Die Manöverinszenierungen der Oktober-Revolution in Petrograd
Theatralität zwischen Fest und Ritual
1212
2016
978-3-7720-5601-7
A. Francke Verlag
Marina Dalügge
Zwischen 1917 und 1920 feiert das (bürger)kriegsgeschundene Russland die Stationen der virulenten, allseits bedrohten Revolution in zahllosen Umzügen und grandiosen Freilichtschauspielen. Trotz Elend und Chaos finden Fest und Feiern statt in einem Ausmaß und einer Pracht, die alle Kräfte und ganz Petrograd mobilisieren - und die Erklärung "Propaganda" und andere Totschlagwörter als logische Rohrkrepierer entlarven. Kernstück der Arbeit sind drei nahezu unbekannte, spektakuläre Aufführungen, deren Handlungsverlauf, Kontext und Wirkungsästhetik hier dank seltener Quellen und Abbildungen gründlich ausgeleuchtet werden. Erstmals wird die kulturelle Rückbindung des revolutionären Aufbruchs als primäre Schubkraft für den immensen Erfolg der Manöverinszenierungen fokussiert: der sozialpolitische "Perspektivwechsel" gründet in der umgekehrten Perspektive der östlichen Ikonenmalerei, die Feiern übernehmen die Riten der orthodoxen Liturgie, und die Feste tradieren Bräuche des paganen Jahrmarkts. Deren Ästhetik befragt und erneuert den Wertecode, den jeder "Bauer in Uniform" zuverlässig versteht. Theatralität erweist sich hier einmal mehr als sicheres, produktives Re/Medium für das, was eine Gemeinschaft oder Gesellschaft im Inneren zusammenhält.
<?page no="0"?> T H E A T R A L I T Ä T Marina Dalügge Die Manöverinszenierungen der Oktober-Revolution in Petrograd Theatralität zwischen Fest und Ritual <?page no="1"?> T H E AT R A L I T Ä T Herausgegeben von Erika Fischer-Lichte Band 13 · 2016 <?page no="3"?> Die Manöverinszenierungen der Oktober-Revolution in Petrograd Marina Dalügge A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN Theatralität zwischen Fest und Ritual <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8601-4 Umschlagabbildung: Vasilij V. Kupcov, Pervoe maja [Der Erste Mai] 1929. Öl auf Leinwand. 52,5 x 70,7 cm © Gosudarstvennaja Tret’jakovskaja galereja. Moskva, Rossijskaja Federacija. / © State Tretyakov Gallery. Moscow, Russian Federation. . D 188 <?page no="5"?> Inhalt Präliminarien Inhalt ................................................................................................ 1-4 Legende und Lesehilfe ....................................................................... 5-6 Einleitung 1. Festrahmen und Schwellenphasen ................................................ 7-12 2. „Ausschlag“ oder „Wangenröte“? .............................................. 13-15 3. Kontaminationen und Konfrontationen ..................................... 15-31 4. Forschungsstand und Problemstellungen .................................... 32-46 5. Thesen und Vorgehensweise ...................................................... 46-57 ❐ Abbildungen 1-7 ....................................................................... 58-62 I. Symptome der Theaterkrise: Von der „Unnötigen Wahrheit“ zur „Verneinung Theater“ I.1. „Doppeldeutigkeit“ und ‘Dilemma’ von Revolution (1905) zu Revolution (1917) ........................................................... 63-84 I.1.1. „Zeitsplitter“ ........................................................................ 63-65 I.1.2. Orthodoxie im symbolhaften und instrumentellen Verhalten .............................................. 65-71 Exkurs: Die Zeit im orthodoxen Verständnis . ......... ............. 67-69 I.1.3. Kulturkrise: „Doppeldeutigkeit“ versus ‘Dilemma’ ................71-72 I.1.4. Theaterkrise: ‘System’ und „Synthese“ ..................................7 -77 Exkurs: Kann es unechte Barrikaden geben? ........................ 77-80 I.1.5. Zeitläufe und Zeitstrukturen: Die Manöverinszenierungen zwischen Ritual / Kulthandlung und Fest / Spektakel ........... 80-84 I.2. Das Theater als ästhetische Krisenanstalt: Schauspieler und Handlung .................................................. 84-89 I.3. Das Theater als soziale Krisenanstalt: Zuschauer und Wahrnehmung ............................................ 89-95 I.4. Das Theater und sein Wi(e)dergänger: Der Fall Ajchenval’d .......................................................... 96-103 ❐ Abbildungen 1-10 ................................................................. 104-108 V on 3 <?page no="6"?> I NHALT 2 II. Gegenkonzepte zur Theaterkrise: Von der „Synthese“ zum ‘Perspektivwechsel’ II.1.1. Von Chören und Solisten ................................................ 109-111 II.1.2. „Sobornost’“ als Gemeinschaftsbegriff .............................111-115 II.1.3. „Sobornost’“ als Handlungsbegriff .................................. 115-117 II.1.4. „Sobornost’“ und „Communitas“ .................................... 117-120 II.1.5. Ivanovs Chorhandlung .................................................... 120-122 II.1.6. Die Chorhandlung — Dilemma zwischen Glaubensgemeinschaft und Theatergemeinde .................. 122-126 II.2. Vsevolodskijs „Dejstvovanie“ .......................................... 126-137 II.3. Lunačarskijs ‘Perspektivwechsel’ ..................................... 137-149 Exkurs zur „Umgekehrten Perspektive“ .......................... 142-146 ❐ Abbildungen 1-12 ................................................................. 150-156 III. Die Eroberung des öffentlichen Raums III.1. Zeitsprünge ..................................................................157-158 III.2. (Bürger)Krieg und (Diktat)Frieden: Die Akteure ............ 158-168 III.3. Das „Mythologische Bewu tsein “.................................... 168-171 III.4. Krieg und Kunst: Vom „Ort“ zum „Raum“ ..................... 172-195 „Karte“ oder „Weg“........................................................ 172-173 Repräsentationsorte ....................................................... 173-174 Diskussionsraum ........................................................... 174-180 Der dekorative Festraum ...............................................180-190 Der performative Festraum ............................................ 190-195 III.5. Der ‘mythologische Marsch’ .........................................195-196 III.6. Vom „Raum“ zum „Ort“ ................................................. 19 -199 ❐ Abbildungen 1-21 ................................................................. 200-211 IV. D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT als Aufstieg eines neuen Genres (12./ 16.03.1919) IV.1. Die „inscenirovka“ als Szenarium eines Soziotops...... 213/ 14-220 IV.2.1. Handlungsverlauf des S TURZES im geschlossenen Raum ................................................ 220-230 IV.2.2. Handlungsverlauf des S TURZES unter freiem Himmel ................................................... 230-237 IV.3. Bezugsrahmen und Subtext ............................................ 237-241 IV.4. Bezugsgröße: Der S TURZ zwischen „revolutionärer inscenirovka“ und Ritual ..................... 241-244 IV.5. Wirkungsästhetik des S TURZES : ‘Manöverhaftigkeit’ als „Zeugniswerk“ eines Soziotops 244-272 . . . ... ... .. ss 7 <?page no="7"?> I NHALT 3 IV.5.1. Materialität und Ästhetizität ........................................... 244-251 IV.5.2. Medialität und Semiotizität ............................................ 251-262 Exkurs zum R ITUAL , orthodox gefasst: „Liminalität“ - „Communitas“ - „Theatralität“ ............. 262-272 ❐ Abbildungen 1-9 ................................................................... 273-277 V. D IE III. I NTERNATIONALE (11.05.1919) V.1. Vorbemerkung .............................................................. 279-280 V.2. Skizze des Handlungsverlaufs ....................................... 280-285 V.3. Bezugsrahmen und Subtext ............................................285-290 V.4. Bezugsgrößen: Jahrmarkt, Balagan Schlachten-Stücke .................. 290-301 Exkurs: Abgrenzungen zwischen F EST (Kontingenz - „Weg“ - ‘Matrix’) und F EIER (Konzept - „Karte“ - ‘Metrum’) ................... 292-295 V.5. Wirkungsästhetik der III. I NTERNATIONALE : ‘Manöver haftigkeit’ als Spiel- und Funktionslust der Truppen ... 301-313 V.5.1. Materialität und Ästhetizität .......................................... 301-308 V.5.2. Medialität und Semiotizität .......................................... 308-313 ❐ Abbildungen 1-20 ................................................................. 314-327 VI. D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS als „Traditionsbruch der Feiern“ (08.11.1920) VI.1. Inszenierung eines Coup d’ État — Inscenirovka als Coup de théâtre .................................... 329-338 VI.2. Montage des Handlungsverlaufs ....................................338-347 VI.3. Bezugsrahmen und Subtext............................................. 348-349 VI.4. Bezugsgröße: Die E RSTÜRMUNG als Triumphzug der Bolschewiki ....... ....................... 349-356 VI.5. Wirkungsästhetik der E RSTÜRMUNG : ‘Manöverhaftigkeit’ als Manövrierbarkeit der Masse .. 356-371 VI.5.1. Materialität und Ästhetizität ........................................... 356-365 VI.5.2. Medialität und Semiotizität ............................................ 365-371 ❐ Abbildungen 1-20 ................................................................. 372-384 Schlusswort 1. Neue „Grammatik“ mit alten „Ismen“ ................................... 385-388 - ... .. .. ..... .. , ........ n <?page no="8"?> I NHALT 4 und Begründungen für deren Ende ........................................ 388-393 3. Von „Anführern“, Aufführern und „Ausführern“ ...................393-400 4. Der Faktor „Zeit“ trennt Effektivität von Effizienz ............... 400-406 5. Theatralität als Re--Medium gegen kompetitive Raster .......... 406-411 A NHANG Literatur .................................................................................... 413-442 Abbildungsnachweise ................................................................. 443-452 Denken und Danken .......................................................................... 453 2. Alter Hiatus der neuen Grenzgänger: Masseninszenierung vs. Manöveraufführung, <?page no="9"?> Legende und Lesehilfe Die folgende Lesehilfe beruht auf der Transkription und Transliteration des Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache (Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1996. S.86). c = wie „z“ č = wie „tsch“ ch = wie „ch“ in „machen“ e = wie „je“ - am Wortanfang „Je“ geschrieben ë = wie „jo“ (immer betont) - am Wortanfang „Jë“ geschrieben ė = wie „e“ in „Messer“ š = wie „sch“ z = wie „s“ in „Sichel“ ž = wie „j“ in „Journal“ šč = schtsch ’ oder ' = wie kurzes „j“ Weder „Lenin“ noch „Wodka“ bedürfen einer Betonung. Andere Namen und Begriffe sind mit einem Akzént versehen. In gängigen Fällen folgt die Schreibweise der gebräuchlichen Praxis: „Sowjetrussland“ statt „Sovetrussland“; „Bolschewikí“ statt „bol’ševikí“; der [Verband] „Proletkult“ statt (die) „prolétkul’t“ (proletarische Kultur). Bei komplexen Silben-Verbindungen sind zur besseren Lesbarkeit Majuskeln eingefügt (NarKomPrós statt Narkomprós). Erläuterungen bzw. Ergänzungen stehen in eckigen Klammern und / oder Kursiv / kursiv. Bei allen russischen Vorlagen handelt es sich um eigene Übersetzungen. Dort, wo für einen Begriff oder Ausdruck ein breiteres Bedeutungs-Spektrum notwendig war oder aufschlussreich erschien (auch im Deutschen), wurde eine Variante mit Schrägstrich angefügt. Verweise innerhalb des gleichen Kapitels sind nur mit der Nummerierung („X.y.z.“) bzw. mit dem Abbildungssymbol ❐ vermerkt, außerhalb davon mit dem Zusatz „Kap.“ („Kap.X.y.z.“). FN = Fußnote <?page no="10"?> L EGENDE UND L ESEHILFE 6 FN12/ 13 = Textstelle zwischen FN12 und FN13. ❐ = Abbildung = Spielort T.n.S.8. = Tafel nach S.8. Dieses Buch ist die gekürzte Fassung der gleichnamigen Dissertation von 2011 am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Einzelne Verweise daraus auf weitere Petrograder Manöveraufführungen (D AS M YSTERIUM DER BEFREITEN A RBEIT , 01.05.1920 - D IE B LOCKADE R USSLANDS , 20.06.1920 - Z UR W ELTKOMMUNE , 19.07.1920) wurden als zusätzliche Referenzbeispiele für die Feste und Feiern der Revolutionszeit beibehalten. <?page no="11"?> Einleitung 1. Festrahmen und Schwellenphasen Als die russische Revolution Ende Oktober 1917 vollzogen, aber bis Mitte November 1920 noch von der Reaktion bedroht war, setzte in Russland ein epochaler Prozess theatraler „Selbsttätigkeit“ 1 ein. Obwohl weder der personelle noch der materielle Preis, weder das soziale noch das politische Ergebnis der Revolution absehbar waren, und obwohl das Land von Versorgungsmängeln gebeutelt und vom Bürgerkriegsterror überzogen wurde, herrschte an Russlands Kunstfront eine präzedenzlose, flächendeckende Spielwut, die sich in zahllosen Theaterzirkeln und ebensovielen Festen und Feiern kanalisierte. Nahezu bei jeder Gelegenheit und in allen Betrieben und Fabriken, militärischen Verbänden und zivilen Einrichtungen bildeten sich Spiel- und Agitationstruppen sowie Laien- und Studiobühnen, die etablierte Klassiker oder selbstverfasste Frontberichte, Legenden oder Lieder, Lehrstücke zur Alphabetisierung oder Zeitungsmeldungen zur Volkshygiene in improvisierter Form aufführten. Mit der Einführung des „Roten Kalenders“ 2 1 Die „theatrale Selbsttätigkeit“ (teatral’naja samodejatel’nost’) - im Folgenden auch „theatrale Selbstorganisation“ - bezeichnet sowohl die Organisationsform als auch die Ästhetik dieser Bewegung, der überwiegend Laien, aber auch professionelle Künstler angehörten. Prägten 1918 noch die bildenden Künste das Erscheinungsbild der Feiern, zeichnet sich seit 1919 Theater als ihr Hauptmedium ab. (Mazaev, A.I.: Prazdnik kak social’no-chudožestvennoe javlenie. Opyt istoriko-teoretičeskogo issledovanija [Das Fest als soziales und künstlerisches Phänomen. Versuch einer historisch-theoretischen Untersuchung]. Moskva 1978. S.277.) „Theater ging als dominanter Bestandteil in das System der künstlerischen Klubarbeit ein. Ihm ordneten sich im Grunde die übrigen Klub- Zirkel unter — die Dekorations-, Musik- und Literaturzirkel / .../ .“ (Markov, P.A.: „Teatr. 1917-1927“ [„Theater. 1917-1927“] (1927). In: O teatre v četyrëch tomach. T.3. Dnevnik teatral’nogo kritika [Über Theater in vier Bänden. Bd.3. Tagebuch eines Theaterkritikers]. Moskva 1976. S.441.) (= Markov.(1927).1976.) 2 Ende Januar 1918 wird der Gregorianische (russische) durch den Julianischen (westlichen) Kalender ersetzt. Entsprechend wird die Machtübernahme der Bolschewiki am 25. Oktober alten Stils / am 07. November neuen Stils gefeiert. Mit der Richtlinie des SNK (oder: SovNarKom = Sovet narodnych komissarov = Rat der Volkskommissare) vom 02.12.1918 werden folgende arbeitsfreie Feiertage festgelegt: Neujahr (01.01.), „Blutsonntag“ (09.01./ 22.01.), „Sturz der Selbstherrschaft“ (12.03.), „Tag der Pariser Kommune“ (18.03.), „Tag der Internationale“ (01.05.), „Tag der Proletarischen Revolution“ (07.11.). Bis 1922 wird der „Rote Kalender“ mit folgenden Daten ergänzt: „Spartakus- Aufstand“ (06.01.), „Liebknecht-Luxemburg-Gedenktag“ (17.01.), „Tag der Roten Armee“ (23.02.), „Tag der Abeiterin“ (08.03.), „Ankunft Lenins in Petrograd“ (16.04.), „Juli-Tage“ (03.-16.07.), „Tag des bewaffneten Aufstands in Moskau“ (22.12.). („Pravila SNK o ježenedel’nom otdyche i prazdničnych dnjach“ [„Richtlinien des SNK zur wöchentlichen Ruhezeit und zu den Feiertagen“] vom 02.12.1918. In: <?page no="12"?> E INLEITUNG 8 hatten sich die Anlässe öffentlichen Austauschs binnen kürzester Zeit vervielfacht: Während seit 1918 an jeder Kreuzung und in jeder Küche Diskussionen stattfanden, kleine und große Umzüge das Stadtbild prägten, Straßenbahnwaggons mit Stegreifstücken umherfuhren, tabuisierte Gebäude und Anlagen zugänglich wurden und nach der Marseillaise die orchestrale oder chorische Internationale eine alles verbindende Geräuschkulisse herstellte, trat die Öffentlichkeit in ein fluktuierendes Verhältnis zu sich selbst. Bis etwa Mitte 1919 war der Eintritt ins Theater für den Großteil der Bevölkerung (Arbeiter, Bauern, Soldaten — und „das werktätige Kosakentum“) stark herabgesetzt oder gar unentgeltlich; Karten-Kontingente wurden in fast allen Institutionen verteilt, und die Theater füllten sich mit einem völlig neuartigen, „ungehobelten“, aber überaus interessierten Publikum: „/ .../ es wurde in verstärktem Maße dafür gesorgt, dass jeder Stadtteil sein eigenes gutes Theater hatte, das häufig hinter den Theatern im Zentrum an Qualität nicht zurückstand; auch wurden zahllose Klubtheater organisiert. Die Provinz wurde mit einem ganzen Netz von Theatern überzogen.“ 3 Bald entstanden lokale Schwerpunkte der Revolutionsfeste und -feiern: In Moskau verfremdeten imposante Fassadenbilder und architektonische Aufbauten die vertraute Topographie; Petrograd brachte die monumentalen Masseninszenierungen 4 hervor, worin die zentralen Motive und Aspekte der Revolution als pantomimische Stationendramen unter freiem Himmel durchgespielt und bis zum finalen Sieg der Aufständischen erneut durchlitten wur- Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS / Institut istorii akademii nauk SSSR [Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPSS / Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der SSSR]: Dekrety Sovetskoj vlasti [Die Dekrete der Sowjetmacht]. Bd.IV. Moskva 1968. S.122f.) (= Dekrete.Bd.IV.1968.) Einzelne Feiertage verschwanden wenig später („Spartakus-Aufstand“), andere kamen hinzu (Lenins Todestag am 21.01.1924). Allgemein gilt, dass die Etablierung „roter“ Daten ungleich besser dokumentiert ist, als deren Abschaffung. (Piotrovskij, A.I.: „Chronika Leningradskich Prazdnestv 1919-1922g.“ [„Chronik der Leningrader Feiern 1919-1922“]. In: Gvozdev, A.A. / Piotrovskij, A.I. / Izvekov, N.Je. (et al.): Massovye prazdnestva. Sbornik komiteta sociologičeskogo izučenija iskusstv / GIII [Die Massenfeiern. Sammelband des Komittees zur soziologischen Erforschung der Künste / GIII]. Leningrad 1926. S.55f.+76. - Mazaev.1978.236. - Geldern, J. von: Bolshevik Festivals, 1917-1920. Berkeley, Los Angeles, London 1993. S.85.) Dabei hatten die Bolschewiki die wichtigsten Kirchen-Feiertage beibehalten, zugleich aber die zahlreichen Namenstage von Schutzheiligen abgeschafft. (Lawton, L.: The Russian Revolution (1917-1926). London 1927. S.420.) 3 Scherscheniewitsch, W.: „Das revolutionäre Theater“. In: Kritschewski, M. / Kersten, K. (Hg.): Das heutige Russland 1917-1922. Wirtschaft und Kultur in der Darstellung russischer Forscher. Teil II. Berlin 1923. S.65f. - Židkov, V.: Teatr i vremja: Ot Oktjabrja do Perestrojki. Čast’ I. [Theater im Wandel: Vom Oktober zur Perestrojka. Teil I.]. Moskva 1991. S.33+66. - Sobolew, J.: „Das Theater in der Sowjetunion“. In: Das neue Rußland. Jg.2. Doppelheft 3/ 4. Berlin 1925. S.21. (= Sobolew.(1925).) 4 Petrov, N.V.: 50 i 500 [50 und 500]. Moskva 1960. S.194. - Gwosdeff, A. [Gvozdev, A.A.]: „Theaterleben im neuen Rußland“. In: Das neue Rußland. Doppelheft 7/ 8. Berlin 1925. S.22. (= Gwosdeff[Gvozdev].(1925).) <?page no="13"?> E INLEITUNG 9 den. Dabei handelt es sich meistenteils um ein von etablierten Regisseuren entwickeltes, konventionelles Aktionsprogramm, bei dem „das demonstrativ Kunsthafte, das Zeichenhafte“ 5 jedoch nicht dominierte 6 , sondern auf eine irritierend neuartige und komplexe Weise gebrochen wurde durch den Einsatz echter Waffen und Geräte, echter Veteranen und Kämpfer, sowie annähernd der gesamten städtischen Bevölkerung und Logistik. Ein weiterer zentraler Aspekt ist der sehr freie Umgang mit der Zeit (die hier und im Weiteren gegenüber dem Raum betont wird): „Vergangenheit und Zukunft fielen in der Gegenwart zusammen.“ 7 Die spezifischen Mischungsverhältnisse, Spannungsabläufe, Symbolisierungs- und Kommunikationsprozesse dieser Merkmale weisen einige der Massenaufführungen dieses Zeitraums als durchaus innovativ und insofern avantgardistisch aus, wiewohl es sich nicht um eine Erfindung der Avantgarde handelt. Vielmehr machen diese neuartigen Verfahren - wie ein Hologramm - die grundlegenen Topoi und Positionen der Orthodoxie und die traditionellen Praktiken des Volkstheaters sichtbar. Seit 1919 stellt diese neue Fest- und Theaterform die periodischen Kulminations- und Kristallisationspunkte der Mai- und November-Feiern dar, worin die Gesellschaft eine Zwischenbilanz ihres Zustands manifestiert. Bis zum Ende des Bürgerkrieges (Mitte November 1920) waren die Revolutionsfeiern von einer „furchteinflößenden Schönheit“ 8 , ihr Charakter war kämpferisch, rauh und streng. Die Masseninszenierungen waren tendenziell freier und spielerischer, auch im Umgang mit Parodie und Satire. Den Auftakt dieser zyklischen Festreihe bildet D IE E RSTÜRMUNG DER B AS - TILLE am 07. November 1918 als erste Inszenierung eines Revolutionsmotivs mit Massenszenen in einem Volkshaus (Kap.III.6.). D ER S TURZ DER S ELBST - HERRSCHAFT am 12. und 16. März 1919 (Kap.IV.) funktioniert konzeptionell mit und durch ein/ em Massenpublikum, vollzieht den Schritt von der geschlossenen Bühne in den offenen und öffentlichen Raum von Stadt, Land und Front, und gilt als Prototyp und Referenzaufführung vieler kleiner Revolutions-Spiele, sowie der aufwändigsten und abschließenden E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS am 08. November 1920. Wie noch zu sehen sein wird, zeigen die erste (Kap.III.6.) und letzte E RSTÜRMUNG (Kap.VI.), dass weder Massenszenen mit über 50 Akteuren noch ein Massenpublikum mit bis zu 100.000 Mitwirkenden bereits eine Massenaufführung ausmachen. Allen Berichten und Erinnerungen zufolge waren dafür jener aufrichtige „Willensschub“ 9 , jene einzigartige Aufbruchstimmung der Revolution und das spezi- 5 Kröplin, W.: „Theaterwunder. Die Oktoberrevolution und der erste Vorgriff auf ein neues Theaterkonzept“. In: Theater der Zeit. Heft 9/ 1987. S.38. (= Kröplin.(1987).) 6 Gwosdeff[Gvozdev].(1925).22. 7 Kröplin.(1987).38. 8 Lunačarskij, A.V.: „O narodnych prazdnestvach“ [„Über die Volksfeste“] (1920). In: Ders.: O massovych prazdnestvach, ė strade, cirke [Über Massenfeiern, Unterhaltungskunst, Zirkus]. (Hg.v. S. Drejden). Moskva 1981. S.89. (= Lunačarskij.(1920/ a).1981.) 9 Židkov.1991.25. <?page no="14"?> E INLEITUNG 10 fische Bewusstsein der Zusammengehörigkeit ausschlaggebend, die die Praktiken der Festkultur erst als ‘konsensuale Ritualisierungen’ prägten, jedoch bereits im Ausklang waren, als sich 1921/ 22 ein Formenkanon für die Mai- und Novemberfeiern etabliert hatte 10 . Im Vorgriff auf die nachstehenden Ausführungen zum Begriff „Ritual“ sind unter ‘konsensualen Ritualisierungen’ Kulturpraktiken im Umbruch zu verstehen, deren vorerst unbestimmte Semantik neuer Werte sich an einer etablierten Syntax bestimmter Rituale orientiert, wobei überholte Normen und Machtgefüge in einem wechselseitigen Prozess, d.h. im Einvernehmen oder unter Mitwirkung des betreffenden Umfelds verschoben oder revidiert werden. Im engen Zusammenhang mit der Atmosphäre und Dynamik der hier behandelten Festphase steht ihre „Rahmung“ durch zwei Ritualisierungsschübe, die den Beginn und das Ende des betreffenden Revolutionszeitraums markieren. Seit 1917 wird die Statusänderung von Privatpersonen (Name, Personenstand) zu einer betont fakultativen und unzeremoniösen Maßnahme der (Schwellen)Angleichung. Dies ist ein „negativer Ritus“ 11 und insofern kein Paradox, als „/ .../ auch der Kampf mit den alten Ritualen einen ausgeprägt ritualisierten Charakter annehmen [kann]“ 12 , und eine nahezu andächtige Sorgfalt darauf verwendet wurde, Pomp genau in jenen Fällen und Maßen zu vermeiden, wie er vor der Revolution verbreitet war (Kleiderordnung, Organisationsablauf) 13 . Dagegen erfordert etwa die Änderung oder Anpassung von Dekreten eine spürbar deutlichere Legitimation und Verankerung in der kollektiven Wahrnehmung: hier ging eine revidierte Gesetz-Gebung mit einer aufwändigen Signal-Setzung (Plakate, Flugblätter) einher. Der erhöhte Bedarf an Symbolwirkung und ritueller Verbindlichkeit zeigt sich am auffälligsten bei der Bestimmung des Status öffentlicher Orte und Organe, deren Umbe- 10 Glebkin, V.V.: Ritual v sovetskoj kul’ture [Das Ritual in der sowjetischen Kultur]. Moskva 1998. S.98f. 11 „Psychologisch betrachtet, entspricht der negative Ritus dem Nicht-Wollen (‘nolonté’), so wie der positive Ritus dem Wollen (‘volonté’) entspricht. Mit anderen Worten, auch Tabus bringen eine Art des Wollens zum Ausdruck und sind Handlungen, nicht die Negation von Handlungen.“ (Gennep, A. van: Übergangsriten [1909]. Frankfurt a.M., New York, Paris 1986. S.18.) (= Gennep.[1909]1986.) - Vgl. hierzu R. Caillois’ Beschreibung des Tabus, das in zwei Richtungen wirkt: zur Abgrenzung der heiligen und der profanen Sphäre. (Caillois, R.: Der Mensch und das Heilige [1950]. München, Wien 1988. S.24+49.) (= Caillois.[1950]1988.) 12 Lotman, Ju.M. / Uspenskij, B.A.: „Zum semiotischen Mechanismus der Kultur“ (1971). In: Eimermacher, K. (Hg.): Semiotica Sovietica 2. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962-- 1973). Aachen 1986. S.853f. 13 Dies gilt offenbar generell für Krisenzeiten: „Die sozialen Beziehungen werden simplifiziert, während Mythos und Ritual eine kunstvolle Ausweitung erfahren.“ (Turner, V.: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [1969]. Frankfurt a.M., New York 2000. S.160.) (= Turner.[1969]2000.) <?page no="15"?> E INLEITUNG 11 nennungen zwar früh dekretiert (1918) 14 , aber in einem nennenswerten Umfang und mit dem gebotenen Aufwand erst vollzogen werden (1921/ 22), als die Wirtschaft mit der Umstellung vom Kriegskommunismus auf die Neue Ökonomische Politik (NÖP: 1921-1928) vor einer Effizienzreform, d.h. als die Gesellschaft vor einer neuen Schwellensituation steht 15 . Entsprechende Handlungen werden - innerhalb oder am Rande von theatralisierten Veranstaltungen - ‘im Namen von’ bestimmten Zielsetzungen oder ihren Vertretern symbolisch überhöht (Porträt-Fahnen, Amboss-Schläge) und rituell ‘effektiviert’ (Vereidigungen, Fahnenweihen, Grundsteinlegungen), bevor sie etwa Mitte der 1920er Jahre neben anderen Praktiken als ‘imperative Sakralisierungen’ erstarren. Im Gegensatz zu konsensualen Ritualisierungen reproduzieren ‘imperative Sakralisierungen’ eine überlieferte Syntax von Ritualen zur Perpetuierung und Auratisierung ihrer Semantik, d.h. zur Zementierung bestehender Wert- und Machthierarchien, wobei dem betreffenden Umfeld die Möglichkeit des Mitwirkens und der Gestaltung solcher Prozesse weitgehend verwehrt wird (Schlusswort 3.). Es leuchtet unmittelbar ein, dass diese Schwellenphasen in die genannte Hoch--Zeit der Revolutionsfeste und -feiern hineinwirken, den besonderen Stellenwert / das ‘spezifische Eigengewicht’ von Fest und Ritual erhöhen, ihre Wechselwirkung intensivieren, und so die Massenschauspiele als Grenzgänger einer ästhetischen und einer außerästhetischen Ausdrucksform ausweisen. Weniger evident und meine erste Grundthese ist, dass diese Vorgänge nicht primär als rational ausgeklügeltes Produkt oder als vorsätzlich oktroyierte Praktik machtpolitischer Kontroll- und Manipulationsmechanismen erfolgen, sondern als kulturelle Identitäts- und Orientierungswerte - als kultisch ver- 14 NN: „Dekret des Rates der Volkskommissare über das Recht der Bürger, ihre Familien- und Spitznamen zu ändern“ vom 04.03.1918. In: Achapkin, Ju. (Hg.): Wladimir Uljanow-Lenin. Die ersten Dekrete der Sowjetmacht. Berlin 1970. S.125f. - NN: „Dekret des Rates der Volkskommissare über die Denkmäler der Republik“ vom 12.04.1918. In: Achapkin.1970.139f. (= „Dekret Denkmäler.1918.“) - NN: „Iz soobščenija o prazdničnom oformlenii Moskvy i Petrograda k I godovščine Oktjabrja, opublikovannogo v gazete ‘Izvestija VCIK’“ [„Aus der Mitteilung zur Gestaltung der Feiern in Moskau und Petrograd am I. Jahrestag des Oktobers, abgedruckt in der Zeitung ‘Nachrichten des VCIK’ [Vserossijskij central’nyj ispolnitel’nyj komitet = Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee]“] vom 09.11.1918. In: Tolstoj, V.P. / Bibikova, M.I. / Levčenko, N.I. (Hg.): Sovetskoe dekoracionnoe iskusstvo. Materialy i dokumenty 1917-1932. Agitacionno-massovoe iskusstvo. Oformlenie prazdnestv [Die sowjetische Ausstattungskunst. Materialien und Dokumente 1917-1932. Agitations- und Massenkunst. Die Gestaltung der Feste]. Moskva 1984. Dok.16. S.69f. (= „Mitteilung Gestaltung Moskau und Petrograd I. Oktober-Jahrestag.1918.“) 15 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.82f. - Mazaev.1978.354. „Der Name impliziert so einen Komplex von Verhaltensanweisungen wie auch von Verboten; der Akt der Benennung ist nicht nur Namensgebung, sondern konstituiert diese Regeln.“ (Boesch, E.E.: Kultur und Handlung. Einführung in die Kulturpsychologie. Bern, Stuttgart, Wien 1980. S.85.) - Zum Thema „Namen“ siehe das „Mythologische Bewusstsein“ in Kap.III.3., FN547/ 557. <?page no="16"?> E INLEITUNG 12 ankerte Formen der Vergemeinschaftung und sozialpsychologischen Absicherung - Erfolg haben. Die nachstehenden Untersuchungen vollziehen daher dezidiert einen Perspektiv-Wechsel von der Intention oder Produktion der Masseninszenierungen auf ihre Wahrnehmung und Rezeption, welche vom russisch-orthodoxen Glaubens- und Wertesystem geprägt sind. Aus den bislang kaum erforschten Wechselwirkungen mit der frühsowjetischen Festkultur ergibt sich vor dem Hintergrund von Revolution und Bürgerkrieg eine rational nicht reduzierbare und sozial weitgehend unkalkulierbare Dynamik symbolischer Kommunikationsprozesse, die am Beispiel der Petrograder Massenaufführungen und ihrer spezifischen Theatralität untersucht werden. Während also der Einzelne zu Beginn der Revolution mit neuen Raum- und Zeitwerten oder Verhaltens- und Festformen eher faktisch konfrontiert war, wurde das Kollektiv am Ende dieser Periode zunehmend rituell auf sich und die bevorstehenden Veränderungen und Dimensionen eingeschworen (Schlusswort 3.): Mit dem Ende des Bürgerkrieges Mitte November 1920 endete auch die Rätebewegung, welche die Umwälzungen eingeleitet und noch vor dem Machtwechsel vielfältige Strukturen dezentraler Selbstverwaltung hervorgebracht hatte. Seit Mitte des Jahres 1920 nahm die Intensität administrativer und institutioneller Zentralisierung und parteipolitischer Kontrolle spürbar zu 16 . Am 18. März 1921 werden nicht nur die Massenfeiern zum 50. Jahrestag der Pariser Kommune 17 abgebrochen: Das lange Aufbäumen der russischen Revolution wird als kurzer Prozess gegen die aufständischen Matrosen von Kronstadt zunichte gemacht (Schlusswort 4., FN1172) — und damit auch der experimentelle Charakter und der regulative Wert der Revolutionsfeste verwirkt. Im Zuge der NÖP versickerte die theatrale Selbstorganisation ‘im kleinen Karo’ der zentralistischen Ordnung landesweiter Klubarbeit: die Zeit der großen, ungestümen, revolutionären Massenschauspiele war vorbei. Seit Mitte der 1920er Jahre zogen an den Revolutions- Feiertagen Agitations-Umzüge mit satirischen Figuren und Pappmaché- Modellen als „Polit-“ oder „Produktions-Karneval“ durch die Straßen. In den 1930ern wich die bunte Heterogenität einer rotleuchtenden Einheitspracht und ausladenden Symmetrie von pompösen Parteizeremonien, Truppenparaden und Leistungsschauen auf den Plätzen der Städte. 18 16 Židkov.1991.92. 17 Piotrovskij, A.I.: „Peterburgskie prazdnestva“ [„Die Petersburger Feiern“]. In: Bloch, Ja. / Gvozdev, A. / Kuzmin, M. (Hg.): Zelënaja ptička [Das grüne Vögelchen]. Petropolis 1922. S.162. - Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.76f. 18 Strigalëv, A.: „Agitacionno-massovoe iskusstvo (Agitprop) [„Agitations- und Massen- Kunst (Agitprop)“]. In: Pariž - Moskva / Moskva - Pariž [Paris - Moskau / Moskau - Paris]. (Ausstellungskatalog). [Band I.]. Moskva 1981. S.113f. (= Strigalëv.(1981).) <?page no="17"?> E INLEITUNG 13 2. „Ausschlag“ oder „Wangenröte“? Dennoch hatten die Feste und Inszenierungen durch symbolische Markierungen und rituelle Praktiken, durch Einbezug besonderer Motive oder Ausgrenzung bestimmter Personengruppen andere Wahrnehmungsmuster etabliert und ein neues Gefüge sozialer Verkehrsformen und zeiträumlicher Dimensionen geprägt. Noch 1920 arbeiteten im gesamten Stadtgebiet Petrograds mit einer mehr als kriegshalbierten Bevölkerung von unter 670.000 Einwohnern immerhin 300 (registrierte) Theaterzirkel — eine von den Behörden minimierte Zahl zur Sicherung des (schwindenden) Überblicks 19 : „Die große Zahl dieser Probebühnen und der an ihnen beschäftigten Schüler gab Anlaß zu dem bekannten Witzwort, daß Rußland bald von lauter Schauspielern bewohnt sein würde, daß aber kein einziger Zuschauer übrigbliebe.“ 20 Ein Kritiker mahnte, den Zoologischen Garten nicht mehr allein den Kleinkunst-Aufführungen zu überlassen, sondern sich - wie in anderen europäischen Metropolen - auf den wissenschaftlichen und didaktischen Ursprung und den klassischen Bildungsauftrag dieser Einrichtung zu besinnen 21 . Über Jahre agierten das öffentliche Leben und die städtische Infrastruktur in einem Ausnahmezustand und an ihrer Leistungsgrenze, was den Kulturtheoretiker und Zeitzeugen V.B. Šklóvskij noch 1923 zu folgendem ironischen Kommentar veranlasste: 19 Piotrovskij, A.: „Teatr vsego naroda. [1.] Teatral’nyj kružok“ [„Ein Theater des ganzen Volkes. [1.] Der Theaterzirkel“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°456/ 457 vom 20./ 21.05.1920. S.1. - Rafalovič, V.Je. / Kuznecov, Je.M. / Mokul’skij, S.S. (et al.): Istorija sovetskogo teatra. Tom pervyj. Petrogradskie teatry na poroge Oktjabrja i v ė pochu Voennogo kommunizma 1917-1921 [Geschichte des sowjetischen Theaters. Erster Band. Die Petrograder Theater an der Schwelle zum Oktober und zur Zeit des Kriegskommunismus 1917-1921]. Leningrad 1933. S.285. Altrichter nennt 2,2 Millionen Einwohner (davon 70% Bauern) für das Jahr 1917, Trabskij geht von etwas über 1,5 Millionen aus. Im August 1919 waren es nach Schlögel „/ .../ nur noch 667.963“ (Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij zufolge für 1920: 800.000 Einwohner), sowie 1800 Zirkel und Klubs für die Rote Armee und Flotte während des Bürgerkriegs (Angaben der PUR = Politische Verwaltung des Militärrats / Militärbezirks), so dass „im Durchschnitt jeder Rotarmist etwa einmal pro Woche eine Aufführung sah — entweder in einem professionellen Theater oder die Vorstellung einer Laiengruppe.“ (Altrichter, H.: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst. Paderborn, München, Wien 1997. S.35+64f., 42., 51. - Trabskij, A.Ja. (Hg.): Russkij sovetskij teatr 1921-1926. Dokumenty i materialy. [Das russische sowjetische Theater 1921-1926. Dokumente und Materialien]. Leningrad 1975. S.6. - Schlögel, K.: „Petrograd als Schaubühne. Die inszenierte Revolution“. In: Ders.: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921. Berlin 1988. S.437+384.) - „Die Statistik zeigt, dass zur Zeit der Nationalisierung der Theater [im August 1919, MD] jeder Arbeiter die Möglichkeit hatte, siebenmal im Monat Schauspiele zu sehen.“ (Scherscheniewitsch in Kritschewski/ Kersten.1923.65.) 20 Scherscheniewitsch in Kritschewski/ Kersten.1923.69. 21 Dmitriev, N.: „V byvšej ‘Zoologii’“ [„In der ehemaligen ‘Zoologie’“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°284-285 vom 04./ 05.11.1919. S.3. <?page no="18"?> E INLEITUNG 14 „Wirklich, keiner weiß, was man mit den Theaterzirkeln machen soll; sie vermehren sich wie Ausgusstierchen. Weder Brennstoffnoch Nahrungsmangel noch die Entente — nichts kann ihre Vermehrung aufhalten. / .../ Und Russland spielt, es spielt, es vollzieht sich irgendeine naturgewaltige Verwandlung von lebendigem in theatrales Gewebe. / .../ Die Massenfeier des Volkes, die Demonstration seiner Leistungskraft, die Freude der Menge ist eine Bestätigung des heutigen Tags und eine Apotheose. Sie ist legitim, wenn niemand sie aus dem Fenster oder von einer besonderen Tribüne verfolgt, andernfalls artet sie zur Parade, zum Leibeigenen-Ballett oder zur Blaskapelle aus. Und schon deshalb ist sie kein Maskenball und kein Theater. / .../ Diese Millionen von Zirkeln kann man nicht schließen — man kann dem Menschen nicht verbieten zu phantasieren; sie sind der Ausschlag einer Krankheit, und als solcher verdienen sie die Aufmerksamkeit des Soziologen. [kursiv MD]“ 22 Die Ausdehnung und Resistenz dieses „Ausschlags“ diagnostiziert der Chronist theatraler Selbstorganisation und Regisseur von Massenschauspielen A.I. Piotróvskij dagegen zunächst als eine „gesunde Wangenröte“ 23 , die allein eine Regeneration des proletarischen Berufstheaters und des neuen Staates bewirken könnte. Auch in den folgenden russischen Darstellungen wird die frühe Theater- und Festkultur von Befürwortern oder Gegnern der Revolution als lange unterdrückter Selbstausdruck der Gesellschaft in naturgewaltigen, medizinischen oder energetischen Metaphern beschrieben: „Wie viele [Zirkel für Kultur und Aufklärung, MD] entstehen tagtäglich, wie Glühwürmchen, in der endlosen Finsternis unserer Dörfer und Einöden! “ 24 „Alles sieht verändert aus, wie nach einem Erdbeben. / .../ Alles erhält eine neue Sichtweise, alles ist neu geworden, innen wie außen.“ 25 „Noch nie wurde das Land von solch einem Theaterfieber erfasst, wie in den Jahren der Revolution.“ 26 Die ersten westlichen Funktionszuschreibungen werteten den theatralen Aufbruch indes als Abwehrreaktion oder Fluchtweg aus dem Bürgerkriegselend 27 , ohne zu bedenken, dass die Mühen und Pflichten freiwilliger Theaterarbeit 28 eine weitere Belastung durch die zusätzliche Einbindung in den Kriegs‘alltag’ darstellten ( ❐ 1+2). Diese aus zahlreichen Zeugenberichten 22 Šklovskij, V.B.: „Drama i massovye predstavlenija“ [„Drama und Massenschauspiele“]. In: Ders.: Chod konja [Der Rösselsprung]. Moskva, Berlin 1923. S.59f. 23 Piotrovskij, A.I.: „Ne k teatru, a k prazdnestvu! “ [„Nicht für das Theater, sondern für das Fest! “] (1921). In: Ders.: Za sovetskij teatr! [Für ein sowjetisches Theater! ]. Leningrad 1925. S.25f. (= Piotrovskij.(1921/ b).1925.) 24 V.A.: „O kružkach“ [„Über die Zirkel“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°26, 1919. S.6. (= „Über die Zirkel.1919.“) 25 Lunačarskij, A.V.: Stat’i o sovetskoj literature [Aufsätze zur sowjetischen Literatur]. Moskva 1958. S.97. Zitiert in: Mazaev.1978.231. 26 Markov.(1927).1976.441. 27 Orlovsky, S.: „Moscow Theatres 1917-1941“. In: Bradshaw, M. (Hg.): Soviet Theatres 1917-1941. New York 1954. S.8. - Hierzu auch: Gorčakov, N.A.: Istorija sovetskogo teatra [Geschichte des sowjetischen Theaters]. N’ju Jork 1956. S.60f.+87f. 28 „Über die Zirkel.1919.6.“ <?page no="19"?> E INLEITUNG 15 ersichtliche Intensität der russischen revolutionären „Schaugepränge“ 29 , die als „crude but effective“ 30 berühmt und als „monster-affair“ 31 berüchtigt wurden, setzen sich als Faszinosum bis in die vorliegende Arbeit fort: Šklóvskijs Seufzer, man könne „dem Menschen nicht verbieten zu phantasieren“ gilt für das ‘Herbeifeiern’ des Revolutionssieges in und durch die Massenschauspiele — ebenso wie für die „wilde Analogie“ 32 einer wissenschaftlichen Reflektion darüber. 3. Kontaminationen und Konfrontationen Die Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Thema beginnt dort, wo bei der Konfrontation verschiedener Kulturen oder Leserichtungen bestimmte Begriffe solange ‘gegengebürstet’ werden, bis ähnliche Strukturen oder gemeinsame ‘Synapsen’ zu erkennen sind (was nicht forciert wird, aber gelingen kann: siehe „Sobórnost’“ und „Communitas“ in Kap.II.1.4.). Eine dieser Schnittstellen ist die Erkenntnis eines Kräfte-Ausgleichs der Petrograder Masseninszenierungen zwischen Fasten und Festen. So schreibt der Theoretiker und Funktionär des Proletkult P.M. Keržéncev: „Alle Kritiker und Augenzeugen sprachen begeistert von diesen Aufführungen und vertraten die Ansicht, dass damit endlich der Weg zu dem neuen, den Bedürfnissen der Massen entsprechenden Theater gefunden sei.“ 33 Und der Publizist und Augenzeuge A. Holitscher bemerkt: „Über den ethischen, den künstlerischen Wert, die historische Berechtigung solchen Schauspiels kann man seine Ansicht formen wie man mag. Packend, tollkühn, aufrüttelnd und in den innersten Fibern erschütternd war es. Unvergeßlich durch seine Unmittelbarkeit, Licht, Bewegung, durch die Idee der Masse, die es trug. / .../ Die Erneuerung, das Wiedererwachen des Kollektiv- 29 Holitscher, A.: „Das Theater im revolutionären Rußland“. In: Kunst und Volk. Heft 4. Berlin 1924. S.24. (= Holitscher.(1924).) 30 Carter, H.: The New Spirit in the Russian Theatre 1917-1928. London, New York, Paris 1929. S.140. 31 Lawton.1927.418. 32 Damit bezeichnet G. Bateson eine unkonventionelle Anwendung morphologischer oder kognitiver Muster auf bestimmte Forschungsfelder. Dieser „wissenschaftliche Mystizismus“ verknüpft das Initialinteresse („wilde Ahnungen“) und die Systematik („strenge Konkretheit“) des Forschers, das „lockere“ und „strenge“ Denken seiner Vorgehensweise. (Bateson, G.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven [1972]. Frankfurt a.M. 1994. S.115f.+132.) (= Bateson.[1972]1994.) 33 Keržencev, P.M.: Das schöpferische Theater [1920]. Köln 1980. S.213. Hier wird die Reprint-Ausgabe der deutschen Übersetzung (1922) der erweiterten russischen Ausgabe (1920) zitiert. (Ders.: Tvorčeskij teatr. Erstausgabe: Moskva 1918. (= Keržencev. [1920]1980.) <?page no="20"?> E INLEITUNG 16 gefühls rechtfertigt das neue russische Volksfest inmitten der bittersten Not des Landes.“ 34 Eine andere ‘Synapse’ ist bis heute aktiv: Wenn der damalige Volksbildungskommissar A.V. Lunačárskij die Petrograder Feste als „wirklichen Verdienst“ 35 und Šklóvskij die theatrale Selbstorganisation als echtes Symptom beschreibt, gilt dieses „Fieber“ in Fortsetzung der medizinischen Logik für eine Virulenz von Krankheit, ebensosehr wie für die Aktivierung von Heilung. Aus heutiger Sicht stellt diese Kräftemobilisierung für den Kulturhistoriker K. Schlögel umso mehr ein Selbstregulativ dar, als es aus einer Krise heraus, d.h. noch vor dem verbürgten Sieg der Revolution erfolgt: „Eine Revolution, die sich selber spielt, hat gesiegt; sie hat Kraft bewiesen für die Tathandlung und hat einen Atem, der auch noch fürs Spiel reicht. Die Revolutionierung des Theaters steht im Einklang mit der Zeit, mit dem Unwirklichwerden der überkommenen Verhältnisse und den noch nicht Wirklichkeit gewordenen neuen.“ 36 Ein konkreter Auslöser für diese Arbeit war schließlich die Faszination vor dem Umschlagmoment der quantitativen Kontagiosität eines allgegenwärtigen ‘Wetterleuchtens’ von Fest und Theater in eine qualitative Kontamination von Realität und Fiktion: Das Aufgebot tausender echter Kämpfer und realer Kriegslogistik schildert Holitscher als „grauenhaft, entsetzenerregend... / .../ Wir hinter unserem Fenster waren ein wenig bleich geworden. Wir wußten es genau: solche Gelegenheiten pflegte die Gegenrevolution — nicht etwa eine von Schauspielern gestellte, sondern die wirkliche / .../ abzuwarten, um unter der Decke des Theaterdonners und der Aufregung Putsche und Aktionen zu inszenieren und auch zu vollführen. Es gab hierfür Anhaltspunkte, Präzedenzfälle.“ 37 34 Holitscher.(1924).22. 35 Lunačarskij, A.V.: „Pervoe maja 1918 goda“ [„Der Erste Mai 1918“] (1918). In: Ders.1981.81. (= Lunačarskij.(1918/ a).1981.) 36 Schlögel.1988.355. 37 Holitscher.(1924).22. - Gegen mögliche Angriffe war Mazaev zufolge auch die Formation des Erster-Mai-Festzugs 1918 in Petrograd konzipiert (Kap.III.4., FN626). - Von ähnlichen Übergriffen berichtet P.M. Keržencev. In Jekaterinodar wurden am 01. Mai 1919 „vier Begebenheiten des revolutionären Kampfes des Proletariats“ aufgeführt: „Die Massenhandlung wirkte packend. Als z.B. die Beerdigung der durch die Gendarmen getöteten Arbeiter zur Darstellung kam und ein Trauermarsch ertönte, stimmte die ganze Masse entblößten Hauptes in den Gesang ein. Auch der aus dem Mittelalter so gut bekannte Zwischenfall ereignete sich: Der Schauspieler, der den Schutzmann mimte, wurde von Publikum übel zugerichtet.“ (Keržencev.[1920]1980.213f.) <?page no="21"?> E INLEITUNG 17 Diese Befunde (Šklóvskij, Schlögel, Holitscher) formulieren vier jeweils gegenläufige Prozesse, die bislang gültige Wahrmehmungskonventionen von Theater auf eine völlig neue und radikale Weise infragestellen: Erstens bestimmt die latente Realität der Konterrevolution, die meist von der Peripherie her agierte, die akute Wirklichkeit des Schreckens in der Revolutionsmetropole: dieser Wahrnehmungsmodus wird durch die besondere Inszenierungsform und Erlebnisweise verstärkt und lässt sich als ein ‘perzeptiver Konjunktiv’ bezeichnen — ein Prozess wiederholter, fortlaufender Täuschung bis zur Verwirrung von Sinn und Sinnen, der imstande ist, Unterscheidungskriterien für ästhetische oder außerästhetische Vorgänge aufzulösen, Vergewisserungen oder Vorkehrungen auszuhebeln, und der oftmals nur die paradoxe Gewissheit des Zweifels am beobachteten Geschehen zulässt. Zweitens sind theatrale Zeichen und Verfahren auch über den Moment hinaus imstande, verbindliche Tatsachen und damit einen ‘situativen Indikativ’ zu schaffen, d.h. aus der ästhetischen Handlung heraus eine außerästhetische Konsequenz zu etablieren — zum Teil mit körperlichen Folgen 38 . Drittens bezieht die Realität des Feierns ihre Intensität und Wirkung aus der (Noch)Nicht-Realität des Sieges: Anders als bei kalendarischen oder lebenszyklischen Festen treten Anlass (die Revolution) und Grund (ihr Erfolg) auseinander und provozieren die Frage: Was wird hier dem Augenschein nach gespielt oder gefeiert? Und welche Prozesse artikulieren sich auf den zweiten Blick oder auf längere Sicht? Viertens vollzieht sich „irgendeine naturgewaltige Verwandlung von lebendigem in theatrales Gewebe“ (Šklóvskij) und damit auch eine Veränderung der Teilnehmer im Zuge dieser Kontaminationen, die als zutiefst „erschütternd“ (Holitscher) erlebt wird, und deren „unwirkliche Wirklichkeit“ (Schlögel) insofern mit der Schwellenphase eines Übergangsrituals verglichen werden kann. Aus der oszillierenden - teils faktischen, teils fiktiven - Realität dieser Vorgänge resultiert die Frage, inwieweit eine Massenaufführung als Fest oder als Feier verläuft, oder inwieweit sie - da rituelle Praktiken dort nicht bloß vorsondern auch durchgeführt werden - selbst als Ritual zu begreifen ist. Aus der wirkmächtigen „Unmittelbarkeit“ (Holitscher), die in diesen vier Gegenläufigkeiten spektakulär zutage tritt, ist für diese Arbeit zweierlei festzuhalten: erstens handelt es sich um eine Überschreitung des Alltagsbewusstseins, d.h. einer grundlegenen Dimension, die den Gegenpart aller Feste und seit Platon den Ausgangspunkt nahezu aller Theorien und Deutungen dazu bildet 39 . Weniger geläufig und umso mehr zu betonen ist zweitens, dass damit 38 „There were in these skirmishes not a few cases of maiming, because the audienceactors were so carried away that they forgot that this was only a theatrical production.“ (Orlovsky in Bradshaw.1954.25.) - Siehe dazu das Finale im S TURZ (Kap.IV.2.1., FN706/ 715) mit der offiziellen Beförderung der Theatertruppe. 39 Durkheim, É.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens [1912]. Frankfurt a.M. 1981. S.514. (= Durkheim.[1912]1981.) - Pieper, J.: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes. München 1963. S.67+81. (= Pieper.1963/ a.) - Ders.: Über das <?page no="22"?> E INLEITUNG 18 auch eine Durchbrechung der Kriegserfahrung einhergeht. Hieraus leitet sich meine zweite Grundthese ab: beide Formen der „transgression“ (R. Caillois) werden erst durch die spezifische Theatralität der Petrograder Massenschauspiele und ihrer konstitutiven Elemente „Fest“ / „Feier“ und „Ritual“ formuliert, vermittelt und wahrnehmbar. Bevor eine nähere Erläuterung des Begriffs „Theatralität“ folgt, wird hier das Verhältnis zwischen Fest / Feier und Ritual kurz skizziert. Die Klassifizierung von Festen oder Feiern ist bislang weniger elaboriert als die von Ritualen — ein Manko, das von der Forschung wiederholt beklagt wurde 40 . Ein Grund hierfür mag im Spiel dichotomischer Bestimmungen und ihrer semantischen Rückkoppelungseffekte liegen, so z.B. im weitergefassten und qualitativ anders empfundenen Fest, dessen Vollzug im Verb keine Entsprechung hat, und in der eingeschränkten Bedeutung der Feier mündet: man „festet“ nicht — man „feiert“ 41 . Die Klassifizierung erfolgt meist nach Anlässen 42 oder nach Funktionen 43 : „Es gibt so / .../ eine Gedächt- Phänomen des Festes. Köln und Opladen 1963. S.7f. - Hugger, P.: „Das Fest — Perspektiven einer Forschungsgeschichte“ (Einleitung). In: Hugger, P. / Burkert, W. / Lichtenhahn, E. (Hg.): Stadt und Fest. Zur Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Stuttgart 1987. S.10. - Bubner, R.: „Ästhetisierung der Lebenswelt“. In: Haug, W. / Warning, R. (Hg.): Das Fest. München 1989. S.652. - Schrey, H.-H.: „Fest ohne Ende — Überlegungen zum Problem der Festlichkeit“. In: Beilharz, R. / Frank, G. (Hg.): Feste. Erscheinungs- und Ausdrucksformen, Hintergründe, Rezeption. Weinheim 1991. S.26. - Caillois.[1950]1988.24f., 129f., 150f. 40 Diskussionsbericht I, S.154 (zur Vorlage von Küchenhoff, J.: „Das Fest und die Grenzen des Ich. Begrenzung und Entgrenzung im ‘vom Gesetz gebotenen Exzeß’). Beides in: Haug/ Warning.1989. - Maurer, M.: „Feste und Feiern als historischer Forschungsgegenstand“. In: Historische Zeitschrift. Band 253, 1991. S.129. (= Maurer.(1991).) 41 „Obgleich gewiß ganz enge Zusammenhänge bestehn und die Übergänge sehr fließend sind, ist Festlichkeit doch nicht einfach eine gesteigerte Form der Feierlichkeit, sondern eine ganz andre Weise des Bewußtseins. [fett MD]“ (Bollnow, O.F.: Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existenzialismus. Stuttgart 1955. S.222.) 42 Schrey unterscheidet lebenszyklische Feste („rites de passage“), Naturfeste, heilsgeschichtliche Feste und nationale Festtage. (Schrey in Beilharz/ Frank.1991.26.) 43 V. Lanternari entwickelt vier anthropologische Konstanten des Festes, die jeweils ein Bündel von Funktionen darstellen: 1. Geselligkeit, 2. Teilnahme, 3. Ritualität, 4. vorübergehende symbolische Aufhebung der Ordnung. (Lanternari nach Hugger in Hugger/ Burkert/ Lichtenhahn.1987.19.) W. Gebhardt identifiziert vier Grundmuster, die hier in der Zusammenfassung von M. Maurer zitiert werden: „Die erste Gruppe von Erklärungsansätzen läßt sich auf Sigmund Freud und Émile Durkheim zurückführen. Für diese ist Fest Flucht aus der Wirklichkeit, Exzeß, Rückbezug auf das Göttliche, individuelle und kollektive Regeneration, die für den Bestand einer Gesellschaft lebenswichtig ist. / .../ Der zweite Ansatz, den etwa Josef Pieper und Karl Kerényj vertreten, sieht im Gegensatz dazu Ruhe und Kontemplation als Prinzip des Festes: Der Mensch besinnt sich, durch Gestaltung rhythmisch wiederkehrender Zeitabschnitte, auf sich selbst; das Feiern relativiert die Arbeitswelt und umgreift sie zugleich. / .../ Die dritte Gruppe (Gerhard Martin und Harvey Cox / .../ ) betont als Prinzip der Feste und des Feierns die Aufhebung der Alltagswelt, die Umkehrung der sozialen Ordnungen, die Bewußtseinserweiterung und <?page no="23"?> E INLEITUNG 19 nisfeier, nicht aber ein Gedächtnisfest.“ 44 — obwohl Letzteres den formulierten Zweck durchaus erfüllen kann. Diese Interferenz setzt sich in einer ähnlichen Symbolrelation fort, welche die Grenze von Feier und Ritual verwischt und beides in denselben Problem- / Funktionszusammenhang drängt 45 : hier wird eine Begebenheit erinnert oder instituiert und markiert, die als so bedeutend gilt, dass sie vor einer „höheren“, öffentlichen (öffentlich anerkannten) Instanz vollzogen und beglaubigt werden muss. Während das Fest nur einen Anlass braucht, um sich selbst zu entfalten und sich selbst zu genügen, werden „Feier“ und „Ritual“ zum Medium einer äußeren Zielvorgabe mit einer „vorgeschriebenen Weise der Durchführung“ (Bollnow), wodurch beides zu einem symbolischen Vorgang wird (vgl. „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2.) 46 . Ohne entsprechende Feier sind Rituale zweifellos kaum vorstellbar. Doch ebenso unzweifelhaft ist, dass Feste / Feiern meist Rituale enthalten, aber auch ohne sie auskommen 47 . Diese Verschiebung deutet wiederum auf eine unterschiedliche Strukturrelation zwischen Feier / Ritual und Fest, wie in den Einzeluntersuchungen zu sehen bleibt: Ersteres wird „veranstaltet“ oder „arrangiert“ und verläuft „geregelt“ bzw. ist „inszeniert“, Letzteres kann „glücken“ oder „misslingen“ (weitere Abgrenzungen siehe Steigerung des Lebens in Richtung auf eine gerechte, glückliche Welt. / .../ Die vierte Tendenz schließlich, die sich gern auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bezieht, ist durch einen zugleich kulturkritischen und politischen Impetus gekennzeichnet; das Fest sieht sie in der Moderne unter den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu einem Herrschaftsinstrument der politisch und ökonomisch Mächtigen pervertiert.“ (Maurer.(1991).102. - Gebhardt, W.: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1987. S.36f.) R. Bubner sieht im Funktionalismus der Feste ein Symptom ihrer Veralltäglichung und Banalisierung, die sich im Rahmen einer allgemeinen „Ästhetisierung der Lebenswelt“ abspielt: „Wo es nichts von der üblichen Pragmatik Abgehobenes zu feiern gibt, verschönt man, was man hat, so gut es geht.“ (S.656). Zu diesem ernüchternden Befund gehört ein utilitaristischer Funktionsbegriff, der seine transzendente Dimension eingebüßt habe: „Wir leben in einer Welt der Funktionen. Alles ist um eines andern willen da und deshalb liegt der Sinn der meisten Dinge jenseits ihrer selbst.“ (S.657). Folgerichtig entwirft er drei „Deutungsvarianten“ von Festen (eine theologische, humanistische und ästhetische), die einen Säkularisierungsprozess nachzeichnen. (Bubner in Haug/ Warning.1989.651f.) 44 Bollnow.1955.216. - Koch, R.: „Fest oder Feier? Eine Bedeutungsanalyse“. In: Beilharz/ Frank.1991.35.+37. 45 Bei Schrey wird dies schon begrifflich augenfällig: „Was im Ablauf des Festrituals sich ereignet, ist Wiederholung der Anfangssituation im alljährlichen Vollzug des Kultdramas. [kursiv MD]“ (Schrey in Beilharz/ Frank.1991.25.) 46 „Die Handlung wird dadurch zum symbolischen Vorgang. Der Mensch vollzieht sie nicht als Einzelperson, sondern als Träger einer höheren Funktion. Und umgekehrt: eine symbolische Bewegung kann nicht anders als feierlich vollzogen werden.“ (Bollnow.1955.219.) 47 Martin, G.M.: Fest und Alltag. Bausteine zu einer Theorie des Festes. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1973. S.75. <?page no="24"?> E INLEITUNG 20 Kap.V.4.). In den Fallbeispielen dieser Arbeit wird der jeweilige „Rahmen“ 48 eine genauere Abgrenzung dieser Begriffe liefern, und das Verhältnis zwischen Vorgabe (Konzept) und Effekt (Kontingenz) beleuchten. Zu diesen spezifischen Merkmalen der Massenschauspiele tritt das transgressive Phänomen „Krieg“ hinzu. Auch kriegsfernen Generationen ist (politkorrekterweise) geläufig, dass der Krieg politisch ein Versagen, sozial eine Verheerung, und ethisch die Umwertung aller Werte darstellt. Weniger vertraut dürfte die Vorstellung sein, dass der Krieg noch diese Ankerpunkte und Fundamente zerlegt, indem er willkürlich und ultimativ eine Pervertierung und Entstellung aller Maßstäbe, aller Zeichen, Größen und Relationen durchführt. Die aktuelle Traumaforschung ist sich einig, dass niemand heil aus einem Krieg herauskommt, sei es wegen schwerer Verletzungen oder Traumata, sei es aufgrund seines Suchtpotentials („war junkies“). Der Krieg endet, das Desaster bleibt: seine Obsessionen und Obszönitäten setzen sich generationell fort — „bis ins 7. Glied“. Daraus folgt, dass Krieg psychopathologisch betrachtet auch nach seinem Ende ein Eskalationsgenerator, semiotisch gesehen ein höchst effizienter Mechanismus der Umkodierung und ontologisch gesprochen ein ‘Konzept des Absoluten’ ist. Somit bildet er die zeitliche Klammer und die historische Folie aller Situationsbeschreibungen der hier behandelten Epoche, und wirkt sich in gravierender Weise auf das Wechselverhältnis von Feier, Ritual und Fest aus: In struktureller Hinsicht bildet der Ausnahmezustand die Schnittmenge von Fest und Krieg, da in beiden Fällen eine Verausgabung materieller Güter und ein Verschleiß moralischer Kräfte stattfinden 49 . Ferner - so mein Befund - stellt die Statusänderung eine funktionale Affinität zwischen Ritual und Krieg her (privat und öffentlich: Wer aus dem Krieg zurück- oder herauskommt - tot oder lebendig - ist ein Anderer, mit oder ohne Zeremonie. Ist er Derselbe, befindet er sich noch oder für immer mittendrin, als ‘Verlorener’: verschollen oder traumatisiert.). In formaler Hinsicht bestehen zahlreiche Überschneidungen dieser Bereiche (Fest / Ritual / Krieg) zum Theater (Fest- und Kultkleidung mit Schmuck als Statusmarken / Uniform mit Dekor nach Rangstufen / Kostüm mit Requisit nach Rollentypus — Bewegungsabläufe im Festrausch und 48 Der Begriff „Rahmung“ geht auf G. Bateson und E. Goffman zurück und beschreibt die mehr oder minder ausgeprägten Markierungen natürlicher Ereignisse und sozialer Handlungen, anhand derer sich der Wirklichkeitsgrad einer Situation ermitteln lässt, „was tatsächlich vor sich gehe, während es sich in Wirklichkeit einfach um einen Scherz oder einen Traum oder einen Zufall oder einen Fehler oder ein Mißverständnis oder eine Theateraufführung usw. handeln kann.“ (Goffman, E.: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen [1974]. Frankfurt a.M. 1993. S.18f. (= Goffman.[1974]1993.) - Bateson.[1972]1994.248f.+252f.) 49 Diesen ambivalenten Zusammenhang von Fest und Krieg im Sinne eines „Totalphänomens“, das sich als „Intensivierung von existenzieller Erfahrung“ umschreiben lässt (Aufwand und Austausch materieller Güter, Kohäsion [„Jungbrunnen“] und Auflösung [„Blutbad“] sozialer Kräfte) hat Caillois eindrucksvoll dargestellt. (Caillois.[1950]1988.164., 219f., 225f.) <?page no="25"?> E INLEITUNG 21 bei Zeremonien / Handlungssequenzen bei Übungen und im Ernstfall / Trainingseinheiten und Körperimprovisationen bei Proben und beim Auftritt), ohne dass diese Bereiche jedoch ineinander aufgehen. Es ist also die besondere Theatralität der Massenschauspiele, die im Grenzgang zwischen Faktizität und Fiktionalität („Realismus“ - „Schematismus“: Kap.I.1.4.), zwischen außerästhetischen und ästhetischen Ausdrucksformen das Alltagsbewusstsein und die Kriegserfahrung, das Fest und das Ritual einer Transformation unterzieht. Diese transformative Dynamik erfordert eine Schärfung der primären Wahrnehmung (wie Holitschers Bericht zeigt), und der sekundären Begrifflichkeit (wie hier gezeigt wird) — insbesondere des hier verwendeten Theatralitätsbegriffs. Die Autonomie verschiedener Kunstgattungen 50 ebenso wie die Reziprozität von außerästhetischen und ästhetischen Prozessen postuliert erstmals V.Ja. Brjúsov: „Sowohl Tolstoj als auch ich begreifen Kunst [in Abgrenzung zur „Schönheit“, MD] als ein Mittel der Kommunikation [srédstvo obščénija]“ 51 , das zwar jeweils eigene Merkmale und Regeln ausprägt, sich aber sein (unbewusstes) Movens mit anderen Bereichen wie der Wissenschaft und der Philosophie teilt 52 . Am Ende des positivistischen Jahrhunderts kommt Brjúsov in einer kausalen ‘Re--Volte’ zu einer verblüffenden und folgenreichen Erkenntnis: „Es ist falsch, in der Kunst nur das vom historischen Moment Geschaffene zu sehen; die umgekehrte Ansicht, dass das Leben und die Natur durch die Kunst geschaffen werden, ist um einiges richtiger.“ (1899) 53 Diese Verschiebung von der Kunst als Resultante zur Kunst als Determinante von Alltagswirklichkeit markiert den Beginn der russischen Moderne bis weit in die Künste und Geisteswissenschaften des 20.Jh. (Kap.I.1.4., I.4.). Mit Brjúsovs kühnem, ‘unerhörtem’ Befund verschafft sich kurz darauf N.N. Jevréinov Gehör — in der (Re)Formulierung von „Theatralität“ als einem universellen Gesetz der Transformation, deren Impuls in einem „prä-ästhetischen“ Instinkt gründe und in verschiedene außer/ ästhetische Bereiche hineinwirke. Im rhetorischen Fortspinnen redundanter Beispiel-Filamente erklärt Jevréinov die Transformation zu einem Instinkt, „/ .../ [der] ebenso mächtig und vital [ist] wie der Geschlechtstrieb.“ 54 Indem Jevréinov aber ausnahmslos jede Situationsveränderung auf diesen Instinkt bezieht - vom 50 Brjusov, V.Ja.: „O iskusstve“ [„Über Kunst“] (1899). In: Ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. Tom šestoj. Stat’i i recenzii 1893-1924 [Gesammelte Werke in sieben Bänden. Band sechs. Aufsätze und Rezensionen 1893-1924]. Moskva 1975. S.46f. (= Brjusov.(1899).1975.) 51 Ders.Ebd.43f. 52 Ders.Ebd.52f. 53 Ders.Ebd.49. 54 Jevreinov, N.N.: „Ob otricanii teatra“ [„Über die Verneinung des Theaters“]. In: Ders.: Teatr dlja sebja. Č.2. [Das Theater für sich selbst. Teil 2.]. Petrograd 1916. S.84. <?page no="26"?> E INLEITUNG 22 Binden einer Haarschleife bis zum Vatermord - expandiert er seinen Theatralitätsbegriff bis zur Unkenntlichkeit eines Theaters als solchen (1908) 55 oder eines Theaters für sich selbst (1916) — jenseits aller Diskurse (Kap.I.1.4.). Erst in den letzten Dekaden kristallisieren sich zwei Varianten von „Theatralität“ heraus, die um diese Jahrtausendwende zu heuristischen Instrumenten weiterentwickelt wurden, und in denen Theater auch als zeitgebundene Institution erkennbar bleibt. Demnach lässt sich „Theatralität“ einer ästhetischen und einer anthropologischen Kategorie zuordnen, die sich beide bedingen. Im ersten Fall geht der Begriff auf G. Craig zurück (1905), zielt auf die Eigenständigkeit von Theater als Kunstform, und beinhaltet „die Gesamtheit aller Materialien bzw. Zeichensysteme, die in einer Aufführung Verwendung finden und ihre Eigenart als Theater ausmachen, also die spezifische Organisation von Körperbewegung, Stimmen, Lauten, Tönen, Licht, Farbe, Rhythmus etc., wie sie von der Inszenierung vorgenommen wird.“ 56 Im zweiten Fall wird der Begriff auf das Extrakt aus Jevréinovs Postulaten zurückgeführt und als „allgemein kulturerzeugendes Prinzip“ bezeichnet, das auch andere Gattungen und Bereiche betrifft: „Theatralität wird hier als das ‘allgemein verbindliche Gesetz der schöpferischen Transformation der von uns wahrgenommenen Welt’ (Evreinov 1915) begriffen; sie wird als ‘prä--ästhetischer Instinkt’ des Menschen definiert, der als Kultur erzeugendes und die Kulturgeschichte vorantreibendes Prinzip nicht nur der Kunst, sondern auch der Religion, Recht, Sitte und Politik als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde liegt (Evreinov 1912, 15ff.).“ 57 In einer spezifischen Konfiguration und Aufbereitung kom- 55 Jevreinov, N.N.: „Apologija teatral’nosti“ [„Die Apologie der Theatralität“] (1908). In: Ders.: Teatr kak takovoj [Das Theater als solches]. Berlin 1923. S.25f. - Dieses Buch enthält Jevreinovs grundlegene Ausführungen zur Theatralität, in deren Allgegenwart alles mit allem verwoben und verschwommen erscheint (S.110f. - Siehe hierzu Kap.VI.1., FN984). Vgl. dazu die Kritik von H. Xander: „Theatralität im vorrevolutionären russischen Theater. Jevreinovs Entgrenzung des Theaterbegriffs“. In: Fischer- Lichte, E. / Greisenegger, W. / Lehmann, H.-T.: Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft. (Forum Modernes Theater. Band 15). Tübingen 1994. S.111f. 56 Fischer-Lichte, E.: „Inszenierung und Theatralität“. In: Willems, H. / Jurga, M. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen, Wiesbaden 1998. S.85. 57 Fischer-Lichte in Willems/ Jurga.1998.85. - Den gleichen evolutionären Stellenwert, den gleichen Funktions- und Leistungsradius (allerdings ungleich systematischer als Jevreinov) entwickelt J. Huizinga für das „Spiel“, welches sich vor der Kultur herausgebildet habe. (Huizinga, J.: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938]. Reinbek bei Hamburg 1994. - Gebauer, G.: „Spiel“. In: Wulf, Ch. (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim und Basel 1997. S.1038-1048.) M. Herrmann wiederum begreift Theater „aus dem Verhältnis zwischen Darstellern und Zuschauern“ als ein „soziales Spiel“, also als eine Kategorie, die sich parallel zur Kultur entwickelt. (M. Herrmann (1920) nach Fischer-Lichte, E.: „Theatralität als kulturelles Modell“ (Einleitung). In: Fischer-Lichte, E. / Horn, Ch. / Umathum, S. / <?page no="27"?> E INLEITUNG 23 men beide Aspekte des Begriffs in den unterschiedlichsten Bereichen zum Ausdruck: „Der Begriff Theatralität meint in diesem Sinne den Aufführungscharakter kultureller Handlungen — seien dies nun Sprechakte, Verhaltensformen, Interaktionen, Rituale, Zeremonien, Feste, Spiele, politische Veranstaltungen, Sportwettkämpfe oder Aufführungen der Künste.“ 58 Auch wenn das Primat der ‘anthropologischen Entdeckung’ eher Brjúsov (1899) als Jevréinov (1908) gebührt (FN53 - vgl. Kap.I.1.4., FN253+256): erst E. Fischer-Lichtes Relationierung und Bestimmung des Begriffes „Theatralität“ jenseits illustrativer, referentieller Rollen- oder Situationsspiele, sowie die Identifizierung des Verhältnisses zwischen „Inszenierung“ und „Aufführung“ als dessen konstitutive Aspekte erschließen den Begriff für weiterführende Diskurse: „Als ästhetische und anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird — auf Prozesse, welche in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen.“ 59 Dabei bildet der Zuschauer die Instanz oder das ‘Prisma’, das den Handlungsstrom einer Veranstaltung oder Theaterproduktion bündelt und in „Inszenierung“ und „Aufführung“ auffächert, denn: „Das Zuschauen außerhalb des Theaters ist kein Vorbild des Zuschauens im Theater; eher gilt das Umgekehrte. Das Zuschauen gehört von Anfang an zum Theaterrahmen.“ 60 In der körperlichen Konfrontation von Akteur und Zuschauer, deren Erfahrung und Erleben, deren Aktionen und Re--Aktionen integrale Bestandteile „schöpferischer Prozesse“ sind, ist der Ort der „Erscheinung“ die Aufführung — „als Resultat und Produkt der Inszenierung“ 61 , als wechselseitiger, wechselwirksamer Resonanz-, Erlebnis- und Ereignisraum. Erst der energetische und affektive, imaginative und kognitive Austausch im performativen, reziproken Vollzug (einschließlich Atmosphäre, Tagesform, Zufall) macht die Inszenierung zu einer Aufführung: „Es ist entsprechend zu unterscheiden zwischen der Inszenierung, die im Probenprozeß geschaffen wird - von Regisseur, Bühnenbildner, Schauspieler, Musikern u.a. -, ohne doch je als Werk im Sinne eines fixierbaren Artefakts Warstat, M. (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. (Theatralität, Bd.6). Tübingen, Basel 2004. S.10. 58 Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2004.10. 59 Fischer-Lichte in Willems/ Jurga.1998.85.+88. 60 Goffman.[1974]1993.150. 61 Fischer-Lichte in Willems/ Jurga.1998.84. <?page no="28"?> E INLEITUNG 24 existieren zu können, und der Aufführung, die sich [in der leiblichen Präsenz von Akteuren und Zuschauern] jedesmal neu ereignet.“ 62 Der Gegenstand dessen, was hier „entworfen und zur Erscheinung gebracht wird“, resultiert W. Iser zufolge aus dem Verhältnis von Realem, Fiktivem und Imaginärem, das solcherart die anthropologische Matrix von Kreativität bildet. Diese geht über die bloße Abrufbarkeit von Traum- oder Erinnerungsbildern hinaus: „Der springende Punkt formativer Kreativität liegt nicht im Produzieren von Vielfalt, sondern von Faktizität, d.h., dass überhaupt irgendeine Welt zur Existenz gelangt, daß unser Denken seine eigene Erfüllung hervorbringt / .../ . Literarische [theatrale! MD] Fiktionalität erweist sich daher als eine Bewußtseinsmodifikation, um das verfügbar zu machen, was dem Menschen im Traum lediglich widerfährt. [kursiv MD]“ 63 Wenn „formative Kreativität“ imstande ist, kognitive Muster zu „modifizieren“ und mit „Faktizität“ auszustatten, so ist im schöpferischen Akt eine weiterreichende, transformative Kraft am Werk, die imaginative oder utopische Entwürfe, individuelles Verhalten oder soziales Handeln mit Wirkung ausstattet, und das faktisch Verfügbare als tatsächlich Veränderbares auszuweisen vermag — die das „Fatum“ (das Gegebene) als „Faktum“ (als Gemachtes) oder gar als Modell (als Machbares) aufzeigt. Jene Prozesse, die in den obengenannten Gegenläufigkeiten, Überschneidungen und Überschreitungen der Massenaufführungen zutage treten, weisen deren Theatralität also nicht bloß als ein „ewiges“, ontologisches Gesetz der Wandlung (Jevréinov) aus, sondern vor allem als eine inszenierte (artifizielle, künstlerische) Setzung mit kontingenten (spontanen, zufälligen) Effekten, die sich aus der historischen Konfiguration heraus „jedesmal neu ereignet“ (Fischer-Lichte), und die - gerade in der Zeitrafferfrequenz der Revolutionsereignisse - jedesmal neu befragt und neu bestimmt werden muss. Diese Bestimmung erfolgt weder auf der Ebene der „formativen Kreativität“ (Iser) von theatraler Selbstorganisation „an sich“ oder der Revolutionsfeste „als solchen“, sondern auf der Ebene des schöpferischen Akts und seiner präfigurativen 64 und transformativen Wirkkraft. Im Zentrum dieser 62 Fischer-Lichte, E.: „Performativität und Ereignis“ (Einleitung). In: Fischer-Lichte, E. / Horn, Ch. / Umathum, S. / Warstat, M. (Hg.): Performativiät und Ereignis. (Theatralität, Bd.4). Tübingen, Basel 2003. S.26. (= Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat. 2003/ a.) 63 Iser, W.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991. S.20f., 145f., 155. 64 Damit ist hier nicht die Vorfreude auf ein Gefühl „der Freiheit, der Gleichheit und des Glücks“ gemeint, wie Mazaev bemerkt (Mazaev.1978.254.), sondern das Ineinandergreifen von intuitiver Phantasie und kognitivem Vorstellungsvermögen zur Organisation und Durchführung eines Vorhabens. Die Präfiguration ist gleichsam das Produkt einer „Vorahmung“ (Wulf): „Der mimetische Prozeß besteht darin, ein Bild von der erwünschten Situation und den zu ihrer Veränderung notwendigen Handlungen zu entwerfen und mit der Absicht nachzuahmen, durch die Nachahmung zu seiner Rea- <?page no="29"?> E INLEITUNG 25 Arbeit steht daher die Wirkungsästhetik der Massenaufführungen, mit ihrer in der Orthodoxie und in den Volksfesten verankerten Symbolik, ihrer auf den offenen Raum konzipierten Ästhetik, und ihrem „wiedererwachten Kollektivgefühl“ (Holitscher). Da in der Orthodoxie die Vorstellung des „Jenseits“ nur rudimentär ausgebilde(r)t ist (der Topos des „Himmlischen Jerusalem“ ist mehr eine Metapher denn eine Topologie; „Himmel“ und „Hölle“ bleiben unbestimmt [ ❐ 3 - Kap.II. ❐ 3]; Fegefeuer oder Purgatorium als ‘Zwischenstadium’, ‘Klärungs-’ oder ‘Modulations-Instanz’ dieser Pole fehlen völlig) 65 , dafür aber ein Heils-, d.h. Handlungs-Auftrag im Sinne des Kampfes zur Verbesserung der (diesseitigen) Welt dominant gesetzt wird, hat der Vollzugs- Charakter von Handlung gegenüber ihrem Verweis-Charakter (ihrer Referentialität) einen erkennbar höheren Stellenwert, als in anderen Kulturen (dazu auch Einleitung 5.). Der an das beschriebene Theatralitäts-Konzept anschließende, aufführungszentrierte Begriff „Performativität“ (der Aspekt der „Transformation von Wirklichkeit in und mit Aufführungen“ 66 ) findet hier insofern eine besondere Berücksichtigung, da seine konstitutiven Merkmale „Prozesshaftigkeit“, „Reflexivität“ und „Realitätsstiftung“ nicht den Werk-Charakter der Masseninszenierungen, sondern den Ereignis-Charakter der Manöveraufführungen hervorheben, und diese in einem höheren Maße prägen, als andere Revolutionsfeste: in einem Spannungsbogen von eineinhalb bis zwei Stunden zwischen „Appell“ und „Apotheose“ (die W ELTKOM - MUNE dauerte 3 Stunden) werden die Etappen und Erfahrungen, die revolulisierung beizutragen.