture et un magasin de tableaux« (ebd., 35) umfasst. Wer also wie er in der Kunst nur den eros sucht, Subjektivismen folgt und über keinerlei Ausbildung verfügt, widerspricht den Flaubertschen Grundsätzen der impersonnalite´ , science , conception oder Objektivität. Fre´de´ric phantasiert sich nur zum Künstler. Wenig erstaunlich ist, dass er nichts zustande bringt: Nicht mehr als ein wenig Sakralkunst skizziert er (vgl. 44), und auch der Traum platzt, mit historischen Romanen der »Walter Scott de la France« (ebd., 44 f.) zu werden. Als er einmal den Versuch macht, zur Beruhigung seiner Leidenschaften ernsthaft zu arbeiten und eine »Histoire de la Renaissance« (ebd., 216) zu verfassen, ist schon aus dem chaotischen »peˆle-meˆle« (ebd.) seiner Papiere ersichtlich, dass auch dieses Projekt im Sande verlaufen wird. Die Abkehr vom Sentiment ist nicht die Sache des Fre´de´ric Moreau, und nie mehr findet der Plan Erwähnung. Wie Wilhelm Meister ist also auch Fre´de´ric ein Schwärmer, und auch seine Wahrnehmung wird nicht durch Faktisches, sondern durch die ästhetischen Bilder der Einbildungskraft geleitet: »Les images que ces lectures [die Lektüre von Dramen und Memoiren, M. K.] amenaient a` son esprit l’obse´daient si fort, qu’il e´prouvait le besoin de les reproduire« (ebd., 45). Wer aber dem schönen Schein zu sehr vertraut, läuft Gefahr, Reales nicht adäquat zur Kenntnis zu nehmen. Damit wird auf den Topos der schädlichen Lektüre verwiesen, den Rousseaus Emile aktualisiert hatte und den die Lehrjahre ebenso aufrufen wie die Education oder - prominenter noch - die Madame Bovary . Weil er also ein Phantast bleibt, findet Fre´de´ric keinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft, und so wiederholt sich an ihm das Geschick des Wilhelm Meister. Am Ende ist er, der nie praktisch werden konnte, ein mittelmäßiger »petit bourgeois« (ebd., 453), der seine Existenz vom letzten verbliebenen Drittel des Erbes fristet, das ihm der Onkel vermacht hatte. Auch das ist eine Meister-Reminiszenz: Die Lehrjahre berichten, dass Werner seinem Freund Wilhelm, der sich zum Kaufmann nicht eignete, den Anteil am Unternehmen des alten Meister ausbezahlt. Von dem Geld muss er leben, und wenn Werner sich auch großzügig gibt, verhehlt der Text doch nicht, dass Wilhelm sich schmählich aus des Vaters Kaufmannshaus herauskaufen ließ - anstatt es selbst produktiv zu führen. Die Privatiers-Existenz ist zugleich verächtlich und die letzte Rettung für unbelehrbare Träumer. 3.7.2 Wilhelm und Fre´de´ric: der Typus des irreflexiven jungen Mannes Wer sich wie Wilhelm Meister und Fre´de´ric Moreau zum Realisten nicht bildet, Faktisches nicht zur Kenntnis nimmt und sich seines Verstandes nicht bedient, entspricht dem Typus des irreflexiven jungen Mannes. Beide träumen lieber als die Zeichen der Zeit zu erkennen. <?page no="251"?> 251 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Wilhelm und Fre´de´ric Dabei geht es in beiden Romanen um Revolution. In den Lehrjahren ahnen nur die weitblickenden Praktiker des Turms, dass Europa vor einer politischen Umwälzung stehen könnte. Was Goethes Revolutionsskepsis aufruft und wohl als Warnung vor der Französischen Revolution von 1789 zu lesen ist, gibt den entscheidenden Impuls zur Gründung der ökonomischen Sozietät: Es ist gegenwärtig nicht weniger als rätlich, nur an einem Orte zu besitzen, nur an einem Platze sein Geld anzuvertrauen, und es ist wieder schwer, an vielen Orten Aufsicht darüber zu führen; wir haben und deswegen etwas anderes ausgedacht: aus unserm alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. Wir assekurieren uns untereinander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe (LJ, 563 f.). 426 Sozial-ökonomischer Fortschritt, dessen Motor die Turmgesellschaft prototypisch darstellt, wird weder durch Revolutionen noch durch reine Vernunft bewerkstelligt. Vielmehr trägt der Turm durch Besitzwahrung und -mehrung durchaus empirisch motivierte Reformprojekte vor. Zunächst soll in Deutschland der obsolete Feudalismus beseitigt werden, bevor mit Jarno in Amerika und dem Abbe´ in Russland die Gründung eines ökonomischen Weltbürgertums erfolgen soll (vgl. ebd., 564). Damit würde Kants Utopie eines Völkerbundes der reinen Vernunft - aus dem Ewigen Frieden - empirisch erwirkt: Die Erfordernisse liberalen Handels sichert Frieden und Freiheit, weil kein Beteiligter seinen wirtschaftlichen Nutzen geschmälert wissen möchte. Von der Notwendigkeit innerer und äußerer Reformen freilich hat Wilhelm keine Vorstellung. Den Lauf der »Welthändel« (ebd., 563) gibt er selbst zu, nicht zu begreifen. Darin steht ihm Fre´de´ric Moreau in nichts nach. Auch die Education schildert ja angesichts einer immer drängenderen sozialen Frage die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung, und auch in ihr zeichnet sich eine Revolution ab, deren historischen Moment der Protagonist verpasst. Dass das politische Scheitern einer ganzen Generation und der Ausverkauf der erotischen Träume Fre´de´rics zusammenfallen, zeigt: Auch die Education knüpft keine Hoffnungen an die Revolution. Die Aussicht auf eine radikale Umgestaltung der Sozialstrukturen kann ein Umsturz nur enttäuschen und ist damit ein Nachfahre jener Ernüchterung, die für die Zeitgenossen schon auf die Französische Revolution folgte. Die Education zeichnet aber anders als Goethe das Bild von der unaufhebbaren Immobilität des Historischen: Wo sich immer nur dieselbe Dummheit wiederholt, bliebe selbst ein von Reformen gelenkter Fortschritt aus. Denn es zeigt sich, dass die verschiedenen Regierungsformen - Republik oder Kaiserreich - keineswegs die Besinnung auf Vernünftiges einleiten, sondern in einem identischen Versagen konvergieren. Die Plünderung der Tuilerien führt vor Augen, dass die Revolution selbst nichts als ein Tumult des primitiven Pöbels ist - »Les he´ros ne sentent pas bon« (ES 320) -, die schwärmerischen Demokraten im Club de l’Intelligence reden zwar viel, aber wirr, und angesichts solch rhetorischen Unfugs und Parteiengeists verläuft die gemeinsame revolutionäre Sache im Sande. Dem konservativen Bürgertum hingegen liegt von vornherein nichts an einer Veränderung der Verhältnisse. Nur zum Schein paktiert Großbürger Dambreuse mit den Radikaldemokraten. Dass er von seiner zur Schau getragenen Revolutionsbegeisterung nach dem Staatsstreich nichts mehr wissen will und sich für die anstehenden Neuwahlen als Kandidat des Bürgertums aufstellen lässt, zeigt, dass es ihm nie um politische Überzeugung ging, sondern um Besitzstandswah- 426 Die Lehrjahre werden nach der folgenden Ausgabe zitiert: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. Erich Trunz, München 13 1994 (= Hamburger Ausgabe Bd. 7 , zuerst Hamburg 1950 ). <?page no="252"?> 252 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« rung. Ebenso hatte er schon 1825, als sich die Spannungen der 1830er Revolution abzuzeichnen begannen, seine adelige Abstammung als »comte d’Ambreuse« (ES, 50) gegen bürgerlichen Namen und Bankiersexistenz eingetauscht. Mit solcher Beweglichkeit wird er zum Muster des gewissenlosen Opportunisten, der aus materiellem Interesse alle Ideale verrät und zu jenen Männern gehört, die »avaient servi, au moins, quatre gouvernements; et ils auraient vendu la France ou le genre humain pour garantir leur fortune, s’e´pargner un malaise, un embarras, ou meˆme par simple bassesse, adoration instinctive da la force« (ebd., 270). Wilhelm und Fre´de´ric ignorieren freilich nicht nur den Gang dieser Dinge. Auch von vielen Einzelheiten in ihrem eigenen Umfeld bekommen sie nichts mit - so wenig wie der Leser, der zwangsläufig der Beschränktheit ihrer personalen Perspektive und der internen Fokalisierung des Textes folgen muss. Flauberts Erzählverfahren, das die Deutbarkeit von Handlungssträngen verunklart oder gar suspendiert, mag sich so ebenfalls dem Vorbild Goethe verdanken. 427 Denn schon in den Lehrjahren bleiben besonders nach dem Theaterbrand am Ende des fünften Buchs zentrale Zusammenhänge im Dunkeln. Was wie erzählerische Defizienz erscheint, ist freilich genau geplant. Nach dem Brand tritt Wilhelm in den Bereich des Turms ein - und mit ihm vollziehen die Lehrjahre auch in narratologischer Hinsicht den Eintritt in die neue Zeit. Denn wenn Wilhelms erlebte Rede besonders in Buch eins und zwei noch durch auktoriale Kommentare 428 und Erzählfloskeln 429 durchbrochen wird - textgenetisch sicher auch ein Erbe der vorklassischen Vorstufe Wilhelm Meisters Theatralischen Sendung -, fehlt in den den Büchern sieben und acht eine Erzählerstimme nahezu völlig 430 : Wilhelms erlebte Rede inszeniert der Text nun ohne Wertung und in interner Fokalisierung, die nicht mehr als das limitierte Wissen der Figur repräsentiert. Deren Beschränktheit wird zudem durch die Einschaltung weiterer Figurenberichte augenfällig. Sie zeigen, dass die moderne Welt aus polyphonen Diskursen und Blickwinkeln besteht, die für den Einzelnen kaum mehr überschaubar sind. Der Wechsel von Monozu Multiperspektivik bereitet damit jenes Ende des Individuums vor, das die Lehrjahre mit der Heraufkunft der funktionalen Arbeitsgesellschaft auch inhaltlich gestalten. Doch auch ökonomische Zusammenhänge durchschaut Wilhelm nicht. So wird nichts aus der Absicht des Turms, den jungen Mann mit nach Amerika zu nehmen und ihn bei der Vertretung der ökonomischen Interessen des Unternehmens einzusetzen (vgl. ebd., 564). Denn Amerika gilt dem Turm als Land moderner, ökonomischer und administrativer Effizienz und als Vorbild bei den eigenen Reformprojekten: »Hier oder nirgends ist Amerika« (ebd., 431) lautet Lotharios Devise. Für den pursuit of happiness , die republikanische Verfassung und die unbegrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten hatte er im amerikanischen 427 So die These von Hans Staub: Der Weber und sein Text (Anm. 418 ). 