“ (Wulf, Ch.: „Mimesis“. In: Ders.1997.1023.) (= Wulf/ a.1997.) - Siehe dazu die Reziprozität von Blicken und Gesten in der „Umgekehrten Perspektive“ (Kap.II.3., FN500) und das „Einander-ähnlich-Werden“ in Ritualen als weitere Aspekte von „Mimesis“ („Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2., FN837+847). 65 „Die ‘Confessio orthodoxa’ [und judaica, MD] läßt die Kirche [im Sinne von Ereignis, nicht als Institution] im Paradies beginnen. Gott ‘kam in der Kühle des Abends’ (Gen.3,8), um mit dem Menschen zu sprechen. Das bezeichnet in der Kirche den Ort der Kommunion von Gott und Mensch.“ (Jevdokimov, P.: „Grundzüge der orthodoxen Lehre“. In: Stupperich, R.: Die Russische Orthodoxe Kirche in Lehre und Leben. Witten 1966. S.76f.) Vgl. hierzu die Topologie der ‘Welten’ in der „Umgekehrten Perspektive“, Kap.II.3. - Zum „Purgatorium“ siehe Kap.I.4., FN322. 66 Fischer-Lichte, E.: „Ritualität und Grenze“ (Einleitung). In: Fischer-Lichte, E. / Horn, Ch. / Umathum, S. / Warstat, M. (Hg.): Ritualität und Grenze (Theatralität, Bd.5). Tübingen, Basel 2003. S.29. (= Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.) - Fischer-Lichte, E./ Roselt, J.: „Attraktion des Augenblicks - Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“. In: Fischer- Lichte, E. / Wulf, Ch. (Hg.): Theorien des Performativen. Paragrana. Bd.10, H.1. Berlin 2001. S.242f. Unter „Performativität“ ist eine weitgehende Kongruenz von innerer und externer theatraler Kommunikation zu verstehen: „Dabei bedeuten die Handlungen sowohl der Schauspieler als auch der Zuschauer zunächst nichts anderes als das, was sie vollziehen. Sie sind in diesem Sinne selbstreferentiell. Als wirklichkeitskonstituierend und selbstreferentiell sind die Handlungen als performativ im Sinne Austins zu begreifen. [fett MD]“ (Fischer-Lichte in Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ a.13f.+27.) <?page no="30"?> E INLEITUNG 26 tionserprobte und revolutionäre Leidens- und „Leistungskraft“ (Šklóvskij) des Volkes re--inszeniert, und somit seine Potentiale und Perspektiven für eine neue Epoche erprobt. Vor dem bisher skizzierten historischen Hintergrund hat dieser methodische Ansatz zunächst Konsequenzen für die Begrifflichkeit der „Masseninszenierung / Massenaufführung“ (siehe Kap.IV.3.), bevor im Weiteren eine Revision ihrer Bewertung erfolgt. Wie bereits angedeutet wurde und noch zu sehen bleibt, sind die Petrograder Massenaufführungen weder thematisch noch funktional auf Militärparaden zurückzuführen (Kap.III.4., „Diskussionsraum“ - Kap.IV.5.2., FN806/ 808), sondern lassen sich aus heutiger Perspektive in dreierlei Hinsicht als Manöveraufführungen bezeichnen. Zunächst deshalb, weil im Krieg jedes Vorhaben - von der privaten Brennholzbeschaffung bis zur öffentlichen Brandsicherung - eine äußerst komplizierte Aktion mit hohem taktischen Aufwand darstellt: Der Begriff „Manöver“ verliert seine trügerische Begrenzung auf die Schützengräben im Feld dadurch, dass er in Kombination mit „Aufführung“ (-„Inszenierung“) die Rückwirkung der Frontverhältnisse in den Stadtraum und ein Übergreifen auf die Psyche und das (Rollen)Verhalten der Bevölkerung bewusst macht. Zudem ist ‘Manöveraufführung’ deshalb zu bevorzugen, weil die Revolutionsforschung die ideologischen Konstrukte „Masse“ (oder „Klasse“) zugunsten ‘elastischer’ Formationen und identifizierbarer, d.h. auch identifikationsstiftender Konzepte korrigiert, und die Mentalitäten von kleineren Soziotopen oder „Lebenswelten“ (H. Altrichter) berücksichtigt (bereits É. Durkheim spricht von der Ideen- und Gefühlswelt bestimmter Kulturen als „moralischen Milieus“): die Armee ist die Bevölkerung und die Armee spiegelt die Bevölkerung — mehrheitlich „Bauern in Uniform“ 67 ( ❐ 4 in Kap.III.). Gewerkschaften oder Jugendverbände, aber auch die zugereiste Genossenschaft der Baikál-Fischer waren an militärischen und zivilen Manövern beteiligt, und prägten in je unterschiedlicher Weise und Intensität die Organisation und Logistik, die Dramaturgie und Gestaltung der Aufführungen. Zuletzt stellt die „Manöveraufführung“ eine Verbindung her zwischen „Mobilisierung“ und „Performativität“, denn beide Vorgänge sind als Handlungszugleich auch Kulturstrategien: Beides erfolgt in planvoll bzw. taktisch konfigurierten Aktionsprogrammen oder „Manövern“ und unter sozialspezifischen, oft labilen Bedingungen zwischen Vorsatz und Vollzug, Konzept und Kontingenz. 67 Altrichter.1997.64.+262. - Durkheim.[1912]1981.481f. - Schramm, G. (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands. Band 3. Stuttgart 1983 (1. Halbband), 1992 (2. Halbband). - Černjaev, V.J. / Galili, Z. / Chajmson, L. (et.al.) (Hg.): Anatomija Revoljucii. 1917 god v Rossii: massy, partii, vlast’ [Die Anatomie der Revolution. 1917 in Rußland: Massen, Parteien, Macht]. Sankt-Peterburg 1994. - Volobuev, P.V. / Buldakov, V.P. / Ischakov, S.M. (et al.) (Hg.): 1917 god v sud’bach Rossii i mira. Fevral’skaja revoljucija. Ot novych istočnikov k novomu osmysleniju [1917 im Schicksal Russlands und der Welt. Die Februarrevolution. Von neuen Quellen zu einem neuen Verständnis]. Moskva 1997. <?page no="31"?> E INLEITUNG 27 Die in Krisenzeiten auftretende Konfrontation von Theater als ästhetischem und Theatralität als außerästhetischem Konzept befördert also offenbar eine Kontamination der Realitäten, die zweifellos ein Grund ist für die damaligen, rezeptionsästhetischen Irritationen und für die auch heute ambivalente Haltung gegenüber Massenveranstaltungen jeglicher Art. So bedarf es zunächst einer genaueren Vorstellung des Kontaminationsbegriffs, der in eine östliche und eine westliche Lesart zerfällt, und - wie auch andere Schlüsselbegriffe dieser Arbeit - eine ‘doppelgleisige Buchführung’ der Diskurse erfordert. Für beide Seiten mag der gleiche Übertragungsvorgang gelten, der mit A.I. Mazáev anlässlich der Petrograder Manöveraufführungen bestimmt werden kann als synergetischer Effekt medialer Verfahren, als Ergebnis einer unmittelbaren Interaktion tausender Teilnehmer über die dicht aneinandergedrängten Körper, „wodurch die gleichen emotionalen Reaktionen wie eine elektrische Entladung ausnahmslos alle Versammelten durchdrangen.“ 68 Obwohl für diese Vorgänge auf russischer Seite seit 1917/ 18 stets der gleiche Begriff der „Ansteckung“ (zaražénie) im Umlauf ist, variieren derlei „emotionale Reaktionen“ mit dem situativen, tagespolitischen Kontext und implizieren unterschiedliche Inhalte und Werte, Haltungen und Handlungen: Der Autor von Zirkusszenarien und Regisseur von Manöverinszenierungen S.Ė. Rádlov versteht unter „Ansteckung“ eine ästhetische Disposition, die sich als kreative Freude von den Produzenten auf die Zuschauer fortsetzt und deshalb eine strikte Rollentrennung zwischen professionellen Regisseuren und freiwilligen Laienakteuren voraussetzt 69 . Für den Dramaturgen und Publizisten P.A. Márkov handelt es sich um eine ethische Einstellung, die „das Pathos und die Begeisterung der Revolution“ aufrechterhält mit dem Ziel, „die Teilnehmer und Zuschauer mit dem Glauben an den unweigerlichen Sieg der Revolution anzustecken.“ 70 Der Revolutionsgegner und Theaterhistoriker N.A. Gorčakóv sieht darin wiederum eine pathologische Verirrung oder „Besessenheit“ ohne positive Nebenwirkungen; entsprechend bewertet er den Anspruch der damaligen Theaterpolitik als „planetarisch“ und die theatrale Produktion der Revolutionszeit als „vulkanische Eruption von Ideen, Verfahren und Formen“ mit einer „epidemischen“ Reichweite vom entlegensten russischen Dorf bis nach Westeuropa zum Zweck der „Unterstützung einer gigantischen Propagandamaschine und Agitation der Bevölkerung zugunsten des Kommunismus.“ 71 Bis 1921/ 22 deuten diese Bestimmungsversuche nicht bloß auf verschiedene Träger, Formen und Ebenen von „Ansteckung“ sowie auf eine Vielzahl weiterer Diskurse und Interessenslagen. Sie artikulieren die aus der Revolu- 68 Mazaev.1978.327f. 69 Radlov, S.Ė.: „Massovye postanovki“ [„Die Masseninszenierungen“]. In: Ders.: Stat’i o teatre (1918-1922) [Aufsätze zum Theater (1918-1922)]. Petrograd 1923. S.44f. (= Radlov/ d.1923.) - Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.277. 70 Markov.(1927).1976.440. 71 Gorčakov.1956.54., 7., 60., 4. <?page no="32"?> E INLEITUNG 28 tion und den Festen resultierenden, spezifischen Kommunikations- und Interaktionsprozesse sowie Körpererfahrungen von unterschiedlicher Intensität und Auswirkung, und implizieren - bei einer ‘Nichtbeachtung’ oder ‘Zuwiderhandlung’ - Rückschläge oder gar eine Gefährdung für das neue Theater (Rádlov), die junge Revolution (Márkov), oder die geistige Verfassung der Bevölkerung (Gorčakóv) — letzten Endes also für die Gesellschaft und Kultur im Ganzen. Im Umkehrschluss zu diesen vielfältigen Vorbehalten oder Befürchtungen und im Vorgriff auf das orthodoxe Weltbild ließe sich „Ansteckung“ als ‘Kontamination’ im Sinne einer Entgrenzung, Verflüchtigung oder gar Verfälschung der Revolutionsziele und -erfahrungen begreifen. Dieses körpergebundene Bewusstsein begreift Piotróvskij noch 1922 als Aufgabe zur Etablierung einer „Heortologie“ / „Fest-Wissenschaft“: „‘Wer sich wo und wie bewegt, handelt und spricht’, diese grundlegenen Fragen der Dramaturgie sind gleichermaßen von Bedeutung für das Ritual des Festes wie für das Szenarium des Spektakels (Theaters). Der Unterschied besteht darin, dass im Theater das Subjekt und die Methode der Handlung illusorisch sind, im Fest [aber] real. [kursiv MD]“ 72 Mit der NÖP werden diese Varianten von „Ansteckung“ jedoch konsequent zurückgedrängt und durch die Leistungsvorgaben „Produktivität, Planmäßigkeit, Parteilichkeit“ ersetzt. In der kulturellen Praxis bleibt die ursprünglich körperliche Verankerung eines traditionell Platonischen Bildungs- und Aristotelischen Mimesis-Begriffs zwar weiterhin erkennbar 73 : 72 Piotrovskij in Bloch/ Gvozdev/ Kuzmin.1922.151f. - Piotrovskijs Beiträge stellen eine der wichtigsten Quellen zur theatralen Selbstorganisation dar. Im Umfeld des über Petrograd hinaus renommierten Staatlichen Instituts der Geschichte der Künste (GIII = Gosudarstvennyj Institut Istorii Iskusstv, Petro- / Leningrad, spätestens seit 1920) entstand die sogenannte „soziologische Schule“ mit ersten Anläufen zur Erforschung der Festkultur. (Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.) In Wechselwirkung mit den Forschungen des Kulturethnologen und Theaterhistorikers V.N. Vsevolodskij-Gerngross (siehe Kap.II.2.) bildete sich eine deutliche kulturanthropologische Tendenz russischer Fest- und Theaterwissenschaft heraus. Im Vorfeld der Planwirtschaft mit ihren abermaligen sozialen Umwälzungen (erster Fünfjahresplan 1928) versiegten die Forschungsreisen aus dem Ausland in die „Sowjet“union (die zu dem Zeitpunkt vom „Räte“prinzip weit entfernt war). Ende der 1920er Jahre wurde das GIII aufgelöst — eine weitere Etappe auf dem Weg der Selbstdemontage russischer Kulturpolitik, die man offiziell erst fünfzig Jahre später beklagen konnte: „Leider ist diese Unternehmung nicht über einige Experimente und Ansätze hinausgegangen. Weder in den 20er Jahren, noch in der darauffolgenden Zeit wurde eine wie auch immer begründete Methodik zur wissenschaftlichen Erforschung des Festes geschaffen.“ (Mazaev.1978.4f.) Ein Verlust ohnegleichen. 73 Platons Überlegungen zur Bildung bringt Bubner wie folgt auf den Punkt: „In der Betrachtung bekommt Bildung (παιδεια) einen politischen Rang, der über die rein berufsorientierten Fertigkeiten der Banausen hinausgeht. Was jeder für sich in seinem Gewerbe können muss, zählt für die Polis weniger als das, was jeder beherrschen muss, um im Ganzen richtig mitwirken zu können. Dies wird durch eine Erziehung vorbereitet, die den richtigen Umgang mit den Affekten, mit Lust und Furcht, mit Liebe und Haß einübt.“ (Bubner in Haug/ Warning.1989.652.) Eine Konkretisierung hierzu findet <?page no="33"?> E INLEITUNG 29 Bis Mitte der 1920er Jahre werden zunächst ein sozialer Bildungsauftrag zur „Agitation“ und zuletzt ein politisches Erziehungsprogramm zur „Propaganda“ überhöht 74 , d.h. erst als didaktische Kategorie, dann als ideologisches Konstrukt auf das Festwesen angewendet — wie die artigen und reißbrett-artigen Körperformationen bei Pionier- und Truppenaufmärschen zeigen ( ❐ 7 in Kap.IV.). In der wissenschaftlichen Praxis weicht diese körpergebundene Transparenz jedoch einer immer abstrakteren Theorie und führt zu einer Blockierung ursprünglicher Erkenntnisinteressen und geplanter Forschungsfelder (GIII): Von russischer Seite läuft die Festforschung von den 1930er bis zu den 1970er Jahren auf eine Propagandaforschung hinaus. 75 sich bei Wulf: „Verbreitet werden sollen nur solche dichterischen Inhalte, von denen die jungen Wächter lernen und an denen sie wachsen können. Die Darstellung der Unzulänglichkeiten der Götter und großen Männer ist daher abzulehnen / .../ . Aufgrund ihres vorethischen Charakters ist Mimesis, wenn sie sich auf Negatives bezieht, eine Gefahr, die den Menschen schwächt und ihn von der Erfüllung seiner gesellschaftlichen Aufgaben abhält.“ „Mimesis meint bei Aristoteles nicht die Kopie eines Wirklichen, bei der der Unterschied zwischen Vorbild und Nachbild nach Möglichkeit verschwinden soll. Mimesis ist nachschaffen und verändern in einem, zielt auf eine ‘Verschönerung’ und ‘Verbesserung’, eine ‘gestaltende Nachahmung’. [fett MD]“ (Wulf/ a.1997.1017f.) Vgl. die ‘Ausläufer’ dieser Prägung noch in der Ikonenmalerei (Kap.II.3., FN507)! 74 Tamašin, L.G.: Sovetskaja dramaturgija v gody graždanskoj vojny [Die sowjetische Dramatik in den Jahren des Bürgerkriegs]. Moskva 1961. S.16f. - „In Russland etablierte sich von alters her und verfestigte sich im XIX. Jahrhundert das Verhältnis zur Kunst als einer Lehrerin des Lebens, als einer Trägerin weltanschaulicher Ideen und moralischer Einstellungen. [fett MD]“ (Strigalëv.(1981).108.) Für den vorliegenden Zeitraum und Kontext wird hier im Anschluss an Lunačarskij und Tamašin zwischen „Agitation“ und „Propaganda“ als Tendenzwerten unterschieden (Lunačarskij, A.V.: „Revoljucija i iskusstvo“ [„Revolution und Kunst“] (1920). In: Ders.1981.101.) (= Lunačarskij.(1920/ b).1981.) In Tamašins Ausführung erfolgt „Agitation“ vorwiegend im Bürgerkrieg und richtet sich an ein breites Publikum durch unmittelbar sensorische (orale, verbale) Mittel, um einen moralischen Enthusiasmus zugunsten der Revolution, ein sozialpsychologisches Durchhalten bis zu ihrem Sieg aufrechtzuerhalten. Dagegen entwickelt sich „Propaganda“ ab 1921/ 1922 als operatives Vorgehen in hierarchischer Ordnung mit der Herausbildung entsprechender medialer (visueller) Strukturen und personeller Kader zur „systemkonformen“ (Torke) Verfestigung revolutionärer Errungenschaften. (Tamašin.1961.34f.) - Vgl. hierzu: NN: „Iz rezoljucii XII s'ezda RKP(b) ‘Po voprosam propagandy, pečati i agitacii’ 25 aprelja 1923g.“ [„Aus der Resolution des XII Kongresses der RKP(b) ‘Zu Fragen der Propaganda, Presse und Agitation’ vom 25. April 1923“]. In: Trabskij.1975.27. - Torke, H.-J.: Historisches Lexikon der Sowjetunion. 1917/ 22 bis 1991. München 1993. S.257. Von der Verbreitung bis zur Verankerung eines politischen Bewusstseins bis spätestens Mitte der 1920er Jahre verschieben sich diese Tendenzwerte in einem gleitenden Prozess, der mit dem Umbruch von einer oralen zu einer visuellen Kultur, mit der Ablösung von Agitation durch Propaganda einhergeht. (Vgl. Einleitung 4., FN117.) 75 „Die Erforschung der Geschichte sowjetischer Agitations- und Massenkunst ist insofern erschwert, als es bis vor kurzem keine systematische Erfassung der Werke dieses <?page no="34"?> E INLEITUNG 30 Parallel zu dieser Entwicklung, aber ungeachtet ihrer Hintergründe oder Zusammenhänge prägt der stereotype Vorwurf „Propaganda“ bis heute unser westeuropäisches, öffentliches Bewusstsein von „den Soffjets“ und „dem Osten“. Obwohl einerseits längst Konsens über eine relative Liberalität der Revolutionszeit bis 1920 herrscht 76 , besteht anderseits noch immer „/ .../ the consensus shared by much of the academic community — that Russia could be best understood as a variant of totalitarianism.“ 77 Von westlicher Seite fungiert „Propaganda“ im bisherigen Verständnis als Komplementärbegriff zum „Totalitarismus“, als ideologisches Instrument eines rigiden Staatsapparats zur vorsätzlichen, lückenlosen und insofern „totalen“ Indoktrination definierter Normen, kontrollierter Verhaltensweisen und verfügbarer Ziele. Die Verteilungspriorität und -kompetenz wird dabei ausschließlich bei einer Machtelite vermutet, während der Verteilungsmodus einerseits als permanente Überwältigung, anderseits als schleichende Infiltration vorausgesetzt werden. Beides wird verurteilt, da es Wahlmöglichkeiten vortäuscht und das Urteilsvermögen auflöst, d.h. Wertkriterien einer Verhandelbarkeit entzieht und der Willkür überlässt. Während in der russischen Kultur traditionell eine religiöse und - daran anschließend - eine politische Kontamination von „Schein“ und „Sein“ (nicht zu verwechseln mit „Außen-“ und „Innen- / Tiefenwirkung“), von „richtig“ und „falsch“ gefürchtet wird 78 , ächtet die westliche Welt die juristische (legalistische) Kontamination von Legitimität und Usurpation. Im Unterschied zur russischen Eigenperspektive von „Ansteckung“ basiert der westliche Vorwurf „Propaganda“ jedoch weder auf eigener Anschauung noch auf einer entsprechenden Körpererfahrung. Er lokalisiert ein Gefährdungspotential - umstandlos und ungeniert - stets außerhalb der eigenen Kultur (frei nach Louis XIV. und J.-P. Sartre: „L’ État — c’ est nous.“ / „Le totalitarisme — c’ est les Autres.“) 79 , und konstruiert einen fremden, Genres gab.“ (Tolstoj, V.P.: „Iskusstvo, roždënnoe Oktjabrëm“ [„Eine Kunst, die der Oktober hervorbrachte“]. (Vorwort). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.14.) 76 Bradshaw.1954.26. - Anweiler, O.: Die Rätebewegung in Rußland 1905-1921. Leiden 1958. S.1+12. - Suny, R. / Adams, A. (Hg.): The Russian Revolution and Bolshevik Victory. Visions and Revisions. Lexington, Torronto 1990. S.1., 200., 428. 77 Suny/ Adams.1990.3. 78 Siehe hierzu P.A. Florenskijs Sinnbild von den „Doppelgängern der Dinge“, dem „Gespenst der Welt“ im „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3. 79 Dieses Verständnis von „Ideologie“ und „Propaganda“, das „dem Iwan“, den „Soffjets“ oder „Russkis“ reflexhaft ein massives ethisches Versagen anlastet, selbst aber die ideologische Verquickung von zahnloser Politik und zügelloser Finanzwirtschaft zulässt, hat sich längst selbst diskreditiert: durch krebsartigen Konsumzwang, exponentiellen Renditewahn, durch eine allgegenwärtige Reklame- und besinnungslose Optimierungshysterie, durch eine unentrinnbare Reizüberflutung und totale Öffentlichkeit, die keine „Kulturen“ sondern nur „Zielgruppen“ und „Absatzmärkte“ kennt, und wo ausnahmslos alles und jeder - vom Genom über die Garderobenmarke bis zum Lebenslauf - ausgeschlachtet und vernutzt, kommerzialisiert und zu Markte getragen wird, mit Haut (Tätowierungen als Werbefläche - Würger, T.: „Haut zu verkaufen“. In: Der Spiegel. Heft 02/ 2011. S.40.) und Haar (Menschenhaar als Einkommensquelle - Sand- <?page no="35"?> E INLEITUNG 31 kollektiven Bewusstseinszustand, der einerseits körperlos wirkt, anderseits aber kontagiös ist (der sich also - das Mittelalter lässt grüßen - offenbar in ‘Miasmen’ ausbreitet 80 ). Propaganda wird nicht als didaktisches Mittel zur Realitätssteuerung verstanden und einer anderen Kultur ‘gutgeschrieben’ (wobei die Politik hierzulande die Steuerung bzw. „Gestaltung der Zukunft“ gerne für sich reklamiert), sondern einzig als politischer Mechanismus zur Rechtsbeugung in eine fremde Festkultur projiziert — ohne dass hierzu Feldforschungen oder Quellenstudien stattgefunden hätten. Unbeeindruckt davon kommt M. Mead dennoch zu einem druckreifen Befund: „These methods [Feld- und Grundlagenforschung, MD] cannot be applied to the present task [die Untersuchung sowjetischer Zeremonialästhetik - mit dem Ergebnis einer „great variety of falsifications and theatrical enactments“, MD]. It has therefore seemed worth while to collect such data as were availible and to analyze these as if [Meads Herv.] one were giving an anthropological analysis of authority problems within a society which it had been possible to study by direct field methods. Such a procedure has the advantage that it uses the anthropologist’s training in relating isolated items of behaviour to a systematic whole / .../ .“ 81 Es ist schon abenteuerlich, wie „such a procedure“ einen fremden Kontext zu eigenen wissenschaftlichen Trainingszwecken ummünzt, und überdies zu einem heuristischen „Als Ob“ adelt — ohne das „theatrical enactment“ der Bolschewikí als ein ästhetisches „Als Ob“ an/ zu erkennen. Ähnlich absurd wirkt M. Bradshaws Postulat zum (post)revolutionären Theaterwesen als ‘Fortsetzung von Dekreten mit anderen Mitteln’: „In the Soviet Union official decrees and statements on the theater are the key to theater life.“ 82 Dies führe zu einem - nicht näher erläuterten - „Fiasko“ der Massenaufführungen — und völlig vorbei an der Praxis, dem Zulauf und dem Erfolg der theatralen Selbstorganisation in Russland. Bis zum Ende des Kalten Krieges lassen sich die Beiträge zur revolutionären Festkultur daher nur schwerlich zu einem Forschungsstand systematisieren, sondern lediglich zu dem Fazit resümieren, dass die einen nicht erforschen durften, was sie täglich erlebt haben, während die anderen untersucht haben, was sie nie beobachten konnten. berg, B.: „Haar-Ausfall“. In: Der Spiegel. Heft 07/ 2008. S.112f.) — von anderem „Humanmaterial“, Organhandel etc. ganz zu schweigen. 80 Caillois bemerkt zurecht: „/ .../ nichts ist ansteckender als die mystische Verunreinigung“. Außer Miasmen gehören Gerüchte, Vorurteile, Ressentiments oder Verschwörungstheorien in die gleiche Kategorie. (Caillois.[1950]1988.49.) 81 Mead, M.: „Bolshevik Willingness to Accept or to Fabricate Token Events“. In: Dies.: Soviet Attitudes toward Authority. An Interdisciplinary Approach to Problems of Soviet Character. New York, Toronto, London 1951. S.2. 82 Bradshaw.1954.X. <?page no="36"?> E INLEITUNG 32 4. Forschungsstand und Problemstellungen Dies ändert sich seit den 1960/ 70er Jahren mit dem Anstieg wissenschaftlichen Austauschs zwischen Ost und West und der Entwicklung interdisziplinärer Strukturen. Vorausgegangen war in den 1950er Jahren die Entdeckung und das Verlustempfinden der „Unfähigkeit zum Feiern“ - ein deutscher Kriegsschaden im psychologischen Sinne, eine schuldbedingte Abstinenz und ein protestantischer Argwohn gegenüber jeglichem Exzess nach dem Delirium des Nationalsozialismus -, in deren Folge sich die (deutsche) liturgische Bewegung um einen Forschungsbeitrag zur „Rückgewinnung echter Festlichkeit“ (Schrey) 83 ebenso bemüht wie um eine kulturelle Annäherung an Russland. Von russischer Seite entstehen etwa zeitgleich eine Reihe von Einzeluntersuchungen zu Fest und Feier aus dem Bereich Ethnologie und einige Gesamtübersichten aus der Sicht der bildenden Kunst 84 . Es ist M.M. Bachtín, der - im ‘Zangengriff’ zwischen russischer Verbannung und westeuropäischem Karnevalsthema 85 - das Fest erstmals in den frühen dreißiger Jahren als eine „sehr wichtige und primäre Form der menschlichen Kultur“ postuliert, und spätestens 1965 als eigenständige Kategorie im geisteswissenschaftlichen Diskurs etabliert 86 . Seit den 1970/ 80er Jahren kommen von westlicher Seite die Entdeckung des Alltags als „einer zentralen sozialen Determinante“ 87 , von Geschichte als Konstrukt von Erinnerung und Tradition 88 und das Bewusstsein von Kultur als Konfiguration von Symbolsystemen hinzu. 89 83 Pieper.1963/ a.57f.+64. - Beilharz/ Frank.1991.8. - Schrey in Beilharz/ Frank.1991.27. - Hugger in Hugger/ Burkert/ Lichtenhahn.1987.9. 84 Glan, B. (Hg.): Massovye prazdniki i zrelišča [Massenfeste und Massenspektakel]. Moskva 1961. - Bogatyrëv, P.G.: Voprosy teorii narodnogo iskusstva [Fragen zur Theorie der Volkskunst]. Moskva 1971. - Nemiro, O.V.: V gorod prišël prazdnik [Das Fest kommt in die Stadt]. Leningrad 1973. - Genkin, D.M.: Massovye prazdniki [Massenfeste]. Moskva 1975. (Glan, Nemiro und Genkin aufgeführt in: Bibikova, I.M.: „Oformlenie revoljucionnych prazdnestv“ [„Die Gestaltung der Revolutionsfeiern“] (Einleitung). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.18f.) 85 Lachmann, R.: „Vorwort“. In: Bachtin, M.: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. (Hg.v. R. Lachmann). Frankfurt a.M. 1995. S.7+12. 86 Bachtin, M.: „Vvedenie (Postanovka problemy)“ [„Einleitung (Problemstellung)“]. In: Ders.: Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i renessansa [Das Schaffen von François Rabelais und die Volkskultur des Mittelalters und der Renaissance]. Moskva 1965. S.11. - Wenig später kommen J. Huizinga und K. Kerényj zu dem gleichen Befund. (Huizinga.[1938]1994. - Kerényj, K.: „Vom Wesen des Festes“ (1938). In: Ders.: Antike Religion [1971]. Stuttgart 1995.) (= Kerényj.(1938/ a). [1971]1995.) 87 Henecka, H.P.: „Soziale Bedingungen von Festen. Zur Dramaturgie des Außeralltäglichen“. In: Beilharz/ Frank.1991.13. 88 Hobsbawm, E. / Ranger, T. (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1983. - Babcock, B. (Hg.): The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society. Ithaca, London 1978. 89 Geertz, C.: Dichte Beschreibung [1983]. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1995. - Sahlins, M.: Inseln der Geschichte [1985]. Hamburg 1992. <?page no="37"?> E INLEITUNG 33 Als einer der ersten untersucht Ch. Binns „Sowjetische Feste und Rituale“ 90 im Verhältnis zu religiösem und volkstümlichem Brauchtum. Die Komprimierung eines zu großen und zu heterogenen Zeitraums (von der Oktober-Revolution bis zum Ende der Stalinzeit! ) führt jedoch zu eklatanten Verzerrungen, etwa zu der (unbemerkten, unreflektierten) Übernahme stalinistischer Entstellungen hinsichtlich des Stellenwerts der Masseninszenierungen: „Im Gegensatz dazu [zur Entwicklung von Prozessionen und Demonstrationen] haben die exaltierten, dramatischen Massenveranstaltungen der Petrograder Feste von 1918 bis 1921 / .../ bei den breiten Massen wenig Wiederhall gefunden und gerieten bald in Vergessenheit. Sie stützten sich zu stark auf fremde Vorstellungen aus den Festen der Französischen Revolution und auf den Einsatz von Truppeneinheiten und Künstlern und ließen den Geschmack und die aktive Beteiligung des einfachen Mannes außer acht.“ 91 Indem symbolische Bezüge pauschal als machtstrategische „Glaubenskulte“ dargelegt bzw. denunziert werden, ist eher der Verfestigung von (westlich verstandener) Propaganda gedient, als dem Verständnis von Symbol und Ritual geholfen wäre. Das grundlegene Defizit liegt hier erstens in der Vorstellung einer prinzipiell machtgesteuerten Instrumentalisierbarkeit und zementierten Eindeutigkeit von Symbolen und Ritualen, was zweitens mit der Tendenz einhergeht, das Symbolische, Rituelle und Zeremonielle in eine Reihe zu stellen, und in die Nähe des Nominellen und Virtuellen, des Nicht-- „Authentischen“ und der Manipulation zu rücken. 92 90 Binns, Ch.: „Sowjetische Feste und Rituale. I. Die Entwicklung der offiziellen Haltung zu Brauchtum und Feiergestaltungen“. In: Osteuropa. N°1. Berlin 1979. S.12-21, bes. S.12f. - Ders.: „Sowjetische Feste und Rituale. II. Hauptformen und inhaltliche Bedeutung“. In: Osteuropa. N°2. Berlin 1979. S.110-122. 91 Binns.(1979).I.14. - Dieser Befund ist in jeder Hinsicht „sachlich falsch“ und seit den 1930er Jahren stalinistischer Bestandteil einer restaurativen Abwertung der theatralen Selbstorganisation und der Massenaufführungen — die Binns gerade zu entlarven sucht. (Vgl. Kap.II.1.6., FN416.) 92 Binns.(1979).I.17f. - Hierfür kann die Aufbahrung Lenins als typisches Beispiel gelten: „Dessen [Lenins] einbalsamierter Körper wurde in einem imperialen Mausoleum unter Glas beigesetzt und so die volkstümliche orthodoxe Tradition, die letzte Ehre am offenen Sarg zu erweisen, genutzt. Indem die kein Charisma besitzende Führung Lenins Gestalt auf diese Weise zum Mittelpunkt öffentlicher Zeremonie und politischen Lebens machte, verschaffte sie ihrer Herrschaft ein Signum der Legitimität und Kontinuität.“ (S.14.) Ein genauer Blick ergibt ein anderes Bild: Zunächst war Lenin im Moskauer Gewerkschaftshaus aufgebahrt, es folgen Entwurfsplanungen für ein Mausoleum, bis 1927 werden nacheinander zwei Holzbauten errichtet, dann das Mausoleum aus Stein (der Glasdeckel zum Sarg kam erst 1931 hinzu, als ein enteigneter, verzweifelter Bauer versucht, Lenins Leiche zu erschießen, den Toten also zu ‘übertöten’). Erstens waren also auch Symbole nicht einfach auf ihre ‘imperiale’ Außenwirkung und vermeintliche Kontinuität hin dekretierbar und ausführbar, sondern mit den Provisorien und Mängeln der Nachkriegs-Realität behaftet. Zweitens ist es ausgesprochen unorthodox und auch in anderen Zeiten und Kulturen frevelhaft, einen einbalsamierten Körper dauerhaft auszustellen, d.h. den Gesetzen der Natur zu entziehen: „Weder die <?page no="38"?> E INLEITUNG 34 Im Anschluss daran kommt Ch. Lanes in der western community vielzitierte Arbeit zum sowjetischen Festwesen und Ritualsystem 93 zu vergleichbar tendenziöseren Ergebnissen, trotz eines vorgeblichen kulturanthropologischen Ansatzes: Erstens werden der auf die Stalinzeit fokussierte Blickwinkel und die daraus resultierenden heuristischen Mittel pauschal auf den Zeitraum bis zur Oktober-Revolution rückbezogen 94 . So werden Feste und Rituale zwar auf Übergangsbzw. Krisenzeiten datiert und insofern als ambivalent deklariert — doch der Erste Weltkrieg wird nichtmal gestreift (und der Zweite zuwenig berücksichtigt). Diese Sicht- und Vorgehensweise ist aufgrund der hohen Ereignisdichte der Revolutionszeit fragwürdig und wird seit den 1990er Jahren von der aktuellen (russischen und westlichen) Revolutions- und Kriegsforschung in zeitlich kürzeren und inhaltlich genaueren Abschnitten revidiert 95 . Zweitens werden Symbole als isolierte und statische Elemente behandelt, weitgehend unabhängig von den Personengruppen die sie rezipieren, von der situativen ‘Partitur’ oder der wechselseitigen Transformation dieser Faktoren 96 . Dass die Symbole der Oktober-Revolution keine ehernen Eigenschaften / Bedeutungen haben, sondern erst durch ihren spezifischen Einsatz in einer bestimmten Konstellation zum Ausdruck und zur Geltung kommen, machen die jüngsten Arbeiten auf diesem Gebiet eindrucksvoll Erde noch das Meer sollen seine Gebeine aufnehmen“, lautet ein antiker Fluch, der bis heute auch in Russland geläufig ist. (Caillois.[1950]1988.61. - Kuchinke, N. / Dmitriev, M.P.: Bilder aus dem alten Rußland. Braunschweig, 1989. S.70.) Die Aufbahrung, wie sie noch heute zu besichtigen ist, inszeniert Lenin als Untoten, als Wiedergänger einer ‘Zwischenwelt’, rückt ihn als ‘Zombie’ buchstäblich ins Zwielicht und in den Geltungsbereich des besagten, archaischen Fluchs, der ein uneingestandenes, aber überdeutliches ‘öffentliches Unbewusstes’ artikuliert (siehe dazu die Ausführungen zum „Zwitter“ in Kap.I.4., FN322, sowie zur „Maske / Maskierung“ in Kap.IV.5.1., FN783/ 789). Diese Ambiguität und Dynamik von Symbolen und Ritualen, das subversive Umschlagen ihrer intendierten Wirkung in eine Anklage gegen die offizielle, öffentliche Leichenschändung und gegen die dafür verantwortlichen Mächtigen, werden als inhärente Interpretationsmöglichkeiten von Binns und vielen anderen nichtmal ansatzweise in Betracht gezogen. 93 Lane, Ch.: The Rites of Rulers. Ritual in industrial society. The Soviet case. Cambridge, London, New York 1981. 94 Dies wird im Kapitel „Body Movement Symbolism“ unmittelbar deutlich, worin militärische Praktiken auf das kulturelle Repertoire (Massenchöre, Massengymnastik) übertragen werden. (Lane.1981.224f.) Die fehlende Periodisierung und der tendenziöse Fokus führen hier zu einer völligen Ausblendung der russischen Volksfest- und Zirkus-Tradition mit ihrer gänzlich anderen Körpersprache. 95 Schramm.1983.1992. - Suny/ Adams.1990. - Černjaev/ Galili/ Chajmson.1994. — Altrichter.1997. - Volobuev/ Buldakov/ Ischakov.1997. - Starcev, V.I. / Poltorak, S.N. / Boriskovskaja, L.B. (et al.) (Hg.): Pervaja mirovaja vojna. Istorija i psichologija. Materialy Rossijskoj naučnoj konferencii 29−30 nojabrja 1999g., g. Sankt-Peterburg [Der Erste Weltkrieg. Geschichte und Psychologie. Materialien der russischen Fachtagung, 29−30 November 1999, Sankt Petersburg]. Sankt-Peterburg 1999. 96 Lane.1981.193f. <?page no="39"?> E INLEITUNG 35 deutlich 97 . Drittens wird in Bezug auf Rituale mit dem Postulat operiert, dass gerade im sowjetischen Kontext der symbolische und instrumentelle Aspekt kaum zu unterscheiden und daher austauschbar seien (vgl. hierzu Einleitung 5.) 98 . Hieraus rechtfertigt Lane ihre gesamte Argumentation und Strategie, die mit den instrumentellen Funktionen des Rituals auch alle symbolischen Valenzen abzudecken glaubt, und die wie ein Refrain in der gleichen syllogistischen Kernthese mündet: „Ritual, in such a context, is a tool of political elites in their effort to perpetuate the political status quo.“ 99 „Kultur“ wird zwar als Gesamtheit offizieller und alternativer Praktiken deklariert 100 — eine Einbindung der theatralen Selbstorganisation in Lanes Untersuchung folgt daraus aber gerade nicht 101 : Alternative Kulturträger bleiben ausgeblendet, stattdessen werden ‘Erfüllungsgehilfen’ und ‘Zeremonienmeister’ („ritual specialists“) gegeneinander aufgestellt 102 . Die von der aktuellen Ritualforschung betonte, der Autorin zugeschriebene Feststellung, „dass Rituale nicht nur diskursive Aussagen sind, sondern Dinge in direkter sensueller Form zur Präsenz bringen“ 103 , gilt bei Lane nur für den offiziösen Teil russischer Festkultur. Dementsprechend dienen die Masseninszenierungen hauptsächlich der Aktivierung und dem Transfer „of emotional energy and ideological fervor onto the tasks of the present.“ 104 Die behauptete Vielstimmigkeit des Rituals wird eben nicht polyfunktional entwickelt, sondern inhaltlich zu einem durchweg kalkulierbaren Manipulationsmechanismus restaurativer Kräfte reduziert: Zwar wird die Eigenschaft von Ritualen, Wahrnehmung und Handlung mittels „Ikonizität“ und „Objektivierung“ zu 97 Arvidsson, C. / Blomqvist, L.E. (Hg.): Symbols of Power. The Esthetics of Political Legitimation in the Soviet Union and Eastern Europe. Göteborg 1987. - Figes, O. / Kolonitskii, B.: Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917. New Haven, London 1999. - Wortman, R.: Scenarios of power. Myth and ceremony in Russian monarchy. Volume two: From Alexander II to the abdication of Nicholas II. Princeton, New Jersey 2000. 98 Lane.1981.12.+15. - An diesem Punkt wird die Unkenntnis des orthodoxen Hintergrunds und des dort verankerten Handlungsgebots offenkundig, welches gerade auf die Wechselseitigkeit von symbolischem und pragmatischem Handeln abzielt: demnach darf eine Handlung niemals nur instrumentell (aktionistisch) sein, sie soll eingebettet sein in ein symbolhaftes, ethisches, transzendentes Ganzes (die Beschränkungen der Praxis entkräften nicht die Forderung). Diesen Zusammenhang zu verkennen und daraus die „Austauschbarkeit“ beider Aspekte zu konstruieren bedeutet, das Thema zu verfehlen. 99 Dies.Ebd.16. 100 Dies.Ebd.1. 101 „Consequently the subsequent analysis and evaluation of Soviet ritual centres only on the cultural management function rather than on the reinforcement role of ritual as outlined above.“ (Dies.Ebd.16.) 102 Dies.Ebd.14.+19. 103 Köpping, K.-P. / Rao, U.: „Die ‘performative Wende’: Leben - Ritual - Theater“ (Einleitung). In: Dies. (Hg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz. Hamburg 2000. S.7. 104 Lane.1981.222. <?page no="40"?> E INLEITUNG 36 modellieren, mit der Funktion verknüpft, „to resolve or disguise them [die Konfliktsituationen]“ 105 . Doch die „Objektivierung“ fällt sogleich der „herrschenden“ Meinung und damit Lanes Grundsyllogismus zum Opfer — weil die transformative Wirkung von Ritualen gleichsam automatisch nur der Spitze einer Machthierarchie inhärent und verfügbar sei 106 . Zurück bleibt die pure, zeremoniöse „Ikonizität“ von Ritualen und Symbolen, deren Potential prinzipiell zu einem „disguising“ von Defiziten, zu einer Virtualität und Verbrämung statt zur Verwandlung und Verwirklichung von Werten tendiert. In dieser Richtung geht das hierzulande als Standartwerk zu „Fest“ und „Feier“ zitierte Buch von W. Gebhardt noch einen Schritt weiter. Noch bevor man mit dem russischen Kontext vertraut wird, heißt es dort: „Wir kennen die Massenveranstaltungen im nationalsozialistischen Deutschland, im faschistischen Italien und im bolschewistischen Rußland mit Militärparaden und dem Aufmarsch der Parteiformationen.“ 107 Man fragt sich, woher diese Kenntnis wohl stammen mag angesichts einer restriktiven sowjetischen Politik und Wissenschaft, die sich selbst verhinderte, und außer den ersten (nach)revolutionären, ausländischen Zeitzeugen keinerlei westliche Feldforschungen zuließ. „Militärparaden“ und „Parteiformationen“ stehen fortan stellvertretend für alle sowjetischen Festgenres, werden mit den Feiern des Nationalsozialismus in einem Atemzug genannt und auch gleich behandelt. 108 Weiterhin wird hinsichtlich der Ausführung sowjetischer Revolutionsfeiern behauptet: „Wie dieser [der 01. Mai] waren sie als Massenveranstaltungen konzipiert und bis ins Detail organisatorisch vorbereitet.“ 109 Um welche Art von Perfektion es hier gehen mag in einem Bürgerkrieg, wo alles Mangelware war außer Typhus, Frostbeulen, Kakerlaken und die bei Šklóvskij erwähnten „Ausgusstierchen“, bleibt offen (selbst roter Fahnenstoff war zeit- 105 Dies.Ebd.11. 106 Dies.Ebd. 107 Gebhardt.1987.35. - Auch Küchenhoff lässt sich zur Kolportage hinreißen: „Im revolutionären Rußland und im nationalsozialistischen Deutschland nimmt die Mobilisierung der Massen für Festumzüge groteske Dimensionen an. Die Feste dienen der Machtdemonstration nach außen und der Herrschaftssicherung nach innen, die dadurch möglich wird, dass die Festteilnehmer zur (unterworfenen) ‘Festmasse’ zusammengeschweißt werden.“ (Küchenhoff in Haug/ Warning.1989.100.) In einigen Fällen gab es Zwangsverpflichtungen bei den Akteuren (Kap.VI.1., FN965), ansonsten aber keinerlei Zwangsverschickungen der russischen Bevölkerung zu ihren eigenen Festveranstaltungen. Stattdessen zeigen Erhebungen zum Publikumsverhalten regelmäßig ein sehr vorfristiges und sehr zahlreiches Erscheinen am Festort. (Suslovič, R.R.: „Zritel’ massovogo prazdnika“ [„Der Zuschauer der Massenfeier“]. In: Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.193.). - Zum anhaltenden „Theaterfieber“ siehe: Einleitung 1., FN1/ 3 und 2., FN19/ 26 sowie Kap.III.1., FN508 und III.4., FN576+617. 108 Gebhardt.1987.137. 109 Ders.Ebd.139. <?page no="41"?> E INLEITUNG 37 weise nicht aufzutreiben 110 ). Die These eines „institutionellen Vakuums“ der Revolution 111 erweist sich angesichts des eingangs beschriebenen Überangebots neuer Strukturen, ‘Kontakt-’ und ‘Spielflächen’ als unhaltbar (dazu ausführlich Kap.III.). Dennoch attestiert Gebhardt wiederholt eine breite Akzeptanz dieser Feiern durch die Bevölkerung mit der Begründung, „dass es sich bei diesen Feiern um ‘Urbedürfnisse’ des Menschen, um Grundformen menschlicher Identitätsbildung zu handeln scheint, die sich auch in ‘künstlichen Formen’ einrichten können.“ 112 Hierüber hätte man gerne mehr gewusst, erfährt jedoch als weiteren Grund für den Erfolg, „dass einige Feiern durchaus Unterhaltungswert besitzen, der sie aus der Monotonie des Alltags positiv herausragen läßt.“ 113 Man muss schon über sehr spezielle Fähigkeiten verfügen, um im Rausch der Revolution, in der Not des Bürgerkriegs, oder im Terror der Stalinzeit eine wie auch immer geartete „Monotonie“ zu erkennen. Angesichts der bei Binns, Lane und Gebhardt entworfenen Allgegenwart von Kontrollmechanismen und Kontrolleuren und dem damit einhergehenden Postulat, dass die großangelegten, staatstragenden Inszenierungen des 20.Jh. prinzipiell nicht der wahrnehmbaren, arbeitsteiligen Erzeugung von Macht, sondern der einseitig manipulativen Darstellung „eigentlicher“ (d.h. vermeintlich ganz anderweitig kontrollierter) Verhältnisse und simulierter Hierarchien dienten 114 , drängt sich die Frage nach dem Verbleib und dem Verhalten der Kontrollierten auf: Wo bleibt das Volk zur (Ver)Führung? Und wie erklärt sich die eingangs dargelegte, vieltausendfache Eigeninitiative und Akzeptanz von Diskussionsrunden und Theaterzirkeln, Revolutionsfesten 110 Dem ekelresistenten Leser seien hierzu Šklovskijs Beschreibungen empfohlen (der die alptraumhaften Folgen von Pest und Cholera, Typhus und Gelbfieber, Kannibalismus und Botulismus gnädigerweise nur andeutet): Ders.: „Peterburg v blokade“ [„Petersburg in / während der Blockade“] (März 1920). In: Ders.1923.18.-35. Zu den Sparzwängen im Bereich Dekoration für 1918 siehe Kap.III.4., FN614+615. - Für 1919: „III. Verordnet wird strengste Sparsamkeit bei farbigen Stoffen und anderen Geweben für alle Arten von Dekoration / Schmuck, ebenso wie bei elektrischen Illuminationen.“ (NN: „Postanovlenie Prezidiuma VCIK po povodu prazdnovanija 1 Maja“ [„Beschluss des Präsidiums des VCIK [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee] anlässlich der Feiern zum 1. Mai“] vom 23.04.1919. In: Dekrete.Bd.V.1971.90. - Für 1920: NN: „Soobščenie ob ukrašenii Petrograda v dni prazdnovanija III godovščiny Oktjabrja, opublikovannoe v gazete ‘Žizn' iskusstva’“ [„Mitteilung zur Dekoration Petrograds für die Festtage zum III. Oktober-Jahrestag, abgedruckt in der Zeitung ‘Leben der Kunst’“] (23./ 24.10.1920). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.52.116. (= „Mitteilung.1920.“) 111 Gebhardt.1987.145. 112 Gebhardt.1987.144. 113 Ders.Ebd.145. 114 Gegen die Manipulationsthese von (Macht)Inszenierung(en) wendet sich so deutlich wie überzeugend der Beitrag von: Warstat, M.: „Theatralität der Macht — Macht der Inszenierung. Bemerkungen zum Diskussionsverlauf im 20. Jahrhundert“. In: Fischer- Lichte, E. / Horn, Ch. / Umathum, S. / Warstat, M. (Hg.): Diskurse des Theatralen. (Theatralität, Bd.7). Tübingen, Basel 2005. S.176f. <?page no="42"?> E INLEITUNG 38 und Manöveraufführungen? Ist nicht gerade die Aufführung der zuverlässigere, da manifeste Macht-Indikator? Von der Abdankung des Zaren (März 1917) über die Provisorische Regierung mit ihren notorisch wechselnden Kabinetten (März - Oktober 1917) bis zur Machtübernahme der Bolschewikí (Oktober/ November 1917) und darüber hinaus war ein so radikaler wie schnellebiger Transformationsprozess im Gange, in dem außer der Mitte- / Linkskoalition (Menschewikí, Sozialrevolutionäre, Konstitutionelle Demokraten) auch die frühere Untergrund-Partei Misserfolgen und Umwertungen ausgesetzt war, und ihre Autorität als Regierungs-Partei erst noch beweisen musste: „Den Bolschewiki stand keinesfalls ein detailliertes Programm zur Verfügung, wie sie ihre langfristigen Ziele angesichts der strukturellen Schwierigkeiten verwirklichen wollten.“ 115 Außer dem konsequenten Drängen auf ein Ende des Krieges hatten die Bolschewikí auch ideologisch kein elaboriertes Konzept. Der gleiche Befund gilt für den administrativen und kulturellen Bereich 116 : die analphabetische Bevölkerungsmehrheit kannte weniger die Vertreter materialistischer Philosophie oder marxistischer Wirtschaftstheorie, als vielmehr die widerspenstigen (Il’já Murómec: ❐ 8 in Kap.V.), subversiven (Oblómov von I. A. Gončaróv) oder rebellischen Volkshelden (Stepán „Stén’ka“ Rázin) aus der mündlichen Überlieferung (Kap.V.4., FN922/ 933). Der neu erschlossene öffentliche Raum hatte vorerst nur Foren für Visionen und Revisionen, aber kaum klare Maßstäbe oder sichere Anwendungskriterien für die dringenden, ständig wechselnden Alltagsprobleme zu bieten. Bis 1921 sind in den zahllosen Dekreten, Richtlinien und Beschlüssen der jungen Regierung keinerlei Hinweise auf eigenständige, systematische Strukturen oder Budgets für Propaganda („Apparat“) zu finden. Die Frage, wie in der Zerrüttung des Bürgerkriegs ausgerechnet Propaganda glaubwürdig formuliert, effizient organisiert, zielsicher vermittelt und auch noch zuverlässig hätte verankert werden können, deutet auf deren Stellenwert als ein Desiderat unter vielen anderen, dessen Erfüllung in weiter Ferne lag 117 . Dagegen ist es sicher nicht zu hoch gegriffen, zu behaup- 115 Haumann, H.: „Die Geschichte der Sowjetunion. Ein Überblick“. In: Bütow, H.G. (Hg.): Länderbericht Sowjetunion. Bonn 1988. S.22. 116 Židkov.1991.25.+75f. 117 Bald nach dem Machtwechsel und im Laufe des Bürgerkriegs wurden Agitations- und Aufklärungszüge eingerichtet und mit politischen Materialien und Instruktoren in entlegene Regionen oder an bestimmte Frontabschnitte geschickt. Hier wurde eine elementare Aufklärungsarbeit zu tagespolitischen Ereignissen und Entwicklungen des Krieges, der absehbaren Versorgungslage, bevorstehender Maßnahmen (Flüchtlings- Bewegungen, Seuchen-Prävention etc.) geleistet, die aufgrund des herrschenden Analphabetismus und des ständigen Zeitmangels weit entfernt war von einer didaktischen Elaboriertheit oder medialen Effizienz, und die in einer oralen Tradition stand (Vorlesen, Schautafeln). Infolge fehlender, zugeschneiter, überfluteter, defekter oder zerstörter Verkehrswege und Telegraphenleitungen (mit verheerenden Dimensionen in den unendlichen Weiten des agrarischen, vormodernen Russlands) war die Trefferquote erreichbarer Orte und Menschen mittelmäßig bis schwach: traf endlich ein Transport am <?page no="43"?> E INLEITUNG 39 ten, dass die Bolschewikí die erste russische Regierung darstellten, die ihrer Bevölkerung direkt, systematisch (d.h. regelmäßig und ausführlich) und ‘auf Augenhöhe’ begegnete und mit ihr kommunizierte (Kap.III.4.). Mit diesem Rollenbild betraten also auch die Bolschewikí Neuland, das in medialer Hinsicht erst noch erschlossen werden musste. Vor diesem Hintergrund bot die Verfügbarkeit und Verlässlichkeit bestimmter Traditionen und Praktiken der orthodoxen Fest- und russischen Theaterkultur ein Forum für die Ziele der Bolschewikí und für die Hoffnungen der Bevölkerung. Da nur wenige Aussagen von Beteiligten überliefert sind, gebührt deren vieltausendfacher ‘Abstimmung mit den Füßen’ als einem ‘performativen Zeugnis’ eine umso größere Beachtung 118 : Der freiwillige Einsatz der Teilnehmer dokumentiert ihre Rolle als Teilhaber von Öffentlichkeit, und die Tatsache, dass jeder Einzelne etwas Essentielles für sich wiederfand, was die Bolschewikí in ihren Veranstaltungen - ob bewusst oder nicht - anbieten konnten. Im Anschluss an die jüngste Revolutions- und Kriegsforschung steht jedenfalls fest, dass im hier behandelten Zeitraum ein tragfähiges symbolisches und diskursives Kommunikationssystem von vielen, durchaus verschiedenen Seiten neu gestiftet und noch erprobt wurde: Demnach lässt sich die Revolution weder von russischer noch von westlicher Seite länger zu einem gesetzmäßigen Triumph oder zu einem machtpragmatischen Alleingang der Bolschewikí hochrechnen. 119 Ziel ein, passierte es, dass die Bevölkerung tagelang und kilometerweitweg zu einem Sondereinsatz abkommandiert war (z.B. Brennholzbeschaffung in den Wäldern, zum Schneeräumen an den Gleisen. Schneeverwehungen werden inzwischen von der Forschung als spezifischer Faktor der Kultur und Geschichte Russlands entdeckt.) Seit September 1920 zeichnen sich Systematisierungs-Bestrebungen im Bereich „Aufklärung“ ab. (NN: „Postanovlenie VCIK o merach po usileniju dejatel’nosti Narodnogo komissariata prosveščenija“ [„Beschluss des VCIK [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee] für Maßnahmen zur Verstärkung / Effektivierung der Tätigkeit des Volkskommissariats für Aufklärung/ Bildung“] vom 27.09.1920. In: Dekrete.Bd.X. 1980.220f.) Im November 1920 wird im Zuge allgemeiner, administrativer Verschlankung und zentralistischer Effektivierung der beim NarKomPros [Volkskommissariat für Aufklärung / Bildung] angesiedelte, institutionsübergreifende GlavPolitProsvet (Hauptkomitee für Politik und Aufklärung) etabliert. Erst diese, frühestens 1921 anlaufende Institution ließe sich als Grundstein eines Propaganda-„Apparates“ verstehen. (Vgl. Einleitung 3., FN74.) 118 Vgl. Geldern.1993.3f. - Auch von den (Entwürfen von) Dekorationselementen ist nur ein Bruchteil erhalten und - wie etwaige Filmaufnahmen - kaum zugänglich. (Bibikova in Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.19. - Schlögel.1988.368.) 119 Geldern geht hier noch einen Schritt weiter: „/ .../ revolutionary Russia has come to be seen as a participatory, if not democratic, society, where competing myths and ideas were exchanged by the population and leaders.“ (Geldern.1993.6.) Für das Attribut „demokratisch“ sind jedoch aus den gleichen Gründen Zweifel angebracht: Wie hätten sich so schnell demokratische Strukturen entwickeln können in einer bis dahin (und bis heute) hierarchischen, patriarchalen und paternalistischen Gesellschaft? <?page no="44"?> E INLEITUNG 40 Im Unterschied zu den bisher genannten Titeln ist A.I. Mazáevs Untersuchung der erste umfassende, westliche Festtheorien einbeziehende Versuch, einen kultursoziologischen Ansatz auf (Revolutions)Feste anzuwenden, deren Krisensymptomatik und Zyklizität eine prinzipielle Ambivalenz begründe zwischen der Erneuerung oder Zementierung von Werten, Verhaltensmustern und Handlungsmodellen 120 . Im Anschluss an die „soziologische Schule“ (Einleitung 3., FN72) gilt sein Augenmerk dem seit ihrem Ende vernachlässigten Verhältnis von Fest und Theater. Zwischen diesen Polen fungierten die Masseninszenierungen als eine Art ‘Agent’ 121 , wohingegen dem Spiel die Möglichkeiten des „Vermittlers“, also des ‘Diplomaten’ bereitstünden: als „abgemilderte Variante von ästhetischer Handlung“ 122 habe das Spiel den Vorzug, die physische oder psychologische Rampe zu überwinden, und die Eigenschaft, verbindliche Konsequenzen von Handlung aufzuheben. 123 Mazáev zufolge erscheinen Feste und Feiern nicht bloß als rekreative Kompensation für einen materiellen Produktionsablauf (das Fest als „Freiheit von“ Arbeit, physischer Anstrengung, zeitlicher Belastung etc.), sondern figurieren - im Anschluss an Bachtíns Festtheorie des Karnevals (FN85+86) - als originäres und konstitutives Medium innerhalb eines sozialen Kommunikations- und Interaktionssystems mit den besagten, körperlich-sinnlichen Auswirkungen (das Fest als „Freiheit für“ Genuss, Beziehungen, Muße) 124 . Besonders in den frühen und kleineren revolutionären Festformen (Kundgebungen, Demonstrationsmärsche) verdichte sich der öffentliche Raum zu einem überschaubaren, informellen Kontaktforum (parallel zur offiziellen Presse) und vermittle ein Gefühl der Identifikation mit historischen Vorgängen. 125 Tritt dagegen die spielerische Interaktion zurück, so Mazáev weiterhin, setze „Theater“ seine „Spektakelhaftigkeit“ frei und die Rampe in Kraft, wodurch die Revolutionsfeste an innovativer und integrativer Wirkung verlören. Dies gelte umso mehr für die Masseninszenierung in ihrer Eigenschaft als Propaganda-Mittel 126 , welches das Zerstörungsmotiv der alten Welt herausstelle 127 , sowie als hierarchisch organisierte Veranstaltung, die einem macht- 120 Mazaev.1978.131.+76. - „Diese Fragen und ihre Auslegung erscheinen hier in einer Reihe von Beziehungen: Fest und Kommunikation, Fest und sozialpolitisches Ideal, Fest-Zeit und freie Zeit, Fest und Spiel u.a.“ (Ders.Ebd.4f.+158f.) Es ist Mazaevs enormes Verdienst, das Thema „Festkultur“ so umfassend zu erforschen, und dabei immer wieder subversive Inhalte zu formulieren, bzw. dort, wo sie politisch unerwünscht sind, Inhalte subversiv zu formulieren. 121 Ders.Ebd.311f. 122 Ders.Ebd.164.+159. 123 Ders.Ebd.282. 124 Ders.Ebd.73.+254. 125 Ders.Ebd.bes.243., 128., 289. 126 Ders.Ebd.305.+325. 127 Ders.Ebd.329f. - Dazu auch Tamašin.1961.37f. <?page no="45"?> E INLEITUNG 41 befugten Regie-Stab unterstehe 128 — eine Entwicklung, die erst Mitte 1920 in einem neuen ‘Ordnungsbild’ sichtbar wird (Schlusswort 2.). Anders als die Revolutionsfeste hätten die Masseninszenierungen auf Dauer keine tragfähige Identifikationsbasis stiften können: „Weil ihre eigentliche Bedeutung nicht sosehr in den Revolutionsereignissen selbst lag, als vielmehr in der Haltung [der Veranstalter] dazu, die auf das noch sehr schwache Bewusstsein der Massen abgestimmt [sprich: tendenziös, präskriptiv - MD] war / .../ .“ 129 Für den hier behandelten Zeitraum lassen sich jedoch die öffentlichen Appelle kulturpolitischer Gremien zur Vorbereitung von Festszenarien 130 , die Teilnahmemöglichkeit an 131 und der Zuschaueransturm während der Manöveraufführungen einwenden (d.h. Vorgänge, die eben gerade unmittelbar aus den „Revolutionsereignissen selbst“ resultieren), sowie gerade auch die Haltung der „Massen“ (also ihr „starkes“ Bewusstsein), wie Mazáev selbst an anderer Stelle konzediert: „Und wenn bei den Petrograder Aufführungen dennoch keine staatsverordneten Veranstaltungen herausgekommen sind, wenn sie imstande waren, den Enthusiasmus der Massen zu entfachen, sie mit einer Feststimmung aufzuladen, so verdanken sie dies ausschließlich den Massen selbst und der enormen revolutionären Energie, die ihnen der Oktober eingeflößt hatte.“ 132 Galt die revolutionäre / sowjetische Festkultur bei Binns und Lane noch als hermetisches ‘Mach(t)werk’, wird sie bei Mazáev zu einer ‘horizontalen’ 128 Ders.Ebd.342f. 129 Ders.Ebd.333. 130 NN: „Iz vozzvanija repertuarnoj sekcii ko vsem kul’turno-prosvetitel’nym organizacijam, pisateljam, učënym, chudožnikam, rabotnikam teatra s pros’boj prinjat’ učastie v rabote po sozdaniju novogo repertuara“ [„Aus dem Aufruf der Repertoire-Sektion an alle Kultur- und Bildungs-Organisationen, Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler, Theater-Arbeiter mit der Bitte, an der Arbeit zur Schaffung eines neuen Repertoires teilzunehmen“]. Spätestens von Anfang Dezember 1918. In: Jufit, A.Z. (Hg.): Russkij sovetskij teatr 1917-1921. Dokumenty i materialy [Das russische sowjetische Theater 1917-1921. Dokumente und Materialien]. Leningrad 1968. S.44. Und noch 1920 ist in einem Appell an die „Bürger! “ zu lesen: „Die Sektion für Massenschauspiele und Massenspektakel des TEO des Narkompros [Theaterabteilung des Volkskommissariats für Aufklärung / Bildung] wendet sich an alle künstlerischen Organisationen, an alle Theaterstudios, Zirkel und Personen [mit der Bitte], die Sektion mit Ratschlägen zu unterstützen. / .../ Die Sektion ruft alle Interessenten auf, an der Ausarbeitung des Festplans teilzunehmen und sie an das Sektionsbüro weiterzuleiten. All ihre Beiträge [der Sektion] werden ausführlichst veröffentlicht, damit jeder Interessent daran teilhaben kann / .../ . Die Sektion nutzt nicht bloß die Presse, sondern veranstaltet auch eine Reihe von Versammlungen, Diskussionen und Gesprächen, wo wir alle im lebhaften Austausch der Teilnehmer das erste grandiose Szenarium eines Massenschauspiels zur 1. Mai-Feier schreiben werden.“ (NN: „Vozzvanie sekcii massovych predstavlenij i zrelišč TEO Narkomprosa o sozdanii massovych narodnych teatrov“ [„Aufruf der Sektion für Massenschauspiele und Spektakel der TEO des Narkompros zur Schaffung von Volks- und Massentheatern“] (29.01.-04.02.1920.). In: Jufit.1968.64. 131 Tamašin.1961.27. 132 Mazaev.1978.346. <?page no="46"?> E INLEITUNG 42 Verständigung im Falle der Revolutionsfeste aufgewertet, wohingegen sie im Falle der Manöverinszenierungen ihre ‘vertikale’ Hierarchie als Stigma beibehält. Dieser Befund erscheint indes soweit anfechtbar, wie Mazáevs Ritualbegriff strukturell unbestimmt bleibt und auf das gleiche Gefälle hinausläuft, wie das von ihm ermittelte Verhältnis zwischen „Fest und Theater“: Demnach gelten „proletarische“ Praktiken („Demonstrationen, Prozessionen, Versammlungen, Manöver“) als „rituell“ und ‘legitim’, da sie ein spielerisches und integratives Moment enthalten 133 . Dagegen sind „spektakelhafte“ Praktiken (vor allem Geometrisierungen wie Chöre und Choreographien) ebenfalls „rituell“ aber ‘illegitim’, weil dort nur „schwach oder garnicht verarbeitete Informationen“ und Werte reproduziert würden, die zum Automatismus oder gar zur Stagnation führten 134 . Damit läuft Mazáevs Argumentation auf eine Polarisierung von außerästhetischen und ästhetischen Praktiken hinaus: seiner impliziten Kritik am ästheti(zisti)schen Missbrauch der Feste durch die Herrschenden 135 (wobei die ästhetische Kompetenz reflexhaft nur eben diesen Herrschenden unterstellt wird), steht die Nachsicht mit einer ästhetisch ungebildeten Bevölkerung gegenüber 136 . Mit diesem Befund, der das ideale (Revolutions)Fest gleichsetzt mit einem schrankenlosen Festtreiben, einem „Fehlen der Rampe“ 137 - ohne dabei auch die Art und Weise ihrer Überwindung, also den Grad ihrer ‘Legitimität’ einzubeziehen (siehe dazu Kap.VI.) - ist für das Ritual zwar nichts gewonnen, aber für die Manöveraufführungen immerhin die Frage erhoben nach ihren Bedingungen von Wahrnehmung und ihrem Interaktions- und Identifikationsangebot im Rahmen eines öffentlichen, symbolischen Austauschs. 138 Ergänzend dazu ist V.V. Glébkins Untersuchung wohl der erste, westliche Ritualtheorien einbeziehende und kulturanthropologische Versuch, einen ausformulierten Ritualbegriff auf die (nach)revolutionäre russische Festkultur anzuwenden. Im Einvernehmen mit der aktuellen Ritualforschung konstatiert er, dass Feste (Feiern) „eine ähnliche symbolische Struktur aufweisen“, dabei aber „weiterreichend“ seien als das Ritual 139 . Während nun die Forschung das Ritual nicht unbedingt auf ein (institutionalisiertes) Heiliges gerichtet sieht (Einleitung 5. - „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2.), setzt sich das Ritual bei Glébkin gerade als etwas ‘Absolutes’ von Fest und Feier ab. Die Wirkkraft des Rituals sei so dominant, dass es sich von der Alltagssphäre abschotte und eine eigene Wirklichkeit schaffe: „Die rituelle Handlung ist sich selbst genug, sie schafft sich ihre eigene Realität, für die es die Realität 133 Ders.Ebd.282.+289. 134 Ders.Ebd.76f. 135 Ders.Ebd.281f.+343f. 136 Ders.Ebd.284f. 137 Ders.Ebd.282. 138 Ders.Ebd.284f.+289f. 139 Glebkin.1998.19. - Martin.1973.21f. - Köpping/ Rao.2000.4. <?page no="47"?> E INLEITUNG 43 des Alltags einfach nicht gibt, während das Fest / die Feier [prázdnik] vom Alltag ausgeht und ohne den Alltag sinnlos ist.“ 140 Wie oben skizziert wurde (Einleitung 3.) und noch zu sehen bleibt („Exkurs zum Ritual“), besteht die Kernfunktion des Rituals - so mein Befund - in einer (auf Dauer angelegten) Statusänderung, deren Notwendigkeit sich aus dem Alltag ergibt, und deren Auswirkung in eben diesen Alltag zurückführen und eingreifen soll: danach ist man unwiderbringlich ein Anderer. Weder verliert das Ritual seinen sakralen Ursprung, noch der Alltag seinen weltlichen Kontext: es erfolgt keine ‘amalgamierte’ Kontamination, sondern eine ‘inselartige’ Kombination, eine kurze Berührung, wonach beide Sphären wieder auseinandertreten, und ein transformierter Alltag zurückbleibt. Ob es sich bei diesem Alltag um den Regelzustand „Frieden“ oder um den Ausnahmezustand „Krieg“ („Revolution“) handelt, ist für die Wirkkraft des Rituals ohne Belang. Im Unterschied dazu - so mein Befund weiterhin - nimmt das Fest zwar einen temporären Statuswechsel vor, bleibt aber weit weniger folgenreich und hinterlässt den Alltag fast unverändert: man war ‘dabei’, aber man bleibt der Gleiche. Glébkins Postulat wäre also dahingehend zu ergänzen, dass beides - Ritual und Fest - ohne Alltag ‘sinnlos’, d.h. ohne rechte Funktion bliebe. Als Umschlagpunkt bzw. als Gegenentwurf stellen sie jeweils eine kulturelle Praktik dar, worin „Außeralltäglichkeit“ zutage tritt und erfahrbar wird. Daraus lässt sich m.E. indes nicht schließen, dass auch der Grad an Außeralltäglichkeit der gleiche wäre. Als ein nur durch sich selbst modifizierbares ‘Absolutes’ (ob als institutionelles oder informelles ‘Heiliges’) vollzieht das Ritual eine Grenzüberschreitung: es nimmt dadurch einen weit geringeren Abstand zur Totalität des Krieges ein, als das Fest, das sich mit diesem bloß den Ausnahmezustand teilt. Wie in den Fallbeispielen gezeigt wird, sind die Manöverinszenierungen als Grenzgänger zwischen Fest und Ritual auf komplexe Weise mit dem paradoxen Revolutions‘alltag’ verbunden und daher potentiell imstande, eine Statusverschiebung der Beteiligten in die eine, relative, oder in die andere, ‘absolute’ Richtung zu bewirken — zum Teilnehmer (Fest/ Feier) oder zum Eingeweihten (Ritual). Das Fest erfährt dort eine Steigerung der sakralen Spannung, während das Ritual dort weniger denn je auf einen säkularen Eigenwert reduzierbar (was einer Aporie gleichkäme: Einleitung 5. - „Exkurs zum Ritual“) und erst recht nichtmehr nur auf den kirchlichen Bereich zu beschränken ist, sondern eine Potenzierung seiner öffentlichen Wirkung erfährt. Wie weiterhin zu sehen bleibt, ist es der Krieg, der die archaische Opposition Leben und Tod und die Revolution anfacht, der Fest und Ritual aufeinander zu- und ihre Polaritäten hervortreibt, welche die heutige Ritualforschung für überwunden hielt. 141 140 Glebkin.1998.21., 17., 19. 141 Köpping/ Rao.2000.1. - Siehe „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2. <?page no="48"?> E INLEITUNG 44 Für die Revolutionsfeste unterscheidet Glébkin zwischen Übergangsritualen, die den sozialen Status des Einzelnen modifizieren, und „Vitalisierungsritualen“ 142 (öffentliche Feiertage und Veranstaltungen), die als energetische Quelle und formalisierter Ausdruck des Kollektivs in Bezug auf ein „Existenzial“ (ein informeller, unterschwelliger Konsens von Werten, Hoffnungen etc.) fungieren (Kap.IV.5.2.). Im Anschluss an Mazáev verbindet Glébkin die „proletarischen“ Versammlungen und Demonstrationen mit der „sympraktischen“ Kultur der einfachen Bevölkerung 143 , die Masseninszenierungen dgegen mit der Dominanz einer „theoretischen“ Kultur der Intelligéncija, wobei es zwischen beiden kaum Berührungspunkte gebe 144 . Zwar könnten die Masseninszenierungen stellenweise die Funktion von „Vitalisierungsritualen“ beanspruchen 145 — doch als utopische „Abstraktionen“ verlören sie längerfristig diese Autorität 146 und blieben folgenlos für die weitere sowjetische Festkultur 147 . Bedenkt man jedoch das forcierte Ende der Manöveraufführungen dieses Zeitraums (Einleitung 1., Schlusswort 2. und 4.), wäre gerade diese anschließende ‘Leerstelle’ eine bedeutende Folge innerhalb der Festkultur, d.h. ein Beleg für deren Akzeptanz und Wirksamkeit: ähnlich wie Binns (FN91) übernimmt Glébkin hier unwillkürlich eine offiziöse, nachträgliche Sichtweise bzw. Sprachregelung, statt die Bewertung der Manöveraufführungen in ihrer manifesten, sensorischen und informellen Wirkung (eben als „Existenzial“) aufrechtzuerhalten. Somit reproduziert auch Glébkin das etablierte Gefälle zwischen ‘Lenkern’ und ‘Gelenkten’, wobei gegenüber Mazáev der symbolische Austausch sozialer Hierarchien zwar ‘tiefer’ angesiedelt, aber darum nicht ‘durchlässiger’ wird. Gegen die solcherart festgeschriebene Vormachtstellung einer Kultur- oder Kaderelite ist mein Einwand von kategorischer Art, denn Intellektuelle und Bauern lebten nicht in zwei isolierten Dimensionen. Zweifellos war die Bevölkerungsmehrheit weder lesenoch schreibkundig — doch genauso unzweifelhaft ist, dass sie im Umgang mit visuellen und auditiven, gestischen und proxemischen Symbolen mindestens ebenso versiert war wie ihre Führung. Wie die anschließenden Untersuchungen zeigen, geht der Ursprung beider Traditionslinien - der altphilologisch gebildeten Intelligéncija ebenso wie der volksmythologisch geprägten Bauernschaft - auf eine gemeinsame Religion und Repräsentationskultur zurück: über die Orthodoxie führen alle Wege nach Byzanz. 142 Glebkin.1998.72. 143 Glebkin versteht unter „Sympraxis“ das Unvermögen von begrifflichem Denken und selbstreflexivem Ausdruck. (Ders.Ebd.75f.+91f.). Im vorliegenden Kontext verwende ich den Begriff im ethymologischen Sinne: „Sympraxis“ als bewusste und freiwillige Teilnahme / Teilhabe an kommunikativen Prozessen und performativen Vorgängen. 144 Ders.Ebd.75f., bes.77., 91. 145 Ders.Ebd.85. 146 Ders.Ebd.92.+101. 147 Ders.Ebd.75f.+92f. <?page no="49"?> E INLEITUNG 45 Gegen derlei Interpretationen, deren logischer Fluchtpunkt explizit oder implizit der Totalitarismus bleibt, führt schließlich J.v. Gelderns Buch über Bolshevik Festivals, 1917-1920 einen maßgeblichen, prinzipiellen Einwand ins Feld, den die eingangs genannte Grundthese aufgreift (Einleitung 1., FN15/ 16): „All these asumptions ignore the vagaries of symbolic communication, the subjectivity injected into the process by audience, and the chaos and confusion of Civil War Russia. Propaganda was a dialogue, with the audience as the silent interlocutor. It was a living interaction in which audience and maker were in constant communication. / .../ If the revolutionary festivals did ultimatively serve to strengthen Bolshevik power - which is not at all clear - they did so because artists displayed their magic according to their own rules. Politicians did not make the festivals, just as the artists could not have run the state. What is fascinating is to observe their interaction and their influence one to another.“ 148 Seinerseits ‘im Dialog’ mit der kulturellen und historischen Anthropologie, entwickelt Geldern einen komplexen Ansatz aus ludischen, dramatischen, rituellen und mythologischen Elementen, und formuliert daraus zwei fruchtbare Kernthesen: Zum einen ermöglichten symbolische Handlungsformen die Konfiguration vergangener und aktueller Realität zu einer gültigen, verhandelbaren Gegenwart der Revolution 149 . Zum anderen verbindeten sich dramatische und rituelle Elemente der Feiern zu einem Revolutionsmythos, der eine soziale Verständigung und Identität stifte, und darin die Selbstdarstellung und Legitimation der Bolschewikí als Höhepunkt der Revolutionsgeschichte veranschauliche 150 . Die Produktivität ist hier eine zweifache, insofern als Gelderns Argumentation den besagten Propaganda-Vorwurf nicht bloß kontert, sondern die gesamte Fragestellung geraderückt: „Rather than forcing festivity into the straitjacket of ideology or class and asking how certain groups celebrated certain ideas, it is more productive to reverse the question and ask what happened to ideas when they were celebrated.“ 151 Weniger effektiv erscheint dagegen die schwache Abgrenzung zwischen Revolutionsfesten und Massenaufführungen. Während einerseits Elemente aus der Volkskultur, der Liturgie und den Hofzeremonien angeführt werden 152 , nimmt anderseits das Ritual eine bloß nachgeordnete Stellung ein, weil es sich an einen engen Kreis von Eingeweihten mit dem begrenzten Horizont 148 Geldern.1993.10.+13. 149 Ders.Ebd.11f. 150 Ders.Ebd.8f. 151 Ders.Ebd.8f.+12. 152 Ders.Ebd.8f. <?page no="50"?> E INLEITUNG 46 gleicher Vorkenntnisse und Wertvorstellungen wende: „In revolutionary times, when the regime was presenting its programm to new and unfamiliar people with whom it shared no political language, ritual was of limited utility.“ 153 Stattdessen betont Geldern die Bedeutung eines Revolutionsmythos, der den Personen, Orten und Momenten historischer Ereignisse eine Identität verleihe und somit selbst zu einer Identifikationsbasis für das Publikum würde. 154 Doch der Einblick in verschiedene Mythos-Konzepte zeigt erstens, dass das Identifikationsangebot des Rituals demjenigen des Mythos in nichts nachsteht, eher umgekehrt 155 : Im unabschließbaren Mythos bewegt sich der Mensch auf das Allgemeine zu, ohne es je zu erreichen, und verwischt dabei seine ‘Kontur’, wohingegen das definierte Ritual den Einzelnen ‘einholt’ und das Besondere vollzieht, indem es eine Statusänderung an bzw. mit ihm vornimmt, also seine ‘Kontur’ schärft. In diesem Sinne soll in der vorliegenden Arbeit nicht die Erzählung, sondern die Handlung im Vordergrund stehen. Ohne sich in weitere Definitionsnöte zu vertiefen, weist der Mythos zweitens eine Tendenz zur Allegorese statt zur Exegese auf, zumal Geldern den Begriff eher als „topos“ denn als „techne“ verwendet: Im Bann der Magie symbolträchtiger Orte (Winterpalais! ) tritt der Vorsatz subjektiver Handlung zurück hinter eine vermeintlich objektivierbare ‘Vorsehung des Geschehens’ („myth of destiny“) 156 . Sosehr Gelderns Ansatz gegenüber den Vorgängern hervor- und besticht, sosehr stimmt er mit ihnen darin überein, dass das Ritual eine gewisse Einschränkung oder gar einen Verlust für die Feste (Feiern) und Inszenierungen darstellt. 5. Thesen und Vorgehensweise So erfordern die bisher genannten Defizite, welche die Revolution zu einem Propaganda-Unternehmen reduzieren (Binns, Lane, Gebhardt), dabei aber die implizite Logik und Deutungshoheit der späteren Bolschewikí fortschreiben (Binns: Massenveranstaltungen = unpopulär, Gebhardt: Massenveranstaltungen = gegen Monotonie, Mazáev: ästhetische Kompetenz = Herrscherkultur, Glébkin: Masseninszenierungen = folgenlos), in zweierlei 153 Ders.Ebd.11. 154 Ders.Ebd.144. 155 Schlesier, R.: „Mythos“. In: Wulf.1997.1079f. - Zur Dominantenverschiebung vom Mythos zum Ritual Ende des 19.Jh. siehe: Brunotte, U.: „Das Ritual als Medium ‘göttlicher Gemeinschaft’. Die Entdeckung des Sozialen bei Robertson Smith und Jane Ellen Harrison“. In: Fischer-Lichte, E. / Horn, Ch. / Umathum, S. / Warstat, M. (Hg.): Wahrnehmung und Medialität. (Theatralität, Bd.3). Tübingen, Basel 2001. S.88+91. 156 Dies wird besonders dort deutlich, wo Geldern seinen „Revolutionsmythos“ zu einem „Gründungsmythos“ ausbzw. überdehnt (Geldern.1993.12., 55., 206.), wie im Falle der E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS (Kap.VI.5.1.). Siehe hierzu meinen Einwand in Kap.II.3., FN481/ 485. <?page no="51"?> E INLEITUNG 47 Hinsicht eine Revision, aus der ein neuer Ansatz für die Petrograder Revolutionsfeste formuliert werden kann. Zum einen sollen die Manöveraufführungen aus der Rezeptionsspur von „Propaganda“ herausgelöst werden. Dabei kann es nicht vordergründig um das Entkräften von Ideologien gehen: die Gedanken sind frei, ebenso wie die ‘Miasmen’. Vielmehr sollen und können die Manöveraufführungen anhand ihrer jeweiligen Theatralität und Performativität unter einem wirkungsästhetischen und kulturanthropologischen Aspekt für die Festforschung und Theaterwissenschaft zurückgewonnen werden. In diesem Sinne geht diese Arbeit von der Annahme aus, dass kulturelle Prägungen weder dekretierbar noch löschbar sind, und dass die Feste (Feiern) und Inszenierungen der russischen Revolution solcherart durch ihre Zeichen und Verfahren, ihre Symbole und Rituale, vor allem auch durch ihre jeweilige Ablaufspannung und Ereignishaftigkeit eine genauere ‘Anatomie’, Mentalität und Dynamik ihrer Soziotope offengelegt haben, als es voluntaristische Manifeste oder apodiktische Dekrete je vermocht hätten. Damit greift dieser Ansatz jene Perspektive auf, die der orthodoxen Zeichen- und Bilderwelt programmatisch zugrundeliegt: Vor dem Hintergrund des Platonischen Bildungs- und Aristotelischen Mimesis-Begriffs (Einleitung 3., FN73) fungiert hier jedes Zeichen (jede Geste) und jedes Bild (jede vom Blick erkannte Situation) als Bedeutungsträger eines „göttlichen“ Modells (umgekehrt haftet jeder Semiotisierung etwas Sakrales / Heiliges an 157 ) und als Sinnstifter einer bzw. für eine Gemeinschaft, und ist damit an einen Interpretations- und ‘Lehr’auftrag, d.h. an ein Handlungsgebot gebunden (siehe Kap.II.1.3.) 158 . Unter dieser zweifachen Voraussetzung erscheinen die Begriffe „Ideologie“ und „Propaganda“ in einem anderen Licht: mit Blick auf das byzantinische Zeremonial-Erbe können Pomp, Prunk und Pathos nicht länger als Hohlform oder Blendwerk abgetan werden. Vielmehr folgen diese 157 „Jedes Zeichen ist einem göttlichen Modell nachgebildet. Historische Ereignisse und Personen werden nur als figurale Interpretationen eines im Ursprung göttlichen Modells interpretiert. [fett MD]“ (Koschmal, W.: „Zeichenkonzeptionen im slavischen Altertum“. In: Posner, R. / Robering, K. / Sebeok, T. (Hg.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 1.Teilband. Berlin, New York 1997. S.823.) - Vgl. dazu den Zusammenhang von „théa“ - „theoría“ - „théatron“, sowie die Triade „Schauen - Wissen - Wirken“ in der griechischen Antike. (Kerényj, K.: „Höhepunkte der griechischen und römischen religiösen Erfahrung“ (1938). In: Ders.[1971]1995.77f.+80f.) (= Kerényj.(1938/ b).[1971]1995.) 158 Soweit ersichtlich, gehört der Abschnitt „Theater und Ikonenmalerei — Theater und Miniaturistik“ von Gregor / Fülöp-Miller zu den älteren Abhandlungen, die am Beispiel der bildenden und der Illuminations-Kunst eine Verbindung zwischen Religion und Theater herstellen: „In beiden Fällen überwiegt das Symbol das Dargestellte bedeutend, was wir sehen, sind nur Ausdrucksprägungen für das, was wir sehen oder ahnen sollen.“ (Gregor, J. / Fülöp-Miller, R.: Das russische Theater. Sein Wesen und seine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Revolutionsperiode. Zürich, Leipzig, Wien 1928. S.21.) (Vgl. hier FN163.) <?page no="52"?> E INLEITUNG 48 Formen von Repräsentationskultur einer östlichen ‘Ornamentierung’ und dem orthodoxen Transparenzgebot, wonach die spezifische Signal- und Spektakelhaftigkeit einer Veranstaltung die jeweilige Bedeutsamkeit ihrer Inhalte artikuliert und anzeigt (vorfindliche Machtverhältnisse ebenso wie ersehnte Entwürfe oder drohende Utopien) — ein Verfahren, das nichts an Deutlichkeit noch an Orientierung vermissen lässt 159 , und auch deshalb zu einem zuverlässigen und wirksamen Bestandteil des sozialen Werte- und Kommunikationssystems werden konnte. Zum anderen gilt es, das Ritual als wahrnehmungsprägende und realitätsstiftende 160 , d.h. nicht als ‘symbolische’ (virtuelle), sondern als ‘symbolhafte’ (faktische) Handlung zu begreifen 161 . Dies gilt umso mehr für das Ritual im Verständnis der russischen Orthodoxie, wo ein flexibler, aber irreduzibler ‘Sicherheitsabstand’ die Distanz oder Nähe zwischen der Welt des Alltags und der ‘Parallelwelt’ 162 des Heiligen (im Gegensatz zur Scheinwelt des Unheiligen) austariert, und eine ‘Analogierelation’ 163 zwischen Dasein und 159 Als Beispiel siehe hierzu: Canetti, E.: „Der wachsende Thron des Kaisers von Byzanz“. In: Ders.: Masse und Macht [1960]. München 1980. S.449f. - Auf dieser Ebene ist die Prachtentfaltung mancher neureicher Russen zu verstehen: zwar trübt keine Bescheidenheit ihren Auftritt — dafür verschleiert kein Understatement ihren Status (oder ihren Anspruch). Umgekehrt gilt: man kann auch mit Bescheidenheit angeben, und die beflissene (materielle, soziale) Diskretion des „hanseatischen Kaufmanns“ als Täuschung oder Maske verstehen: siehe Kap.IV.5.1., FN783/ 789. 160 Geertz, C.: „Religion als kulturelles System“. In: Ders.[1983]1995.78. 161 So ‘mindert’ die symbolische Auszeichnung einer Leistung sowohl den Vorgang der Symbolisierung als auch die Werteskala der Gratifikation, und rangiert durch diese zweifache Abwertung noch unterhalb des Trostpreises. Dagegen stärkt / ‘vitalisiert’ die symbolhafte Auszeichung sowohl den Symbolisierungsvorgang als auch das Gratifikationssystem. Die Unterscheidung dient hier einzig der Sensibilisierung: dass eine symbolische Handlung weder ‘ungültig’ noch bedeutungslos ist, während eine symbolhafte Handlung - ganz einfach - mit einem / durch ein Symbol erfolgt, und die Würde von Leistung und Auszeichnung gleichermaßen betont. (Vgl. Boesch.1980.87f.) 162 In gleicher Weise verwendet R. Münz den Begriff „Parallelwelt“ in Bezug auf Theater. (Münz, R.: „Aldilà teatrale. Konzeptionsentwurf für Studien zu Theatralitätsgefügen“. In: Münz, R. / Amm, G. (Hg.): Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin 1998. S.274.) 163 Mit der orthodoxen ‘Analogierelation’ ist keine „Wesensgleichheit“ wie im heidnischen Analogiezauber gemeint („pars pro toto“), sondern eine „Wesenseinheit“ der Dinge und Kategorien (Jevdokimov: „Ähnliches wird durch Ähnliches erkennbar“), sowie ihre Relationierung und Bedeutung: die Phänomene sind miteinander verbunden, gehen aber nicht ineinander auf; daher sind sie nicht zu trennen, aber zu unterscheiden. Aus deren Verhältnis können also auch isomorphe Vorgänge (Lotman/ Uspenskij) erwachsen. (Zenkowsky, B.: Das Bild vom Menschen in der Ostkirche. Grundlagen der orthodoxen Anthropologie. Stuttgart 1951. S.30+42f. - Jevdokimov in Stupperich.1966.65. - Lotman, Ju.M. / Uspenskij, B.A.: „Mif - Imja - Kul’tura“ [„Mythos - Name - Kultur“]. In: Lotman, Ju.M. (Hg.): Trudy po znakovym sistemam VI. Sbornik naučnych statej v čest’ Michaila Michajloviča Bachtina (k 75-letiju so dnja roždenija) [Arbeiten zu Zeichensystemen VI. Sammelband wissenschaftlicher Aufsätze zu Ehren von Michail Michajlovič Bachtin (zum 75. Geburtstag)]. Tartu 1973. S.286f. - <?page no="53"?> E INLEITUNG 49 ‘Dortsein’, Sichtbarem (Gegenwärtigem) und Unsichtbarem (Vergangenem, Künftigem), Profanem und Heiligem / Sakralem 164 aufrechterhält. Zwischen diesen Kategorien oder ‘Welten’ zirkulieren und fungieren Erinnerung und Traum, Imaginäres und Fiktives, Präfiguration und Erfahrung, und auch die Zwiesprache mit der Ikone als ‘Medien’ 165 , deren Stellenwert und Wirkung - ob als Entwurf oder Kunstwerk, als Antizipation oder Utopie - bedeutsam, unstrittig und insofern als Wirklichkeit ernst zu nehmen ist (vgl. Isers „formative Kreativität“: Einleitung 3., FN63). 166 In dieser Reihe ist die Liturgie von zentraler Bedeutung, deren Dramaturgie im Allgemeinen und deren Rituale im Besonderen (nicht bloß die Konsekration) im Zeichen transformativer Haltung und Handlung steht. Sie ist eine Darstellung von, und damit auch Beitrag zu „göttlicher“ Ordnung: sie ist durchweg von einer ausgeprägt dialogischen Struktur, wobei sie sich nicht als frontaler Wortsondern als gemeinschaftlicher Mysteriengottesdienst vollzieht (keine Kanzel, wenig Predigt - diese eher als Themen-Improvisation denn als Text-Vortrag -, viel wechselseitiges Beten und Singen auch in Prozessionen), Durkheim.[1912]1981.49.+313.) Siehe dazu auch Kap.II.1.2., FN361/ 362 und Kap.III.3., FN551 sowie den Begriff „Synomorphie“ in Kap.VI.4., FN1079. 164 „In der Geschichte des menschlichen Denkens gibt es kein Beispiel zweier Kategorien von Dingen, die so tief verschieden und einander so radikal entgegengesetzt sind. Der traditionelle Gegensatz zwischen Gut und Böse ist nichts dagegen; / .../ .“ (Durkheim.[1912]1981.64.) - „Je mehr man sich von der Antike entfernt, umso mehr verstärkt sich die Tendenz, aus den beiden Seiten des Heiligen [die Gewalt / das Monströse / das Verfluchte - das Versöhnende / die Kultur / das Gesegnete] zwei unabhängige Größen zu machen. Im Lateinischen beispielsweise behält sacer die ursprüngliche Dualität bei, aber das Bedürfnis nach einem Begriff, der ausschließlich die gutartigen Seiten ausdrückt, wird stärker, und so entsteht die Dublette sanctus.“ (Girard, R.: Das Heilige und die Gewalt [1972]. Düsseldorf 2006. S.388+385.) Dieser Unterscheidung folgend verwende ich den Begriff „heilig“ tendenziell in der Bedeutung von „sanctus“ (im Anschluss an Eliades Bestimmung des „Heiligen“: Kap.I.1.2., FN217), den Begriff „sakral“ tendenziell in der Bedeutung von „sacer“ — wohlwissend, dass deren Wechselverhältnis überaus verflochten und heikel ist und bleibt. 165 Dieser dialogische Kode des ‘Da-und-Dort’ wird in folgendem bildlichen Vergleich anschaulich: „Gottesdienst ist für die russisch-orthodoxen Christen ohne Ikonen nicht denkbar. / .../ Der orthodoxe Glaube ist ein praktischer Glaube. / .../ Die Ikone, sichtbar, fühlbar, somit begreifbar für Kopf und Seele, ist eine Brücke, auf der sich die Christen vor einem Ufer, dem der Gläubigen, zum anderen, dem Gottes, bewegen können.“ (Kuchinke/ Dmitriev.1989.72.) - Zu dieser ‘Pendel’bewegung siehe auch den „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3., FN497/ 500. 166 Wiesehr auch Artefakte zum integralen Bestandteil der russischen Realität werden können, zeigen die von religiösen Fanatikern ausgeübten Exorzismen, die gegenwärtig in bestimmten Abständen vor der ehemaligen Moskauer Wohnung von M.A. Bulgakov durchgeführt werden — dort, wo die Roman-Figur des Voland (Satan) aus Der Meister und Margarita (1940-1966/ 67) ersonnen und niedergeschrieben wurde, sich also gleichsam ‘materialisiert’ hat. (Siehe hierzu auch die reale Verehrung fiktiver Heiliger: Kap.III.2., FN517.) <?page no="54"?> E INLEITUNG 50 und auch theologisch als „Kultdrama“ 167 , als „göttliches Schauspiel“ 168 begriffen wird. Als Leitlinie für das Sein und Handeln im ‘Hier und Jetzt’ - im Alltag, im Umgang mit jenen ‘Medien’ und während der Liturgie - gilt stets das Bemühen um eine „Berührung mit der anderen Welt“ 169 , d.h. mit der Erfahrung / dem Mysterium (und nicht primär der Erklärung / dem Sakrament) des Beständigen, Gültigen, Wirklichen und in diesem Sinne Heiligen („sanctus“, FN164) 170 — das somit zur Voraussetzung wird für instrumentelles Verhalten und empirische Faktizität 171 . Bei diesen Prozessen geht es folglich nicht darum, sich in ein abstraktes ‘Dortsein’ oder ein entrücktes ‘Dereinst’ zu verklären oder sich in eine nie einholbare Zukunft zu projizieren (denn das „Göttliche“ / Heilige kommt auf einen zu: Einleitung 3., FN65). Es geht in der orthodoxen Logik vielmehr darum, die ‘andere’, richtigere, ge/ rechtere Welt beizeiten - und das bedeutet: zu Lebzeiten, im Hier-Und- Heute der Gegenwart - als eine bessere Alternative für das Dasein zu nutzen und zu realisieren — zur allgemeinen Optimierung des irdischen Alltags (einen anderen gibt es nunmal nicht). Die Verbindung zwischen diesen ‘Welten’ gilt es in einer Art Pendelbewegung stets mit allen Sinnen zu prüfen und zu erneuern — eine Aufgabe, die in der Prozession des Kirchen- und der Liturgie des Osterfestes exemplarisch mit allen Sensorien vollzogen und wirksam wird, d.h. mit der Präsenz des Körpers (Gänge, Gestik, Gesang) und der intuitiven Gerichtetheit auf das feierliche Geschehen (Andacht, Konzentration, Kontemplation): Im mime- 167 Kiselev, K.: „Gemeindeleben und kirchliche Sitte“. In: Stupperich.1966.93. - Heiler, F.: „Der Gottesdienst der Orthodoxen Kirche“. In: Stupperich.1966.127. 168 Baumbach. G.: „Vom Verschwinden und von der Glückseligkeit. Theater und Ost- Kirche“. In: Fischer-Lichte/ Greisenegger/ Lehmann.(1994).77. - Baumbachs Beitrag ist einer der seltenen Versuche, östlichen Kirchenkult und östliche Theaterkultur unter einem architektonischen Aspekt wechselseitig zu beleuchten (vgl. hier FN158): „Die Gesamtheit von Raumkomposition und Liturgie nach byzantinischem Ritus beruht auf dem Modus der Schau (griech. théa), d.h. auf der Grundlage eines sinnfällig Visuellen mit der Funktion der Ostentation.“ (Dies.Ebd.) Die Folgerung, im Fokus der Liturgie stünde die Kontemplation des Bildes eher als die Responsivität der Handlung, führt allerdings in die Irre, denn weit über die Kontemplation hinaus handelt es sich um eine aktive Zwiesprache. (Dazu ausführlich: „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3.) 169 Müller, L.: „Leitbilder der russischen Frömmigkeit“. In: Stupperich.1966.114. 170 Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen [1957]. Frankfurt a.M. 1998. S.28f.+174f. - Analog zum „Heiligen“ nach Eliade bestimmt Caillois das „Reine“ im Sinne von „Kraft, Solidität, Stärke, Energie, Gesundheit, Beständigkeit und Ordnung.“ (Caillois.[1950]1988.67.) Zu den Stichworten „Reinheit“, „Statusreinheit“, „Statuswürde“, „Kultfähigkeit“ und „Kulturfähigkeit“ siehe Kap.IV.5.1., FN780. - „Denn die religiösen Begriffe haben vor allem die Aufgabe, nicht zu erklären und auszudrücken, was in den Dingen Ausnahme und anormal ist, sondern im Gegenteil, was an ihnen beständig und regelmäßig ist.“ (Durkheim.[1912]1981.51.) 171 Durkheim.[1912]1981.325.+576. - Boesch.1980.51f., 62., 237f. - Vgl. hierzu W. Isers „formative Kreativität“ (Einleitung 3., FN63). <?page no="55"?> E INLEITUNG 51 tischen Vollzug dieser Vorgänge erfolgt die „Teilhabe“ eines responsiven Chores an einer „Erkenntnisgemeinschaft“ 172 — die also nicht diskursiv vorausgesetzt ist, sondern sensorisch, energetisch und performativ begründet und erfahren wird. Die Dynamik dieses Moments strebt mit den Kategorien „Augenblick“ und „Ewigkeit“ 173 einer präsentischen, ‘zeitenthobenen’ Dimension zu (Kap.I.1.2.), denn: „Es gibt keine heilsgeschichtliche Vergangenheit, sondern nur eine Heils-Gegenwart.“ 174 Es ist also der menschliche Körper bzw. Organismus mit seinen Sinnen und Sensorien, den die Orthodoxie zum zentralen Austragungsort ihres Erlebens und Bestehens macht. Und so ist es nur logisch, dass ihre Kirche keine Hilfsmittel wie Musikinstrumente, Gebetsbücher oder Sitzbänke, und auch keine plastischen Kunstwerke, vor allem aber keine Turmuhren kennt. 175 Wenn nun Krise und Krieg oder Fest und Feier als Mobilisierung und Dispersion von Menschen und Mentalitäten, Dingen und Dimensionen, Signalen und Symbolen, d.h. als Ausnahmezustand und Entgrenzung der Kategorien und ‘Welten’ stattfinden im Sinne eines „Moratoriums des Alltags“ (Marquardt nach Sperber) 176 oder eines „sozialen Paroxysmus“ (Caillois) 177 , erfordern gerade die Einmaligkeit und der (materielle, energetische) Aufwand der Revolutionsfeste ein Regulativ durch die verstärkte Absicherung einer Ordnung, die Eskalationen vorbeugt und Orientierungen erneuert. Wenn die Manöveraufführungen also einen Selbstentwurf von Öffentlichkeit zwischen Fiktionalität und Faktizität erproben (Einleitung 1., 3.), sind sie als Artefakt auch als Tatsache im Sinne einer abgestuften Wirklichkeit, einer modellhaften Realität zu verstehen. Analog zu den ‘Medien’ zwischen den Kategorien oder ‘Welten’ der Orthodoxie, erfolgen die Absicherungen innerhalb der 172 Jevdokimov in Stupperich.1966.65. 173 Berdjaev, N.A.: Ja i mir ob’ektov. Opyt filosofii odinočestva i obščenija. Pariž um 1934. Hier zitiert nach: Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte. Versuch einer Philosophie der Einsamkeit und der Gemeinschaft. Darmstadt 1951. S.173, 186f., 191 („Augenblick“); 169, 191f., 199f. („Ewigkeit“). 174 Heiler in Stupperich.1966.131. - Vgl. hierzu W. Benjamins Denkfigur einer „von Jetztzeit erfüllten Zeit“ (Kap.II.2., FN453 - Benjamin, W.: „Über den Begriff der Geschichte“ (1940). In: Ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften. Band I.2. (Hg.v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser). Frankfurt a.M. 1991. S.701f.) 175 Plastische Kunstwerke sind tabu, da die Magie und körperliche Scheinhaftigkeit einer Skulptur als ähnlich unheilvoll gilt, wie die einer Maske (siehe dazu Kap.IV.5.1.). Zum weiteren Kontext siehe: Macho, T.: „Steinerne Gäste. Vom Totenkult zum Theater“. In: Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.36f. 176 Marquardt, O.: „Moratorium des Alltags [nach M. Sperber]. Eine kleine Philosophie des Festes“. In: Haug/ Warning.1989.685f. - So postuliert Sperber bereits 1937, dass der Mensch zeitweise (bewusst oder nicht) mit allen, notfalls auch maßlosen oder horrenden Mitteln versucht, aus seinem tyrannischen Alltag auszubrechen. (Sperber nach Marquardt.Ebd.) Denn: „Der Pakt mit der Hölle ist keine geringere Weihe als die göttliche Gnade.“ (Caillois.[1950]1988.73.+234.) 177 Caillois.[1950]1988.11., 219f., 234f. <?page no="56"?> E INLEITUNG 52 Manöveraufführungen in Form von ästhetischen Markierungen und rituellen Praktiken. Für den hier verwendeten Ritualbegriff ist in struktureller Hinsicht der Rekurs auf A. van Genneps „Übergangsriten“ sowie auf V. Turners Konzept von „Liminalität“ 178 und „Communitas“ 179 (Kap.II.1.4.) geboten: denn einmal ist der ‘binäre’, dialogische Kode der Orthodoxie gleichsam der Inbegriff von Überschreitung, ferner ist die (Oktober)Revolution eine idealtypische Schwellensituation, und schließlich tendiert die „normative Communitas“ dazu, sich als „Struktur“ (NÖP-Zeit, 1921-1928) zu verfestigen 180 . In funktionaler Hinsicht erweist sich R. Caillois’ Festkonzept als „recours au sacré“ 181 sowie É. Durkheims Religionsbegriff einer kollektiven Identifikationsstiftung als Horizont zu dieser Perspektive: denn anders als im Protestantismus, wo der Einzelne ein fast privates Verhältnis zum „Être Suprême“ pflegt, führt in der Orthodoxie (wie im Judentum) die „Berührung mit der anderen Welt“ (Müller) der Himmelshierarchie alleine über die „moralische Gemeinschaft“ einer Alltagshierarchie („/ .../ denn der Gott ist nur der bildhafte Ausdruck der Gesellschaft.“ - Durkheim). Deren Riten sind klar umrissen und sozial erprobt, d.h. dementsprechend „moralische Handlungen“ im Sinne von „Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat.“ 182 Das Problem der Abgrenzung und der Bedeutung des Rituals 183 hat in der Forschung der letzten Jahre zu einigen irrlichternen (so irritierenden wie erhellenden) Befunden geführt. Einerseits besteht ein breiter Konsens darin, dass „Ritualität und Grenze“ im Handlungsvollzug des Rituals eng aufeinander bezogen sind und eine Dynamik auslösen, worin soziale Positionen in symbolhaften Prozessen verhandelt sowie ontologische, kulturelle, ästhetische etc. Muster und Ambivalenzen aufgeführt und dadurch reflektierbar und reformulierbar werden 184 . Konsens herrscht folglich auch darin, dass äußere Abgrenzungen zwischen „Ritual“, „Theater“ und „Fest“ sich nicht kategoriell-kategorisch vornehmen lassen (Kap.IV.5.2.: „Exkurs zum Ritual“), sondern dass diese Kulturpraktiken sich vielfach überschneiden und 178 Turner profiliert den auf van Gennep zurückgehenden Begriff „liminal“ zur „Liminalität“, worunter ein individueller und sozialer „Schwellenzustand“ (und die Begleiterscheinungen: Grenzwertigkeit, Ambiguität, Marginalität) zu verstehen ist, der Krisen- und Umbruchszeiten kennzeichnet. (Turner.[1969]2000.159f.) Siehe dazu auch: „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2., FN830/ 831. 179 Ders.Ebd.124f.+128f. 180 Ders.Ebd.123f.+126f., 129. 181 Caillois.[1950]1988.129f.+220f. 182 Durkheim.[1912]1981.bes.67., 309., 590., sowie 287., 481f., 520. 183 Köpping, K.-P. / Rao, U.: „Einleitung“ zum Abschnitt „II. Autorisierungsstrategien in ritueller Performanz“. In: Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.21f. 184 Durkheim.[1912]1981.513., 517f., bes.519f. - Geertz.[1983]1995.52f. - Turner. [1969]2000.101f.+190f. - Köpping/ Rao.2000.9.+25. <?page no="57"?> E INLEITUNG 53 wechselseitig implizieren oder gar bedingen 185 . Anderseits und ironischerweise läuft der Diskurs aber darauf hinaus, zwischen „Religion“ und „Ritual“ den größten und radikalsten Abstand herzustellen (als ob die Kategorien / Sphären von Handlung sich stärker voneinander absetzen ließen als die Modi von Handlung). Der vielversprechende Versuch, die Deckungsgleichheit zwischen Religion und Ritual aufzubrechen 186 , um zu einer Spezifik rituellen Handelns vorzudringen 187 , hat das Ritual zwar in die Nähe von Theater gerückt und in den Stand einer „transformativen Performanz“ erhoben, worin „Struktur und Praxis zusammenfließen“ 188 — ihm dabei aber ein Problem der inneren Grenze und sich selbst eine Art Leerlauf eingehandelt: die Abneigung gegen Dichotomien 189 , und die damit verknüpfte „Bedeutungsentleerung“ des Rituals. 190 Die Ambivalenzen, die man dem Ritual zuschreibt, und die Dichotomien, die man ihm abspricht, sind indes kaum je zueinander in Beziehung gesetzt worden. Durch diese Unschärfe verschieben und verquicken sich Referenzpunkte und Bezugsebenen, ohne dass die Grundbegriffe des Vexierspiels 185 Durkheim.[1912]1981.511. - Fischer-Lichte, E.: „Theater“. In: Wulf.1997.995. - Wulf, Ch.: „Mimesis in Gesten und Ritualen“. In: Fischer-Lichte, E. / Kolesch, D. (Hg.): Kulturen des Performativen. Paragrana. Heft 7, Bd.1. Berlin 1998. S. 258. - Köpping/ Rao.2000.12. - Wulf, Ch. / Zirfas, J.: „Die performative Bildung von Gemeinschaften. Zur Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen“. In: Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).109. - Fischer-Lichte in Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.28. - Horn, Ch. / Warstat, M.: „An der Grenze zur Gemeinschaft. Zu theatralen Dimensionen rituellen Handelns“. In: Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.419f., bes.438f. 186 Wulf unterscheidet in der kulturanthropologischen Ritualforschung drei (zeitversetzte) Schwerpunkte: 1. Religion, Mythos, Kultus - 2. Ritual und Gesellschaftsstruktur - 3. Ritual und kulturelle Symbolisierung / soziale Kommunikation. (Wulf, Ch.: „Ritual“. In: Ders.1997.1037.) (= Wulf/ b.1997.) 187 So haben Humphrey und Laidlaw mit der Bereitschaft zur Teilhabe am Ritual, der „rituellen Übereinkunft“ („ritual commitment“: „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2., FN827/ 828) zwar ein wesentliches Kriterium identifiziert, im Gegenzug aber den Bewusstseins- und Verantwortungsgrad rituellen Handelns radikal herabgesetzt: „Ritual actors, we have said, are not directly authors of their acts, and their individual intention do not define what it is that they do.“ (Humphrey, C. / Laidlaw, J.: The archetypical actions of ritual. A theory of ritual, illustrated by the Jain rite of worship. Oxford 1994. S.261.) 188 Köpping/ Rao.2000.3., 7f., 26. 189 Dies.Ebd.1.+11f. 190 „So one of its [the rituals] enigmas, which we cannot claim to have resolved comprehensively, is why people go on doing things in ritual ways when ritualization only serves to make them ‘pointless’.“ (Humphrey/ Laidlaw.1994.260.) In Richtung „Bedeutungsentleerung“ argumentieren F. Staal (1979) und Moore / Myerhoff, diese mit dem hübschen Titel Secular Ritual (1977). (Michaels, A.: „‘Le rituel pour le rituel’ oder wie sinnlos sind Rituale? “ In: Caduff, C. / Pfaff-Czarnecka, J. (Hg.): Rituale heute. Theorien - Kontroversen - Entwürfe. Berlin 1999. S.40f. - Michaels, A.: „Ex opere operato: Zur Intentionalität promissorischer Akte in Ritualen“. In: Köpping/ Rao.2000.104.- 123.) <?page no="58"?> E INLEITUNG 54 geklärt worden wären 191 : Ist „religiös“ eine Alternative, ein Kontrast, oder der Gegensatz zu „profan“? Ist das „Heilige“ ein Kontrapunkt, ein Paradox oder eine Opposition zum „Sakralen“? Welche Relation stellt in Bezug worauf eine Dialektik oder eine Dichotomie dar, und was ist mit der Vermeidung von Polaritäten gewonnen? Sowenig der Begriff „außer--alltäglich“ zu einer Inversion von „Alltag“ überzogen werden darf, sowenig gibt es bisher den archimedischen Punkt für die Beschaffenheit oder Bestimmung des Rituals, von wo aus man zuverlässig auf die Antagonismen eines ‘dualen Systems’ verzichten könnte (die Vermeidung von Extrempositionen wäre selbst eine Extremposition) 192 . Entsprechende Formulierungen in dieser Arbeit sind daher als methodische Annäherungen zu begreifen, die durch den historischen und ontologischen Ausgangspunkt „Krieg“ - als Aufrührer aller erdenklicher Polaritäten (Einleitung 3.) - begründet sind. Wenn in / mit der besagten Zielsetzung die Manöveraufführung als Fest und das Ritual als Fakt ernst genommen werden, bedeutet das zweierlei: Beide Phänomene haben erstens eine oder mehrere Funktion/ en, die in Bezug auf das Ritual eingrenzbar sind (Gennep: Statusänderung, Durkheim: Verhaltensregel), während sie in Bezug auf das Fest von einer „Entlastung vom Funktionsgedanken“ (Bubner) 193 bis zum „gebotenen Exzeß“ (Freud) 194 reichen können. Und beide Phänomene, die je eine besondere Form von Außeralltäglichkeit darstellen und damit den Bereich des Profanen überschreiten, setzen entweder eine weltliche „Zurechnungs-Instanz“ (F. Tenbruck, N. Luh- 191 „As [J.] Goody notes, to rely on ‘our’ ideas is to accept an simplistically dichotomous view of the world [warum eigentlich? ]. The ‘religious-secular’ distinction is ‘based on a we / they distinction, which operates in a temporal kontext (traditional / modern) [dies ist kein temporales Merkmal], or in a geographical frame (we the people / they the savages) [dies ist kein geographisches Merkmal - außerdem ist jedes beliebige andere Phänomen in einem zeiträumlichen Koordinatensystem zu verorten] or reference to a particular set of assumptions, for example, world religions (like Christianity) as against other local beliefs (like magic and wichcraft), until we reach the ultimate dichotomy on which so much thinking in this field is based: we = science / logic, they = irrationality (or non-rationality) (1977: 25)’. [kursiv MD]“ (Humphrey/ Laidlaw.1994.66.) - Man ahnt, worauf Goody, Humphrey und Laidlaw hinauswollen; doch die Beispiele wirken nicht weniger konstruiert, als die inkriminierten, eurozentristischen Vorstellungen, gegen die sie sich wenden. 192 In diesem Sinne konzedieren denn auch Köpping/ Rao endlich: „Wobei das Heilige im Durkheimschen Sinne ursprünglich nicht nur das Religiöse umfaßte, ganz im Einvernehmen mit seiner These, dass sich in religiösen Repräsentationen eigentlich die Gesellschaft selber spiegele, was impliziert, dass auch nicht-religiöse kollektive Veranstaltungen die ‘Heiligkeit’ der Gemeinschaft ausdrücken können.“ (Köpping/ Rao.2000.5.) Diese ephemere, informelle „Heiligkeit“ formuliert bereits V. Turner in seinem Konzept von „Communitas“, das sich auch mit einer Paraphrase auf den dort verwendeten Gemeinschaftsbegriff von M. Buber zusammenfassen lässt: „Heiligkeit [Gemeinschaft, MD] ist, wo Heiligkeit [Gemeinschaft] geschieht.“ (Turner.[1969]2000.124.) Siehe auch: „‘Sobornost' ’ und ‘Communitas’“, Kap.II.1.4. 193 Bubner in Haug/ Warning.1989.659. - Siehe Einleitung 3., FN43. 194 Freud nach Küchenhoff in Haug/ Warning.1989.102. <?page no="59"?> E INLEITUNG 55 mann, A. Hahn) 195 oder einen „heiligen Adressaten“ (É. Durkheim, R. Otto, A. Gehlen) 196 voraus. Man kommt zweitens also nicht umhin, im Fest und im Ritual „das Transzendente diesseits des Metaphysischen“ (P. Hugger) 197 an/ zu erkennen. Weit mehr als eine Form (Fest) oder Stringenz (Feier) haben Fest und Feier eine Bedeutung und eine Funktion, weit mehr als eine Funktion hat das Ritual eine verbindliche, ‘absolute’ Wirkung — andernfalls ist es ein Brauch, eine Zeremonie 198 , oder nur ein hübscher Schnörkel. Es als „säkular“ zu bezeichnen ist eine Aporie und Irreführung vom Typ ‘Kunstleder’, ‘Ersatzreligion’ oder ‘Aberglaube’: anstatt eine neue Dimension aufzuzeigen, blockieren und neutralisieren sich solche Hybridbildungen gegenseitig 199 . Die Ungenauigkeit und das Unbehagen betreffen noch folgende Differenzierung: „Die Rede von säkularen Ritualen / .../ macht daher / .../ nur Sinn, wenn von einem nicht eingestandenen, theistischen Religionsbegriff ausgegangen wird, der zum Beispiel die Unterscheidung zwischen religiös und säkular, sakral und profan voraussetzt. [kursiv MD]“ 200 Gleiches gilt für das Fest: Wenn der Hedonismus und die Banalisierung des heutigen Konsumverhaltens (der „totale“ Alltag) das Fest aushöhlen, ist es erst recht gefährdet durch die Bedrohungen im Bürgerkrieg (das „totale“ Fest - Caillois, Sperber/ Marquardt) 201 , und rechtfertigt den Zweifel, „ob Feste wirklich von ihrer Herkunft aus dem Bereich des Heiligen und Religiösen abzulösen, also 195 Tenbruck, F.: „Anthropologie des Handelns“. In: Lenk, H. (Hg.): Handlungstheorien interdisziplinär II. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretationen. Erster Halbband. München 1978. S.120f. - Luhmann, N.: „Erleben und Handeln“. In: Lenk.1978.239f. - Hahn, A.: „Kultische und säkulare Riten und Zeremonien in soziologischer Sicht“. In: Hahn, A. / Hünermann, P. / Mühlen, H. (et al.): Anthropologie des Kults. Freiburg, Basel, Wien 1977. S.69. 196 Hahn in Hahn/ Hünerman/ Mühlen.1977.61f. 197 Hugger in Hugger/ Burkert/ Lichtenhahn.1987.10. 198 Zu den Begriffen „Ritual“, „Ritus“ und „Zeremonie“ siehe: Tänzler, D.: „Einleitung“ (zum Abschnitt: III. Gemeinschaftsrituale der Be- und Entgrenzung). In: Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.315f. 199 Die Wortbildung ‘Kunstleder’ ist schon deshalb beachtlich, weil sie weder eine Aussage über ‘Kunst’, noch über ‘Leder’, ja nichtmal über ‘Kunstleder’ trifft. Gleiches gilt für die ‘Ersatzreligion’ (Ersatz wofür? ): ein Glaubenssystem ist entweder angenommen, praktiziert und insofern ‘echt’ (ob in Teilen oder im Ganzen), oder es ist keines. Und die geistige oder praktizierte Hingabe an einen ‘Aberglauben’, an einen vermeintlich falschen oder angeblich minderwertigen Glauben, steht derjenigen an einen vorgeblich richtigen Glauben in nichts nach. 200 Michaels in Caduff/ Pfaff-Czarnecka.1999.37. 201 Diesen beiden Extremen setzt Marquardt zur Verteidigung des Festes einen regulierenden Kontrast entgegen mit der Formel „mehr Mut zum Alltag und mehr Mut zum Sonntag“: Kunst, Sport, Urlaub, Schlaf (Ders. in Haug/ Warning.1989.685f.) — Luxus- Relikte aus dem vor--digitalen, vor--prekären Jahrhundert, zu denen weniger „Mut“ als Zeit, Geld, und eine planbare Zukunftsperspektive gehören, damit aus akademischen Projekt- und anderen Zeitvertrags-Nomaden zuverlässige, produktive Mitarbeiter werden können. <?page no="60"?> E INLEITUNG 56 ‘säkularisierbar’ sind, ohne ihre Identität zu verlieren.“ 202 Anstatt den „nicht eingestandenen“ Religionsbegriff immer weiter zu sezieren oder besser zu ‘zerstochern’, anstatt ihn weiter zu ‘verdrucksen’ und ihm einen vorbehaltlichen „Sinn“ zu konzedieren (A. Michaels), scheint es produktiver, sich direkt und kritisch auf eine manifeste „Religiosität“ (Geertz - Kap.II.1.2., FN365/ 368) einzulassen, und eine Formulierung ihrer Bedingung und Bedeutung, ihrer Funktion und ‘Heiligkeit’ zu wagen. Bis dahin mag das bestechend konzise und elegante Postulat von J. Pieper gelten: „Es gibt weltliche, aber keine rein profanen Feste [Rituale, MD]. / .../ Das Fest [Ritual] ohne Götter ist ein Unbegriff.“ 203 Methodisch kann es hier nicht darum gehen, einen nur halbwegs elaborierten Religions- oder Religiositäts-Begriff vorzulegen. Ein beherzter Zugriff darauf erscheint indes insofern angebracht, als sich von Platon bis Huizinga ein unverwüstlicher Diskurs über das formale und funktionale Verwandschaftsverhältnis zwischen „Spiel“ und „Kult“ (und bis Köpping / Rao zwischen „Theater“ und „Ritual“) fortspinnt, worin die Handlung ein Vorführen und „Heraustreten aus der gewöhnlichen Wirklichkeit, eine Übertragung dieser Wirklichkeit in eine höhere [verfremdende, stilisierende, symbolhafte, transzendierende etc. - MD] Ordnung“ ist, und worin sie „nicht bloß als Repräsentation, sondern als Identifikation“ gelten kann 204 . Wenn diese Arbeit also Verwandschaftsgrenzen auslotet, wo theatrale Selbstorganisation gegenüber dem etablierten Theater fokussiert und aufgewertet wird, wo der Begriff „Theatralität“ gegenüber der Institution „Theater“ favorisiert wird, — dann lässt sich auch „Religion“ (und ihre konfessionelle Variante) zur ‘Religiosität’ elastifizieren, d.h. unter einem ästhetischen und anthropologischen Aspekt dienstbar machen — jenseits zementierender Werke und Monumente, jenseits monopolistischer Exegeten und Institutionen. Diese Prämissen haben für den Leistungs- und Bedeutungsumfang von Theatralität und für den Stellenwert der Manöveraufführungen weitreichende Folgen: Denn während der Revolution tritt der Zusammenhang zwischen Theatralität und Orthodoxie deutlicher als sonst hervor: im Rekurs auf und in der Erprobung von ‘Parallelwelten’ mit inszenatorischen Mitteln. Es ist der Theatralität zu verdanken, jene anthropologischen Prägungen und ‘orthodoxen Medien’, jene außer/ ästhetischen und ‘traumwirklichen’ Bestandteile aufzurufen, die im Grenzgang der Manöveraufführungen wahrnehmbar und wirksam werden. Vor diesem Hintergrund sind die Manöveraufführungen - so meine dritte Grundthese - als Re--Inszenierungen und Re--Synchronisierung (Kap.I.1.5.) einer durch Kulturkrise und Krieg, Revolution und Bürgerkrieg erschütterten Gesellschaft und Glaubenswelt zu begreifen. Eben dies ist 202 Henecka in Beilharz/ Frank.1991.16. 203 Pieper.1963/ a.56. - Auch Kerényjs vielzitierter Fest-Satz soll hier zu Ehren kommen: „Es muss etwas Göttliches hinzukommen, wodurch das sonst Unmögliche möglich wird.“ (Kerényj.(1938/ a).[1971]1995.43.) 204 Huizinga.[1938]1994.18f., bes.22.-23. - Wulf/ b.1997.1035. <?page no="61"?> E INLEITUNG 57 ihre Funktion: „Denn Theater ist ein sicherer Zeuge für das, was eine Epoche zusammenhält.“ (Ivánov, 1916 - Kap.II.1.3.). Dabei sind Theatralität und Orthodoxie die einzigen Instrumente, die sowohl der Bauernschaft als auch der Intelligéncija traditionell (seit 988) und aktuell (seit 1917) bereitstehen. Theatralität - so mein vorläufiges Fazit - wäre demnach eine privilegierte Strategie, mit der eine Kultur ihren Kult zum Spiel herausfordert und prüft, entwirft oder erneuert — meist ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. In dieser Perspektive zeigt die vorliegende Arbeit, inwieweit dieses Glaubenssystem durch die Kulturkrise der Jahrhundertwende erodiert war (Kap.I.), und wie aus der Theaterkrise heraus welche Gegen- und Festkonzepte entwickelt wurden, aus denen nach dem Oktober-Umsturz / im Bürgerkrieg die Revolutionsfeiern und Manöverinszenierungen hervorgehen (Kap.II.). Mit welchen neuen und neugewendeten Zeichen und Symbolen, Verfahren und Ritualen ein dekorativer und performativer Fest„raum“ markiert und als öffentlicher Raum erobert oder aber verfehlt wird, macht die Entwicklung des ‘mythologischen Marsches’ deutlich (Kap.III.). Das folgende Kapitel fokussiert die erste große Manöveraufführung als Referenzgröße einer konsensualen (dialogischen) Ritualisierung und ‘liturgischen Gemeinschaft’ (Kap.IV.: S TURZ ). Im anschließenden Beispiel wird die pagane Gemeinschaft in der Tradition der Schlachten-Stücke mit dem teils konservativen, teils subversiven Potential der (militärischen, künstlerischen) ‘Truppe’ vorgestellt (Kap.V.: III. I NTERNATIONALE ). Die letzte und knalleffektivste Manöveraufführung zeigt, wie diese beiden Gemeinschaftsformen in einer imperativen (monologischen) Sakralisierung zu einer manipulierten Jubel„masse“ korrumpiert werden (Kap.VI.: E RSTÜRMUNG ). Mit den Verweisen im Schlusswort auf D AS M YSTERIUM DER BEFREITEN A RBEIT (01.05.1920), D IE B LOCKADE R USSLANDS (20.06.1920) und Z UR W ELTKOMMUNE (19.07.1920) pointiert diese Arbeit den Stellenwert der Petrograder Manöveraufführungen des behandelten Zeitraums, zeichnet den schwierigen Weg der revolutionären Massenschauspiele nach, und beschreibt eine je unterschiedlich konfigurierte Theatralität, die auf zwei grundlegene Bezugsgrößen rekurriert: das heidnische Volksfest und die orthodoxe Osterfeier. Damit ist nicht nur der dargelegte Ansatz, sondern auch diese Auswahl wirkungsästhetisch ausgerichtet: hätten diese Inszenierungen weniger Aufwand und Eindruck gemacht, wären die überlieferten Zeugnisse unterhalb der Wahrnehmungs- und Forschungsschwelle geblieben. Die hier vorgestellten Manöveraufführungen gelten jedoch damals wie heute als die größten und ‘prächtigsten’, und schreiben so ein physikalisches Gesetz fort: dass Energie nicht erlischt, sondern nur den Träger ändert. <?page no="62"?> E INLEITUNG 58 1/ Zirkel-Arbeit. — Photo. Vor 1931. 2/ Freiwillige Zirkel- und Theaterarbeit: keine Flucht, sondern eine zusätzliche Einbindung in den Kriegs‘alltag’ mit allen Strapazen und Zumutungen. — Photo. Vor 1931. <?page no="63"?> E INLEITUNG 59 3/ Der „Himmel“ fehlt, die „Hölle“ ist kaum definiert. Christus ist überproportional größer, d.h. bedeutsamer als die anderen Figuren. Oben: die für die Ikonenmalerei typischen „Tafelberge“. — Abstieg zur Vorhölle. - Ikone. Spätes 15.Jh. <?page no="64"?> E INLEITUNG 60 4-7/ Gründe für eine Revolution: Treidler bei der Arbeit. 4/ Treidlerinnen an der Sura. — Photo. Spätes 19.Jh. 5/ „Billiger als Pferde“. (Moynahan.1994.15.) — Photo (Ausschnitt). Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="65"?> E INLEITUNG 61 6/ Ganz gleich, wo man steht: der Blick zweier Treidler (2. u. 4. v.l.) folgt dem Betrachter (vgl. 8 in Kap.V.) — Il’ja Je. Repin. Treidler an der Volga. - Gemälde (ca. 1,30 x 2,80 m). 1870-1873. <?page no="66"?> E INLEITUNG 62 7/ An einem Nebenarm des Jangtse. — Photo. August 2000. <?page no="67"?> I. Symptome der Theaterkrise: Von der „Unnötigen Wahrheit“ zur „Verneinung von Theater“ I.1. „Doppeldeutigkeit“ und ‘Dilemma’ von Revolution (1905) zu Revolution (1917) I.1.1. „Zeitsplitter“ Das vorliegende Kapitel skizziert eine Anamnese der russischen Theaterkrise und ihrer Lösungsansätze, aus denen die Manöverinszenierungen als eines der letzten Remedien aus dem „Laboratorium der Moderne“ (Schlögel) hervorgehen. Im Zentrum der Untersuchung stehen die ‘Grundsubstanzen’ und späteren ‘Wirkstoffe’ der Manöverinszenierungen gegen die Dysfunktion von Theater und Gesellschaft, deren erste Symptome um die Jahrhundertwende auftauchen, und noch während der Revolution als „lähmende Resignationsgifte“ 205 diagnostiziert werden. Dieser ‘Aggregatzustand’ verkehrt sich binnen kürzester Zeit in einen fulminanten Temporausch mit fragwürdigen Folgen. So zeigt sich ein amerikanischer Militärattaché vor der Revolution fassungslos angesichts der verschwendeten Zeit im russischen Alltag: „Die besten Stunden des Tages sind an vier Tagen in der Woche religiösen Verrichtungen gewidmet.“ 206 Wenig später (1924) wundert sich Holitscher wiederum über die „westliche Langsamkeit“ in Anbetracht der Frequenz von „Taten und Theorien des neuen [nachrevolutionären, MD] russischen Theaters“ und stellt dazu fest: „Die Atmosphäre des rasenden Lebens Rußlands weht nicht um unsere Stirnen.“ 207 Die Zeit und die Kunst - in der Orthodoxie eng aufeinander bezogen (I.1.2., FN235/ 236) - waren ins Taumeln geraten, und zogen ihrerseits etliche Erschütterungen nach sich. Auf die Ausschreitungen und Zerstörungen, die dem Umsturz von 1917 folgen und gegen (bis dahin staatstragende) Institutionen und Symbole, Kunst- und Kulturgüter gerichtet sind, reagiert ein Flugblatt der Direktion der Imperialen (seit 1918 Staatlichen) Theater in 205 Holitscher.(1924).7. - Der symbolistische Dichter und Philosoph V.I. Ivanov verbindet den Erfolg von Čechov-Inszenierungen mit dem ‘Verdacht’, dass „dort [in den Stücken] auch ein zusammengeschweißtes Kollektiv fehlt, dort das soziale Leben / Dasein [bytie] selbst zerstiebt bis zur Unmöglichkeit der szenischen Darstellung von unzusammenhängenden Splittern des auseinanderfallenden Lebens.“ (Ivanov, Vjač.I.: „Ėstetičskaja norma teatra“ [„Die ästhetische Norm des Theaters“] (1916). In: Ders.: Borozdy i mežy [Furchen und Grenzlinien]. Moskva 1916. Reprint von 1971. S.269.) (= Ivanov.(1916).[1916]1971.) 206 Moynahan, B.: Das Jahrhundert Rußlands. 1894-1994. München 1994. S.29. 207 Holitscher.(1924).39. <?page no="68"?> K APITEL I. 64 höchstem Alarmton und mit apokalyptischem Pathos: „Jahrhundertealte Heiligtümer der Kunst des russischen Volkes stürzen zusammen. In besinnungsloser Blindheit geht der Bruder auf den Bruder los. / .../ Über die Kunst fließen die Ideale der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Menschenliebe ins Leben ein. Die Übergriffe auf Kunstdenkmäler schänden in lästerlicher Weise den höchsten Sinn des Lebens.“ (Anfang November 1917) 208 Noch 1919 warnen revolutionäre Kunstkritiker vor dem anhaltenden Verfall sozialen Zusammenhalts und sozialer Verständigung, als deren Modell traditionellerweise das Verhältnis zwischen Volk und Kunst (Künstler) gilt: „Wenn diese Diskrepanz sich weiter fortsetzt, wird die Kunst für das Volk endgültig überflüssig, und das führt in einer Volksherrschaft und sozialistischen Ordnung / .../ zu einem Verfall eines der wichtigsten Bereiche menschlicher Kultur.“ 209 Prominente Zirkusvertreter beklagen 1921 die Spaltung des einst „ganzheitlichen Organismus histrionischer Aufführungen im Theater und Zirkus“, und beanspruchen den Stellenwert ihrer Zunft neben Tragödie und Komödie als einen gleichwertigen, zu integrierenden „Splitter von etwas Größerem“: „Die bevorstehende histrionische Aufführung (wir wollen die Bezeichnungen Theater oder Zirkus nicht mehr anerkennen) werden die Linie byzantinischer Gaukler, mittelalterlicher Narrenzünfte, des Jahrmarkttheaters, des Seiltänzer-Theaters von Gaspard Deburau, unserer Balagane [Schaubuden- und Jahrmarkt-Aufführungen, MD] und japanischer Bühnenspiele genetisch fortsetzen. / .../ Die Zeit, über Reformen oder über eine revolutionäre Umgestaltung zu reden, ist vorbei. Man darf nichts ändern, man muss Neues schaffen. / .../ Man muss die wissenschaftliche Forschungs- und Erziehungsarbeit so aufziehen, dass sie im Bereich von Bühne und Arena deren histrionische Grundlagen erschließt und dadurch eine Reihe von Verfahren zur Erschaffung einer neuen synkretistischen Aufführung aufzeigt.“ 210 1923 diagnostiziert S.Ė. Rádlov, Autor zahlreicher Zirkuspantomimen und einer der Regisseure der Manöverinszenierungen: „Der Eklekktismus, diese schlimmste Krankheit seit Beginn unseres Jahrhunderts / .../ breitet sich weiterhin in der widerlichsten, in der barbarischsten Form am kranken Körper 208 Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.87. 209 Pumpjanskij, L.: „Oktjabr’skie toržestva i chudožniki Petrograda“ [„Die Oktober- Feierlichkeiten und die Künstler Petrograds“] (05.01.1919). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.20.81. 210 Deržavin, K.N. / Movšenzon, A.G. / Serž, A.S.: „Diskussija, polemika - Otricanie cirka“ [„Diskussion, Polemik - Die Verneinung des Zirkus“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°82 vom 08.02.1921. S.3. <?page no="69"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 65 unseres Theaters aus.“ 211 1922/ 1925 moniert Piotróvskij das allgemeine Fehlen „objektiver Kriterien“ oder einer „elementaren Grammatik“ für das Theater 212 . 1924 konstatiert Mejerchól’d bezüglich der Aufgaben der Theaterzirkel der Roten Armee: „Derzeit kann es keine echte Massenhandlung [mássovoe déjstvie: Kap.IV.3.] und Verschmelzung des Zuschauersaals mit der Bühne geben; die entsprechenden sozialen Voraussetzungen haben sich noch nicht gebildet. Ein allmählicher Veränderungsprozess der Formen theatraler Handlung steht noch aus.“ 213 Und zu Beginn der 1930er Jahre lokalisiert der Religionsphilosoph N.A. Berdjáev eine übergeordnete Ursache dieser Spaltungsprozesse im Rückblick: „In der sich beschleunigenden Zeit löst das ‘Ich’ sich auf und zersplittert, es löst sich auf und zersplittert ebenso wie die Zeit selbst, wie auch jeder Augenblick der Zeit.“ 214 I.1.2. Orthodoxie im symbolhaften und instrumentellen Verhalten Trotz des divergierenden politischen Spektrums der angeführten Zeitzeugen offenbart die Ähnlichkeit ihrer Splittermetaphorik ein gemeinsames kulturelles Selbstverständnis, das in der Orthodoxie wurzelt und - ähnlich wie im Judentum - eine enge Verflechtung von Brauchtum und Alltag voraussetzt: Religion fungiert hier weder als Metapher noch als Mythos, und schon garnicht als Spekulation oder „Halluzination“ (Durkheim), sondern als Bezugs- und Orientierungssystem von eng verknüpften Glaubenssätzen und Kulturpraktiken 215 , die auch der Wahrnehmung des außenstehenden (atheistischen) Beobachters zugänglich sind. Im Anschluss an diesen in der Einleitung (5.) skizzierten Ansatz gilt mit Durkheim weiterhin, dass „kein Abgrund zwischen der Logik des religiösen Denkens und der Logik des wissenschaftlichen Denkens [besteht]“ und folg- 211 Radlov, S.Ė.: „V dvesti pervyj i poslednij raz o krizise teatra“ [„Zum zweihundertersten und letzten Mal über die Krise des Theaters“]. In: Ders.1923.27. 212 Piotrovskij, A.I.: „Teatral’noe učenie Radlova“ [„Die theatrale Lehre Radlovs“] (Aug.1922). In: Ders.1925.38. 213 Mejerchol’d, Vs.Ė.: „Doklad o zadačach krasnoarmejskich dramkružkov. 13 janvarja 1924 goda“ [„Vortrag über die Aufgaben der Theaterzirkel der Roten Armee. 13 Januar 1924“]. In: Mejerchol’d, V.Ė.: Stat’i, pis’ma, reči, besedy. Čast’ vtoraja. 1917-1939 [V. Ė . Mejerchol’d. Aufsätze, Briefe, Reden, Gespräche. Zweiter Teil. 1917- 1939]. (Hg. v. A.V. Fevral’skij). Moskva 1968. S.490. 214 Berdjaev.[1934]1951.188. - Berdjaev gehörte zu jenen Intellektuellen, die trotz erwiesener Hinwendung zum Marxismus (Beteiligung an revolutionären Aktionen mit anschließender Verbannung Ende des 19.Jh.) neben vielen anderen 1922 ausgewiesen wurden und im Exil starben (vgl. Ajchenval’d: I.4., FN314). 215 Zenkowsky.1951.62. - Neben den „Meinungen“ und „Vorstellungen“ („Glaubensüberzeugungen“ > „Denken“) sind es die „Handlungsweisen“ und „Verhaltensregeln“ („Riten“ > „Tun“), die Durkheim zufolge religiöse Phänomene kennzeichnen. (Durkheim. [1912]1981.61., 67., 308.). In diesem Sinne bezeichnet Kerényj „Religion“ als die Gesamtheit von „Weltbild“ und „Weltwirklichkeit“. (Kerényi.(1938/ a).[1971]1995.34.) <?page no="70"?> K APITEL I. 66 lich das Eine zum Untersuchungsobjekt des Anderen werden kann 216 . Wenn „Religion“ in M. Eliades Sicht der Glaube an das Heilige ist und „die Existenz einer absoluten Realität“ im Sinne von „Macht, Wirksamkeit, Quelle des Lebens und der Fruchtbarkeit“ 217 voraussetzt, stellt dies in F. Tenbrucks Fokussierung einen bisweilen subrationalen, stets subjektiven Antrieb, also einen unabtrennbaren und mitunter gar strategischen „Teil der objektiven Erfolgswahrscheinlichkeit“ für instrumentelles Alltagshandeln dar 218 . Diese enge Verknüpfung von Glaube und Praxis manifestiert sich in der „liturgischen Dramatik“ 219 von Kirchenfesten und -prozessionen, die sich unmittelbar und atmosphärisch, sensorisch und körperlich in der russischen Festkultur sowie in der Wahrnehmung und Rezeption der Manöveraufführungen fortsetzt. So ließ sich im 19.Jh. der Ansturm auf die beliebten Volksfeste mit ihren Vergnügungs„tempeln“ oft nur mit dem Andrang in die Kirche an einem „hohen Feiertag“ angemessen beschreiben 220 ( ❐ 1, ❐ 2). Und die frühen Revolutionsfeiern fanden eine adäquate Referenz- oder gar Identifikationsgröße nurmehr im höchsten orthodoxen Festtag, wie zahlreiche Zeugnisse belegen: „There was a radiant joy on all their [der Soldaten] faces. They frequently halted as the people embraced and kissed one another in jubilation. Everybody said: ‘Here it is at last, the triumphant Easter has arrived.’ They where all smartly dressed, as if for a big holiday. As in the capital, the Easter tradition of celebration became confused with the revolutionary festival.“ 221 216 „Erklären heißt heute wie damals zeigen, wie eine Sache mit einer oder mehreren anderen zusammenhängt. / .../ Eine Sache begreifen heißt, während man ihre wesentlichen Elemente erfaßt, sie gleichzeitig in eine Gesamtheit einzupassen.“ (Durkheim. [1912]1981.325f.+582.) 217 Eliade.[1957]1998.174f.+28f. - Zum Unterschied zwischen „heilig“ (sanctus) und „sakral“ (sacer) siehe Einleitung 5., FN164. - Völlig anders funktioniert dagegen der politische Glaube im Sinne einer bewussten „Modalität der Bejahung“. (Certeau, M.: Kunst des Handelns. Berlin 1988. S.316.) 218 „Das Verlangen des religiösen Menschen, ein Leben im Heiligen zu führen, ist das Verlangen, in der objektiven Realität zu leben, nicht in der endlosen Relativität rein subjektiver Erfahrungen gefangen zu bleiben, in einer wirklichen und wirksamen - und nicht in einer illusorischen - Welt zu stehen.“ (Eliade.[1957]1998.28f. - Dieser Befund erhält in periodischen Reformulierungen immer neue Gültigkeit: Durkheim. [1912]1981.576. - Tenbruck in Lenk.1978.96.+131. - Iser.1991.155. - Geertz. [1983]1995.58f.) 219 Heiler in Stupperich.1966.132. 220 „Es ist nicht leicht zu Leman [Betreiber eines der größten und beliebtesten Balagane des 19.Jh., MD] durchzukommen. An der Eingangstür seines Vergnügungstempels ist es so eng, wie in der Kirche an einem hohen Feiertag vor der Predigt.“ (A.V. Nikitenko (1831), zitiert in: Nekrylova, A.F.: Russkie narodnye gorodskie prazdniki, uveselenija i zrelišča. Konec XVIII - načalo XX veka [Die russischen städtischen Volksfeste, Vergnügungen und Spektakel. Ende XVIII. - Anfang XX. Jahrhunderts]. Leningrad 1984. S.157. 221 Figes/ Kolonitskii.1999.43f. - Weitere Vergleiche mit Ostern nach Augenzeugen- Berichten: Dies.Ebd.38., 42., 46. - Die gleichen Beschreibungen, bezogen auf Ostern: Beck, E.: Die russische Kirche. Ihre Geschichte, Lehre und Liturgie — mit besonderer <?page no="71"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 67 Später erzielt der bewusste Einsatz formaler und funktionaler Elemente des Ostermotivs eine ähnliche Wirkung: Noch 1922 aktualisiert die Umbenennung oder „Taufe“ der geschichtsträchtigen Putílov-Werke (FN241) mit Vorhängen (Auf- und Abtritte, Ver- und Enthüllungen) 222 und Fahnen (Porträts und Namenszüge, Bildsymbole und Signets / Logos), mit abwechselnden Reden und Chorgesang, rituellen Gesten (Amboss-Schläge) und Gängen (zu den Zechen als den ‘Passionsorten’ der Arbeiterschaft), vor allem aber mit der Durchdringung von Innen und Außen und dem nächtlichen Fackelzug um das Werkgelände gegen den Uhrzeigersinn das gesamte Auferstehungs- und Verbrüderungs-Programm der Osternacht und damit den zentralen Topos der russischen Orthodoxie. 223 Für diesen Topos und für die weitere Artikulation und Argumentation über die Medien und Remedien der Kultur- und Theaterkrise ist der Aspekt der Zeit grundlegend (vgl. Vsévolodskijs ‘Polychronie’ in Kap.II.2. und Lunačárskijs Zeitansatz in Kap.II.3., vorab hier: I.1.3., FN248). So stützt sich die folgende Erläuterung zum orthodoxen Zeitverständnis auf Berdjáevs existenzphilosophische Ausführungen mit den Begriffen „Augenblick“ und „Ewigkeit“, denen ein dezidiert anthropozentrischer Fokus zugrundeliegt. 224 Exkurs: Die Zeit im orthodoxen Verständnis Schon der Begriff „Zeit“ ist Berdjáev suspekt, und erscheint ihm als ein spekulatives Konstrukt und als ein „Produkt der Objektivierung“ 225 : „Die auseinandergefallene Ewigkeit verwandelt sich in objektivierte Zeit, in der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges auseinandergerissen sind.“ 226 Die (Restitution der) „Ewigkeit“ ist insofern erstrebenswert, als sie den Menschen von dem Paradox entlastet, einerseits in und mit der Zeit existieren zu müssen, anderseits aber von ihren Zwängen befreit werden zu wollen: „Die Ewigkeit ist sowohl dem Alpdruck der unendlichen Zeit als auch dem Alpdruck Berücksichtigung ihrer Unterscheidungslehren und ihres Verhältnisses zur römischen Kirche. Bühl 1926. S.110, sowie: Heiler in Stupperich.1966.134. 222 Die Theaterkonvention des „Vorhangs“ geht auf die Repräsentationskultur des Byzantinischen Hofs zurück: „Vorhänge erscheinen überall im Zusammenhang mit dem offiziellen Auftreten des Kaisers bei Empfängen im Palast, seien es nun die eigenen Beamten oder auswärtige Gesandte. Das Auftreten mehrerer Gruppen nacheinander wird mit dem Stichwort ‘Vorhang’ durchgezählt.“ (Tinnefeld in Posner/ Robering/ Sebeok. 1997.1160.) Auch waren üppige Drapierungen überaus beliebt (siehe ❐ 1-5 und ❐ 8- 11 in Kap.II.) 223 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.81f. - In der nachrevolutionären Periode ist sowohl eine religiöse als auch säkulare Bezeichnung im Umlauf: „kreščenie“ (die Taufe) / „pereimenovanie“ zavodov (die Umbenennung der Betriebe). 224 Berdjaev.[1934]1951.185. - Dabei stellt die Abkehr von der Evolution als einer zeitlichen Abfolge ein virulentes Problem dar, das hier übersprungen werden muss. 225 Ders.Ebd.166. 226 Ders.Ebd.169. <?page no="72"?> K APITEL I. 68 der endlichen Zeit entgegengesetzt.“ 227 Ausgehend von einer rein subjektiven (d.h. im orthodoxen Sinne: subjektgebundenen und subjektbezogenen), existentiellen Zeiterfahrung sind Erinnerung, Erkenntnis etc. oder auch Zukunft, Präfiguration etc. nur als Präsens begreifbar, der sich um eine räumliche Komponente zur Präsenz erweitert: „Vergangenes und Zukünftiges gehen als Existierendes in den Bestand des Gegenwärtigen ein.“ 228 (Schütz und Luckmann sprechen von der „Gegenwart“ als einer „Welt in aktueller Reichweite“ des Menschen. 229 ) Zwischen der objektivierten, quantifizierten (mathematischen) „Zeit“ und der subjektiven, unteilbaren (unermesslichen) „Ewigkeit“ fungiert der „Augenblick“ gleichsam als eine Überbrückung, da er imstande sei, an beiden Dimensionen zu partizipieren 230 : „Die Intensivierung der Zeit bedeutet die Möglichkeit, innerhalb des Augenblickes der Zeit zur Ewigkeit, zu den Vorgängen, die ewigen und nicht nur zeitlichen [transitorischen, MD] Sinn haben, hinauszutreten.“ 231 Theologisch wird die Restitution der Ewigkeit oder Überwindung der Zeit als „Umkehr der Zeit“, und religiös als „Auferstehung“ aufgefasst 232 (daran anknüpfende christologische Motive - Transsubstantiation, Stellvertreter-Anspruch - sind hier und im Weiteren irrelevant bzw. uninteressant). Existenzphilosophisch entspricht die Restitution / Überwindung der Zeit dem kreativen Akt, denn: „In Wirklichkeit ist nicht die Veränderung ein Produkt der Zeit, sondern die Zeit ein Produkt der Veränderung.“ 233 Durch die Intensivierung der Zeit im „Augenblick“ des Schaffensaktes ist dieser sowohl konstitutiv für das „Ich“ 234 als auch Produkt einer Subjektivierung, sowohl Gegenbewegung zur quantifizierten, potenzierten und beschleunigten Zeit als auch Partizipation an der „Ewigkeit“: „Der schöpferische Aufschwung selbst aber tritt aus der 227 Ders.Ebd.199. - Bergsons Begriffspaar „temps“ und „durée“ begleitet nahezu alle Zeit- Debatten der Jahrhundertwende, kann hier aber nur kurz mit Berdjaevs Verweis berücksichtigt werden: „Übrigens kennt auch Bergson, ungeachtet des optimistischen Charakters seiner Philosophie, keine Ewigkeit / .../ .“ Berdjaev begreift Bergsons „durée“ als eine „unendliche Zeit“, was jedoch beides von der „außerzeitlichen Ewigkeit“ zu unterscheiden sei. (Berdjaev.[1934]1951.199.+192.) 228 Ders.Ebd.170. - Vgl. hierzu auch Florenskijs Anthropozentrismus im „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3. 229 Schütz, A. / Luckmann, T.: Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frankfurt a.M. 1979. S.79. - Siehe hierzu die auf Theater bezogenen Zeit-Ebenen bei Vsevolodskij: Kap.II.2., FN450. 230 Berdjaev.[1934]1951.173.+186f. 231 Ders.Ebd.191. 232 Ders.Ebd.175. 233 Ders.Ebd.165. - Ein anderes Beispiel ist folgende schöne Reformulierung des Sündenfalls: „Nicht der Sündenfall ging in der Welt vor sich, sondern die Zeit ist ein Ergebnis des Sündenfalls.“ (Ders.Ebd.177.) 234 Ders.Ebd.165. <?page no="73"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 69 Zeit heraus und entzeitlicht das Existieren. / .../ Die Intensität der Erlebnisse verändert den Charakter der Zeit und misst sie auf andere Weise. [kursiv MD]“ 235 Hier wird die Affinität von Kunst und Religion in der russischen Kultur deutlich (I.1.1., FN208+209): denn die aus dem Schaffensakt resultierende Vergegenwärtigung lässt sich als Vorstoß in eine andere Dimension, als eine „Berührung mit der anderen Welt“ (Müller: Einleitung 5., FN169) verstehen. Auch verschiedene Räusche (Süchte, Leidenschaften, und der unverwüstliche Wodka) bieten einen ‘Austritt aus der Zeit’ — sind aber nur bedingt empfehlenswert, denn solcherart Berauschte laufen Gefahr, sich zu vergessen und zu ‘vertaumeln’, d.h. die „Ewigkeit“ zu verfehlen. 236 Dies vorausgesetzt, treffen die oben aufgeführten „Zeitsplitter“ einen Zentralnerv der orthodoxen Ethik, und das angegriffene Zeitempfinden strahlt schmerzhaft auf das benachbarte Raum- und Körpergefühl und somit auf das gesamte Realitätsempfinden aus. In verschiedenen Bildern von „Apokalypse“ als dem „Ende aller Zeiten“ kündigt sich eine Gegenfigur zur „Auferstehung“ und damit zum zentralen orthodoxen Oster-Topos an. Das Verbrüderungs-Programm dieses Topos war seit dem 19.Jh. gründlich erschüttert und in revolutionären Aufständen 237 wiederholt angezweifelt worden. Mit F. Nietzsches „schrecklichster Vision / .../ des verzeitlichten Seins“ und seiner „ewigen Wiederkehr“ 238 , ebenso wie mit Nietzsches Diktum vom toten Gott (d.h. der Kritik am christlichen Weltbild und an einer metaphysischen Philosophie 239 ) rückte die soziale Desintegration als Folgeproblem einer (bürgerlichen) Individualisierung zusätzlich ins Zentrum der russischen Öffentlichkeit. Dort zeigt sich die enge Verknüpfung von Glaube 235 Ders.Ebd.176.+200. 236 Ders.Ebd.193. 237 Das 19.Jh. in Russland ist eine Epoche, in der innerhalb einer Generation immer heftigere soziale Aufstände und politische Reformen in immer kürzeren Abständen aufeinanderfolgen. Bezeichnend ist, dass abwechselnd alle Schichten - außer den engsten Regierungskreisen und der Geistlichkeit - daran beteiligt waren. Hier seien nur die markantesten Umbrüche genannt: Meuterei des Semënovskij-Garderegiments (1820), Dekabristen-Aufstand (1825), Meuterei des Černigover-Regiments (1826), Aufstand der Bauern in den Dorfkasernen von Gruzino (1831), Bauernunruhen (1850er/ 60er J.), Abschaffung der Leibeigenschaft (1861), Reform der Justiz (1864), der Finanzverwaltung (1862-66) und Heeresleitung (um 1870), Unruhen an den Universitäten (1869, 1874, 1878) und in den Industriezentren (seit den 1880er J.), Radikalisierung der Strategien (Attentate, Parteien, Untergrund). (Stöckl, G.: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1983. S.471f., 488., 540., 549f., 564., 578f.) 238 Berdjaev.[1934]1951.180. - Gemeint ist Nietzsches Tetralogie Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883-1885). 239 Hier wäre v.a. Nietzsches Spätwerk zu nennen: Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christenthums (1895), Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (1889) und Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe (1901). <?page no="74"?> K APITEL I. 70 und Praxis umgekehrt auch darin, dass mit der Erschütterung philosophischer Diskurse eine Verschiebung der orthodoxen Zeichen- und Bilderwelt einhergeht: Mit dem Einbruch der Moderne werden die ‘Analogierelation’ und das Handlungsgebot der Orthodoxie (Einleitung 5.) nurmehr als Wahrnehmungsstörung oder gar als Realitätsverlust spürbar. Vor dem Hintergrund der dargelegten Spaltungserscheinungen verbinden sich die Gebote einer „Wandlung“ (preobražénie) der Verhältnisse und einer „Vereinigung“ (slijánie) 240 des Volkes zu den zentralen komplementären Paradigmen, die den Zeitgeist Russlands seit Mitte des 19. bis weit ins 20.Jh. prägen. Auf einem Höhepunkt dieser Phase, der 1905 mit dem „Blutsonntag“ 241 zusammenfällt, bildet die Forderung nach einer „genetischen“, kulturellen und politischen R/ Evolution mit einer „organischen“ Gemeinschaft (Ivánov: I.1.3., FN243) und einem „synkretistischen“ Erleben und Handeln (I.1.1., FN210) die Fort- 240 Der russische Begriff „preobraženie“ („Verwandlung“) wird gleichfalls in der Religion und Theologie verwendet: „preobraženie Gospodne“ bedeutet „Wandlung / Transfiguration / Verklärung Jesu“. 241 Der „Blutsonntag“ (09./ 22.01.1905 - ❐ 3-8) markiert einen Höhe- und Wendepunkt in der um 1900 anschwellenden Streikwelle (drohende und durchgeführte Generalstreiks in Petersburg) und geht als Gedenktag in den Roten Kalender ein. (Mazaev.1978.236.) Als Reaktion auf das Verheizen der Soldaten und die Niederlage im Russisch- Japanischen Krieg (1904/ 05), erfasst ein von der doktrinären wie liberalen Intelligencija unterstützter Aufstand in den Petersburger Putilov-Werken das gesamte Stadtproletariat. Unter der Führung der „Vereinigung der russischen Fabrikarbeiter Petersburgs“, zu der auch der Priester und Spitzel Georgij A. Gapon als Mittelsmann gehörte, zog eine friedliche Massendemonstration von 140.000 Menschen mit Prozessions-Ikonen und Zaren-Portraits vor das Winterpalais, wo eine Arbeiterdelegation ihre Petitionen übermitteln sollte. Obwohl von Beginn an von der Polizei kontrolliert, eskaliert die Situation beim Zusammentreffen mit den Elitetruppen vor Ort, und endet in einem drakonischen Massaker mit Hunderten Toten. Der exklusive und komfortable Platz, von dem aus die Schieß‘szene’ aufgenommen wurde ( ❐ 5), deutet darauf, dass die Regierung mit folgenreichen Zusammenstößen und wirkmächtigen Bildern rechnete, von denen sie medial, ergo politisch profitieren könnte. A.F. Kerenskij, der spätere Justizminister, Ministerpräsident und Kriegsminister der Provisorischen Regierung (und neben Lenin die Hauptfigur in der E RSTÜRMUNG (Kap.VI.), schrieb in seinen Memoiren: „Sie waren davon überzeugt, dass sie vor dem Palast niederknien würden, und dann würde der Zar kommen und mit ihnen sprechen, oder er würde sich zumindest auf dem Balkon zeigen. Aber alles, was sie bekamen, waren Kugeln.“ (Kerenskij in: Wesenberg, A. / Hartje, N. / Werner, A.-M. (Hg.): Ilja Repin. Auf der Suche nach Rußland. (Ausstellungskatalog). Berlin 2003. S.180.) Dieser bis in die 1920er Jahre spürbare Schock beschleunigte die Politisierung und Polarisierung der Bevölkerung und stärkte dennoch die Streikbewegung: in der Folge entsteht eine effektivere, mitunter überbetriebliche Organisation landesweiter Aufstände, zu denen der Generalstreik in Odessa mit der berühmten Meuterei auf dem Panzerkreuzer „Potëmkin“ im Juni 1905 gehören. Der Generalstreik im Oktober zwingt den Zaren schließlich zu einigen Zugeständnissen politischer Grundrechte (Kap.III.4., FN607). (Stöckl.1983.595f. - Kuchinke/ Dmitriev.1989.108.) <?page no="75"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 71 schreibung des orthodoxen Kunstbegriffs, sowie den Fluchtpunkt der russischen Kulturkrise. I.1.3. Kulturkrise: „Doppeldeutigkeit“ versus ‘Dilemma’ Bereits 1899 registriert der symbolistische Dichter, Publizist und Philosoph V.Ja. Brjúsov in seinem programmatischen Artikel „Über Kunst“: „In unserer Seele erkennen wir etwas, was wir zuvor nicht bemerkten: da sind Erscheinungen eines Zerfalls der Seele, von einer doppeldeutigen Sichtweise, von Suggestion; da sind die Wiederbelebung geheimer mittelalterlicher Lehren (Magie) und die Versuche von Beziehungen mit Unsichtbaren (Spiritismus). [kursiv MD]“ 242 Ein Jahr nach dem Trauma des „Blutsonntags“ sieht der symbolistische Dichter, Philosoph und Gräzist V.I. Ivánov seine Zeit in einem ‘Dilemma’ zwischen Individualität und Sozietät: „Romantik ist die Sehnsucht nach dem Unerfüllbaren, Prophetik — die nach dem Unerfüllten.“ 243 Den sozialpsychologischen Tiefpunkt dieser Entwicklung markiert der Weltkrieg, im Zuge dessen der traditionelle Integrationsmechanismus „Religion“ - in Russland über Jahrhunderte öffentlichkeitswirksam durch Kirche, Geistlichkeit und byzantinischen Prunk vertreten - endgültig zu einer „Privatsache“ 244 erodiert ist. Kein Partikulardenken und keine Einzellösungen, so Ivánov, sondern nur eine übergreifende Kunstform könne eine „allgemeine Orientierung der Seelenlandschaft“ stiften und nach dem positivistischen, „kritischen“ Zeitalter „Eine neue organische Epoche und das Theater der Zukunft“ (FN243) 245 einläuten: „Wir wollen uns mittels Theater einer höchsten, absoluten [bezuslóvnoj = bedingungslosen, unbedingten] Realität annähern: daher unser Überdruss vor dem Illusionismus. [kursiv MD]“ 246 In diesem Sinne hofft der symbolistische Lyriker und Publizist G.I. Čulkóv auf eine Gesellschaftsform als „Gemeinde auf der Basis gleichartiger religiös-ästhetischer Erlebnisse“, als Trägerin einer Kulturwende im Ganzen: „Ein Herangehen an das Thema Theater ohne das religiös-kulturelle 242 Brjusov.(1899).1975.53f. 243 Ivanov, V.I.: „Predčuvstvija i predvestija. Novaja organičeskaja ėpocha i teatr buduščego.“ [„Vorahnungen und Vorboten. Eine neue organische Epoche und das Theater der Zukunft.“] (1906). In: Ders.: Lik i ličiny Rossii. Ė stetika i literaturnaja teorija [Das Antlitz und die Larven Russlands. Ästhetik und Literaturtheorie]. (Hg.v. I.S. Narskij). Moskva 1995. S.72. 244 Ivanov.(1916).[1916]1971.277. 245 Ivanov.(1906).1995.70f. - Arvidsson/ Blomqvist.1987.8. 246 Ivanov, V.I.: „Dve stichii v sovremennom simvolizme“ [„Zwei Elementarkräfte im heutigen Symbolismus“] (1908). In: Ders.1995.132. - Vgl. hierzu Ajchenval’ds Überdruss einer „aufdringlichen Visualität“ (I.4., FN318). - Siehe auch Schlusswort 5., FN1182. <?page no="76"?> K APITEL I. 72 Thema ist nicht möglich.“ 247 Als Gegenmittel zur allgemeinen, „fatalen Zerspaltung“ der Sichtweisen prognostiziert schließlich der Berufsrevolutionär und spätere Volksbildungskommissar A.V. Lunačárskij im Anschluss an Berdjáev: „Die Rettung [von der Krisenmelancholie, MD] besteht im intensiven Genuss des Augenblicks, oder im weit umfangenden Gefühl der Einigkeit und der Ewigkeit, die sich ausdehnt. Das eine und das andere findet seinen Platz, wie mir scheint, in einem freien religiösen Kult der Zukunft. Ein freier, künstlerischer, stets schöpferischer Kult wird die Kirchen in Theater und die Theater in Kirchen verwandeln [kursiv MD]“ (1908) 248 Und noch 1923 erneuert der Theaterhistoriker V.N. Vsévolodskij-Gérngross diese Forderung in demselben Vergleich: „Das neue Theater muss für die Menschheit das sein, was die alten Kathedralen waren, und daher strebt das GĖT dahin, sein Repertoire auf Werke zu konzentrieren, die die Weltprobleme lösen. [kursiv MD]“ 249 Dem Theater wurde damit auferlegt, die Grundidee von „Kirche“ in eine neue Epoche hinüberzuretten und eine Nachfolge anzutreten, die sich erst mit der Zeit als reiches Erbe oder aber als notdürftige Nachlassverwaltung herausstellen sollte. In einer „doppeldeutigen Sichtweise“ einerseits (Brjúsov) und einem ‘Dilemma’ anderseits (Ivánov) zeichnen sich indes zwei Krisendefinitionen mit je grundverschiedenen Überwindungsansätzen ab, wie die folgenden Arbeitsbegriffe „Synthese“ und ‘System’ zeigen. 247 Čulkov, G.I.: „Principy teatra buduščego“ [„Die Prinzipien des zukünftigen Theaters“]. In: Lunačarskij, A. / Aničkov, Je. / Gornfel’d, A. (et al.): Teatr. Kniga o novom teatre. Sbornik statej [Theater. Das Buch vom neuen Theater. Sammelband]. Sankt Peterburg 1908. S.206+216. 248 Lunačarskij, A.V.: „Socializm i iskusstvo“ [„Sozialismus und Kunst“]. In: Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.28.+25. - Zu den Zeitbegriffen „Augenblick“ und „Ewigkeit“ als Bestandteil von Lunačarskijs Festkonzept siehe Kap.II.3. 249 Vsevolodskij im Gründungsprogramm des GĖT (Staatliches Experimentelles Theater / Experimental-Theater - Kap.II.2., FN431), zitiert in: Baumbach, G.: „Immer noch Theatralität. Historisch-kritische Erwägungen in Anbetracht der russischen Historiographie des frühen 20. Jahrhundert“. In: Münz/ Amm.1998.55. - Zur Entwicklung der Idee vom Theater als „Tempel“ und als sakraler Utopie im Zuge des aufrührerischen 19.Jh. (I.1.2., FN237) siehe: Stachorskij, S.V.: „‘Balagan’ oder ‘Chram’. Theaterästhetische Suche in Rußland zu Anfang des 20. Jahrhunderts“. In: Balagan. (Band 1. Heft 1.). Potsdam 1995. S.27-53. <?page no="77"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 73 I.1.4. Theaterkrise: ‘System’ und „Synthese“ Eine weitere Beobachtung Brjúsovs markiert den Auftakt der russischen Theaterkrise: 1902 brandmarkt er den akribischen Ausstattungs-Naturalismus des Moskauer Künstlertheaters (MChT) in seinem gleichlautenden Aufsatz als „Unnötige Wahrheit“, und postuliert mit dem Begriff „uslóvnost’“ (vereinbarter Zeichenkode, künstlerische Übereinkunft, ästhetische Setzung / Stilisierung) ein originäres Zeichen- und Kommunikationssystem von Theater 250 . 1908 problematisiert er in seinem Aufsatz „Realismus und Uslovnost’ auf der Bühne“ das Verhältnis beider ästhetischer Systeme gleichsam als die grundlegenen Kategorien, als das fundamentale ‘Getriebe’ von Theater. Hier wiederholt er seine Kritik am Naturalismus und konstatiert zudem die Verzerrung der mittlerweile in der Sprache und auf der Bühne etablierten Uslóvnost’: „/ .../ alle technischen Perfektionierungen des realistischen Theaters tragen nicht bloß zu keiner Bühnenillusion bei, sondern schwächen diese. / .../ Je mehr wir den Unterschied zwischen Leben und Bühne verdecken, umso eher wird er immer fühlbarer werden. / .../ Beim Gang über die Bühne, beim Hinsetzen auf eine Bank, beim Schließen der Augen, beim Heben der Hand, agieren die Schauspieler, wie lebendige Leute; im Moment der Emphase, im Moment einer angespannten dramatischen Handlung verlieren sie plötzlich diese Fähigkeit, lebendige Wesen zu sein, und verwandeln sich in Mannequins. In den stilisierten Aufführungen und im Spiel der Schauspieler zerflimmern diese Übergänge von Realismus zu Schematismus die ganze Handlung, zersplittern den gesamten Eindruck, und verwandeln die Aufführung in eine quälende Abfolge widersprüchlicher Farben und Dissonanzen. [kursiv MD]“ 251 Brjúsovs Beobachtungen der splitterhaften, ruckartigen „Übergänge von Realismus zu Schematismus“ und die Voraussetzung eines „Unterschieds zwi- 250 Brjusov, V.Ja.: „Nenužnaja pravda“ [„Eine unnötige Wahrheit“] (1902). In: Ders.1975.62f. - Der Begriff „uslovnost’“ als Konstitutivum von Kunst (Brjusov.1899.), dann von Theater (Brjusov.1902.) wird als „Stilisierung“ noch immer auf Mejerchol’d zurückgeführt. Doch der Begriff ist ein krisenbedingtes Diskurselement: Brjusov prägt die theatrale „Uslovnost’“ als Problembegriff in Bezug auf den Schauspieler und die Handlung, womit er am Kern der Theaterkrise ansetzt. Mejerchol’d hingegen vereinnahmt die theatrale „Uslovnost’“ mit der „Forderung nach stilistischer Geschlossenheit“ (H. Xander) als Legitimationsbegriff für seine ersten Regie-Versuche, und experimentiert sich mit einer ganz anderen Interessenshierarchie (Autor - Regisseur - Akteur - Zuschauer) gleichsam an der Theaterkrise vorbei. (Xander in Fischer- Lichte/ Greisenegger/ Lehmann.(1994).121. - Mejerchol’d, Vs.Ė.: „Teatr. K istorii i technike“ [„Theater. Zur Geschichte und Technik“]. In: Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.150.+175.) 251 Brjusov, V.: „Realizm i uslovnost’ na scene“ [„Realismus und Uslovnost’ auf der Bühne“]. In: Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.248f., 249., 251. <?page no="78"?> K APITEL I. 74 schen Leben und Bühne“ beruhen insofern auf einer ‘doppelwertigen’ Sichtweise, als beiden Kodes / Kategorien eine je eigene Gültigkeit attestiert wird, deren Bezugs- und Umschlagpunkt, deren Demarkations- und Grenzlinie die Bühnenrampe bildet. Dabei lassen sich „Realismus“ und „Schematismus“ in kulturanthropologischer Hinsicht als zwei Pole begreifen, die jeweils in einen außerästhetischen und in einen ästhetischen Bereich tendieren / hineinragen. In historischer Hinsicht sind dies zwar jeweils anders definierte, doch stets aufeinander bezogene ‘Lesarten’ oder „Wirklichkeitsmodelle“ 252 , die sich im Problemkontext von ‘Ästhetik’ 253 und ‘Kommunikation’ 254 fokussieren lassen. In dieser Doppelperspektive formuliert Brjúsov zwei Hypothesen, die wenig später die Vorlage zum Höhepunkt der Theaterkrise bilden. Die erste Hypothese zielt auf eine Selbstauflösung des Theaters infolge von theatraler Uslóvnost’ und fasst Theater als ein ästhetisches Problem: „Doch je konsequenter die stilisierte [uslóvnaja] Aufführung sein wird, je perfekter sie einem mechanischen Theater entspricht, umso weniger wird sie notwendig sein. Indem sie dem Schauspieler Schritt für Schritt die Möglichkeit zum Spiel nimmt, die Möglichkeit zur schöpferischen Kunst, wird die theatrale Uslovnost’ schließlich die Bühne als Kunstform vernichten. Wenn wir dramatische Werke lesen, stellen wir uns kraft unseres Vorstellungsvermögens die Handlung natürlich als sich vollziehende vor. Das ‘stilisierte’ Theater trägt nur wenig zu diesem Vorstellungsvermögen bei: bei ihrem Vollzug wie auch beim einfachen Lesen eines Buches wird die Handlung selbst bloß vorausgesetzt [kursiv MD]. / .../ für Leute, die über Phantasie verfügen, wird sich das Theater als überflüssig erweisen.