428 Etwa: »Wenn die erste Liebe, wie ich allgemein behaupten höre, das Schönste ist [ … ]« (WM, 14 ), »Glückliche Jugend! Glückliche Zeiten des ersten Liebesbedürfnisses! Der Mensch ist dann wie ein Kind [ … ]« (ebd., 57 ), »Jeder, der mit lebhaften Kräften vor unsern Augen eine Absicht zu erreichen strebt, kann, wir mögen einen Zweck loben oder tadeln, sich unsre Teilnahme versprechen« (ebd., 76 ). 429 Etwa: »[U]nsern Helden« (ebd.), »Es ist nun Zeit, daß wir auch die Väter unsrer beiden Freunde näher kennenlernen [ … ]« (ebd. 40 ) und dergleichen. 430 Es gibt nur wenige, aber signifikante Ausnahmen. So heißt es etwa, das »sehr bedeutende [ … ] Gespräch« (LJ, 603 ), das Lothario und Jarno führen, »[würden] wir gern, wenn uns die Begebenheiten nicht zu sehr drängten, unsern Lesern hier mitteilen« (ebd.). Das darf man aber nicht als Wiedereinführung der auktorialen Narration verstehen, sondern als Ironisierung jener Zusatzinformationen, die ein auktorialer Erzähler sonst immer für den Leser bereithielt. <?page no="253"?> 253 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Wilhelm und Fre´de´ric Unabhängigkeitskrig gestritten (vgl. ebd., 456), und noch 1827 hatte Goethes Gedicht Den Vereinigten Staaten (vgl. HA I, 333) - unter einer deutlichen Absage an Schwärmerei - das Land als Gegenentwurf zu Unproduktivität und Traditionsbürde der europäischen Kleinstaaterei gefeiert. Doch anstatt sich also in Amerika endlich zum Mann der Praxis zu bilden, schlägt Wilhelm das Angebot aus. Also entfernt ihn die Sozietät am Ende nach Italien, das der Text als Land der Antike und der sentimentalen Schwärmer wie Mignon beruft. Wilhelm Meister, der keine Vernunft annehmen wollte, kommt in der Moderne nicht an. Von einem vergleichbaren Scheitern, aber auch von der Verächtlichkeit des bürgerlichen Zeitalters berichtet vor allem Flauberts zweite Education . Nüchtern und objektiv wie die Lehrjahre erzählt sie von Fre´de´ric Moreau, der in seiner passiven Ahnungslosigkeit und Träumerei ein Nachfahre Wilhelm Meisters ist. Von den Zusammenhängen und Erfordernissen der Welt, von Politik und Ökonomie begreift er bis zum Ende nichts oder nicht viel. Freilich ist im Frankreich des 19. Jahrhunderts von den säkularen Heilserwartungen kaum etwas übrig geblieben, die sich bei Goethe an Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen nach amerikanischem Vorbild knüpften. Es dürfte daher als direkte Antwort auf die Lehrjahre zu lesen sein, dass beide Education -Romane das Musterland ökonomisch-aufgeklärter Vernunft berufen - und verwerfen. Besonders die erste Education enthält eine umfängliche Amerika- Handlung (Œuvres de jeunesse, 971-1014). 431 Henry und seine Geliebte Emilie wandern ihrer ehebrecherischen Beziehung wegen nach New York aus. Dort, glauben sie, böten sich ihnen ungeahnte Möglichkeiten, und man werde sich dank Henrys Begabung als Latein-, Französischlehrer oder Journalist schon durchschlagen. Doch mangels Beschäftigung beginnt schon bald das Geld knapp zu werden. Auch wirken sich die materiellen Sorgen auf die Beziehung aus, in die Monotonie und die Wiederholung immergleicher Liebesschwüre - »Tout en effet avait e´te´ dit, redit, re´pe´te´ cent fois« (ebd., 1004) - Einzug halten. So endet die Probe aufs Exempel des pursuit of happiness bereits nach 18 Monaten mit der schmählichen Rückkehr nach Paris. Die Liebe ist bankrott, man trennt sich und faute de mieux beginnt Henry eine Ausbildung zum Kaufmann, während Emilie zu ihrem Ehemann heimkehrt. Kein Wort also von jener optimistischen Ratio und Reformbereitschaft, die Lothario mit nach Europa brachte. Geschlagen kommen vielmehr Henry und Emilie nach Frankreich zurück, und waren ihre Träume schon schlecht gegründet, so ist verächtlicher nur die Gewandtheit, mit der sie sich ins Mittelmaß eingliedern. Amerika ist das Land der verlorenen Hoffnung. Dort wie überall ist es dasselbe: Es wird zuviel geträumt und zuwenig vernünftig gehandelt. Was aber vom aufgeklärten Freiheitsideal, dem das land of the free folgte, in Frankreich noch überlebte, geht mit dem Scheitern der 1848er Revolution endgültig zugrunde: Das Land der clarte´ , der raison und der Lumie`res versinkt in der Dummheit des bourgeois . Davon berichtet jedenfalls die zweite Education , die das Amerika-Motiv nur noch kurz behandelt. Einmal wird so der sprichwörtlich reiche Onkel - hier: »arrie`re-cousin« (ES 45) - aus Amerika bemüht. Sein Vermögen lässt die europäischen Verwandten den Traum vom Wohlstand träumen, für den sie nicht selbst arbeiten mussten. 432 Schließlich denken Fre´de´ric und sein alter ego Deslauriers in Momenten der Verzweiflung darüber nach, Frankreich zu verlassen und nach Amerika auszuwandern: Fre´de´ric träumt von einer Exis- 431 Flaubert benutzt das Motiv auch in Quidquid volueris und später in Un Cœur simple, vgl. Jean Bruneau: De´buts litte´raires (Anm. 313 ), 411 . 432 Im Roman hat Fre´de´rics Erbonkel wohl einen Cousin in Amerika. Damit besteht im Kontext der Erbfrage immerhin die Möglichkeit, dass der Reichtum des Onkels einen amerikanischen Hintergrund besitzt. Nie wird das jedoch bestätigt. <?page no="254"?> 254 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« tenz als »trappeur« (ebd., 124), Deslauriers nicht einmal mehr von etwas Bestimmtem (vgl. ebd., 292). Beide Pläne werden so wenig umgesetzt, wie sie ernst gemeint waren. Nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur noch in den Hirngespinsten von Faulpelzen und Eskapisten spielt Amerika eine Rolle. Auch sonst ist Fre´de´ric wenig geeignet, reale Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen. Wie in den Lehrjahren und im Gegensatz zum auktorialen Erzähler der ersten Education 433 wird in der zweiten Education die Beschränktheit des Protagonisten durch interne Fokalisierung und personales Erzählen im style indirect libre angezeigt. Zwar ist die Welt des Romans nicht allein durch subjektive Wahrnehmung konstruiert. 434 Denn die ›Einsinnigkeit‹ der Perspektive wird etwa durch die Chronologie historischer Fakten überformt, und wie bei Goethe können manch undeutliche Zusammenhänge durch Hinweise und die Übersicht des Lesers rekonstruiert werden. Dennoch stößt solche Detektivarbeit an Grenzen. Die Welt der zweiten Education ist schon durch ihr umfangreiches Figurenarsenal als schwer zu überblickendes Chaos konzipiert, in dem Kausalität getilgt und jeder Progress außer Kraft gesetzt ist. 435 Kein Wort also mehr von der Kraft der Ratio, mit der die Turmgesellschaft in den Lehrjahren die Verhältnisse ordnete und neuen Sinn nach Maßgabe effizienter Praxis stiftete. Blieb er nur denjenigen verschlossen, die sich wie Wilhelm in die modernen Zeiten nicht fügen wollten, wird in der Education hingegen die Unüberschaubarkeit des Geschehens für Fre´de´ric überhaupt zum Problem. Die Vielzahl der disparaten und widerstreitenden Diskurse über Kunsttheorie, Politik, Wirtschaft und Liebe überfordert den Einzelnen. Und längst hat sich in Frankreich eine industrialisierte Massengesellschaft herausgebildet, in der sich mit Manufakturen (vgl. ebd., 224), Boden- und Immobilienspekulation (vgl. ebd., 114), Elektrifizierungsgesellschaften (vgl. ebd., 424), Kaolingruben (vgl. ebd., 171) 436 , Steinkohleabbau und Aktienkäufen (vgl. ebd., 220 f.) eine teils kurzlebige, teils kaum mehr zu durchschauende Geschäftsdynamik entwickelt hat. Zum Wohle der Allgemeinheit agiert die Ökonomie dabei nicht. Dambreuse ist nicht Lothario, sein Bankiershaus nicht die Turmgesellschaft. Nie wird bestätigt, dass er seinem wohl nur der Verkaufsrhetorik geschuldeten Versprechen nachkommt, die Minenarbeiter an den Unternehmensgewinnen zu beteiligen (vgl. ebd., 220). Nur die Investoren profitieren. Ungleich verteilte Gewinne, schlechte Arbeitsbedingungen - auch durch unmenschliche Vorgesetzte wie Se´ne´cal (vgl. ebd., 229) - und zunehmende Verelendung führen zu sozialen Spannungen, die zudem die politische Lage instabil und unberechenbar machen. Wer in Paris gerade wofür und aus welchem Grund demonstriert, woher die »inexplicables attroupements« (ebd., 58) stammen, wissen weder Fre´de´ric noch die Zuschauer und Demonstranten - »Je n’en sais rien, [ … ] ni eux non plus! « (ebd.) -, 433 Vgl. dazu Jauß: Zwei Fassungen (Anm. 324 ), 101 . 434 So meint Nehr (Das sentimentalische Objekt, Anm. 109 ), der das objektive »Gegenüber der Figuren« durch einen von den Figuren aktualisierten »kollektiven Imaginationsfundus« und seine Bilder generiert sieht. Dass Flaubert auf diese Weise eine Kritik des Sentimentalismus ins Werk setzt, ist unbenommen, dennoch lässt sich die literarisch geschilderte Welt durch die Durchbrechung einer rein personalen Perspektive in den allermeisten Fällen in ihrer Phänomenalität rekonstruieren. Ähnlich wie Nehr schon Linsen, der aber auf das Sprachproblem abhebt, demzufolge ein Einzelnes (Ich oder Objekt) immer nur durch ein allgemeines Sprachzeichen ausgedrückt werden kann (Subjekt-Objektbeziehungen, Anm. 94 , 132 ). 435 Vgl. dazu Se´ginger: Poe´tique de l’histoire (Anm. 32 ), die auf der Sinnlosigkeit der Geschichte insistiert ( 195 ). Die Zirkelstruktur des Romans, dessen Ende durch die Bordell-Reminiszenz in den Anfang zurückläuft, illustriert das Fehlen jeden Progresses. 