“ (1908) 255 252 Lotman, Ju.M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. (Hg. v. K. Eimermacher). München 1972. S.34f.+44f. 253 „Es ist falsch, in der Kunst nur das vom historischen Moment Geschaffene zu sehen; die umgekehrte Ansicht, dass das Leben und die Natur durch die Kunst geschaffen werden, ist um einiges richtiger.“ (Brjusov.(1899).1975.49.) - Die Verabsolutierung dieses Gedankens bezogen auf Theater ist später mehrfach bei Jevreinov anzutreffen, der dafür fortan das Monopol beansprucht: „Ich behaupte und bestehe darauf, dass weniger die Bühne Anleihen beim Leben machen sollte, als das Leben bei der Bühne.“ (Jevreinov.(1908).1923.30. - Einleitung 3., FN54+55) 254 „Die Welt ist meine Vorstellung. Mir sind bloß meine Gedanken, meine Empfindungen, meine Wünsche gegeben — nichts weiter und niemals mehr. Aus dieser Einsamkeit drängt es die Seele leidenschaftlich zur Kommunikation [obščenie]. In der Einigung mit einer anderen liegt ihr Glück. Und eine Einigung ist möglich.“ (Brjusov. (1899).1975.52.) 255 Brjusov in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.253. - Der Dramatiker L.N. Andreev kommt zum gleichen Ergebnis: „Vom Charakter und Aufbau ganz unterschiedliche Stücke wetteifern gegeneinander, schwächen den Schauspieler, indem sie ihn vom Extrem des Realismus zum Extrem des Symbolismus treiben, ihn mal mit Fleisch und Blut belohnen, mal selbst seinen Schatten abnehmen, wie dem unglückseligen Schlehmil.“ - Andreev sieht die Gefahr einer Selbstabschaffung des Theaters in der Form, dass „die theatrale Uslovnost’“ der direkte Wegbereiter für das Kino werden könnte, welches <?page no="79"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 75 Die zweite Hypothese formuliert - als Folge daraus - ein Verortungs- und Vermittlungsproblem von Theater, dessen Spezifik noch reflektiert und artikuliert werden müsse. An diesem Punkt zeichnet sich - quer zum Wortlaut - die Idee von Theater als einem außerästhetischen Phänomen ab: „Aber zählen wir die szenische Darstellung nicht aus einem Missverständnis heraus zum Bereich der Kunst? Diese Vorwürfe wären gerechtfertigt, wenn das Theater sich tatsächlich anmaßen würde, die Aufmerksamkeit gleich auf mehrere Aspekte der Sichtbarkeit zu vereinen. Dann würde es bloß die unterschiedlichen Kunstformen vermischen und das Recht auf einen eigenständigen Platz in ihrer Reihe verlieren. Aber da es nicht die Synthese der Künste ist, wie dies einige Theoretiker reklamiert haben, ist das Theater doch eben eine echte Kunst, denn das wesentliche Merkmal schöpferischer Kunst ist auch gerade seiner Wirksamkeit / seiner Funktion eigen. / .../ So wie der Skulptur Formen und der Malerei Linien und Farben [eigen sind], so ist die Handlung, die unmittelbare Handlung dem Drama und der Bühne eigen. [kursiv MD]“ (1908) 256 Ob es sich nun um die Aufführung in ihrer „technischen Perfektionierung“ („Realismus“, FN251) oder aber in ihrer „mechanischen“ Ausprägung („Schematismus“, FN255) handelt — Brjúsov zufolge verliert ein ästhetisch einseitiges Konzept als „bloß vorausgesetzte“, gleichsam vorgefertigte Bühnenhandlung die Plausibilität und Schlüssigkeit. Entscheidend ist hier, dass sich eine tiefergreifende Wirksamkeit von Theater mit einer anderen Reichweite von Handlung jenseits der „Bühne als Kunstform“ ankündigt: Folgt man Brjúsovs beiden Hypothesen, steht im Zentrum seines Theaterbegriffs die über ihr traditionelles Medium hinausweisende, „unmittelbare [Bühnen]Handlung“ — eine Handlungsform, die mit dem ästhetischen Bereich zwar verhaftet ist („eine echte Kunst“), aber ebenso eine außerästhetische Dimension geltend macht (Einleitung 3., FN51/ 53). Diese Beobachtungen prägen Brjúsovs Krisenstrategie und haben für die russische Theater-Avantgarde und ihre Reform-Ansätze weitreichende Konsequenzen. Brjúsovs Befund einer „Doppeldeutigkeit der Sichtweisen“ (I.1.3., FN242) und sein Beharren auf der Unterscheidbarkeit „zwischen Leben und Bühne“ (FN251) prägen fortan maßgeblich die Re--formulierung(en) von Theater, dessen Spezifik explizit keine „Vermischung“ (FN256), keine Ansammlung (agglomerát) und eben keine „Synthese“ (slijánie) der Kunstformen sein könne, sondern sich - wie jede andere Kunstform - einer eigenen Regelhaftigkeit, einem (dissoziierbaren, zu definierenden) ‘System’ von Praktiken dem Theater bestimmte Unterhaltungspflichten abnimmt, und es damit obsolet werden lässt. (Andreev, L.: „Pis’ma o teatre. Pis’mo pervoe“ [„Briefe zum Theater. Erster Brief“]. In: Maski [Die Masken]. N°3, 1912. S.11+4.) 256 Brjusov in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.255. <?page no="80"?> K APITEL I. 76 verdanke 257 . Dies erfordert ein ständiges Aktualisieren und Verorten von Theater zwischen „Leben“ und „Kunst“, und verpflichtet zu einem periodischen Austarieren zwischen ‘Material’ („die Schauspieler selbst“: I.2., FN274) und „Wirksamkeit / Funktion“ („die unmittelbare Handlung“: FN256) 258 — innerhalb der eigenen Zunft, neben den anderen Künsten, und verstärkt auch gegenüber den um die Jahrhundertwende prosperierenden Wissenschaften. 259 Im Zugriff auf diese neuen Gebiete und Disziplinen wird „Realismus“ / „Naturalismus“ mit einer Inflationierung der Zeichen, „Schematismus“ / „Uslóvnost’“ hingegen mit ihrer Rationalisierung verbunden, woraus für Brjúsov schließlich eine ‘Deflation’ der Handlung („umso weniger notwendig“, FN255) und die Desintegration der Gesellschaft („Dissonanzen“, FN251) resultieren. Brjúsovs „doppeldeutige“ / ‘doppelwertige’ Sichtweise dieser Vorgänge lässt sich somit als ein disjunktiver Wahrnehmungsmodus begreifen, der einer Heterogenität neuer Lebensbereiche und Disziplinen in mehrfacher Perspektivierung Rechnung trägt. Das Verhältnis ‘Ästhetik’ und ‘Kommunikation’ erweist sich hier als ein Problem von ‘System’ und einer Kontingenz der Zeichen, und ist durch die Unterscheidbarkeit und Abgrenzung von Bereichen und die Betonung der Bühnenrampe bedingt. Dagegen setzt Ivánovs Krisenstrategie auf eine Angleichung von „Leben und Bühne“ sowie auf die Restitution eines religiösen Handlungs- und Gemeinschaftsbegriffs. Im Zuge des Januar-Aufstands hatte Ivánov die Bühnenrampe als Spaltungsmerkmal definiert und den Rückgriff auf die Kulthandlung der griechischen Antike als Ursprungs- und Orientierungsmodell für das russische Theater gefordert (Kap.II.1.1.). Aus seiner Kritik geht die Störung der orthodoxen Vorstellung von Welt, ‘Parallelwelt’ und deren ‘Analogierelation’ durch die Bühnenrampe hervor: 257 Brjusov, V.: „‘Žizn' čeloveka’ v Chudožestvennom teatre“ [„‘Das Leben eines Menschen’ am [Moskauer] Künstler-Theater“] (1908). In: Ders.1975.132f.+383f. - Auch Beskin nimmt das Theater vehement vor einer ‘Synthetisierung’ in Schutz: „[Es ist] Eine riesige Verleumdung - dass Theater eine Synthese aller Künste wäre. Nichts dergleichen. Theater ist eine ebenso eigenständige [samodovlejuščee], ebenso originäre [samocvetnoe], ebenso souveräne [samoutverždajuščeesja] Kunst, wie alle anderen.“ (Beskin, Ė.: „Samootricanie buržuaznogo teatra“ [„Die Selbstverneinung des bürgerlichen Theaters“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°80-81 vom 27.01.1921. S.2f. (= Beskin.(1921).) 258 Brjusov.(1902).1975.66f.+72. 259 Brjusov.(1899).1975.52f. - Dazu ausführlich: Langer, G.: Kunst - Wissenschaft - Utopie. Die „Überwindung der Kulturkrise“ bei V. Ivanov, A. Blok, A. Belyj und V. Chlebnikov. Frankfurt a.M. 1990. S.44f. - Hierzu auch: Ovsjaniko-Kulikovskij, D.: „K voprosu o zadačach teatra“ [„Zur Frage nach den Aufgaben des Theaters“]. In: Ajchenval’d, Ju.I. / Glagol’, S.S. / Nemirovič-Dančenko, Vl.I. (et al.): V sporach o teatre. Sbornik [Streitgespräche zum Theater. Sammelband]. Moskva 1913. S.196. <?page no="81"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 77 „Es entsteht jene verhexte Grenze zwischen dem Schauspieler und dem Zuschauer, die das Theater bis heute in Form der Rampenlinie in zwei einander fremde Welten teilt: nur der Handelnde und nur der Wahrnehmende — und es gibt keine Adern, die diese beiden getrennten Körper durch einen gemeinsamen Blutkreislauf schöpferischer Energien verbinden würde. / .../ Die Bühne muss über die Rampe hinaustreten und die Gemeinde in sich aufnehmen, oder aber muss die Gemeinde die Bühne in sich aufnehmen. [kursiv MD]“ 260 Im Unterschied zu Brjúsov laufen Ivánovs Überlegungen auf nur einem außerästhetischen Referenzfeld - der Kulthandlung - zusammen, worin eine Assimilierung der Zeichen und des Status aller Teilnehmer erfolgt. Ivánovs Krisensymptom ‘Dilemma’ wird hier als ein konjunktiver Wahrnehmungsmodus deutlich, der nur eine Perspektive vorsieht und auf die Eindeutigkeit und Homogenisierung neuer Lebensgefüge abzielt: Insofern lässt sich das Sinnbild des „Blutkreislaufs“ und der „Gemeinde“ als ein Problem von „Synthese“ und einer Konvergenz der Zeichen begreifen, das aus einer Entgrenzung der Bereiche und der Aufhebung der Bühnenrampe hervorgeht. Wie noch zu sehen sein wird (I.2., I.3. - Kap.II.1.6.), generiert der jeweilige Wahrnehmungsmodus von Brjúsov und Ivánov zwei unterschiedliche Lösungsansätze der Theater- und Kulturkrise, die jeweils eine Sowohl-Als-Auch- Option („Doppeldeutigkeit“ - ‘disjunktiv’) oder aber ein Weder-Noch-Modell (‘Dilemma’ - ‘konjunktiv’) darstellen. Bevor sich diese dichotomische, an Brjúsov und Ivánov exemplifizierte Sichtweise als Begriffs-Filiation fortsetzt und bis in die Manöveraufführungen fortwirkt, werden beide „Wirklichkeitsmodelle“ („Realismus“ - „Schematismus“) am folgenden Beispiel für eine ‘konjunktive’ Wahrnehmung konkretisiert, das im weiteren Verlauf der Arbeit als ‘Lesezeichen’ dieser Problematik dienen soll. Exkurs: Kann es unechte Barrikaden geben? Von einer besonders spannenden Stelle während der Aufführung des M YSTERIUMS (Mai 1920) berichtet der Zeitzeuge B. Śmeral (stellvertretend für viele andere Zuschauer und Beispiele): „Vor unseren Augen werden echte Barrikaden errichtet! “ 261 Die prinzipielle Aufgeschlossenheit für den „Realismus“ von Objekten und Personen einerseits und eine leise, aber konstante Skepsis gegen den „Schematismus“ von Vorgängen und Handlungen anderseits lässt sich für nahezu alle Revolutionsfeiern und Manöveraufführungen des behandelten Zeitraums feststellen. Śmerals Exkla- 260 Ivanov.(1906).1995.82. - Mejerchol’d hat Ivanovs Metapher des „Blutkreislaufs“ zwar mit Anführungszeichen, aber ohne Quellenverweis, also gleichsam als Eigenzitat plagiiert. (Meyerhold, W.E.: Schriften. Aufsätze. Briefe. Reden. Gespräche. Erster Band. 1891-1917. (Hg. v. B.J. Rostozki). Berlin 1979. S.131.) 261 Śmeral, B.: Pravda o Sovetskoj Rossii. Dnevnik. Putevye zametki [Die Wahrheit über Sowjet-Russland. Tagebuch. Reise-Notizen]. Praga 1920. (Auszug). In: Jufit.1968.266. <?page no="82"?> K APITEL I. 78 mation zieht jedoch aus heutiger Sicht eine ganze Kaskade von Fragen nach sich: Kann es unechte Barrikaden geben? Woran sind diese zu erkennen, oder woran bemisst sich deren „Echtheit“? Und was bedeutet das für eine (Manöver)Aufführung? Methodisch sind diese Fragen umso dringender, als Barrikaden bereits im theaterfernen Alltag Objekte sind, die weder als „natürlich“ noch auch als „künstlich“ gelten können, da es sich um keine Dinge mit einer inhärenten und regulären Zweckbestimmung handelt, sondern um zweckentfremdete, ‘displaced objects’. In den theatralen Kontext versetzt, ändert sich nichts an der Kodierung und am Status der Barrikade: sie ‘funktioniert’, oder sie ‘funktioniert nicht’. Für die heutige Wissenschaft, die eine „Mobilität und Polyfunktionalität“ 262 , d.h. die semiotische Plastizität des theatralen Kodes mit einem höchst elastischen Bedeutungswandel seiner jeweiligen Elemente voraussetzt, erscheint das Attribut „echt“ in diesem Zusammenhang deplaziert: sobald in einer Inszenierung durch die Anordnung verschiedener Gegenstände und vor allem durch deren Verwendung und das Verhalten der Akteure die Bedeutung „Barrikaden“ erzeugt wird, macht die Unterscheidung zwischen „echt“ und „unecht“ keinen Sinn. Wie auch immer sie beschaffen sein mögen: was können unechte Barrikaden an einer funktionierenden Aufführung wohl ändern? Wie bereits eingangs betont (Einleitung 3.), wird jede Logik, auch die solideste, durch die Willkür des Bürgerkrieges ausgehebelt. An der Frontlinie, deren Teil die Barrikade ist, gibt es nur zwei unvereinbare Optionen - Leben oder Tod - und dazwischen keine Zeit oder Gelegenheit für Differenzierungen, keine ‘Pufferzonen’, keine ‘Klärungsinstanzen’ (kein „Purgatorium“: Einleitung 3., FN65 - I.4., FN322). In den Verhältnissen der Eskalations- und Umkodierungs-Maschine ‘Krieg’, die ständig alles aufsprengt, verdreht und wieder zusammenschiebt, gibt es kaum formale, äußere Sicherheiten. Die Sinne lernen, in Bruchteilen von Sekunden zu entscheiden, ob der Sackträger 263 aus einem Typhus-Gebiet kommt (und mit seiner Ware den Tod bringt), ob das gelieferte, dringend benötigte Werkzeug von einer Sabotage- Aktion stammt (und der Empfänger die Todesstrafe riskiert), ob eine Uniform eine Kostümierung, ein Signal eine Finte, oder ob ein gewöhnlicher Rot-Armist ein konterrevolutionärer Simulant ist (Kap.III.2., FN526). „Echtheit“ ist somit ein existentieller Orientie- 262 Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Band 1: Das System des theatralischen Zeichens [1983]. Tübingen 1998. 263 Sackträger (mešočniki) waren illegale Händler / Spekulanten, die während des Bürgerkriegs / im Kriegskommunismus per Bahn kreuz und quer durchs Land fuhren und mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern aller Art handelten. Die aktuelle Geschichtsforschung bestätigt, dass die Versorgung ohne diese „Schieber“ in allerkürzester Zeit kollabiert wäre. (Zur Versorgungslage siehe Kap.III.2., FN509.) <?page no="83"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 79 rungsfaktor — mehr (instinktives) Sensorium als (diskursives) Kriterium: „echt“ ist, was das Überleben sichert. (Man spürt die Lächerlichkeit einer „authentischen“ Barrikade — wie man heute wohl sagen würde: vgl. Kap.II.2., FN465 und Schlusswort 5. „Authentisch“ ist allenfalls ihre Vergangenheit, ihre Provenienz, nachdem die Barrikade ihren Zweck erfüllt hat und als Exponat musealisierbar geworden ist.). Als ein Produkt des Krieges kann die Barrikade nur echt sein oder nicht sein. Sie steht für Abschottung schlechthin (würde man heute meinen), doch für die spezifische Schutzfunktion ist eine bestimmte Durchlässigkeit (Öffnungen wie Sehschlitze, Schießscharten, Schlupflöcher) ebenso ausschlaggebend wie eine maximale Material-Dichte. Noch bevor sie sich im Spiel-Einsatz qua Funktion als Barrikaden bewähren, gelten sie als „echt“: Śmeral erkennt in deren Konstruktion oder in den Details (als Handlung und als Ergebnis) offenbar sofort einen wirksamen Schutz (am ‘Loch’muster? ), der nur im außertheatralen Kontext Sinn macht, und daher die Frage provoziert, wo die Wahrnehmung dieses und anderer Zeitzeugen verankert ist? Wo ‘befindet’ sich Śmeral im Augenblick seiner Beschreibung: ‘hier’ (‘drinnen’), im Theater — oder ‘dort’ (‘draußen’), im Krieg? Im Revolutions‘alltag’ ist es kaum möglich, diesem radikalen Perzeptionsmechanismus und chronischen Adrenalinpegel (Freund - Feind? Echt - falsch? Tod - Leben? ) zu entkommen, und die Notwendigkeit der Kriterien- und Sinnsuche erfasst in ‘Ausweitung der Kampfzone’ das Theater: Während in der heutigen Friedenszeit eine Ansammlung von Hölzern, Möbeln, Kisten etc. für uns (mit der „Gnade der späten Geburt“) einen Haufen für den Sperrmüll oder die Einrichtung eines Messis bildet (außerästhetisch betrachtet), aber auch ein besonderes Bühnenbild oder eine Arbeit von Joseph Beuys „bedeuten“ kann (ästhetisch gesehen), sind solche alternativen Zuschreibungen (‘zufällige Anhäufung’, ‘gewollte Replik’, oder-oder...) in der Revolutionszeit trotz flankierender ‘Gegenmaßnahmen’ und ästhetischer Rahmungen kaum denkbar. Der Krieg toleriert jede Obszönität — aber duldet keine Wahl. Er sabotiert spielerische Deutungen und stilisierende Abstraktionen, er überformt und durchdringt, er ‘synthetisiert’ und ‘amalgamiert’ und ‘verwuchert’ alles, und zwingt es in seinen ‘absoluten’, ‘konjunktiven’ Wahrnehmungsmodus, besonders die Dinge, die er selbst generiert: er zwingt die Barrikade, den Rot- Armisten und das Bajonett in sein Gravitationsfeld, das kaum je ‘überspielt’ oder ‘überschrieben’ werden kann. Brjúsov betont eine ‘disjunktive’ Wahrnehmung und die Reziprozität von „Realismus“ und „Schematismus“ als grundlegene Voraussetzung von Theater (FN250), und profiliert damit das Konzept „Theatralität“, das Jevréinov hernach zur seiner ‘Marke’ macht (FN253 - Einleitung 3., FN54). Brjúsov identifiziert also zwei Instanzen, deren <?page no="84"?> K APITEL I. 80 Kombinationsvielfalt dazu berufen ist, die (Un)Wirklichkeit (s)einer Epoche zu reflektieren und zu modulieren: ihre Gesetze zu erkennen und darzustellen, sie theatral zu erproben, zu verifizieren oder zu verwerfen. Dabei stellt sein Postulat zweier „Wirklichkeitsmodelle“ (Lótman) in dem Maße ein Korrektiv zur vorfindlichen Realität dar, wie das Konzept „Theatralität“ eine relativierende Gegenkraft zum ‘absoluten’ Gravitationsfeld von Revolution und Krieg herstellt. Im homogenen ‘Schutzraum’ einer Inszenierung macht die Unterscheidung zwischen einer echten oder unechten Barrikade tatsächlich keinen Sinn. Doch im labilen Freiraum einer Petrograder Aufführung unter freiem Himmel, mit der adrenalinhaltigen Reagibilität eines tausendköpfigen, militarisierten Publikums, fühlt sich der latent bedrohte Zuschauer in seiner Kriegserfahrung wahr- und ernst genommen (Kap.III.). Hier ist die Echtheit, d.h. die Wirksamkeit der Barrikade (des Rot-Armisten, des Bajonetts) ausschlaggebend für die spezifische Atmosphäre: das allgemeine Sicherheitsgefühl, die herrschende Spannung, den gegenseitigen Wahrnehmungs- und Realitätsabgleich (Schlusswort 5.) — für das Gemeinschaftsgefühl und Gelingen der Manöveraufführung im Ganzen. Die Anwort auf die Eingangsfrage, ob es unechte Barrikaden geben kann, hängt also vom ‘Aggregatzustand’ der Situation ab: im Friedensalltag — ja; in Kriegszeiten — nein. Es ist das Privileg und die Potenz theatraler Semiosis, beides gegeneinander zu spiegeln und als Irritation aufrecht zu erhalten. Erst wenn man den Schutz und die Seelenruhe hat, mit Dingen und Deutungen zu spielen und jenseits der Barrikade ‘Joseph Beuys’ zu erkennen, ist der Krieg vorbei. Śmeral ist noch mittendrin. I.1.5. Zeitläufe und Zeitstrukturen: Die Manöverinszenierungen zwischen Ritual / Kulthandlung und Fest / Spektakel Mit den beiden divergierenden Tendenzen ‘System’ („Doppeldeutigkeit“) und „Synthese“ (‘Dilemma’) ist gleichzeitig die Grundkonstellation der revolutionären Manöverinszenierungen benannt, denn die gleichen Irritationen der „Übergänge von Realismus zu Schematismus“ (Brjúsov: I.1.4., FN251), die gleiche Frage nach der kategoriellen (außer/ ästhetischen) und kommunikativen Verortung von Schauspieler, Zuschauer und Handlung in einer „höchsten, absoluten Realität“ (Ivánov: I.1.3., FN246) prägen den Diskurs über die Manöverinszenierungen. Bereits 1918 wird in Russland der Zusammenhang zwischen historischem Umbruch (Französische Revolution), kultischem Spiel (Attische Dionysien) und einem Theater unter freiem Himmel - „vor dem Angesicht Gottes und <?page no="85"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 81 vor Mutter-Natur“ 264 - öffentlich debattiert als eine spezifische Form, deren Umsetzung hohe Ansprüche stellt. Und 1920 erscheint die Verschränkung von Theater als ästhetischem und Theatralität als außerästhetischem Konzept als Desiderat und Problem einer neuen Festkultur: „Es ist deshalb nicht verwunderlich oder widernatürlich, wenn an dieser religiösen Handlung [der Theatralität des Osterfestes, MD] nicht bloß tief religiöse oder gleichgültige Menschen, sondern sogar Atheisten teilnehmen. Die Schaffung allgemeingültiger Volksfeiern als Ausdruck von Festlichkeit ist unerlässlich. Die Zeit wird sie allmählich hervorbringen, doch zweifellos muss man den Übergang von einer kirchlichen zu einer laizistischen Theatralität leichter machen. Die Ausarbeitung dieser Festlichkeiten, in denen jedermann Schauspieler und jeder Schauspieler Zuschauer ist — dies zu schaffen ist unerlässlich.“ 265 Piotróvskij konstatiert noch 1922 hierzu: „Die Massenfeiern, die in das ‘Spektakel’ ‘echte’ Bewegungen ‘echter’ Militär- und Arbeitermassen einführen (Parade, Kundgebung), die Kunst-Zirkel von Arbeiterklubs einerseits, Initiativen wie das ‘Rituelle Theater’ [resp. ‘Ritual- Theater’, MD] oder das kürzlich entstandene ‘Experimentelle Theater’ [ ‘Experimental-Theater’, G T ] anderseits, bringen doch eines zum Ausdruck — den Drang, über ‘Illusion’ und ‘Uslovnost'’ hinaus eine neue Realität der theatralen Handlung zu errichten! Und so sollte man auch die Debatten über die Wiederbelebung des Naturalismus am Theater deuten! Die Bestrebung, durch einfachste Bewegung, durch echte Gegenstände, Worte, Handlungen das echte und tiefe Wesen der Dinge zu bezeichnen, ein Theater, wo die Bewegung zum Ritual, der Gegenstand zum Emblem, das Wort zum Signal wird — was ist das, wenn nicht die Merkmale eines theatralen Symbolismus? [Kursiv d. Autors] / .../ Doch so wie zwanzig Jahre zuvor die Losung ‘von der Realität zu einer höheren Realität’ in der Kunst des Wortes ausgerufen wurde, so befinden wir uns auch jetzt am Vorabend einer höheren Realität von Theater. Uns locken die noch nicht entdeckten Schätze eines neuen Alltagslebens, die wir versuchsweise als ‘Ritual’ bezeichnen. [kursiv MD]“ 266 264 Bespjatov, Je.: „Teatr pod otkrytym nebom“ [„Theater unter freiem Himmel“]. In: Narodnyj teatr [Volkstheater]. N°3-4 (Mai-Juni) 1918. S.25f. - Siehe dazu auch Kap.II.1.1., FN349. 265 Grošikov, F.: „Teatralizacija žizni“ [„Die Theatralisierung des Alltags/ Lebens“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°430 vom 22.04.1920. S.1. 266 Piotrovskij, A.I.: „Obrjadovyj teatr“ [„Rituelles Theater / Das ‘Ritual-Theater’“] (März 1922). In: Ders.1925.42f. (= Piotrovskij.(1922/ c).1925.) - Zum GĖT siehe auch I.1.3., FN249 und Kap.II.2., FN431. - Den Ausdruck „a realibus ad realiora“ (vgl. I.1.3., FN246) verwendet V.I. Ivanov (1908): siehe Schlusswort 5., FN1182. - Piotrovskij setzt einen offenbar breiten Konsens zur Bedeutung des „Rituals“ voraus, da in seinen Schriften nichtmal ansatzweise Bestimmungen zu diesem Begriff auftauchen. <?page no="86"?> K APITEL I. 82 Zwischen Januar-Aufstand („Blutsonntag“, 1905) und Oktober-Revolution (1917-1920) verlagern sich die Konflikte von Theater (Ivánov: „absolute Realität - Illusionismus“ [1908] / Brjúsov: „Realismus - Schematismus“ [1908] / Ájchenval’d: „Realität - Kunst“ [1913], siehe I.4.) auf das Problem der Massenfeiern (Piotróvskij: „Ritual - Illusion“ [1922] / Vsévolodskij: „Naturismus - Allegorik“ [1929] 267 , siehe Kap.II.2.). In der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (E. Bloch) 268 des Bürgerkriegs verschiebt sich diese Doppelperspektive zu einem zweifachen Fokus auf die Manöverinszenierungen, der die eingangs genannten Pole ‘Volks- und Kirchenfest’ als wichtigste Austragungsorte von „Gemeinschaft“ aufgreift (Einleitung 5.) und sie einerseits als „Fest - Spektakel“ [zrélišče] (III. I NTERNATIONALE ), anderseits als „Ritual / Kulthandlung“ [déjstvo 269 ] (S TURZ ) fortsetzt. Obwohl also die vorrevolutionären Krisensymptome im Kern virulent bleiben, fungiert gleichsam erst deren Verdichtung und Verschränkung als potentielle, revolutionäre Überwindungsstrategie. Im Suchprozess nach den „histrionischen Grundlagen“ (I.1.1., FN210) wird das „echte und tiefe Wesen der Dinge“ („echte“ Barrikaden), Personen und Handlungen nunmehr zum Träger einer vollkommen neuen Theatererfahrung (das „Ritual“ der „noch nicht entdeckten Schätze eines neuen Alltagslebens“: Piotróvskij, FN62). Den Manöverinszenierungen wird damit ein radikales Erneuerungspotential, ein regelrechtes ‘Revolutionsmandat’ zugewiesen 270 . Aus dieser Entwicklung lässt sich erstens folgern, dass die Manöverinszenierungen die Funktion übernehmen, zwei ‘Wirklichkeitsreihen’ (Realismus — Schematismus) zu einer „höheren Realität“ (Piotróvskij, FN266) zu vereinbaren, und insofern das obengenannte Paradigma ‘Transformation’ („Wandlung“, I.1.2.) zu verwirklichen. Mit dieser Übernahme erfolgt auch eine zweifache Wirkungsweise bzw. eine Auffächerung der Rampenlinie, die - je nach „Wirklichkeitsmodell“ und Wirklichkeitsbedarf - als Vereinfachung („Synthese“: Ivánov) oder Vervielfachung (‘System’: Brjúsov) von Perspektive/ n und Abgrenzung/ en fungieren kann: Die Rampenlinie vermag nichtmehr allein, passive von aktiven Teilnehmern (Fest), sondern auch Eingeweihte von Randständigen (Ritual), sowie zudem Gleichgesinnte von Gegnern zu (unter)scheiden (Demonstration) — oder aber nach neuen Kriterien zu verbünden. Mehr als in anderen Gen- 267 Vsevolodskij, V.N.: Istorija russkogo teatra. V dvuch tomach [Geschichte des russischen Theaters. In zwei Bänden]. Leningrad, Moskva 1929. Bd.2. S.389f. 268 Zur subjektiven Wahrnehmung von Zeit als Überlappung von Retention und Antizipation im Sinne der hier gebrauchten Formel siehe: Schütz/ Luckmann.1979.80f. 269 Vom altrussischen Verb „dejat’“ (in der Religion: Kulthandlungen durchführen - in Mythologie, Heiligenlegende, Heldenfolklore: Taten vollbringen) stammt das Substantiv „dejstvo“ (Spiel / Kulthandlung, Ritual) und ist ethymologisch verwandt mit den noch heute üblichen Begriffen „dejstvie“ (Handlung, Akt - bezogen auf Theater und Drama) und „dejstvitel’nost’“ (Wirklichkeit, Gültigkeit). - Als Tat--Sachen sind Theater und Wirklichkeit also jeweils Abstufungen derselben Realität. - Vgl. Einleitung 5., FN165+166, Kap.II.1.3. und II.2., FN423 und Kap.IV.3., FN749. 270 Keržencev.[1920]1980.213. <?page no="87"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 83 res und Zeiten ist die Rampenlinie der Manöverinszenierungen als „symbolisches Kulturmuster“ also imstande, Wirklichkeit zu steuern in dem Sinne, dass sie „sich auf diese Wirklichkeit aus[zu]richten und zugleich die Wirklichkeit auf sich aus[zu]richten“ 271 vermag: denn die ‘Rampenhoheit’ setzt ‘Demarkationslinien’ und sanktioniert die jeweiligen Kulturpraktiken und Kulturträger. Als Instrument und Ausdruck symbolhafter und sozialer Machtverteilung entscheidet sie über den Einbezug oder die Ausgrenzung bestimmter Adressaten. Die Manöverinszenierungen scheinen damit zweitens imstande, den (Rest)Bestand eines sozialen Zusammenhalts zu sichern und das Paradigma ‘Integration’ („Vereinigung“, I.1.2.) einzulösen. 272 Mit der ‘Erblast’ und Zuspitzung zweier ‘Wirklichkeitsreihen’ rückt auch die Frage nach weiteren Faktoren in den Vordergrund, durch die - neben der neuen Wechselwirkungsweise der Rampenlinie - eine frühere Problemstruktur (Realismus / Schematismus) zur aktuellen Problemlösung (Fest / Ritual) ver- und gewendet werden kann. Hierzu liefert Piotróvskijs Theatervision einen Hinweis: Wenn in den Massenschauspielen „die Bewegung zum Ritual, der Gegenstand zum Emblem, das Wort zum Signal wird“ (FN266), zielt dies einerseits auf eine elliptische, sprunghafte Ästhetik (Emblem, Signal), anderseits auf eine iterative oder serielle Ausdrucksform (Formel, Ornament). Der damit verbundene Mechanismus einer Beschleunigung bzw. Verlangsamung - so meine Folgerung - würde mit der jeweiligen Zeitstruktur von „Fest“ und „Ritual“ (‘Matrix’ vs. ‘Metrum’: Kap.V.4.) korrespondieren, und so den Stellenwert dieser Grundkonstellation als Lösungsmodell erklären. Neben den Paradigmen ‘Transformation’ und ‘Integration’ (I.1.2.) ließe sich demnach die ‘Synchronisation’ der Zeitläufe (Zeitstrukturen) als eine dritte Hauptfunktion der Manöverinszenierungen bestimmen. Unter diesem dritten Aspekt sollen im Weiteren die Mechanismen und Remedien der Theaterkrise zueinander in Beziehung gesetzt und entlang einiger zentraler Merkmale orthodoxer Werte und Wahrnehmungen aufgezeigt werden. Ausgehend vom Krisenbefund der „Zeitsplitter“ lautet meine These hierzu, dass die sozialen Verkehrsformen und symbolhaften Kommunikationsvorgänge seit der Jahrhundertwende durch eine stetige Desynchro- 271 Geertz.[1983]1995.53. 272 Im theoretischen und praktischen Umfeld der russischen Masseninszenierungen lässt sich bis weit in die 1920er Jahre eine Lagerbildung von Gegnern und Befürwortern der Bühnenrampe beobachten, die jeweils eher zu „Ritual“ und „Feier“ oder aber zu „Fest“ und „Zirkus“ tendieren. (Chersonskij, Ch.: „Na novych putjach. Narodnye prazdnestva“ [„Auf neuen Wegen. Die Volksfeiern“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°34 vom 23.-28.09.1919. S.3f. - Beskin.(1921).2f. - Smyšljaev, V.: „Na novych putjach - O massovom teatre“ [„Auf neuen Wegen - Über Massentheater“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°54 vom 24.-29.02.1920. S.4f. - Ders.: „Primernyj scenarij massovogo prazdnestva“ [„Beispiel-Szenarium einer Massenfeier“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°62 vom 27.04.-02.05.1920. S.8f. (= Smyšljaev.(1920/ b).) - L’vov, N.: „Istorija pervogo socialističeskogo scenarija“ [„Die Geschichte des ersten sozialistischen Szenariums“]. Ebd.6f.) <?page no="88"?> K APITEL I. 84 nisierung gemeinschaftlicher Handlungserfahrung und bis zum Bürgerkriegsende durch ein exponentielles Defizit an verfügbarer gemeinsamer Zeit beeinträchtigt sind, die durch den Einbruch einer visuellen in eine orale Kultur, als Tribut an das Industrie-Zeitalter („Effizienz“ statt „Effektivität“: Kap.II.2., FN468 - Schlusswort 4.) sowie als Opfer an den Krieg dem Einzelnen und der Gesellschaft unaufhaltsam abverlangt werden. Der aus diesem Mangel resultierende Kompensations-Effekt ist eine ‘semiotische Überbrückung’: ein Auffächern und Ausufern der Zeichen und „Ismen“, deren teils interferierende, teils divergierende Zeitkodes ein Abflauen von verbindlicher, wirksamer Handlung bewirken, was den Schauspieler und den Zuschauer kulturell (ästhetisch) in einen Leerlauf und sozial (kommunikativ) in die Stagnation treibt. (Nicht zufällig lautet ein privilegiertes Schlagwort der theatralen, bildkünstlerischen und musikalischen Avantgarde dieser Epoche: Rhythmus! ) Ergänzend zur dritten Grundthese von der Re--Inszenierung von Gemeinschaft (Einleitung 5.) lassen sich die Manöverinszenierungen als Medium zwischen „Fest“ und „Ritual“ insofern als ein Versuch der Re--Synchronisierung von sozialer Handlungswirksamkeit begreifen. Anhand der folgenden Krisenbefunde ‘Konvergenz’ (von Spektakel und Handlung: Ivánov, Andréev) und ‘Kontamination’ (von ästhetischer und außerästhetischer Realität: Ájchenval’d) soll nun gezeigt werden, wie ihre jeweiligen Überwindungsansätze ‘Kommunizieren’ - ‘Innehalten’ (‘Auszeit’) - ‘Horchen’ - ‘Handeln’ auf einen oralen Zeitkode zurückgreifen und die Zeitaspekte ‘Verlangsamung’ und ‘Synchronisation’ als grundlegene Wirkstoffe gegen die ‘Beschleunigung’ des vor/ revolutionären Krisenalltags entwickeln. Für die Wechselwirkung von Theaterkrise und Manöverinszenierung richtet sich der Fokus nun von den Zeitläufen auf die jeweiligen Zeitstrukturen, wo er sich am Beispiel eines stockenden Kreislaufs von Schauspieler / Handlung und von Zuschauer / Wahrnehmung nachvollziehen lässt. I.2. Das Theater als ästhetische Krisenanstalt: Schauspieler und Handlung Durch die Infragestellung der literarischen Vorlage als Konstitutivum von Theaterkunst avancieren der Schauspieler und die Handlung zu den zentralen Größen der Bühnenpraxis: „Das Werk, welches der Schauspieler darstellt, dient als Form für seine eigene Schöpfung. Wenn der Schauspieler selber den Leuten nichts zu sagen hat, wenn ihm nicht die Seele des Künstlers innewohnt, werden ihn keinerlei Vorzüge des aufgeführten Stücks retten. / .../ Wer Shakespeare kennenlernen will, muss ihn lesen: im Theater lernt man Schauspieler kennen.“ 273 273 Brjusov.(1902).1975.66f. <?page no="89"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 85 Vorausgesetzt, dass „die Leute“ in eine „verständliche Sprache“ einbezogen werden (s.u.), ist Brjúsov zufolge der ‘Generator’ einer Aufführung der Schauspieler als Handlungsträger, der den Schnittpunkt einer natürlichen und einer zeichenhaften Dimension bildet, der somit das ‘Material’ („die Schauspieler selbst“, FN274) und die „Wirksamkeit / Funktion“ („die unmittelbare Handlung“: I.1.4., FN256) von Theater ausmacht: „Wenn man den Wind darstellen will, soll man nicht hinter den Kulissen auf einer Pfeife pfeifen und die Gardine an einem Schnürchen ziehen: einen Sturm darstellen müssen die Schauspieler selbst, indem sie sich so verhalten, wie Leute sich immer verhalten bei starkem Wind. Es ist nicht nötig die Szenerie abzuschaffen, aber sie muss bewusst zeichenhaft sein. Sie muss sozusagen stilisiert sein. Es müssen Typen von Szenerien entwickelt werden, die jedem verständlich sind, so wie jede gebräuchliche Sprache verständlich ist, so, wie weiße Statuen, flache Bilder und schwarze Stiche verständlich sind.“ 274 Diese ‘dialogische’ Perspektive wurde von der heutigen Theaterwissenschaft konsequent aufgegriffen, indem die Aufspaltung des Schauspielers als Träger höchst verschiedener Zeichensysteme mit einer Anforderung an den Schauspieler als Träger sehr unterschiedlicher Funktionen verknüpft und damit eine Symptomgruppe der Theaterkrise konkret benannt wurde: Vom „Drama der Identitätskrise“ im 19.Jh. bis zum „Theater des ‘neuen’ Menschen“ im 20.Jh. entwickelt Fischer-Lichte ein Kaleidoskop des Schauspielers, der sich im Laufe einer höchst ereignisintensiven Zeitspanne „als Übermarionette“, „als Konstrukteur“, „als Hieroglyphe“, und folgerichtig als „multiple Persönlichkeit“ bewähren muss 275 . Die jeweilige Rückwirkung auf das Theater, welches sich wechselweise „als Kunst“, „als Produktion“ oder „als Ritual“ 276 zu konstituieren hat, erstreckt sich im russischen Kontext unweigerlich als Irritation auf den vorrevolutionären Besucher, der mehrheitlich dem städtischen Kleinbürgertum und vor allem dem Proletariat mit ländlicher Rückbindung angehörte. Dieser Zuschauer konnte kaum eine zusammenhängende Erfahrung mit neuen Technologien oder besagten „Szenerien“ 274 Ders.Ebd.72. 275 Fischer-Lichte, E.: „Re-Theatralisierung des Theaters als Negation des Individuums“ (Kap.5.1.) und „Jenseits des Individuums“ (Kap.5.2.). In: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Band 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen 1990. S.163f.+192f. Die Fülle von Wortkombinationen mit dem Präfix „Über-“ ist für diesen Zusammenhang und Zeitraum bezeichnend: Nietzsches „Übermensch“, Stanislavskijs „Über-Aufgabe“ und das Verdikt der „Übermeiningerei“ gegen ihn, Freuds „Über-Ich“, Ivanovs „Über-Tier“ (nach Hobbes’ Leviathan), Craigs „Über-Marionette“, Jevreinovs „Über- Regisseur“ und „Über-Panther“ — und nicht zuletzt die Parodie zu alldem: das Kabarett „Überbrettl“. (Vgl. I.3., FN311.) 276 Fischer-Lichte.1990.Bd.2.163f. <?page no="90"?> K APITEL I. 86 entwickeln 277 . Vereinzelte Einblicke in eine exotische Zeichen- und Bilderwelt erfolgten stets als kurze ‘Zeitfenster’ in der folkloristisch-fiktionalen Sphäre kalendarischer Volksfeste und -vergnügungen (naródnye gulján’ja), wo Pantomimen oder Volksstücke des Schaubuden- und Jahrmarkt-Theaters (balagán: ❐ 2; ❐ 4 und ❐ 5 in Kap.V.) und Bilderbögen oder Sensationsmeldungen der Guckkasten-Dioramen (raëk: ❐ 9 und ❐ 10) in kommentierter Form und rhetorischer Begleitung immer neue ‘Zeichen und Wunder’ boten, die oft eher der Legendenals der Informationsbildung dienten (Kap.V.4.). Den Zugang zu Neuem ermöglichte hier weniger der Bilderals vielmehr der ‘Beziehungsreigen’ — stets dominiert durch eine direkte ‘Tonspur’, durch den verbalen Schlagabtausch zwischen Vorführer oder Schausteller (zazyvála, ded-ráešnik) und Besucher. 278 Brjúsovs obengenanntes Beispiel betrifft das ästhetische Wechselspiel als mediale Bedingung von Präsentation und Repräsentation. Hier konfrontiert die theatrale Uslóvnost’ zwei unterschiedliche Kodes offenbar so, dass der Schauspieler unvermittelt und beziehungslos mal Mensch („wie lebendige Leute“), mal „Mannequin“ ist (I.1.4., FN251), während der Zuschauer zwischen einer gelassenen oder gespannten Wahrnehmung, zwischen einem getragenen oder getriebenen Rhythmus, gleichsam ‘als Bedeutungskonstrukteur’ oder ‘als Sinnakrobat’ hin- und herspringt. Hierzu bemerkt V. Bazárov: „Die Nicht-Übereinstimmung ausdrucksstarker Bewegungen und der dadurch zum Ausdruck gebrachten Gefühle mit dem Sinn der von ‘uns’ geäußerten Worte ist eine konkrete Tatsache ‘unserer’ Realität.“ 279 Und zur gleichen Zeit 277 Zur Erinnerung: 83% der Gesamtbevölkerung lebte 1917 auf dem Land (Glebkin. 1998.91.), 90% der Bauern hatten 1920 noch nie ein Theater besucht. (Keržencev. [1920]1980.141.) - Hierzu auch Vsevolodskij.1929.Bd.1.70f. 278 Konečnyj, A.M.: „Raëk v sisteme Peterburgskoj narodnoj kul’tury“ [„Das Guckkasten- Diorama im System der Petersburger Volkskultur“]. In: Russkij fol’klor [Russische Folklore]. Bd.XXV. Leningrad 1989. S.124+ 133f. - Bogatyrëv, P.G.: „Ot avtora“ [„Vom Autor“]. In: Ders.1971.9. Eine andere „Tonspur“ dieser oralen Kultur ist das Gerücht an der Kriegsfront: dieser scheinbar verschlungene Zusammenhang wird einleuchtend, wenn man bedenkt, dass die Theaterbetreiber und Schausteller traditionellerweise Soldaten a.D. waren, die ihre oder fremde Kriegs- und Auslandsabenteuer an einem anderen Schauplatz für sich und andere mit den Mitteln theatralisierter Erzählung re--inszenierten. (Chajčenko, G.A.: „Narodnyj teatr“ [„Das Volkstheater“]. In: Alekseev, A.D. (Hg.): Russkaja chudožestvennaja kul’tura konca XIX - načala XX veka (1895-1907). Kniga pervaja. Zreliščnye iskusstva. Muzyka [Die russische Kunst Ende XIX. - Anfang XX. Jahrhunderts (1895-1907). Erstes Buch. Die darstellenden Künste. Musik]. Moskva 1968. S.218f. - Nekrylova.1984.13f.+145f. - Nekrylova, A.F.: „Komičeskij batal’nyj lubok v sostave raešnogo obozrenija“ [„Das komische Schlachten- und Volksbild in der Struktur des Guckkasten-Bilderbogens“]. In: Russkij fol’klor [Russische Folklore]. Bd.XXV. Leningrad 1989. S.51f.) - Zur Überschneidung der „Ränder“ von Zirkus / Balagan und Militär siehe Kap.V.5.2. 279 Bazarov, V.: „Misterija ili byt? “ [„Mysterium oder Alltag? “]. In: Steklov, Ju.M. / Bazarov, V. / Šuljatnikov, V. (et al.): Krizis teatra. Sbornik statej [Die Krise des <?page no="91"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 87 schreibt der symbolistische Lyriker und Dramatiker A.A. Blok, gleichsam im Vorgriff auf Piotróvskijs Forderung („das Wort zum Signal“ - I.1.5., FN266): „/ .../ wir alle hegen insgeheim die Hoffnung, dass die Kluft zwischen Worten und Taten nicht ewig bestehe und es ein Wort gebe, das in die Tat übergeht. [kursiv MD]“ 280 Dieses allgemeine Synchronisations- und Orientierungsdefizit mit der Frage, wie man sich zu welcher oder zu wessen Realität oder Tat verhalten solle, veranschaulicht Ju. Steklóv am folgenden Beispiel: „A. Belyj bemerkt zurecht: ‹Wie soll der Schauspieler (und überhaupt jeder normale Mensch - Ju.S.) sich zu Solneß verhalten, der mit einem Kranz auf den Turm steigt und mit Gott redet? Wie soll man einen reellen Menschen in seinem nicht-reellen Vorhaben darstellen? Wie einen Psychopathen? Aber Solneß ist für Ibsen durchaus kein Psychopath. Also ist Ibsen der Psychopath? Warum sollte man dann aber ein psychopathisches Drama aufführen? › Ja eben: warum sollte man? “ 281 Bazárov wiederum spitzt dieses Problem dahingehend zu, dass Symbolismus oder Uslóvnost’ keine ‘Lesart’ von Weltwirklichkeit, keine „Methode künstlerischen Schaffens, sondern die konkrete Tatsache einer konkreten Psyche“ 282 seien. In Fortführung des obengenannten Kaleidoskops (FN275) bedeutet dies also, dass der Akteur (ebenso wie der Zuschauer) zusätzlich ‘als Psychologe’ gefordert ist, um zu dem mangelhaften Ergebnis zu kommen, dass der Fragwürdigkeit von Handlung die Infragestellung des Subjekts vorausgeht, und zwar diesseits und jenseits der Bühnenrampe. So gerät mit dem Schauspieler als ‘Material’ zwangsläufig auch die Handlung als „Wirksamkeit“ von Theater in einen Zwiespalt: Seit den Meiningern machen historische Kostüme und umfangreiche Massenszenen die enorme Zeitfülle sichtbar, die in Recherchen, Ausführungsarbeiten und Proben investiert wurde, und sich in ausgedehnten Spielabenden, einer extensiven Spielweise und weitläufigen Gastreisen fortsetzt. Insofern kodieren Realismus und Naturalismus hier einen ‘analogen’ Zeitauf- Theaters. Sammelband]. Moskva 1908. S.71f., 55f., 80. - Hierzu auch: Steklov, Ju.M.: „Teatr ili kukol’naja komedija? “ [„Theater oder Kasperltheater? “]. Ebd.31. und Mejerchol’d in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.166. 280 Blok, A.A.: „Volk und Intelligenz“ (1908). In: Mierau, F. (Hg.): Alexander Blok. Ausgewählte Werke. Bd.2. Stücke, Essays, Reden. Berlin 1978. S.130. 281 Steklov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.51. - Weder für Bazarov noch für Steklov konnte ein Berufsfeld oder eine Denkrichtung ermittelt werden. 282 Bazarov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.64. <?page no="92"?> K APITEL I. 88 wand, der einer ‘fließenden’ Wahrnehmung Raum lässt 283 . Dagegen erfahren diese Prozesse und Praktiken mit dem Einsatz von elektrischer Beleuchtung und Drehbühne eine Abkürzung, Verdichtung und Beschleunigung, wodurch ein erhöhtes Zeitdefizit in Sprüngen von fiktiver (Epochenwechsel) und realer Zeit (Dekorationswechsel) erlebbar wird. Symbolismus und Uslóvnost’ kodieren entsprechend einen ‘digitalen’ Zeitaufwand und ‘gebrochenen’ / ‘gestauchten’ Kommunikationsvorgang. Die Gegenläufigkeit solcher Zeitstrukturen führt offenbar zu einer Relativierung von Effektivitäts- oder Wirksamkeitskriterien: „Daneben fehlt den heutigen Stücken eben dieser Kampf, die eigentliche Basis jedes menschlichen Dramas [Kursiv d. Autors] — und fehlt dabei à priori, als vorab gesetzte Unmöglichkeit des Kampfes, nicht als Aussöhnung mit dem Schicksal, die als Folge eines Wettstreits mit ihm erreicht wurde. [kursiv MD]“ 284 In einem gegenläufigen Takt führen die beidseitigen Bemühungen um Bedeutung am Theater zu einem Handlungsleerlauf, zumal dann, wenn trotz ihres Vollzugs die „vorab gesetzte Unmöglichkeit des Kampfes“ (Bazárov) dominiert, oder aber „die Handlung selbst bloß vorausgesetzt“ (Brjúsov), also nur einseitig vorgefasst, gleichsam ‘vorgefertigt’ ist, in beiden Fällen aber nicht wechselseitig erschlossen / ausgehandelt werden kann. In diesem Sinne betont auch der Literat und Theaterpublizist M.M. Bonč- Tomašévskij die Gleichzeitigkeit und Gegenseitigkeit dieses Vorgangs - die Reziprozität oder „Ko-Rhythmie“ (korritmíja) zwischen Bühne und Saal 285 - als Voraussetzung für das Theaterereignis: „Mit anderen Worten, der Zuschauer ist während der Schlussphase theatraler Schöpfung unverändert anwesend. In seiner Gegenwart vollzieht / vollendet sich das Feuer der Schöpfer der Bühnenhandlung. Der Moment der ‘Katharsis’ läuft mit dem Moment der schöpferischen Ekstase zusammen [kursiv MD]. / .../ Es ist also völlig verständlich, dass die Bühne die Rolle des Schrittmachers innehat, ihr obliegt die Initiative, sie bietet jenen Rhythmus an, der notwendigerweise die Herzen der Zuschauer dazu bringt, zeitgleich mit den Herzen 283 Zum konzeptionellen und zeitlichen Aufwand der Meininger und zum demokratisierenden, revolutionierenden Beitrag ihrer Massenszenen: Fischer-Lichte, E.: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen 1993. S.217f.+229f. 284 Bazarov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.59.+64. - Ein Gegengewicht zum dramatischen und theatralen Leerlauf dieser Epoche sieht Steklov - im Einklang mit zahlreichen Vertretern des russischen Theaters - im Drama und Theater der griechischen Antike: „Die Bühne war ansteckend und verwandelte [den Zuschauer, MD] nicht durch den Untergang des Helden, sondern durch seinen Widerstand gegen den herannahenden Untergang. In diesem mutigen Kampf und Aufbäumen sah der antike Grieche der demokratischen Periode gerade die Schönheit und Tragik.“ (Ebd.21.) - Vgl. Kap.II.1.1., FN347 und Kap.II.1.2., FN355. - In Richtung „Kampf“, „Arbeit“ und „Wissenschaftlichkeit“ argumentiert auch: Ovsjaniko-Kulikovskij in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič- Dančenko.1913.196. 285 Bonč-Tomaševskij, M.M.: „Teatr i obrjad“ [„Theater und Ritual“]. In: Maski [Die Masken]. N°6, 1912/ 1913. S.11f. <?page no="93"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 89 der Schauspieler zu schlagen, doch es ist ein großer Fehler daraus den Schluss zu ziehen, dass die Bühne diesen Rhythmus diktieren, diese Begeisterung vorschreiben kann. Ein entsprechendes Diktat ist deshalb nicht möglich, weil die Bühne gänzlich vom Glauben [Kursiv d. Autors] des Zuschauers [i.S.v. ‘Aufnahmebereitschaft’, ‘Sich-Einlassen’ - MD] abhängt.“ 286 „Katharsis“ und „Ekstase“ als jeweils synonyme Vorgänge von „Verwandlung“ und „Vereinigung“ beziehen sich hier unmissverständlich auf einen wechselseitigen, gemeinsamen „Schöpfungs“-Rhythmus, der theatrale Produktion und Rezeption allein in ‘leibhaftiger Echtzeit’ ermöglicht. Zu den abgemessenen, inszenierten Sequenzen tritt dann ein unvorhersehbares oder kontingentes, „entzeitlichtes“ (Berdjáev: I.1.2., FN235) oder auch ‘zeitenthobenes’ Moment hinzu 287 , in dem Akteure und Publikum zeitgleich eine Statusangleichung mit einem doppelten, oszillierenden, außer/ ästhetischen Ursprung erfahren: „Die Symbolik des erlebten Momentes deutet Verknüpfungen an, sie scheint das Gegenwärtige mit Vergangenem und Erhofftem zu verbinden und erfüllt so, diachronisch, eine Kontinuitätsfunktion; synchronisch koordiniert sie verschiedene Handlungsbereiche.“ 288 I.3. Das Theater als soziale Krisenanstalt: Zuschauer und Wahrnehmung Bei einer anhaltenden Störung dieses beidseitigen Taktes zerstiebt nicht nur die Wahrnehmung oder das Selbstverständnis des Individuums, sondern der Austausch, das Gemeinschaftserlebnis im Ganzen „zerflimmert“ und „zersplittert“ zur „quälenden Wahrnehmungsstörung“ (Brjúsov) 289 . Dieser Prozess wird als grenzwertige Bedrohung erlebt: 286 Bonč-Tomaševskij, M.M.: „Zritel’ i scena“ [„Zuschauer und Bühne“]. In: Maski [Die Masken]. N°1, 1912. S.68f. 287 Tenbruck verweist im Anschluss an M. Weber auf den „Zufall“ als anthropologische Konstante, als „unausschaltbare, dauerhafte Geschehenskategorie“. (Tenbruck in Lenk.1978.122.) Für Schaeffler ist das Unvorhergesehene ein kultisches, für Lotman ein ästhetisches Kriterium. (Schaeffler, R.: „Kultisches Handeln. Die Frage nach Proben seiner Bewährung und nach Kriterien seiner Legitimation“. In: Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.44f. - Lotman, Ju.: „Logika vzryva“ [„Die Logik des Ausbruchs“]. In: Ders.: Kul’tura i vzryv [Kultur und Ausbruch]. Moskva 1992. S.186f. (= Lotman.1992/ b.)) 288 Boesch.1980.234. 289 Zur Ähnlichkeit von Brjusovs Auflösungsmetaphorik und derjenigen im deutschsprachigen Raum um die Jahrhundertwende und in jüngster Zeit siehe: Brandstetter, G.: „Traditionsbruch und Gedächtnissturz — Kulturkrise um 1900: Hofmannsthals ‘Chandos’-Brief, gelesen mit Botho Strauß“. In: Dies.: Tanz-Lektüren. Frankfurt a.M. 1995. S.49f. <?page no="94"?> K APITEL I. 90 „Nicht nur ästhetisch ist ein Ausweg aus dem Widerspruch zwischen den erhöhten Anforderungen einer inneren Wandlung der Bühne und der Psyche des Zuschauers notwendig, sondern auch psychologisch ist dieser Übergangszustand des Theaters unerträglich; und wenn es kein befreiendes Gewitter gibt, wird das zu einer Gefahr für die Gesellschaft.“ 290 Damit ist auch das Theater als Soziotop überfordert und gerät an seine Leistungsgrenze. Hierzu schreibt der damals vielgespielte Dramatiker L.N. Andréev: „Noch nie wurden dem Theater soviele Anforderungen gestellt, noch nie war es genötigt, so viele Ansprüche zu befriedigen, wie gegenwärtig. / .../ Daher: was für eine Ungereimtheit ist unser gewöhnlicher Zuschauersaal in seiner unsinnigen und wild gefürfelten Zusammensetzung! Und wieviele allerunterschiedlichste und gegensätzliche Strömungen laufen vom Saal zur Bühne und verwirren und quälen die Schauspieler! “ 291 Daraus folgert Andréev weiterhin (umwölkt von erlesener Trauer): „Nicht nur das Theater stirbt, es stirbt auch das Publikum (ich meine das Theaterpublikum, das imstande ist theatrale Eindrücke wahrzunehmen). Wer wen in den Abgrund zieht: das Theater das Publikum oder umgekehrt, ist schwer zu sagen und in dem Falle auch egal. Das ist dann eben eine Wechselwirkung.“ 292 Neben der Forderung einer nachvollziehbaren Zeichenhaftigkeit (‘Ästhetik’, I.1.4. - „verständliche Sprache“, I.2.) formuliert Brjúsov einen weiteren Lösungsansatz der Krise, der den Akteur als exponierten Produzenten der Bühnenhandlung entlastet, und ihm den mündigen Zuschauer als Rezipienten zur Seite bzw. gegenüberstellt (‘Kommunikation’, I.1.4.). Als Voraussetzung hierfür nennt Brjúsov das Vermögen, „die Gefühle anderer zu fühlen“, und das Bestreben, „vertraut zu sein mit den äußeren Verfahren von Kunst“ 293 — zwei Eigenschaften, die sich als ‘Empathie’ und ‘Sympraxis’ bezeichnen und traditionell dem Akteur zuordnen lassen, und die - als Perspektivwechsel und Kompetenzerweiterung reformuliert - dem Zuschauer als Aufgabe gestellt werden 294 : Erst im Prozess gleichzeitiger und wechselseitiger 290 Ivanov, Vjač.I.: „Ėkskurs: O krizise teatra“ [„Exkurs: Zur Krise des Theaters“] (1909). In: Ders.[1916]1971.283f. - Hierzu auch Pumpjanskij (1919) in Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.20.80f. 291 Andreev.(1912).10. - Hierzu auch Steklov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.11. und Pumpjanskij (1919) in Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.20.80f. 292 Andreev.(1912).9. 293 Brjusov.(1899).1975.48. 294 „Denn indem er sein Werk den Schauspielern überlässt, überlässt der Dramatiker es im gleichen Maße den Zuschauern, und jeder Zuschauer ist potentiell ein Akteur, und je- <?page no="95"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 91 Aneignung, im ‘Eintakten’ der Anwesenden erfolgt eine Verzahnung der Zeitläufe (Zeitstrukturen), eine Synchronisation von Produktion und Rezeption, eine Angleichung von Erfahrung und Status. Sind diese Bedingungen erfüllt, d.h. ist der Kommunikationskreislauf zwischen Produzent und Rezipient (wieder)hergestellt, hat Brjúsov zufolge jedwede Zeichenformel - selbst die triviale oder die naturalistische Ausdrucksform - ihren Schauspieler, ihren Zuschauer und ihren Sinn. 295 Eine derartige ‘Perspektivwechselwirkung’ ist bei Andréev hingegen bereits im Ansatz schütter, denn gerade Theater und Publikum - „oder umgekehrt“ (Andréev) - bilden jedes für sich und im Verbund ein Dilemma. Schon die Konvergenz von „Spektakel“ und „Handlung“ - also der ostensive und performative Aspekt von Darstellung - erscheint ihm als eine unzulässige Symbiose und stellt die Legitimität von Theater infrage. Andréev zufolge steht der Fülle von zeithistorischen Tatsachen eine Absenkung ihres „dramatischen Werts“ 296 gegenüber: Mit der Vielzahl außerästhetischer Ereignisse - so seine Kritik - gehe zwar die Konjunktur von ästhetischer Handlung einher, d.h. „eine Form, die nicht bloß von allen Theatern beglaubigt, sondern auch als einzig notwendige und rettende anerkannt“ 297 wird. Doch gerade ‘dramatisch wertvolle’ Bezüge und Beziehungen entzögen sich einer ‘spektakelhaften’ Vermehrung und Veräußerlichung, sowie einer sozialen Objektivierbarkeit — und damit einer Darstellbarkeit schlechthin 298 . Weder die von Andréev gemeinte, virtuelle und daher ‘wertvolle’ Realität, noch die gestalteten und dadurch ‘minder--wertigen’ Realitäten, erlauben demnach eine adäquate theatrale Semiotisierung: die Vielfalt der damaligen „Anforderungen“ und „Ansprüche“ an das Theater finden dort zu keiner auch nur annähernd passenden Ästhetik. Dies führt folgerichtig zu einer Vereinzelung und Erstarrung sowohl des Schauspielers, als auch des Zuschauers: „Das Leben ist psychologischer geder Akteur ein Beobachter der Handlung im Ganzen.“ (Čulkov in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.203.) 295 „Wenn der Künstler seine Seele richtig / nachvollziehbar dargelegt hat, ist er mir wichtig, und seine Denkrichtung, wie auch seine Überzeugungen oder Neigungen, beunruhigen mich nicht. Wenn ich mich über die Zeichenhaftigkeit [uslovnosti] eines Pseudoklassikers aufrege, liege ich falsch: man muss seine Seele in der Wahl der Ausdrucksformen entschlüsseln. Wenn ich mich von einem Realisten abwende, weil er Gefühlslagen in Alltagsbildern zeichnet, liege ich falsch. / .../ Das Wesentliche im Kunstwerk ist die Seele seines Schöpfers, denn es ist doch gleich, auf welchem Weg wir zu ihr gelangen! “ (Brjusov.(1899).1975.51.) - Vgl. Steklov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.41. sowie Bazarov.Ebd.80. 296 Andreev.(1912).6. 297 Ders.Ebd.4. - Vgl. dazu Ajchenval’d: I.4., FN328. 298 „Nicht der Moment ist dramatisch, wenn ein Arbeiter auf die Straße geht, sondern derjenige, wenn sein Gehör zum ersten Mal die Laute eines neuen Lebens vernimmt, wenn sein noch verhaltenes, ohnmächtiges und träges Denken sich plötzlich aufbäumt, wie ein aufgescheuchtes Pferd, und den Reiter mit einem Satz in ein leuchtendes Wunderland davonträgt.“ (Andreev.(1912).6.+4.) <?page no="96"?> K APITEL I. 92 worden / .../ das Denken, das menschliche Denken mit seinen Leiden, seinen Freuden und in seinem Kampf — dies ist der wahre Held des heutigen Lebens, und daher also auch derjenige, dem der Vorrang im Drama gebührt.“ 299 Als Gegenentwurf zum handelnden Helden setzt Andréev einen nahezu autistischen Denker diesseits und jenseits der Bühnenrampe, denn der Einzelne verharrt - ob der Fülle von „Anforderungen“ und „Strömungen“ (FN291) - fixiert im Betrachten und Entziffern, so dass „die Handlung vom äußeren Ausdruck [sic] der Taten in die Tiefe und scheinbare Unbeweglichkeit der Leiden abgetaucht ist.“ 300 Handlung reduziert sich hier zu einem Zustand, der die Unterscheidung von „außerästhetisch“ und „ästhetisch“ der Wahrnehmung entzieht, also obsolet macht. Andréev sieht für diesen Mißstand keinen Ausweg, sondern lediglich eine Auszeit, in der das ‘Abtauchen’ oder die Vertiefung des Einzelnen sich zu neuer Konzentration und Spannung regenerieren kann, währenddessen dramatische Entwicklung, szenische Handlung und adäquater Ausdruck - gleichsam aus sich selbst heraus - erneuert werden. Eine vorläufige Konsequenz sieht er daher allein in der Verbannung der Handlung von der Bühne 301 , zum einen, weil „das Leben selbst in seinen dramatischsten und tragischsten Kollisionen sich immer weiter von einer äußeren Handlung entfernt / .../ “ 302 , und zum anderen, weil die Bühnenhandlung als Spektakel eine Auszeit oder Einkehr verhindert: Solange die Dinge voneinander getrennt bleiben, solange hat auch der Mensch sich in seiner Isolation einzurichten. Ausgehend von Andréev, dessen ‘dräuende’ Dramatik ein Katalysator für den Kreislauf von individueller Desorientierung und sozialer Desintegration sei und zum Aussetzen jeglicher Handlung führe 303 , liefert V. Šuljátnikov einen sozialökonomischen Begründungszusammenhang der bisher geschilderten Entfremdungsprozesse, in dem er zeitgenössische Selbstauskünfte von Depressiven und Neurotikern anführt, deren Zustand in einer andréevschen, d.h. ‘meteorologischen’ Metaphorik („Schatten“, „Nebel“, „Schleier“, „Wolken“) beschrieben ist 304 . In Bezug auf die Krise von Kultur und Theater 299 Ders.Ebd.6. 300 Ders.Ebd. - Hierzu auch Bazarov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.62. 301 „Sofern die Handlung sichtbar und Spektakel ist, sollen sie zusammen eben die Bühne verlassen, und den Platz der unsichtbaren Seele des Menschen überlassen, ihrem größten Reichtum, der für das körperliche und begrenzte Sehen nicht erkennbar ist.“ (Andreev.(1912).7.) Nun ja. 302 Ders.Ebd.4. 303 Šuljatnikov, V.: „Novaja scena i novaja drama“ [„Neue Bühne und neues Drama“]. In: Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.109f. - Auch zu Šuljatnikov konnten keine näheren Daten ermittelt werden. 304 Nach der Jahrhundertwende werden europaweit ähnliche pathologische Störungen wie die von Andreev und Šuljatnikov erwähnten registriert, in deren Folge sich die „Chronopathologie“ als ein Teilbereich der Psychiatrie etabliert. „In Verbindung zwischen aufmerksamsten Beobachtungen bei Patienten, Anregungen aus der psychologischen Zeitforschung und aus der zeitgenössischen Existenzphiloso- <?page no="97"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 93 kommt Šuljátnikov zu dem Befund einer Anpassungsstörung der Wahrnehmung durch die Beschleunigung des Alltags, aus der eine Störung der Handlungsfähigkeit resultiere 305 . Vor diesem Hintergrund sieht er eine direkte Entsprechung zwischen einer „Rationalisierung“ von industrieller (oproščénie proizvódstva) und einer „Reduktion“ von intellektueller Produktion und sozialem ‘Umsatz’ / Kontakt 306 , die sich in einem Abbau und Popularitätsverlust erst von technischem, dann von szenischem Personal besonders bei Massenszenen niederschlägt. 307 phie kam es zu präziser Beschreibung von typischen Zeitstörungen. In einer knappen Aufzählung seien genannt: Beschleunigungen und Verlangsamungen des zeitlichen Erlebens, Zeitstillstand als womöglich in Zeitlosigkeit übergehende dauernde Gegenwart, gleichzeitiges Erlebnis verschiedener Geschwindigkeiten, allgemeine Unsicherheit bis hin zu Orientierungslosigkeit in der Zeit, Lücken und Verschiebungen in der zeitlichen Reihenfolge, übermäßige Aktualisierung der Vergangenheit gegenüber an Wirklichkeit verlierender Gegenwart, Verlust der Zukunft überhaupt mit dem Erlebnis von Stagnation des Daseins und völliger Hoffnungslosigkeit oder umgekehrt intensive Vorwegnahme der Zukunft in utopischen Phantasien oder apokalyptischen Visionen, unkontrollierte Mischung von echten und krankhaften Zeitvorstellungen, endlose Wiederholungen, Verlust der ganzen Zeitdimension, Auseinanderfallen von Ich-Zeit und öffentlicher Zeit usw. Diese unterschiedlichen Zeit-Verhältnisse können sich im Positiven bis hin zum Glücksrausch und Empfindungen religiöser Harmonie und Verklärung steigern, werden aber meist als Belastung erlebt und können ein normales erfülltes Leben behindern oder unmöglich machen.“ (Wendorff, R.: „Zur Erfahrung und Erforschung von Zeit im 20.Jh.“ In: Paflik, H.: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim 1987. S.73f.) - Vergleichbare Kriegssymptome („hysterische Handlungslähmung“ und „Melancholie“) siehe bei Tellenbach (Tellenbach, H.: „Zur Krise des Kultischen — Kulturpsychopathologische Erörterungen“, S.87+93f.), rituelles Handeln als Therapeutikum bei Hahn. (Hahn, S.73. - Beides in: Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.) 305 Šuljatnikov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.108. - Hier stimmen Šuljatnikovs Beobachtungen mit dem Befund von Berdjaev überein: „Das ‘Ich’ hat keine Zeit, sich seiner selbst als eines freien Schöpfers des Zukünftigen bewusst zu werden. Es wird von dem rasenden Strom der Zeit hinweggetragen. Das ist gleichsam ein neues Aeon der Zeit. Die durch Mechanisierung und Maschinisierung hervorgerufene Geschwindigkeit ist vernichtend für das ‘Ich’, für dessen Einheit und innere Konzentration.“ (Berdjaev.[1934]1951.187.) 306 „Bei psychischen Erkrankungen erfolgt eine Reduktion der Lebensfunktionen, von einer Reduktion, vom Zerfall des Lebens erzählt ihrerseits die modernistische Literatur / .../ Die ‘Reduktion’ des Lebens, von der die Modernisten berichten, hat, wie wir eben gezeigt haben, eine soziale Bedeutung. Und gerade auf der Basis solch einer ‘Reduktion’ wie sie im praktischen Leben durchgeführt wird, wird das Auftreten dieser bestimmten Anomalien möglich. Und nicht umgekehrt: nicht aus psychischen Anomalien, die sich quasi selbstwillkürlich entwickeln [würden], entsteht das gemeinte Phänomen.“ (Šuljatnikov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.121.+119.) 307 Šuljatnikov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.95f. - Dem Leiter der Münchner Shakespeare-Bühne J. Savits und seiner Verächtlichkeit gegenüber den „ungeschulten Kehlen“ von Statisten stellt Šuljatnikov die Meininger gegenüber, die mit einer gänzlich anderen Haltung - durch den Ausstattungsaufwand freilich auch mit einem vorindustriellen Zeitkode (vgl. I.2., FN283) - immer wieder auf Soldatentruppen für ihre <?page no="98"?> K APITEL I. 94 Den gleichen Zusammenhang von Beschleunigung und Orientierungsverlust führt der Schauspieler V. Čárskij aus. Demnach erfolgt eine Akzeptanz von Massenszenen (und zugleich die Rehabilitierung des Naturalismus) dann, wenn diese erstens und unter einem ästhetischen Aspekt keine Verlängerung der Ausstattungsfülle repräsentieren: „Das kollektive Prinzip erhält hier eine besondere Bedeutung — die Masse ist der Schöpfer des [eigenen] Lebens und erschließt alles durch sich selbst. / .../ das Milieu tritt nun in den Vordergrund, ihm kommt eine primäre Aufmerksamkeit zu, die Massenszenen erhalten eine besondere Bedeutung und eine sorgfältige Gestaltung.“ 308 Die ‘Organik’ von Massenszenen gegenüber einer Technik des Bühnenapparats bleibt Čárskij zufolge nur dann gewährleistet, wenn - wie das Beispiel der Meininger zeigte (I.2., FN282/ 283) - zweitens und unter einem außerästhetischen Aspekt auch die dort kodierte Zeit subjektgebunden und ‘anthropometrisch’ 309 bleibt: Massenszenen zurückgegriffen hatten: „Es entsteht eine interessante Entsprechung zwischen jenen [den Fabriken, MD] und diesen [den Theatern]. In einer Zeit, als der Bereich wirtschaftlicher Beziehungen die Fabrik alten Typs eroberte, sehen wir das Aufkommen und die Entwicklung des realistischen, dann des naturalistischen Theaters: es weist der ‘Menge’ eine ehrenvolle, zeitweise sogar dominierende Rolle zu. ‘Die ungeschulte Masse’ fühlt sich als gleichberechtigter Bürger [auf] der Bühne, und ihre Auftritte werden vom Zuschauersaal durchaus wohlwollend aufgenommen; in ihrem äußeren Erscheinungsbild, in ihrem ‘Geschrei’ findet man nichts Schockierendes.“ (Ders.Ebd.) Ähnlich argumentiert Friče, der nicht bloß die Streichung „naturalistischer“ Massenszenen, sondern auch stilisierte Inszenierungen als direkte Folge von Rationalisierungen sieht. Theatrale „Uslovnost’“ wird hier als „Stimmungs- Impressionismus“ abgewertet und auf die Psyche der bürgerlichen Intellektuellen der Jahrhundertwende zurückgeführt, also ebenfalls pathologisiert. (Friče, V.: „Teatr v sovremennom i buduščem obščestve“ [„Das Theater in der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft“]. Ebd., S.168f.) 308 Čarskij, V.: „Chudožestvennyj teatr“ [„Das [Moskauer] Künstlertheater“]. In: Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.134., 147., 156. 309 Für meine weiteren Ausführungen ziehe ich die Wortbildung ‘Anthropometrie’ / ‘anthropometrisch’ (im Unterschied zu „anthropomorph“: Kap.II.1.5., FN403/ 404) dem Begriff „Organik“ / „organisch“ vor, der bisweilen gerne von Esoterikern verwendet wird. Dagegen ist ‘Anthropometrie’ das genauere Wort und erlaubt zudem einen höheren Grad an Symmetrie und Abstraktion. So würde ich eine Collage von V. Stepanova oder eine Montage von E. Piscator trotz des betont technischen oder künstlichen Charakters als ‘anthropometrisch’ bezeichnen, sofern die Auswahl und Kombination der jeweiligen Elemente das menschliche Maß und ‘Metrum’ erkennen lässt (was bei beiden stets der Fall ist): denn der Buchstabenabstand eines Zeitungsschnipsels in einem Bild oder die Schnittfolge einer Film- Aufnahme in einer Theateraufführung ist auf die Lesbarkeit / die Optik (die visuelle Frequenz) des menschlichen Auges ausgerichtet. Beat-Rhythmen beziehen sich hörbar auf einen beschleunigten Herzschlag — Techno-Bässe lassen sich dagegen mit keinem Ursprung verbinden, der im menschlichen Körper angelegt oder mit seinen Sensorien nachvollziehbar / ‘errechenbar’ wäre. <?page no="99"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 95 „/ .../ diese Kaleidoskophaftigkeit der Aufführung spiegelt die Kaleidoskophaftigkeit und das Chaos der Straße. / .../ Es ist bezeichnend, dass sowohl im Leben wie auf der Bühne der Zuschauer zum gleichen Ergebnis kommt: nicht ein Detail kann in seinem Hirn gespeichert werden. Die Abfolge zahlreicher Wahrnehmungen hinterlässt eine vage Vorstellung vom Gesehenen, und in der Schnelligkeit, in der eine die andere ablöst, entsteht eine Undeutlichkeit des Empfindens — daher rührt die Verworrenheit der Eindrücke.“ 310 Im technischen Vorschein der Materialschlachten des Weltkriegs hat der Einzelne eine Kollision der Zeitläufe und Zeitkonzepte, eine ‘Explosion’ der Zeichen und Rollen, und damit die Auflösung seiner Orientierung zu bewältigen. Der frühe Befund einer „Unnötigen Wahrheit“ (Brjúsov) des Bühnen- Naturalismus bewirkt und reflektiert die anschließende Suche nach einer ‘möglichen Wahrheit’, nach wirksamen (künstlerischen) Handlungsmodellen, und treibt das Theater als ästhetische Anstalt zu einer ‘Überproduktion’ der „Ismen“. Während der Naturalismus erschöpft ist und der Symbolismus als Gegenmodus kraftlos bleibt, führt die Zeichenkonvention von theatraler Uslóvnost’ zu keiner verlässlichen Übereinkunft vom Zeichen zur Sprache (zu einem Kode) und von der Bühne zum Saal: ihre Kombinationsvielfalt findet zu keiner „Grammatik“ (Piotróvskij, I.1.1.), die jenen „Unterschied zwischen Leben und Bühne“ (Brjúsov, I.1.4.) in ein integrales aber dissoziierbares, in ein dynamisches und sinnfälliges Verhältnis setzen könnte, sondern scheint grundsätzlich Verständigungsstrategien zu inflationieren und Handlungskriterien aufzulösen. Die russische Theaterkrise präfiguriert somit jene multiple Rollen-An-, vielmehr: Rollen-Überforderung des Einzelnen, die zur Desintegration des Soziums führt und in der anschließenden Krise von Revolution und (Bürger)Krieg einen neuen Grenzwert erreicht („Die Akteure“ in Kap.III.2.). 311 Dies erhebt die Frage, ob der Mensch überhaupt Dinge produzieren kann, die sich außerhalb seines ‘Metrums’ befinden, d.h. die sich nicht in letzter Instanz auf sein (Körper)Maß rückführen ließen. Die Obszönitäten des 20./ 21.Jh. zeigen: Ja, er kann. Denn das „Exzentrische“ am / die „Abständigkeit“ des Menschen (Marquardt nach Plessner (1928) in Haug/ Warning.1989.685.) befähigt ihn einerseits, auf eine selbstreflexive Distanz zu sich und seiner Umwelt zu gehen, aber anderseits auch, eine selbstexkludierende Distanz herzustellen mit Dingen und durch Prozesse, die monströs und uneinholbar über ihn und seine Reichweite hinausgehen. Um dies zu erkennen, muss man hauptberuflich kein Apokalyptiker sein. 310 Čarskij in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.137. - Vgl.: Böckelmann, F.: Theorie der Massenkommunikation. Das System hergestellter Öffentlichkeit, Wirkungsforschung und gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse. Frankfurt.a.M. 1975. S.81f. 311 Ein weiterer Grenzwert wird seit Mitte der 1920er und besonders in den 1930er Jahre/ n mit dem sowjetischen „Bestarbeiter“, „Spitzensportler“ etc. als Ausdruck einer andauernden Überforderung durch Übererfüllung des Plansolls erreicht. (Vgl. hierzu I.2., FN275.) <?page no="100"?> K APITEL I. 96 I.4. Das Theater und sein Wi(e)dergänger: Der Fall Ajchenval’d Den diskursiven Grenzwert dieser Entwicklung markiert der Philosoph und Literaturkritiker Ju.I. Ájchenval’d, dessen drastische Vorstellungen von der „Verneinung des Theaters“ 312 die Krise vom orthodoxen Kunstbegriff her beleuchten und die Verschiebung von einer oralen zu einer zunehmend visuellen Kultur spiegeln. Während in Westeuropa kraftvolle Metaphern die Schwäche des Wortes beklagen („modrige Pilze“ im Munde von H. von Hofmannsthal 313 ), provoziert Ájchenval’d den Umschlagpunkt der Krise sowie die Wiederbelebung des russischen Theaters, indem er wortgewaltig dessen Siechtum beschwört, und stattdessen eine vitale Revision bewirkt: nahezu alle Kunstschaffenden diagnostizieren das Theater als Patienten, den es zu kurieren gilt, und nicht als Parasiten, den man auszumerzen hätte 314 . In seinem spektakulären Aufsatz „Die Verneinung des Theaters“ (1913) widersetzt sich Ájchenval’d der Theateravantgarde mit ihrem obersten Gebot von der „Re-Theatralisierung des Theaters“ (G. Fuchs, 1909), und formuliert stattdessen eine Apologie der Literatur als Prima — inter Parias. Anfang und Ende von Ájchenval’ds Welt- und Kunstverständnis, sein universelles Medium und Remedium von Kultur und Krise ist das Wort als ‘Elementarkraft’ in ‘hohen Dosen’ und in jeder ‘Darreichungsform’: „/ .../ Plastische Kunst, Malerei, Architektur, sogar Musik ist nicht die notwendige und direkte Fortsetzung unseres menschlichen Wesens, während die Literatur unmittelbar aus unserer menschlichen Spezifik hervorgeht, aus unserem Vermögen das Wort zu beherrschen, aus unserem Logos. Die Literatur ist es, die uns fortsetzt, und es ist sogar schwer eine Grenze zu ziehen zwischen 312 Ajchenval’d, Ju.I.: „Otricanie teatra“ [„Die Verneinung des Theaters“]. In: Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913. - Dies gilt, obwohl Ajchenval’ds Vater Rabbiner war. Auf die Überschneidungen zwischen byzantinisch-höfischen, griechischpaganen und jüdisch-messianischen Einflüssen im orthodoxen Kulturraum und seine bildkritische Tradition (absolut kompatibel mit diesem Konzept ist die Ikone, da sie weniger ein Bild denn ein Medium darstellt: „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3.) weist die vorliegende Arbeit wiederholt hin (siehe hier FN336, und Kap.II.2., FN453). 313 Fischer-Lichte.1990.Bd.2.164. 314 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.16f. - Ajchenval’ds ‘Sakrileg’ führte bald zu einem Rollentausch von ‘Patient’ und ‘Parasit’: das Theater wurde kuriert, Ajchenval’d jedoch wegen seiner unverholenen Ablehnung der Bolschewiki zusammen mit vielen anderen Künstlern und Akademikern bereits 1922 ausgewiesen. Im August 1918 hatten die Bolschewiki der „Bourgeoisie“ explizit (und implizit allen Intellektuellen) den Kampf angesagt — gefragt wurde nicht nach Anlass oder Schuld, sondern nach „Klassenzugehörigkeit“: Namen- und Mittellose wurden mehr oder minder geräuschlos verfolgt, wohlhabende Prominente konnten den ‘geordneten Rückzug’ ins Ausland antreten. „Die Flucht ins Exil dauerte an, bis 1926 jede Emigration verboten war.“ (Moynahan.1994.113. - Siehe auch Kap.II.1.6., FN416 und Kap.III.2., FN538.) <?page no="101"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 97 dem künstlerischen und dem utilitären Wort; es ist schwierig, im Wort die Kunst von unserer organischen Besonderheit, von unserer angeborenen Eigenschaft abzutrennen; mit dem, was wir sagen, sind wir bereits Dichter. [kursiv MD]“ 315 Gegen diese und alle weiteren Künste verhalte sich Theater prinzipiell als Illustration oder ‘Schmarotzer’, denn: „Im Grunde lebt das Theater auf fremde Kosten.“ 316 Dieses Verdikt erstreckt sich auf alle Ausdrucksvarianten von Theater, auch wenn Ájchenval’ds empörte Opponenten ihn stets dadurch zu entkräften versuchten, dass der Kern seiner Argumentation ‘bloß’ den Naturalismus betreffe 317 : „Um ihre Sünde einer aufdringlichen Visualität zu sühnen, ist die heutige Bühne bestrebt, eine illustrative Funktion weitgehend zu vermeiden; darum hat sie den Weg des Symbolismus, einer bestimmten uslovnost’ und Stilisierung gewählt. Ich begrüße diesen Weg, hauptsächlich deshalb, weil - geht man noch einen Schritt weiter - man bei der Verneinung Theater anlangt.