436 Kaolin, auch Porzellanerde genannt, ist ein Grundstoff bei der Porzellanherstellung. <?page no="255"?> 255 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Wilhelm und Fre´de´ric und 1848 kann selbst der sonst weiter blickende Dambreuse den Sturz der Monarchie im ersten Moment nicht fassen: »Un syste`me si bon, un roi si sage! e´tait-ce possible! La terre allait crouler! « (ebd., 327) Sind die sozio-ökonomischen Verhältnisse also komplexer als in den Lehrjahren , gilt doch, dass sie für nüchterne Praktiker - wenigstens im Nachhinein - verstehbar sind. Wie es scheint, verfügen freilich nur Dambreuse und der ihn umgebende Kreis von Großindustriellen über ausreichend Realitätssinn, die Zeichen der Zeit und der Wirtschaft doch immerhin in den meisten Fällen zu erkennen. Dambreuse ist es auch, der - wiewohl moralisch korrumpiert - noch aus den Wechselfällen des Glücks das Beste zu machen vermag. Sein Handeln in der nachrevolutionären Zeit und beim Übergang zum Zweiten Kaiserreich ist ein Musterbeispiel strategisch-skrupelloser Überlebenskunst. Instrumentelle Vernunft im Dienst amoralischer Egoismen ist offenbar alles, was von Lotharios aufgeklärter und sozial verantwortlicher Ratio übrig blieb. Fre´de´ric hingegen verfügt nicht einmal über den Überblick, den sie ihm immerhin ermöglicht hätte. Auch von wirtschaftlichen Prozessen versteht er nichts. In das für ihn teure Aktiengeschäft mit Dambreuse steigt er nur aus Liebe zu Mme Arnoux ein - und beweist damit nur, dass Träumer schlechte Geschäftsleute sind. Denn Mme Arnoux hatte ihn gebeten, bei Dambreuse einen Zahlungsaufschub für Schulden ihres Mannes zu erwirken (vgl. ebd., 217), und der Bankier ist geschickt genug, als Gegenleistung eine Beteiligung am geplanten Börsenhandel mit Kohleaktien zu verlangen. Fre´de´ric, dem sogar ein Posten als »Generalsekretär« (ebd., 221) angeboten wird, durchschaut nicht, dass es Dambreuse nur um die Kapitalisierung seines Börsenunternehmens geht. Er beteiligt sich mit 30 000 Francs, die er aus dem Verkauf eines Pachthofs gewinnt. Zuerst scheint alles gutzugehen. Zwar hört Fre´de´ric nicht wieder von Dambreuse, der ihn auch nicht zum Generalsekretär macht, aber die Aktien steigen um 30 000 Francs (vgl. ebd., 248). Doch im Juli 1847 verliert Fre´de´ric, »jeune bourgeois comple`tement ignorant en ces matie`res« (Corr III, 583), durch eine »baisse inexplicable« (ES, 273) mit einem Schlag 60 000 Francs: Er hatte seine Anteile nicht rechtzeitig verkauft. Zur finanziellen Enttäuschung gesellt sich alsbald eine weitere. Dambreuse, der doch anscheinend versprochen hatte, Arnoux’ Schulden zu stunden, hat gegen den gescheiterten Unternehmer vor dem »Tribunal de commerce« (ebd., 439) trotz Fre´de´rics Intervention eine rechtskräftige Verurteilung erwirkt. Doch Fre´de´ric hätte sich die Verbitterung ersparen können, wenn er inzwischen eingesehen hätte, dass die Verquickung von eros und Finanzen den eigenen Interessen nicht förderlich ist. Denn bereits einmal hatte er Gelegenheit, die Lektion zu lernen: Er hatte Arnoux, der ihn im Namen seiner Ehefrau darum bat, einen Vorschuss von 15 000 Francs gewährt (vgl. ebd., 214), mit dem eine Grundstücksspekulation in Belleville finanziert werden sollte (vgl. ebd., 173). In Ermangelung von Käufern aber hatte sich Arnoux durch die Errichtung einer Fayence-Fabrik auf dem Gelände sanieren wollen. Doch das Unternehmen muss alsbald Bankrott anmelden, und da inzwischen hohe Hypotheken auf dem Besitz lasten, muss Fre´de´ric erkennen, dass sein Geld verloren ist (vgl. ebd. 249). Nüchternes Kalkulieren und richtiges Haushalten sind bis zum Schluss nicht die Sache des jungen Mannes. Schon die Ausgaben für die Einrichtung der ersten Pariser Wohnung hatten die jährliche, ererbte Rente von 27 000 Francs um 4000 Francs reduziert (vgl. ebd., 186), hinzu kommen später neben den diversen Geldverlusten noch die Kosten für den Unterhalt der Geliebten (vgl. ebd., 421). Am Ende hat Fre´de´ric zwei Drittel seines gesamten Vermögens aufgezehrt und lebt als »petit bourgeois« (ebd., 453). Es ist die Geschichte von einem, der Lehrgeld zahlte, ohne dazuzulernen. <?page no="256"?> 256 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Doch nicht nur die allgemeine Welt der Landespolitik und Wirtschaft, auch die Lage in seinem unmittelbaren Umfeld durchschaut Fre´de´ric nicht. Mangelnder Sachverstand, Desinteresse und Träumerei führen dazu, dass ihm die Motive und Absichten seiner Freunde und Bekannten im Wesentlichen vorenthalten bleiben. Nachforschungen stellt er nicht oder nicht sorgfältig genug an, so dass Personen etwa eigentümlich blass in der Charakterzeichnung bleiben oder nicht zweifelsfrei identifiziert werden - ein Zeichen mangelnder Reflexion und beschränkter personaler Perspektive. Ganze Handlungsstränge des Romans finden sich auf diese Weise verunklart. Fre´de´ric erfasst zumeist keine kausalen Zusammenhänge, sondern nur die Phänomenalität eines Geschehens. 437 Dass aber etwas geschieht, sagt nichts über seine Bedeutung. So entsteht eine nie aufgelöste Spannung zwischen der Logik einer im Hintergrund fortschreitenden Romanhandlung und der Deutungssuspension durch die im Vordergrund stehende Sicht Fre´de´rics: Praxis und Pragmatik kommen nicht überein. Der junge Mann ist unfähig zur Kontextualisierung. Seine Perspektive zertrennt Handlungsstränge und verstreut sie als disparate Fragmente über das ganze Buch. Teils bleiben Elemente des plots also gänzlich dunkel, und selbst wieviel Fre´de´ric von dem versteht, was immerhin rekonstruierbar ist, steht dahin. Daneben werden ihm allzu oft entscheidende Informationen erst geraume Zeit später nachgereicht, doch ohne dass der bis dahin herrschende interpretatorische Leerlauf durch entsprechende Urteilsbildung korrigiert würde. So muss Fre´de´ric nach seiner Rückkehr nach Paris einmal feststellen, dass die Arnoux unbekannt verzogen sind. Erst zwei Tage später findet Fre´de´ric über Regimbart die neue Adresse heraus (vgl. ebd., 138). Doch er wird sich nicht darüber klar, dass er die Zeit seit dem letzten Zusammentreffen ganz unnötig mit Wunschträumen verbrachte: Wäre Mme Arnoux oder ihrem Mann an Fre´de´ric gelegen, hätte man ihm die neue Anschrift wohl mitgeteilt. Ähnliches geschieht - in umgekehrter Optik - noch am Ende des Romans. Als Fre´de´ric 1851 mit 12 000 Francs zu Mme Arnoux kommt, um die drohende Versteigerung ihres Besitzes abzuwenden, hört er zwar ein »craquement de porte« (ebd., 435), trifft aber niemanden an: Für ihn ist die Zurückweisung »inexplicable« (ebd.). Doch sechzehn Jahre später, 1867, gesteht ihm Mme Arnoux bei einem letzten Wiedersehen, dass sie das Geräusch verursacht hatte, als sie sich aus Angst vor einem teˆte-a`-teˆte vor ihm versteckte (vgl. ebd., 449). Ihr war also durchaus an Fre´de´ric gelegen, und wäre er nur ein wenig reflektierter, könnte er sich darüber klar werden, dass er sich die zurückliegenden 16 Jahre ganz zu Unrecht ungeliebt vorgekommen war. Überhaupt betrifft das Aussetzen der Deutung auch den Bereich des eros , der zumeist mit Geschäftlichem oder Fragen der bürgerlichen Existenz verknüpft ist. Wer mit wem wann und auf welche Art beruflich oder privat verbunden ist, legt freilich auch niemand gern offen. Das bürgerliche Zeitalter redet nicht mit jedem über Geld, und auch über Erotisches - zumal wenn es verfänglich ist - bewahrt man Stillschweigen. Im Bereich des Finanziellen ist daher etwa nicht herauszubekommen, welchen Geschäften Arnoux und Regimbart zusammen nachgehen: »[I]l e´tait clair qu’Arnoux tripotait avec le Citoyen beaucoup de 437 Damit wird Fre´de´ric zum Vorbild des - freilich ungleich ästhetischeren - flaˆ neurs, der sich treiben lässt und sich um Zusammenhänge nicht kümmert. Zugleich zeichnet Flaubert das Bild eines Bewusstseins, das etwa Husserls Begriff der ›Intentionalität‹ wie auch Heideggers immer schon ›gestimmter‹ Wahrnehmung völlig unterläuft und als Theorie der Reflexionslosigkeit zu lesen wäre (vgl. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band, I. Teil, V.: Über intentionale Erlebnisse und ihre ›Inhalte‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3 , hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1992 , 352 - 529 hier 356 ; Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 17 1993 , 40 f.). <?page no="257"?> 257 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Wilhelm und Fre´de´ric choses« (ebd., 262), heißt es, und der Kontext legt nahe (vgl. ebd., 71), dass beide wohl Kaolinaktien ankauften und unter den Vermittlungsgebühren stöhnen. 