“ 318 Waren bei Brjúsov das ‘Material’ (Schauspieler) und die „Wirksamkeit“ (Handlung) von Theater in der Flüchtigkeit und Vereinbarkeit eines gegenseitigen Kommunikations- und Handlungskreislaufs möglich, lässt Ájchenval’d generell nur die Setzung und Fixierbarkeit eines getrennten Produktions- und Rezeptionsprozesses als Kunst gelten, zu dem sich Theater nur als ‘Resteverwertung’ verhalten könne. Radikaler als Andréev, der Handlung und Spektakel zwar im Verbund von der Bühne verweist, aber immerhin ‘die Kirche im Dorf’, d.h. die Bühne im Theater lässt, konvergieren Handlung und Spektakel bei Ájchenval’d zu einem inkonsistenten Spaltprodukt, zu einem illegitimen Zwitter ohne Herkunft oder Zukunft, und folglich auch ohne Ort: „Und einschränken tun es natürlich nicht jene unvermeidlichen Abhängigkeiten, nicht jene natürlichen Grenzen, die es für alles in der Welt gibt, und vielleicht für die Welt selbst — überhaupt hat das Theater keine eigene Sphäre, keine eigene Behausung [dom], keine autonomes Fundament [sut’]. Es ist von Natur aus eingeschränkt. Besser gesagt: es hat nichtmal eine eigene Natur, 315 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.18. 316 Ders.Ebd.16. 317 Siehe hierzu: Nemirovič-Dančenko, Vl.I.: „Iskusstvo teatra“ [„Die Kunst des Theaters“]. In: Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.71f., bes.78f.) - Nemirovič- Dančenkos Entgegnung auf Ajchenval’ds „Illustrations“-These führt S. Glagol’ im gleichen Sinne weiter in: Ders.: „Pochorony teatra“ [„Die Beerdigung des Theaters“]. In: Maski [Die Masken]. N°2, 1912. S.42f. 318 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.27. - Vgl. hierzu Ivanovs „Überdruss vor dem Illusionismus“ in I.1.3., FN246. von <?page no="102"?> K APITEL I. 98 es hat nichts Spezifisches; für sich genommen ist es nichts, und nicht umsonst verfliegt es irgendwo, verschwindet, sobald der Vorhang fällt. Eine verklungene Musik existiert in Noten, sie setzt sich potentiell fort, ihr Fortleben ist gesichert, und die Töne sind unsterblich; aber worin lebt die abgespielte Aufführung weiter? Und das Theater — wo bleibt es dann eigentlich? “ 319 Seiner „Wirksamkeit“ beraubt, verliert das Theater zwangsläufig auch sein ‘Material’: Während der Schauspieler bei Brjúsov bloß krisenbedingt unwirksam, grundsätzlich aber Handlungsträger und bei Andréev nur vorübergehend suspendiert ist, wird er bei Ájchenval’d zum eigentlichen ‘outlaw’, der ebensowenig über eine „spezifische“ Sprache verfüge wie das Theater selbst, sondern nur vorgefertigte Empfindungen und flüchtige Bewegungen kenne: „Das Theater aber hat nichts. Es hat kein eigenes Symbol, es hat keine eigene Formel. Und es ist kein Zufall, es ist eine Notwendigkeit, dass der Schauspieler stirbt. Seine Kunst ist eine scheinbare / vorgetäuscht; deshalb kann man sie auch nicht festhalten, verewigen, unsterblich machen. Und keine Erfindungen der Technik, keine Verbindungen von Phonograph und Kinematograph werden je die eigentliche Seele der Aufführung, ihren Nerv, d.h. lebendige Menschen verweilen lassen oder verlängern können. / .../ Ich weiß, dass dem Schauspieler auch nach dem Text noch viel bevorsteht: doch dieses viele bezieht sich bloß auf den Bereich der Intonation und Mimik, erstreckt sich auf die äußere Sphäre der Geste, des Körpers, geht nicht in die Tiefe der Psychologie. / .../ Dem Autor ausgeliefert, im Kern passiv und gehorsam, ein Opfer des ästhetischen Fatalismus, fehlt dem Schauspieler die Hauptsache: / .../ er hat keine eigenen Worte. Er kann, freilich, und muss den Ton für seine Figur finden — doch das ist zuwenig.“ 320 Brjúsovs Option „Kunst und Leben“ spitzt Ájchenval’d gleichsam zur Aporie ‘Theater und Verderben’ zu, die offenbar aus einer Kontaminationsangst vor dem Zwitter „Theater“ und vor dem Schauspieler als ‘Wiedergänger’ und seiner „Marionettenhaftigkeit“ 321 resultiert: denn der Akteur „negiert seine empirische Persönlichkeit, sein natürliches Erscheinungsbild / .../ Eines von beidem: entweder Realität — oder Kunst. Theater aber ist weder das eine, noch das andere. Die Intention des Dichters / Autors und die Körperlichkeit der Schauspieler bilden irgendwie eine illegitime Symbiose. [kursiv MD]“ 322 319 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.14f.+27. 320 Ders.Ebd.15f. 321 Ders.Ebd.31.+24. - Interessanterweise bezeichnet auch Bazarov die Figuren der zeitgenössischen Dramatik als ‘jenseitig’ / „nicht von dieser Welt“ (nezdešnij). (Bazarov in Steklov/ Bazarov/ Šuljatnikov.1908.61.) 322 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.21f. - <?page no="103"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 99 Stärker als bei Andréev („Intellektualisierung“, I.3.) zieht sich Ájchenval’ds Zuschauer folgerichtig als Leser in eine exklusive Selbstversenkung zurück („Reflektion“): „Und außerdem nimmt ihn [den Leser] die Illusion auch nicht mehr gefangen, und die Bemühungen des Theaters, seine Raffinessen, scheitern fatal am verfeinerten Bewusstsein des heutigen Zuschauers, und scheitern umso heftiger, je kunstvoller und künstlicher sie sind. Hamlet ist nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum.“ 323 Die Tendenz zur Verinnerlichung unterläuft das Bestreben nach Vergemeinschaftung, denn: „Shakespeare bedarf keiner szenischen Vollendung.“ 324 Damit entkoppelt sich der theatrale Kommunikationskreislauf und kommt zum Erliegen; „Hamlet“ ereignet sich nicht mehr als Aufführung, sondern beim introvertierten Lesen, gleichsam als intime Privatandacht in einer ‘mysterialen’ Kommunion mit dem Autor, d.h. als eine Fiktionalisierung und Sakralisierung der Innenwelt des Lesers: „/ .../ doch zweifellos offenbaren wir dann eine wahre Anteilnahme mit dem Autor, eine echte Zusammenarbeit mit ihm, wenn wir sein Buch auf unseren Schreibtisch legen beim Licht einer einsamen Lampe, und mit ihm alleine bleiben. Genau in diesen Stunden vollzieht sich die gewünschte Verbindung zweier Seelen — im Stillen und Verborgenen, weit ab von der rauschenden Buntheit des Theaters.“ 325 Während die Isolation bei Andréev Theater als ästhetische Handlung aufhob, wird Theater in Ájchenval’ds Sollipsismus gar als Institution hinfällig. In der provokativen Verkehrung einer „Unnötigen Wahrheit“ des Naturalismus (Brjúsov, I.1.4.) zu einem quasi unnötigen „Wirklichkeitsmodell“ (Lótman), Im Unterschied zum subtraktiven / diminutiven Vorgang des „Weder-Noch“, das dem Theater hier zugeschrieben wird und auf ein harmloses Neutrum (ne utrum: weder das Eine, noch das Andere) hinausläuft, rufen alle anderen Charakteristika und Abgrenzungen von Theater die Figur des Zwitters auf, die einen additiven / kumulativen Vorgang spezifisch negativer Eigenschaften und diese folglich als Potenzierung von Gefahr beschreibt — und die Ajchenval’d treffender mit dem Begriff „Symbiose“ bezeichnet. (Siehe hierzu den Fall des einbalsamierten Lenin in Einleitung 4., FN92 sowie die beeindruckende Artenvielfalt anderer Mischwesen wie Vampiren und Wehrwölfen in der Folklore Russlands und angrenzender Länder.) Die besondere Abneigung gegen jede Zwitterhaftigkeit wird m.E. dadurch verstärkt, dass es in der orthodoxen Glaubenswelt kein Purgatorium gibt, d.h. keine Klärungsinstanz und folglich auch kein weiterführendes Bildprogramm oder Deutungsmuster, die solche Zwiespältigkeiten abfangen oder einhegen könnten. (Einleitung 3., FN65) 323 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.12. 324 Ders.Ebd.16. - Hier ironisiert Ajchenval’d demonstrativ Brjusovs obengenanntes Postulat „Wer Shakespeare kennenlernen will, muss ihn lesen: im Theater lernt man Schauspieler kennen.“ (I.2., FN273) 325 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.19f. - Eliade hat der „Lektüre“ insofern eine mythologisch-religiöse Funktion zugeschrieben, als damit ein Heraustreten aus dem alltagsprofanen Zeitkontinuum verbunden ist. (Eliade. [1957]1998.177.) <?page no="104"?> K APITEL I. 100 zu einer „Verneinung“ von Theater formuliert Ájchenval’d eine äußerste Konsequenz der Krise. Im Rekurs auf Brjúsovs Grundthese (Theater als „unmittelbare Handlung“: I.1.4., FN256) besteht für Ájchenval’d dennoch eine Möglichkeit von Theater in seiner außerästhetischen Funktion, welche einer ganz anderen Quelle als der Kunst entspringe 326 — ein Topos, der von den Vertretern der Intelligéncija erleichtert aufgegriffen wurde (insbesondere von Jevréinov: Einleitung 3., FN53+54). Demnach entspreche Theater „nicht der reinen Ästhetik in uns, sondern eher unserer physiologischen Aktivität, unserer Dynamik“: „Es ist keine Kunst, sondern etwas Anderes — vielleicht etwas Größeres, ein verzerrter Splitter von etwas Größerem [I.1.1., FN209/ 210 - MD]. Und wichtig ist, nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch folgenreich, ob wir das Theater zur Kunst zählen werden oder aber zu einer anderen Kategorie von Phänomenen. [kursiv MD]“ 327 „Die Realität des Theaters ist nicht Realität genug. Das Übermaß von Menschlichem, allzu Menschlichem, diese Überfülle von Körper[n] und Körperlichkeit erlaubt es dem Theater nicht, Kunst zu sein / .../ . Als Faktum, in der Praxis wird das Theater immer existieren. Um sein empirisches Bestehen braucht man sich nicht zu sorgen. Der gesamte elementare Teil unserer Psyche und die ganze Dynamik unserer Natur ist auf seiner Seite. [kursiv MD]“ 328 Wenn also Theater auf einem ‘physiologischen’ Prinzip beruht, seine bestehende Organisation jedoch „nicht Realität genug“, sondern eine Zwitterwelt ist: wie erklärt sich dann Ájchenval’ds Verdikt gegen jene „illegitime Symbiose“ (FN322) - nämlich die gleichzeitige Bühnenpräsenz von Autor („Wort“, FN315) und Akteur (‘Bild’ / „Visualität“, FN318) - wo doch beide „Intentionen“ (FN322) gleichermaßen körperlich wie sinnhaft gebunden sind, und gerade diese Kombination oder Potenzierung dem Theater zu einer ‘genügenden (legitimen) Realität’ verhelfen könnte? Hier treten zwei unterschiedliche Möglichkeiten von „Symbiose“ zutage: Legitim ist einerseits die Verbindung „zwischen dem künstlerischen und dem utilitären Wort“ (FN315), denn die ‘Elementarkraft’ des Wortes als einzelner Körperfunktion oder als einzelnes Kunstverfahren bleibt in Schrift und Zeit jeweils fixiert und identifizierbar. Legitim ist anderseits die Verbindung von Leser und Rolle (‘Hamletisierung’, FN323+324) oder auch von Leser und Autor (‘Autorisierung’, FN325) selbst ohne Notation, solange dieser Vorgang eine ‘Privatandacht’ bleibt („beim Licht einer einsamen Lampe“, FN325), und weder auf der Bühne noch in der Öffentlichkeit erfolgt, also nicht infizierbar wird. 326 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.33. 327 Ders.Ebd.13. 328 Ders.Ebd.23f.+29. - Vgl. dazu Andreev in I.3., FN297. <?page no="105"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 101 Daraus folgt: Nur dasjenige Medium, dem eine Notation, eine Formel oder ein Symbol eignet (FN320), verfügt über eine Identitätsmarke oder auch ‘Transportsicherung’, die erstens seine Lokalisierung zwischen Realität und Fiktion ermöglicht, die zweitens deren Unverwechselbarkeit gewährleistet, und die drittens den ‘Sicherheitsabstand’ und die orthodoxe ‘Analogierelation’ wahrt (Einleitung 5., FN161/ 162 - Kap.III.3., FN551/ 553). Jene Konzession oder „andere Kategorie von Phänomenen“ (FN327), die dem Theater zu seiner Legitimität verhilft, lässt sich also auch als energetisches Prinzip bestimmen, das - falls es von keiner Identitätssmarke ‘gebannt’ wird - eine Kontamination(sangst) auslösen kann. Dies verweist auf eines der zahlreichen magischen Elemente im orthodoxen Weltbild, wonach nicht das Äußere, sondern das Scheinhafte eine Bedrohung für alles Lebende und Wirkliche bedeutet (siehe Einleitung 3., FN78 - „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3.): Ein ‘Zuviel’ an Körperlichkeit, wie es Ájchenval’d ausführt, stört sowohl die Bühnenillusion als auch die ‘Analogierelation’ — nicht etwa weil der Körper mit seinen Funktionen sündig und daher auszublenden oder zu verdrängen wäre 329 , sondern umgekehrt, weil die offenkundige und gebieterische Präsenz und Kreatürlichkeit des Körpers nicht zu leugnen ist, und sich in ihrer mimetischen Realität ‘verfestigen’ könnte: In immer neuen Kunst-„Ismen“ und ästhetischen Brechungen, in immer neuen theatralen Formen und Reformen verlie- 329 Entsprechend selbstbewusst bekundet der Volkskommissar für Bildung und Aufklärung A.V. Lunačarskij: „Nur hoffnungslose Dekadente begegnen dem Körper mit christlicher Geringschätzung. Wir Materialisten und Heiden wissen, dass er heilig und schön ist, wie er ist, und untrennbar verbunden mit dem sogenannten geistigen Leben. [fett MD]“ (Lunačarskij, A.V.: „Zadači obnovlënnogo cirka [„Die Aufgaben eines erneuerten Zirkus“] (1919). In: Ders.1981., S.308.) (= Lunačarskij.(1919/ b).1981.) Dieses Verhältnis von körperlichem und geistigem Leben zeigt sich an folgendem Beispiel: die Ikone im Schlafzimmer wird vor dem Geschlechtsverkehr verdeckt, nicht etwa, weil diese Körperfunktion (oder andere rauschhafte Zustände wie z.B. Streit) schuld- oder schambesetzt wäre oder als ‘sündhaft’ gälte und man der Ikone diesen Anblick ersparen müsste (sie verträgt noch ganz andere Zumutungen) — sondern weil der Rausch sexueller (konfrontativer, invasiver) Aktivität dem eher meditativen Zwiegespräch entgegensteht, den die Ikone hervorruft (Kap.II.3.). Es entstehen gleichsam unvereinbare ‘Interferenzen’, welche die Situation unklar machen (zur „Statusreinheit“ siehe Kap.IV.5.1., FN780), denn sowohl der Körper als auch die Ikone sind zwei grenzüberschreitende Kontaktmedien zur Welt, genauer: zu den verschiedenen Realitätsgraden oder ‘Welten’, die in der orthodoxen Vorstellung stets unterscheidbar und in diesem Fall auch zeitlich getrennt bleiben müssen. (Einleitung 5. - Vgl. dazu: Zenkowsky.1951.48f. - Blomqvist in Arvidsson/ Blomqvist.1987.8f.) Die Heiligkeit des Körpers wirkt noch in sein Abbild hinein: die Darstellung von pfeildurchbohrten Heiligen oder sonstwie massakrierten Menschen gilt in der orthodoxen Kirche - eigentlich - als Tabu. Die Zurschaustellung eines Gefolterten oder des in Agonie befindlichen Jesus am Kreuz ist daher eine Zumutung, für die mir nach wie vor intensiver Recherche jedes Verständnis und jede Erklärung fehlt. Möge mir jemand (der kundig ist und bei Verstand) erklären, wie das Christentum so weit kommen konnte mit seinem unüberbietbar obszönen Logo: dem Kreuz als Folterwerkzeug. <?page no="106"?> K APITEL I. 102 ren Körper und Seele ihren ‘Sicherheitsabstand’ zwischen Dasein und ‘Dortsein’, könnten im Da- / ‘Dortbleiben’ erstarren oder resistent werden gegen das orthodoxe Gebot einer „Berührung mit der anderen Welt“ (Müller: Einleitung 5., FN169) 330 : Starre und Resistenz als zwei Varianten von Immobilität bedeuten also umgekehrt, dass erst eine Bewegung die ‘Analogierelation’ zwischen ‘Da’ und ‘Dort’ herzustellen vermag. So wird die Wechselwirkung von orthodoxem Körper-, Kunst- und Zeitkonzept dort deutlich, wo der „Sinn der Distanz“ 331 , der Bildsinn als fest-stellender und objektivierender „Blick der Medusa“ 332 zurücktritt, und die subjektgebundene, ‘anthropometrische’ Bewegung ihren Ursprung hat: „Das Hören - so Ájchenval’d - ist das Empfindungsvermögen der Seele, das Organ der Vernunft, der Vermittler des Wortes. Das Sehen ist notwendig für das Physische, das Hören — für das Metaphysische.“ 333 Demgemäß steht das Wort (die Stimme, die Schrift) für den Anfang der Schöpfung und gilt als göttlicher (heiliger) Index für jede Zäsur und Sequenz, jeden Zyklus und Zeitraum, sowie für die Wahr--Nehmung der Welt. Kulturanthropologisch gesprochen wird das Hören zum „Sinn der Verbundenheit“ 334 , zum sozialen Orientierungssinn schlechthin: „Während das Auge eine Tendenz hat, die Dinge als unveränderliche wahrzunehmen, erfasst der Hörsinn die Dynamik zeitlicher Genese. Hören ist an zeitliche Abfolgen gebunden. / .../ Im Hörsinn spielen Gleichgewichts-, Raum- und Zeitsinn ineinander und verstärken sich wechselseitig.“ 335 Die Verstärkung von Raum und Zeit aber ist - Berdjáev zufolge - die Berührung von Präsens und Präsenz in der Gegenwart (siehe I.1.2.): „Sehtexte und Hörtexte haben jedoch eine unterschiedliche Beziehung zur Präsenz des Denkens. Im Sehen gelingt nur Dasein. Im Hören kommt es zur Gegenwart. Dasein, griechisch, und Gegenwart, jüdisch, können nicht aufeinander reduziert werden.“ 336 — doch wie der Messianismus (Benjamin, Lunačarskij: Kap.II.2., FN453) assimiliert sich ihre Schnittmenge im orthodoxen Kulturraum. So wird das Wort / das Hören im orthodoxen und ontogenetischen Verständnis zur Bedingung, zum Ursprungssinn für den Menschen: Wie die Atmung (die Seele, das Gebet, der Gesang) ist es unmittelbar lebensspendend und endet in einer gleichfalls göttlichen (heiligen) Er--Schöpfung, die durch keine menschliche Zweit--Schöpfung, Re--Produktion oder Nach--Stellung (Darstellung) zeitlich zu drängen oder zu dehnen, also weder verfälschbar 330 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.15. 331 Welsch, W.: „Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? “. In: Wulf, Ch. / Kamper, D. / Trabant, J. (Hg.): Das Ohr als Erkenntnisorgan. Paragrana. Bd.2, H.1-2. 1993. S.95. 332 Wulf, Ch.: „Das mimetische Ohr“. In: Wulf/ Kamper/ Trabant.(1993).10f. 333 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.26. 334 Welsch in Wulf/ Kamper/ Trabant.(1993).95. 335 Wulf in Wulf/ Kamper/ Trabant.(1993).10f. - Welsch Ebd.94f. 336 Kamper, D.: „Nach dem Schweigen: Hören. Das Ohr als Horizont der Bestimmung“. In: Wulf/ Kamper/ Trabant.(1993).116. <?page no="107"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 103 noch ver--wirkbar wäre: Wort und Zeit bedingen den Ausdruck des Menschen und die Dynamik / die Bewegung des Körpers. Demgegenüber ver--wertet das Bild(nis) im Sinne einer willkürlich selektiven Isolierung / Verfestigung den ‘heiligen’ Takt der Schöpfung zu einem ‘profanen’ Rhythmus von Informationen oder Momentaufnahmen. Es manipuliert das göttliche Maß von Wort und Sinn, es fixiert Raum und Zeit nach menschlichem V/ Er--Messen, und funktionalisiert die Fügung zur Verfügung: Das Bild(nis) bedingt eine ‘Preis-- Gabe’ und Fest--Schreibung des Körpers. Damit sind Bühnenillusion und ‘Analogierelation’ wiederum direkt aufeinander bezogen, denn: „Mit zunehmender Kultur nimmt der Kult ab.“ 337 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb das (ab- / nachbildende) Theater (die „Sünde der aufdringlichen Visualität“, FN318) in Ájchenval’ds Verständnis „Ästhetisch / .../ nicht gerechtfertigt werden kann“ 338 , weshalb es nicht als Veranstaltung, sondern als ‘Verunstaltung’ im Sinne von Verfälschung oder Täuschung erlebt wird. Mit welchen außerästhetischen Funktionen Theater eine annähernd „legitime Symbiose“ (FN322) eingehen und eine physiologisch ‘genügende Realität’ (FN328) erzielen könnte, lässt sich nur als qualifizierte Spekulation aus Ájchenval’ds Logik ermitteln, und als ‘Reduktion ästhetischer Brechungen’ umschreiben: Entweder, wenn der Akteur / das ‘Bild’ („Visualität“, FN318) mit einer potenzierten ‘Autorisierung’ (FN325) im Vordergrund steht, d.h. anstatt eines fremden Textes sein eigenes gesprochenes Wort verkörpert (FN315); oder wenn der Akteur / das ‘Bild’ auf das (individuelle) Wort verzichtet, und dafür auf dessen (kollektiven) Ursprungssinn - die Bewegung oder Gebärde als direkte („unmittelbare“) Handlung - zurückgreift. Beide Varianten dieses orthodoxen Körper-, Kunst- und Zeitkonzepts lassen sich als Reaktion auf den Übergang von einer oralen zu einer visuellen Kultur begreifen. Und beide Varianten sind in den Manöverinszenierungen nachweisbar, wo sie sich anfangs durch selbstverfasste und -gesprochene Texte (S TURZ , III. I NTERNATIONALE ), später dann als Pantomimen (E RSTÜRMUNG ) manifestieren. 337 Ajchenval’d in Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.34. 338 Ders.Ebd.13f. <?page no="108"?> K APITEL I. 104 1/ Andrang zum Gottesdienst. — Photo. Ende 19. / Anfang 20.Jh. 2/ Andrang beim Volksfest: Der Mensch in Russland um die Jahrhundertwende: hinter ihm eine orale Kultur zwischen Kirche (Mitte) und Balagan (Jahrmarkt- / Volksfest-Theater) (rechts), vor ihm das visuelle Zeitalter (Photograph). — Karl Osvald Bulla. Photo. Um 1890. <?page no="109"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 105 3-8/ Der „Blutsonntag“ vom 09.01.1905. 3/ Demonstrationszug auf dem Weg zum Winterpalais. — Photo. 09.01.1905. 4/ Militär im Bereich des Winterpalais. — Photo. 09.01.1905. <?page no="110"?> K APITEL I. 106 5/ Schüsse auf die Demonstranten. (Keine Filmszene, sondern die privilegierte Einstellung des akkreditierten Photographen.) — Photo. 09.01.1905. 6/ „‘Der 9. Jänner’. (Gemälde von Ptscherin)“. (Fülöp-Miller.1926.T.235.) — Vor 1926. <?page no="111"?> S YMPTOME DER T HEATERKRISE 107 7/ Vladimir Je. Makovskij. Der 9. Januar 1905 auf der Vasil’evskij-Insel. - Gemälde (Studie). 1905−1907. 8/ „Aus dem Revolutionsmuseum in Leningrad im ehemaligen ‘Winterpalais’“. (Hodann.1931.T.20.) Links das Bild von Makovskij, 7. — Photo. Vor 1931. <?page no="112"?> K APITEL I. 108 9/ Volksfest mit Raëk (Guckkasten-Diorama). — Lithographie. 1857. 10/ Raëk mit Vorführer: „Das weltweite Kosmorama“. (Nekrylova.1988.97.) — Lubok. 1858. <?page no="113"?> II. Gegenkonzepte zur Theaterkrise: Von der „Synthese“ zum ‘Perspektivwechsel’ II.1.1. Von Chören und Solisten Zu ganz anderen Konsequenzen aus dem akuten Paradigmenwechsel kommt die liberale Intelligéncija, indem sie die Gebote „Vereinigung“ und „Wandlung“ (Kap.I.1.2., FN240) mit der Forderung nach „Handlung“ und „Öffentlichkeit“ verbindet. Mit der revolutionären Theater-Avantgarde (Futurismus, Proletkult, Konstruktivismus, F Ė KS, LEF, Produktionskunst) verbindet sie ein prinzipieller Konsens darin, dass die Erneuerung von Gemeinschaft erst als Manifestation von Theater (Kunst) erfahrbar und verifizierbar ist: Der grundlegende Unterschied zur vormodernen Generation (Andréev, Ájchenval’d) besteht in der Erkenntnis, dass ein sicheres, fundiertes Selbstverständnis und Selbstbild nicht den Ausgangspunkt, sondern das Ziel kollektiven Handelns darstellt. Auch Brjúsov radikalisert seine vorrevolutionäre Idee von der bloßen Restitution des Kommunikationskreislaufs zwischen Saal und Bühne (Kap.I.1.4., FN254+256 - Kap.I.3., FN295), indem er als Mitarbeiter der Repertoire-Sektion in der Theaterabteilung (TEO) des NarKomPrós an der Entwicklung künstlerischer Deklamationsformen „für ein monumentales Theater“ 339 mitwirkt. Für Bonč-Tomašévskij kommen Handlungs- und Schauwert überhaupt erst in einem „nationalen Rhythmus“ 340 zur Wirkung und Gültigkeit, welcher das soziale Zeitempfinden aufgreift und in einem großangelegten Maßstab berücksichtigt, denn die „Schaffung eines echten Tempels für eine Kunst mit Schau-Charakter ist nur möglich durch die Entwicklung einer Form von nationalem Ritual. [kursiv MD]“ 341 339 NN: „Iz obzora dejatel’nosti TEO Narkomprosa s oktjabrja 1920g. po janvar’ 1921g.“ [„Aus der Tätigkeits-Übersicht des TEO des Narkompros von Oktober 1920 bis Januar 1921“] (Januar / Februar 1921). In: Jufit.1968.72. - Markov, P.A.: „V TEO Narkomprosa“ [„In der TEO des Narkompros“] (1957). In: Ders.: O teatre v četyrëch tomach. T.1. Iz istorii russkogo i sovetskogo teatra [Über Theater in vier Bänden. Bd.1. Aus der Geschichte des russischen und sowjetischen Theaters]. Moskva 1974. S.434. 340 „Wir wissen, dass das Theater nur dann solide und von Bestand sein und durch ‘Furcht und Mitleid die Seelen der Gläubigen reinigen’ wird, wenn sein Rhythmus sich als ein entwickelter nationaler Rhythmus erweist, wenn das Tempo seiner Aufführung zur Fortsetzung des Tempos jenes Lebens, jener Psyche wird, innerhalb derer die Menge lebt und denkt, [und] welche seine Räume füllt. [kursiv MD]“ (Bonč-Tomaševskij. (1912/ 1913).18.) 341 Zusammenfassung des Redebeitrags von M.M. Bonč-Tomaševskij. In: NN: „Disputy ‘Masok’ o ‘Krizise teatra’“ [„Diskussionen der ‘Masken’ zur ‘Krise des Theaters’“]. In: Maski [Die Masken]. N°6, 1912/ 1913. S.107. - Hierzu auch: Bonč-Tomaševskij, M.M.: „Smert’ ili bessmertie? “ [„Sterben oder Unsterblichkeit? “]. In: Ajchenval’d/ Glagol’/ Nemirovič-Dančenko.1913.122. <?page no="114"?> K APITEL II. 110 Dieser Gedanke beschäftigt die russische Intelligéncija seit dem 19.Jh. im Zuge des europaweiten „Klassenkampfs“ und in den landesinternen Debatten zwischen Westlern und Slavophilen, flankiert von der deutschen Festspiel- Bewegung (G. Fuchs, P. Behrens) 342 und der französischen Volkstheater- Tradition mit R. Rollands Le théâtre du peuple (1903) — einem der meistgelesenen Bücher dieser Zeit. Im Vorwort zur 2. russischen Auflage von 1919 schreibt Ivánov, nunmehr Vorsitzender der theaterhistorischen Sektion der TEO und damit Theoretiker und Stratege der Massenfeiern: „Unter der allgemeinen Bezeichnung eines ‘Volkstheaters’ vereint er [Rolland] sowohl das zeitgenössische Drama, das für das Volk spricht, als auch die fernen Perspektiven einer großen Kunst, die das Volk selber in Zukunft schaffen wird.“ 343 Die Kritik eines Theaters „für das Volk“ statt eines Theaters „des Volkes“ war bereits 1906 gegen R. Wagners Dramaturgie und die Vernachlässigung des Chores zugunsten des Orchesters erhoben worden: „Die zum ‘Festspiel’ Versammelten stellt man sich vor wie die Moleküle eines orgiastischen Orchesterlebens; sie nehmen an der Handlung teil, aber auch nur latent und symbolisch. / .../ Mit einer Einseitigkeit, die dem Grundgedanken des Ganzen nicht entspricht, rückt er den Solisten in den Vordergrund und vernachlässigt die Sprache und den Tanz, die vokale Vielstimmigkeit und das Symbolhafte der Menge.“ 344 Ein weiterer Kritikpunkt an Wagner ist die „Hypnotisierung“ des Publikums durch den verdunkelten Zuschauersaal, was dazu geführt habe, „sowohl sich selbst als auch seine Nachbarn zu vergessen.“ 345 Eine kulturelle Aufwertung, „wo der Schauspieler, der Komödiant kein rachitischblutarmes ‘Ich’, sondern ein stolzes ‘Wir’ ist“ 346 , soll daher ein Chorkonzept befördern, welches das Volk nichtmehr als Referenten oder Symbolträger funktionalisiert (‘symbolisch’), sondern als selbstbestimmten und selbstreflexiven Symbolstifter (‘symbolhaft’ - Einleitung 5., FN161) etabliert. Im Rekurs auf die westeuropäische Antikenrezeption des 19.Jh. und besonders im Rückgriff auf das eigene byzantinische Kulturerbe stellt die Sozialstruktur der griechischen Antike für nahezu alle russischen Theaterschaffenden das „genetische“ Urbild - sowohl im Sinne von Legitimationsbasis als auch von Projektionsfläche - einer idealen Demokratie dar. 342 Im Unterschied zum kaum bekannten Behrens war es Fuchs, der mit seiner Programmschrift Die Revolution des Theaters (1909) in Russland zunächst auf breites Interesse stieß (russische Übersetzung 1911). Die Betonung einer sozialen (kastenartigen) Elite in Verbindung mit dem Festspielgedanken führte jedoch zu einer zwiespältigen Rezeption seiner Schriften. (Stachorskij, S.V. (Hg.): Iz istorii sovetskoj nauki o teatre. 20-e gody [Aus der Geschichte der sowjetischen Wissenschaft vom Theater. Die 20er Jahre]. Moskva 1988. S.266.) 343 Ivanov, Vjač.I.: „Predislovie“ [„Vorwort“]. In: Rollan [Rolland], R.: Narodnyj teatr [Das Theater des Volkes]. Petrograd 1919. S.11. - Die erste Auflage der russischen Übersetzung erschien 1910 mit einer Vorab-Besprechung von Brjusov. 344 Ivanov.(1906).1995.84f. 345 Ivanov.(1909).[1916]1971.282. 346 Beskin.(1921).2f. <?page no="115"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 111 Als deren Hauptmerkmale gelten ein paritätischer Austausch von materiellen und geistigen Gütern, sowie die „organische“ Verbindung von Kult und Kultur 347 (vgl. die Forderung nach einem „ganzheitlichen Organismus histrionischer Aufführungen im Theater und Zirkus“: Kap.I.1.1., FN210). Während dieser Rückgriff in Darstellungen von antiken Tragödien mit Chören sowie in Opferhandlungen auf westlichen Bühnen präsent ist 348 , taucht er vorwiegend im Diskurs eines „Theaters unter freiem Himmel“ der gegensätzlichsten russischen Theatervertreter auf 349 . Fundierter und fundamentaler als andere Theoretiker sieht Ivánov in der eigentlichen Kulthandlung der griechischen Dionysien den Ursprung und die Aufgabe von Theater als einem reinigenden und vereinigenden „liturgischen Akt“ 350 : „In den dionysischen Orgien, der ältesten Wiege des Theaters, hatte jeder Teilnehmer ein zweifaches Ziel vor sich: an der orgiastischen Handlung / .../ und an der orgiastischen Reinigung / .../ teilzuhaben, zu weihen und geweiht zu werden, die göttliche Anwesenheit herbeizurufen und die Gabe zu empfangen — ein teurgisches, aktives / .../ Ziel und ein pathetisches, passives / .../ Ziel.“ 351 II.1.2. „Sobornost’“ als Gemeinschaftsbegriff Als begriffliche Prägung (um 1850) stammt „sobórnost’“ von dem slavophilen Religionsphilosophen A.S. Chomjakóv, und lässt sich als ein von religiöser Innerlichkeit und Einkehr geprägtes Gemeinschaftsprinzip beschreiben. Es wird von keinerlei institutionellen Instanzen (Kirche, „Papst“), sondern von informellen Autoritäten (mir 352 , das gläubige Volk) getragen 353 , 347 L. Br.: „Teatr pod otkrytym nebom“ [„Theater unter freiem Himmel“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°153 vom 03.06.1919. S.4f. - Die enge Verbindung von Kult und Kultur als religiöse und ästhetische Macht- und Handlungsbefugnis wird über den spätantiken Kaiserkult von Konstantinopel und die mittelalterliche Kirchenpraxis von Kiev weitertradiert. (Siehe Kap.IV.5.1., FN789 und Kap.IV.5.2., FN812+813.) 348 Fischer-Lichte, E.: „Das theatralische Opfer: Zum Funktionswandel von Theater im 20. Jahrhundert“. In: Forum Modernes Theater. Bd.13, H.1. Tübingen 1998. S.42f. - Baur, D.: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Tübingen 1999. S.75f. 349 Rafalovič, S.: „Ėvoljucija teatra“ [„Die Evolution des Theaters“]. In: Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.225. - Bespjatov.(1918).25f. - NN: „Teatr — Pod otkrytym nebom“ [„Theater — Unter freiem Himmel“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°24 vom 27.11.1918. S.5. - Radlov.1923/ d.41f. - Vgl. Kap.I.1.5., FN264. 350 Ivanov.(1916).[1916]1971.271.+278. 351 Ivanov.(1906).1995.82. 352 Im vorrevolutionären Russland ist der „mir“ sowohl der gemeinsame Grundbesitz eines Dorfes, als auch der Bauern-Rat, der über Gemeinschaftsaufgaben (Aufteilung und Bewirtschaftung der Felder, Bereitung von Brennholz, Organisation von Festen) und andere Angelegenheiten (Rechtssachen) entscheidet. Chomjakov zufolge gilt der „mir“ (Homonym zu „Frieden“ und „Welt“) als eine identitätsstiftende Größe, als <?page no="116"?> K APITEL II. 112 daher ist die einzige Organisationsform von „Sobórnost’“ das Konzil 354 . In der Tradition einer oralen Kultur bedeutet das mitunter: Das Dogma gilt als Objekt der Ratio, aber nicht der Verehrung — der Kanon erhält seine Legitimation und Gültigkeit erst im Spielraum seiner Auslegung 355 . Das Konzil (das Kollektiv) entscheidet also über den Kanon — ein Prinzip, das in die Praktiken der theatralen Selbstorganisation eingeht und im S TURZ übernommen (Kap.IV.2.1.), von der Organisationsstruktur der E RSTÜRMUNG jedoch korrumpiert wird (Kap.VI.1.). Als kulturelles Konzept (1906-1916) wird Sobórnost’ von Ivánov formuliert, der mit dem Chor erstmals eine öffentlichkeitsorientierte Ausdrucksform damit verbindet. Ganz im Sinne der im vorigen Kapitel erläuterten „Synthese“ (Kap.I.1.4.) zieht Ivánov alle Faktoren für eine neue Chorhandlung zu einer transzendenten Größe zusammen: Ausgehend von der Verbindung griechisch-paganer und russisch-orthodoxer Mythologie (Christus als befriedetes Alter Ego des Dionysos 356 ) bezieht er den Begriff „sobórnost’“ (von „sobirát’ / sobrát’“ = versammeln; „sobór“ = Versammlung / Konzil, Kirche / Kathedrale) 357 auf das Theater als einem zugleich ästhetischen und „das personifizierte soziale Gewissen“ der Bauernschaft. (Chomjakov nach Porret, E.: Nikolaj Berdjajew und die christliche Philosophie in Rußland. Heidelberg 1950. S.70.) 353 „In dem Worte ‘sobor’ liegt die Idee einer virtuell bestehenden Versammlung ohne formelle Vereinigung. / .../ Es ist weder die Unterordnung der individuellen Freiheit unter die Autorität, noch der Triumph der Freiheit über die Autorität, sondern die freiwillige Zustimmung zur Einheit des Glaubens in der Kirche. [fett und kursiv MD]“ (Porret.1950.76.) — also im Unterschied zum liberalen Pluralismus eine gemeinschaftliche Verbindlichkeit oder ‘konsensuale Kollektivität’. 354 Porret.1950.72.+75. 355 Zenkowsky.1951.37. 356 Die russische Ethymologie offenbart eine strukturelle Verwandschaft von Dionysos und Christus: „In Russian the last two words share the same root: ‘zhrec’ [Priester] and ‘zhertva’ [Opfer].“ (Stelleman, J.: „The Essence of Religion in Vj. Ivanov’s Concept of the Theatre“. In: Ahrends, G. / Diller, H.-J. (Hg.): Theatre and Religion. Tübingen 1998. S.118.) Dem ist das Verb „žrat’“ (fressen) hinzuzufügen: über die rituelle Omo- / Theophragie schließt sich hier der Bedeutungskreis. 357 Ivanov.(1916).[1916]1971.278. - Wie Ivanov selber bemerkt, ist „sobornost’“ kaum zu übersetzen. (Ivanov, V.I.: „Legion i Sobornost’“ [„Legion und Sobornost’“] (1916). In: Rodnoe i vselenskoe. Stat’i (1914-1916) [Das Eigene / Leibliche und das Ökumenische. Aufsätze (1914-1916)]. Moskva 1917. S.45.) Der Begriff wurzelt im 19.Jh. in den Lehren von I.V. Kirejevskij, V.S. Solov’ëv und N.A. Berdjaev: darin wird der Entwicklung politökonomischer Wissenschaften und ihrem nationalstaatlichen, mitunter rationalistisch-totalitären Ansatz ein religionsphilosophisches, ganzheitliches „Gemeindewesen“ entgegengesetzt, das die anthropologischen Gegebenheiten und spirituellen Bedürfnisse des Menschen betont. Ein zentrales Postulat von Sobornost’ ließe sich folgendermaßen umschreiben: „Soziale Gerechtigkeit [Moral] steht höher als politische Freiheit [Recht und Justiz]. [Begriffe d. Autoren, kursiv MD]“ (Dahm, H. / Ignatow, A. (Hg.): Geschichte der philosophischen Traditionen Osteuropas. Darmstadt 1996. S. 236f.) Ein paradoxer und autoritärer Effekt dieser Denkrichtung ist das Misstrauen gegenüber liberalen (pluralistischen) Strukturen, die - gegenüber einer autoritativen, kollek- <?page no="117"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 113 sozialen Modell, das die religiöse Bedeutung einschließt, dabei aber auch moderne Lebensverhältnisse berücksichtigt 358 . Beide Aspekte von Sobórnost’ - der religiöse wie der ästhetische - ziehen sich durch seine weitgestreuten Schriften in zwei eng verwobenen, oszillierenden Funktionszusammenhängen: als orthodoxer Identitätsausdruck 359 und als kollektiver Verhaltens- und chorischer Handlungsmodus — wobei Ivánov Letzteres auch als „déjstvo“ im Sinne einer „Kulthandlung“ bezeichnet. 360 Sobórnost’ formuliert und entfaltet drei anthropologische Eigenschaften des Menschen zu drei urchristlichen Weisungen von Menschsein, die bei Ivánov in den Begriffen „Gemeinschaft“, „Handlung“ und „Wandlung“ wiederkehren: „To Ivanov «man is to be distinguished from the other animals because, unlike them, he is an animal religiosum [„Gemeinschaft“, MD] (a state of beeing that precedes that of the animal politicum [„Handlung“]). The germ of religiosity (...) is the aspect of ecstasy: man is first an foremost an animal ecstaticum.» [„Wandlung“].“ 361 In diesem Sinne verweist Sobórnost’ zunächst auf die Basis des orthodoxen Sozialkonzepts, das keine Trennung, sondern die Unterscheidung, und keine Fusion, sondern die Durchdringung von Glaube und Praxis, von privater Lebenswelt und öffentlicher Handlungssphäre vorsieht (Einleitung 5., FN163 - Kap.I.1.2.). Zudem wird darin der religionsphilosophische, slavophile Einfluss Berdjáevs deutlich, der eine subjektivierende und identitätsstiftende Gemeinschaft östlicher Prägung (basierend auf der „Persönlichkeit“) gegenüber einer objektivierenden, anonymen Gesellschaft westlichen Zuschnitts (basierend auf dem „Individuum“) - man denke an Wagners „Solisten“ - propagiert 362 . Schließlich tritt hier Ivánovs Poetik hinzu, wonach die (soziale) Wandlung der Gemeinschaft durch Handlung im Moment (theatraler) Ekstase erfolgt: „The ultimate sobornost’, according to Ivanov, can only be achieved when the members of the chorus forget about themselves and merge into one kindred supra-personal whole / .../ .“ 363 Wenn die Ekstase die Einzelnen nicht zur Vielzahl (sonm) addiert, sondern zur Gemeinschaft (óbščnost’, obščína) potenziert, wenn das „Ich“ zum „Wir“ hinübertritt, beschreibt dieser Vorgang keine Ausdünnung oder Auflösung, sondern eine Verstärkung und Intensivierung des Selbst in der wechseltiven Hierarchie - als „unbeschränkte Macht der Mehrheit“ (Dies.Ebd.), als Nicht-Ordnung, als eine Art Amorphie (miss)verstanden wird: „Ebenso resistent ist die Neigung zur Idealisierung des ‘starken’ Staates, der angeblich eine ‘göttliche’ Institution darstellt.“ (Dies.Ebd.) — ein Doppelwert und Erbe des byzantinischen „Cäsaropapismus“. (Siehe Kap.IV.5.1., FN789 und IV.5.2., FN812+813.) 358 Ivanov.(1916).[1916]1971.274.+276. 359 Ivanov.(1916).1917.38f. - Ivanov, V.I.: „Duchovnyj lik slavjanstva“ [„Das geistige Antlitz des Slaventums“] (1917). In: Ivanov.1917.198f., bes.203. 360 Ivanov.(1916).[1916]1971.261f., 270f. 361 Stelleman in Ahrends/ Diller.1998.117. 362 Berdjaev.[1934]1951.232f., bes.238f. 363 Stelleman in Ahrends/ Diller.1998.120. <?page no="118"?> K APITEL II. 114 seitigen Implikation mit dem Sozium (Béskin: „/ .../ kein rachitisch-blutarmes ‘Ich’, sondern ein stolzes ‘Wir’ / .../ “ - II.1.1., FN346). Hier ist jedoch gleich festzuhalten, dass der Begriff „Ekstase“ zwischen ästhetischem Ereignis und außerästhetischem Erleben verschwimmt und insgesamt konturlos bleibt: es wird nicht deutlich, auf welchen Ebenen eine Grenzüberschreitung stattfindet, welches Körperkonzept damit verbunden ist, und worin der Unterschied zu einem anderweitig induzierten Rausch besteht. Als Gemeinschaftsbegriff ist Sobórnost’ demnach auf zwei Ebenen zu lokalisieren: als diachrone Gegebenheit eines Gefühls der Identität im Sinne einer Voraussetzung von Handlung, und als synchrones Ereignis und Ausdruck der Zusammengehörigkeit im Sinne ihrer Vollendung. Beides vermag der Mensch nicht vorsätzlich herzustellen; innerhalb der zeitlichen ‘Klammer’ zwischen Voraussetzung und Vollendung kann er allein die Wirkungsbedingungen für den Vollzug von Handlung schaffen. Sobórnost’ entspricht somit keiner frei verfügbaren, stets disponiblen Option, sondern einer Abfolge und einem unabschließbaren, existentiellen Auftrag 364 : „Denn der antike Chor kennzeichnet Sobórnost’ eher als ideale Voraussetzung der Handlung, als dass er sie essentiell begründet.“ 365 Sobórnost’ weist demnach eine große Affinität zu C. Geertz’ Konzept von „Religiosität“ auf, die er als „Disposition“ gegenüber der „Religion“ absetzt: „Eine Disposition bezeichnet nicht eine Tätigkeit oder ein Ereignis, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass unter bestimmten Bedingungen eine Tätigkeit erfolgen oder ein Ereignis eintreten wird. / .../ Dementsprechend heißt fromm sein nicht, eine Art frommer Handlung zu begehen, sondern die Neigung zu derartigen Handlungen.“ 366 Hierbei unterscheidet Geertz zwischen „Stimmungen“ und „Motivationen“: „Doch der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen Stimmungen und Motivationen besteht darin, dass Motivationen mit Bezug auf die Ziele, zu denen sie hinführen sollen, ‘Sinn ergeben’, während Stimmungen mit Bezug auf die Bedingungen, denen sie entspringen sollen, ‘Sinn ergeben’.“ 367 In ähnlicher Weise bestimmt Eliade „rituell“ als „der Intention nach religiös“ 368 . Nicht zufällig ist das gemeinsame Ausdrucksmedium von Sobórnost’ und Religiosität der Chor bzw. die Stimme („Stimmungen“) — dasjenige Medium also, das gerade durch seine Flüchtigkeit die „ideale Voraussetzung“ (Ivánov) bzw. die „Neigung“ und „Bedingung“ (Geertz) von (ergebnisoffener) Handlung kennzeichnet (zum Hören als „Organ der Vernunft“ und als Ursprungssinn der Orthodoxie: siehe Kap.I.4, FN333/ 335). In diesem Sinne lässt sich Sobórnost’ als rituelle „Disposition“ der Orthodoxie, als kollektive Identitätsprägung bestimmen: „Genauer gesagt trug die Sobornost’-Idee zur Entstehung gewisser Denk- 364 Ivanov.(1916).1917.45. 365 Ivanov.(1916).[1916]1971.273. 366 Geertz.[1983]1995.55f. 367 Ders.Ebd.58. 368 Eliade.[1957]1998.77. <?page no="119"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 115 muster, zu Denkstrukturen bei, die auch mit anderem, rein diesseitigem, politischen Inhalt ausgefüllt werden können.“ 369 II.1.3. „Sobornost’“ als Handlungsbegriff Kennzeichnend für Sobórnost’ ist die spezifische und programmatische Anwendung auf die darstellende Handlung — obwohl dieselbe Identitätsprägung und derselbe Gemeinschaftsbegriff auch jenen anderen Künsten zugrundeliegen, die den „liturgischen Akt“ (Ivánov) konstituieren (z.B. die Ikonenmalerei: II.3., FN487). Sobórnost’ offenbart somit eine Tendenz zur Handlung, deren größere Verbindlichkeit über die „Disposition“ hinausgeht und auf den Vollzug ihrer „Neigung“ (Geertz) drängt: denn der orthodoxen ‘Analogierelation’ und dem russischen Kunstbegriff zufolge enthält ein Zeichen oder ein Bild notwendig und immer nicht bloß eine beliebige Bedeutung, sondern eine bestimmte Bedeutsamkeit, nicht bloß eine Botschaft, sondern einen Lehrauftrag, den es fortzuführen und umzusetzen gilt 370 . Damit bezeichnet der Handlungsbegriff Sobórnost’ die Gesamtheit jener Aktivitäten, die der Gemeinschaftsbegriff Sobórnost’ hervorbringt: „Das Theater muss seinen dynamischen Wesenskern restlos erschließen; folglich soll es aufhören ‘Theater’ zu sein nur im Sinne von ‘Spektakel’. Genug der Spektakel, keine circenses mehr. Wir wollen uns versammeln, um schöpferisch zu sein - um einig / vereint zu ‘handeln / wirken’ [‘déjat' ’ sobórno] - 369 Dahm/ Ignatow.1996.236f. - Vgl. dazu auch Köpping/ Rao.2000.5.: Einleitung 5., FN192. 370 Wie schon eingangs beschrieben (Einleitung 5., FN157/ 158), bildet diese Triade (Zeichen / Bild - Bedeutung / Bedeutsamkeit - Lehr- / Handlungsauftrag) das Fundament der russisch-orthodoxen Zeichen- und Bilderwelt. Von hier aus erklärt sich die umstandslose Verbindung von Semiose und Didaktik als ein Paradigma der russischen Kultur — abzulesen am Begriff „propoved’“, der sowohl „Predigt“ als auch „Propagierung“ im Sinne von „Botschaft“ bedeutet. Die enge Wechselwirkung zwischen dem Platonischen Bildungs- und Aristotelischen Mimesis-Begriff (Einleitung 3., FN73) gehört zu den integralen, russisch-sowjetischen Wertvorstellungen: „Man kann wohl kaum einen Widerspruch einlegen oder erkennen in den theatralisierten Methoden zur Erziehung des Menschen. Nicht umsonst wird die Theatralisierung auch bei der Arbeit an den Schulen einbezogen. Rhythmus, Gymnastik, Aufmerksamkeits-Übungen, das Vermögen, eine Figur / ein Muster [obraz] zu durchdringen, die intime Kenntnis von Kunst und Musik erhöhten das kulturelle Niveau und schärften den künstlerischen Blick. Zugleich entstand durch diese Arbeit rund um das Theater eine öffentliche / soziale Atmosphäre der Hingabe und des Anspruchs.“ (Markov.(1927).1976.442.) Entsprechend lautet eine frühe Resolution „Zum Theater“ auf dem „Kongress für außerschulische Bildung“: „6) Künstlerische Erziehung und Bildung sind nicht zu trennen, weshalb das Theater Bestandteil des allgemeinen Erziehungssystems und den breiten Massen zugänglich werden muss.“ (NN: „Itogi s’ezda po vneškol’nomu obrazovaniju“ [„Ergebnisse des Kongresses zur außerschulischen Bildung“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°29 vom 27.-31.05. und 01.06.1919. S.2f.) (= „Ergebnisse Kongress außerschulische Bildung.1919.“) <?page no="120"?> K APITEL II. 116 und nicht, um kontemplativ zu sein: ‘zu schaffen, nicht zu schauen’ [deutsch im Orig.]. Genug der Schauspielerei [licedéjstva], wir wollen Schaffensakte / Handlung [déjstva]. Der Zuschauer soll zum Schöpfer, zum Mitbeteiligten der Handlung werden. Die Menge der Zuschauer soll mit dem chorischen Körper verschmelzen, der mystischen [so im Orig.] Gemeinde überlieferter ‘Orgien’ und ‘Mysterien’ entsprechend.“ 371 Der spezifische Ausdruck für die performative Fortschreibung des orthodoxen Verhaltens ist Ivánovs Chorhandlung als ein zyklisches Gefüge: den Phasen der Dionysien entsprechend („zu weihen und geweiht zu werden“: II.1.1., FN351) erfolgt eine Aufgabenteilung in einen „kleinen Chor, der unmittelbar mit der Handlung verbunden ist / .../ und einen Chor, der die ganze Gemeinde symbolisiert und der beliebig durch neue Teilnehmer erweitert werden kann / .../ . [kursiv MD]“ 372 Hierbei handelt es sich um keine „Erfindung“ Ivánovs 373 , sondern vielmehr um das Wieder--Finden oder Nach--Zeichnen der Auffächerung von weltlicher Alltags- und sakraler Himmelshierarchie, wie sie in der orthodoxen Liturgie symbolhaft ‘eingeübt’ wird: der (kleine) Gesangs-Chor stiftet den (großen) Besucher-Chor zum Mitwirken an, während deren (gesangliche) Hinwendung durch das Bildprogramm der Ikonostase (genauer: der „Deesis“, die eine Fürbitte darstellt) ‘aufgegriffen’ und von ihren (gemalten) Vertretern dem himmlischen Chor ‘anempfohlen’ wird. Mittels theatraler Interaktion tradiert Sobórnost’ somit die kollektive Entlastungsfunktion des liturgischen Chors. Demnach lässt sich Sobórnost’ auch als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsstiftender, orthodoxer Handlungsmodus bezeichnen: 371 Ivanov.(1906).1995.81.+89f. - Ivanov.(1909).[1916]1971.281f. An anderer Stelle ist bei Ivanov zu lesen: „Das [freiwillig und übereinstimmend, MD] handelnde [dejstvujuščij] und wirksame [dejstvennyj] Kollektiv kann man so gesehen als ‘Chor’ bezeichnen, ohne dadurch die Form seines Handelns vorauszubestimmen.“ (Ders.Ebd.285.) Dieser Rückgriff auf eine vormoderne Haltung wird spätestens dann fragwürdig, wenn die soziale Entlastungsfunktion von „Chor“ oder „Kollektiv“ als Norm voraus gesetzt und vorab legitimiert wird, d.h. wenn „orgiastisches“ Handeln allein deshalb akzeptiert wird, weil es durch den „dionysischen“ Chor erfolgt. Die Konvergenz / Engführung wechselseitiger Legitimierung von Chor / Kollektiv und Handlung wird dort bedenklich, wo keine „prophetische Weihehandlung“ der Masseninszenierungen, sondern die populär-populistischen Agit-Gerichte begründen, wo also gerichtet, und nicht gerettet wird. Hier offenbart sich ein Grenzwert der eingangs genannten Sichtweise „Synthese“ (‘konjunktiver Wahrnehmungsmodus’, Kap.I.1.4.), und die damit verknüpfte Gefahr, dass Begriffe, Kategorien und Reihenfolgen soweit zusammenrücken, dass sie austauschbar, verkehrbar, und zuletzt pervertierbar werden. 372 Ivanov.(1906).1995.86. 373 Stelleman in Ahrends/ Diller.1998.111. <?page no="121"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 117 „Denn Theater ist ein sicherer Zeuge für das, was eine Epoche zusammenhält. [„Ibo teatr vernyj svidetel’ o tom, čem živët ė pocha soborno.“ - kursiv MD]“ 374 II.1.4. „Sobornost’“ und „Communitas“ Da sich die Un/ Vergleichlichkeit von Äpfeln und Birnen - entgegen der landläufigen Meinung - eben erst durch einen Vergleich herausstellt, bleiben hier nun einige Berührungspunkte zwischen V. Ivánovs „Sobórnost’“ und V. Turners Sozialkonzept „Communitas“ aufzuzeigen. Weiter oben wurde die Tendenz zum Vollzug von (frommer) Handlung (für Sobórnost’: II.1.3., FN370) gegenüber der „Neigung zu [frommen] Handlungen“ (für Religiosität: II.1.2., FN366) betont. Wie im „Exkurs zum Ritual“ noch ausführlich gezeigt wird (Kap.IV.5.2.), steht der orthodoxe Handlungsbegriff in einem engen Bezug zum orthodoxen Ritualkonzept. Hier werden daher nur jene Aspekte von Communitas fokussiert, die dem Gemeinschaftsbegriff von Sobórnost’ entsprechen. In diesem Zusammenhang wurde bereits auf Berdjáevs Unterscheidung von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ (II.1.2., FN362) hingewiesen. Andere slavophile Philosophen bezeichnen diese Differenz als „Volk“ und „Publikum“, wobei die kritisierte, in allen Bereichen durchrationalisierte „Gesellschaft“ nicht zufällig mit einem Begriff aus dem bürgerlichen Theater (II.1.1., FN345) oder aus einer westlichen Sozialutopie („Legion“ - II.1.2., FN357) abgewertet wird 375 . Hier schließen zahlreiche Parallelen von Turners Begriffspaar „Struktur“ und „Communitas“ an, die er im Zuge seiner Ritualforschungen entwickelte. Die Umrisse von Communitas (die „offene Gesellschaft“) 376 lassen sich zuvörderst in Abgrenzung zum Gegenmodell „Struktur“ (die „geschlossene Gesellschaft“) 377 begreifen: „Alle menschlichen Gesellschaften beziehen sich implizit oder explizit auf zwei kontrastierende Gesellschaftsmodelle. Das eine ist / .../ das Modell von Gesellschaft als einer Struktur rechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Positionen, Ämter, Status und Rollen, in denen sich das Individuum nur sehr verschwommen hinter dem sozialen Typus abzeichnet. Das andere ist das Modell von Gesellschaft als einer aus konkreten idiosynkratischen Individuen bestehenden Communitas — Individuen, die, obwohl sie sich in ihren körperlichen und geistigen Talenten unterscheiden, dennoch im Hinblick auf ihr gemeinsames Menschsein als gleich betrachtet werden. Das erste Modell ist das Modell eines differenzierten, kulturell strukturierten, segmentierten und 374 Ivanov.(1916).[1916]1971.275.+272. - Vgl. hierzu Einleitung 5. 375 Porret.1950.65. - „Legion“, nach Th. Hobbes’ Leviathan (1651). 376 Turner.[1969]2000.110. 377 Ders.Ebd. <?page no="122"?> K APITEL II. 118 oft hierarchischen Systems institutionalisierter Positionen. Das zweite stellt Gesellschaft als ein undifferenziertes, homogenes Ganzes dar, in dem sich die Einzelnen als ganze Menschen gegenüberstehen — nicht in Status und Rollen ‘segmentiert’.“ 378 In dieser Kontrastierung hebt sich Communitas grundsätzlich vom „Bereich des Alltagslebens“ ab, und tritt als ein diachrones Phänomen in Umbruch- und Krisen-Zeiten in Erscheinung 379 . Doch weder die Beständigkeit von „Struktur“ noch die Randständigkeit oder Liminalität von Communitas erlauben es, diese Begriffe gänzlich oder eindeutig der „Unterscheidung ‘säkular’ und ‘sakral’ oder derjenigen zwischen Politik und Religion“ 380 zu unterwerfen. Beide Modelle wechseln einander ab, und ihr Verhältnis ist dialektisch: „Eine Überbetonung der Communitas, wie sie in bestimmten, Unterschiede nivellierenden religiösen und politischen Bewegungen vorkommt, kann sehr schnell in Despotie, übermäßige Bürokratisierung oder andere Formen struktureller Erstarrung münden.“ 381 Die Situierung von Communitas in den außeralltäglichen Bereich überschneidet sich mit Turners Befunden zum „sozialen Drama“ und dessen „theatralischer Darstellung“, dem er W. Diltheys Fundamentalbegriff „Erleben“ / „Erlebnis“ (1883, 1910) zugrundelegt 382 (vgl. den „Chor“ bei Ivánov). Das zentrale Merkmal von „Erlebnis“ ist die Grenzverschiebung, die Ab- und Widerständigkeit gegenüber vorgegebenen Strukturen (‘Konzil schlägt Kanon’: II.1.2., FN355), oder anders formuliert, gegen eine allzu strikte Referentialität: „Es kommt nicht auf Texttreue an. Theatralischer Raum, Schauspieler, Regisseur, benutzte Mittel / .../ , Trennung von Rolle und Darsteller - alle diese Elemente und Mittel werden flexibel kombiniert und neukombiniert - als Spiegelungen eines gemeinsamen Willens [‘konsensuale Kollektivität’: II.1.2., FN353], der sich in den seltenen Augenblicken herauskristallisiert, in denen unter den Mitgliedern des Theaterensembles Communitas entsteht.“ 383 Selbst die ethymologischen Befunde lassen sich auf Sobórnost’ beziehen: die indogermanischen Wurzel „per-“ (experience: Erfahrung, Erlebnis - slavische Lautverschiebung: „pere-“, „pre-“) formuliert die Überschreitung äußerer Grenzen beim „Verbrechen“ (prestuplénie) oder im Krisen-Remedium „preobražénie“ (Wandlung - Kap.I.1.2., FN240), ebenso wie das Ausloten innerer Grenzen bei „pereživánie“ (Durchleiden, Durchstehen, aber auch: Überleben) und „perevoploščénie“ (Verwandlung, Transformation) — jene beiden Grundtechniken des Memorierens und der 378 Ders.Ebd.169. 379 Ders.Ebd.96.+143. 380 Ders.Ebd.96. 381 Ders.Ebd.126., 129., 193. 382 Turner, V.: Vom Ritual zum Theater. Vom Ernst des menschlichen Spiels [1982]. Frankfurt a.M. 1989. S.16. 383 Turner.[1982]1989.22. <?page no="123"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 119 Darstellung, die mit der „Stanislávskij-Methode“ (um 1900) zunächst den In- und ‘Stil’begriff einer perfektionistischen Referentialität (laut Brjúsov „Eine unnötige Wahrheit“, 1902 - Kap.I.1.4., FN251) und den Ruhm des Moskauer MChT begründen: „Erleben bedeutet also sowohl ‘durchleben’ wie ‘erinnern’ und ‘vorwärts wollen’, d.h. unter Vermeidung vergangener Irrtümer und Gefahren Ziele und Modelle künftigen Erlebens entwickeln.“ 384 Das mit einer Übertretung verbundene Risiko weist Sobórnost’ und Communitas jeweils auch in synchroner Hinsicht als ein liminales und transitorisches 385 Phänomen aus, das zwischen Religion, Theater und Politik im Modus der Performativität und Prozessualität oszilliert: „Extreme individualism only understands a part of man. Extreme collektivism only understands man as a part. Communitas is the implicit law of wholeness arising out of relations between totalities. But communitas is intrinsically dynamic, never quite being realized.“ 386 (vgl. Sobórnost’ als unabschließbarer, existentieller Auftrag: II.1.2., FN364+365). Das aus diesen Vorgängen resultierende ‘Wir-Empfinden’ geht auf M. Bubers vielzitierten Gemeinschaftsbegriff zurück, in dem ein „wesenhaftes Wir“ aus einem „organischen Gemeinwesen“ (Ivánov: „organische Epoche“ - Kap.I.1.3., FN243) und einer gleichsam ideal ausbalancierten, vollkommen aufrichtigen Gegenseitigkeit hervorgeht (Béskin: „/ .../ kein rachitisch-blutarmes ‘Ich’, sondern ein stolzes ‘Wir’ / .../ “ - II.1.1., FN346): „Gemeinschaft aber ... ist das Nichtmehr-nebeneinander, sondern Beieinandersein einer Vielheit von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zubewegen, überall ein Aufeinanderzu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich und Du erfährt: Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht.“ 387 Die Berührungspunkte oder Austragungsorte, die Projektionen und Projekte dieser Beziehungen sind Mente- und Artefakte, und gleichen wiederum jenen ‘Medien’, die den orthodoxen Transfer zwischen ‘Da’ und ‘Dort’ ausmachen (Erinnerung und Traum, Imaginäres und Fiktives, Präfiguration und Erfahrung: Einleitung 5., FN165): „Beziehungen zwischen ganzen Menschen lassen Symbole, Metaphern und Vergleiche entstehen; ihre Ergebnisse sind Kunst und Religion, nicht rechtliche und politische Strukturen.“ 388 (Ivánov: „nicht Organisation, sondern Sobornost’“). 389 Mit den bisher aufgeführten Befunden lässt sich der größte Abstand zwischen den gegenübergestellten Begriffen in ihrer jeweiligen Zeitlichkeit und Verbindlichkeit („religio“) feststellen: Im Selbsterleben einer langerprobten und tiefverwurzelten Glaubenstradition setzt Ivánov eine konstant vorhan- 384 Ders.Ebd.23.+25. 385 Turner.[1969]2000.111.+133. 386 Turner, V.: The Anthropology of Performance. New York 1987. S.84. 387 Buber nach Turner.[1969]2000.138., 133., 124. 388 Turner.[1969]2000.125. 389 Ivanov.(1916).1917.46. <?page no="124"?> K APITEL II. 120 dene, periodisch gesteigerte oder gar langfristig intensivierbare Sobórnost’ voraus („Denn Theater ist ein sicherer Zeuge für das, was eine Epoche zusammenhält.“ - II.1.3., FN374). Turners kulturell breiter gestreute Studien kommen dagegen zu dem Schluss, dass Communitas ein prinzipiell flüchtiges Phänomen ist, das sich innerhalb kürzester Zeit aufbauen kann 390 , um dann über eine längere Phase soweit abzuflachen, dass es hinter der „Struktur“ verschwindet 391 . Die - gemessen an dem zugrundegelegten kulturellen Spektrum - größte Nähe zwischen beiden Begriffen besteht darin, dass offensichtlich kein Sozialkonzept gleich welchen Entwicklungs- oder Säkularisierungs- Stadiums ohne ein bestimmtes Maß an theatraler Metaphorik und theatralem Instrumentarium auskommt („Publikum“, „Rolle“ - siehe Schlusswort 5.). Von Berdjáev / Ivánov über Eliade bis zu Geertz / Turner ergibt sich also eine beachtliche Ost-West-Verschiebung von Gemeinschafts-Begriffen, in deren Geltungsbereich auch Ch. Wulfs „Kommunität“ 392 mit dem theatralen Aspekt der „Mimesis“ gehört: ein nicht-anonymes Sozium, das sich im Vollzug von performativen und rituellen Handlungen konstituiert (II.3., FN500 - „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2., FN835/ 838). II.1.5. Ivanovs Chorhandlung Im Unterschied zu Andréev und Ájchenval’d sieht Ivánov in der psychologischen Wirkung von darstellender Handlung einen Berührungspunkt von heilig und profan, eine Art „dionysisches Erschauern“ 393 oder „spirituelle Osmose“ 394 , die - mit Blick auf Brjúsov - einen dritten Weg jenseits von „Alltagsrealismus“ („Naturalismus“) oder „theatraler Illusion“ („Schematismus“) weist 395 : Dabei hat der Chor durch seine Mittlerstellung zwischen der „Gemeinde“ und dem „Protagonisten“ eine integrative Wirkung 396 . Analog dazu kommt der darstellenden Handlung als energetischer und dynamischer Größe eine integrale Bedeutung zu, weil sie - als künstlerische Verdichtung von Erfahrungen - „immer weiter als ihr Gegenstand“ 397 (über ihr Thema hinausweisend) und gleichzeitig enger als das Leben ist (bestimmte Themen fokussierend) 398 . Zur eigentlichen Chorhandlung gehört indes die weitgreifende, tiefverwurzelte Gültigkeit einer „absoluten“, durch keine „willkürliche Bewertung“ noch durch „Zweifel oder Ablehnung“ anfechtbaren drama- 390 Turner.[1969]2000.143. 391 Ders.Ebd.111., 129., 133. 392 Wulf/ b.1997.1031. 393 Ivanov.(1906).1995.81. 394 Reichard nach Geertz.[1983]1995.68. - Ivanov.(1916).[1916]1971.271. 395 Ivanov.(1906).1995.86. 396 Ders.Ebd.80. - Ivanov.(1916).[1916]1971.263. 397 Ivanov.(1906).1995.78. 398 „Sie [die Handlung] entsprang einem realen Ereignis und tendiert auch zum Übergang in ein reales Ereignis. Doch insofern es nicht mit einem realen Ereignis zusammenfällt, bleibt es Kunst.“ (Ivanov.(1916).[1916]1971.263.) <?page no="125"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 121 tischen Vorgabe 399 . Diese Vorgabe sieht Ivánov im Symbol und im Mythos als Archetypen der Volkskunst. 400 Die funktionale Verknüpfung dieser drei Faktoren (Chor, darstellende Handlung, dramatische Vorgabe) weist die Chorhandlung als Medium aus, das beide Aspekte von Sobórnost’ (als Gemeinschafts- und als Handlungsbegriff) in Erscheinung, zum Ausdruck und zur Wirksamkeit bringt. Indem dort dezidiert alle Beteiligten zu Eingeweihten werden 401 , ist die Chorhandlung das Instrument einer „Organisation der Volksseele“ 402 schlechthin: Der Einzelne verfügt über eine gewisse Gestaltungsfreiheit seines Status, der sich nach dem Grad seines Mitwirkens bemisst. Und die Chorgemeinde konstituiert sich in der Dynamik einer gleichsam kultischen Handlung zwischen gegebener Mythologie und angewandter Symbolik. Mit Blick auf die obengenannte zeitliche Klammer oder Abfolge zwischen Voraussetzung und Vollendung von Gemeinschaft als Wirkungsbedingung von Sobórnost’ (II.1.2.) stellt sich auch die Frage nach dem Wirkprinzip der Chorhandlung. Hier erfolgt Handlungswirksamkeit unter einer komplementären Signatur, die Ivánov als „Antropomorphie“ (antropomorfízm) bezeichnet 403 : „Anthropomorphie“ bedeutet eine Priorität von Wort und Atmung, von Stimme und Musik: die „Symphonie“ (d.h. die musikalische Partitur einer Massenfeier) bildet Anfang, Ende und die „dynamische Basis“ der Handlung, der Chor ist jeweils Bestandteil der Symphonie und der Handlung, wohingegen die Akteure keinesfalls singen, sondern nur sprechen sollen 404 . Ein weiteres Element ist das handlungskonstitutive Ineinandergreifen von ‘Impuls’ und ‘Vollzug’: „/ .../ wenn dem Helden in der Handlung die Initiative obliegt, dann kommt das eigentlich Schöpferische darin der Gemeinde zu.“ 405 Der Begriff „Anthropomorphie“ bezieht sich folglich auf ein physiologisches Prinzip (das sich von der zuvor angeführten ‘Anthropometrie’ untershcheidet: Kap.I.3., FN309) und ein theologisches Modell impliziert (eine Art ‘Theomorphie’): Insofern Handlung generell einer Zurechnungs-Instanz bedarf und insbesondere rituelles Handeln einen „heiligen Adressaten“ voraussetzt (Einleitung 5., „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2.), wird hier „ein beein- 399 Ivanov.(1909).[1916]1971.285f. 400 Ivanov.(1906).1995.75f. - Die „Absolutheit“ und Universalität dieser Archetypen ist im heutigen, semiotischen Kontext insofern nachvollziehbar, „Da im Mythos [bedingt auch im Symbol, MD] Sache und Zeichen identisch sind / .../ “. (Koschmal in Posner/ Robering/ Sebeok.1997.827.) 401 Trotz seiner Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum macht Ivanov diesbezüglich auch nach der Revolution keinerlei soziale Unterschiede. 402 Ivanov.(1906).1995.89. 403 Ders.Ebd.85. 404 Ders.Ebd.85. - Vgl. bei Vsevolodskij das akustisch-auditive und kinesisch-proxemische Moment: II.2., FN434+439. 405 Ivanov.(1916).[1916]1971.265. - Vgl. Theater als konzentrisches Modell bei Vsevolodskij: II.2., FN455/ 457. <?page no="126"?> K APITEL II. 122 flußbarer Mitspieler gleichsam kreiert. Diese Mitspieler können natürlich auch Sachen, Konstellationen von Bedingungen, Naturtatsachen sein.“ 406 Bei Ivánov erscheinen diese „Mitspieler“ im Akkord dreier Zeitfiguren: Wenn selbst der Wille des Dionysos die Gunst der Ananke braucht, damit sein Tun sich vollziehen und vollenden und erst dann als göttliches Werk gelten kann, bedarf gerade die Handlung der Gemeinde des Kairos, d.h. der Einhaltung der richtigen Dauer, Abfolge und des Moments, um an ihrem Ertrag erkennbar zu werden, um Wirkung zu ‘zeitigen’: „Alle Aufrufe der Aktivisten der Großen französischen Revolution, alle überragenden Theorien der damaligen Denker waren machtlos, um in Frankreich ein großes revolutionäres Theater ins Leben zu rufen. In der Periode des Pflügens und des Sähens sieht man keine Ähren treibenden Sprösslinge auf dem Feld. Seien wir geduldig: warten wir auf das Fest der Ernte.“ 407 Bis dahin, so Ivánov, müssen erst die „verborgenen Energien der schöpferischen Kraft des Volkes“ nach rituellem Muster organisiert werden, damit beides sich „in einem neuen Fest, in einer neuen Handlung, in einem neuen Spiel, in einem neuen Spektakel“ 408 vereinen kann. II.1.6. Die Chorhandlung — Dilemma zwischen Glaubensgemeinschaft und Theatergemeinde Zu diesem Zweck wiederholt Ivánov die wichtigsten Leitlinien - einschließlich der Betonung des Zeitaufwandes und der Vorläufigkeit oder Langwierigkeit theatraler Aufbauarbeit 409 - in seinen Vorträgen auf zwei wichtigen Kongressen 410 , in deren Folge sich Mitte Dezember 1919 die Sektion für Massenschauspiele und -spektakel der TEO 411 konstituiert. Beide Male wer- 406 „Prinzipiell können alle Umweltdaten als Mithandelnde projiziert werden.“ (Hahn in Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.61f.+69.) 407 Ivanov, Vjač.I.: „Zerkalo iskusstva“ [„Der Spiegel der Kunst“] (1919/ 1920). In: Stachorskij.1988.16. 408 Ivanov (1919/ 1920) in Stachorskij.1988.16. 409 „Woraus folgt, dass die Verwirklichung der genannten Aufgabe nur für die Zukunft denkbar ist, während uns nur die Vorbereitung der Wege bevorsteht, die zum Begreifen der Ziele führen.“ (Ivanov, V.I.: „K voprosu ob organizacii tvorčeskich sil narodnogo kollektiva v oblasti chudožestvennogo dejstva (Doklad zavedujuščego istorikoteoretičeskoj sekciej teatral’nogo otdela narodnogo komissariata po prosveščeniju Vjačeslava Ivanoviča Ivanova, na s’ezde po vneškol’nomu obrazovaniju)“ [„Zur Frage der Organisation künstlerischer Kräfte des Volks-Kollektivs im Bereich der künstlerischen Handlung (Vortrag des Vorsitzenden der historischen Sektion der Theaterabteilung des Volkskommissariats für Aufklärung Vjačeslav Ivanovič Ivanov, auf dem Kongress für außerschulische Bildung)“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°26 [Mitte Mai] 1919. S.4f.) 410 Der Kongress zur außerschulischen Bildung fand Mitte Mai 1919 in Moskau statt und war eine der ersten Veranstaltungen zur Diskussion und Konstitution eines neuen Kultur- und Bildungssystems. Ende November 1919 wurde diese Arbeit mit dem I. Kongress zum Arbeiter-und-Bauern-Theater in Moskau fortgeführt. 411 L’vov.(1920).6f. <?page no="127"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 123 den Ivánovs Kernthesen als Resolutionen verabschiedet: Zur Mobilisierung kollektiver und künstlerischer Handlungsformen soll man „/ .../ nach Kräften die Gründung und Verbreitung und Entwicklung der Chorbewegung fördern: auf staatlich-städtische Kosten große Chöre unterhalten und die Aktivitäten von Chorvereinigungen protegieren; an Feiertagen Chöre inszenieren auf [öffentlichen] Plätzen; sie mit künstlerischem Material und dem ständigen Interesse der Volksmassen versorgen durch die Schaffung eines fortlaufenden lyrischen Repertoires von Liedern und Hymnen, von mächtigen und allgemeinen, volksnahen Formen, die eine Erwiderung sind auf alle inneren bedeutenden Ereignisse des Lebens des Volkes; in die Aufführung der Chöre ein spektakelhaftes und orchestrisches (oder choreographisches) Element einbringen und ihr mächtig klingendes, singendes Wort [napévnoe slóvo] mit der Schönheit eines körperlich-ausdrucksstarken Auftritts verbinden, mit feierlichen Prozessionen, einer entsprechenden Formation rhythmischer Bewegungen und entsprechend festlichem und malerischem Gewand; kurz — aus den Chören ein lebendiges, künstlerisch wirksames Organ des enthusiastischen Ausdrucks vom Denken und Wollen des Volkes schaffen.“ 412 Formal weicht Ivánovs Festchor damit allerdings nicht wesentlich ab von den traditionellen Volkslied- und neuerdings selbstorganisierten Sprech- und Bewegungs-Chören bei öffentlichen Jubiläen, Volksfesten oder Revolutionsfeiern. Funktional besteht der Unterschied - wenn nicht im Auftrag zur Weihe („zu weihen und geweiht zu werden“: II.1.1., FN351) - in einem besonderen Anspruch und Pathos, wohingegen die etablierten Chöre schlicht und gezielt zur Unterhaltung 413 oder Agitation auftreten. Das Dilemma (Kap.I.1.3.) von Ivánovs Chorhandlung im revolutionären Kontext besteht darin, dass der Chor eine ästhetische Ausdrucks- und Handlungsform wählen muss, aber einer religiösen „Synthese“ verhaftet bleibt 414 . 412 „Ergebnisse Kongress außerschulische Bildung.1919.2f.“ 413 Dmitriev, Ju.A.: „Guljanija i drugie formy massovych zrelišč“ [„Volksvergnügungen und andere Formen von Massenspektakeln“]. In: Alekseev.1968.252f. - Filippov, B.: „Teatral’nye vstreči“ [„Begegnungen am Theater“]. In: Teatr [Theater]. N°11, 1973. S.108. - Alekseev-Jakovlev, A.Ja. / Kuznecov, Je.M.: Russkie narodnye guljan’ja. Po rasskazam A.Ja. Alekseeva-Jakovleva, v zapisi i obrabotke Jevg. Kuznecova [Russische Volksvergnügungen. Erzählt von A.Ja. Alekseev-Jakovlev. Aufgeschrieben und bearbeitet von Jevg. Kuznecov]. Leningrad, Moskva 1948. S.117f. - Nekrylova.1984.164. 414 Zwar hatte Ivanov das Theater als jenseits von Ästhetik lokalisiert und Sobornost’ als Kulthandlung (dejstvo) bestimmt. (Ivanov.(1916).[1916]1971.265.) Zugleich aber sollte die Chorhandlung eine „künstlerische Verwandlung“ mittels Theater vornehmen, „/ .../ insofern als Theater eine Kunst ist, die den Menschen in einer künstlerischen Verwandlung, oder den künstlerisch geformten Menschen, als Vielzahl begriffen, zur Erscheinung bringt.“ (Ivanov, Vjač.I.: „Množestvo i ličnost’ v dejstvii“ [„Die Menge und der Einzelne in der Handlung“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°62 vom 27.04.-02.05.1919. S.5. - Hierzu auch Mazaev.1978.139.) Ivanov war sich dieses <?page no="128"?> K APITEL II. 124 Als einziges definiertes Kriterium bewirkt die „Anthropomorphie“ - eher eine physiologische Funktion denn ein künstlerisches Mittel - eine „Verwandlung“ des Chores und der Gemeinde nicht durch sein Verhalten, sondern durch die Verhältnisse: Während sich Ivánovs Chorkonzept in der Tradition der Liturgie als „unblutiges Symbol“ versteht, markieren die Ereignisse von 1905 und 1914 sowie zwischen 1917 und 1920 (und später: die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921) eine Verschiebung zu einem durchaus blutigen und akuten Opfer 415 , demgegenüber nicht nur die obengenannten, archaisierenden Opfer- und Chordarstellungen westlichen Typs problematisch werden. Mit dem ganz unkünstlerischen, zunehmend auch ganz unheiligen Wandel des Revolutions‘alltags’ gerät alles Außeralltäglich-Künstlerische, Mythologisch-Rituelle zunehmend in den Zwang, die „Reinheit der [proletarischen] Idee“ 416 herauszustellen. Wie viele Kritiker verschiedentlich anmerken, erfordern die Pläne für ein „nationales Ritual“ (Bonč- Tomašévskij: II.1.1., FN341) und für eine Erneuerung des Theaters keine Gemeinschaft mit voluntaristischen Zielen, sondern einen gestalteten Chor mit definierten Kriterien. Diese fallen bei Ivánov jedoch seit jeher spärlich aus 417 : Einerseits tritt in seinen reformulierten Leitlinien das Auditive (die Priorität von Wort und Atmung, von Stimme und Musik) hinter das Visuelle zurück: Unklar ist, wessen Stimme/ n der Chor verkörpern soll, und welche Perspektive/ n er damit einnehmen darf (Die faktische als Institution? Die fiktive als dramatis persona? Einen allwissenden Erzähler, die allegorisierte Revolu- Widerspruchs bewusst mit der Anmerkung, dass eine Verwandlung, die nicht ästhetisch wird, rituell bleibt (Ivanov.(1916).[1916]1971.274f.), hielt jedoch am Versuch einer „Synthese“ beider Prinzipien fest. 415 Heiler in Stupperich.1969.125f. - Ivanov.(1916).1917.37f. 416 „Zunächst entstand innerhalb der Sektion [für Massenschauspiele und Spektakel] der Plan, als Thema für den [Mai-]Feiertag einen antiken Mythos zu verwenden, der symbolisch im Sinne des Kampfes des Proletariats gegen den Kapitalismus interpretiert werden sollte. Dabei wurde der Mythos des Prometheus vorgeschlagen, der von großer Bedeutung und in der Weltliteratur reichhaltig ausgearbeitet ist. Doch dann kam die Sektion auf den Gedanken, dass es nicht richtig wäre, während der Feier zum 1. Mai griechische Mythen wiederherzustellen. Sie sind den proletarischen Massen fremd und bringen in keiner Weise deren eigene Ideologie, deren eigene Stimmungen zum Ausdruck. Der erste proletarische Feiertag soll die Reinheit seiner Idee vor jeglichem Anflug ihm fremder Kulte bewahren, vor biblischen Mythen oder christlichen Ritualen, selbst vor den bürgerlichen Festen der Französischen Revolution.“ (NN: „Plan organizacii pervomajskich toržestv na ulicach Moskvy, razrabotannyj sekciej massovych predstavlenij i zrelišč teatral'nogo otdela Narkomprosa, opublikovannyj v žurnale ‘Vestnik teatra’“ [„Organisationsplan der Mai-Feierlichkeiten in den Straßen Moskaus, ausgearbeitet von der Sektion für Massenschauspiele und Spektakel der Theaterabteilung des NarKomPros, veröffentlicht in der Zeitschrift ‘Der Theaterbote’“] (05.-08.02.1920). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.42.101.) - Die Abkehr von der griechischen Antike wurde seit Mitte 1918 ein Hebelpunkt bei der Ausgrenzung der klassisch gebildeten Intelligencija. (Vgl. Kap.I.4., FN314 und Kap.III.2., FN538.) 417 Markov.