438 Aber weil die beiden nur flüstern und sich Fre´de´ric nicht weiter für die Angelegenheit interessiert, bleibt es bei Mutmaßungen. Sie betreffen zunächst auch Regimbarts Beruf. Gilt er immerhin als streitbarer Denker und Staatskritiker - ›regimber‹ bedeutet ›rebellisch werden‹ oder ›sich auflehnen‹ -, kennt doch niemand seine genaue Beschäftigung. »[P]ersonne, meˆme de ses amis, ne lui connaissait d’occupation« (ebd., 70 f.), obwohl er vorgibt, ein »cabinet d’affaires« (ebd., 71), also eine Kanzlei, zu führen. Doch am Ende kommt heraus: Regimbart ist ein Nörgler, Faulenzer und Schmarotzer, der vom Fleiß und den Einkünften seiner Frau Olympe lebt, der Schneiderin von Mme Dambreuse (vgl. ebd., 435). Zu allem Überfluss und zum Dank für ihre Aufopferung, so ist aufgrund einer Andeutung anzunehmen, betrügt er sie und besitzt zu diesem Zweck »quelque part une chambre, ou` il rec ¸oit des petites filles« (ebd., 263). Verständlich, dass er darüber nur mit Arnoux redet, der seinerseits kein Kostverächter ist. Der ahnungslose Frede´ric offenbart die Untreue unabsichtlich. Bei einem seiner Besuche zerbricht er einen Damensonnenschirm (vgl. ebd., 95). Gehört er nicht Mme Arnoux? Fre´de´ric schenkt ihr zum Geburtstag einen neuen, doch irritiert bemerkt sie, von einem Verlust nichts zu wissen. Das Missverständnis und Arnoux Ermahnung zu mehr Diskretion - »Vous n’eˆtes gue`re malin, vous! « (ebd., 113) - zeugen davon, dass Arnoux eine Geliebte besitzt. Wer aber ist es? Rosanette käme in Frage. Arnoux schenkt ihr immerhin später einen teuren Kaschmirschal (vgl. ebd., 178), wie auch seine Ehefrau einen besitzt. Er hätte seine Liebesgaben besser variieren sollen. Denn seine Frau erfährt im Textilwarengeschäft, dem »Persan« (ebd., 197), von der Bestellung und stellt ihren Mann zur Rede, woraus sich ein heftiger Ehestreit entwickelt, dessen Zeuge der unangenehm berührte Fre´de´ric wird (vgl. ebd., 196 f.). Weiß also Mme Arnoux von der Untreue ihres Mannes, ahnt sie freilich noch weniger als Fre´de´ric, mit wem ihr Mann sie gerade hintergeht. Überhaupt heißt es von Arnoux, er habe mehrere Mätressen (vgl. ebd., 69), und wird nicht Rosanette auch von Oudry, Delmar, dem Sänger eines Vergnügungslokals, und dem Prinzen Tzernoukoff (ebd., 286) finanziell unterhalten? »Fre´de´ric ne savait que penser maintenant« (ebd., 174), und begreift die banale Wahrheit nicht, dass alle zusammen die Liebhaber der Kurtisane sind. Kennt also käufliche Liebe keine Treue, so verpflichtet sie dennoch zu hohen Ausgaben. Vor allem dem von zunehmenden Geldsorgen geplagten Arnoux wird das lästig. Er wechselt den Frauentyp. Nicht mehr die anspruchsvolle, verwöhnte Rosanette findet er reizvoll, sondern »la jeunesse, les ouvrie`res« (ebd., 263). Sie sind mit weniger zufrieden, und überdies lässt sich das Private aufs Angenehmste mit dem Beruflichen verbinden. In seiner Fayencefabrik in Belleville unterhält Arnoux schon eine Liebschaft mit einer Arbeiterin aus Bordeaux, »la Bordelaise« (ebd., 229). Ihr zuliebe entlässt er Se´ne´cal (vgl. ebd., 247), über den sie sich beschwert hatte, und schließlich richtet er ihr sogar ein Wäschegeschäft - ein »magasin de blanc« (ebd., 385) - ein, das er sogar exquisit möbliert. Was also billig begann, endet doch wieder teuer, weil in die Zuneigung von Mätressen ständig investiert sein will. Am Ende aber zahlt sich das Engagement nicht einmal aus, das Arnoux für seinen »amour [ … ] se´nile [ … ]« (ebd.) einging. Die Arbeiterin hat drei weitere Herren an der Hand und ist darüber hinaus fest entschlossen, Arnoux »jusqu’au dernier liard« (ebd.) auszunehmen. Fre´de´ric, der das alles von der besser informierten Rosanette erfährt, kann es nicht fassen. 438 Arnoux, der sich auf Regimbarts vermeintliche Expertise verlässt, tritt als Aufsichtsratsmitglied in eine Kaolin-Gesellschaft ein. Doch der Geschäftsführer frisiert die Jahresbilanz und das Unternemhem muss Bankrott anmelden: Arnoux verliert 30 000 Francs, weil er »civilement responsable« ( 203 f.) ist. <?page no="258"?> 258 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« Das Thema von seiner Ahnungslosigkeit in Sachen Liebschaften ist ergiebig. Anfügen ließe sich etwa, dass auch Deslauriers im allgemeinen Klima der erotischen Möglichkeiten nicht zurückstehen will. Nach einem Besuch in der Alhambra, einem Vergnügungslokal, protzt er vor Fre´de´ric mit seiner vermeintlichen Attraktivität: »Veux-tu parier cent francs que je fais la premie`re qui passe? « (ebd., 107). Wirklich vollbringt er es, mit einer »grande fille« (ebd.) alsbald in eine Kutsche zu steigen und davonzufahren. Fre´de´ric ist wider Willen beeindruckt. Doch zur Verblüffung besteht kein Grund. Die junge Frau ist Mademoiselle Cle´mence, die Mätresse von Deslauriers (vgl. ebd., 210), die er vor dem Freund geheim gehalten hatte. Deslauriers weiß, dass in Liebessachen Verschwiegenheit Pflicht ist. Fre´de´ric hingegen trägt sein Herz auf der Zunge. Er berichtet von seinen Heiratsplänen mit Louise Roque und muss erleben, dass ihm der Freund, dem die Überlegungen durchaus einleuchten - »Ce ne serait peut-eˆtre pas beˆte« (ebd., 273) -, die junge Frau vor der Nase wegschnappt. Vor allem aber ist das großbürgerliche Haus der Dambreuses ein Beispiel für erotische Heimlichtuerei, die Fre´de´ric bis zuletzt nicht durchschaut. Längst schon haben sich die Eheleute nichts mehr zu sagen. Nur aus Gründen der Besitzstandswahrung - M. Dambreuse ist besorgt um die bürgerliche Fassade, seine Frau hingegen um Erbe und Absicherung - leben sie noch zusammen. Die erotische Unerfülltheit kompensieren sie wie jedermann durch anderweitige Liebschaften. M. Dambreuse hatte nach fünf Ehejahren ein uneheliches Kind - Ce´cile - gezeugt (vgl. ebd., 407), das seitdem als angebliche Nichte im gemeinsamen Haushalt lebte. Zum Dank dafür, dass seine Frau still hielt und der Skandal nicht ruchbar wurde, hatte er den Ehevertrag, der zunächst Gütertrennung vorsah, geändert und seine Frau als Alleinerbin eingesetzt. Doch welche Überraschung am Tag der Testamentseröffnung: Das Testament ist verloren, und es existiert ein zweites, das alles Vermögen Ce´cile vermacht (vgl. ebd., 414). Fre´de´ric, der von all dem nichts wusste, ist bestürzt. Man darf eine späte Rache Dambreuses für die Feindseligkeit vermuten, mit der seine Frau das uneheliche Kind besonders in der letzten Zeit behandelt hatte (vgl. ebd., 392). Freilich besitzt die Aversion einen anderen Grund als nur den, dass niemand gern ständig an die Untreue des Gatten erinnert wird. Es geht zwischen den beiden Frauen vor allem um erotische Rivalität. Die heranwachsende Ce´cile ist in Martinon verliebt, den hübschen Bauernsohn, Monarchisten und Parvenü, der später zum Sekretär Dambreuses avanciert. Auf ihn hat jedoch bereits Mme Dambreuse ein Auge geworfen. Zwar bereits eine »femme [ … ] de trente ans« (ebd., 193) und eine etwas verblühte Schönheit, ist die Bankiersgattin noch »jolie« (ebd., 50), besitzt eine »graˆce [ … ] particulie`re« (ebd., 191) und macht sich durchaus noch Hoffnungen. Um also Martinon näher zu kommen, lädt sie ihn des öfteren ein - sehr zum Missfallen ihres Mannes (vgl. ebd., 193). Doch die Eroberung misslingt. M. Dambreuse bemerkt, dass sich Martinon für Ce´cile interessiert und beschließt, seiner Frau einen Strich durch die erotische Rechnung zu machen. Die beiden jungen Leute will er verkuppeln, und bittet Martinon nun seinerseits überraschend zu Gesellschafen hinzu. Ce´cile freut sich - »Il viendra ce soir« (ebd., 219) -, und als Martinon endlich um Ce´ciles Hand anhält, wird er sich mit M. Dambreuse schnell einig. »Mise´rable! « (ebd., 372) schleudert dem Bräutigam die in ihrem weiblichen Selbstwertgefühl verletzte Mme Dambreuse entgegen. Dass die jüngere Ce´cile im Kampf um den Mann den Sieg davontrug, schmerzt, und bitter beklagt sich Mme Dambreuse bei Fre´de´ric darüber, dass »tous les hommes e´taient des e´goı ¨stes« (ebd., 396). Aber auch ihre Verbitterung kann die Hochzeit nicht verhindern, die im Mai 1850 stattfindet (vgl. ebd.). Also beschließt Mme Dambreuse, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Sie erwählt Fre´de´ric zu ihrem Liebhaber und tröstet sich mit ihm über die Enttäuschung hinweg. Der junge Mann <?page no="259"?> 259 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Wilhelm und Fre´de´ric »n’y comprenait rien« (ebd., 396) und ist nur deshalb »surpris par la facilite´ de sa victoire« (ebd., 397), weil er von der weiblichen Psyche seiner Mätresse nichts begreift. Überdies hat die Verbindung für Mme Dambreuse auch eine ganz praktische Seite. Außer Fre´de´ric sind ihr nicht viele »de´voue´s« (ebd., 396) mehr geblieben, und so mangelt es ihr ein wenig an Angebot. Andere, vor allem Männer, wissen sich da besser zu helfen. Sie wenden sich an Mademoiselle Vatnaz. Die Figur der Vatnaz gehört zu den mysteriösesten des Buches. 439 Fre´de´ric sieht die Frau einmal aus dem Haus der Dambreuses kommen (vgl. ebd., 51). Was sie dort zu tun hatte, wird ihm freilich nie recht deutlich. Man muss es erschließen: Die Frau ist eine Kupplerin, die vermutlich dem unerfüllten Bankier gegen Bezahlung Frauen zuführt. Denselben Dienst verrichtet sie jedenfalls für Arnoux, den sie mit diversen Geliebten versorgt (vgl. ebd., 62). Das hindert sie ebenso wenig, einen moralischen Erziehungsleitfaden für junge Mädchen, »la Guirlande des jeunes Personnes« (ebd., 152), zu verfassen, wie sie ein Problem darin sieht, auch Rosanette mit den Herren Jumillac, Flacourt, Allard, Bertinaux und Saint-Vale´ry zahlende Liebhaber zu verschaffen (vgl. ebd., 195). Das aber geht nur solange gut, wie der alternden Junggesellin die Liebhaber der Kurtisane selbst gleichgültig sind. Als Rosanette aber ein Auge auf Delmar wirft, in den die Vatnaz schon seit längerer Zeit verliebt ist, als Delmar eine heimliche Beziehung eingeht (vgl. ebd., 194) und Rosanette sogar einen Goldanhänger verehrt, den ihm die Vatnaz geschenkt hatte (vgl. ebd., 342), wird aus der Eifersucht offene Feindschaft. Zwar »Fre´de´ric ne comprenait pas« (ebd.), warum die beiden Frauen plötzlich aufeinander losgehen. Doch die Vatnaz erweist sich als unerbittliche Gegnerin. Von Rosanette, für die sie Luxusgüter und Kleidung besorgte (vgl. ebd., 164), fordert sie rücksichtslos die ausstehenden Schulden ein (vgl. ebd., 391, 422). Einmal