(1957).1974.429f. <?page no="129"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 125 tion, das aufständische Proletariat, die künftigen Generationen? ), unter welchen Gesichtspunkten seine Vereinheitlichung erfolgt, und wie das Verhältnis zu den Protagonisten (die nur sprechen sollen - II.1.5., FN404) oder zum Publikum ist (das nur schweigen soll? ). „Denken und Wollen des Volkes“ (FN412) mag sich in verhaltenen lautlichen Gemütsregungen oder in aktiven gesungenen Kommentaren des Chores äußern — doch ohne genauere Angaben zu seinen dramaturgischen ‘Befugnissen’ (Parts als Modulierung, Kontrastierung, oder gar als Eingriff in das allgemeine Geschehen? in die Handlung einzelner Protagonisten? ) bleibt unklar, ob seine Autorität nun ‘symbolhaft’ oder nur ‘symbolisch’ oder einfach nur Begleitmusik ist. Zudem war die Vorbereitungszeit der Massenfeiern und -schauspiele stets äußerst knapp und eher materiellen und technischen Abläufen als Choreographie- oder Gesangs-Proben vorbehalten 418 . Die vokale Vielstimmigkeit lässt sich daher von außen als ‘kollektives Rauschen’, und von innen als die geforderte „Anthropomorphie“ vorstellen: jeder Einzelne singt mit seiner individuellen Tonlage und Atemfrequenz, und hört das Gleiche vom Nachbarn. Als ästhetisches Kriterium für den Chor bleibt somit nur die unscharfe und verschleppte Gleichzeitigkeit seiner Stimmen, ein verschliffener und synkopischer Rhythmus mit einer Brüchigkeit (die das theatrale Ereignis vielleicht deshalb befördert und zur Improvisation hin öffnet? ). Anderseits ist eine klare optische Intensivierung / Dynamisierung des Chores vorgesehen, indem der öffentliche Raum strategisch-proxemisch markiert und genutzt werden soll („malerisches Gewand“, „öffentliche Feiertage und Plätze“) durch expressive und harmonisierte Bewegungsabläufe des Chores („choreographisches Element“, „Auftritte“, „Prozessionen“, „Formation rhythmischer Bewegungen“ - FN412), sowie durch die Möglichkeit häufiger Standort- und Perspektivwechsel des Publikums. Doch auch hier fehlen jegliche Anhaltspunkte zur Vereinheitlichung des Chores, zum Stellenwert von Einzelgesten oder zur Reichweite von Interaktionen mit den Protagonisten und dem Publikum. Somit ergeben Ivánovs historisierende Anleihen bei antiken Kultpraktiken noch keine Handlungskriterien für ein „nationales Ritual“: Glaubensgemeinschaft und Theatergemeinde sind nicht aufeinander reduzierbar. Der Chor bleibt als ‘Stil’element eines idealisierten Gesellschaftsmodells im „Umgang mit dem Symbolischen“ verhaftet, anstatt sich als sema, als „Element eines [neuen] Kodes“ 419 in umbrechenden Machtverhältnissen und Handlungsmöglichkeiten zu erproben und zu emanzipieren: Er formuliert die Voraussetzung anstatt den Vollzug von Handlung, und re--produziert damit eine vorgefertigte, ‘symbolische’ Form, statt sie einer re--generierenden, ‘symbolhaften’ Transformation zu unterziehen — anstatt im Gebrauch Gestalt zu werden. So entwirft Ivánovs Chor - ähnlich den flüchtigen optischen ‘Markierungen’ 418 Pumpjanskij (1919) in Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.20.80f. 419 Certeau.[1980]1988.193. <?page no="130"?> K APITEL II. 126 der ersten Revolutionsfeiern (Kap.III.4.) - eher eine vorübergehende akustische Besetzung des öffentlichen Raums, eher die Vorbereitung einer neuen ‘Hörart’ als die Gründung einer neuen Kulturpraktik. 420 II.2. Vsevolodskijs „Dejstvovanie“ Abseits der Krisenpolemik leistet der Theaterhistoriker und -pädagoge V.N. Vsévolodskij-Gérngross seit 1910 einen eminenten, bisher kaum bekannten Beitrag zur Neuorientierung des Theaterwesens, indem er den Krisen- und Diskursbegriff „Handlung“ zu einer kulturanthropologischsozialgeschichtlichen Typologie entwickelt, und damit jene „histrionischen Grundlagen“ (Deržávin/ Movšenzón/ Serž: Kap.I.1.1., FN210) erforscht, die wenig später von der Theater-Avantgarde genutzt und gefordert wurden. Unter dem Motto „Theater ist die Kunst der Handlung“ 421 wird diese Typologie zwar erst 1929 in seiner materialreichen Geschichte des russischen Theaters aufgefächert. Doch während Ájchenval’ds „Negation des Theaters“ noch den Wendepunkt der Theaterkrise darstellt, markiert Vsévolodskijs Geschichte des theatralen Bildungswesens in Russland 422 im gleichen Jahr (1913) bereits eine Schlüsseletappe der russischen Theaterhistoriographie: Mit der emphatischen Begriffsverlängerung von „déjstvo“ (Schaffensakt, Kult- / Spielhandlung: Einleitung 5., FN166 - Kap.I.1.5., FN269 - II.1.3. - Kap.IV.3., FN749) zu „déjstvovanie“ betont Vsévolodskij die Prozesshaftigkeit und das Präsentische von Handlung, und postuliert neben einer genetischen erstmals auch eine strukturelle Affinität zwischen Ritual und 420 Auch in der Folgezeit gab es keine umfassende, zentrale Chorbewegung, wie sich aus den Theaterperiodika und einer Darstellung Lunačarskijs von 1925 schließen lässt, worin dieser eine professionelle Chorleitung nach dem Muster der Französischen Revolution entwirft. (Lunačarskij, A.V.: „K učastiju v prazdnike privleč’ massy“ [„Zur Beteiligung am Festtag sind die Massen heranzuziehen“] (1925). In: Ders.1981.122f.) (= Lunačarskij.(1925/ a).1981.) Trotz seines Vorsitzes der theaterhistorischen Sektion der TEO kann Ivanov seine Idee von Sobornost’ nicht umsetzen: das Konzept „Chor“ wird solange vom Konstrukt „Proletariat“ angefochten, bis der lange Atem der Revolution im langen Arm der Reaktion erstickt. Im Rückblick erscheint es einleuchtend, dass die außerästhetische Verankerung von Sobornost’ ihre produktive Unschärfe allein in der naturalistischen Enklave des Moskauer Künstlertheaters (MCh[A]T - ein ‘Nationalheiligtum’) und seiner Studios entfalten konnte, die alle Zeitläufe und politische Verwerfungen überdauerten (was auch an der ‘konservativen Schwerkraft’ des allgemeinen Kunst-Geschmacks lag: vgl. Kap.III.4., FN601.) - Zu Ivanovs Entwurf vgl. Keržencevs auf Festlichkeit und Beteiligung ausgerichtetes Konzept von dezentralen und mobilen Gesangs-Chören und Musik-Einlagen (Kap.IV.1. - Keržencev.[1920]1980.145f.) 421 Vsevolodskij.1929.Bd.1.71. 422 Vsevolodskij-Gerngross, V.N.: Istorija teatral’nogo obrazovanija v Rossii [Geschichte des theatralen Bildungswesens in Russland]. St. Peterburg 1913. <?page no="131"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 127 Theater 423 . Bei aller Vorsicht vor begrifflichen Engführungen lassen sich die Parallelen zum heutigen Verständnis von „Performativität“ nicht leugnen: Vsévolodskij zufolge steht die Theaterkrise im Zeichen eines „nervösen ruckartigen Rhythmus“ des Zeitgeistes und einer „Vulgarisierung“ des Theaters 424 . Beides resultiere aus einer jahrhundertelangen Überformung durch höfische Repräsentations-Importe und spektakelhaft-spektakuläre West- Technologien, und infolgedessen aus der anhaltenden Abspaltung und Vernachlässigung der russischen Volkskultur 425 . Dabei unterliege gerade die Bewegungsform / die Motorik einer elitären Theater-Avantgarde den Regeln dekorativer Malerei oder einer fremden Maschinenästhetik 426 , anstatt die Dynamik von „Handlung“ als primordiale Kategorie von Theater zu begreifen und allen Bevölkerungsschichten zu erschließen 427 . Erst der (evolutionäre) Rückgriff auf das eigene Volksbrauchtum und die eigene Festkultur könne die (revolutionäre) Erneuerung des Theaterwesens befördern, und diverse Kunst-„Ismen“ zu einer Monumentalform verbinden. Entsprechend gilt Vsévolodskijs Interesse jeder Art von Veranstaltung — ob christlichem Staatsbegräbnis oder heidnischem Jagdzeremoniell, ob atheistischem Freimaurerritual oder sowjetischer Militärparade (FN443). In diesem Kontext wird die Revolution erstmals selbst als eine übergreifende „cultural performance“ 428 aufgefasst: „Was für ein riesiges, weltweites, kosmisches Thema, was für ein großartiges Spektakel wird derzeit auf der ganzen Welt gespielt, und besonders bei uns in Russland! Und diesem Schauspiel des Lebens entsprechen keine Foxtrotts, Schimmis, Detektivgeschichten wie Pinkerton & Co. — ihm entspricht allein eine grandiose Tragödie, in der sich die Reden von Titanen mit den Repliken des Chores abwechseln.“ 429 In diesem Sinne bilden Jevréinovs Postulat einer „prä-ästhetischen“ Theatralität (Einleitung 3.) sowie Ájchenval’ds Idee von Theater als einem „Splitter von etwas Größerem“ (Kap.I.4.) den Ausgangspunkt von Vsévolodskijs Überlegungen. Doch da ihm weder die Expansion eines „Theaters als 423 Stachorskij.1988.250f. 424 Vsevolodskij-Gerngross, V.N.: „Leningradskij Gosudarstvennyj Ėksperimental’nyj teatr“ [„Das Leningrader Staatliche Experimentelle / Experimental-Theater“]. In: Chudožnik i zritel’ [Künstler und Zuschauer]. N°2-3, 1924. S.34. (= Vsevolodskij. (1924/ a).) 425 Vsevolodskij, V.N.: „Levyj teatr sego dnja“ [„Linkes Theater heute“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°6, 1924. S.6. (= Vsevolodskij.(1924/ b).) - Ders.: „Nekotorye voprosy stanovlenija russkogo teatra“ [„Einige Fragen zur Entstehung des russischen Theaters“]. In: Teatr [Theater]. N°11, 1948. S.33f. - Vsevolodskij. (1924/ a).34f. 426 Vsevolodskij.(1924/ b).7. 427 Vsevolodskij.(1924/ a).35. - Stachorskij.1988.251. 428 Der Begriff „cultural performance“ geht auf M. Singer zurück und bezeichnet eben jene Arten von Veranstaltungen, die Vsevolodskij beschreibt. (Singer, M.: „Preface“. In: Ders. (Hg.): Traditional India. Structure and Change. Philadelphia 1959. S.IXf.) 429 Vsevolodskij.(1924/ a).34f. <?page no="132"?> K APITEL II. 128 solchem“ (Jevréinov), noch die Verkürzung eines „Theaters als Negation“ (Ájchenval’d) einen weiterführenden Ansatz bieten, greift er Brjúsovs Grundthese von Theater als „unmittelbarer Handlung“ (Kap.I.1.4., FN256), Ájchenval’ds Alternativformel von Theater als einem dynamisch-kinesischen Prinzip 430 sowie das Handlungsgebot von Sobórnost’ auf. Von hier aus entwickelt Vsévolodskij einen Theatralitätsbegriff, worin die Handlung einen uneingeschränkt vorrangigen Platz einnimmt, dicht gefolgt vom Wort im Sinne von Intonation, und auf Distanz zum Bild als Spektakel. So heißt es spätestens im Gründungsprogramm zum (von Piotróvskij hervorgehobenen: Kap.I.1.5., FN266) Staatlichen Experimentellen / Experimental- Theater (GĖT): „Das Experimentelle / Experimental-Theater hat all demjenigen den Kampf angesagt, das als untrennbares Hilfsmittel des Theaters / .../ fast zu dessen Hauptbestandteil geworden ist. Als seinen Hauptfeind betrachtet [unser] Theater die Spektakelhaftigkeit. Der Kampf gegen das Theater-Spektakel und die [Ver]Suche eines Theaters der Handlung — dies ist die grundlegene Stoßrichtung unseres Theaters. / .../ unser Theater ist bestrebt, auch ein anderes Verhältnis des Zuschauers zur Handlung zu finden, nämlich: seine passive, kontemplative Haltung zu überwinden und ihn zu einer aktiven, handlungswirksamen zu bringen.“ (1923) 431 Grundsätzlich versteht Vsévolodskij unter „dejstvovanie (als Prozess) im Unterschied zu den alltäglichen, zufälligen Handlungen / .../ einen organisierten Komplex menschlicher Handlungen, die sich formal entweder in Lauten und Bewegungen, oder zumindest in einem dieser Elemente äußern. [kursiv und fett MD]“ 432 Zwischen diesen beiden Polen, die Ájchenval’d als Legitimationskriterium von Theater implizierte (Kap.I.4.), erforscht und erprobt Vsévolodskij den Handlungsbegriff in recht gegenläufigen Kontexten: Einerseits pflegt er in seiner Instituts- und Theaterpraxis 433 eine besondere Statuarik, die dezidiert das auditive / lautliche Moment hervorhebt: Sein 430 Vsevolodskij, V.N.: „Dejstvennoe iskusstvo“ [„Eine handlungswirksame Kunst“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°394, 1920. S.2. (Vsevolodskijs Verweis auf Ajchenval’d). 431 Vsevolodskij.(1924/ a).35. - Das Konzept des GĖT (Gosurdarstvennyj Ėksperimental’nyj Teatr, Petrograd/ Leningrad, 1923-1928), fand eine weniger erfolgreiche Fortsetzung in dem ebenfalls von Vsevolodskij gegründeten „Ethnographischen Theater“ (1930-1939), das dem Russischen Museum (Leningrad) angegliedert war. (Stachorskij. 1988.320.) 432 Vsevolodskij.1929.Bd.1.56f. 433 Seit 1920 gehört Vsevolodskij zum Lehrkörper des renommierten GIII (Einleitung 3., FN72). Außer der Mitgründung und hauseigenen Regietätigkeit am „Institut des lebendigen Wortes“ („Institut živogo slova“, 1919-1923, Petrograd) kooperierte Vsevolodskij mit verschiedenen Theaterstudios. So war er z.B. Lehrbeauftragter für Theatergeschichte in der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“, die eine eminente Rolle für die Manöverinszenierungen und in Kap.IV. spielt (Vinogradov-Mamont, N.G.: Krasno- <?page no="133"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 129 „Institut des lebendigen Wortes“ versteht sich als Beitrag zur Vitalisierung der Theaterkunst durch Musik und Reigenhandlungen, insbesondere durch die Lautlichkeit und Intonation von Wort und Rede 434 . Ferner erprobt das „Experimentelle / Experimental-Theater“ Volksspiele und Rituale, die das Opfermotiv aufgreifen (im geschlossenen Bühnenraum) 435 . Anderseits steht das kinesische / proxemische Moment im Vordergrund seiner kulturpolitischen Bemühungen, etwa in seinen Beiträgen während der „Städtischen Sitzung zur Frage des Arbeiter-und-Bauern-Theaters“ im NarKomPros von Petrograd (31.03.1919) 436 , und beim Vortrag auf dem „1. Allrussischen Kongress zum Arbeiter-und-Bauern-Theater“ in Moskau (17.-26.11.1919) 437 — zwei Veranstaltungen, bei denen die kulturpolitische Weichenstellung der Manöverinszenierungen stattfindet: Wenn „die Rampe nicht mehr als Wand zwischen dem Zuschauer und dem Schauspieler stehen soll“, heißt es dort, müssen nationale Volksfeste und Reigenhandlungen gefördert werden, denn das Volk zeige seine Aktivität eher bei Tanzvergnügungen, als beim einfachen Theaterbesuch. 438 Damit ist jedoch keineswegs das ‘motorische Ornament’ der kritisierten Theater-Avantgarde, sondern eine spezifische Form von Handlungswirksamkeit gemeint: armejskoe čudo. Povest’ o Teatral’no-dramaturgičeskoj masterskoj Krasnoj armii [Das Wunder der Rot-Armisten. Erzählung über die Theaterwerkstatt der Roten Armee [1966]. Leningrad 1972. S.33f.), und er war Co-Leiter eines Studios zur Ausbildung von theatralen Bezirks-Instrukteuren. (NN: „Chronika“ [„Chronik“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°446-447 vom 08./ 09.05.1920. S.2.) Zum typischen Personalmangel dieser Zeit mit den daraus resultierenden Ämterhäufungen und Mehrfachbesetzungen siehe auch die Tätigkeitsbereiche von M.F. Andreeva (Kap.III.4.: FN583+586). 434 „Im Übrigen ist es gerade das unwillkürlich an das Wort, den Logos gebundene Intonations-Element der Aufführung, das dem Auditorium das Kernstück der Handlung erschließt. Das Fehlen einer Intonationskultur am Theater zeugt von der Oberflächlichkeit der Herangehensweise. Die Konstruktivität von Bühnenbauten zu erfassen - zumal mit den Händen eines Malers - ist leichter, als die Tonalität mit dem eigenen Ohr und der eigenen Stimme zu erfassen.“ (Vsevolodskij.(1924/ b).7.) - Vgl. Ivanovs „Anthropomorphie“ in II.1.5., FN403/ 404. 435 Auf dem Spielplan bis 1924 standen folgende Aufführungen: W ELTUNTERGANG von V. Brjusov, D IE UNGÖTTLICHE K OMÖDIE von Z. Krasinskij, Č ITRA und D IE O PFER - GABE von R. Tagore, schließlich die erfolgreichste und ‘dynamischste’ Inszenierung vom R ITUAL EINER RUSSISCHEN B AUERNHOCHZEIT nach Vsevolodskijs eigenen ethnologischen Forschungen. (Vsevolodskij.(1924/ a).36.) 436 NN: „K Vserossijskomu s’ezdu po raboče-krest’janskomu teatru“ [„Zum allrussischen Kongress des Arbeiter-und-Bauern-Theaters“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°106 vom 28.03.1919. S.1. - NN: „Gorodskoe soveščanie po voprosu o rabočekrest’janskom teatre“ [„Städtische Sitzung zur Frage des Arbeiter-Und-Bauern- Theaters“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°110 vom 03.04.1919. S.1. (= „Städtische Sitzung Arbeiter-Und-Bauern-Theater.1919.“) 437 Jufit.1968.62f. 438 „Städtische Sitzung Arbeiter-und-Bauern-Theater.1919.1.“ <?page no="134"?> K APITEL II. 130 Vsévolodskij verortet die „Theaterkunst“ oder „die Kunst der Handlung“ prinzipiell fernab von dramatischer Literatur 439 im außerästhetischen Bereich 440 , und definiert „Handlung“ als gleitende Sequenz einer Evolution in drei Phasen 441 . Neben einer Vielzahl von Mischformen unterscheidet er eine „arbeitsbezogene, eine kultische (rituelle, bei uns volksheidnische und christliche) und eine ludische“ Grundhandlungsart 442 , wobei zu letzterer das Theater zähle: „Volksspiele und Zeremonien, der Kirchenritus und das Theater im heutigen Verständnis stellen bloß verschiedene Phasen in der Entwicklung ein und desselben Phänomens dar [der Handlung, MD], die den verschiedenen Entwicklungsphasen der menschlichen Gesellschaft entsprechen. / .../ Auf dieser Basis [der Unmöglichkeit, die Handlungsarten trennscharf gegeneinander abzugrenzen, MD] betrachten wir in der vorliegenden Arbeit Volksspiele und Bräuche wie auch Kirchenriten als jeweilige Varianten von Theater auf der gleichen Ebene, wie die späteren modernen Theaterformen.“ 443 Aus dieser Abstufung geht zum einen das funktionale Wechselverhältnis dieser drei Grundhandlungsarten hervor: Zunächst bestimme sich die Affinität von arbeitsbezogener und magischer / kultischer Handlung durch eine „utilitäre Zweckausrichtung“ 444 , nämlich die „Notwendigkeit“ zur primären Versorgung des physischen und materiellen Lebens. Mitunter erhält die Kulthandlung den Vorrang in der Hierarchie des Dreiphasenmodells 445 — als wollte Vsévolodskij sich mit dieser Priorität anfangs einen flexiblen Zugriff auf sein Forschungsfeld sichern gegen die zunehmenden, materialistischen Arbeits- und Aufbaulehren (vgl. FN457/ 460). Weiterhin nehme die utilitäre Zweckausrichtung beim Ritual ab und weise ihm auch begrifflich eine Brückenfunktion zu (rituál: Ritual, Kulthandlung - obrjád: Brauch, Zeremonie) 446 . Dabei fällt auf, dass Vsévolodskij dem Ritual kein deutliches Motiv, aber dezidiert eine Utilitarität zuweist, die ein konkretes Bedürfnis impliziert: zwischen „Notwendigkeit“ und „Vergnügen“ lässt sich die Mittelstellung des Rituals als ‘Reduktion von Handlungsunsicherheit’ 439 Stachorskij.1988.250. - Vsevolodskij.(1948).38. 440 Vsevolodskij.1929.Bd.1.73. 441 Ders.Ebd.58f. 442 Vsevolodskij.(1948).33f. - Vsevolodskij.1929.Bd.1.62. - Stachorskij.1988.255. 443 Vsevolodskij.1929.Bd.1.58f. 444 Ders.Ebd.60f. - Jevreinov lehnt das Utilitaritätskriterium für seinen Theatralitätsbegriffs einerseits strikt ab. (Ders.: „Teatralizacija žini. Ex cathedra“ [„Die Theatralisierung des Lebens. Ex cathedra“]. In: Ders.1923.37.) Anderseits legitimiert er Theatralität durch Analogien wie „Appetitlichkeit“, „Dekorativität“, „Anmut“, „Schönheit“, die ihrerseits bestimmte Funktionen und Bedürfnisse erfüllen, jedoch nirgends auf diese Nützlichkeit befragt werden. (Ders.: „Teatral’nye invencii“ [„Theatrale Inventionen“]. In: Ders.1923.98f.) 445 Stachorskij.1988.250f. - Vsevolodskij.(1920).2. - Vsevolodskij.1929.Bd.1.59. 446 Stachorskij.1988.256. - Glebkin.1998.19. <?page no="135"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 131 umschreiben. Schließlich bestehe die Utilitarität von Theater und Spiel in einer mimetischen, zunehmend „spektakelhaften“ Reproduktion dieser Versorgungsprozesse und diene dem „Vergnügen“, weshalb diese sekundäre Funktion gleichwohl „sinnvoll“ und „bedeutsam“ sei 447 . Bestimmte Funktionsanteile von Theater und Spiel, lässt sich hier vorerst folgern, agieren zwar im Grenzgebiet und wirken in den außerästhetischen Bereich hinein, bleiben aber auf der ästhetischen Ebene verankert (vgl. Brjúsov: Kap.I.1.4., FN256/ 259). Eine andere, m.E. fundamentale und noch weiter zu erforschende Leistung dieser Auffächerung besteht zum anderen in der Aufdeckung der zeitlichen Werte und zeitlichen Relationen der genannten Handlungsarten, die ganz offensichtlich die orthodoxe Zeitphilosophie aufgreifen (Berdjáev, Kap.I.1.2.) und mit dem eigenen Theatralitätsbegriff verknüpfen: Vsévolodskij postuliert grundsätzlich die Erkennbarkeit des Zeitgefüges innerhalb der Theaterhandlung: Indem Theater einerseits aus den verschiedenen Zeitwerten seiner Elemente bestehe (z.B. der Haltbarkeit bestimmter Theaterrequisiten; hier wären etwa die provisorischen Dekorationsmaterialien der Revolutionsfeiern im Kontrast zur Dauerhaftigeit des dort erhobenen sozialen Anspruchs zu nennen) und anderseits die Form- und Funktionsanteile aller drei Handlungsarten beerbe, kodiert Theater die Spuren seiner vorausgehenden Phasen und die Vorzeichen auf seine nachfolgende Entwicklungsstufe 448 . Vsévolodskijs Triade stellt also keinen evolutionären ‘Verlust’ dar, sondern eine gleitende Verlagerung von Handlung in andere Funktionszusammenhänge: in einer Art ‘Polychronie’ impliziert die Theaterhandlung stets ihre Entstehungsbedingungen und hält dabei alle drei Handlungsarten und Zeitdimensionen in unterschiedlichen Anteilen bereit 449 . Der Bezug zum Ursprung und zu den Folgen bildet solcherart die ‘Matrix’, vor deren Hintergrund bestimmte Motive und Sequenzen von Handlung ihre akute Un/ Gültigkeit erweisen — eine Verifikation, die jeweils nur im Modus des Präsentischen erfolgen kann, und auch nur dort eine Reflexivität und Identität stiftet („Gegenwart“, „Augenblick“ - Kap.I.1.2.). Aus dieser diachron und synchron variablen Kernstruktur pragmatischer, kultischer und vor allem ludischer Elemente bezieht Theater seine spezifische Handlungswirksamkeit, denn: „/ .../ außerhalb der Handlung gibt es auch kein Theater.“ 450 447 Vsevolodskij.1929.Bd.1.60f. 448 Ders.Ebd.76f. 449 Schütz/ Luckmann sprechen von einer „aktuellen“ bzw. „potenziellen Reichweite“ von Welt, die im subjektiven Bewusstseinsstrom die „Chance auf Wiederherstellbarkeit“ erlangt. (Schütz/ Luckmann.1979.Bd.1.79f. - Siehe auch Kap.I.1.2., FN229.) Überhaupt gibt es dort zahlreiche Parallelen zwischen dem zeitlichen Erleben als Voraussetzung sozialen Handelns und dem Zeit- und Sozialkonzept Berdjaevs. (Schütz/ Luckmann. 1979.80.-98.) 450 Vsevolodskij.1929.Bd.1.56. - Vgl. hierzu das Präsentische der orthodoxen Heilslehre. (Einleitung 5. - „Exkurs: Die Zeit im orthodoxen Verständnis“ in Kap.I.1.2.) <?page no="136"?> K APITEL II. 132 Das Verhältnis des Menschen zu diesen drei Grundhandlungsarten - so Vsévolodskij weiterhin - werde entsprechend bestimmt durch „Wissen“ („Arbeit“), „Aberglaube“ („Ritual“) oder „Phantasie“ („Spiel“). Dabei tendiere die „Arbeit“ zur Reduktion („Notwendigkeit“), das „[Theater]Spiel“ hingegen zur Expansion („Vergnügen“). Die rituelle Handlung nimmt hier wiederum eine Mittelstellung ein zwischen „Wissen“ und „Phantasie“ (die Vsévolodskij abermals undefiniert lässt), und neigt wechselweise zur Reduktion / Konzentration oder zur Expansion / Komplikation. 451 Für die Manöverinszenierungen ergeben sich daraus folgende Überlegungen: Als Grenzgänger zwischen (diachronem) Statuswechsel (Fest: „Vergnügen“ [Expansion / Komplikation]) und (synchroner) Statusänderung (Ritual: krisen- und kriegsbedingt eher „Notwendigkeit“ [Reduktion / Konzentration] als „Vergnügen“) 452 weisen die Manöverinszenierungen analoge Tendenzwerte auf. Vsévolodskijs Zeitwerte „Expansion“ und „Reduktion“ entsprechen Lunačárskijs vorrevolutionären Zeitaspekten „Augenblick“ und „Ewigkeit“ (1908 - Kap.I.1.3., FN248 - dazu auch II.3.) und den daraus entwickelten, nachrevolutionären Ablaufspannungen der Revolutionsfeiern („Lunačárskijs ‘Perspektivwechsel’“, II.3.). Beide Zeitbegriffsreihen korrespondieren zudem mit W. Benjamins Geschichtsthesen, deren Zeitfiguren als ultimative Reduktion (die Schüsse der Aufständischen am ersten Kampftag der Französischen Revolution auf die Turmuhren von Paris) oder aber als ‘schwebende’ Expansion von Zeit (eine „von Jetztzeit erfüllte Zeit“) 453 beschrieben werden. In religionsphilosophischer Sicht tendieren beide Zeitfiguren zu einer überzeitlich-präsentischen Dimension, zu einem zeitenthobenen (Berdjáev: „entzeitlichten“ - Kap.I.1.2., FN235) Zustand der Erlösung. Im kulturanthropologischen Rückbezug auf die Manöverinszenierungen gewährleistet die besagte ‘Polychronie’ von Zeitwerten (Zeitdimen- Hier erweist sich Vsevolodskij als ein Vordenker späterer Ritualtheorien, wie die Ausführungen von Ch. Wulf und J. Zirfas zeigen: „Performatives Handeln [als Bestandteil des Rituals, MD] ist nicht nur reproduktiv oder produktiv, es ist vor allem reflexiv, selbstidentifizierend: Es vollzieht, was es bezeichnet und verweist so auf seine Entstehungsbedingungen. (Und es kann diesen Verweis zugleich sichtbar und unkenntlich machen.)“ / .../ „Soziales und kulturelles Handeln ist mithin insofern mimetischperformativ, als es in seinem Vollzug auf seine Herkunft verweist, als es das Soziale individuell wie vice versa das Individuelle sozial zum Ausdruck bringt, als es eine körperliche Durch-, Aus- und Aufführung ist und als es schließlich die Kontinuität und Differenzialität der sozialen Wirklichkeit hervorbringt und gestaltet.“ (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).108.+111.) 451 Vsevolodskij.1929.Bd.1.60f. 452 Vgl. hierzu die Thesen in der Einleitung 4. und 5., sowie in Kap.I.1.5. 453 Benjamin.(1940).1991.701f. - Die fehlenden Turmuhren an orthodoxen Kirchen (Einleitung 5., FN175) und im Symbolrepertoire eines jüdischen Philosophen sind nur ein Beispiel für die Parallelen zwischen Ivanovs „prophetischem Zeitalter“ (Kap.I.1.3.), Lunačarskijs „Gottsuchertum“ (II.3.) und Benjamins „Messianismus“. (Zu diesen Überschneidungen siehe auch: Berdjaevs Zeitverständnis in Kap.I.1.2. und Ajchenval’ds Ausführungen zum Hören in Kap.I.4., FN333/ 336.) <?page no="137"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 133 sionen) eine gemeinschaftsstiftende Entlastung: „Insofern ist die einzigartige Öffnung des Zeithorizontes eine unerläßliche Voraussetzung für die Stabilisierung des Handelns. Erst weil der Mensch die Zeitstelle seines Bewußtseins relativ frei auf der Linie zwischen Gegenwart und Zukunft verschieben kann, gelingt es ihm, sich der Reizüberschwemmung der Gegenwart zu entziehen [fett und kursiv MD].“ 454 Aus dem bisher gezeigten Evolutionsverlauf definiert Vsévolodskij Theater im engeren Sinne mit der Herausbildung von und der Ausrichtung auf ein Publikum, d.h. mit dem Moment öffentlicher Interaktion: „Wobei jede Handlung im Beisein von Zuschauern ihrerseits zu einem ‘Spektakel’ wird, d.h. zu einem ‘theatralen’ Phänomen im späteren [modernen, MD] Verständnis.“ 455 Hier wird Theater als Teil eines konzentrischen Modells deutlich, das sich den drei Handlungsarten entsprechend am Einbezug der Teilnehmer orientiert („Arbeit“: Beteiligung [učástie] - „Ritual“: Partizipation [součástie] - „Spiel“: Konsumption [potreblénie]), und damit auch an der Wechselwirkung verschiedener Perspektiven 456 . Doch während das allgemeine Ziel und Vsévolodskijs Forderung einer „Aktivität des Volkes“ diesem konzentrischen Modell zufolge die Möglich- 454 Tenbruck in Lenk.1978.90., 100f., 106. - Schaeffler in Hahn/ Hünermann/ Mühlen. 1977.20f.+42. - Vgl. Schütz/ Luckmann.1979.Bd.1.80f. 455 Vsevolodskij.1929.Bd.1.60.+68. 456 Ders.Ebd.68.+284f. - E. Burns’ Theatralitätsbegriff wird aus der graduellen Wahrnehmung des Zuschauers / Teilnehmers in Bezug auf die gezeigte Handlung entwickelt und klingt in Vielem wie die Neuauflage von Vsevolodskijs konzentrischem Theorem: „Theatricality / .../ attaches to any kind of behaviour perceived and interpreted by others and described (mentally or explicitly) in theatrical terms. / .../ There is of course always a social norm to which such people [from different cultures] adhere and of which people in another society may be unaware, so that degrees of theatricality are culturally determined. / .../ ‘Behaviour’, indeed, becomes ‘action’ when it is recognised as expressing intention. / .../ So a demonstration, a street fight, a wedding or even a family quarrel glimpsed through a window becomes a show for those who watch, and, although the acts which are, for those who are involved, instruments directed at accomplishing an immediate objective, that accomplishment is often complete if the full meaning and intention of their actions is apprehended by others. It is only then that the consequences they wish to achieve can in fact be accomplished.“ (Burns, E.: Theatricality. A study of convention in the theatre and social life. London 1972. S.13f.) - Goffman untersucht und verortet diese Unterschiede anhand und innerhalb situationsspezifischer Rahmen (Einleitung 3., FN48) — und auch er klingt (insbesondere in Bezug auf den Zeitaspekt) wie ein Epigone Vsevolodskijs: „Wenn zwischen verschiedenen Rollen bei einer Tätigkeit unterschieden wird - was häufig vorkommt -, so haben die verschiedenen Beteiligten im allgemeinen ganz verschiedene Auffassungen davon, was vor sich gehe. In gewissem Sinne ist das, was für den Golfspieler Spiel ist, für den Balljungen Arbeit. / .../ Des weiteren liegt auf der Hand, dass in vielen ‘Situationen’ vieles gleichzeitig geschieht, vieles, was im allgemeinen zu verschiedenen Zeitpunkten begonnen hat und enden kann. / .../ Der Zeitraum, der ‘gegenwärtig’ ist (und das Raumstück, das dem ‘hier’ entspricht), kann offenbar bei verschiedenen Gelegenheiten und für verschiedene Beteiligte sehr verschieden sein / .../ .“ (Goffman.[1974]1993.17.) <?page no="138"?> K APITEL II. 134 keit von und die Partizipation an Kulthandlung bereithält (FN445), wird letztere zugleich immer pauschaler als „Arbeitsteilung“ abgehandelt. 457 So erhält die Arbeitshandlung im Zuge nationaler Aufbau-Interessen der NÖP-Zeit eine Vormachtstellung. Unter dem Einfluss des materialistischmenschewistischen Soziologen und Philosophen G.V. Plechánov 458 rücken für Vsévolodskij Wissenschaft und Technik als übergreifende Leitdisziplinen primärer Arbeitsprozesse und ihrer sekundären Ausdrucksformen auch das Proletariat und seine (theatrale) Produktivkraft immer stärker in den Vordergrund des revolutionären Kulturlebens (vgl. Kap.I.1.4., FN256/ 259) 459 . Das Theorem von den Zeitwerten / dem Zeitgefüge von Handlung als Kriterium für die Art der Handlung wird nicht weiterverfolgt. Und die Frage nach der Perspektive erschöpft sich zunehmend in einer Frage des Proporz: während zuvor der „Palmsonntag“ für die Akteure ein Ritual und für das Publikum Theater war, gilt er nun für beide Seiten - d.h. für eine ‘absolute’ Mehrheit - als Produktionsvorgang. Ob hinter oder auf der Bühne, oder unter freiem Himmel — die vorab fertiggestellte Technik bestimme die Aufführung als ein „Halbfabrikat“, das je nach Fertigungsstufe von einer jeweils anderen Utilitarität sei: „Hier [im Produktionsprozess ‘Theater’, MD] gibt es zweifellos eine Analogie mit vielen anderen Produkten [menschlicher Tätigkeit], obwohl dort gewöhnlich die physische oder chemische Verarbeitung eines Halbfabrikats beobachtet wird, während am Theater das materielle Halbfabrikat der Aufführung weder seinen Zustand, noch seine Form verändert, sondern lediglich in eine Reihe verschiedenartiger äußerer Wechselbeziehungen tritt.“ 460 Die Beschaffenheit, den Stellenwert und die Folgen dieser Wechselbeziehungen lässt Vsévolodskij jedoch weitgehend offen. Im Zuge sozialpolitischer Volten und Revolten - so scheint es - wirkt die Beständigkeit materieller Errungenschaften allemal verlässlicher, als die Zuverlässigkeit von Beziehungen, geschweige denn von „äußeren“, theatralen „Wechselbeziehungen“. Vsévolodskijs (r)evolutionsbedingte Kehrtwende zur alle Bereiche überformenden Arbeitshandlung übernimmt letztlich Ivánovs konjunktiven Wahrnehmungsmodus („Synthese“), jedoch unter dem Vorzeichen der Produktionskunst 461 und der kommunistischen Kulturfraktion 462 : 457 Vsevolodskij.1929.Bd.1.58.+76f. - Vsevolodskij.(1948).35. 458 Plechanov, G.V.: „Pis’mo tret’e“ [„Dritter Brief“]. In: Ders.: Pis’ma bez adresa. Iskusstvo i obščestvennaja žizn’ [Briefe ohne Adresse / Adressaten. Kunst und öffentliches Leben]. Moskva 1956. S.63f. - Plechanovs in Briefform verfasste kulturanthropologische Studien gelten als programmatische Grundlage einer materialistischen Kunsttheorie in Russland. 459 Vsevolodskij.1929.Bd.1.66. - Stachorskij.1988.252.+321. 460 Vsevolodskij.1929.Bd.1.77f. - Stachorskij.1988.252. 461 Arvatov, B.: „Kunst und Organisation der Umwelt“ (1926). In: Ders.: Kunst und Produktion [1926] (Hg.v. H. Günther und K. Hielscher). München 1972. S.52f., bes. S.62f. - Ders.: „Widerspiegeln, nachahmen oder gestalten? “ (1922). In: Ebd.80f., bes.82. - Ders.: „Theater als Produktion“ (1922). In: Ebd.85f., bes.87. <?page no="139"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 135 der resultative, rationalisierbare Aspekt von Theater und Handlung rückt als quantifizierbares Produkt ins Zentrum, wohingegen der ludische, energetische, symbolhafte Austausch von Theater und Handlung als sozialisierende Produktivität / Produktivkraft in den Hintergrund tritt. Für die Vernachlässigung symbolhafter ‘Markierungen’ von Handlung („Bühnenrampe“) zugunsten eines materialistischen Modells von Arbeit gibt es drei Indizien: Wie bereits gezeigt, lässt Vsévolodskij das Ritual zwar gelten, dafür aber dessen „Notwendigkeit“ oder Funktion undefiniert. Ferner wird im Evolutionsverlauf von „Handlung“ die Übernahme kultischer Aufgaben durch Theater zwar nahegelegt, nicht aber auf die Folgen oder den Gewinn dieses Transfers hingewiesen 463 . Zuletzt werden Material und Personal in Bezug auf den Arbeitsprozess gleichgesetzt: „Die Technik am Theater ist eine nicht minder wirksame Kraft, als der Schauspieler selbst.“ 464 Gerade diese Gleichung wird zu einem zentralen Topos für die Petrograder Manöveraufführungen und die späteren Massenspektakel („Zielvorgabe: ein Maximum an Technik, ein Minimum an lebenden Kräften.“ - Schlusswort 3., FN1125). Wie Piotróvskij und viele andere Zeitzeugen zählt Vsévolodskij zu den Differenzkriterien der Manöveraufführungen gegenüber anderen theatralen Gattungen „echte“ Waffen, „authentische“ 465 Gegenstände und technisches Gerät, ferner einen Chor im Sinne einer „gut organisierten Masse“ mit „echten“ Militäreinheiten und einem „natürlichen“ Perso- 462 Gan, A.: „Bor'ba za ‘Massovoe Dejstvo’“ [„Der Kampf um das ‘Massenschauspiel’“]. In: Bljum, V. / Beskin, Ė. / Ferdinandov, B. (et al.): O teatre [Über Theater]. Tver’ 1922. S.72f. - Hier wird die strukturell verwandte, funktional ‘spiegelverkehrte’ Position zwischen Ivanov („dejstvo“ als Kulthandlung) und Gan („agit-dejstvo“ als Aufbauarbeit) deutlich: zwischen beiden stellt der spätere Vsevolodskij eine Art ‘Transmissionsriemen’ dar. 463 Vsevolodskij deutet diese Funktionsübernahme bloß an (Vsevolodskij (1913) nach Stachorskij.1988.251.): „Für die Gesellschaft einer Epoche üben all diese Handlungsformen [„Volksspiele und Zeremonien, der Kirchenritus und das Theater“ - FN443] etwa gleichartige Funktionen aus.“ (Vsevolodskij.1929.Bd.1.58.) 464 Ders.Ebd.39.+75f. 465 Mit „authentischen“ Gegenständen sind hier Objekte gemeint, die ihrem ursprünglichen, intendierten Zweck gemäß für den alltäglichen, außerästhetischen Gebrauch konzipiert und produziert worden sind. Der hier und heute in nahezu allen Lebensbereichen inflationäre und fetischisierte Begriff „Authentizität“ zielt allerdings auf eine gänzlich andere Kategorie, und erscheint mir im Kontext von „Theatralität“ und in Bezug auf Theater völlig verfehlt: auf die Absurdität einer „authentischen“ Barrikade wurde bereits hingewiesen (Kap.I.1.4.: „Exkurs: Kann es unechte Barrikaden geben? “) — der gleiche Blödsinn manifestiert sich im Bereich Politik. Hier spricht man gerne von einem „authentischen Politiker“ — dabei würde ein guter / entschlossener und aufrichtiger / zuverlässiger Politiker bereits völlig ausreichen (siehe dazu auch Schlusswort 5.). „Authentizität“ oder „authentisch“ werden in der vorliegenden Arbeit daher prinzipiell in Anführungszeichen gesetzt. (Zur Klärung und besseren Dosierung des Begriffs siehe: Böckelmann. 1975.83f. - Sennett, R.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. F.a.M. 1986.) <?page no="140"?> K APITEL II. 136 nenkontingent, sowie die hieraus resultierenden, „wirklichen“ Empfindungen und Äußerungen wie Schreien und Stöhnen, „realistische“ Bewegungen und Handlungen wie Märsche, Zusammenstöße, Verfolgungsjagden und Gefechte, Angriffe und Festnahmen, oder auch das Herausstellen „realer“ Arbeitsprozesse 466 . Durch diese Pauschalisierung und Fetischisierung mag Vsévolodskij beispielsweise einen Festumzug mit fabrikneuen Lastwagen eher als technischen Fortschritt eines „Halbfabrikats“ begreifen, als darin auch das symbolhafte Fortschreiten von „Wechselbeziehungen“ zu erkennen (vgl. dazu „Effektivität“ vs. „Effizienz“ im Schlusswort 4.). Die Begeisterung kann in beiden Fällen gleichermaßen „echt“ sein — doch mit dem Symbolbezug verändert sich die Bedeutung der Veranstaltung im Ganzen: Im holprigen Gelände wird die technische Fahrtauglichkeit als Mobilität, auf gerader Piste als Schnelligkeit demonstriert, während auf sozialer Ebene eine ‘klassenübergreifende’ Verkehrstauglichkeit zwischen Ingenieur / Intelligéncija und Monteur / Proletariat inszeniert wird — wofür der Lastwagen nur das Vehikel wäre. Daraus folgt für den späteren Vsévolodskij, dass ungeachtet aller inszenatorischer Rahmensetzungen selbst eine klare „Allegorik“ weder ein Gegengewicht noch einen Gegenentwurf zum „Naturismus“ der Manöverinszenierungen bildet, sondern diesen umso deutlicher unterstreicht 467 : Weder eine „formative Kreativität“ (Iser - Einleitung 3., FN63) noch die ‘orthodoxen Medien’ (Einleitung 5., FN165) oder sonstige ideelle und soziale Spiel- oder Freiräume finden eine nennenswerte Berücksichtigung. Da, wo das Ding / die Technik und der Mensch / das Proletariat zusammenkommen, ereignet sich „Arbeit(sHandlung)“, die wiederum auch „(Arbeits)Handlung“ generiert. Als ob nur diese imstande sei, einen übergreifenden Zusammenhang der ursprünglichen Handlungsarten dauerhaft zu sichern, wird zwischen Produktivwert („Effizienz“) und Symbolwert („Effektivität“) nicht mehr unterschieden: vielmehr wird hier der Produktivwert als ‘Wert an sich’ sakralisiert 468 . Im Gegensatz zu Ájchenval’ds Kontaminationsangst laufen beide Ebenen bei Vsévolodskij nie Gefahr, ihre Wirkkraft oder Identität zwischen Dasein und ‘Dortsein’ zu verlieren: Durch die Revolution scheinen Mensch und Ding auf eine so unverbrüchliche Weise „authentisiert“ (s.o.: „echt“, „natürlich“, „wirklich“, „real“), dass sie gleichsam zu charismatischen Instanzen, zu subjektgleichen Autoritäten aufsteigen, d.h. „autorisiert“ werden, und - ob in Ivánovs transzendentem Sinne oder Vsévolodskijs immanenter Anwendung - ein unabweisbare, „absolute Vorgabe“ (II.1.5., FN399) bilden. So stellen Ivánovs Sakralisierung von Sobórnost’ (Kulthandlung) und Vsévolodskijs Pragmatisierung von Produktionsprozessen (Arbeitshandlung) eine strukturgleiche Resistenz dar gegen die Plastizität von theatraler Semiotisierung und sozialer Handlungswirksamkeit — und damit letztendlich gegen die „Berüh- 466 Vsevolodskij.1929.Bd.2.389f. 467 Ders.Ebd. 468 Hierzu auch Glebkin.1998.103. <?page no="141"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 137 rung mit der [jeweils] anderen Welt“ (Müller: Einleitung 5., FN169). Dennoch und deshalb verbinden sich mit diesen beiden Namen die wohl wichtigsten und produktivsten ‘Abbruchkanten’ (Ivánov) oder „Halbfabrikate“ (Vsévolodskij) der russischen Theaterforschung. II.3. Lunačarskijs ‘Perspektivwechsel’ Erst mit A.V. Lunačárskijs Beitrag wird ein ästhetischer Rahmen für die Massenfeiern verbindlich und in den Einzeluntersuchungen nachvollziehbar. Aus seinen Schriften als Berufsrevolutionär und Kulturkritiker verdichten sich seit der Theaterkrise bestimmte Postulate zu einem konsistenten Festkonzept, dessen ‘elastische’ (traditions- und innovations--offene) Ausdrucksform ein integrales Öffentlichkeitsmodell voraussetzt 469 . Dabei sei gleich angemerkt, dass Lunačárskij - stets als liberaler „Gottsucher“ 470 beargwöhnt - Theater und Kunst als komplementäre Kategorien zur, nicht als säkulare ‘Ersatzhandlungen’ von Religion begreift, und dies seinen Theoremen - auch nach der Oktober-Revolution - zugrundelegt: wie alle anderen Lebensbereiche und Tätigkeitsfelder gelten Theater und Kunst als Medium einer „kollektiven Psyche“ oder „überindividuellen Seele“, als Ausdruck von Individuation und Welterschließung (vgl. die ‘orthodoxen Medien’ in Einleitung 5., FN165). 471 469 Lunačarskij.(1920/ a).1981.84.-89. 470 Das „Gottsuchertum“ des „Silbernen Zeitalters“ (Ende 19. / Anfang 20.Jh.) war ein philosophischer Kreis, der sich mit symbolistischen Zirkeln überschnitt und nach den Möglichkeiten von Religiosität außerhalb der Kirche als Institution suchte. Nicht zufällig taucht diese Bewegung zeitgleich mit dezentralen Strukturen von militärischer Selbstverwaltung (Schaffung von Soldatenausschüssen und Soldatenräten) und theatraler Selbstorganisation (Bildung von Studiotheatern und Laien-Zirkeln) auf (beides 1905). (Einleitung 1., FN1 - Kap.IV.5.2., FN818) Und ebensowenig zufällig entsteht Durkheims Religionsbegriff in dieser Zeit (Einleitung 5.). 471 Lunačarskij in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.24f. - „Messianische“ Vorstellungen und physiologische Vorgänge greifen bei Lunačarskij elegant ineinander, ohne identisch zu werden: So entspreche „der Geist, die Seele“ den im „Nervensystem des Hirns“ verarbeiteten Erlebnissen, und die Wahrnehmungsorgane korrespondierten aufs Engste mit den Bewegungsorganen des Menschen (Ebd.10f.). Die Zerreibung der damit verbundenen Produktivkräfte im Kampf der Klassen und Nationen sei ein „Fluch“ (Ebd.25.); daher sei allein „das Proletariat als die Klasse der physischen Arbeit“ (Lunačarskij.(1919/ b).1981.308.) mittels Agitation dazu berufen, „die Bedeutung der revolutionären Predigt / Propagierung / Botschaft“ (propoved’) zu vertreten und zu verbreiten, von der sich Lunačarskij eine „Erlösung der Kunst“ erhofft (Lunačarskij.(1920/ b).1981.101.) — denn: „Der Sozialismus als Doktrin ist eine wahrhafte, ihrer mythischen Hüllen entkleidete Religion der Menschheit / .../ .“ (Lunačarskij in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.26. - Vgl. dort S.12f.+35. - Sonst auch: Lunačarskij: „Reč’ na otkrytii Instituta živogo slova“ [„Rede zur Eröffnung des Instituts des lebendigen Wortes“] (1918) (Gemeint ist Vsevolodskijs Institut.) In: Ders.1981.219. - Lunačarskij.(1919/ b).1981.312.) <?page no="142"?> K APITEL II. 138 Lunačárskijs Vorstellung von Kulturrevolution wird stets archetypisch formuliert und leitmotivisch wiederholt, und hat eine erkennbar chiliastischmanichäische Prägung: „Leid und Untergang sollen als Akte des großen Kampfes zwischen Gut und Böse gezeigt werden. [kursiv MD]“ 472 Die Relativität oder Gültigkeit dieser Tendenzwerte wird dementsprechend an einem provisorischen Ort erprobt — im transitorischen Theater sowie im flüchtigen Fest: „Der Aufstand gegen die Realität — dies sollte die zentrale Idee der kulturellen Predigt / Propagierung / Botschaft [própoved’] von Theater sein; / .../ Der Aufstand gegen den Realismus — dies sollte das Prinzip szenischer Aufführung sein / .../ .“ 473 Im Vorwort zu Vsévolodskijs Geschichte des russischen Theaters betont Lunačárskij ausdrücklich die Notwendigkeit einer Verschränkung von „Spektakel“ und „Handlung“ 474 hinsichtlich der dort aufgefächerten Typologie unterschiedlicher cultural performances (Singer). Das Fest und die Manöveraufführung als Ausdrucksformen eines sozialen Konsens werden somit erstmals und eindeutig als Inszenierungen von Wirklichkeit postuliert. Bereits 1908 benennt Lunačárskij zwei komplementäre Ansätze als Krisen-Remedien, deren Zeitaspekte „Augenblick“ und „Ewigkeit“ eines „freien“ und „schöpferischen Kultes“ (Kap.I.1.3., FN248) dem Zeitverständnis Berdjáevs entsprechen („Die Zeit im orthodoxen Verständnis“, Kap.I.1.2.), und damit zwei Ablaufspannungen und Gestaltungsvorlagen der Revolutionsfeiern und Manöverinszenierungen vorzeichnen: „Das öffentliche Theater wird der Ort kollektiver Tragödien-Aufführungen sein, die die Seelen zu einer religiösen Ekstase, einer stürmischen oder philosophisch friedlichen, emportragen. Neben der öffentlichen Initiative, d.h. den Tragödienaufführungen durch die Stadtverwaltungen, den Akademien der Künste und der Feste wird die private Initiative einen breiten Raum erhalten. Dichter, Maler, Sänger, Musiker, Schauspieler / .../ können sich zu freien Bünden zusammenschließen mit dem speziellen Ziel, die Vision eines beliebigen Dramatikers oder gar Philosophen auszuarbeiten und zu verwirklichen. Im Ergebnis dieser kollektiven schöpferischen Tätigkeit gleichgesinnter Mitbürger und Mitkünstler entstehen grandiose Dramen, Prozessionen, und 472 Lunačarskij in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.17. - Vgl. hierzu das Motiv vom „Kampf des Lichtes und der Dunkelheit“ am 01. Mai 1918 in Kap.III.4., FN596. 473 Lunačarskij in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.38. 474 Lunačarskij, A.V.: „Predislovie“ [„Vorwort“]. In: Vsevolodskij.1929.Bd.1.11. <?page no="143"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 139 Zeremonien, welche die eine oder andere kulturelle Richtung zum Ausdruck bringen. [kursiv MD]“ 475 Im Frühjahr 1920, als die Hauptgefahr der Konterrevolution gebannt scheint 476 , konkretisiert Lunačárskij - nunmehr Volksbildungskommissar - diesen doppelten Ansatz zu einem zweifachen Festkonzept: „Die Volksfeste müssen sich unbedingt in zwei grundverschiedene Akte teilen. In einen Massenauftritt im eigentlichen Wortsinn, der die Bewegung der Massen aus der Vorstadt zu einem gleichen Zentrum vorgibt, und wenn es zuviele sind zu zwei-drei Zentren, wo sich irgendeine zentrale Handlung vollzieht in der Art einer erhabenen symbolhaften Zeremonie. Das kann eine grandiose, dekorative, feuerwerkhafte, satirische oder feierliche Aufführung sein, das kann ein Verbrennen feindlicher Embleme sein usw., das von einem donnernden Chorgesang, einer eingeübten und sehr vielstimmigen Musik begleitet wird, die den feierlichen Charakter im eigentlichen Sinne ausmacht. / .../ Der zweite Festakt ist eine Feierlichkeit mit intimerem Charakter, entweder in geschlossenen Räumen, denn jeder beliebige Raum soll sich auf seine Art in ein revolutionäres Kabarett verwandeln, oder auf offenen Plätzen: Bahnsteigen, fahrenden Lastwagen, einfach auf Tischen, Fässern usw. Hier ist entweder eine flammende revolutionäre Rede möglich, oder die Deklamation von Strophen, der Auftritt von Clowns mit einer Karrikatur auf die feindlichen Kräfte, irgendein hochdramatischer Sketch, und vieles andere mehr. Aber wichtig ist, dass all diese Kleinkunstunterhaltungen in jeder Nummer Tendenzcharakter haben. Gut ist, wenn hier ein unbändiges, unmittelbares Lachen hineinkommt.“ (Ende April / Anfang Mai 1920) 477 Als Grundmotiv und Rahmen-Markierung der Revolutionsfeiern und Manöverinszenierungen werden ein kinesisch-proxemisches sowie ein akustischmusikalisches Moment hervorgehoben, die sich zu einer komplementären Dynamik verbinden, wie sie von Ivánov und Ájchenval’d vorformuliert und von Vsévolodskij als Krisen-Remedium erforscht wurden („Laute“ und „Be- 475 Lunačarskij in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.28. (Vgl. Kap.I.1.3.) - Auch bei Lunačarskij lässt sich nur vermuten, was mit „religiöser Ekstase“ gemeint ist: ein kollektives Rauschphänomen mit starkem Zusammengehörigkeitsgefühl, das ebenso für Sportveranstaltungen kennzeichnend wäre. - Der religiöse Topos taucht noch 1921 auf, im nicht umgesetzten „Szenarium für eine Massenhandlung zum Feiertag der Dritten Internationale“ als „Tempel der Wissenschaft“ und „der Kunst“ (Autoren: Lunačarskij und M. Gor’kij). (Lunačarskij, A.V.: „Prazdnik revoljucii“ [„Der Feiertag der Revolution“] (1921). In: Ders.1981.96.) 476 Die Niederschlagung der Konterrevolution verbindet sich wesentlich mit dem Sieg über die „weißen“ Generäle: Judenič wurde Ende 1919 geschlagen, Kolčak im Januar 1920, Denikin im März 1920 (Wendepunkt), Vrangel’ im November 1920 (Ende des Bürgerkriegs). Die Polen-Offensive und der Krieg an der Westfront (Frühjahr bis August 1920) stellte diese Erfolge zwar kurz, aber radikal wieder infrage. 477 Lunačarskij.(1920/ a).1981.86. <?page no="144"?> K APITEL II. 140 wegungen“ - II.2., FN432), und die sich mit laufender Festerfahrung bewährt hatten: „Ich denke, dass für die ganze Stadt ein zentraler Punkt der Feier eine bestimmte Handlung sein sollte, die das Wesentliche der Feier zum Ausdruck bringt. / .../ d.h. eine komplexe Masseninszenierung, die ein zentrales Moment unserer Revolution drastisch darstellt. / .../ Anfang und Ende der Feier können durch gewaltige Fanfaren markiert werden / .../ “ 478 . Die kollektiv angestimmte Internationale soll - als Alternative zum eingeübten Chor - „der Masse das Gefühl ihrer Stärke und Einheit geben“ und sich zeiträumlich fortsetzen durch „Volkstänze auf allen Plätzen“ und „auf Tribünen mit Musik, die die populärsten Motive spielt“ 479 . Die angestrebte Verbindung, Alternierung und Ausdehnung von Dimensionen und Hierarchien (außen / innen, Zeremonie / Kabarett, groß / klein) kommt wiederum in einem ‘organischen’ Sinnbild zum Ausdruck, das als klangliche, motorische und proxemische Metapher funktioniert: „Auf diese Weise [ergibt / ergießt sich] eine enorme Welle des Volkes, die zunächst von den Randgebieten zum Herzen heranströmt, [und] sich dann in eine Vielzahl größerer und kleinerer Wirbel zerschlägt. [kursiv MD]“ 480 Im Unterschied zu Vsévolodskij ist festzuhalten, dass bei Lunačárskij Arbeitshandlungen dann einbezogen werden, wenn der symbolhafte Wert den pragmatischen überwiegt und sich mit dem zentralen Festmotiv verbindet. Hierbei handelt es sich um Praktiken mit einem kultischen Kern wie „Baumpflanzungen, die Pflege und Verschönerung von Gärten, die Grundsteinlegung verschiedener Denkmäler oder der Beginn notwendiger Bauten u.ä.m.“ 481 , also Handlungen, die auf Langfristigkeit abzielen und analog dazu die Langlebigkeit des neuen Staates vermitteln und beschwören. Als Aufbaumaßnahmen sind sie zugleich Gegenstücke der an russischen Gedenk- und Festtagen zahlreichen und verbreiteten „Allohandlungen“ 482 . (In Genneps Klassifikation gehört Ersteres zu den Fruchtbarkeits- oder Initialriten, Letzte- 478 Lunačarskij.(1925/ a).1981.122. - Diese von 1925 datierenden Positionen wiederholen die bereits früher formulierten Vorschläge („Über die Volksfeste“, 1920) in prägnanterer Form. 479 Lunačarskij.(1925/ a).1981.124f. - Kursiv des Autors. 480 Ders.Ebd.125. 481 Lunačarskij.(1920/ a).1981.87. 482 „Auch die Handlung des für russische Feiertage so wichtigen Zerstörens kann als Allohandlung durch Zerreißen, Ertränken, Verbrennen, Begraben und ähnliches realisiert werden. [fett MD]“ (Koschmal in Posner/ Robering/ Sebeok.1997.827.) Hierbei handelt es sich nicht um eine evolutionäre Weiterentwicklung der archaischen, kulturgenerierenden Opferhandlung: denn bei Allohandlungen hat man es mit abgenützten Dingen und überlebten Symbolen zu tun, die deshalb nichtmehr „rein“, d.h. weder opfernoch kultfähig sind. (Zu den Stichworten „Reinheit“, „Statusreinheit“, „Statuswürde“, „Kultfähigkeit“ und „Kulturfähigkeit“ siehe Kap.IV.5.1., FN780.) <?page no="145"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 141 res ist eindeutig als Trennungsritus erkennbar. 483 ) Diese Kombination tradiert einen heidnischen Ursprung, wobei die Präsenz des Zerstörungsmotivs in der russischen Festkultur (Vernichten von verbrauchtem Gerät, Verbrennen unheilvoller Symbole) sich dominant im Drama und im Theater des Bürgerkriegs fortsetzt (Verurteilen von Zuständen, Verhöhnen von Feinden) 484 und den Antagonismus „alt“ und „neu“ mit dem „Kampf zwischen Gut und Böse“ (Lunačárskij, s.o.) verschränkt. Es leuchtet ein, dass die Fortentwicklung dieses Ursprungs nicht in einem konstanten Spannungsverhältnis verläuft. Vielmehr stellen Aufbau- und Allohandlungen einen performativen Umkehrmechanismus dar und bilden das reagible Kernstück sowohl der Revolutionsfeiern als auch der Manöverinszenierungen. Auch deshalb erscheint mir der emblematische Begriff „Gründungsmythos“ (Einleitung 4., FN154/ 156) zu starr und außerdem verfrüht: für den hier behandelten Zeitraum fungiert der beschriebene Mechanismus vielmehr als ein ‘Vorher-Nachher’-Muster im Sinne einer „Öffnung des Zeithorizontes“ (Tenbruck: II.2., FN454), als ein Verifikationsmodell der Revolutionsereignisse und der Kriegsrealität. Die Vorbehalte und die Distanz gegenüber dem Bild und dem Spektakel, die bisher als Paradigma bei Andréev und Ájchenval’d, Ivánov und noch bei Vsévolodskij aufgezeigt wurden, wirft hier allerdings die Frage auf nach ihrer Vereinbarkeit mit Lunačárskijs Festkonzept als einem „Prinzip szenischer Aufführung“, das unmissverständlich dem Gestus des Zeigens verpflichtet ist (FN472): Wie kann sich das Visuelle als Bestandteil eines öffentlichen Festkonzeptes, eines allgemeingültigen Verifikationsmodells behaupten, wie sollen Dimensionen und Hierarchien (groß / klein, etc.) abwechseln und ostentativ ‘auftrumpfen’, wenn „Horchen“ (Ájchenval’d, Vsévolodskij) und „Handeln“ (Ivánov, Vsévolodskij) eine Tendenz zum ‘Gehorchen’ und zur ‘Folgsamkeit’ aufweisen? 485 Meine These hierzu lautet, dass in Lunačárskijs Festkonzept - ob bewusst oder nicht - die Symbolik der „ mgekehrten Perspektive“ als orthodoxes Ordnungsprinzip, als perzeptiver Umkehrmechanismus zur Anwendung und zum Ausdruck kommt. Ergänzend zum performativen Umkehrmechanismus aus Allo- und Aufbauhandlungen legitimiert allein die „ mgekehrte Perspektive“ das Bild(nis) - nicht im Sinne eines „Emblems“, sondern als Medium - und ermöglicht neben dem Gebot von Sobórnost’ eine „Berührung mit der 483 Gennep.[1909]1986.21f., 168f., 127. 484 Tamašin.1961.37. 485 „Die Seinsweise von Sichtbarem und Hörbarem ist grundsätzlich verschieden. Das Sichtbare verharrt in der Zeit, das Hörbare hingegen vergeht in der Zeit. Sehen hat es mit Beständigem, dauerhaft Seiendem zu tun, Hören hingegen mit Flüchtigem, Vergänglichem, Ereignishaftem. Daher gehört zum Sehen eine Ontologie des Seins, zum Hören hingegen eher ein Leben vom Ereignis her. Aus dem gleichen Grund hat das Sehen eine Affinität zur Erkenntnis und Wissenschaft, das Hören hingegen zu Glaube und Religion. [fett MD]“ (Welsch in Wulf/ Kamper/ Trabant.(1993).94. Dazu auch Wulf in Wulf/ Kamper/ Trabant.(1993).12., sowie Kerényj.(1938/ b).[1971]1995.91.) U U <?page no="146"?> K APITEL II. 142 anderen Welt“ (Müller: Einleitung 5., FN169). Um dies zu verdeutlichen ist hier ein kurzer Exkurs notwendig, der den Ausführungen des Mathematikers und Naturwissenschaftlers, Philosophen und Priesters P.A. Florénskij folgt. 486 Exkurs zur „Umgekehrten Perspektive“ Die „ mgekehrte Perspektive“ oder „Bedeutungsperspektive“ ist ein Verfahren der mittelalterlichen Malerei, insbesondere der östlichen Ikonenmalerei, das sich als Gegenentwurf zur westlichen Zentralperspektive versteht, in dem Sinne, dass es die Euklidsche Geometrie als Voraussetzung verwirft, und allein das Sehen als (psychophysiologischen) Vorgang anerkennt. Dabei ist die Ikone - als Beispiel für diesen Vorgang und für diesen Exkurs - nicht nur als heiliges Produkt, sondern vor allem als eine Abfolge heiliger Handlungen zu begreifen: alle Prozesse im Zusammenhang mit der Herstellung und der Zwiesprache mit der Ikone (man betrachtet sie nicht als / wie ein „Bild“ — man verhält sich zu ihr wie zu einem Medium) sind überaus zeitintensiv 487 : denn die Ikone sperrt sich gegen die Zeit. Florénskij hadert mit der „Entwicklung der Perspektive“ als vorab festgelegtem Schema 488 und als historischem „Monopol“ der Renaissance (die übrigens auch die ersten Uhren hervorbrachte), weil 486 Florenskij, P.A.: „Obratnaja perspektiva“ [„Die umgekehrte Perspektive“] (1919). In: Ikonostas. Izbrannye trudy po iskusstvu [Die Ikonostase. Ausgewählte Werke zur Kunst]. Sankt-Peterburg 1993. S.175f. Florenskij - eine der widerständigsten und beeindruckendsten Persönlichkeiten dieser Zeit - stammt aus einem humanistischen, nicht-religiösen Haushalt, kam als promovierter Mathematiker und hochtalentierter Naturwissenschaftler zur Theologie und Philosophie, und wurde nach einem weiteren Studiengang mit Promotion zum Priester ordiniert. Er arbeitete auf beiden Gebieten und trat dabei stets mit Priestergewand und Brustkreuz auf — eine „Orthopädie des aufrechten Ganges“ (E. Bloch), die ihn Berufsverbot, Verbannung und schließlich den Kopf kosten sollte (Exekution 1937). Die Wiederentdeckung Florenskijs ist der russischen Kultursemiotik Ende der 1960er Jahre um Ju.M. Lotman und B.A. Uspenskij (Tartu, Estland) zu verdanken. (Werner, U.: „Pavel Florenskij: Lebensspuren“. In: Florenskij, P.: „Die Ikonostase“ (1922). In: Ders.: Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland. (Hg. v. U. Werner). Stuttgart 1996. S.7f., 13f., 18.) Lunačarskij und Florenskij verband nicht allein das hohe Ethos des „Gottsuchertums“ (FN470), sondern Weltläufigkeit, Aufbauwille und Verantwortungsbewusstsein während der Revolution: was Lunačarskij für den Erhalt des Theater-, Literatur- und Kunst-Erbes geleistet hat (Židkov.1991.55. - Schlögel.1988.458.), entspricht dem Einsatz Florenskijs zur Bewahrung von Klosteranlagen und Kirchen-Inventar, Bibliotheken und Altertümern in Form von wissenschaftlichen Gutachten und Vorlesungen zur Kunst am berühmten VChuTeMas (Höhere künstlerisch-technische Werkstätten). 487 Geistige und fachliche Vorbereitung des Malers, Studium der Vorbilder, Entwurf der Komposition, Herstellung der Farben und Firnisse, Ausführung (Malerei, Metallbeschlag), Segnung und Einweihung, Zwiegespräch des Gläubigen. (Vgl. Einleitung 5., FN165.) 488 Florenskij.(1919).1993.205. U <?page no="147"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 143 „das perspektivische Weltbild keine Tatsache der Wahrnehmung ist, sondern bloß eine Forderung im Namen irgendwelcher, vielleicht zwingender, aber entschieden zu abstrakter Überlegungen. [Herv. d. Autors]“ 489 Die daraus resultierende, „patentierte“ Illusion eines perspektivischen Naturalismus „im Sinne einer äußerlichen Wahrheitstreue, als Nachahmung der Realität, als Anfertigung von Doppelgängern der Dinge, als Gespenst der Welt, ist nicht bloß unnötig, / .../ sondern auch einfach unmöglich [vgl. Ájchenval’ds Zwitter- / Wiedergänger-Motiv, Kap.I.4.]. Die perspektivische Wahrhaftigkeit, falls es sie gibt, / .../ ist eine solche nicht aufgrund der äußeren Ähnlichkeit, sondern aufgrund der Abweichung davon - d.h. [sie ist wahrhaftig] gemäß ihrer inneren Bedeutung - da sie symbolhaft ist. [Herv. d. Autors]“ 490 Die bis zur Bewusstlosigkeit verinnerlichten, neuzeitlichen Bildkonventionen und Sehweisen werden durch die Bedeutungsperspektive der Ikonenmalerei stark verfremdet, infrage gestellt oder ganz außer Kraft gesetzt: Proportionen wirken verzerrt und Distanzen willkürlich, Lichtquellen sind widersprüchlich und Schattenwürfe unlogisch, Farbwerte werden durch Lichtwerte konterkariert, diese wiederum durch Linien oder Schraffierungen unterbrochen. Zahlreiche Achsensprünge und Flächenkrümmungen sowie der artifizielle Kode bestimmter Vorgänge und Situationen vermitteln eine ‘hochfrequente’ bis dramatische, oft gar ‘tumult--artige’ Grundstimmung ( ❐ 1), die kaum auf eine Alltagsempirie rückführbar ist. (So verweist die Chiffre für einen geschlossenen Raum - ein roter Vorhang unter freiem Himmel, als gefälteltes Band über zwei Berge, Türme u.Ä. drapiert - auf das in Kap.I.1.2., FN222 erwähnte Vorhangszeremoniell am byzantinischen Hof: vgl. hier ❐ 2). Umso ‘länger--wellig’, vertrauter und charismatischer wirken die konzentrierten Mienen, lotsenartigen (das heißt vor allem: unmissverständlichen) Gesten und pantomimischen Haltungen der Figuren, in deren ‘Aura’ gleichsam „die Bewegung zum Ritual, der Gegenstand zum Emblem, das Wort zum Signal wird / .../ .“ (Piotróvskij: Kap.I.1.5., FN266 - hier ❐ 6-12 - Gregor/ Fülöp- Miller.1928.18f.). Dieser Kontrast verstärkt den heterogenen, gleichwohl komprimierten Gesamteindruck, denn als Lesehilfe fehlt der Zentralpunkt als Ordnungsmaß — der sogenannte „monarchische Punkt“, der Florénskij zufolge die privilegierte Sichtweise des Künstlers fixiert und zum exklusiven Meinungsmonopol zementiert, wobei sein „rechtes Auge“ zum optischen Kontrollorgan, zur „gesetzgebenden“ Steuer- 489 Ders.Ebd.234.+218., 221.+235. 490 Ders.Ebd.238f. <?page no="148"?> K APITEL II. 144 zentrale und Machtinstanz des „Weltenlaufs“ wird 491 . (Auch sonst kann dieser Punkt jeweils nur vom Einzelnen, von einem Wagnerschen „Solisten“ [II.1.1.] eingenommen werden, und verhindert ein gleichzeitiges und gemeinsames Erleben.) Dieses „Auge des Zyklopen“ (Florénskij) entspricht dem weiter oben beschriebenen „Blick der Medusa“ (Welsch: Kap.I.4., FN332), der Distanzen und Hierarchien - man denke an J. Benthams „panopticon“ im siècle des lumières oder an die Peepshow im heutigen Neonlicht - ausschließlich von dort vor- und festschreibt, ohne das Subjekt des Sehens („Ich“) in eine Relation, geschweige denn in eine Verantwortung zum Gesehenen zu bringen („Wir“). Dagegen folgen die Größenordnungen und Gewichtungen der mgekehrten Perspektive einer ganz anderen Logik, denn: die Ikone sperrt sich gegen Zeiträume. Hier wird eine entfernte Figur zwar im Hintergrund plaziert, jedoch nicht perspektivisch verkürzt, sondern in der Größe und Fläche der ihr zugeschriebenen Bedeutsamkeit gezeigt: „Dies ist die Eigenschaft jenes [besagten, MD] geistigen Raumes: je weiter etwas entfernt ist, umso größer ist es, und je näher, umso kleiner ist es [Herv. d. Autors, kursiv MD].“ 492 Ganz gleich, welcher Kontext (Mumien- / Totenporträt, Heiligenbild, Herrscherdarstellung) oder welche Epoche die Ikone hervorbringt: die Bedeutungsperspektive widersetzt sich einer realistischen / naturalistischen Raumhierarchie und damit einem alltäglichen Zeitkontinuum. Dies wird in einem vierfachen Effekt augenfällig. Wenn das Nahe klein und das Ferne groß ist, wird einmal die prinzipielle Reversibilität von Vorder- und Hintergrund, von Peripherie und Zentrum, und so die Umdeutbarkeit von Motiven und Zusammenhängen dezidiert herausgestellt („Die Ersten werden die Letzten sein.“: Mt 19, 29-30). Zudem bleibt dadurch der eingangs genannte, orthodoxe ‘Sicherheitsabstand’ zwischen (ästhetischer) Fiktion und (außerästhetischer) Realität gewahrt, denn: „Wir werden nicht eingesogen in diesen Raum; mehr noch — er treibt uns vor sich her, so wie ein Meer von Quecksilber unseren Körper hinausdrängen würde. [kursiv MD]“ 493 Ferner macht die Ikone dem Betrachter auf diese Weise eine zweifache Gesetzmäßigkeit von Wahrnehmung bewusst, die jeglichen Illusionismus ausschließt, und die darin besteht, Räumlichkeit nicht ins / im „Jenseits“ des Bildes auszudehnen / zu fiktionalisieren, sondern räumlichen Abstand im „Diesseits“ des Schauens herzustellen / einzuhalten: als eine optische (physiologische, physikalische) Bedingung des Sehens 491 Ders.Ebd.255., 221., 258f. 492 Ders.Ebd.225. 493 Ders.Ebd.225. - Zur schwach ausgebilde(r)ten „Jenseits“-Konzeption der Orthodoxie siehe hier ❐ 3 sowie Einleitung 3., FN65 und ❐ 3. „ “ U <?page no="149"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 145 im Moment der Betrachtung. Damit markiert der perzeptorische ‘Sicherheitsabstand’ eine klare Grenze und verweist auf die zeiträumliche Distanz als eine ontische Voraussetzung, um vom Sehen zu einem Erkennen zu gelangen 494 : Der Blick, die Sichtweise und der Betrachter werden durch das Gegenüber der Ikone zu einer wiederholten Re--Vision herausgefordert und gelangen so in den orthodoxen ‘Daund-Dort’-Kreislauf, denn ihre komplexe Komposition fordert dem Betrachter bewusst ein Höchstmaß an Kombinationsleistung ab und zielt vorsätzlich auf eine zeitintensive, überzeitliche Zwiesprache — auf eine zeitenthobene (Berdjáev: „entzeitlichte“ - Kap.I.1.2., FN235) Dimension. (Die „Zeit“ steht - entgegen der geläufigen Formulierung - nicht „still“: die „Zeit“ wird nicht „aufgehalten“, sondern als Konstrukt betrachtet und suspendiert - siehe Kap.I.1.2.). Schließlich werden die Elemente der Ikone und die Verfahren ihrer Ausführung dadurch nicht zu fixen Maßstäben deklariert, sondern als verhandelbare Realwerte transparent, denn: „Der Künstler stellt nicht die Sache dar, sondern das Leben der Sache gemäß seinem Eindruck, den er von ihr hat.“ 495 Dies ist durchaus intendiert: Wie in Bezug auf die orthodoxe Zeichen- und Bilderwelt und auf Sobórnost’ zu sehen war, ist Bedeutung ausnahmslos zeichenhaft und dialogisch, erfordert also immer eine Be--Wertung durch den Produzenten und den Rezipienten (Einleitung 5., FN157+158 und FN166/ 171 - II.1.3., FN370). Die Ikone ‘fordert’ daher keine Andachtsstarre — sie ‘verdient’ eine Andachtshaltung, denn: „/ .../ nichts Bestehendes [kann] als gleichgültiges oder passives Material zur Erfüllung welchen Schemas auch immer betrachtet werden / .../ .“ 496 Diese mit dem Betrachter geteilte, mit--geteilte Identifikationsbasis fungiert insofern als Umkehrmechanismus, der Vorgegebenes nicht bloß (doppelgängerhaft, gespenstergleich) spiegelt, sondern im Einbezug zweier Adressaten und zweier Welten zu einer „Bedeutungsperspektive“ beglaubigt. Somit geraten die disparaten Elemente der Ikone beim Betrachter erst dann in ein funktionales Verhältnis, wenn die Passivität und Starre des (individualistischen, exklusiven, monopolisierten) Zentralpunktes überwunden wird durch ein wiederholtes Abtasten und Anpassen des Blickes, durch eine andauernde Mobilisierung der psychophysiologischen Prozesse des Seh-Aktes 497 : „In der lebendigen Vorstellung vollzieht sich ein ununterbrochenes Strömen, Verlaufen, Verändern, Ringen; fortwährend spielt, sprüht, pulsiert sie, ohne jemals bei der inneren Betrachtung zum toten Schema einer 494 Ders.Ebd.256. 495 Ders.Ebd.268. - Vgl. dazu auch Berdjaevs Anthropozentrismus im „Exkurs zur ‘Zeit’“ in Kap.I.1.2., FN227/ 228. 496 Florenskij.(1919).1993.205. 497 Ders.Ebd.218., bes.270f. <?page no="150"?> K APITEL II. 146 Sache zu erstarren.“ 498 In der Plastizität dieses Vorgangs verschränken sich Seh-Akt und Tastsinn 499 zu der gebotenen „Berührung mit der anderen Welt“ (Müller: Einleitung 5., FN169): durch die Bewegung der eigenen in Bezug auf die andere/ n 500 . So wird die gewendete, wandelbare Sicht der Dinge letztendlich zu einer wechselseitigen, dialogischen, gemeinschaftlichen Orientierung im ‘Da’ und ‘Dort’ der Welt. Indem nun Lunačárskij - ob bewusst oder nicht - im großen und kleinen Kreislauf seines Entwurfs die langgestreckten Pilgerzüge von Kirchenprozessionen mit dem kleinteiligen Gewimmel bei Volksfesten kombiniert (Kap.III.4., FN568/ 569 und FN596), erhöhen sich die äußere, optische ‘Oberfläche’ der Menschenströme, sowie die inneren, gestischen ‘Kontaktflächen’ oder performativen ‘Reibungsflächen’ der Menschen untereinander. Daraus ergeben sich vier Kriterien für das Fest, die eine auffällige Korrespondenz zu den vier obengenannten Effekten der Bedeutungsperspektive aufweisen: Erstens spiegelt sich der genannte ‘Tumult’ der Ikonenmalerei (Konzentration der Figuren - Heterogenität ihres Umfelds) im „großen Kreislauf“ und in den kleinen Kreisbewegungen („Welle“ / „Wirbel“ - FN480), worin die „Ewigkeit“ und der „Augenblick“ des komplementären / doppelten Festkonzepts als Tendenz zur präsentischen Überzeitlichkeit deutlich wird (Lunačárskij, s.o. - „Exkurs: Die Zeit im orthodoxen Verständnis“ in Kap.I.1.2.): 498 Ders.Ebd.272. 499 Ders.Ebd.259. - Ders.: „Analiz prostranstvennosti v chudožestvenno-izobrazitel’nych proizvedenijach“ [„Die Analyse der Räumlichkeit in den Werken der bildenden Kunst“]. In: Ders.1993.340f. - Vgl. diese Art der Wahrnehmung und Orientierung mit Certeaus „Karte“ oder „Weg“ in Kap.III.4., FN560. 500 In der „ mgekehrten Perspektive“ kondensiert sich somit der in der Einleitung angesprochene, orthodoxe Mimesis-Begriff. Der hier beschriebene ‘Achsensprung’ entspricht dem Vorgang des Blickes und der Geste, wie Wulf ihn ausführt, freilich ohne auf bestimmte Konfessionen einzugehen: „In der Begegnung meines Blickes mit dem des Anderen liegt eine Grunderfahrung der Reziprozität zwischen mir und dem Anderen. Wenn ich das Auge des Anderen sehe, sieht er mich und nicht nur mein Auge. Der andere Mensch hat ein bestimmtes Aussehen; zugleich sieht er mich an und steht mir gegenüber; mit ihm kann ich die Position tauschen. / .../ . Der Blick gehört zur äußeren und inneren Wahrnehmung; er schafft die sinnliche Bildhaftigkeit und die in ihr sich zeigende Ausdruckshaftigkeit; zugleich wird er durch beide geschaffen. Unter der Führung des Blicks, der dem Anderen begegnet, kann die Reziprozität des Körperschemas entdeckt werden, die wahrscheinlich mit der Ausbildung und Beherrschung der Motorik einhergeht.“ (Wulf/ a.1997.1024.) - „In der Anähnlichung an die Gesten eines anderen werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren / .../ . In diesem Prozeß erfolgt weniger eine Reduktion der Gesten des anderen auf den Bezugsrahmen des Sich-mimetisch-Verhaltenden als vielmehr eine Ausweitung der Wahrnehmung auf die Gesten und die Bezugspunkte des anderen.“ (Wulf in Fischer-Lichte/ Kolesch. (1998).248f.) - Siehe hierzu „Mimesis“ als „Vorahmung“ (Einleitung 3., FN64) und als Prozess des „Einander-Ähnlich-Werdens“ im Ritual („Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2., FN837+847). U <?page no="151"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 147 als Formel eines gemeinsamen ‘Aufgehobenseins’ in einer verschränkten Zeitdimension, wie dies bei Ivánov im großen und kleinen Chor als Ausdruck für die Phasen der Dionysien (II.1.3., FN371+372) sowie als „Öffnung des Zeithorizontes“ (Tenbruck: II.2., FN454) bei Vsévolodskij (II.2., FN448/ 454) zu sehen war. Bezüglich des organisatorischen und sozialdidaktischen Erfolgs der Feiern verweist Lunačárskij (wie Ivánov: II.1.5., FN407) auf die unvermeidliche Vorläufigkeit und die langen Zeiträume theatraler Aufbauarbeit. 501 Zweitens bedarf es einer Organisation der Feiern im Sinne einer Transparenz der Hierarchien: „/ .../ nicht nur, sozusagen im Sinne eines Feldherren der Feier, der einen allgemeinen strategischen Plan entwickelt und allgemeine Direktiven verteilt, sondern auch im Sinne eines ganzen Stabes von Helfern, die imstande sind, sich in die Massen hineinzuversetzen und sie anzuführen, und nicht künstlich anzuführen, nicht so, dass die ganze kluge Organisation wie ein Pflaster auf das Gesicht des Volkes geklebt wird, sondern so, dass die spontane Aufwallung der Massen einerseits, und die durch und durch enthusiastische und vollkommen aufrichtige Grundidee der Anführer anderseits, zusammenfließen.“ 502 Wie in der Ikonenmalerei gewährleistet diese Transparenz den nötigen ‘Sicherheitsabstand’ zwischen einer scheinhaften Wirklichkeit des Vordergründigen und der tatsächlichen Realität von Hintergründen, indem die Urheber von Handlungen ihren tatsächlichen Leistungen entsprechend bewertet und dargestellt werden. Drittens ist eine Reversibilität erforderlich, die als ‘Achsensprung’ im „großen Kreislauf“ zum Ausdruck kommt — optisch / visuell als ‘Leserichtung’ und kinesisch / proxemisch als Laufrichtung: „Während der eigentlichen Umzüge sollen nicht nur die voranschreitenden Massen ein unterhaltsames Spektakel für die unbeweglichen Massen auf den Bürgersteigen, Balkons und an den Fenstern sein, sondern auch umgekehrt. Grünanlagen, Straßen sollen ein abwechslungsreiches Schauspiel für die voranschreitenden Massen sein, mittels entsprechend dekorierter Aufbauten an Bögen usw.“ 503 Die Reversibilität zeigt sich insbesondere auch als Umkehrbarkeit im „kleinen Kreislauf“ von Interaktionen im öffentlichen Raum, etwa wenn selbsternannte Stehgreif-Redner oder missliebige Alleinunterhalter nach Bedarf 501 Lunačarskij, A.V.: „Monumental’nyj teatr. (Iz pis’ma k N.G. Vinogradovu)“ [„Monumentaltheater. (Aus dem Brief an N.G. Vinogradov)]“ (1919). In: Ders.1981.90. - Vinogradov ist der Initiator der in Kap.IV. untersuchten Manöverinszenierung D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT . Zum Zeitwert einzelner Ströme vgl. das Massensymbol „Fluß“, zum Zeitwert „Welle“ und „Wirbel“ vgl. das „Meer“ bei Canetti: „Die Flüsse sind besonders ein Symbol für die Zeit, in der sich die Masse bildet, die Zeit, in der sie noch nicht erreicht hat, was sie erreichen wird.“ (S.91) - „Das Meer schläft nie. Man hört es immer, bei Tag, bei Nacht, durch Jahre, Jahrzehnte; man weiß, dass es vor Jahrhunderten schon gehört wurde. / .../ Es versickert und verschwindet nicht von Zeit zu Zeit, es ist immer da.“ (S.88). (Canetti, E.: „Massensymbole“. In: Ders.[1960]1980.) 502 Lunačarskij.(1920/ a).1981.85. 503 Ders.Ebd.86. - Lunačarskij.(1925/ a).1981.122f. <?page no="152"?> K APITEL II. 148 ausgewechselt werden können: „In dem Fall kann das Publikum den glücklosen Akteur umstandslos und unter freundlichem Gelächter herunterziehen [vom Podest, MD] und ihn sogleich durch einen neuen ersetzen.“ 504 Die Parallele zwischen der perspektivischen Umkehrung als Grundverfahren der Ikonenmalerei und einer Reversibilität von Maßnahmen als Kernstück von Lunačárskijs Festkonzept wird hier unmittelbar augen- und sinnfällig. Schließlich und viertens resultiert daraus das spezifisch Festliche in einer die Psyche und den Körper erfassenden, wechselseitigen Reflexivität: „Um sich zu spüren, müssen die Massen in Erscheinung treten, und das ist nur möglich, wenn sie, laut Robespierre, für sich selbst als Spektakel auftreten. Wenn die organisierten Massen als Umzug mit Musik vorbeilaufen, im Chor singen, irgendwelche großen gymnastischen Manöver oder Tänze vollführen, kurzum, eine Art Parade veranstalten, aber keine Militärparade, sondern eine, die möglichst aufgeladen ist mit einem Inhalt, der den ideellen Wesensgehalt, die Hoffnungen, Verwünschungen und alle möglichen anderen Emotionen zum Ausdruck bringt — dann fließen die übrigen, nicht organisierten Massen, die von allen Seiten die Straßen und Plätze umringen, auf denen sich das Fest ereignet, mit dieser organisierten Masse zusammen, und dann kann man sagen: das ganze Volk demonstriert vor sich selbst seine Seele.“ 505 Unter freiem Himmel ermöglicht die Mobilität der Sichtachsen eine Mobilisierung der Sichtweisen, knüpft also an jene ‘Empathie’ und ‘Sympraxis’ an, die als individueller Perspektivwechsel und als soziale Kompetenzerweiterung im geschlossenen Theaterraum zur Überwindung der Theaterkrise gefordert wurden (Brjúsov: Kap.I.3., FN294). Die Wechselseitigkeit von Selbstbezug und Dialog, von Selbstbewusstsein und Eingedenken - nach H. Belting die „Aufforderung zum Kult“ 506 - wird während der Zwiesprache des Betrachters im Frontalblick der Porträt-Ikone deutlich — jener Kontaktfläche und ‘Rampe’ zwischen den Welten (und wie die kirchliche Chorschranke ein perspektivischer Nullpunkt), wo das Zurückgeworfensein auf sich selbst („Quecksilber“) dem Aufgehobensein mit den anderen / dem Anderen vorangeht. Mit diesen Merkmalen (Überzeitlichkeit, Transparenz, Reversibilität, Reflexivität) wird in der Komposition der Ikone ebensowenig wie in der Aufführung des Festes eine Harmonie von Maßen oder Räumen beschworen, sondern die Hierarchie und Proportion von Werten und Welten verhandelt. In diesem Sinne ist beides - mit den Worten Florénskijs - „kein Kunstwerk autarker 504 Lunačarskij.(1920/ a).1981.87. 505 Ders.Ebd.84. - Lunačarskij in Lunačarskij/ Aničkov/ Gornfel’d.1908.25. (samonabljudenie = Selbstbeobachtung) - Vgl. hierzu Canetti über die „Festmasse“: „Die Erträgnisse, welcher Kultur immer, werden in großen Haufen zur Schau gestellt.“ (Canetti, E.: „Festmassen“. In: Ders.[1960]1980.65.) 506 Belting, H.: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990. S.287. <?page no="153"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 149 Kunst, sondern ein Zeugniswerk, das neben vielem anderen auch der Kunst bedarf. [kursiv MD]“ 507 Ivánovs Entwurf von Sobórnost’ und einer (rituellen) Chorhandlung, Vsévolodskijs Theatralitätsbegriff (außer/ ästhetischer Aspekt und ‘Polychronie’) und Lunačárskijs Festkonzept des ‘Perspektivwechsels’ können insofern als Krisen-Remedien gelten, als sie auf einem Prinzip der ‘Echtzeitlichkeit’ und der ‘Anthropometrie’ (Kap.I.3., FN309) beruhen, die den eingangs genannten „Zeitsplittern“ (Kap.I.1.1.) entgegenwirkt. Die Auswirkungen dieser Theoreme auf die Synchronisation von ‘Zeitsprüngen’ im Wechselspiel mit der Eroberung von Raum und der Herausbildung von Öffentlichkeit zeigt nun das folgende Kapitel (insbesondere Kap.III.5.: „Der ‘mythologische Marsch’“). 507 Florenskij.(1922).1996.148. - Als „Zeugniswerk“ folgt die klassische (mittelalterliche) Ikone keinem Vorbild, sondern einem Urbild / Ideal (so wie das Leben des „schwarzen“ Klerus - d.h. der Ordensgeistlichkeit - vor der petrinischen Kirchenreform allein dem kirchlichen Urbild / Ideal der kontemplativen Frömmigkeit gewidmet war: Kap.III.2., FN517), und kennt keinen personalen Autor (keinen Wagnerschen „Solisten“), sondern lediglich Malerschulen. Die orthodoxe ‘Botschaft’ hieraus lautet also: Das Urbild ist reproduzierbar / tradierbar — also ist das Ideal ausführbar / machbar. (Vgl. hierzu den Aristotelischen Mimesis-Begriff in Einleitung 3., FN73.) <?page no="154"?> K APITEL II. 150 1/ Tumult--artige Stimmung, konzentrierte Mienen, ‘langwellige’ Aura der Figuren: „Theatralisch ist die Gestik der Gestalten, sei es in der heftigen, gezückten Bewegung des Einzelnen oder in der langsamen, dunkel arbeitenden der Gruppen.“ (Gregor/ Fülöp-Miller.1928.19.) — Theophanes Bathas (? ). Verklärung Christi. - Ikone. Großes Lavra-Kloster, Athos. 1535 (? ). <?page no="155"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 151 2/ Vorhänge und Drapierungen verweisen auf das byzantinische Hofzeremoniell. Diese Art der Drapierung (über zwei Vorsprünge, Türme, Simse) bedeutet: „Innenraum“. — Verkündigung. - Ikone. Konstantinopel. Anfang 14.Jh. <?page no="156"?> K APITEL II. 152 3/ Der Heilige Georg von Kappadokien, Urahn des östlichen „Soldatenheiligen“ und Schutzpatron der Krieger. Typisch: wie er selbst ist sein Pferd eine ‘Lichtgestalt’, d.h. ein Schimmel. Ungewöhnlich: die Bewegung gegen die abendländische Leserichtung. Die plissierten Flügel des Drachens sind ebenso sorgfältig gestaltet wie der ‘lodernde’, bewegte Umhang (die Chlamys) Georgs: beide Kontrahenten sind gleich ‘beweglich’ - dem Gegner gebührt also Respekt. „Himmel“ und „Hölle“ sind randständig: im Zentrum steht der Kampf. — Das Drachenwunder des Hl. Georg. - Ikone. Mittelrußland (? ). 16.Jh. <?page no="157"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 153 4+5/ Vorhänge und Drapierungen des byzantinischen Hofzeremoniells setzen sich in Wimpeln und Fahnen der russischen Festkultur fort. 4/ Dekorations-Entwurf von Fëdor F. Buchgol’c für den Anleger der Vasil’evskij- Insel zum 07. November 1918. 5/ Dekorations-Entwurf von Pëtr I. Smukrovič und Vladimir V. Ėmme für das Ufer vor dem Gebäude der Seeflotte zum 07. November 1918. <?page no="158"?> K APITEL II. 154 6-12/ „/ .../ ein Theater, wo die Bewegung zum Ritual, der Gegenstand zum Emblem, das Wort zum Signal wird / .../ “ (Piotrovskij, Kap.I.1.5.) 6/ Die Märtyrerin Ul’jana. - Zweiseitige Ikone. Sverin-Kloster, Novgorod. Erste Hälfte 13.Jh. 7/ Kazimir S. Malevič. Arbeiterin. - Gemälde. 1933. 8+9/ Prismatisch-kubistische, bewegte Faltenwürfe (vgl. hier 1-3) und lotsenartige Gesten. — Figurinen von Natal’ja S. Gončarova: links zum Ballett D ER KLEINE GOLDENE H AHN nach einer Oper (1907) von Nikolaj A. Rimskij-Korsakov in der Choreographie von Michail F. Fokin (Paris, 1914), rechts zum Passionsspiel L ITURGIE (mit geistlicher Musik; 1915) von Gončarova und Michail F. Larionov, in der Choreographie von Leonid F. Mjasin (Lausanne, 1915 - nur geprobt). <?page no="159"?> G EGENKONZEPTE ZUR T HEATERKRISE 155 10/ Pantomimische Haltungen („die Bewegung zum Ritual“). — Grablegung Christi. - Ikone. Spätes 15.Jh. <?page no="160"?> K APITEL II. 156 11/ Konzentrierte Mienen („das Wort zum Signal“). — Der Heilige Sergij von Radonež. Ikone. Erstes Viertel 17.Jh. 12/ Lotsenartige Gesten („der Gegenstand zum Emblem“). — Dirigent von Arsenij M. Avraamovs „Symphonie der Fabriksirenen und Lokpfeifen“. - Photo der Aufführung in Baku (07.11.1922) oder in Moskau (Eisenbahn- und Elektrizitätswerke, 1923). <?page no="161"?> III. Die Eroberung des öffentlichen Raums III.1. Zeitsprünge Der Übergang von einer autokratischen zu einer revolutionären sozialen Identität eröffnet einen ambivalenten, öffentlichen Raum, der die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch) nahezu greifbar macht: „Dabei hatten alle Theater Abend für Abend, auch des Sonntags, Hochbetrieb. / .../ Im Alexandratheater wurde Meyerholds Inszenierung von Tolstois ‘Der Tod Iwans des Schrecklichen’ gegeben. Und bei dieser Vorstellung erinnere ich mich, einen Zögling der kaiserlichen Pagenschule in Galauniform beobachtet zu haben, der in den Pausen jedesmal aufstand und vor der leeren, ihrer Adler beraubten kaiserlichen Loge seine Ehrenbezeugungen machte... / .../ Wenn aber auch an äußeren sichtbaren Zeichen kein Mangel war: zum Beispiel die Statue der ‘Großen Katharina’ vor dem Alexandratheater eine kleine rote Fahne in der Hand hielt [ ❐ 1] und andere - etwas verblichen - von allen öffentlichen Gebäuden herabwehten; die kaiserlichen Insignien und Adler teils heruntergerissen, teils verdeckt waren; anstelle der brutalen zaristischen Polizisten in den Straßen eine sanfte unbewaffnete Bürgermiliz patrouillierte — so gab es dennoch zahllose wunderliche Anachronismen. Beispielsweise existierte noch immer die Rangordnung, die Peter der Große Rußland mit eiserner Hand aufgezwungen hatte. Fast jedermann, vom Schulbuben angefangen, hatte seine vorgeschriebene Uniform, mit den Abzeichen des Kaisers auf den Knöpfen und Achselstücken. Von fünf Uhr nachmittags an waren die Straßen gefüllt mit alten Herren in Uniform, die Aktenmappen trugen und von der Arbeit in den riesengroßen kasernengleichen Ministerien oder Regierungsinstitutionen kamen / .../ .“ 508 Begreifbar werden diese Prozesse in einer Suchbewegung nach spezifischen Ausdrucksmitteln für eine neue Festkultur, deren erste Phase auf das Jahr 1918 zu datieren ist. Mit Blick auf Vsévolodskijs Theorem, wonach eine cultural performance (Singer) die Spuren früherer Praktiken tradiert und Merkmale künftiger Entwicklungen präfiguriert, wird in diesem Kapitel 508 Reed, J.: Zehn Tage, die die Welt erschütterten [1919]. Berlin 1983. S.52. - Die Aufführungsorte - ob in der Stadt oder an der Front - waren stets überfüllt: „Rußland erlebte ein seltsames Schauspiel: alle Theater waren voll. Der bis auf den letzten Platz besetzte Saal wurde zur alltäglichen Erscheinung. Man begann sich nicht mehr über einen gefüllten, sondern über einen ungefüllten Saal zu wundern.“ (Scherscheniewitsch in Kritschewski/ Kersten.1923.65.) - Siehe auch: Einleitung 1., FN1/ 3 und 2., FN19/ 26 sowie 4., FN107; III.4., FN579+617. Aktentaschen waren ein Attribut von Mitgliedern der Provisorischen Regierung und damit ein Zeichen des Übergangs. (Figes/ Kolonitskii.1999.52.) <?page no="162"?> K APITEL III. 158 die Wechselwirkung zwischen der Öffentlichkeit - dem Status der Akteure - und dem Raum - dem Erscheinungsbild Petrograds - während der ersten Mai- und Oktober-Feiern untersucht. Mit der Ausdifferenzierung der Revolutionsfeiern, an deren Konzipierung Lunačárskij wesentlich beteiligt war, rücken vor allem optische ‘Setzungen’ in den Vordergrund („Bilder“). Mit der Herausbildung der Manöverinszenierungen seit dem Frühjahr 1919 geht indes die Verschiebung oraler Praktiken („Laute“) einher. Beide Entwicklungen führen auf unterschiedliche Art die performative (proxemische) Tradition fort („Bewegung“) und prägen die Eigenschaften des neuen, öffentlichen Raums. III.2. (Bürger)Krieg und (Diktat)Frieden: die Akteure Von 1917 bis 1919 erleben die Bolschewikí und die Bevölkerung einige tiefgreifende Gemeinsamkeiten in einem heute unvorstellbaren Ausmaß: Hunger, Dreck, Seuchen, Kälte, Erschöpfung, und eine zunehmende Angst vor dem äußeren und inneren Terror 509 . Gleichwohl ist in dieser Phase bei der 509 Schlögel.1988.437., bes.439f.+448. - NN: „Postanovlenie o krasnom terrore“ [„Beschluss zum roten Terror“] vom 05.09.1918. In: Dekrete.Bd.III.1964.291. (= „Beschluss zum roten Terror.1918.“) „Am Ende erfaßte die Rationierung praktisch alle Formen von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen. Im Januar 1919 gab es in Petersburg dreiunddreißig Karten - für Brot, Milch, Tabak, Stiefel, Seife und so fort -, und die gesamte städtische Bevölkerung war in vier Kategorien eingeteilt. Der ‘Klassencharakter’ der ‘Ernährungsdiktatur’ war offensichtlich. [fett MD]“ (Schlögel.1988.448.) Die Intelligencija und die Künstler zählten zur dritten Kategorie. An der oberen (Etappe) und obersten Stelle (Front) stand die „Rotarmisten-Ration“ (krasnoarmejskij paëk). Vermutlich stellt die in Kap.IV.2.1., FN715 erwähnte „Kampfration“ (boevoj paëk) für die Theaterwerkstatt der Roten Armee eine noch höhere Kategorie dar. Nach Durchsicht der Dekrete des behandelten Zeitraums (Ende 1917 bis Anfang 1921) kommt man auch hier zu dem Schluss, dass es mehr Karten als Lebensmittel gab, deren Beschaffung ungleich schwieriger war als die Formulierung einer Anordnung. Nachdem die Appelle an ertragreichere Regionen zur dringenden Sendung von Lebensmitteln zuwenig Wirkung zeigten, wurden Lebensmittel-Trupps gebildet, um in den ländlichen Bereichen und bei den „Kulaken“ (den mittelständischen Bauern) tatsächliche oder vermeindliche Vorräte und Überschüsse notfalls mit Waffengewalt einzutreiben (NN: „Obraščenie k piterskim rabočim ob organizacii prodovol’stvennych otrjadov“ [„Mitteilung an die Piterschen Arbeiter [„Piter“: umgangssprachlich für Petrograd / Petersburg] zur Organisation von Lebensmittel-Trupps“] vom 21.05.1918. In: Dekrete.Bd.II.1959.298f.) Obwohl diese Kommandos einige Erfolge vorweisen konnten (NN: „Postanovlenie SNK o rabočich prodovol’stvennych otrjadov“ [„Beschluss des SNK [Rat der Volkskommissare] zu den Arbeiter-Lebensmittel-Trupps“] vom 27.02.1919. In: Dekrete.Bd.IV.1968.446f.), blieb die Versorgungslage katastrophal und erforderte immer wieder Sonder-Maßnahmen. (NN: „Dekret SNK o zapreščenii uboja lošadej na mjaso“ [„Dekret des SNK zum Verbot der Schlachtung von Pferden zur Fleischgewinnung“] vom 22.02.1919. In: Dekrete.Bd.IV.1968.426.) Obwohl diverse Formen von Mundraub, Hamsterungen und Spekulationen trotz strengster Strafen weiterbestanden (vgl. „Sackträger“: Kap.I.1.4., FN263), weigerte <?page no="163"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 159 neuen Regierung wie auch bei der breiten Öffentlickeit die gleiche Haltung zu beobachten: „The striking thing about all this was the utter seriousness if not solemnity with which the Bolsheviks went about rejecting the old and the ambivalent and choosing new symbols that were clearly radical, politically resonant, and easily mass produced.“ 510 Unmittelbar nach dem Machtwechsel bewirkt nicht nur eine hohe Frequenz, sondern gerade auch das symbolhafte Potential von Dekreten eine so wechselhafte wie radikale Statusänderung der Bevölkerung. So wird der Personenstand in einem bis dahin unüblichen Maße flexibel, indem etwa Ehen ebenso leicht zu schließen wie zu lösen sind, und das soziale Bindemittel Kirche - bis zur Revolution als Standesamt und für das Personenregister zuständig - bei derlei Akten bloß fakultativ zum Einsatz kommt, wodurch eine weitreichende Lockerung traditioneller Verflechtungen einsetzt 511 . Die Flexibilisierung des privaten Status zeigt sich etwa in einem sehr frühen Dekret und dem symbolträchtigen Kuriosum, wonach jeder Bürger ähnlich umstandslos seinen Familien- oder Spitznamen ändern lassen kann. 512 sich die Regierung eisern, das staatliche Monopol auf Grundnahrungsmittel (Getreide / Brot, Zucker, Tee, Salz) oder die fixen Preise für Fleisch, Seefisch, Pflanzenöle, tierische Fette außer Butter und Kartoffeln aufzuweichen. Für die Verbesserung der Versorgung von Kindern und Militärangehörigen (also nahezu der gesamten Bevölkerung), Kriegsversehrten und Arbeitslosen wurden enorme Anstrengungen unternommen. Doch mit der Anhebung der Rationen auf Militär-Niveau für die Führungsränge der Geheimpolizei ČK (TscheKa, siehe FN542) - einschließlich Sonderrationen für deren Chauffeure! - wurde auch das obere Ende der sozialen Skala ‘bedient’. (NN: „Postanovlenie Soveta oborony o razmere prodovol’stvennogo pajka sotrudnikam črezvyčajnych komissij po bor’be s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i prestuplenijami po dolžnosti“ [„Beschluss des Rates für Verteidigung [STO, siehe folgende FN510] zum Umfang der Lebensmittel-Ration für die Mitarbeiter der außerordentlichen Kommissionen zum Kampf gegen die Konterrevolution, Spekulation und Amtsdelikte“] vom 17.03.1919. In: Dekrete.Bd.IV.1968.648f.). 510 Stites, R.: „The origins of soviet ritual style: symbol and festival in the russian revolution“. In: Arvidsson/ Blomqvist.1987.37. Drei Organe bildeten die neue russische Regierung: VCIK (Vserossijskij central’nyj ispolnitel’nyj komitet = Allrussisches Zentrales Exekutivkomittee, in älteren Quellen auch „Ausführungskomitee“: 1917-1938), SNK (auch: SovNarKom = Sovet narodnych komissarov = Rat der Volkskommissare: 1917-1946) und STO (Sovet truda i oborony = Rat für Arbeit und Verteidigung: 1918/ 1920-1937; November 1918: Sovet rabočej i krest’janskoj oborony = Rat der Arbeiter- und Bauern-Verteidigung / Verteidigungsrat der Arbeiter und Bauern > April 1920: Sovet truda i oborony = Rat für Arbeit und Verteidigung). 511 NN: „Dekret des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und Rates der Volkskommissare über Ehescheidungen“ vom 29.(16.) Dezember 1917. In: Achapkin. 1970.70f. - NN: „Dekret des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und Rates der Volkskommissare über die Zivilehe, über die Kinder und die Führung der Personenstandsbücher“ vom 31.(18.) Dezember 1917. Ebd.77f. 512 NN: „Dekret des Rates der Volkskommissare über das Recht der Bürger, ihre Familienu. Spitznamen zu ändern“ vom 04.03.1918. In: Achapkin.1970.125f. <?page no="164"?> K APITEL III. 160 Parallel zur Flexibilisierung des persönlichen Status erfolgt eine Diversifizierung sozialer Schichten, indem zuvor randständige Personengruppen nun ins Licht und in die Gunst der informellen und offiziellen Öffentlichkeit rücken: „Es war eine ausnehmend günstige Zeit für Theosophen 513 . Und die Heilsarmee, die zum erstenmal in Rußland zugelassen war, bedeckte die Mauern mit Einladungen zu ihren Versammlungen, die die russischen Hörer amüsierten und in Erstaunen versetzten. / .../ Die Droschkenkutscher hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten [der zu dem Zeitpunkt noch dem „Räte“prinzip entsprach, MD]. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen.“ 514 Wie ernst gerade auch neue Berufstände genommen werden, zeigen die zahllosen Gründungen von Einrichtungen, die der Tagespresse zu entnehmen sind: „Chronik. / .../ Der Verband der Kunstschaffenden eröffnet eine Schule zur Ausbildung von Opern- und Schauspiel-Souffleuren.“ 515 513 „Theosophen“ und Anthroposophen bevölkerten auch eine Reihe satirischer Stücke in der für Abenteurer und Aufsteiger günstigen NÖP-Zeit (1921-1928). 514 Reed.[1919]1983.49f. 515 NN: „Chronika“ [„Chronik“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°415 vom 01.04.1920. S.3. - Dieser Ausbildungsgang wurde 1927 abgeschafft. Hierzu bemerkt Šklovskij spöttisch: „Fast jede Militäreinheit hat ihr Theaterchen. Fast jede Organisation hat ihr Theater. Wir haben sogar eine Schule für Theater- Instrukteure mit einer Abteilung zur Ausbildung von Souffleuren für die Baltische Flotte. / .../ Mich würde nicht wundern, wenn die Murmansker Eisenbahn oder Centrogvozd’ anfangen, Schauspieler nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch für den Export zu produzieren.“ (Šklovskij, V.B.: „Štandart skačet“ [„Der Standard eilt in Sprüngen / eilt voran / verläuft ruckartig“]. In: Ders.1923.51.) (= Šklovskij/ a.1923.) - „Centrogvozd’“ - etwa: „Zentrale Nagel-Verwaltung“ - ist eine ironische Anspielung auf die extensive Bildung von staatlichen Komitees und Kommissionen selbst für kleinste Belange (siehe auch III.4., FN580). Ob es „Centrogvozd’“ tatsächlich gegeben hat, ist ungewiss — allerdings gab es einen Werk-Verbund namens „Glavgvozd’“ („Haupt- Nagel“). (NN: „Postanovlenie STO o militarizacii šesti zavodov Gosudarstvennogo ob’edinenija gvozdil’no-provoločnych i bolto-zaklepočnych zavodov (Glavgvozdja)“ [„Beschluss des STO [Rat für Arbeit und Verteidigung] zur Militarisierung von sechs Betrieben des Staatlichen Verbundes der Nagel-und-Draht- und der Schrauben- und Nieten-Werke (HauptNagel)“] vom 15.09.1920. In: Dekrete.Bd.X.1980.339f.) Belegt ist auch eine Institution mit der schönen Bezeichnung „Centromylo“ (etwa „Zentrale Seifen-Kommission / -Verwaltung“). (NN: „Postanovlenie SNK po dokladu Centromyla o proizvodstve myla“ [„Beschluss des SNK [Rat der Volkskommissare] nach Bericht von Centromylo zur Produktion von Seife“] vom 22.02.1919. In: Dekrete.Bd.IV.1968.632f.) Was hier nach Realsatire klingt, ist eine verzweifelte Maßnahme im Kampf gegen die grassierende Typhus- und Cholera-Epidemie (Einleitung 4., FN110 - III.4., FN629 - Kap.IV.2.2., FN729). Und natürlich war jede Form von metallischem Gerät oder Zubehör - jeder lausige Nagel - kriegsrelevant (Kap.IV.2.2., FN726). <?page no="165"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 161 „Vermischte Nachrichten. In Moskau wird im Herbst ein Theater eröffnet, das sich dem Kampf gegen verschiedene menschliche Laster widmet: Trunksucht, Spielsucht, Diebstahl u.s.w. In das Repertoire des Theaters werden Stücke von L. Tolstoj (‘Die Macht der Finsternis’ / .../ ), Ostrovskij (‘Gegen Sünde und Not ist niemand gefeit’), Rimskij-Korsakov (‘Die Legende der unsichtbaren Stadt Kitež’) u.a. aufgenommen. Den Aufführungen werden Vorträge vorangehen.“ 516 Diese Neuerungen ließen sich so mühelos wie leichtfertig als Folge marxistischer Soziallehren und eines neuerwachten proletarischen Selbstbewusstseins begreifen. Im Kontext symbolhafter Kommunikationsformen kann jedoch jener Zusammenhang ‘ältere Rechte’ beanspruchen, der in einer äußerst weitgefächerten Heiligen-Hierarchie der russischen Orthodoxie besteht, wo selbst fiktionale Heilige aus Legende und Literatur sowie jegliche ausgeübte Berufe als ‘heilig’ anerkannt werden, die auch nur annähernd zum Erhalt oder zur Stabilisierung der Schöpfung und der sozialen Ordnung beitragen 517 . 516 NN: „Raznye izvestija“ [„Vermischte Nachrichten“. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°209 vom 07.08.1919. S.3. - Vgl. hierzu auch spätere Artikel wie: NN: „Teatral’noe iskusstvo i gluchonemye“ [„Theaterkunst und Taubstumme“] oder: NN: „Teatr v tjur’me“ [„Theater im Gefängnis“] (beides in: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°85-86 vom 15.03.1921. S.14+17.), sowie: Loktin, A.: „RSFSR na okrajnach — V Altajskoj derevne“ [„Die RSFSR in den Randgebieten — In einem Dorf im Altai“] (in: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°87-88 vom 05.04.1921. S.8.) 517 Vgl. hierzu Hai, Schakal und Hyäne in der politischen Polemik und im sympraktischen Verständnis: Kap.V.3., FN885. Die Bereitschaft, fiktionale Heilige (gegenüber kanonischen Heiligen) anzuerkennen, wird deutlich, wenn man sich einerseits die Wirtschaftslage und die Korruption der Würdenträger, anderseits den daraus resultierenden Zwang zur Theatralisierung der eigenen Arbeitskraft vor Augen führt: Bis ins 18.Jh. lebte der „schwarze“ Klerus, d.h. das in Klöstern verwahrte Mönchtum materiell autark und ideell autonom für das kirchliche Ideal der kontemplativen Frömmigkeit. Bis 1721 hatte Peter I. die Klöster und die Kirche zu einer Staatskirche reformiert, womit ein Nützlichkeitsbzw. Leistungsprinzip verknüpft war (was dann zu einer Neuauflage der byzantinischen Tradition, d.h. zu einer engeren Durchdringung von Staat und Kirche führte): erstmals erhielt die Kirche einen öffentlichen Auftrag mit pädagogischen und karitativen sowie einigen ökonomischen Aufgaben — und im Gegenzug eine regelmäßige, staatliche Alimentierung und Kontrolle. (Traditionell hatte sie daher - anders als die Westkirche - weder eine zivilisatorische noch eine scholastische Funktion: erst in der Folge der petrinischen Kloster- und Kirchenreform entstand eine theologische Wissenschaft im Rahmen geistlicher Akademien.) (Stöckl.1983.377f.) Bereits im 19.Jh. hatte sich das Leben der „werktätigen“ und missionierenden, „weißen“ Weltgeistlichkeit in ein diametral entgegengesetztes Extrem verkehrt. Die lokal ansässigen, ‘stationären’ Popen dienten ohne Aufstiegs-Chance und für einen Hungerlohn bis zu ihrem Lebensende auf dem Dorf. Die ledigen zogen (bisweilen gegen das Gesetz der Ortsbindung) - gleichsam als vagabundierende „Ich-AG“ - durch die Lande und verfügten über keinerlei regelmäßige Einkünfte: „Jede Dienstleistung muss der Bauer bezahlen: Trauungen, Taufen, Seelenmessen — und zwar ist der Preis sehr hoch. <?page no="166"?> K APITEL III. 162 Im Sinne der im vorigen Kapitel ausgeführten „ mgekehrten Perspektive“ erhalten zuvor kleine, unbedeutende Personengruppen durch die Revolution soziale Größe und politisches Gewicht ( ❐ 2). Wenn schon Eltern zur Kategorie der sogenannten „Heilsmittler“ gehören 518 , ist die Aufwertung von Souffleuren nur konsequent: in dieser Logik muss jeder Tätige seine ‘Standesorganisation’, seine Institution (er)finden. Im Gegenzug zur Flexibilisierung des persönlichen Status und zur Diversifizierung sozialer Schichten erfolgt eine Angleichung bei den Gagen und beim Sold 519 , sowie die Unifizierung der nominalen ‘Kennung’, indem die zivilen Hierarchien mit ihren Ständen und Titeln abgeschafft und durch die Einheitsbezeichnung „Bürger“ ersetzt werden 520 . Das Gleiche gilt für alle militärischen Ränge und sichtbaren Abzeichen 521 , wo der „Ehrentitel ‘Soldat der revolutionären Armee’“ 522 alle vorigen Orden und Titulierungen ablöst. Die Popen erfinden Feiertage (es gibt Heilige, die Schutzpatrone von Pferden und Kühen sind), um nur mehr Messen abhalten und den Bauern auf diese Weise mehr abnehmen zu können.“ (Novikov, A.: „Das Dorf: ‘So kann man nicht weiter leben! ’“ (1903). In: Kuchinke/ Dmitriev.1989.46f. - Moynahan.1994.30.) Nun kommt erschwerend hinzu, dass es im Volksglauben tatsächlich zwei Schutzpatrone zumindest der Pferde gibt ( ❐ 3): Floros und Lauros (Kiritschenko, J.: Zwischen Byzanz und Moskau. Der Nationalstil in der russischen Kunst. München 1991. S.269.). Wenn sich der hier zitierte Landhauptmann schon nicht auskennt, hatte der anonyme ‘handelsreisende’ Pope also leichtes Spiel: dem legendären stand der fingierte, fiktionale Heilige gegenüber, und der Bauer hatte einmal mehr die Wahl zwischen Pest und Cholera. (Siehe hierzu auch die realen Exorzismen gegen literarische Figuren in: Einleitung 5., FN166.) 518 Müller in Stupperich.1966.113f. - Dass Eltern gleich welcher Generation oft genug ‘Unheilsmittler’ sind, zeigt eindrucksvoll das Beispiel von R OMEO UND J ULIA : Kap.V.4., FN916. 519 Scherscheniewitsch in Kritschewski/ Kersten.1923.64. - Knjazevskaja, T.B. / Fevral’skij, A.V.: „Teatr na frontach graždanskoj vojny“ (Vvedenie) [„Theater an den Fronten des Bürgerkriegs“ (Einleitung)]. In: Jufit.1968.FN28.325. - Aus den Dekreten des behandelten Zeitraums geht eine regelmäßige Verbesserung des Solds und der materiellen Versorgung der Armee-Angehörigen und ihrer Familien oder Hinterbliebenen hervor. 520 NN: „Dekret des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare über die Aufhebung der Stände und der Rangbezeichnungen für den zivilen Dienst“ vom 24.(11.) November 1917. In: Achapkin.1970.38f. 521 Bontsch-Brujewitsch, M. [Bonč-Bruevič, M.]: Petrograd. Erinnerungen eines Generals. Berlin 1959. S.7f. 522 NN: „Dekret des Rates der Volkskommissare über die rechtliche Gleichstellung aller Militärangehörigen“ vom 29.(16.) Dezember 1917. In: Achapkin.1970.73f. - Bald darauf werden allerdings Auszeichnungen / Ehrenabzeichen wie der „Rotbanner-Orden“ für besondere Tapferkeit im militärischen Kampf eingeführt. (NN: „Dekret VCIK o znakach otličija“ [„Dekret des VCIK [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee] über Ehrenabzeichen“] vom 16.09.1918. In: Dekrete.Bd.III.1964.348.) Fairerweise bleibt anzumerken, dass die Regierung mit der Verlautbarung symbolischer Gratifikationen sparsam umging — im Vergleich zum betriebenen Aufwand für handfeste, materielle Verbesserungen insbesondere der Rot-Armisten und ihrer Familien. (NN: „Postanovlenie VCIK ob odobrenii dejatel’nosti Komissii po snabženiju podar- U <?page no="167"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 163 Kaum etabliert, erodieren diese Errungenschaften im Bürgerkrieg und Kriegskommunismus (vgl. Kap.IV.2.2.), als die Akteure der neuen Zeit in zunehmend militärischen Strukturen organisiert werden. „Den Kern der Truppeneinheiten bildeten Arbeiter, daneben stellten sich zahlreiche nichtkommunistische militärische und ökonomische Fachleute aus Patriotismus zur Verfügung. Die Bauern machten allerdings zahlenmäßig den größten Anteil aus / .../ . [ ❐ 4]“ 523 Die Umwertung der sozialen Hierarchie hat für eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe eine direkte und drastische Konsequenz: ein bedeutender Teil der alten zaristischen Garde (mehrheitlich Adlige) geht ins Exil oder schließt sich der Konterrevolution an. Doch der allgemeine Mangel an Militärspezialisten und die Intervention Deutschlands trotz Diktatfriedens führt zu zahlreichen freiwilligen Eintritten, später zu planmäßigen und erfolgreichen Rekrutierungen von Weiß-Gardisten in die Rote Armee 524 , wo sie weniger wegen ihres neuen Engagements als aufgrund ihres aristokratischen Habitus beurteilt werden, und anlässlich immer neuer konterrevolutionärer Aktionen verstärkt auf Misstrauen und Schikanen stoßen 525 : „Man musste annehmen, dass sich viele Offiziere / .../ als Unteroffiziere oder auch als einfache Soldaten ausgaben und ihre militärische Vergangenheit und ihren Beruf verleugneten. / .../ Selbstverständlich hat es auch Verräter gegeben, die zu den Weißen überliefen, aber sie waren nicht die Mehrzahl der in die Rote Armee eingetretenen Offiziere. Fahnenflucht wurde häufig weniger durch die Absicht, die neue Armee zu verraten, hervorgerufen, als vielmehr durch persönliche Kränkungen, seelische Zerrüttung oder einfach durch die Unfähigkeit, Verwandten oder ehemaligen Kameraden, die im weißen Lager standen, widerstehen zu können.“ 526 Obwohl die Bevölkerungsmehrheit keine Ränge zu verlieren hat, gilt für Zivilisten eine ebenso rigorose Verkehrung der Verhältnisse insofern, als das Mandat für die Bolschewikí zunächst mit einer Hoffnung auf einen unverzüglichen Frieden verknüpft ist, die Ereignisse aber wenig später zum Bürgerkrieg eskalieren 527 . Während die Selbstverleugnung dem vorrevolutionären kami Krasnoj Armii i ob otpuske 10 mln. rub. na podarki“ [„Beschluss des VCIK über die Zustimmung zur Tätigkeit der Kommission zur Versorgung der Roten Armee mit Geschenken und zur Bewilligung von 10 Mill. Rub. für Geschenke [warme Kleidung, MD]“] vom 04.11.1918. In: Dekrete.Bd.III.1964.522f. - Siehe auch Kap.IV.2.1., FN715.) 523 Haumann in Bütow.1988.25. 524 Bontsch-Brujewitsch[Bonč-Bruevič].1959.7f., 311f., 323f. - Bonč-Bruevič ist einer der wenigen weißen Generäle, der sich bewusst und freiwillig in den Dienst der Roten Armee stellte und bestimmte Militär-Strukturen so aufbaute, dass er hierfür viele weitere Weiß-Gardisten rekrutieren konnte. 525 Ders.Ebd.310f.+320. 526 Ders.Ebd.323f. 527 Die Hinweise auf den schichtübergreifenden, extremen Kriegsüberdruss in Form von Desertionen oder spontanen Selbstdemobilisierungen sind Legion in alten und neu er- <?page no="168"?> K APITEL III. 164 Militär und der früheren Aristokratie wenigstens einen klaren ständischen Erinnerungswert übriglässt, wird ein neues soziales Selbstverständnis zum immer dringenderen Problem der übrigen Bevölkerung: Beruhte die Rekrutierung der Roten Armee anfangs noch auf Freiwilligkeit mit Empfehlung 528 , zwingt die Zuspitzung der Lage durch die organisierte Konterrevolution und die zerrüttete Versorgung bald zu einer allgemeinen Wehrpflicht auch „der ärmsten Bauern“ 529 . Zur militärischen Ausbildung werden auch Schulpflichtige unter sechzehn Jahren herangezogen, sowie gewaltfreie Konfessionen zur „Ausübung von Pflichten, die keinen Gebrauch von Waffen erforderten“, während für Frauen das Freiwilligkeitsprinzip und eine militärische Ausbildung „nach allgemeinen Grundsätzen“ gilt 530 . Auch indirekt erfasst der militärische Einfluss nahezu alle Schichten und Altersstufen, da Versehrte und selbst Angehörige von Rot-Armisten sich „in vollständiger staatlicher Pension“ befinden (vgl. Kap.IV.2.1., Kap.V.5.2.). 531 Ferner besteht eine Besonderheit und zusätzliche Belastung zum Militärdienst in der parallelen Praktik der regulären zivilen Arbeitspflicht: „Für die Zeit der Ausbildung [2 Monate hintereinander mit mindestens 12 Wochenstunden, MD] wird den betreffenden Personen keine Vergütung gezahlt; die Ausbildung muss so organisiert werden, dass die Einberufenen während ihrer Ausbildungszeit möglichst nicht von ihrer ständigen Arbeit abgelenkt werden.“ 532 Genau dies konnte aber bei den Einberufungsfähigen jederzeit eintreten: „Die Bürger im Alter von 18 bis 40 Jahren, die die militärische schlossenen Zeitzeugenberichten, und in der sowjetischen wie in der jüngsten russischen Sozial- und Geschichtsforschung ein zentrales Kriterium für den Sieg der Bolschewiki. (Vgl. Altrichter.1997.319., 325f., 381f.) Der Zwangsfriede von Brest-Litovsk (03. März 1918), der „lediglich zu einem Sonderfrieden mit dem Deutschen Reich“ und damit zu großen territorialen und wirtschaftlichen Verlusten für Russland geführt hatte, wurde von russischer Seite als „Knebelvertrag“ gegeißelt, zugleich aber als „Atempause“ zur Konsolidierung der Revolution genutzt. (Haumann in Bütow.1988. 23.) 528 NN: „Dekret des Rates der Volkskommissare über die Organisierung der Roten Arbeiter-und-Bauern-Flotte“ vom 11. Februar (29. Januar) 1918. In: Achapkin.1970.111. 529 NN: „Beschluß des Gesamtrussichen Exekutivkomitees über den Übergang zur allgemeinen Mobilisierung der Arbeiter und ärmsten Bauern zur Roten Arbeiterund- Bauernarmee“ vom 29.05.1918. In: Achapkin.1970.159. - NN: „Dekret VCIK, SNK i Soveta Oborony o prizyve srednego i bednejšego krest’janstva k bor’be s kontrrevoljuciej“ [„Dekret des VCIK [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee], des SNK [Rat der Volkskommissare] und des Rates für Verteidigung [STO] zur Einberufung der mittleren und ärmsten Bauernschaft im Kampf gegen die Konterrevolution“] vom 25.04.1919. In: Dekrete.Bd.V.1971.107f. 530 NN: „Dekret des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees über die Pflichtausbildung in Kriegskunst“ vom 22.04.1918. In: Achapkin.1970.141f. (= „Dekret Pflichtausbildung Kriegskunst.1918.“) 531 NN: „Dekret des Rates der Volkskommissare über die Organisierung der Roten Arbeiter-Und-Bauern-Armee“ vom 28.(15.) Januar 1918. In: Achapkin.1970.98f. (= „Dekret Arbeiter-Und-Bauern-Armee.1918.“) 532 „Dekret Pflichtausbildung Kriegskunst.1918.141f.“ <?page no="169"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 165 Pflichtausbildung absolviert haben, werden als Militärdienstpflichtige registriert. Auf den ersten Ruf der Arbeiter-und-Bauern-Regierung werden sie verpflichtet, unter Waffen zu treten und den Kader der Roten Armee aufzufüllen, die aus den treuesten und opferwilligsten Kämpfern für die Freiheit und Unabhängigkeit der Russischen Sowjetrepublik und für die internationale sozialistische Revolution besteht.“ 533 Weiterhin kommt zu dieser zweifachen Last von militärischem und zivilem Dienst ein latentes Risiko durch eine optionale Praktik im Rechtswesen hinzu, die in der wechselhaften Aktivierung oder Suspendierung ziviler oder aber militärischer Maßnahmen besteht: In den Wirren des Bürgerkriegs kann jede Tat oder Untat in einer nominellen oder aber exekutiven Grauzone zur „Bekämpfung der konterrevolutionären Kräfte im Hinblick auf den Schutz der Revolution“ geahndet werden. 534 Darüberhinaus kombiniert der eben erst begonnene Bürgerkrieg - im Unterschied zum kaum beendeten Weltkrieg - drei besondere Härten: die Strapazen der Infanterie, die Brutalität des Nahkampfs, sowie das Schießen auf eigene Landsleute 535 . Anders als andere Bürgerkriege findet dieser potenziert auch im Alltag statt: „Eine Besonderheit des Ersten Weltkriegs war gerade, dass er unmittelbar aus einem äußeren in einen inneren Konflikt hinüberwuchs, dass also die Gesellschaft aus diesem Kriegszustand nicht herauskam. Nach dem Bürgerkrieg wurde der Übergang zum Frieden von anderen Faktoren bestimmt, wobei die grundlegenen Merkmale einer Psychologie erhalten blieben, die für die Kriegszeit charakteristisch sind.“ 536 533 Ebd. 534 Für das Zivilrecht und Privatstrafrecht waren die Orts- oder Schiedsgerichte zuständig. „Zur Verhandlung von Strafsachen an den Fronten werden die Ortsgerichte auf die gleiche Art und Weise von den Regimentssowjets, wo aber diese nicht vorhanden sind, von den Regimentskomitees gewählt.“ Größere Straftatbestände gegen Dinge oder Personen konnten prinzipiell als konterrevolutionäre Sabotage geltend gemacht werden und unterstanden dann dem Revolutionstribunal — das allerdings auch aus Zivilisten bestand, und wie alle sowjetischen Organe nach demokratischem Verhältniswahlrecht konstituiert wurde. (NN: „Dekret des Rates der Volkskommissare über das Gerichtswesen“ vom 05. [Dezember] (22. November) 1917 - NN: „Dekret des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees über das Abberufungsrecht von Deputierten“ vom 04. Dezember (21. November) 1917. Beides in: Achapkin.1970.48f.+46f. - NN: „Položenie VCIK o narodnom sude RSFSR“ [„Beschluss des VCIK [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee] zum Volksgericht der RSFSR“] vom 30.11.1918. In: Dekrete. Bd.IV.1968.97f.) 535 Zu diesem Ergebnis kommt eine vergleichenden Untersuchung dreier Kriege (1. und 2. Weltkrieg, 1. Afghanistan-Krieg) in: Senjavskaja, Je.S.: Čelovek na vojne. Istorikopsichologičeskie očerki. Otv. red.: A.K. Sokolov [Der Mensch im Krieg. Geschichtspsychologische Essays. Hg. v. A.K. Sokolov]. Moskva 1997. S.20. 536 Senjavskaja.1997.28.+46. <?page no="170"?> K APITEL III. 166 Diese enge Durchdringung von zivilen und militärischen Strukturen kommt während des Bürgerkriegs in einer ausgeprägten Militarisierung der Psyche zum Ausdruck: „De facto kann man die gesamte Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert als eine etappenweise Militarisierung des öffentlichen Bewusstseins zum Preis eines Eindringens der charakteristischen Merkmale einer Psychologie des Kombattanten in das zivile Milieu betrachten.“ 537 Ein wesentlicher Faktor für diese Entwicklung ist ein in Russland traditionell nur schwach ausgebildetes Bürgertum, das über ein sehr eingeschränktes Identitätsrepertoire bürgerlicher ‘Rollenbilder’, Lebensentwürfe und Verhaltensmuster mit nur wenigen positiven Abgrenzungsbzw. Widerstandsstrategien („ziviler Ungehorsam“) verfügt. 538 Hinzu kommt, dass die Bevölkerung seit der Oktober-Revolution nicht bloß neue Errungenschaften zu sichern hat, sondern jeder Einzelne und gerade der Künstler aufgerufen wird, einen substantiellen oder innovativen Beitrag zur (präzedenzlosen) Revolution zu leisten 539 . War der Kernstatus des Zivilisten kurz zuvor noch der eines „freien und gleichberechtigten Bürgers“, und derjenige des Militärangehörigen „Soldat der revolutionären Armee“, verkehrt sich dieses Verhältnis bald darauf mit der Umkehrwucht des Dekrets, und der minoritäre „Ehrentitel“ hat nun als „revolutionäre“ Grund-Identität jedes Einzelnen zu gelten: Als Gewissheit und Prinzip gilt fortan, dass der kaum definierte „Bürger“ einerseits „Soldat“ im Sinne eines ‘Rekruten’ oder ‘Reservisten’ ist, und per Einberufung an die Front andererseits zum „Solda- 537 Dies.Ebd.98.+4f. - Dass es auch eine Militarisierung des öffentlichen Unbewussten gibt, offenbart schon die Sprache: „Wie G. Orwell bemerkte, gibt es in keinem einzigen Land ein Überfallministerium, es gibt nur Verteidigungsministerien, was die Kriege allerdings nicht daran hindert, auszubrechen.“ (Ljubimov, G.P.: „Vojna i mir kak sposoby čelovečeskogo bytija“ [„Krieg und Frieden als Seinsarten des Menschen“]. In: Starcev/ Poltorak/ Boriskovskaja.1999.37.) 538 Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb der Begriff „Citoyen“ nicht ins russischsowjetische Bewusstsein vorgedrungen ist, d.h. dort keine „Synapsen“ mit weiterführenden, positiven Vorbildern und Verhaltensweisen entwickelt hat. Mit dem (höfisch geprägten) „Bourgeois“ wiederum ließen sich sehr einfach bekannte Reizfiguren und Feindbilder verknüpfen: Gutsbesitzer, Verwaltungsbeamte, Wissenschaftler — die aufstrebende Mittelschicht. 539 So wendete sich die neue Regierung - der SovNarKom (SNK = Rat der Volkskommissare), das VCIK (Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee) und der STO (Rat für Arbeit und Verteidigung) als höchstes staatliches Beratungs- und Entscheidungsorgan (Torke.1993.264. - Siehe auch FN510.) in ausführlichen Berichten „zur Lage der Nation“ und in wiederholten Aufrufen zur Verbesserung der Versorgungslage explizit an die jeweiligen, betreffenden Gruppen, Vereinigungen, Privatpersonen, und in der herrschenden Notlage sogar an (wohlwollende) Vertreter des früheren Regimes. Von einer verklärenden, auftrumpfenden oder sonstwie schwadronierenden Heroik fehlt dort jede Spur, aber ein verzweifeltes, revolutionäres Durchhalte-Pathos war die Regel. - Židkov.1991.80. <?page no="171"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 167 ten“ im Sinne eines ‘Kombattanten’ werden kann 540 . Unbestimmt ist hingegen die darüber hinausweisende Rolle des „Revolutionärs“, die er gleichwohl stets anstreben muss. Der „Bürger“ soll zudem ‘Patriot’ sein, zugleich aber die Rolle des ‘Internationalisten’ bereithalten — hofft doch die Regierung trotz desaströser Verhältnisse im eigenen Land immer wieder auf eine europa- oder gar weltweite Ausweitung der Revolution (Kap.V.3.) 541 . Innerhalb weniger Monate hatte sich der ohnehin schüttere Rollenbegriff „Bürger“ einerseits atomisiert, anderseits fiktionalisiert: die Gegenwart des Krieges hatte ihn zum „Soldaten“ umbesetzt, die Zukunft zum „Revolutionär“ projiziert. Schließlich führt die Zuspitzung dieser Dynamik zur Neugründung der Geheimpolizei („TscheKá“) 542 , wodurch eine Aushöhlung von sicheren Un- 540 Senjavskaja.1997.11. 541 Dieser marxistische Topos ist bereits im Kommunistischen Manifest von 1848 formuliert und im Konzept einer „permanenten Revolution“ in den Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln“ von 1853 erweitert. (Anweiler.1958.18f.) Im Rekurs darauf wurde - ungeachtet des alten Widerspruchs zwischen „Vaterland“ und „Internationalismus“ - die Bildung der Roten Armee und allgemeine Bewaffnung der Bevölkerung zu innenpolitischen Zwecken als „eine Stütze für die kommende sozialistische Revolution in Europa“ gerechtfertigt. („Dekret Arbeiter-Und-Bauern-Armee.1918. 98f.“) 542 VČK: Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem = Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage. (Haumann in Bütow.1988.25.) Während des Bürgerkrieges gab es eine ganze Reihe von Sonderkommissionen (ČK = „TscheKa“), z.B. die ČKLB (Außerordentliche Kommission zur Liquidierung des Analphabetismus: III.4., FN577 - Siehe auch das Beispiel von ČKval und ČKLap: Kap.IV.2.1., FN715). Ist jedoch von ‘der’ ČK die Rede, kann nur eine gemeint sein: die mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Geheimpolizei, die heute rundweg als Sündenfall und Terrorbasis der Bolschewiki und ihrer politischen Methoden zu bezeichnen ist. (NN: „Položenie VCIK o Vserossijskoj i mestnych črezvyčajnych komissijach po bor’be s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i prestuplenijami po dolžnosti“ [„Beschluss des VCIK [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee] zur Allrussischen und den lokalen außerordentlichen Kommissionen zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Amtsdelikten“] vom 28.10.1918. In: Dekrete.Bd.III.1964.457f.) Die Ursache und Dynamik des „Roten Terrors“ erklärt P.N. Miljukov (Fraktionsvorsitzender der Konstitutionellen Demokraten in der Staatsduma und zeitweiliger Außenminister der Provisorischen Regierung) folgendermaßen: „Vereint haben sich hier eine tiefgehende, an den Fronten des Weltkriegs entstandene Deformierung der menschlichen Psyche mit der Überzeugung, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein - eine Art religiösen Glaubens, in dessen Namen vor Zeiten Scheiterhaufen loderten -, ferner mit dem der Banditen [gemeint sind die Bolschewiki, MD] eigenen Gefühl vollkommener Straflosigkeit und, vor allem, mit der Angst der Verbrecher, die an der Macht bleiben müssen, um ihr eigenes Leben zu erhalten. [kursiv MD]“ (Miliukow, P.: Rußlands Zusammenbruch. Erster Band. Leipzig, Berlin 1925. S.77.) Im Rückblick ist der „Machterhalt aus Angst um das eigene Leben“ (oder der Wille zur Macht als Selbstzweck) als vordergründiges und eigennütziges Motiv der Bolschewiki allerdings infage zu stellen, denn ein Spezifikum des Radikalen ist gerade die Tatsache, dass Fanatiker sich selbst nicht schonen: die angeblich prospektiv gefürchtete „Strafe“ <?page no="172"?> K APITEL III. 168 terscheidungskriterien und die Ausdehnung eines diffusen Phantombilds vom „Konterrevolutionär“ oder „Klassenfeind“ eher noch befördert wurden: „Die Verfolgung des Feindes von außen verlagert sich ins Landesinnere, die Begriffe ‘das Eigene - das Fremde’ verlieren ihre frühere Bestimmung, und als ‘Feind’ kann sich dann jeder herausstellen, wobei die Kriterien der ‘Fremdartigkeit’ sich ständig ändern und erweitern.“ 543 Die tatsächliche oder vermeintliche äußere Anpassung des Gegners verlangt also eine immer größere Wachsamkeit und Wahrnehmungsleistung, ohne dass der durchschnittliche „Bürger“ sein eigenes Verhalten in den täglich wechselnden Verhältnissen zuverlässig gegen den „Feind“ absichern kann: in einer Atmosphäre aus Angst und Argwohn trägt der passive oder aktive Revolutionsteilnehmer nicht allein die Last von Krieg und Terror, sondern noch die Bürden von Utopie und Fiktion. Die physische Kriegsfront mutiert nach innen, zur psychischen Grenzerfahrung: die Spaltungserscheinungen der Jahrhundertwende erweisen und erweitern sich als Gegenwart und Realität der Revolution. III.3. Das „Mythologische Bewusstsein“ Ein fundamentales Indiz für die neue Wechselwirkung zwischen der Öffentlichkeit und dem Raum stellt die Praxis der Umbenennungen dar: Warum ermöglichte eines der frühesten Dekrete die Änderung von Spitz- oder Familiennamen (nicht aber von Vornamen), wohingegen Umbenennungen öffentlicher Orte zwar früh dekretiert 544 , aber nur vereinzelt umgesetzt 545 und erst liegt als Opfer bereits längst hinter ihnen (Mißstände, Repressionen, Misshandlungen, Verluste, Verfolgung, Flucht, Untergrund, Exil). Fanatiker haben nur wenig zu verlieren — aber viel zu gewinnen: es handelt sich hierbei nicht um „eine Art religiösen Glauben“ (Miljukov) — um keine ‘Ersatzreligion’ (Einleitung 5., FN199), sondern es geht ihnen tatsächlich um etwas Heiliges (zu diesem Begriff und seinem Pendant siehe: Einleitung 5., FN164 und Kap.I.1.2., FN217), um einen absoluten Wert, der notfalls den absoluten Gegenwert oder Höchstpreis (Menschenleben) erfordert. Es geht um einen - in Theorie und Praxis - echten Glauben an eine (r)echte Sache. Die charismatische Militanz, mit der sich die Bolschewiki anfangs nachweislich für den Frieden eingesetzt hatten, und der ihnen im Gegenzug zuerst die Machtbasis sicherte (FN527), verkehrte sich ab August 1918 (Anschlagserie auf Lenin und andere hohe Funktionäre) zum innenpolitischen, „roten Terror“, der folgerichtig später auch vor der Führungsriege nicht haltmachte („Beschluss zum roten Terror.1918.“). 543 Senjavskaja.1997.98. - Daškovskij, P.K.: „K voprosu o psichologičeskich posledstvijach Pervoj mirovoj vojny“ [„Zur Frage der psychologischen Folgen des Ersten Weltkriegs“]. In: Starcev/ Poltorak/ Boriskovskaja.1999.33. 544 „Dekret Denkmäler.1918.139f.“ 545 NN: „Iz soobščenija ob ukrašenii Petrograda k pervoj godovščine Oktjabrja, opublikovannogo v gazete ‘Žizn' iskusstva’“ [„Aus der Mitteilung zur Dekoration Petrograds <?page no="173"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 169 seit 1922 546 regulär praktiziert wurden? Warum fanden Umbenennungen in großem Stil und als Bestandteil der Revolutionsfeiern relativ spät statt, wo doch die Gestaltung und Einweihung von Straßenschildern oder Gedenktafeln durchaus effektvoll aber ungleich problemloser durchzuführen wäre, als aufwändige und ausladende Umzüge und Aufbauten? Meine These hierzu lautet, dass gerade die Ernsthaftigkeit („seriousness“, „solemnity“: III.2., FN510) im Umgang mit Symbolen sich gegen eine vorsätzliche Verfügbarkeit („choosing new symbols“) und zeitliche Manipulationen sperrt (wie das Gesetz im Unterschied zum Dekret), da der kultische Gehalt und die soziale Assimilierung des Symbols eine irreduzible Zeitspanne erfordern. In der revolutionären Ereignisfrequenz und ständigen Zeitnot haben etablierte, orthodoxe Praktiken gegenüber einem unausgereiften, sowjetischen Regelwerk einen erheblichen Vorsprung und eine sichtbare Akzeptanz, die auch für Umbenennungen gelten. Durch die gesamte russische Geschichte lässt sich eine Parallele zwischen epochalen Umwälzungen und weitläufigen Namensänderungen beobachten, die als Akt der kulturellen Kontrolle gegen eine Dynamik des sozialpolitischen Chaos gesetzt wurden 547 . Lótman und Uspénskij zufolge kommt die Neubenennung von Dingen einem kulturellen Schöpfungsakt gleich, während die Umbennung einer Umgestaltung entspricht, genauer einer „Wiedergeburt“ — oder aber „Ausartung“ (pereroždénie 548 als Homonym für beides). In das Spektrum und in die Kritik zwischen Evolution und Mutation gerieten beispielsweise die Reformen Peters I. (des „Großen“), wodurch Staat und Hauptstadt (man bedenke alleine die Namensänderungen seit und bis „Sankt- Petersburg“ 549 ), Ränge und Institutionen, Sitten und Sprache, schließlich auch der Zar und Imperator selbt erfasst wurden, den seine stillen Gegner als ‘Antichristen’ betrachteten, wohingegen er für seine ausgesprochenen Feinde der „Antichrist“ war und ebenso genannt wurde. 550 am ersten Oktober-Jahrestag, abgedruckt in der Zeitung ‘Leben der Kunst’“] (09.11.1918). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.17.74f. (= „Mitteilung Dekoration Petrograds erster Oktober-Jahrestag.1918.“) 546 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.81. - Mazaev.1978.354. 547 Uspenskij zufolge sind Namensänderungen prinzipiell ein „Lakmus-Papier“ für verdeckte oder offene soziale Umbrüche. (Uspenskij, B.A.: „Mena imën v istoričeskoj i semiotičeskoj pespektive“ [„Die Namensänderung in historischer und semiotischer Perspektive“]. In: Ders.: Izbrannye trudy. Tom II. Jazyk i kul’tura [Ausgewählte Arbeiten. Band II. Sprache und Kultur]. Moskva 1994. S.153f.) 548 Lotman/ Uspenskij in Lotman.1973.286. 549 Sankt-Peterburg, Petropolis, Petropol’, Petrograd, Petroslav, Petrograd, Leningrad, Sankt-Peterburg - „Piter“: III.2., FN509. (Kann, P.Ja. / Suchotin, Ja.L.: Putevoditel’. Sankt-Peterburg i prigorody [Reiseführer. Sankt-Petersburg und Vororte]. Sankt- Peterburg 2000. S.14). 550 Wie kein anderer Regent davor oder danach verkörperte Peter die Öffnung zum Westen: insbesondere die Abschaffung der materiellen und ideellen Autonomie der Klöster und die Umwandlung der Kirche zu einer Staatskirche (1721 - vgl. III.2., FN517), <?page no="174"?> K APITEL III. 170 In kultursemiotischer Sicht entsprechen diese Zuordnungen (der Antichrist sein und ebenso benannt werden) einem isomorphen Vorgang, bei dem „die Dinge dieser Welt über die gleiche Welt beschrieben werden, die in der gleichen Art gebildet / geformt ist“, und die Lótman und Uspénskij als „mythologisches Bewusstsein“ bezeichnen 551 . Innerhalb dieses „mythologischen Bewusstseins“ - womit folglich kein referentieller Rekurs auf / keine rationale Verfügbarkeit von Mythologeme/ n, sondern konkrete Denkweisen und Mentalitätsgefüge gemeint sind - verhält sich das Zeichen oder der Name analog zum Träger oder zum Objekt, und begründet eine ontische Bedeutung und Bindung zwischen Benennung und Benanntem: Der Name prägt die Identität des Trägers, die Bezeichnung ‘besiegelt’ die Realität des Objekts. Daraus folgt die Unübersetzbarkeit des Namens (und des Trägers) in ein anderes semiotisches System, wie etwa die Metapher oder eine Fremdsprache; der Name ist nicht ‘uneigentlich’ und keine Trope, sondern mythologisch — umgekehrt ist der Mythos personell bzw. nominal gebunden 552 : „Die mythologische Gleichsetzung hat einen prinzipiell außertextlichen Charakter, und entstammt der Unabtrennbarkeit des Namens / der Benennung von der Sache. Dabei kann es sich nicht um den Ersatz äquivalenter Namen / Benennungen handeln, sondern um die Transformation des Objektes selber.“ 553 Dieser Befund enthält einen kultischen Kern, den die kulturelle und politische Praxis weitertradiert — Namensgebung und Tauf-Monopol (Kirche), Deutungshoheit und Definitionsmacht (Staat: siehe Kap.IV.5.1., FN789) sind seit jeher aufs Engste miteinander verknüpft: „Eine Ikone wird eigentlich erst dann zur Ikone, wenn die Kirche die Entsprechung zwischen dargestelltem Bild und darzustellendem Urbild anerkannt hat oder, anders ausgedrückt, das Bild benannt hat. Das Recht der Benennung, d.h. der Bestätigung der Selbstidentität der auf der Ikone dargestellten Person, kommt ausschließlich der [orthodoxen, MD] Kirche zu / .../ .“ 554 (Vgl. hierzu III.2., FN511+512). sowie der Eingriff ins äußere Erscheinungsbild der Person (kurze Bärte, kurze Röcke) handelte Peter den Ruf ein, ‘des Teufels’ zu sein. 551 Lotman/ Uspenskij in Lotman.1973.283. - Die Isomorphie dieses kognitiven Vorgangs entspricht der orthodoxen ‘Analogierelation’ und Didaktik, die den Gläubigen stets zur „Teilhabe“ an einer „Erkenntnisgemeinschaft“ auffordert: „Aber es genügt nicht / .../ sich mit der Trinität zu vereinen, man muss sie noch in seinem eigenen Leben zum Ausdruck bringen: Ähnliches ist durch Ähnliches erkennbar.“ (Jevdokimov in Stupperich.1966.65.) 552 Lotman/ Uspenskij in Lotman.1973.286. - Lotman datiert die Namenlosigkeit des sowjetischen Helden mit der stagnierenden Revolution auf die Mitte der 20er Jahre, d.h. auf die allmähliche Festigung der Sowjetmacht (der Parteimacht). (Lotman, Ju.M.: „Durak i sumasšedšij“ [„Der Dummkopf und der Irre“]. In: Ders.1992/ b.102f. - Dazu auch: Ders.: „Mir sobstvennych imën“ [„Die Welt der Eigennamen“]. In: Ebd.52f.) 553 Lotman/ Uspenskij in Lotman.1973.300. - Boesch.1980.84f. 554 Florenskij.(1922).1996.100. <?page no="175"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 171 Daneben bleibt ein weiterer ontischer Aspekt wirksam: „Einem neuen Zustand entspricht ein neuer Name.“ 555 — auch in Bezug auf nicht-kanonisierte, natürliche Personen und Dinge. Sowenig also der Name semiotisch übersetzbar ist, sowenig ist die Reihenfolge dieser Gleichung umkehrbar: „Die Spezifik des mythologischen Denkens besteht darin, dass die Gleichsetzung isomorpher Einheiten auf der Ebene der Objekte selbst erfolgt, und nicht auf der Ebene der Namen.“ 556 „Zustand“ und „Name“ definieren also nicht nur eine Reihenfolge, sondern bergen auch das Risiko einer ‘Besiegelung’ von Irrtum oder Falschheit, und damit einer Kontamination von Wahrheit und Scheinwahrheit (von Welt und Scheinwelt), d.h. die Gefahr einer „illegitimen Symbiose“ (Ájchenval’d: Kap.I.4., FN322). In der Einbruchphase einer visuellen in eine orale Kultur verweist das Fehlen von Dekreten zur Änderung der Vornamen auf die bestehende Gültigkeit der orthodoxen Logik des gesprochenen Wortes (Kap.I.4.): In der privaten Sphäre bedarf eine Änderung des Vornamens keiner amtlichen ‘Kennung’, da der Träger über den Rufnamen und zusätzlich über den Taufnamen identifizierbar bleibt. Dagegen erfordert der soziale Radius eines neuen Familiennamens aufgrund der größeren ‘Infizierbarkeit’ im Falle eines Irrtums oder Missbrauchs, d.h. im Falle einer drohenden Scheinwahrheit eine besondere, schriftliche ‘Kennung’ per Dekret. Entsprechend aufwändiger und daher zeitversetzt erfolgen die Umbenennungen öffentlicher Objekte und Orte, deren ungleich höhere, da gesamtgesellschaftliche Bedeutung und Reichweite zuerst etabliert, dann symbolhaft und rituell begleitet und beglaubigt werden muss: Erst als das Marsfeld, das bereits 1918 Begräbnisort der Aufständischen war, auch als Ereignisort der Revolution anerkannt wurde, erfolgte 1922 seine Umbenennung zum „Platz der Revolutionsopfer“ (III.4., FN627). Als Teil einer informellen, oralen (orthodoxen) Kultur erfolgt die Semiosis von Namen nach der Transformation ihrer Träger (Objekte), entspricht also den jeweils gültigen, wahrnehmbaren Verhältnissen, und sperrt sich gegen eine offiziöse, präjudizierende Verfügbarkeit. Erfolgt dennoch eine Umbenennung, entspricht dieser Vorgang einer Manipulation bzw. jener umstandslosen „Übermalung“ russischer Herrscherporträts, die den Vorgänger nicht ‘absetzen’, sondern am Rahmen erkennen und im Zentrum erahnen, also weder vergessen noch erinnern lassen 557 . Diese Form von Verfremdung („Ausartung“) - die das Alte nicht entlässt und das Neue nicht zulässt (man denke an den balsamierten Lenin: Einleitung 4., FN92) - wäre insofern bloß ein „Dekorationswechsel“, der „nicht nur als Metapher“ (Schlögel) neue Verhältnisse infrage stellt, sondern die konkrete ‘Rolle’ ihrer Autoren und Adressaten fragwürdig macht. 558 555 Lotman/ Uspenskij in Lotman.1973.296. 556 Dies.Ebd.302. 557 Dies.Ebd.299. - Die willkürliche Umbenennung entspricht demnach einer Täuschung, etwa bei politisch illegitimen Selbsternennungen. (Uspenskij.1994.Bd.2.155.) 558 Schlögel.1988.356. <?page no="176"?> K APITEL III. 172 III.4. Krieg und Kunst: vom „Ort“ zum „Raum“ „Karte“ oder „Weg“. Im Zuge jener Entwicklungen, die den „Bürger“ einerseits zum realen (Front)Kämpfer, anderseits zum fiktionalen (Konter)Revolutionär umdefiniert hatten, ist ein weiterer Umschlag von einem physischen Ort in einen projektiven Raum zu beobachten. Diese Unterscheidung folgt der Begriffsbestimmung von M. de Certeau, und kann verkürzt als „Punkt“ oder ‘Strecke’ beschrieben werden: „Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. / .../ Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. / .../ Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren. [kursiv MD]“ 559 Während also der Ort als Ordnung und von seinen Grenzen her begreifbar ist und gleichsam eine zentripetale Kraft enthält, aktualisiert sich der Raum durch bestimmte Optionen von Neuordnung und Grenzüberschreitung, und folgt eher einem zentrifugalen (dezentralen) Prinzip. Die daraus resultierende Orientierung am Ort (der „Ordnung“) oder im Raum (von ‘Optionen’) entspricht jeweils dem Typ „Karte“ (dem schlagartigen, bildhaften Erfassen einer Anordnung von Punkten), oder aber dem „Weg“ (dem tastenden, performativen Erschließen einer Strecke): „Anders gesagt, die Beschreibung schwankt zwischen Alternativen: entweder sehen (das Erkennen einer Ordnung der Orte) oder gehen (raumbildende Handlungen). Entweder bietet sie ein Bild an (‘es gibt...’) oder sie schreibt Bewegungen vor (‘du trittst ein, du durchquerst, du wendest dich...’).“ 560 Die Programmatik von Ort oder Raum, so meine Folgerung, hat demnach unmittelbare Auswirkungen auf das Verhalten: Im Unterschied zum Ort, dessen Merkmale ihn zu einer Handlungsvorgabe verdichten, bilden die Eigenschaften des Raumes eine ‘Plastizität’, in der sich Handlungsmöglichkeiten mit Projektionsflächen verschränken und entfalten. So sind Raum und Handlung einerseits über eine ideelle (planerische) oder ästhetische (fiktionale) Projektion, anderseits über eine soziale (politische) und proxemische (motorische) 559 Certeau.1988.217f. 560 Ders.Ebd.221. - Vgl. hierzu den ‘tastenden’ Wahrnehmungsvorgang im „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3., FN497/ 500. <?page no="177"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 173 Bewegung aufeinander bezogen: erst die Prozesshaftigkeit und Kontingenz von Projektion und Bewegung konstituiert Raum und ermöglicht Handlung. Wie nun zu sehen sein wird, lässt sich das von Certeau dargelegte Orientierungsbzw. Verhaltensmuster „Bild“ („Karte“) vs. „Bewegung“ („Weg“) auch in der russisch-sowjetischen Festkultur nachvollziehen. Dabei bewirkt bereits die Veränderung von Markierungen eine Veränderung von Verhalten, und damit eine Umnutzung und Verschiebung vom Ort zum Raum — oder aber ein Umschlagen vom Raum zum Ort. Repräsentationsorte. Petersburg ist aus einem Militärbau als einem strategischen Stützpunkt für die Expansionspolitik Peters I. entstanden, die damals und im historischen Rückblick einer revolutionären Erschütterung gleichkam. Seither und bis zum Ende des Bürgerkriegs war die Peter-und-Paul-Festung Ort und Symbol politischer Verfolgung und Unterdrückung 561 , und „Kasernen, Marinebasen und Militärschulen / .../ verteilten sich geradezu ‘strategisch’ über die ganze Stadt.“ 562 Eine militärische und staatliche Repräsentations-Symmetrie prägt das Stadtbild — fassadenbelebt durch verschiedene Baustile des westeuropäischen Adels- und Bürgergeschmacks, und konterkariert durch die organischen Krümmungen und unvorhersehbaren Fluchtpunkte der Kanäle: „Es [Petersburg] ist fast in einem Guß und durch einen Willen entstanden (für die vergangenen, die künftigen Zeiten [kursiv MD]) mit geraden, breiten Perspektiven, Aufmarschplätzen, vielflügeligen Palais, Kasernen, Krankenhäusern, Heimen, Instituten, Ministerien, Theatern und Privathäusern, die wie öffentliche aussehen, Kirchen, die wie das Pantheon mit Säulen aussehen. / .../ Und die Leute hier waren immer in Eile, waren beschäftigt und geschäftig, nicht, weil sie Beamte waren, sondern weil die Luft hier so ist. Mir scheint, bis zum letzten Jahr war nicht ganz klar, warum Petersburg auf diese Art gebaut und angelegt wurde. Die Straßen für Massenbewegungen, die Palais und Kasernen für ein Gemeinschaftsleben, die Pantheons, die Nähe des Meeres, Kronstadt — alles ist plötzlich an seinem richtigen Platz. / .../ In Petersburg gibt und gab es keine ‘Höhlen’ [gemütliche Winkel, MD], weil es als ganzes eine Arena ist. Eine Arena für massenhafte, staatliche, kommunale Bewegungen. Das nenne ich Stil.“ 563 561 „Die Peter-Paul-Festung an der Njewa in Leningrad, 1703 begründet, unter den Zaren vorzugsweise Gefängnis für politische Häftlinge, seit 1917 vorübergehend Gefängnis für die verhafteten Kerenskij-Minister, seit 1922 als Gefängnisabteilung dem Schutze des Leningrader Revolutionsmuseums unterstellt. [fett MD]“ (Hodann, M.: Sowjetunion. Gestern, heute, morgen. Berlin 1931. S.7.) 562 Altrichter.1997.307. - In der Gründung einer Schule der Militär- und Marine- Geistlichkeit kommt die militärische Grundstrategie Peters I. beim Aufbau verwaltungsstaatlicher Strukturen besonders klar zum Ausdruck. (Senjavskaja.1997.76.) 563 Kuzmin, M.: „Arena massovych dviženij“ [„Eine Arena der Massenbewegungen“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°11 vom 12.11.1918. S.4. <?page no="178"?> K APITEL III. 174 An diesen „Orten der Ordnung“ waren die führenden Schichten („Jeder dritte männliche Erwachsene der Stadt trug Uniform.“ 564 ), gleichsam in architektonischen ‘Modulen’ gruppiert und in ausladenden Silhouetten weithin erkennbar: „War das Viertel um den Winterpalast Mittelpunkt des höfisch-aristokratischen Rußland, so wurde es der Nevskij-Prospekt für Bürgertum und Kapitalismus.“ 565 Auch die Industrie verfügte mit ihren Schloten, Rampen und Werktoren über prägnante Merkmale und war in zusammenhängenden ‘Inseln’ über die ganze Stadt und bis zur Peripherie verteilt. Demgegenüber und dazwischen war die Arbeiterschaft an den Rändern und in den ‘Ritzen’ angesiedelt, gleichsam netzartig und unauffällig, versorgte die ‘Module’ und lebte in kleinen Holzhäusern oder Baracken, auf Dachböden und in Kellern, oft auch in einzeln abgeteilten Zimmerecken, ohne ausgeprägte Ballungspunkte oder Hochburgen zu bilden wie in anderen europäischen Metropolen („keine ‘Höhlen’“) 566 . Hier hatte der nachstehend skizzierte Diskussionsraum seinen Ursprung: das Rumoren konnte nur über die Nahtstellen und Zwischenräume der dicht aneinander grenzenden ‘Inseln’ einsickern — mit entsprechend hohem Risiko. Demographisch gesehen war die Topographie Petersburgs somit stets von Pomp und Protest, von Repräsentations- und Revolutionsgeist durchdrungen: Peter demonstrierte seine Macht durch die Statik einer Arena („Bilder“ / Punkte - „Karte“), die Aufständischen demonstrierten ihre Ansprüche in der Dynamik der Massenbewegungen („Bewegungen“ / Strecken - „Weg“). 567 Diskussionsraum. Mit der Oktober-Revolution füllt sich das offizielle, statuarische Petersburg mit einem informellen und fließenden, gleichsam plastischen Diskurs. Seit jeher finden in der Bauernschaft „/ .../ Bittprozessionen statt, bei denen viele Kruzifixe, Fahnen und besonders Heiligenbilder mitgetragen werden. [kursiv MD]“ 568 ( ❐ 5) Die Bildhaftigkeit und Wahrnehmung dieser Elemente steht jedoch nicht für sich, sondern ist unmittelbar verknüpft mit der persönlichen Zwiesprache mit der Ikone („Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3.) sowie mit dem chorischen Gesang und dem kollektiven Gang unter freiem Himmel (Kap.I.1.2.): in diesem Verbund findet das orthodoxe Prinzip und Krisen-Remedium „Laute“ und „Bewegung“ (Kap.II.2., FN432/ 435 - Kap.II.3.) seinen direkten Ausdruck. Mit der Hochkonjunktur der 1890er Jahre ist das oppositionelle Proletariat Russlands in der Lage, wirksame Protestformen wie Versammlungen, Beschwerden oder Boykotts zu entwickeln, die sich gegen unverhältnismäßige Arbeitsbedingun- 564 Moynahan.1994.22. 565 Altrichter.1997.35f. 566 Moynahan.1994.38. 567 So fundiert wie spannend zum Stadtraum, d.h. zur kulturhistorischen, sozialpolitischen und architektonischen Topographie Petersburgs: Schlögel.1988. 568 Beck.1926.74. <?page no="179"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 175 gen, bürokratische Willkür oder juristische Sanktionen richten. Aus den Pilgerreisen der Gläubigen 569 und den Prozessionen der Kirche, den westeuropäischen Demonstrationen der Arbeiterbewegung und den nationalen Begräbnissen gefallener Aufständischer entwickeln sich Kundgebungen und Umzüge mit Marschmusik und Orchesterbegleitung zu den zentralen Ausdrucksformen sozialen Widerstands. Zwar schwächt die Wirtschaftsflaute nach der Jahrhundertwende die Position des Proletariats, und „Der Staat sah jeden Streik, schon gar die Organisation von Streikkassen und gewerkschaftlichen Vertretungen (bis 1905) als illegal an.“ 570 Doch mit der industriellen Beschleunigung haben sich auch soziale Kommunikationsprozesse und politische Artikulationsformen effektiviert und erfahren mit der Oktober-Revolution einen neuen Aufschwung: auf Kundgebungen oder Demonstrationen rücken Plakate und Transparente das geschriebene Wort als Losungen, Forderungen oder Kampfansagen allmählich in den Vordergrund ( ❐ 6). Gegen Ende des Ersten Weltkrieges wird das gesprochene Wort in Form von Diskussionen oder auch Gerüchten zum nahezu einzigen Medium inmitten der infrastrukturellen Zerrüttung und voranschreitenden Auflösung der Gesellschaft, die von psychischer Anspannung und restriktiver Informationspolitik geprägt ist. Was man in Zeiten sozialpolitischer Unruhen als ‘Gähren’ oder ‘Rumoren’ bezeichnet, entspringt zweifellos dem Ursprungsmedium Stimme (‘Stimmungen’) oder Sprache, und folgt einer oralen Tradition: „Sogar in der Generalität, selbst im Generalstab debattierte man nun - mitunter ziemlich offen - über die Möglichkeiten eines Staatsstreichs, über Pläne, die dazu in Dumakreisen oder sonstwo angeblich oder tatsächlich bereits kursierten, unter Einschluß von höchsten Kommandeuren, Generälen und Admirälen.“ 571 Nach der Absetzung des Zaren, den „Kapriolen der wechselnden Kabinette“ der Provisorischen Regierung, die ihrem Namen mit vier Umbil- 569 Bekannt waren die Pilger-Märsche nach Kiev und Zagorsk: „Die Dorfbewohner bildeten kleine Gruppen von 10 bis 15 Personen. Immer war jemand dabei, der die Gegend, den Weg gut kannte. Als Verpflegung nahmen sie Tee, Zucker und getrocknetes Brot mit. Während der stundenlangen Märsche sangen sie religiöse Lieder oder erzählten sich Geschichten aus dem Leben von Heiligen, andere Gespräche waren untersagt.“ (Kuchinke/ Dmitriev.1989.87.) 570 Altrichter.1997.65. - „Demonstrations of protest such as strike marches of funeral processions for fallen comrades began to multiply after 1905. Since the atmosphere was tense and the space constricted, the marches were militant trespassers into allien zones, sometimes [mostly! MD] menaced by police.“ (Stites in Arvidsson/ Blomqvist. 1987.23f.) 571 Altrichter.1997.310. - Poležaev, D.V.: „‘Zolotoj vek’ russkoj filosofii i Pervaja mirovaja vojna“ [„‘Das Goldene Zeitalter’ der russischen Philosophie und der Erste Weltkrieg“]. In: Starcev/ Poltorak/ Boriskovskaja.1999.14f. - Kovaleva, A.S.: „O vzaimootnošenijach meždu russkoj liberal’noj buržuaznoj oppoziciej i pravitel’stvom v chode Pervoj mirovoj vojny“ [„Über die Wechselbeziehungen zwischen der russischen liberalen bürgerlichen Opposition und der Regierung im Laufe des Ersten Weltkriegs“]. In: Starcev/ Poltorak/ Boriskovskaja.1999.105. <?page no="180"?> K APITEL III. 176 dungen in sechs Monaten alle Ehre machte 572 und der undurchsichtigen Kornílov-Affäre 573 , entwickelte sich die konspirative, selektive Überlieferung seit dem Umsturz der Bolschewikí zu einem offenen und vielfältigen Diskussionsraum. Dieser füllte und erweiterte sich fortan infolge des akuten Informations- und Bildungshungers sowie des kaum zu überschätzenden, traditionellen Stellenwerts des gesprochenen und geschriebenen Wortes ( ❐ 11 in Kap.II). Dieser Befund lässt sich paradoxerweise durch sein Gegenteil verifizieren: bald wurde die Achtung vor dem Buch zur Ächtung seiner Hüter missbraucht. Landesweite Zwangsrequirierungen (razvërstki, seit Mai 1918 - Kap.IV.2.2.) waren nicht nur kriegsbedingte Maßnahmen zur Umverteilungen von Gebrauchsgütern, sondern zunehmend auch ein politisches Instrument gegen den „Bourgeois“ (buržúj) und die entsprechend verunglimpfte Intelligéncija (der „innere Feind“: III.2., FN538), deren Wohnungen konfisziert und deren Bibliotheken verstreut wurden: „Der Zusammenbruch dieser Sphäre der autonomen Kultur materialisiert sich geradezu in der Flut der aus herrenlos gewordenen oder enteigneten Bibliotheken stammenden Bücher, von denen die Petersburger Märkte, Buchhandlungen und Basare voll sind. / .../ Das Buch wird für eine gewisse Zeit zum Überlebensmittel: als Brennstoff, mit dem die ‘buržújka’ - der eiserne Kanonenofen - gefüttert wird.“ 574 Das Buch wird zur Waffe gegen und für die eigene Bevölkerung — auch darin zeigt sich die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch). Wenn Zeitzeugen von einer „Lesesucht“ oder gar „Wissensanbetung“ sprechen, der mit einer tonnenschweren und landesweiten „Überschwemmung“ durch Flugblätter und sozialökonomische und philosophische Schriften begegnet wurde 575 , kommt in diesem (natur)gewaltigen Bedürfnis und organisatori- 572 Altrichter.1997.325. - Rosenfeld, G.: „Glossar“. In: Nabokow, W.D.: Petrograd 1917. Der kurze Sommer der Revolution [1922]. Berlin 1992. S.219f. (= Rosenfeld/ b. in Nabokow.