verhindert Fre´de´ric durch die Zahlung von 1000 Francs weitere Unannehmlichkeiten (vgl. ebd., 391). Doch die übrigen Forderungen kann Rosanette nicht mehr begleichen, und erst als mit der anberaumten Pfändung der Habseligkeiten (vgl. ebd., 426) Rosanettes gesamte Existenz vernichtet ist, gibt die Vatnaz Ruhe. Dieselbe Rache für erotische Niederlagen nimmt sie auch an der Gesellschaft. Die im Kontext der Revolution aufkommenden Forderungen nach Frauenrechten nimmt die Zukurzgekommene zum Anlass, die eigenen Misserfolge radikal zu kompensieren. Weil man ihren Aufsatz nicht druckte und sie keine Arbeit als Journalistin fand, pocht die Vatnaz nun auf die Einrichtung einer »jury pour examiner les œuvres de femmes« (ebd., 330) sowie auf spezielle Frauenverlage (vgl. ebd.). Wer nicht gut genug war, soll nun per Gesetz zu seinem vermeintlichen Recht kommen. Das soll freilich auch für das Private gelten. Die Unverheiratete streitet für eine »re´glementation du mariage plus intelligente« (ebd., 329), bei der »chaque Franc ¸aise serait tenue d’e´pouser un Franc ¸ais ou d’adopter un vieillard« (ebd., 329 f.). Gesetzliche Zwangsverheiratung oder doch zumindest -fürsorge sollen dafür sorgen, dass jede Frau einen Mann bekommt - und über das zu erwartende Erbe ihr Auskommen hat. Doch wie wenig die Vatnaz allem Gerede von Recht und Gesetz zum Trotz die Interessen der Frauen und die Vorschriften achtet, zeigt ihre Arbeit in einem Handelshaus. Sie führt dort die Lohnbücher der Arbeiterinnen, rechnet dabei stets zuviel ab und steckt den Überschuss in die eigene Tasche (vgl. ebd., 427). Ihre Betrügereien entdeckt der ehrliche Demokrat Dussardier durch einen Zufall. Um ihn milde zu stimmen und eine drohende Anzeige abzuwenden, pflegt ihn die Vatnaz aufopferungsvoll 439 Vgl. den erhellenden Artikel von Ulrich Schulze-Buschhaus: »Eine ›verwelkte, hagere Person‹ von ›pantherhafter Geschmeidigkeit‹ - Zum Subroman der Mlle Vatnaz in Flauberts ›Education sentimentale‹«. In: Ders.: Flaubert. Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster 1995 , 63 - 84 . <?page no="260"?> 260 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« nach einer Verletzung, die er sich beim Barrikadenkampf zugezogen hatte (vgl. ebd., 367). Fre´de´ric, der nicht ahnt, dass soviel Hingabe nur »par inte´reˆt« (ebd.) geschieht, ist voll des Lobes. Wirklich wird die Vatnaz alsbald Dussardiers Geliebte. Doch weil er »n’en e´tait nullement amoureux« (ebd., 427) und auch den Betrug nicht vergessen kann, löst er wenig später die Verbindung (vgl. ebd.). Nirgends fasst die Vatnaz daraufhin mehr Fuß. Stattdessen verliert sie sich in der Dynamik des sozialen Auf und Ab und gerät dem Roman aus dem Blick (vgl. ebd., 454). Es bleibt dabei, dass aus nichts und niemand etwas wird. Es herrscht ein amoralischer Opportunismus, durch den die Überzeugungen ständig wechseln und alle Handelnden gerade dann zu Spielbällen anderer Interessen werden, wenn sie die eigenen zu verfolgen meinen. Fre´de´ric erkennt auch die Verkommenheit seiner Zeitgenossen nicht recht, teils aus ungenügender Einsicht in die Zusammenhänge, teils aus Mangel an festen Standpunkten. Anstatt die sozialen Usancen zu verurteilen, ist er vielmehr stolz darauf, selbst endlich an ihnen teilzuhaben. Als er der Liebhaber der Mme Dambreuse wird, freut er sich am meisten darüber, »de´finitivement dans le monde supe´rieur des adulte`res patriciens et des hautes intrigues« (ebd., 398) einzutreten. Von einer ›höheren Welt‹ kann jedoch keine Rede sein, wo Ehebruch längst in allen Schichten praktiziert wird, und die Intrigen bleiben in der Banalität der Liebesbeziehung aus. Auch Fre´de´rics politische Meinungen entbehren einer nüchternen Grundlage. Von den Phantastereien der Vatnaz lässt er sich anstecken: »Fre´de´ric, homme de toutes les faiblesses, fut gagne´ par la de´mence universelle« (ebd., 330). Da er 1848 auf Vorschlag von M. Dambreuse in Nogent als Abgeordneter kandidieren soll, verfasst er eine begeisterte Grundsatzrede. Darin kritisiert er »la pre´ponde´rance des inte´reˆts pe´cuniaires« (ebd., 331), fordert einschneidende wirtschaftspolitische Reformen wie »la liberte´ du commerce [ … ], l’impoˆ t sur la rente, l’impoˆ t progressif« und gibt »des conseils aux classes supe´rieures. - N’e´pargnez rien, oˆ riches! donnez! donnez! « (ebd.). Als er das probeweise Dambreuse und Martinon zu Gehör bringt, sind sie entgeistert: »[L]e banquier fit la grimace. [ … ] Martinon e´carquillait les yeux. M. Dambreuse e´tait tout paˆle« (ebd.). Welche Schrecken mag die Revolution für die Besitzenden noch bereit halten, wenn schon Fre´de´ric, der »jeune homme inoffensif« (ebd.), eine solche Heftigkeit an den Tag legt? Als unverfänglichen Wahrer der eigenen ökonomischen Interessen hatte Dambreuse ihn in Nogent nutzen wollen. Doch einen vermeintlichen Radikaldemokraten, der von Umverteilung, Freihandel und Rentenbesteuerung träumt, kann er nicht brauchen. Und da man bereits wieder von der Rückkehr der Konservativen spricht - »le parti conservateur, d’ici peu, prendrait sa revanche« (ebd.) -, wagt sich der Bankier endlich vor und beschließt, anstelle von Fre´de´ric selbst zu kandidieren (vgl. ebd., 348). Durch Schwärmerei und Naivität hat sich der junge Mann selbst ins Abseits manövriert. Dass Fre´de´ric keine Zusammenhänge erkennt, kann freilich kaum wundernehmen. Von klein auf ist er allein an die Oberfläche der Dinge gewöhnt. Wie die Lehrjahre erzählt auch die Education die Genese eines Schwärmers und führt sie auf eine unangemessene Erziehung durch die Mutter zurück. Hatte Wilhelms Mutter im Sohn die Begeisterung für alles Ästhetische mit dem Marionettentheater geweckt und ihn auf diese Weise von der Ausbildung zum Kaufmann abgebracht, ist auch das Handeln der Mme Moreau für die praktischen Fähigkeiten ihres Sohns nicht förderlich. Man muss es von der Genealogie her begreifen. Fre´de´rics Mutter entstammt einem nunmehr erloschenen Adelsgeschlecht der Champagne und ist »la fille d’un comte de Fouvens« (ebd., 274). Offenbar drückten Geldsorgen die Familie. So wurde die junge Frau auf Beschluss der Eltern in eine me´salliance mit einem <?page no="261"?> 261 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: Wilhelm und Fre´de´ric Bürgerlichen gedrängt. Doch die Hoffnung auf materielle Versorgung der Tochter erfüllte sich nicht. M. Moreau stirbt schon während der Schwangerschaft seiner Frau an einem »coup d’e´pe´e« (ebd., 42) - ein Unfall? Ehrenhändel? - und hinterlässt bedenkliche Vermögensumstände. Wenig angemessen ist der adeligen Herkunft, von der der prächtige Familiensitz an der »place d’Armes« (ebd.) in Nogent noch zeugt, dass Mme Moreau nun bei ihren Empfängen die Anzahl der Kerzen im Voraus berechnet, ungeduldig auf die Pachtzinsen wartet (vgl. ebd.) und die Kutsche verkaufen muss (vgl. ebd., 121). Die Geldsorgen sind freilich schon so alt wie Fre´de´ric. In den »premiers embarras de son veuvage« (ebd.) hatte Mme Moreau vom alten Roque, dem Verwalter Dambreuses, ein Darlehen erhalten. Da sie das Geld nicht zurückzahlen konnte, musste sie dem skrupellosen Mann zu einem »prix de´risoire« (ebd.) einen Gutshof abtreten. Zehn Jahre später verlor sie weiteres Vermögen beim Konkurs einer Bank und sah sich gezwungen, nochmals Roques Dienste in Anspruch zu nehmen (vgl. ebd.). Nun sind freilich alle Schulden beglichen. Aber der Witwe bleibt nur ein kümmerlicher und kaum standesgemäßer Rest von 10 000 Francs Jahreseinkommen, von denen 2.300 für Fre´de´ric bestimmt sind. Weder der Sohn noch die Provinzhonoratioren dürfen freilich von den Geldsorgen etwas merken. Es gilt einen Ruf zu verlieren, und überdies muss Mme Moreau »conserver des apparences utiles a` l’avenir de son fils« (ebd.). Also wächst Fre´de´ric nach Maßgabe adeliger Lässlichkeit und Eleganz auf und wird in den »douceurs de la maison« (ebd., 44) oder »de´licatesses du foyer« (ebd., 124) verzärtelt. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Anstatt sich im Colle`ge von Sens mit »e´conomie sociale« (ebd., 47) oder französischer Geschichte zu befassen, umgibt er sich lieber mit exquisiten »choses recherche´es« (ebd., 44), schläft bis in den späten Vormittag, schaut den Schwalben zu - und liest schöne Literatur (vgl. ebd.), zuerst wie Wilhelm Meister Theaterstücke, später dann mit Vorliebe die Werke der Romantiker: Chateaubriand, Musset, Byron, Sand und Goethes Werther (vgl. ebd., 46). Mme Moreau ist es zufrieden. Umso mehr sieht sich ihr Mutterstolz bestätigt, als der Sohn im Colle`ge den »prix d’honneur« (ebd., 42), die Auszeichnung für den Jahrgangsbesten, erhält. Wer aber früh ans Träumen gewöhnt ist, kann in der Schule reüssieren und dennoch im Leben versagen. Wie Wilhelm Meister fehlt dem Heranwachsenden der Vater, der den Sohn zu nüchterner Praxis anhalten oder wie bei Fre´de´rics Freund Deslauriers wenigstens durch seine Armut das Motiv sozialen Aufstiegs sein könnte. So überschätzt Mme Moreau das Talent ihres Sohnes, das ihm unweigerlich eine Laufbahn als »conseiller d’Etat, ambassadeur« oder »ministre« (ebd., 42) ebnen werde. Konkreter sind freilich die Heiratspläne, die die Mutter für Fre´de´ric spinnt. Eine gute Partie soll der Sohn machen. Es trifft sich, dass der alte Roque eine Tochter hat. Louise, die inzwischen legitimierte Frucht aus einem unehelichen Verhältnis mit einer Dienstbotin, hat zu Fre´de´ric seit ihren Kindertagen aufgesehen. In der Pubertät wird aus der Bewunderung Liebe. Die Heranwachsende - in ihrer ungezügelten Natürlichkeit und Liebe zum älteren Mann eine Mignon-Variation - träumt also schon von der Hochzeit, Roque und Mme Moreau drängen dazu und so gilt Fre´de´ric alsbald als »›le futur‹ de Mlle Louise« (ebd., 275). Die Verbindung wäre für beide Familien vorteilhaft. Roque, »fils d’un ancien domestique« (ebd., 274), strebt nach sozialem Ansehen. Seine Tochter soll nach der Heirat den Grafentitel der Fouvens tragen, den er mit der Protektion von Dambreuse wieder zu erneuern gedenkt. Fre´de´ric hingegen könnte mit der Mitgift ein sorgenfreies Leben führen, denn Roques Vermögen - obgleich durch illegale Geschäftspraktiken wie die Erhebung von Sonderabgaben auf Hypotheken oder eine kurzfristige Pfändungspraxis erworben (vgl. ebd.) - ist in Kapital und Grundbesitz beträchtlich. Was also könnte dem Träumer, der selbst in der Provinz alle in ihn <?page no="262"?> 262 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« gesetzten Hoffnungen enttäuscht, Besseres passieren? Ist er wohl ein wenig überrascht ob Louises etwas ungestüm vorgetragenen Heiratsabsichten, so weiß er doch, dass das Mädchen »en peu de temps [ … ] une compagnie charmante« (ebd., 285) wäre. Aber während er noch abwägt, erhält er die Nachricht vom Erbe, das ihm sein Onkel vermache (vgl. ebd., 129). Damit entfällt die Notwendigkeit, materielle Absicherung über eine Heirat zu gewährleisten. Beim nächsten Wiedersehen mit Louise verhindert hingegen Post aus Paris die endgültige Entscheidung: Dambreuses laden zum Essen, Rosanette bittet um Geld und Deslauriers berichtet vom Stand gerichtlicher Schritte gegen Arnoux. Fre´de´ric wird also von der »nostalgie du boulevard« (ebd., 285) ergriffen, scheut vor einem Antrag zurück und reist zurück in die Hauptstadt. Zu sehr hat er sich bereits dem mondänen Leben in Paris ergeben - das er sich freilich kaum leisten kann -, als dass ihm die Nogenter Provinz verlockend erschiene. Und gegen das erotische Ideal der Mme Arnoux, die Reize der Kurtisane Rosanette oder die Urbanität der Mme Dambreuse kann Louise nur verlieren. Schon an ihrer Kleidung verabscheut Fre´de´ric den »mauvais gouˆ t« (ebd., 281) und den »peu d’e´le´gance« (ebd., 373) des Backfischs und der Provinzlerin. Erotische Träumereien und ästhetische Empfindlichkeiten verhindern also am Ende, dass die Verbindung zustande kommt. Die Aussicht auf ein konkretes Glück lässt fahren, wer sich lieber an Phantasien berauscht und ihre Erfüllung auf unbestimmte Zukunft vertagt. So heiratet das Mädchen am Ende Deslauriers, der Fre´de´rics Zaudern - und Vertrauensseligkeit - geschickt auszunutzen weiß. Jedoch ist die Ehe nicht glücklich. Louise läuft schließlich mit einem Sänger davon und gibt den gehörnten Ehemann der Lächerlichkeit preis (vgl. ebd., 453). Doch ob sie Fre´de´ric besser behandelt hätte, ist zu bezweifeln. Auch ihn hatte sie in ihrer Erinnerung »ide´alise´« (ebd., 282) und mit einer »aure´ole« (ebd.) umgeben, und schon als sie in Paris erkennt, wie wenig er dem Bild des vollendeten Geliebten zu entsprechen scheint, ist die Desillusion spürbar. Wo jedermann - zumal sentimental - träumt, ist die Differenz von Ideal und Wirklichkeit unüberbrückbar. 3.7.3 (K)ein Ende der Kunst Ästhetische Bilder und Träumereien sind Material sowie Thema der Kunst. Sind sie minderwertig, leere Phantastereien oder bloße Affekthascherei, werden sie zu Argumenten einer Kunstkritik, die schon die Lehrjahre radikal am Überleben des Schönen zweifeln lässt. Der Roman ruft das Gesamt der abendländischen Kunst auf, um ihr in der Moderne jenes Ende vorherzusagen, das die Wanderjahre gestalten. Durchaus ist Flaubert auch diesbezüglich ein ›continuateur de Goethe‹. Radikal bezweifelt die Education die Möglichkeit schöner Kunst unter den Bedingungen technisch-industrieller Fabrikation, und der Leser sucht einen ausgebildeten Künstler ebenso vergeblich wie ein gelungenes Kunstwerk. Die Romane berichten also vom Ende der Kunst, sind aber zugleich selbst ein objektives Kunstwerk. In diesem Paradox liegt nicht die unbedeutendste Pointe der Texte, die in der Doppelperspektive von Exoterik und Esoterik lesbar wird. Die Lehrjahre führen das Thema vom Ende des Schönen in die deutsche Literatur ein, nicht Hegel und Heine, deren Thesen über das ›Ende der Kunstperiode‹ erst später entstehen. 440 440 Vgl. dazu Günter Saße: Auswandern in die Moderne, Berlin/ New York 2010 , 258 . Saßes These, das »Paradigma der klassizistischen Ästhetik [sei] im Funktionszusammenhang der Moderne obsolet geworden« (ebd., 257 ), stimme ich zu - sie müsste freilich nicht erst auf die Wanderjahre, sondern schon auf die Lehrjahre bezogen werden. Dort interessieren sich nur noch der Abbe´ und der Marchese für die ästhe- <?page no="263"?> 263 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: (K)ein Ende der Kunst Dabei nutzt Goethes Roman eine Generationentypologie, die zeigt, dass Kunst nur noch eine Angelegenheit der Älteren ist - oder war. So hat Wilhelms Großvater »in einer frühern glücklichen Zeit in Italien« (LJ, 68) eine bedeutende Kunstsammlung erworben: »treffliche Gemälde von den besten Meistern«, »Handzeichnungen«, »Marmorn«, »Bronzen«, »Münzen« und »geschnittene [ … ] Steine« (ebd., 68 f.), kurz: »Schätze [ … ], welche jetzt um keinen Preis mehr zu haben wären« (ebd., 68). Nach dem Tod des Großvaters - Wilhelm ist zehn Jahre alt - verkauft dessen Sohn, also Wilhelms Vater, die gesamte Sammlung an einen reichen »Edelmann« (ebd., 69), den Oheim der Turmgesellschaft. Den Erlös investiert er in ein Handelsunternehmen, das er mit einem befreundeten Geschäftsmann - dem »alte[n] Werner« (ebd.) - gründet und das sich auf Immobilienspekulation und Kreditvergabe spezialisiert. Meister, der ein praktischer Kaufmann ist, interessiert nicht mehr der ästhetische, sondern nur noch der materielle Wert der Kunstgegenstände, und anstatt den Verkauf zu beklagen, ist er zufrieden mit dem erzielten Preis. Der Enkel Wilhelm hingegen vermisst die »Sachen« (ebd.). Doch mit seinem Kunstverstand ist es nicht weit her. Ausgerechnet an das ästhetisch minderwertigste Bild, das Gemälde vom kranken Königssohn, hat er sein Herz gehängt. Nicht Form und Ausführung, sondern »immer nur sich selbst« und seine »Neigung« (ebd., 70) nimmt er an Kunstwerken wahr, und demselben Zweck der sentimenalen Selbstbespiegelung dienen im Folgenden Bibelepisoden und Renaissancetexte, die den Stoff für das Marionettentheater abgeben. Die Generationenfolge diagnostiziert ästhetischen Verfall. Der Kunstsachverstand des Großvaters privilegierte noch die anti-subjektivistische Antike, deren ästhetischer Wert den materialistisch-nüchternen Sohn freilich ebenso wenig interessiert wie den Enkel, der zum Dilettanten und romantischen Träumer verkommt. Ökonomie und Privatgefühle machen der Kunst in der Moderne den Garaus. 441 Die Kunstsammlung des alten Meister lässt Lothario also da, wo sie nicht stört: im Schloss des Oheims. Dort sieht sie niemand. Nur der Abbe´ führt manchmal noch einen Besucher - etwa den Marchese - durch die Säle (vgl. ebd., 572). Die Moderne entfernt Kunst aus dem privaten Umfeld und verwahrt sie im Museum. 442 Nicht schön, sondern zweckmäßig ist die ökonomische Gesellschaft, und so verbannt sie das ästhetisch Schöne aus dem alltäglichen Leben. Auch der kunsthistorische Wert, aufgrund dessen der Oheim als »großer Liebhaber« (ebd., 69) die Kunstsammlung erworben hatte, spielt für die Turmmitglieder keine Rolle mehr. Sie interessieren sich für Kunst nur noch als Wertanlage und nehmen auf diese Weise die Geldspekulationen des modernen Kunstmarkts vorweg. Nur der pekuniäre Wert der Sammlung verhindert, dass die Sozietät nicht überhaupt zu Ikonoklasten wird. Der Abbe´ hatte tische Qualität antiker Kunst. Heine wollte das Ende der Kunstperiode erst beim »Sarge Goethes« einläuten (Vgl. Heinrich Heine: Französische Maler. Delaroche. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Klaus Briegleb, 6 in 7 Bänden, München 1991 , Bd. 3 , 57 - 73 , hier 72 ). Hegels in den ab 1820 / 21 gehaltenen Vorlesungen über Ästhetik vorgebrachte These vom Ende der Kunst hingegen ist geschichtsphilosophisch begründet. Da die moderne Kunst ihre Inhalte nur in der Anschauung, nicht wie die Philosophie in Begriffen, geben könne, und da sie sich auch durch die Bedingungen der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft unwiederbringlich von griechischer Totalität entfernt habe, sei der Geist immer schon über Kunst hinaus. Die Zukunft gehöre also nicht mehr der Kunst, sondern der Logik (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos ( 1842 ) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge, 2 Bde., Frankfurt/ Main 1955 , bes. I, 11 - 95 ). 441 Vgl. dazu ausführlich das Kapitel 2 . 5 des Goethe-Teils dieser Arbeit. 442 Darin mag sich schon Hegels These vom bloß noch musealen Charakter der Kunstwerke in der Moderne ankündigen (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988 , 490 f.). <?page no="264"?> 264 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« ganz richtig eingeschätzt, dass die Objekte »jetzt um keinen Preis mehr zu haben wären« (ebd., 68). Deutlicher noch berichten freilich die Wanderjahre vom Tod des klassizistisch-autonomen Kunstschönen. Verelendetes Arbeitsproletariat, aufkommendes Maschinenwesen und die Umfunktionalisierung der Künste zur nützlichen Handwerkspraxis in der Pädagogischen Provinz lassen keinen Zweifel am Ende der Kunstperiode. Die Lago-Maggiore-Episode schildert dann, wie die Tragödie Mignons in der Malerei zu einem »Artefakt zur Erzeugung [von] Sehnsuchtsimpulse[n]« 443 umwertet. So verfertigt Wilhelms Bekannter, der Maler, minderwertige sentimentale Kitschbilder des Mädchens, auf denen »der Himmel [ … ] zu blau, der violette Ton reizender Farben zwar höchst lieblich, aber unwahr und das mancherlei frische Grün doch gar zu bunt« (HA 8, 229) erscheint - ein »artifizielles Pathos«, das selbst die »tiefste [ … ] Existenznot« 444 noch zu einigem »Genuß« (HA 8, 229) transformiert. So bestätigt sich also in Deutschland und nicht zufällig in Italien, was Goethe am 5. Oktober 1786 im Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein festgehalten hatte: Auf dieser Reise hoff ich will ich mein Gemüt über die schönen Künste beruhigen, ihr heilig Bild mir recht in die Seele prägen und zum stillen Genuß bewahren. Dann aber mich zu den Handwerkern wenden, und wenn ich zurückkomme, Chymie und Mechanik studieren. Denn die Zeit des Schönen ist vorüber nur die Not und das strenge Bedürfnis erfordern unsre Tage. 445 Die vielberufene Klage über das Ende des Schönen teilte Flaubert. »Le temps est passe´ du beau« (Corr II, 76/ 24. 4. 1852), stellte er 1852 fest und fügte 1864, die Einschätzung seines Freundes The´ophile Gautier aufgreifend, hinzu: »La beaute´ n’est pas compatible avec la vie moderne« (Corr III, 416/ Ende November 1864). Aus Verbitterung über die Hässlichkeit der technisch-funktionalen Bürgergesellschaft flüchtete er in die Antike. »Ah! comme je suis las de l’ignoble ouvrier, de l’inepte bourgeois, du stupide paysan et de l’odieux eccle´siastique! C’est pourquoi je me perds, tant que je peux, dans l’Antiquite´« (Corr IV, 372/ 6. 9. 1871). 446 Dort, im griechisch-römischen »pays du Beau« (Corr I, 435/ 2. 2. 1847), habe eine plastischoriginale Schönheit existiert, die aus der Perzeption einer noch rein ästhetischen Welt gewonnen werden konnte. Vielleicht als Reminiszenz an die Antiken-Begeisterung von Goethes Römischen Elegien - die sich in der Übersetzung von Blaze aus dem Jahr 1843 in Flauberts Bibliothek befanden 447 - schrieb Flaubert im Mai 1846: J’ai ve´cu a` Rome, c’est suˆ r, du temps de Ce´sar ou de Ne´ron. [ … ] C’est la` qu’il faut vivre [ … ]. On n’a d’air que la` et on en a, de l’air poe´tique, a` pleine poitrine comme sur une haute montagne [ … ] (Corr I, 266/ Mai 1846). 443 Saße: Auswandern (Anm. 440 ), 99 . 444 Ebd. 445 Goethe: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. In: MA 3 . 1 , 107 (Hervorhebung M. K.). Die Tagebuch-Passage fehlt in der späteren Italienischen Reise ( 1816 / 17 ), vgl. dazu MA 15 , 94 sowie zu Goethes Arbeitsweise das Kapitel »Zur Entstehungsgeschichte« (ebd., 669 - 700 , bes. 682 ), weiterhin Saße: Auswandern (Anm. 440 ), 257 f. 446 Die Hinwendung zur Antike ist bereits seit 1845 belegbar: »Je porte l’amour de l’antiquite´ dans mes entrailles« (Corr I, 228 / 13 . 5 . 45 ). Ihre literarische Ausprägung ist der Roman Salammboˆ, der »pour les gens ivres d’antiquite´s« (Corr III, 173 / 24 . 8 . 61 ) gemacht sei. 447 Goethe: Ele´gies romaines, im Band Poe´sies (Blaze 1843 , 188 - 199 ), der sich in Flauberts Bibliothek befand. Zur Seitenangabe in Blaze vgl.: http: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148 / bpt 6 k 693513 / f 360 .image.r=.langEN, 01 . 05 . 2014 . <?page no="265"?> 265 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: (K)ein Ende der Kunst Doch schien auch das Ideal zunächst unverloren, so stellte sich schon bald - wie bei Goethe 448 - die Enttäuschung darüber ein, dass die historische Differenz eine Vermittlung der Antike zur Gegenwart verhindere. Kein Moderner könne wieder zum Bürger Roms oder Athens werden: He´las! non je ne suis pas un homme antique, les hommes antiques n’avaient pas de maladies de nerfs comme moi, ni toi [Louise Colet, M. K.] non plus tu n’es ni la Grecque ni la Latine, tu es au-dela`: le romantisme y [a] passe´. Le christianisme, quoique nous voulions nous en de´fendre, est venu agrandir tout cela mais le gaˆter, y mettre la douleur. Le cœur humain ne s’e´largit qu’avec un tranchant qui le de´chire (Corr I, 300/ 13. 8. 1846). Die Zäsur von Christentum und Romantik ist irreversibel. Sie habe das Schöne aus der Welt in ein Land der Sehnsucht oder der Transzendenz verlegt (»agrandir«) und es auf diese Weise verdorben (»gaˆter«). Nun bleibt übrig, sich des objektiven Verfahrens der Alten zu bedienen und die Hässlichkeit des Zeitalters aufzuzeichnen: »Il ne faut pas revenir a` l’antiquite´, mais prendre ses proce´de´s. [ … ] La litte´rature [ … ] sera surtout exposante [ … ]« (Corr II, 298/ 6. 4. 1853). Dass das klassische und vor allem objektive Kunstschöne keinen Platz mehr in der bürgerlichen Epoche besitzt, gestaltet eindrücklich die Education sentimentale . Als Fortschreibung der Meister -Romane schildert sie, dass nach dem Übergang vom feudalen zum kapitalistischen Zeitalter - wie in Deutschland - auch in Frankreich nichts als sentimentale Affektkunst, Dilettantismus, Kitsch sowie ein zunehmend industriell verfertigtes Kunstgewerbe herrschen. Handwerkliche Techniken werden zu Kunstprodukten umfunktionalisiert, und eine Demokratisierung der Künste setzt ein - eine Folge der politischen -, die sich in der Flut selbsternannter Genies und ihrer Erzeugnisse zeigt. Sie dominiert Kunstszene und -diskurse mit ihren vom Abbe´ der Lehrjahre noch zutiefst verabscheuten »Neigungen, Meinungen und Grillen« (HA 7, 573), hinter denen sich nichts als kurzlebige, nichtige Moden verbergen, die sich so rasch ändern wie die politischen Verhältnisse. Schon der Beginn der Education intoniert das Kunst-Thema wohl mit einer Lehrjahre -Reminiszenz. 449 Auf dem Boot, das Fre´de´ric nach Nogent bringt, befindet sich auch ein »joueur de harpe en haillons« (ES 36), der alsbald mit einer »voix mordante [ … ] la plainte d’un amour orgueilleux et vaincu« (ebd., 38) zum Vortrag bringt - ein Nachfahre jenes Typus sentimentalischer Sänger, den die Lehrjahre mit der Figur des Harfners populär gemacht hatten: In ein »langes dunkelbraunes Gewand« (LJ, 128) gehüllt, trägt er »wehmütige, herzliche Klage[n]« (ebd., 136) über das Ende einer Liebe vor. Freilich konterkariert die Education jenes tief empfundene, dabei aber auch kirchen- und melancholiekritische Leid, das sich bei Goethe hinter der Augustin-Sperata-Geschichte verbirgt. Der Harfenspieler auf dem Schiff ist nichts als Pose, und nichts weniger als eigenen Gram intoniert er. Er ist ein »ancien mode`le« (ES, 38) aus dem Malerumkreis von Jacques Arnoux, der sich inzwischen auf ein neues Geschäft verlegt hat. Mit kitschigen »romance[s] orientale[s]« (ebd.) rührt er an die Affekte 448 Schiller brachte gegen Goethes Rom-Dichtung den Einwand vor, ein Moderner könne sich niemals in die Antike zurückversetzen. Vgl. dazu das Kapitel ›Goethes Poetologie der Bilder‹ im Goethe-Teil dieser Arbeit. Die Unverfügbarkeit antiker Schönheit gestaltet nicht zuletzt auch der Faust II mit dem Misslingen der klassisch-romantsichen Phantasmagorie und der Hochgebirg-Szene, in der mit der Wolke die ideale Schönheit Helenas zerfällt und sich in Richtung auf Griechenland aus dem Westen zurückzieht. 449 Harfner-Figuren waren in der Lehrjahre-Nachfolge populär, vgl. Morel: Wilhelm Meister (Anm. 419 ), 74 . Vgl. auch die Figur Agostins in Gautiers Roman Le Capitaine Fracasse, der schon im Namen die Herkunft aus den Lehrjahren andeutet: Dort lautet der eigentliche Name des Harfners Augustin. <?page no="266"?> 266 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« der Zuhörer, weil sich mit bewegten Herzen gutes Geld verdienen lässt: Wirklich spendet der empfindsame Fre´de´ric die exorbitante Summe von einem »louis d’or« (ebd.). Dass ihn später noch die abgeschmackten Romanzen Delmas’ aus dem Vergnügungslokal Alhambra an den Harfenspieler erinnern (vgl. ebd., 105), zeigt die Degeneration der Gesangskunst zum Unterhaltungsgeschäft. Auch an Delmas ist nichts echt. Als »chanteur expressif« (ebd., 104) ist er im Tanzlokal angestellt. Sein größtes Kapital ist sein gutes Aussehen (»un beau jeune homme«, ebd.), und geschickt weiß er überdies das Verführungspotential der Musik zu nutzen. Vor allem den Frauen gefällt das, und weil sie in den Fragen der Ästhetik den gesellschaftlichen Geschmack prägen, steigt Delmas bald zum gefeierten Schauspieler auf (vgl. ebd., 205). Dass er dabei nur in minderwertigen Lustspielen und Komödien auftritt, stört Paris nicht und beweist nur, dass auch die Schauspielerei zum anspruchslosen Amüsierbetrieb für ein Massenpublikum verkommen ist. Auch Delmas wählt den Ruhm ohne Geschmacksurteil. Der wachsenden Popularität passt er seinen Namen - von Auguste Delamare über Ante´nor Dellamarre, Delmas, Belmar bis hin zu Delmar (vgl. ebd., 152) - ebenso an wie seine Engagements: Nach den Stationen Tanzlokal und Lustspiel darf er in Stücken auftreten, in denen er »fait la lec ¸on a` Louis XIV et prophe´tise 89« (ebd., 205), träumt von einer kulturpolitischen Karriere (vgl. ebd., 331) und deklamiert im frauenemanzipatorischen Zirkel der Vatnaz eine »poe´sie humanitaire sur la prostitution« (391). Das ist nicht ohne Ironie. Delmas war zuvor längere Zeit mit der Kurtisane Rosanette liiert, und auch die vielen anwesenden Damen, allen voran die Vatnaz, sind wohl nicht wegen des Gedichts gekommen. Bedeutung erhält Delmas’ banale Karriere nur deshalb, weil sie im Bereich der Kunst und den politischen Gang Frankreichs widerspiegelt: Beides gleicht einer Abfolge von Moden ohne jegliches Ideal, deren Wechsel nur die immer gleiche Dummheit variiert. Entsprechen Delmas’ erste Tätigkeiten so noch einer bürgerlichen Vergnügungs-Kunst der Zeit Louis-Philippes, zeugen die folgenden Rollen vom Versuch, die revolutionäre Begeisterung mit literarischer Massenware zu finanziellen Theatererfolgen zu machen. Dass die Wirren der 48er-Revolution dabei dieselbe ästhetische Wirrnis befördern wie zuvor schon das Bürgertum, zeigt neben der Schalheit der versatzstückartig für Delmas angefertigten Dramen (vgl. 205) und der Scheinheiligkeit von Mime und Publikum vor allem Delmas’ aberwitzige Überzeugung, mit seiner Kandidatur die »mission civilisatrice du come´dien« (ebd., 337) ebenso zu fördern wie das Theater als »foyer de l’instruction nationale« (ebd.). Wie sollte ausgerechnet der Dilettant Delmas den Traum von der ästhetischen Bildung zum Leben erwecken, der zudem im Zeitalter der Unterhaltungsbetriebe längst ausgeträumt war? Eine Lehrjahre -Reminszenz mag freilich anklingen. Bereits Wilhelm Meister sah sich - ein Vorfahre Delmas’ - als »Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters« (LJ, 35), obwohl er weder theoretische Bildung noch praktisches Darstellungstalent besaß, und da sich auch das deutsche Publikum lieber der seichten Unterhaltung zuwandte, wurde schon in den Lehrjahren aus den Träumen keine Realität. Dass also Delmas der Education in der Zeit des Second Empire völlig aus dem Blick gerät, will entsprechend heißen: Er verliert sich zusammen mit seinen Plänen in der Bedeutungslosigkeit. Um die Malerei ist es nicht besser bestellt. Schon dass Fre´de´ric beschließt, »un grand peintre« (ES, 82) zu werden, lässt nichts Gutes erwarten. Nur ein Dilettant ist der junge Mann, der lieber tagträumt, anstatt sich ums Handwerk zu kümmern, und der mit Ausnahme zweier Architekturskizzen (vgl. ebd., 44) im Leben kein einziges Bild malt. Auch in solchen Phantastereien erscheint er als Nachfahre Wilhelm Meisters, dem ein unbekannter Geistlicher - wohl der Abbe´ - in einem entscheidenden Gespräch Folgendes zu bedenken gibt: <?page no="267"?> 267 3.7 Die »Lehrjahre« und die »Education«-Romane: (K)ein Ende der Kunst Gesetzt, das Schicksal hätte einen zu einem großen Maler bestimmt, und dem Zufall beliebte es, seine Jugend in schmutzigen Hütten, Ställe und Scheunen zu verstoßen, glauben Sie, daß ein solcher Mann sich jemals zur Reinlichkeit, zum Adel, zur Freiheit der Seele erheben werde? Mit je lebhafterm Sinn er das Unreine in seiner Jugend angefaßt und nach seiner Art veredelt hat, desto gewaltsamer wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm rächen, indem es sich, inzwischen daß er es zu überwinden suchte, mit ihm aufs innigste verbunden hat. Wer früh in schlechter, unbedeutender Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er auch später eine bessere haben kann, immer nach jener zurücksehnen [ … ] (LJ, 122, Hervorhebung M. K.). Fre´de´rics Schwärmen für exquisite Ästhetik unterscheidet sich zwar von Wilhelms Vorliebe für das verächtliche Puppentheater, auf das der Geistliche abzielt. Dessen Argument trifft freilich beide Protagonisten: Nichts wird aus einem, der sich nicht von Jugend an um die Ausbildung seiner Fertigkeit gekümmert hat. Sein Leben lang wird er das Niedrige mit dem Hohen verwechseln oder sich - wie Fre´de´ric - mit dem Glanz des Schönen über die eigene Untätigkeit hinwegtäuschen. So nimmt es kaum Wunder, dass auch Wilhelm nicht ein einziges Kunstwerk verfertigt, weder ein Bild noch - wie ja der ut pictura poiesis -Topos und mit ihm sämtliche Maler-Romane des 19. Jahrhunderts meinen - ein gültiges Gedicht. Natürlich aber leitet die Education am offensichtlichsten mit Jacques Arnoux ins Maler- Thema ein. Der Geschäftsmann besitzt mit dem Art industriel ein »journal de peinture« sowie ein »magasin de tableaux« (ES, 35), die im Roman zunächst das Zentrum der Künstler, Journalisten und ihrer Theorien darstellen. Neben dem Journalisten Hussonnet und dem Maler Pellerin, die der Text ausführlicher schildert, wird das Geschäft von prototypischen Vertretern der Malerszene frequentiert. Man trifft etwa: Ante´nor Braive, le portraitiste des rois; Jules Burrieu, qui commenc ¸ait a` populariser par ses dessins les guerres d’Alge´rie; le caricaturiste Sombaz, le sculpteur Vourdat [ … ], [l]e mystique Lovarias [ … ] et l’inventeur du paysage oriental, le fameux Dittmer [ … ] (ebd., 65). Doch Fragen der Kunst interessieren niemanden. Anstatt Probleme der Ästhetik zu debattieren, redet man über »Apollonie, un ancien mode`le« (ebd.) und ihren neuen Liebhaber, macht abwesende Kollegen schlecht und blickt voller Neid auf die Preise ihrer Werke (vgl. ebd., 66). Solche geschwätzige Kunstferne entspricht dem Charakter Arnoux’. Auch er verachtet ja weder die bei ihm ein- und ausgehenden Modelle noch überhaupt die »filles de Paris« (ebd.), und soger Fre´de´ric bemerkt, dass er nicht gerade »fort spirituel« (ebd., 97) ist. Um Kunst geht es auch ihm nicht. Allein um die »profits pe´cuniaires« (ebd., 71) ist es ihm zu tun, und dafür ist ihm fast jedes Mittel recht. Hinter seinem vorgeblichen Ziel, die »e´mancipation des arts« (ebd.) zu befördern, verbirgt sich so nicht etwa der Kampf für die Anerkennung der Künste, sondern die Geschäftsidee, das teure Erhabene durch minderwertige Massenfertigung dem Billigen ›gleichzustellen‹ (»le sublime a` bon marche´«, ebd.), es also für jedermann erschwinglich zu machen. Zu diesem Zweck handelt Arnoux etwa mit Stichen und Radierungen, also entweder in großer Zahl vorliegenden oder technisch immer wieder reproduzierbaren Objekten, und beschäftigt Maler, die - wie Pe`re Isaac oder auch Pellerin (vgl. ebd., 66 und 73) - auf Bestellung Gemälde für die »amateurs peu e´claire´s« (ebd., 73) fälschen. Durch solche Reproduktionen und Kopien leistet er der Entstehung jenes - freilich illegalen - Kunstgewerbes Vorschub, das der Geschäftsname Art industriel schon andeutet. Für seine Produkte macht Arnoux in der gleichnamigen, weit bis in die Provinz verbreiteten Zeitschrift Werbung. So kommt es, dass er nicht nur den Geschmack des Publikums, sondern auch den der Maler selbst verdirbt und eine Herrschaft des Mittelmaßes etabliert: <?page no="268"?> 268 3. Flaubert: »L'Education sentimentale« [t]outes les industries du luxe parisien subirent son influence qui fut bonne pour les petites choses, et funeste pour les grandes. Avec sa rage de flatter l’opinion, il de´tourna de leur voie des artistes habiles, corrompit les forts, e´puisa les faibles, et illustra les me´diocres, il en disposait par ses relations et par sa revue (ebd., 71). Nicht mehr der Künstler, sondern der über Geld und publizistischen Einfluss verfügende Kunsthändler bestimmt die Produktion, mit der er zugleich die Bedürfnisse des Kunstmarktes bedient. Gut ist allein, was sich verkaufen lässt, und vor dem Diktat des Massengeschmacks spielen Originalität und ästhetische Qualität keine Rolle mehr. Und so wie Arnoux den Markt mit einer Flut völlig beliebiger, allein den modischen Vorlieben der Kunden geschuldeter Objekte überschwemmt, ist auch sein Geschäft ein willkürliches Sammelsurium von Stilen und Gegenständen: »statuettes«, »dessins«, »gravures«, »catalogues«, »grands tableaux«, »deux bahuts charge´s de porcelaines, de bronzes, de curiosite´s alle´chantes«, »un lustre en vieux saxe«, »un tapis vert« und eine »table en marqueterie« (ebd., 52). Solcher Plunder, zu dem sich noch die im Schaufenster ausgestellten Bilder gesellen, ist kein Vergleich zu der Antiken- und Gemäldesammlung von Wilhelm Meisters Großvater. Sie enthielt noch sorgfältig ausgewählte Meisterwerke und Einzelstücke (vgl. LJ, 68 f.), die einen unschätzbaren ästhetischen Wert besaßen. Betrachtete daher die Turmgeneration des Großvaters Schätze immerhin noch als Geldanlage, so entwertet die kunstgewerbliche Reduplikation selbst noch den Finanzwert der einzelnen Waren. Auch Arnoux weiß daher, dass er zum massenhaften Absatz gezwungen ist. Doch die Geschäfte gehen nicht gut. Schon auf dem Schiff drückt sich Arnoux vor der Spende für den Harfenspieler (vgl. ES, 38) und verlangt unter fadenscheinigen Begründungen (vgl. ebd., 39), dass man die Essensrechnung mindere. Zur Kostensenkung ist ihm jedes Mittel recht. Seine Maler prellt er entweder ganz um die Bezahlung (vgl. ebd., 67) oder zwingt sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu einem Preisnachlass (vgl. ebd., 71). Wer gegen solche Ausbeutung protestiert, erhält eine »tape sur le ventre« (ebd.). Doch selbst diese Geschäftspraktiken können den Bankrott nicht verhindern. Fre´de´ric muss bei einem späteren Parisbesuch erfahren, dass Arnoux das Metier gewechselt hat und nun »marchand de faı ¨ences« (ebd,. 139) - Steingut- oder Keramikhändler - ist. Abendgesellschaften gibt er nicht mehr, und keine Maler versammeln sich mehr bei ihm. Bitter scheinen seine Klagen über die »e´poque de de´cadence comme la noˆ tre«, in der die »grande peinture est passe´e de mode« (ebd., 140). Doch Arnoux vergisst, dass er mit seinen Objekten, die nie ›große Kunst‹ waren, ästhetischen Niedergang und kurzlebige Moden selbst beförderte. Nun ist er zum Opfer des Marktmechanismus und seiner Dynamik geworden. Nicht mehr für das - wie auch immer falsche oder artifizielle - auratische Kunstwerk interessiert man sich, sondern funktionalisiert es zunehmend zum gefälligen Gebrauchsgegenstand um. Das Zeitalter des industriellen Designs ist angebrochen, in dem man sich auch deshalb von der Kunst abwendet, weil Wertanla