[1922]1992.) 573 Der im September 1917 gescheiterte Putschversuch des von der Provisorischen Regierung eingesetzten Oberbefehlshabers Kornilov war ein spektakulärer Katalysator für die politische Kräfteverteilung und zog eine allgemeine „Psychose“ gegen die höheren Militärränge (Bontsch-Brujewitsch[Bonč-Bruevič].1959.323.), insbesondere gegen die Offiziere nach sich: Kornilow kämpfte für die Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland und für eine drakonische Staatsautorität und Militärdisziplin. Sein Putsch gegen Petrograd wurde u.a. von den damals illegalen Bolschewiki vereitelt. Im Zuge der Ermittlungen geriet schließlich auch Kerenskij in den Verdacht, zu den Hintermännern zu gehören, was die ohnehin provisorische Regierung zusätzlich schwächte und den Bolschewiki die Zielgerade der Machtergreifung bereitete. (Altrichter.1997.203f.+ 324. - Rosenfeld/ b. in Nabokow.[1922]1992.195.) 574 Schlögel.1988.437. 575 Hodann.1931.196. - „Ganz Rußland lernte lesen. Und es las - Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte Wissen... In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere. Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen. Der Drang nach Wis- <?page no="181"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 177 schen Aufwand eine Energie zum Ausdruck, die allein deshalb bedeutend ist, weil sie sowohl über die kurzfristige Dekretierbarkeit 576 als auch über eine planmäßige Beseitigung der kriegsbedingten Desinformation und des allgemeinen Analphabetismus 577 weit hinausgeht. Dem Wissensdurst lag nicht bloß ein instrumenteller Zweck, sondern stets auch ein ontisches Motiv zugrunde — die einzigartige Erfahrung, an etwas völlig Neuem und zweifellos Bedeutendem mitzuwirken: „Ich erinnere mich, wie konzentriert und erfreut mir die Rot-Armisten an der Front zuhörten, als ich spät abends - da der Tag mit militärischer Arbeit angefüllt war - in der Dunkelheit (es gab niemals Licht) anfing, ihnen Arithmetik beizubringen. Die Leute hatten ihre Freude an der Empfindung, dass sie etwas ganz vom Anfang her beginnen, legten sich ins Zeug und ackerten.“ 578 Einen ästhetischen Mehrbedarf belegen weit vorher zahlreiche Front-Ausgaben zeitpolitischer Dramatik, der im Hinterland und der Provinz umso dringender war: „Aus Mangel an Revolutionsstücken beginnen Autoren aus den hintersten Winkeln Revolutionsstücke in Eigenproduktion zu verfassen.“ 579 sen, solange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten sechs Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Rußland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert — es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis ...“. (Reed.[1919]1983.50f.) - Dem wäre noch die Flut von „Beschlüssen“ und „Dekreten“, „Richtlinien“ und „Anordnungen“ hinzuzufügen, die keinesfalls die ‘Ansprache auf Augenhöhe’ („Appelle“ und „Mitteilungen“, „Aufrufe“ und „Rundbriefe“) überwog. 576 NN: „Dekret o likvidacii bezgramotnosti sredi naselenija Rossijskoj Socialističeskoj Federativnoj Sovetskoj Respubliki“ [„Dekret zur Liquidierung des Analphabetismus in der Bevölkerung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“] vom 26.12.1919. In: Dekrete.Bd.VII.1975.50f. - Neben der Zivilbevölkerung wurden auch die Armee und die Flotte zum Lesen- und Schreibenlernen verpflichtet. Für die (bezahlte) Unterrichtung konnten alle Lese- und Schreibkundigen herangezogen werden. (NN: „Dekret o mobilizacii gramotnych“ [„Dekret zur Mobilisierung der Lese- und Schreibkundigen“] vom 10.12.1918. In: Dekrete.Bd.IV.1968.194f.) 577 Neben den Dekreten zur Beseitigung des Analphabetismus wurde 1920 die „Allrussische Außerordentliche Kommission zur Liquidierung des Analphabetismus“ gegründet (VČKLB), die bis 1930 bestand. (NN: „Dekret SNK ob učreždenii Vserossijskoj črezvyčajnoj komissii po likvidacii bezgramotnosti“ [„Dekret des SNK [Rat der Volkskommissare] zur Gründung der Allrussischen außerordentlichen Kommission zur Liquidierung des Analphabetismus“] vom 19.07.1920. In: Dekrete.Bd.IX.1978.239f. - Alekseev, D.I. / Gozman, I.G. / Sacharov, G.V. (Hg.): Slovar’ sokraščenij russkogo jazyka [Lexikon der Abkürzungen der russischen Sprache]. Moskva 1983, S.81.) 578 Šklovskij/ a.1923.54. 579 NN: [Ohne Titel]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°23, 1919. S.3. Zitiert in: Tamašin.1961.13. - Zur dramatischen Print-Produktion: Tamašin.1961. <?page no="182"?> K APITEL III. 178 Im Zuge pragmatischer Handlungsanweisungen werden Freiflächen und Fassaden mit optischen Markierungen, d.h. mit verbindlichen ‘Setzungen’ in Form von Dekreten oder Beschlüssen, Aufrufen und Einladungen tapeziert. In deren Folge bildet eine Vielzahl personeller (institutioneller) Handlungsträger neuartige, potentielle Handlungsstrukturen, wie etwa Komitees und Kommissionen, die in Konferenzen und auf Kongressen informell und verbal Politik betreiben, d.h. Projekte und Projektionen entwickeln 580 : „Es wurden Das eingangs beschriebene „Theaterfieber“ (Einleitung 1., FN1/ 3 und 2., FN19/ 26 sowie 4., FN107; III.1., FN508 und hier FN617), die Versorgung mit Gastspielen in der Provinz und der Verschleiß an der Front führten zu chronischen Engpässen von hochwertigem Repertoire und von qualifiziertem, künstlerischen und pädagogischen Personal. (Židkov.1991.25., 31., 59. - Furmanov, D.A.: „Iz pis’ma voenno-političeskogo komissara 25-j strelkovoj divizii D.A. Furmanova v CK RKP(b) o repertuare frontovych teatrov“ [„Aus einem Brief des Kriegs- und Polit-Kommissars der 25. Schützen-Division D.A. Furmanov an das ZK der RKP(B) über das Repertoire der Front-Theater“] vom 16.06.1919. In: Jufit.1968.315. - Brjanskij, A.: „Krasnoarmejskie teatry“ [„Die Theater der Roten Armee“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°448 vom 11.05.1920. S.1. - NN: „Iz doklada Dmitrieva na zasedanii Pervoj armejskoj kul’turno-prosvetitel’noj konferencii IX Kubanskoj armii (protokol vtorogo dnja zasedanija)“ [„Aus dem Vortrag von Dmitriev der Sitzung der Ersten Kultur-und Bildungs-Konferenz der IX. Kubaner Armee (Protokoll des zweiten Sitzungstages)“] vom 28.05.1920. In: Jufit.1968.318. (= „Vortrag Dmitriev Kubaner Armee.1920.“) - NN: „Iz doklada Politprosvetotdela v PUR o rezul’tatach raboty Chudožestvennogo otdelenija za 1920g.“ [„Aus dem Bericht der Abteilung für Politik und Aufklärung an die PUR über die Arbeitsergebnisse der Künstlerischen Abteilung für das Jahr 1920“] vom 05.01.1921. In: Jufit.1968.305f.) Dies stimulierte die Eigenproduktion von Theater in allen Bereichen und führte zu einer anhaltenden Kontroverse zwischen künstlerischem Professionalismus (noch 1924 bezeichnet Mejerchol’d das Theater-Repertoire als dürftig: Mejerchol’d.(1924).1968.490.) und theatraler Selbstorganisation (Brjanskij.(1920).1.). Die selbstverfassten Stücke der Bauern in der Provinz kamen vor Ort zum Einsatz: „Die Bauern funktionieren Schulen, Scheunen und große Bauernhütten in Theater um.“ (Gorčakov.1956.61.) Obwohl bzw. gerade weil unter unsäglich schweren, horrenden Bedingungen gespielt wurde, kam es besonders in den Kampfgebieten zu einzigartigen Begegnungen zwischen Akteuren und Zuschauern. (Nikandrov, P.V.: „Iz dokladnoj zapiski rukovoditelja 1-j frontovoj gruppy kursantov instruktorskich kursov po raboče-krest’janskomu teatru P.V. Nikandrova v Teatral’noe bjuro prosvetotdela PUR o poezdke truppy na front“ [„Aus einer Berichts-Notiz des Leiters der 1. Front-Gruppe von Teilnehmern an Instrukteurs-Kursen des Arbeiter-Und-Bauern-Theaters P.V. Nikandrov an das Theaterbüro der Aufklärungs-Abteilung der PUR über eine Fahrt der Truppe an die Front“] vom 17.08.1920. In: Jufit.1968.313. - Kazarinova, L.: „Vpečatlenija načinajuščich“ [„Eindrücke der Debütanten“] (Juni-Juli 1919). In: Jufit.1968.309f.) Zahlreiche Zeugenberichte bestätigen den Stellenwert von Theater als Über/ Lebensmittel: „/ .../ mit ihrer [der Zuschauer] Hochachtung und ihrem Interesse für die Bühne überhaupt paarte sich der Stolz auf das ‘eigene’ Theater.“ (Scherscheniewitsch in Kritschewski/ Kersten.1923.66. - Knjazevskaja/ Fevral’skij in Jufit.1968.294. - Dies.Ebd.FN69.326.) 580 Siehe hierzu das Beispiel der „Zentrale Seifen-Kommission“ in III.2., FN515. - „Es gab Nationalkongresse der Arbeiter-, der Soldaten- und der Bauernsowjets, der Gewerkschaften, der Fabrikkomitees — außerdem Kongresse jedes Zweiges innerhalb der Ar- <?page no="183"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 179 verschiedene künstlerische Programme und Deklarationen vorgestellt, künstlerische Vereinigungen organisiert, es entstanden und vergingen unterschiedliche Strömungen und Theorien. Heftige Debatten entzündeten sich / .../ , von denen die wichtigste diejenige nach dem Verhältnis zur Revolution und nach dem darauffolgenden Schicksal der Kunst war.“ 581 Dazu berichtet N.V. Petróv, einer der Regisseure der Petrograder Manöverinszenierungen: „Innerhalb der Theater kochten weiter die Leidenschaften hoch, und endlose Versammlungen, Sitzungen und Zusammenkünfte füllten den Großteil des Arbeitstages.“ 582 Zugespitzt formuliert gab es nach dem Oktober-Umsturz nicht nur mehr Schauspieler als Zuschauer (Einleitung 2., FN20), sondern auch mehr Gremien als Personal, und damit zwangsläufig mehr Ämterhäufungen und Mehrfachbesetzungen, als dem engagierten Revolutionär und der jungen Republik guttut 583 . Bei allen Bemühungen um eine verwaltungstechnische Systematik, musste ein effektives Ineinandergreifen der neuen Institutionen und Instrumente - auch bei der Organisation der Feste und Feiern - erst noch erprobt werden: „Es werden Erster-Mai- und Oktober-Kommissionen organisiert. Diese arbeiten eng zusammen mit dem Kollegium für bildende Kunst und dem Exekutivkomitee des Moskauer Sowjets [MosSovét], den Sektionen für bildende Kunst und für Volksbildung des Narkompros und dem Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets [PetroSovét], dem Proletkult und den Gewerkschaften. Innerhalb der bezirklichen Exekutivkomitees und einzelner großer Unternehmen konstituieren sich ebenfalls Mai- und Oktober-Kommissionen.“ 584 Parallel dazu erobert eine übergreifende, unübermee und Flotte, Kongresse der Genossenschaften, der Nationalitäten usw.“ - „In Petrograd tagten ständig drei oder vier Kongresse. In den Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene Freiheit auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte...“ (Reed.[1919]1983.26.+51.) Zur Redefreiheit und zum Sprechverhalten innerhalb der „parlamentarischen Gepflogenheiten“ siehe Ders.Ebd.21f. - Vgl. dagegen die Begrenzung der Redezeit bei der Ausarbeitung der Dekrete: Lunačarskij nach Achapkin.1970.15f. 581 Tamašin.1961.11. 582 Petrov, N.V.: „V pamjati serdca“ [„Im Gedächtnis des Herzens“]. In: Grigor’eva, A.P. / Ščirina, S.V. (Hg.): Marija Fëdorovna Andreeva. Vorspominanija o M.F. Andreevoj. Perepiska, vospominanija, sta’ti, dokumenty [Marija Fëdorovna Andreeva. Erinnerungen an M.F. Andreeva. Briefwechsel, Erinnerungen, Artikel, Dokumente]. Moskva 1968. S.536. 583 Zur Mehrfachbesetzung / Ämterhäufung siehe beispielsweise die Tätigkeitsbereiche von V.N. Vsevolodskij-Gerngross in Kap.II.2., FN433 oder von M.F. Andreeva hier in FN586. - Zum Mangel an Fachkräften allgemein siehe Schlögel.1988.437., am Theater siehe Židkov.1991.25., 31., 59. 584 Bibikova in Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.18. - Für viele neue Gremien gilt das Gleiche wie für die „roten“ Feiertage oder die Souffleur-Schulen: deren Bestandsdauer ist gering und nur lückenhaft überliefert. Ausladende und gestanzt klingende Neugründungen deuten auf ein großes Bemühen um Genauigkeit sowie auf die unvermeidlichen Anfangsprobleme beim Staatsaufbau hin (mangelnde Effizienz oder Übersicht von Kompetenzen; Mehrfachbesetzungen / Ämterhäufungen, siehe hier FN583+586). <?page no="184"?> K APITEL III. 180 schaubare Fülle von oralen Markierungen die Orte des Alltags, wo besagte Setzungen und Projektionen im Dialog verifiziert und verhandelt und im Bewusstsein verworfen oder verankert werden. Erst durch diese orale Verknüpfung, d.h. durch die mündliche Verarbeitung erhalten „Orte“ und „Handlungen“ erstmals eine weitreichende und spezifische Bedeutung als „Resultat von Aktivitäten“ (Certeau), als allgemein verfügbarer, öffentlicher „Raum“: „/ .../ Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen... Versammlungen in den Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den Fabriken... Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow-Werke, vierzigtausend Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten — wer immer etwas zu sagen hatte, so lange er reden wollte. Monate hindurch war in Petrograd, in ganz Rußland jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne. In den Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall improvisierte Debatten, überall...“ 585 „/ .../ M.F. Andreeva maß den einleitenden Worten vor Beginn einer Aufführung eine hohe Bedeutung bei. Mehr noch: in Petrograd war sie die Initiatorin dieser Neuheit, die für eine Ansprache der Theater an den neuen Zuschauer sehr zeitgemäß war.“ 586 Für eine kurze Zeitspanne ist somit das gesprochene und geschriebene Wort gleichermaßen stark repräsentiert in einem öffentlichen Diskurs, der sich zunächst als vielstimmiger Resonanzraum über seine Kapazität, bald darauf jedoch über seine Beschränktheit definieren sollte. Der dekorative Festraum. In der Phase einer sich verschärfenden Staats- und Identitätskrise zu Beginn des Jahres und im Vorfeld der allgemeinen Aufrüstung im Frühjahr verlegt die Regierung im März 1918 ihren Sitz aus Sicherheitsgründen nach Moskau, und verabschiedet im April zwei folgenreiche Dekrete mit erheblichem Symbolwert. Zunächst wird durch die Festlegung der russischen Flagge (die Rote Fahne mit den Initialen „R.S.F.S.R.“) sowohl eine nationale 585 Reed.[1919]1983.50f. 586 Kuznecov, Je.: „Komissar teatrov“ [„Die Theater-Kommissarin“]. In: Grigor’eva/ Ščirina.1968.504. Für die Revolutionsfeste und Manöverinszenierungen in Petrograd ist M.F. Andreeva eine Schlüsselfigur: 1918 ist sie Mitbegründerin des BDT (Bol’šoj Dramatičeskij Teatr = Großes Schauspiel, Petrograd), von 1918 bis 1921 Kommissarin der Abteilung „Theater und Spektakel“, Kommissionsmitglied für die Organisation der [Maiund] Oktober-Feiern, und von 1919 bis 1921 Stellvertreterin Lunačarskijs in Petrograd für Kunst und Kultur. („Andreeva, M.F.“ in: Teatral’naja ė nciklopedija. T.I [Theater- Enzyklopädie.Bd.I]. Hg. v. P.A. Markov. Moskva 1961. S.206.) (= Theater-Enzyklopädie.Bd.I.1961.) - Zum Personalmangel und zur Mehrfachbesetzung / Ämterhäufung siehe hier FN583+584 und Kap.II.2., FN433. <?page no="185"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 181 Identitätsmarke als auch ein materielles Gestaltungsmittel der Feiern geschaffen 587 . Zu diesem Zeitpunkt treten der Rote Stern und im Mai 1918 Hammer und Sichel als weitere visuelle Symbole der Sowjetmacht hinzu 588 . Im April leitet das „Dekret des Rates der Volkskommissare über die Denkmäler der Republik“ eine Wende in der Festkultur ein: „/ .../ 1. Denkmäler, die zu Ehren von Zaren und deren Lakaien errichtet worden sind und weder geschichtliches noch künstlerisches Interesse haben, sollen von Plätzen und Straßen entfernt und teils in Depots geschafft, teils nützlichen Zwecken zugeführt werden. 2. Eine Sonderkommission bestehend aus den Volkskommissaren für Volksbildung und Vermögenswerte der Republik und dem Leiter der Abteilung für darstellende Künste beim Volksbildungskommissariat wird beauftragt, im Einvernehmen mit dem Kunstkollegium Moskaus und Petrograds zu bestimmen, welche Denkmäler zu schleifen sind. 3. Die gleiche Kommission wird beauftragt, die künstlerischen Kräfte zu mobilisieren und einen breiten Wettbewerb für die Ausarbeitung von Entwürfen zu Denkmälern zu veranstalten, die die großen Tage der Russischen Sozialistischen Revolution würdigen sollen. 4. Der Rat der Volkskommissare bekundet den Wunsch dass bis zum 1. Mai bereits einige der scheußlichsten Götzenbilder geschleift und die ersten Modelle neuer Denkmäler den Massen zur Beurteilung geboten werden. 5. Die gleiche Kommission wird beauftragt, die Ausschmückung der Stadt zum 1. Mai und die Ersetzung der Aufschriften, Wahrzeichen, Straßennamen, Wappen usw. durch neue dringend vorzubereiten, die dem Denken und Fühlen des revolutionären werktätigen Rußland Ausdruck verleihen. [was erst später erfolgte, MD] / .../ .“ 589 Neben dem Wortlaut („Götzenbilder“) ist gerade die jeweilige Umsetzung dieses Dekrets aufschlussreich: Im Anschluss daran vermerkt das Sitzungsprotokoll des Kollegiums für bildende Kunst des MosSovét erstmals großangelegte „Feiern“ und die „Organisation einer choreographierten, schönen 587 NN: „Dekret des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees über die Flagge der Russischen Republik“ vom 08.04.1918. In: Achapkin.1970.133. - Zur Tradition der Flagge / Drapierungen siehe Kap.I.1.2., FN222 - mit Verweis auf die Abbildungen: ❐ 1-5 und ❐ 8-12 in Kap.II. - ❐ 16 in Kap.III. - ❐ 7 und ❐ 11 in Kap.V. 588 Schlögel.1988.357. - Stites zufolge sind Hammer und Sichel erst ab November 1918 zuverlässig belegt: „The red star of the new Soviet armed forces may have been inspired by Bogdanov’s 1908 science fiction utopia, Red Star. / .../ The hammer and sickle emerged out of a contest held by the new regime. [fett MD]“ (Stites in Arvidsson/ Blomqvist.1987.37.) Mazaev zufolge wurden „Hammer und Sichel“ von Je. Kamzolkin entworfen und dienten 1917 als Emblem des Exekutivkomitees des Gouvernements Saratov. Am 19.06.1918 wurde es zum offiziellen Staatsemblem. (Mazaev.1978.263f.) 589 „Dekret Denkmäler.1918.139f.“ <?page no="186"?> K APITEL III. 182 Bewegung der Massen“ 590 . In der Praxis wird davon nur ein geringer Teil umgesetzt, das Hauptaugenmerk gilt der Gestaltung des Roten Platzes und der Gräber an der Kremlmauer 591 . Seitdem ist das Erscheinungsbild der Moskauer Feiern eher durch Malerei und architektonische Aufbauten rund um den Kreml geprägt: die neue Hauptstadt setzt von vorneherein auf eine optische, bildhafte Signalwirkung im Sinne des „Dekrets über die Denkmäler der Republik“. Abweichend davon erfolgt der offizielle Zugriff auf den öffentlichen Raum Petrograds zunächst nur bedingt durch Abrisse von Denkmälern, sondern setzt auf die vom Moskauer Kollegium für bildende Kunst protokollierte „schöne Bewegung der Massen“. Petrograd bleibt damit einer dezentralen, performativen Tradition der Prozessionen und Demonstrationen verpflichtet und bringt die Revolutionsfeiern und Manöverinszenierungen hervor: „Leningrad remained a ceremonial capital long after it ceased to be a political one / .../ The holidays in those early years were celebrated on a grander scale in Petrograd / .../ than in Moscow. They were more decentralized, with a large variety of events being spread over three days and taking place in different parts of the town.“ 592 Die dekorative Symbolik der Mai-Feiern 1918 verweist in mehrfacher Hinsicht auf die Kategorie „Handlung“ („Bewegung“). In der Motivik dominieren kirchen- und volksmythologische Figuren ‘bei der Arbeit’ (die Nachfahren des Hl. Georg beim Drachentöten [ ❐ 7 - vgl. Kap.V.4., FN937/ 938], der volksrebellische Stén’ka Rázin beim Fäusteschwingen, hämmernde Schmiede am Amboss [ ❐ 7, ❐ 16], Mikúla Seljáninovič am Pflug) sowie Verbrüderungsszenen zwischen Soldaten und Arbeitern — beides oft mit üppigem, flammenähnlichen Fahnen- und Wimpeldekor kombiniert, der den Rhythmus der Bewegungslinien fortsetzt. Die Emblematik zeigt einige romanische, eher dekorativ-statuarische Anleihen aus der Französischen Revolution (Frauengestalten mit Togen und Fanfaren, Triumphbögen mit Girlanden und Laubkränzen, Opferschalen), überwiegend aber das Arbeitsgerät der Werktätigen in unterschiedlichen Kombinationen (Pflug, Spitzhacke, Spaten, Axt, Hammer, Amboss, Bajonett, Sichel). Nicht nur das explizite Identifikationsangebot - etwa das beliebte Verbrüderungsmotiv „Soldat und Arbeiter“ ( ❐ 8+9 - ❐ 9 in Kap.IV.), das schon 1919 im Abklingen war, oder der obligate marxistische Werktätigen-Topos - 590 NN: „Iz protokola zasedanija kollegii po delam izobrazitel’nych iskusstv pri Moskovskom Sovete rabočich i krasnoarmejskich deputatov ob organizacii prazdnovanija 1 Maja 1918g. v Moskve“ [„Sitzungsprotokoll des Kollegiums für bildende Kunst des Moskauer Sowjets der Arbeiter- und Rot-Armisten-Deputierten zur Organisation der 1-Mai-Feier 1918 in Moskau“] (14.04.1918). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko. 1984.Dok.2.44. (= „Sitzungsprotokoll 1-Mai-Feier 1918 Moskau.“) - Vgl. dazu Ivanov in Kap.II.1.6., FN410+412. 591 „Sitzungsprotokoll 1-Mai-Feier 1918 Moskau.44.“ 592 Lane.1981.159f. <?page no="187"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 183 ist hier von Interesse. Vielmehr rückt die ästhetische Umsetzung einen impliziten Kode, eine Traditionsschicht mit ‘älteren Rechten’ ins Zentrum: Bei der Ausführung verweisen Farb- und Formgebung (scharf konturierte Faltenwürfe [ ❐ 1-3 in Kap.II.] und verschachtelte geometrische Grundformen [ ❐ 10 - ❐ 6 in Kap.VI.], flächiger Bildaufbau [ ❐ 3 in der Einleitung - ❐ 10 in Kap.II.] und aufgefächerte Bajonettreihen [ ❐ 11-13], Zweier- und Dreier- Anordnungen [ ❐ 3 und ❐ 11-13 - ❐ 4 in Kap.II. - ❐ 6 in Kap.VI.]) unverkennbar auf Kompositionsprinzipien der Ikonenmalerei (schindelförmiggestaffelte Tafelberge [ ❐ 3, ❐ 14-17 - ❐ 3 in der Einleitung - ❐ 1 und ❐ 10 in Kap.II.], gefältelte Vor- / Umhänge und Drapierungen [ ❐ 16 - ❐ 3 in der Einleitung - ❐ 1-5 in Kap.II.], aperspektivische Bild-Ebenen [ ❐ 3, ❐ 17], Triptychon / Dreiteilungen [ ❐ 3, ❐ 13, ❐ 17 - ❐ 1 in Kap.II.]). Der Flächen- und ‘Fächer’- Effekt aktualisiert das orthodoxe Handlungsgebot, indem er den dargestellten Moment zeiträumlich verlängert und zu einer prozesshaften Sequenz ‘entrollt’, diese gleichsam ‘animiert’ und ihr die Signatur des Performativen verleiht, so dass die Bewegung des Bildes und der Blick des Betrachters in einem Vorgang zusammengeführt werden ( ❐ 11+12). Nicht allein das Dargestellte — gerade auch die Art der Darstellung fungiert somit als Identifikationsangebot für die Synchronisation von Handlung, die es gilt, im Sinne einer „ mgekehrten Perspektive“ (Kap.II.3.), im Sinne einer r/ evolutionären Neu/ Ordnung (s.o.) zu vollziehen. Die daran anknüpfenden Farben haben - unabhängig von Schattierung oder Anordnung - eine Tendenz zur Plakativität. Schwächer als in Moskau, doch deutlich genug rücken in Petrograd während der Feiern zum 01. Mai 1918 optische Markierungen in den Vordergrund, bei denen Rot weniger als konturiertes Zeichen denn als breitgestreuter Farbwert dominiert, und von Licht- und Schattenwerten abgelöst wird: „/ .../ 1. Mai in Petrograd. Gestern beging Petrograd feierlich den 1. Mai. Seit dem frühen Morgen zogen aus allen Ecken der Stadt Prozessions-Schlangen zum zentralen Punkt der Mai-Kundgebungen — dem Marsfeld. Die Stadt war üppig dekoriert. Entlang des ganzen Nevskij-Prospekts zogen sich an allen Brücken über die Neva Girlanden aus roten Flaggen. An den Häusern prangten rote Fahnen und Mai-Plakate. Die Gebäude der Stadt-Duma, der Öffentlichen Bibliothek, des Mariinskij-, des Winter- und Marmorpalais waren mit riesigen Plakaten geschmückt. Die Denkmäler der ehemaligen Zaren waren mit roten Stoffbahnen verhüllt. / .../ Abends waren die Straßen Petrograds ins Licht der Scheinwerfer getaucht, die an verschiedenen Stellen der Stadt plaziert waren. Die auf der Neva liegenden Schiffe der Baltischen Flotte waren erleuchtet, ihre Scheinwerfer beleuchteten alle an der Neva anliegenden Straßen und Plätze.“ 593 593 NN: „Iz soobščenija o prazdnovanii 1 Maja 1918g. na ulicach Moskvy i Petrograda, opublikovannogo v gazete ‘Izvestija VCIK’“ [„Aus der Mitteilung zur Feier des 1. Mai U <?page no="188"?> K APITEL III. 184 Die Signalwirkung der Farbe (‘Blut’, ‘Feuer’) setzt den Symbolwert der Orte feudaler Repräsentation kurzzeitig aus und verfremdet ihn. Der Stadtraum ist seiner Alltäglichkeit enthoben: er wird nicht mehr an sich, an den gewohnten Orientierungspunkten, sondern entlang der rotleuchtenden Markierungen wahrgenommen, die andere Verbindungslinien und Assoziationsreihen knüpfen. Innerhalb dieser neuen Koordinaten kodiert die Festwirkung des Rotspektrums (‘Leben’, ‘Farbe’) die Absetzung der „weißen“ Ordnung, und seit der Festlegung der Fahne auch die Präsenz der Bolschewikí. Der Farbwert selbst - Grundton aus Volkskunst und Festkultur (ein ‘mythologisierender’ Anspruch oder ein originärer Zusammenhang zwischen „Rot“ und „Bolschewikí“ ist nirgends überliefert: vielmehr ‘gehörte’ die Rote Fahne vor dem Oktober-Umsturz dem gesamten Mitte-Links-Bündnis) - kodiert bereits ethymologisch das ‘Festwürdige’ 594 , hier den Machtwechsel schlechthin (zu diesem Zeitpunkt mehr Wechsel als Macht), wie die ausgelassene Atmosphäre zeigt: „Ich fahre zur Neva — und hier findet wahrhaft ein Zaubermärchen statt..! Schon tagsüber hatte die mit tausenden von Flaggen erblühte Flotte der prachtvollen Neva ein solch elegantes Aussehen verpasst, dass das Herz, von vielen Mühen bedrängt, jubeln musste. Ich denke, jeder, der dieses Spektakel gesehen hat - und halb Petrograd hat es gesehen [knapp 750.000 Einwoh- 1918 in den Straßen von Moskau und Petrograd, abgedruckt in der Zeitung ‘Nachrichten des VCIK’ [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee]“] (03.05.1918). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.6.50. (= „Mitteilung Feier 1. Mai 1918 Moskau und Petrograd.“) 594 „Krasnyj“ (rot), „prekrasnyj“ (wörtlich: „äußerst rot“ = schön, wunderbar, prächtig) und „krasivyj“ (schön, hübsch) haben im Russischen die gleiche ethymologische Wurzel. „Kraska“ (Farbe) verbindet demnach Farbigkeit mit Leben / Vitalität. So kam die Beliebtheit des russischen Groß/ Fürsten Vladimir I. / des Heiligen (Vladimir Svjatoslavič, 960-1015) - beliebt für soziale Großzügigkeit und öffentliche Gelage, und berühmt für den Import des christlichen Glaubens in die Rus’ aus dem Byzantinischen Reich (Reichs-Taufe 988) - in dem Beinamen „kleine rote Sonne“ zum Ausdruck (Vladimir Krasnoe Solnyško). „In the icons, following Dionysius the Areopagite, a 6th century founder of Orthodox doctrine, red has a variety of meanings. Dionysius teaches that the symbolism of colours results from an analogy between the spiritual and corporeal worlds. [kursiv MD]“ (Abel, U.: „Icons in Soviet Art“. In: Arvidsson/ Blomqvist.1987.152f.) Der „kleine Hausaltar“ (in privaten Haushalten je nach Reichtum mit mehreren Ikonen und Öllampen ausgestattet, in öffentlichen Gebäuden in reduzierter Form: siehe ❐ 4 in Kap.IV.) heißt entsprechend „krasnyj ugolok“ („kleine rote Ecke“). „Hier, in der Kirche, kann man den verschiedensten russischen Nationalkostümen der Frauen begegnen. Nirgends, außer im Orient, ist eine solche Buntheit, eine solche Zusammenstellung aller möglichen Farben zu sehen. Die Vorherrschende ist rot.“ (Novikov (1903) in Kuchinke/ Dmitriev.1989.24.) - Zum Festkostüm vgl. Kap.V.4., FN928. Für russische Ohren klingt die Bezeichnung „Rote Armee / Flotte“ daher nicht nach „blutrünstiger Haufen“, sondern nach „klasse Mannschaft“ oder „tolle Truppe“. <?page no="189"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 185 ner 595 ] - zugeben wird, dass es unvergesslich schön und begeisternd war. Abends begann ein überwältigender Kampf des Lichtes und der Dunkelheit. Dutzende von Scheinwerfern warfen ihre Lichtkegel und glitten als weiße Schwerter durch die Luft. Ihr greller Strahl legte sich auf die Paläste, Festungen, Schiffe und Brücken, und entrissen der Nacht mal die eine, mal die andere Schönheit unseres faszinierenden Nördlichen Roms. / .../ Aber glauben Sie mir, wenn dieses Fest bloß ein offizielles wäre — wäre daraus nichts als Kälte und Leere geworden. Nein, die Volksmassen, die Rote Flotte, die Rote Armee — alle wirklich tatkräftigen Leute haben ihre Kräfte hineingegeben.“ 596 Wie eingangs beschrieben und hier ausgeführt, weisen die Ausnahmezustände „(Bürger)Krieg“ und „Fest“ strukturelle Parallelen auf (Einleitung 3., FN47/ 49), während die gesamte Bevölkerung einen äußeren und inneren Militarisierungsprozess durchlief (III.2., FN537). Dementsprechend erinnert die Plazierung gestalterischer Elemente an strategischen Punkten oder historischen Orten in Verbindung mit den raumgreifenden Umzügen an eine ‘ästhetischen Vereinnahmung’ mit militärischen Anleihen, die deutliche Parallelen zur Besetzung Petersburgs durch die aufständischen Regimenter während der Februar(März)-Revolution aufweist 597 . Mit den hier genannten Mitteln und Verfahren, die an einen vertrauten und ‘zuverlässigen’ Kode russisch-orthodoxer Festkultur anknüpfen, wird die ‘ästhetische Besetzung’ Petrograds vorgenommen: Hier werden ein neuer Feststil und ein neues Feiergefühl im offenen Stadtraum begründet und erfahrbar, die fortan zum Grundrepertoire der Revolutionsfeiern gehören. 598 Die abendliche Gestaltung des 01. Mai 1918 wirkt indes insofern tendenziöser, als durch lichttechnische auch politische Projektionen sichtbar werden („Licht“ und „Dunkelheit“ als vordergründige Symbole von „Neu“ und „Alt“, von „Gut“ und „Böse“ — siehe Lunačárskijs manichäisch-chiliastisches Leitmotiv in Kap.II.3.). Während sich der Farbwert mit dem umtriebigen, eher profanen Bereich des Tages verbindet, verweisen die Lichtwerte im Nachthimmel auf eine nahezu sakrale Dimension in gedämpfter Atmosphäre: der damit einhergehende Wandel von ‘Festlaune’ zu ‘Feierstimmung’ hängt zweifellos mit der Sichtbarkeit und Dynamik des Geschehens zusammen. 595 Schlögel.1988.437. - Altrichter.1997.35.+64f. - Zur den Einwohnerzahlen Petrograds siehe Einleitung 2., FN19. 596 Lunačarskij.(1918/ a).1981.83. 597 „Soldaten brachten die Kasernen in ihre Gewalt, öffneten die Waffenkammern, verteilten Gewehre und Munition an die Demonstranten, halfen ‘Widerstandsnester’ auszuheben und strategische Punkte (Brücken und Plätze, Postu. Telegraphenämter, Polizeiu. Eisenbahnstationen) zu besetzen.“ (Altrichter.1997.312.) - Ein weiteres Beispiel von ästhetischer Vereinnahmung mit militärischen Anleihen war die Zusammenarbeit von Künstlern und Vertretern der Hochschule für militärische Tarnung während der Oktober-Feiern 1918 in Moskau. („Mitteilung Gestaltung Moskau und Petrograd I. Oktober-Jahrestag.1918.FN1.72.“) 598 Mazaev.1978.242. <?page no="190"?> K APITEL III. 186 Die Überführung des Rots aus dem graubunten Stadtkolorit in den Kontrastbereich zwischen dunklem Nachthimmel und gleißenden Lichtschneisen, der Wandel von einer flächigen Verfremdung zur fokussierten Eindeutigkeit, prägt fortan eine optische Reihenfolge, die sich bald als kausale Verknüpfung von Symbolen verfestigt: nach ‘getanem Tageswerk’ folgt eine ‘lichte’ Sphäre, eine ‘erleuchtete’ Szenerie abendlicher Frei- und Festzeit — den Weg dahin weisen die Bolschewikí. Trotz der hohen Teilnehmerzahl wird in der Presse eine gewisse Zwiespältigkeit der Meinungen zur allgemeinen Gestaltung dieses Tages deutlich. Ganz ohne Pathos (bzw. mit gehörigem Spott? ) spiegelt Bloks Notiz vom 01. Mai die eingangs genannte Heterogenität alter und neuer Mittel: „Zur Militärmusik und in der vorbildlichen Formation Nikolajs II. marschieren morgens Soldaten und Matrosen mit akuraten roten Plakaten.“ 599 Im Sinne der Zeitungs-Schlagzeile „Bombe oder Knallfrosch“ 600 entfachte die erste Mai-Gestaltung Petrograds eine Kontroverse, weil das Flüchtige, Schrille oder Heterogene der Materialien und Elemente untereinander und in Bezug auf die Ausgewogenheit der Stadtarchitektur von Presse und Publikum als störend empfunden wurde 601 . Selbst Piotróvskijs Gesamturteil wirkt im Rückblick eher bemüht: „Dieser vom Aufwand und Enthusiasmus der Beteiligten geprägte grandiose Versuch muss in die Geschichte eingehen, ungeachtet dessen, dass er sich als fremd und unverstanden erwiesen hatte.“ 602 Die Ambivalenz bzw. Irritation dieser Reaktionen zeigt, dass mit der Mai- Dekoration Petrograds von 1918 keine Umdeutung, sondern eine Verfremdung erfolgt: die Vorbereitung einer neuen ‘Lesart’ des Stadtraums durch seine optische Besetzung mit Farb- und Lichtwerten. 599 Blok, A.A. (1918) nach Dobužinskij, M.V.: „Stat'ja M.V. Dobužinskogo ‘Bomba ili chlopuška. Beseda dvuch chudožnikov’, opublikovannaja v gazete ‘Novaja žizn' ’“ [„Artikel von M.V. Dobužinskij ‘Bombe oder Knallfrosch. Gespräch zwischen zwei Künstlern’, abgedruckt in der Zeitung ‘Neues Leben’“] (04.01.1918). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.7.FN2.55. 600 Dobužinskij (1918) in Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.7.52. 601 Der vorherrschende Geschmack jener Zeit war durch alle Schichten und Künste hindurch ohnehin konservativ: „Die Untersuchung des faktisch vorhandenen Materials zeigt, dass in dieser [Monumental]Kunst traditionalistische Formen quantitativ einen sehr großen Teil einnahmen, und dass sie außerhalb der Hauptstädte (Moskau und Petrograd) oft auch überwogen.“ (Strigalëv.(1981).112.) - „Wie sich herausstellte, unterschied sich der Theater-Geschmack des arbeitenden Volkes nur wenig vom Geschmack des ‘früheren bourgeoisen’ Publikums.“ (Svift, Ė. [Swift, A.]: Kul’turnoe stroitel’stvo ili kul’turnaja razrucha? (Nekotorye aspekty teatral’noj žizni Petrograda i Moskvy v 1917g.)“ [„Kultureller Aufbau oder kulturelle Zerstörung? (Einige Aspekte des Theaterlebens Petrograds und Moskaus in 1917)“]. In: Černjaev/ Galili/ Chajmson.1994.405. (Vgl. Kap.II.1.6., FN420.) 602 Piotrovskij, A.I.: „Godovščiny“ [„Jahrestage“] (Nov. 1923). In: Ders.1925.51f. <?page no="191"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 187 Angesichts dieser Erfahrungen folgt die dekorative Symbolik der Oktober-Feiern 1918 zwei Richtlinien, die von der Kunstsektion der Abteilung Volksbildung des MosSovét in vier Thesen festgelegt wurden. 603 Zum einen erweitert die schon im Mai erfolgreiche, hier noch aufwändigere nächtliche Illumination der Flotte und der Nevá-Ufer die Elemente „Wasser“ und „Feuer“ im symbolhaften Wechselspiel mit Licht und Schatten 604 . Dieses optische Mittel sollte das handlungsbezogene Moment eines „Kampfs des Proletariats“ visualisieren: die Forderung einer „Verwandlung der Physiognomie der Stadt“ 605 würde somit durch „die Demonstration der Stärke der proletarischen Macht und der Stärke des proletarischen Geistes“ 606 sichtbar eingelöst werden. Zumindest das Pathos dieser These mag der Pracht der ersten Petrograder Oktober-Feier entsprochen haben. Zum anderen wird der Emblem-Charakter architektonischer Elemente (Obelisken, Bögen) und die Geschlossenheit städtebaulicher Ensembles (Gebäudegruppen, Brücken mit Ufer-Befestigungen, Palais mit Vorplätzen) betont, deren Gestaltung sich auf revolutionsrelevante Orte (besonders den Smól’nyj, aber auch das Taurische Palais 607 ) konzentriert und „der Entschei- 603 NN: „Tezisy sekcii iskusstv otdela narodnogo obrazovanija Moskovskogo Soveta rabočich i krasnoarmejskich deputatov o chudožestvennom oformlenii goroda k I godovščine Oktjabrja“ [„Thesen der Kunstsektion der Abteilung Volksbildung des Moskauer Sowjets der Arbeiter- und Rot-Armisten-Deputierten zur künstlerischen Gestaltung der Stadt am I. Oktober-Jahrestag“] (30.09.1918). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.10.57f. (= „Erste [Zweite, etc.] These Moskauer Kunstsektion zum I. Oktober-Jahrestag.1918.“) 604 „Mitteilung Gestaltung Moskau und Petrograd I. Oktober-Jahrestag.1918.70.“ - „Mitteilung Dekoration Petrograds erster Oktober-Jahrestag.1918.75.“ 605 „Erste These Moskauer Kunstsektion zum I. Oktober-Jahrestag.1918.57.“ 606 „Vierte These Moskauer Kunstsektion zum I. Oktober-Jahrestag.1918.57.“ 607 Der Smol’nyj ( ❐ 18+19) - ursprünglich der Teerhof der Flotte - wurde mit der Zeit schlossartig ausgebaut und diente nacheinander als Frauenkloster, Fräuleinlyzeum, Witwenpensionat, Mädcheninstitut. Anfang August 1917 wurde er zum Sitz des Petro- Sovet (des zuvor im Taurischen Palais amtierenden Petrograder Stadtsowjets und des dort von ihm gewählten Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees [VCIK]). Dort wurde der „Rat der Volkskommissare“ gebildet, der das Land bis zur Konstituierenden Versammlung provisorisch verwalten sollte, z.B. durch die Schaffung von Kommissionen in allen politischen Bereichen (im Oktober 1917 gründete sich hier das Militärische Revolutionskomitee / -kommissariat [VoenKom]). Im Smol’nyj fand in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober (alten Stils) 1917 der Zweite Allrussische Kongress der Sowjets statt, bei dem die Bolschewiki „nicht die geringste Chance [hatten], / .../ eine Mehrheit zu erzielen.“ (Moynahan.1994.93.), und der mit dem Majorisierungs-Putsch der gesamten gemäßigten Linken durch die minoritären, radikalisierten Bolschewiki endete (siehe Kap.VI.1.). (Altrichter.1997.32., 222., 228. - Rosenfeld/ b. in Nabokow. [1922]1992.221. - Moynahan.1994.82f.) Das Taurische (später Urickij-) Palais war ursprünglich ein Domizil des Favoriten Katharinas II., Fürst Potëmkin, und symbolisierte später das Zentrum der Revolution. Zu den widerwilligen politischen Zugeständnissen Nikolaus II. nach dem „Blutsonntag“ 1905 (Kap.I.1.2., FN241) gehört die Zulassung einer Art Parlament (nach heuti- <?page no="192"?> K APITEL III. 188 dung einzelner Künstler überlassen war“ 608 : „Großflächige rote, orangefarbene, rhombenförmige Leinwände, von Natan Al’tman entworfen, sind über die Barockfassaden des Schloßplatzes gespannt.“ 609 ( ❐ 10) Diese künstlerbezogene, auf eine größere Harmonie abzielende Gestaltung galt als Korrektiv und Mittelweg zwischen einer offiziellen Verordnung und jener „anarchischen Zufälligkeit“ 610 , die zuvor bei den Mai-Feiern kritisiert worden war: „Indem wir ein Maximum an schöpferischen, künstlerischen Kräften mobilisieren, haben wir die Möglichkeit, dem Proletariat die vorhandene Kultur zu zeigen und seine künstlerische Selbsttätigkeit anzuregen.“ 611 Die Presse machte kaum einen Unterschied zwischen optischem Desiderat und offiziellem Resultat: „Dieses Mal überwog nicht der Charakter einer Groteske, einer gigantischen Karikatur, sondern die höhere Ordnung eines feierlichen Pathos.“ 612 Doch jenseits solcher Vorsätze wurde in der Praxis auch der subversive Hintersinn der Thesen sichtbar: „Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass sich durch dieses Ereignis [die maximale Mobilisierung künstlerischer Kräfte, MD] der Einfluss der Revolution auf die Kunst auswirken gen Maßstäben kaum als solches zu bezeichnen): aus dieser „Staatsduma“ (eigentlich eine verlängerte, liberalere „Adelsversammlung“), die seit 1906 im Taurischen Palais tagt, entwickeln sich im Zuge der Februar-Revolution 1917 (d.h. mit der Abdankung des Zaren: Kap.IV.3., FN753) das „Provisorische Duma-Komitee“ bzw. die anschließende „Provisorische Regierung“ (bestehend aus dem konservativen Mittelstand und einer liberalen Intelligencija) einerseits, und dem „Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ anderseits (bestehend aus dem liberalen Proletariat und einer linken Intelligencija: Sozialrevolutionäre, Konstitutionelle Demokraten, Menschewiki und Bolschewiki). Seit März 1917 ist das Taurische Palais ein wechselhaftes, halbes Jahr lang Sitz einer Doppelherrschaft mit einigen personellen Überschneidungen (Kerenskij gehört eine Zeit lang beiden Flügeln an): „Die beiden Regierungen repräsentierten verschiedene Klassen und sehr unterschiedliche politische Ziele. Der Sowjet wollte den Achtstundentag, Landverteilung an die Bauern, eine Armee mit gewählten Offizieren [wie es seit der Bildung der ersten Soldatenräte üblich war, MD] und die Beendigung des Krieges. Die Provisorische Regierung wollte den Krieg fortsetzen und die sozialen Veränderungen auf ein Minimum beschränken.“ (Moynahan.1994.83.) Der Umzug ins Smol’nyj-Institut im August 1917 markiert somit eine räumliche und politische Abspaltung der Sowjets, die mit der Radikalisierung der Bolschewiki und deren Staatsstreich am 25./ 26. Oktober 1917 (Kap.VI.1.) einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Einen weiteren Tiefpunkt stellt die von allen Gruppierungen lang ersehnte und oft verschobene, erste und einzige Konstitutionelle Versammlung am 05. Januar 1918 im Taurischen Palais dar (die Wahlen dazu fanden Mitte November 1917 statt): hier sollte über eine neue Staatsform und ein abgestimmtes Regierungsprogramm entschieden werden, „bis die Sitzung von bewaffneten Matrosen der Roten aufgelöst wurde. Ihre Auflösung bedeutete die Verhinderung der russischen Demokratie für das nächste Dreivierteljahrhundert.“ (Moynahan.1994.99. - Altrichter.1997.126.+150.) 608 „Mitteilung Dekoration Petrograds erster Oktober-Jahrestag.1918.74f.“ 609 Schlögel.1988.357. 610 „Mitteilung Dekoration Petrograds erster Oktober-Jahrestag.1918.74f.“ 611 „Zweite These Moskauer Kunstsektion zum I. Oktober-Jahrestag.1918.57.“ 612 „Mitteilung Dekoration Petrograds erster Oktober-Jahrestag.1918.75.“ <?page no="193"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 189 wird“ 613 . Tatsächlich manifestierte sich die „künstlerische Selbsttätigkeit“ des Proletariats und der „Einfluss der Revolution“ in mehr oder minder stilvollen Requirierungen, mittels derer vor den Augen desselben Proletariats Material beschlagnahmt wurden: „Zum ersten Jahrestag der Revolution habe ich ‘Sten'ka Razin’ und ‘Die kluge Vasilisa’ gemalt. Das war ein riesiges Panneau, 7 Sažen auf 4 Sažen [ca. 15 x 8,50 m, MD], das den Theaterplatz schmückte. Das war eine große und interessante Arbeit, die nach einem Beschluss des damaligen RABIS [Verband der Kunstschaffenden] erhalten bleiben sollte, dann aber irgendwo auf dem Hof eines lokalen Sowjets landete und für Fußlappen draufging, denn das Leinentuch war vergleichsweise gut. Ich arbeitete in einer Gruppe mit 13 meiner Schüler, und wir arbeiteten, wie man sagt, ohne Unterlass. Man muss dabei berücksichtigen, dass dies eine Zeit war, in der man nichts beschaffen konnte. Deshalb musste man folgendermaßen vorgehen: die Leute nahmen einen Lastfuhrmann am Schlaffitchen und fuhren durch die Stadt, wobei sie konfiszierten, was wo möglich war.“ 614 Aus den erhaltenen Arbeitsberichten der beteiligten Künstler gehen die heute kaum vorstellbaren Probleme bei der Beschaffung und Durchführung selbst einfachster Materialien und Vorgänge trotz amtlicher Unterstützung hervor 615 . Nicht nur der sogenannte „Futurismus“ der Dekorationen — auch ihre relative Fülle stieß vielfach auf den Unmut der moralisch und materiell strapazierten Bevölkerung. So berichtet ein Künstler von den Moskauer Mai- Feiern 1918: „Ich erinnere mich, wie ich - noch im Militärmantel - auf einer Brücke zwei Arbeitern zeige, in welcher Länge die Fahnen abgemessen werden sollen. Als sie anfingen, das Stück roten Kattun abzureißen, ging das nicht ohne bösartige Ausfälle der Passanten vonstatten: ‘Für Hemden sollten die mal Baumwollstoff geben, und nicht für Fähnchen vergeuden’, zischten die feindlich Gesinnten.“ 616 Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein kriegsgebeutelter Mensch keinerlei Erhabenheit der Revolution erkennen konnte in dem Moment, wo er ‘sein letztes Hemd’ an eine Fahne verlor, von der es obendrein hieß, dass diese 613 „Dritte These Moskauer Kunstsektion zum I. Oktober-Jahrestag.1918.57.“ 614 K.S. Petrov-Vodkin in einem Stenogramm vom 09.12.1936 zum ersten Oktober- Jahrestag 1918: „Spisok punktov ukrašenij Petrograda, sostavlennyj komissiej po provedeniju prazdnovanija I godovščiny Oktjabrja Petrogradskogo Soveta rabočich i krasnoarmejskich deputatov, opublikovannoj v gazete ‘Severnaja kommuna’ [„Liste der zu dekorierenden Stellen Petrograds, zusammengestellt von der Kommission zur Durchführung der Feier des I. Oktober-Jahrestags des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Rot-Armisten-Deputierten, abgedruckt in der Zeitung ‘Kommune Nord’“]. Zitiert in: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.12.FN3.64. - Zu den Sparzwängen im Bereich Dekoration für 1919 und 1920 siehe Einleitung 4., FN110. 615 Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.12.FN3.62.-65. 616 N.M. Černyšev, zitiert in: „Mitteilung Feier 1. Mai 1918 Moskau und Petrograd. FN6.51.“ <?page no="194"?> K APITEL III. 190 ihm näher zu sein habe als jenes. Damit dürfte das Postulat, Arbeiter und Bauern seien nicht imstande, adäquat auf Symbole zu reagieren, abermals widerlegt sein. Das Gegenteil ist der Fall: Der freie Eintritt ins Theater wog nicht den Mangel an Lebensmitteln und Gebrauchsgütern auf. Die Bevölkerung vermochte symbolhafte Angebote in konkrete Erträge umzurechnen, und konnotierte die Laufmeter an Leinwand mit der Stückzahl von Fußlappen, die Häufigkeit Roter Fahnen mit einer bestimmten Anzahl von Hemden — sie unterlief also eine gezielte Intention durch eine ebenso zielsichere Interpretation. Rezipiert und akzeptiert wurde das, was existentiell (ideell oder materiell) von Belang war. Es wäre daher abwegig zu meinen, der Arbeiter oder Bauer würde dem Dargestellten (Stepán „Stén’ka“ Rázin, Karl Marx) folgen, wenn nur die Art der Darstellung (der orthodoxe ikonographische Kode) auf das ihm Vertraute setzt: dieser Bonus reichte zwar aus, um die Disposition einer Gefolgschaft eine Weile aufrechtzuerhalten, nicht aber, um sie dauerhaft abzusichern. Die Wahrnehmung und Empfindung von Un/ Verhältnismäßigkeiten (zwischen Zweck und Mittel, zwischen Vorsatz und Umsetzung, im Fest oder im Alltag) ist eine elementare, ontische Erfahrung, die als (visuelles / optisches) Ergebnis direkt erfasst wird — jenseits aller Vor- oder Verbildung. Der performative Festraum. Weshalb eine aktive und zahlreiche Teilnahme an den Revolutionsfesten dennoch die Regel war 617 , lässt sich am Paradigma „Handlung“ und „Bewegung“ (Vsévolodskij, Certeau) in der Zusammenschau der Oktober- und Mai-Feiern 1918 nachvollziehen. Gegenüber den genannten kritischen Stimmen fallen die von Aufbruch und Begeisterung geprägten Bewertungen Lunačárskijs auf — was sich allzu leicht auf seine Rolle als zweckoptimistischer Kulturpolitiker zurückführen ließe. Hier tritt er jedoch in seiner Funktion als Zeitzeuge auf: Anstatt - wie die meisten Rezensenten - „die Futuristen zu beschimpfen“ (ein opportuner Vorwand für einen Festplaner unter Leistungsdruck), verteidigt Lunačárskij die Drastik ihrer Mittel während der ersten Mai-Feier als eine Notwendigkeit, um eine riesige Menschenmenge unter freiem Himmel zu erreichen 618 . 617 In den Zeitzeugen-Berichten werden meistens „hunderttausende“ Teilnehmer von Revolutionsfeiern genannt. Zu diesen Veranstaltungen zählen auch die Begräbnisse der gefallenen Aufständischen, bei denen am 23. Mai 1917 auf dem Marsfeld schätzungsweise 800.000 Teilnehmer zusammenkamen. (Altrichter.1997.142.) Siehe auch: Einleitung 1., FN1/ 3 und 2., FN19/ 26 sowie 4., FN107; III.1., FN508 und hier FN579. 618 „Es ist so einfach, die Futuristen zu beschimpfen. Vom Kubismus und Futurismus sind im Wesentlichen doch nur die Deutlichkeit und Kraft der allgemeinen Form sowie die Farbintensität übriggeblieben, die für die Malerei unter freiem Himmel so notwendig sind, [eine Malerei] die für einen hunderttausendköpfigen Zuschauer-Giganten berechnet ist.“ (Lunačarskij, A.V.: „Iz zapisnoj knižki A.V. Lunačarskogo ob ukrašenii Petrograda 1 Maja 1918g.“ [„Aus dem Notizbuch von A.V. Lunačarskij über die Dekoration Petrograds am 1. Mai 1918“] (frühestens vom 01.05.1918). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.5.47.) - Židkov.1991.55. <?page no="195"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 191 Anstatt sich in bildkünstlerischen Fragen zu ergehen, beschreibt er die Wirksamkeit dieser Mittel als ein Resultat von Handlungen, als eine Wechselseitigkeit der Teilnehmer („alle tatkräftigen Leute“, FN596), als ein Wechselspiel der Bewegung und der Elemente („ein überwältigender Kampf des Lichtes und der Dunkelheit“, ebd.) im Sinne seines oben erläuterten Festkonzepts (Kap.II.3.). Lunačárskijs dort anklingendes, für die Mai-Feiern betontes Leitmotiv eines „überwältigenden Kampfes des Lichtes und der Dunkelheit“ wurde zudem - wie eben gezeigt - nicht nur an beiden Abenden der Oktober-Feiern optisch / visuell intensiviert, sondern bei einer Kollegiumssitzung der Abteilung Volksbildung des MosSovét als grundlegenes Handlungsmotiv für die Massenfeiern über das Jahr 1918 hinaus festgelegt: „In zu diesem Anlass offenen Debatten wurde die Meinung geäußert, dass die Jahrestage eine Wiederholung des während der Oktober-Revolution Erlittenen darstellen sollen, weshalb beschlossen wurde, den Vorschlag von Gen. Lunačarskij den Organisationsplänen für die Feiern zugrundezulegen. Auf der Sitzung wurde eine spezielle Kommission zur Erarbeitung der Details der Feiern gewählt. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass die Feiern durchaus nicht den offiziellen Charakter wie der 1. Mai, sondern eine tiefe innere Bedeutung haben sollen: die Massen sollen erneut den revolutionären Aufschwung erleben. Die Feier soll drei Tage dauern. Sie soll in den Bezirken mit Vorträgen für die breiten Massen der Bevölkerung beginnen; bei diesen Vorträgen sollen den Massen der Sinn und die Bedeutung des Umsturzes mit einem Überblick der vorausgehenden historischen Epochen erklärt werden. An diesem Tag werden Obelisken eingeweiht. Am zweiten Tag werden Verse deklamiert, Auszüge aus literarischen Werken vorgelesen, abends werden Bühnenwerke mit entsprechendem Inhalt vorgestellt. Der dritte Tag soll mit Kundgebungen und allgemeinen Feiern verlaufen / .../ . [kursiv MD]“ 619 Für die Praxis der vermutlich bloß eintägigen Petrograder Oktober-Feiern 1918, die um Mitternacht mit 25 Kanonenschüssen von der Peter-und-Paul- Festung eröffnet wurden 620 , lassen sich tagsüber jedoch eher offiziöse Veranstaltungen vor dem Smól’nyj feststellen: Mit der gleichen Hartnäckigkeit ließ Lunačarskij gegen den Widerstand Lenins und anderer Kultur-Sklerotiker die Gedichte Majakovskijs drucken, die wie Pleuel-Stöße einer hochtourigen Dampflok über den kleinbürgerlichen Geschmack hinwegfegten. 619 NN: „Iz soobščenija ob organizacii prazdnestv I godovščiny Oktjabrja, opublikovannogo v gazete ‘Izvestija VCIK’“ [„Aus der Mitteilung zur Organisation der Festlichkeiten zum I. Oktober-Jahrestag, abgedruckt in der Zeitung ‘Nachrichten des VCIK’ [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee]“] (25.09.1918). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.8.56. 620 „Mitteilung Gestaltung Moskau und Petrograd I. Oktober-Jahrestag.1918.71.“ - Der Quellenlage nach dauerten die Petrograder Oktober-Feiern 1918 tatsächlich nur zwölf Stunden, von Mitternacht bis Mitternacht. („Mitteilung Dekoration Petrograds erster Oktober-Jahrestag.1918.74f.“) <?page no="196"?> K APITEL III. 192 Zum einen bilden eine Rede Lunačárskijs anlässlich einer Denkmal- Enthüllung zu Ehren von Karl Marx sowie eine Präsent-Überreichung an Lenin die Höhepunkte. Dabei wird das agitatorische Moment in Form von Transparenten, „Plakaten und Fahnen mit revolutionären Ausrufen“ gegenüber den Ansprachen der Mai-Feiern erweitert 621 . Dort hatten Kampflosungen („Wir sterben im Kampf um Petrograd! “ - „Wir geben das Rote Petrograd nicht auf“ - Aber auch: „Alle Macht den Räten“ 622 [ ❐ 21] zwar jenen oralen Impuls einer informellen Kultur aufgegriffen, die einen Wandel vom inoffiziellen, mündlichen Protest zum öffentlich-verschrifteten Konsens erfahren hatte („Diskussionsraum“, s.o.). Doch damit hatte auch eine Verlagerung der oralen Tradition in eine bildhafte Qualität eingesetzt, indem die offiziellen Reden an den Knotenpunkten der Fest-Route zu ‘Kundgebungen’ gebändigt und der spontane Fluss der Reaktionen und des Marschtempos zu ‘Standbildern’ gedrosselt wurden. Zum anderen liegt der Fokus auf der parade--ähnlichen Formation aus Einheiten der Roten Armee, der Roten Flotte, sowie aus Vertretern der Bezirke und verschiedener Verbände, die sich ab 10 Uhr mit Fahnen und Standarten zu den Klängen der Internationalen im ‘Parkett’ einfinden, um nach den Reden und der Denkmal-Enthüllung an der ‘Tribüne’ prominenter Regierungsvertreter vorbeizuziehen 623 . Obwohl die Bevölkerung bereits seit 8 Uhr zum Smól’nyj strömt, bleibt sie offenbar an den Rändern bzw. gerät nicht ins Blickfeld, so dass der Aufmarsch wie ein Morgenappell wirkt, der vornehmlich der Führungsspitze ehren- und rechenschaftspflichtig ist: wie die Presse vermerkte, erzeugte die „höhere Ordnung“ (einer dekorativen Symbolik, FN612) zwar ein „feierliches Pathos“, doch weder das „während der Oktober- Revolution Erlittene“ (FN619) noch der „revolutionäre Aufschwung der Massen“ (ebd.) fand am ersten Oktober-Jahrestag einen entsprechenden Ausdruck. Dies wirkte während der Mai-Feier 1918 trotz der besagten ‘Standbilder’ und eines offenen Lkw’s als improvisierter, ‘offizieller Tribüne’ noch ganz anders 624 : Ein wichtiger, synchroner Faktor war zweifellos die zur Oktober- Revolution zeitnahe, einzigartig gelöste Atmosphäre, die in zahlreichen Zeugenberichten überliefert ist 625 . Ein wesentlicher, diachroner Grund hängt m.E. mit der teilweisen Überwindung jener sozialen Zerfallserscheinungen („Splitter“) zusammen, die noch im Ersten Weltkrieg fortwirkten (Kap.I.1.1.) — denn im Mai 1918 bildete erstmals die Rote und rot geschmückte Armee aus der Mitte der Bevölkerung heraus den Rahmen und die Achse der Feiern: 621 „Mitteilung Gestaltung Moskau und Petrograd I. Oktober-Jahrestag.1918.72.“ - Mazaev.1978.250f. 622 Ders.Ebd.245.+252. 623 „Mitteilung Gestaltung Moskau und Petrograd I. Oktober-Jahrestag.1918.72.“ 624 Mazaev.1978.250. 625 Ders.Ebd.254f. - Lunačarskij.(1918/ a).1981.81. <?page no="197"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 193 „Den feierlichen Umzug eröffneten Einheiten der Roten Armee. Nach ihrer Aufstellung um 9 Uhr morgens auf dem Vorplatz des Smol’nyj, begaben sie sich nach der feierlichen Zeremonie des Ehrensaluts für das Oberkommando der Oktober-Revolution zum Schlossplatz, dann zum Marsfeld, wo sie sich im Spalier aufstellten, dabei einen breiten Durchgang für die Kolonnen der Proletarier freiließen, die aus allen Bezirken Petrograds zum Ehrengedenken der hier beigesetzten Helden der Revolution anrückten. Dies war im Grunde genommen die erste Parade der Roten Armee, aber eine ungewöhnliche Parade. Die Abteilungen der Roten Armee- und Flottenangehörigen - Infanterie und Kavallerie, mit und ohne technischer Ausrüstung - marschierten mit ihren Orchestern. Die Gewehre waren mit Grünzeug geschmückt, an den Köpfen der Pferde prangten rote Papierblumen. Waffen und Panzerwagen waren ebenfalls mit grünen Zweigen, roten Bändern und Blumen dekoriert. Gemäß dem Zeremoniell waren einzelne Einheiten von Rot-Armisten den Bezirkskolonnen der Proletarier beigestellt, was als deren Schutzvorkehrung vor den damals möglichen Angriffen seitens der Konterrevolution gedacht war [vgl. Holitschers Bericht: Einleitung 3., FN37]. Vorneweg vor den Arbeiter- Kolonnen liefen das Orchester, dahinter die Vertreter des Bezirkssowjets, dahinter die Kinder. Zwischen den Kindern und der übrigen Menge der Demonstranten befanden sich Einheiten der Rot-Armisten.“ 626 Das Besondere dieses Mai-Umzugs 1918 besteht in einer neuartigen Integration der Armee, die der Bevölkerung gleichsam einverleibt ist und eine pragmatische wie auch symbolhafte Funktion übernimmt: Im Gegensatz zur „weißen“ Vorgängerin, von der einst die Hauptgefahr für derlei Manifestationen ausging, bildet nun die Rote Armee von der Formation her den Auftakt und die Eskorte der „Werktätigen“ und ihrer Demonstration. Auch der Struktur nach bestehen ihre Einheiten aus denselben sozialen Schichten wie die Gruppen der „Werktätigen“, so dass die innere Belegschaft der Roten Armee der äußeren Zusammensetzung des Mai-Umzugs entspricht. Der perzeptorische Eindruck von Übereinstimmung oder ‘Einigkeit’ wird durch einen performativen Vorgang verstärkt: Indem sich das Militär den Stationen eigener Verantwortung stellt und den ‘Passionsorten’ der Arbeiterschaft anschließt, distanziert es sich von seiner früheren Funktion als Antagonist oder Aggressor, und tritt als Bestandteil und Geleitschutz einer mehrheitlichen Ordnung und Willensäußerung der Bevölkerung in Erscheinung. Mit dieser ‘Rehabilitierung’ geht ein vierfacher Wandel einher, der neben dem Anlass der Feiern auch einen Grund zum Feiern offenlegt: erstens erfolgt eine soziale Aufwertung der Demonstration von der einst verbotenen zur manifesten Bewegung (in Bezug auf das Ausdrucksmittel), zweitens eine öffentliche Kurskorrektur (in Bezug auf das Demonstrationsrecht), drittens eine moralische ‘Läuterung’ und Reintegration der „Armee“ (als Struktur / Organ), 626 Mazaev.1978.248f. - Stöckl.1983.673f. <?page no="198"?> K APITEL III. 194 und viertens eine politische Legitimierung (in Bezug auf die re/ sozialisierende Kraft) des Volkes. Somit manifestiert dieser Mai-Umzug in zweierlei Hinsicht den positiven Aspekt der Revolution: zum einen das obengenannte Verbrüderungsmotiv „Soldat und Arbeiter“ als Voraussetzung und Ausgangspunkt der Oktober- Ereignisse, zum anderen das darüber hinaus weisende, gesamtgesellschaftliche ‘Erlösungsmotiv’ als Auftrag und Vollzug der Revolution (vgl. Ivánovs „kleiner“ und „großer Chor“ in Kap.II.1.3., FN372). Der Weg zu den gemeinsamen ‘Passionsorten’ beschreibt dagegen den tragischen Teil der Revolution, denn die Reihenfolge der Stationen vom Smól’nyj über den Schlossplatz (mit den historischen Massakern wie dem „Blutsonntag“: Kap.I.1.2., FN241) zum Marsfeld (mit den Massengräbern der Aufständischen) 627 läuft auf eine Opfer-Ehrung hinaus: „An diesem Tag zogen viele Einheiten von Rot-Armisten und die gesamte proletarische Bevölkerung Petrograds an den Gräbern des Marsfelds vorbei. Die Orchester spielten Revolutionshymnen, Trauermärsche, und diese Musik klang ‘wie ein feierliches Gebet’. [kursiv MD]“ 628 Von „Punkt“ zu „Punkt“ verbinden sich die Ereignisorte zu einer symbolhaften ‘Strecke’, die eine Entwicklung der Aufstände und das Schicksal der Opfer nachzeichnet. Im gemeinsamen Voranschreiten („Bewegung“), im chorischen Gesang („Laute“) und im kollektiven Gedenken (Reden, Transparente) überträgt sich die Dramaturgie der Kirchenprozession auf den Revolutionsmarsch. Dabei wird ein ritueller „Raum“ eröffnet, in dem vergangene und künftige Ereignisse, tote und potentielle Opfer der Revolution sich gegenüberstehen 629 : es erfolgt eine Differenzierung und Revision ihres aktuellen Stellen- 627 Das Marsfeld (von 1922 bis in die 1950er Jahre „Platz der Revolutionsopfer“), im Zentrum unweit der Regiments-Kasernen gelegen, war vor der Revolution Exerzierfeld und Paradeplatz. Nach der Februar(März)-Revolution 1917 wurden hier Aufständische, Anführer und andere Vertreter der Arbeiterschaft und der Kommunistischen Partei begraben. (Kamenewa, O.D. (Hg.): Führer durch die Sowjetunion. Moskau 1925. S.186. - Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.280.) 628 K-[jat’] (1918), zitiert in: Mazaev.1978.249f. 629 Für die Revolution 1917 sind von Februar (März) bis Oktober (November) folgende Opferzahlen dokumentiert: „Insgesamt betrug die Gesamtzahl der Petrograder Opfer 433, davon 313 Aufständische; 1.514 wurden verwundet / .../ “. (Altrichter.1997.142.) Ganz andere Zahlen hatten die Auswirkungen: „Die Bilanz der ersten vier Jahre nach der Revolution war verheerend: ‘Revolution und Bürgerkrieg hatten neun bis zehn Millionen Tote gefordert, viermal so viel wie der gesamte Weltkrieg’, schreibt der Historiker Manfred Hildermeier. ‘Etwa zwei Millionen Menschen, darunter ein erheblicher Teil der Elite von Besitz und Bildung, waren ins Ausland geflüchtet. Dem Dorf stand die schlimmste Hungerkatastrophe seit Jahrhunderten bevor. Die Industrieproduktion war auf 12 bis 16 Prozent des Standes von 1912 geschrumpft.’“ (Traub, R.: „Vom Triumph zum Debakel“. In: Wiegrefe, K. / Altenhöner, F. / Bönisch, G. (et.al.): „Lenin und der Kaiser“. In: Experiment Kommunismus. Die russische Revolution und ihre Erben. [Der Spiegel. Sonderheft Nr.4. Hamburg 2007. S.61.]) - „Im Ergebnis hat uns der Typhus ungleich mehr Opfer hingerafft, als die Kanonen von Kolčak, Judenič, Vrangel’ und anderer Anführer der Konterrevolution zusammengenommen.“ (NN: <?page no="199"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 195 werts. In der (Marsch)„Bewegung“, während der sich Projektionen entfalten (wo erinnert und entworfen, rekapituliert und imaginiert wird), sind Handlung und Raum eng aufeinander bezogen und insofern rituell, als dabei Grenzen reflektiert (Opfer als freiwilliger Verzicht oder erzwungener Verlust) und Statusänderungen markiert werden (Opfer als Held oder Märtyrer): Im Stimmungsspektrum zwischen „joyful deliverance and mournful thanksgiving“ 630 werden die Bedingungen und der Verlauf, also auch der ‘Preis’ der Revolution ermittelt. III.5. Der ‘mythologische Marsch’ Auf diese Weise erfolgt eine semantische Umdeutung der Kirchenprozession mit dem „Kreuzgang, der gleichsam den Weg nach Golgatha wiederholte“ 631 — eine Umdeutung, die Mazáev zufolge in der unterschiedlichen zeitlichen Ausrichtung von kirchlicher Prozession (Vergangenheit) und revolutionärem Marsch (Zukunft) begründet ist. Der wichtigere Unterschied besteht m.E. jedoch in der jeweiligen Bedeutung des Opfers, im symbolhaften Aushandeln seines impliziten ‘Gegenwerts’. Bezogen auf das Opfer als freiwillige Gabe in einer kalkulierbaren Größenordnung („sacrifice“) hat Girard diesen Gegenwert extensiv herausgearbeitet und als Befriedung und Versöhnung der Gemeinschaft / des Soziums beschrieben 632 . Bezogen auf das Opfer als willkürlichem Verlust von ruinösem Umfang („victime“) ist der Gegenwert jedoch entsprechend schwer zu bestimmen. Während das institutionelle Christentum im Verlauf seiner Geschichte immer stärker die Demut kultivierte und die Revolte ächtete, und in der Folge standardisierte Kirchenprozessionen das Opfer als Entsagung / Entbehrung zementieren (deren Gegenwert sublimiert wird und unerreichbar bleibt), thematisiert der Revolutionsmarsch das Opfer als ‘Ertrag’ (wie labil oder gering dieser Gegenwert auch sein mag): Indem er seine Route den wechselnden Ereignisorten der Revolution anpasst, indem er personelle Optionen und materielle Faktoren nach den Möglichkeiten ihrer Mobilisierung ausrichtet, aktualisiert der Marsch in einem ‘proxemischen Dialog’ mit seinen Teilnehmern nicht nur die Verluste, sondern eine ‘Bilanz’ der Revolution. Zugespitzt formuliert ist in dieser Perspektive das (Ent- „Obraščenie Prezidiuma VCIK i CK RKP(b) ko vsem gubernskim i uezdnym ispolnitel’nym komitetam Sovetov, gubernskim i uezdnym komitetam RKP(b) o bor’be s ėpidemiej tifa“ [„Mitteilung des Präsidiums des VCIK [Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee] und des ZK der RKP(b) an alle Gouvernement- und Kreis-Exekutivkomitees der Sowjets, an die Gouvernement- und Kreis-Komitees der RKP(B) zum Kampf gegen die Typhus-Epidemie“] vom 27.01.1921. In: Dekrete.Bd.XII.1986.226.) Wenn’s denn bloß beim Typhus geblieben wäre! Siehe: Einleitung 4., FN110 - III.2., FN515 - Kap.IV.2.2., FN729. 630 Stites in Arvidsson/ Blomqvist.1987.25. 631 Mazaev.1978.259f. 632 Girard.[1972]2006. <?page no="200"?> K APITEL III. 196 sagungs- / Entbehrungs)Opfer in der Kirchenprozession ‘entbehrlich’ (da dem Menschen entzogen und unerreichbar ‘jenseitig’), im Revolutionsmarsch hingegen ‘erträglich’ (da auf den Menschen bezogen und insofern verhandelbar, begreifbar), da jeder Schritt die Frage nach der Einlösbarkeit des Opfers aufwirft, nach dem „Wofür? “, oder „Wie weit (wie lange) noch? “ Gegen Mazáev ist außerdem festzuhalten, dass der Revolutionsmarsch vielmehr durch seine Performativität (Prozesshaftigkeit - Reflexivität - Realitätsstiftung: Einleitung 3., FN66) in der Gegenwart verankert ist, denn zeitliche Manipulationen (Flaniertempo oder Laufschritt), räumliche Eingriffe (Abkürzungen oder Umwege) sowie stilistische Überziehungen (Tanz- oder Stechschritt) zerstören seinen Symbolgehalt. Er kann nur ‘echtzeitlich’ und präsentisch, ‘anthropometrisch’ und raumgreifend / proxemisch erfolgen. Dies deutet auf einen isomorphen Vorgang hin, wie er für das „Mythologische Bewusstsein“ gilt, wo „die Dinge dieser Welt [die Ereignisse an Orten] über die gleiche Welt [über das Erschließen dieser Orte] beschrieben werden“ 633 : so entsteht eine enge Bindung zwischen performativer Markierung (Benennung) und proxemisch Markiertem (Benanntem), zwischen „Weg“ und „Raum“ (Certeau), woraus wiederum die Unübersetzbarkeit in ein anderes Medium (in ein anderes semiotisches System) resultiert. Der so beschriebene Revolutionsmarsch ist „mythologisch“ und „personell“ (Lótman/ Uspénskij, III.3.) — nicht im Sinne einer Rückführung auf längst erloschene Ereignisse oder stets verfügbare Mythologeme, sondern im Sinne einer leibhaftigen Sondierung, einer körpergebundenen Reflektion und Aneignung des Ereignisraumes, im Zuge einer Vergegenwärtigung akuter Revolutionsvor‘gänge’ durch jeden Einzelnen. Im Rahmen einer neuen Festkultur bedeutet das für den ‘mythologischen Marsch’, dass er nur fortschreiten kann, solange die Revolution in und mit dem öffentlichen Bewusstsein r/ evolutioniert — „andernfalls artet [er] zur Parade, zum Leibeigenen-Ballett oder zur Blaskapelle aus“ (Šklóvskij: Einleitung 2., FN22 — Auch Lunačárskij schließt dezidiert die Militärparade aus: Kap.II.3., FN505). Für die Eroberung des öffentlichen Raums folgt daraus, dass „die ganze kluge Organisation“ einer bloß antizipatorischen, optischen Besetzung ohne aktualisierende, performative Erschließung durch den Marsch „ein Pflaster auf dem Gesicht des Volkes“ bliebe (Lunačárskij: Kap.II.3., FN502) — also keine Umgestaltung, sondern eine „Übermalung“ darstellen würde (Lótman/ Uspénskij: III.3., FN557). 633 Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der ‘anthropometrischen’ ‘Atmung’ (in Verbindung mit „Hörsinn“ und „Lauten“, mit ‘Wort’ und ‘Stimme’) und dem isomorphen Vorgang ‘Marsch’ (als „Bewegung“) — zwei Grundfunktionen des orthodoxen Körper- und Zeitkonzepts, und damit auch Bestandteil des orthodoxen Ritualbegriffs (siehe Kap.I.4. und „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2.). <?page no="201"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 197 III.6. Vom „Raum“ zum „Ort“ Was passiert, wenn eine cultural performance und Massen‘bewegung’ eher optisch / visuell als performativ ausgerichtet, also mehr „Masse“ als „Bewegung“ ist, zeigt das folgende Beispiel. „In Petrograd in November 1918 seventeen open-air productions were staged in the town’s squares on various themes of the Russian and international worker’s movement.“ 634 Die seit Mai 1918 mit Sprech- und Bewegungschören auftretende Theaterformation „Arena des Proletkult“ (Kap.IV.1., FN652+653) zeigt zum ersten Jahrestag der Revolution und der Gründung des Proletkult eine Episode aus Romain Rollands Stück D ER 14. J ULI unter dem Titel D IE E RSTÜRMUNG DER B ASTILLE : vom 06. bis zum 12. November 1918 läuft die Inszenierung nacheinander am Proletkult, im Konzertsaal eines Volkshauses 635 , in den Räumen der Infanteristen-Lehrgänge, in zwei kommunalen Theatern sowie in einem Werk 636 — zwar nicht unter freiem Himmel, doch vor einem breiten Publikum 637 . Als eine Art kultureller Dachverband des Proletariats bemühte sich der Proletkult in der Kunstszene um die Entwicklung bestimmter ästhetischer Prinzipien, und im Theaterbereich um „/ .../ das chorische Prinzip in den Aufführungen, die Negierung jeglicher individueller Macht des Regisseurs, die durch ein Regie-Kollektiv ersetzt wird. Der freie Ausdruck freier kollektiver Kräfte sowohl im Schaffen der Autoren, als auch dem der Schauspieler und der Regie — dies ist die 634 Lane.1981.164. 635 Die ersten Volkshäuser entstanden im frühen 19.Jh. in England im Zuge der Industrialisierung und der Arbeiter- und Reformbewegung, und stellten eine Kombination von Gewerkschaftshaus und Freizeitheim dar. Bei den im späten 19.Jh. in Russland eingeführten Volkshäusern kam eine künstlerische Komponente hinzu, wie sie im Westen die „Freie Volksbühne“ und Kleinkunstbühnen hatten. West- und ostwärts spielte der Kampf gegen den Alkoholismus eine wichtige Rolle: die Träger der Volkshäuser waren meist Wohlfahrtsverbände, hinter denen einzelne Mäzene standen. (Verspohl, F.-J.: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart. Regie und Selbsterfahrung der Massen. Gießen 1976. - Schael, H.: Idee und Form im Theaterbau des 19. und 20. Jahrhunderts. Köln 1958. - Niess, W.: Volkshäuser, Freizeitheime, Kommunikationszentren. Zum Wandel kultureller Infrastruktur sozialer Bewegungen. Beispiele aus deutschen Städten von 1848 bis 1984. Hagen 1984.) - Zum Volkshaus siehe auch Kap.IV.2.1., FN670 und Kap.V.5.1., FN948/ 953. 636 NN: „Teatr - Proletkul’t“ [„Theater - Proletkult“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°7 vom 05.11.1918. S.4. 637 Im Sommer 1920 wurde im Sommergarten ein weiterer S TURM DER B ASTILLE gezeigt. (Piotrovskij in Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.270.) Die Verwechslungsgefahr bei ähnlich lautenden Aufführungen ist relativ hoch: gängige Revolutionsmotive wurden in allen Varianten und Formaten durchgespielt, die in der Presse oder den Berichten nicht immer klar betitelt und abgegrenzt wurden. (Vgl. Kap.V.1., FN853.) <?page no="202"?> K APITEL III. 198 wichtigste Hoffnung des Proletkult, die eine totale Umwälzung der gesamten Handlung und Organisation des Theaters vorsieht.“ 638 Obwohl die Proletkultler keinerlei Theatererfahrung hatten, „echte Autodidakten / .../ direkt von der Werkbank“ 639 waren und außerdem für ihresgleichen spielten (für Proletariat und Armee, die mehrheitlich aus Bauern bestanden), wurde die Aufführung von der Presse eher kühl aufgenommen: „Es gibt zweifellos einige Funken, diese aber zu einem Brand zu entfachen werden solch konzeptionell schwachen Stücke wie Romain Rollands ‘Erstürmung der Bastille’ nicht können, wo mit primitiver Grobheit, ohne Schattierungen oder Nuancen und in ungelenker Weise die Konturen der Helden der großen französischen Revolution skizziert werden, mit einer oberflächlichen verstandesmäßig-konstruierten Vertiefung [sic] in ihre Psyche. / .../ Doch ins Auge fielen die unmittelbare Beteiligung der Menge in den Massenszenen, das Fehlen einer allgemeinen stilistischen Linie bei der Verteilung bestimmter Rollen. Die individuelle Kreativität einzelner Darsteller machte sich bemerkbar, und bei der Vielfalt der Ansätze wurde keine Einheitlichkeit des chorischen Prinzips beibehalten. Außerdem: schon die Bühne im ‘Palast des Proletkult’ ist zu klein, zu eng und zu flach für die Darbietung solcher Stücke mit einer Bewegung der Masse, und die Masse, die in den Stücken von Romain Rolland solch eine prominente Stelle einnimmt, verliert sich in dem unbedeutenden Raum der Bühne und gleicht sich dem Hintergrund an, womit die Grundidee des Stücks verzerrt wird, worin die Hauptfigur das Volk selbst ist, und nicht die aus ihm hervorgehenden, seine von ihm aufgestellten Anführer. Aber dies nur am Rande.“ 640 Als eine der ersten Kritiken nach 1917 problematisiert diese den „revolutionären“ Zusammenhang zwischen „Massenszenen“ und einem „chorischen Prinzip“, ein Thema, das bereits vor der Revolution diskutiert worden war (Kap.II.1.1., II.1.2., II.1.6.). Aufschlussreich ist, dass hier das Verhältnis zwischen den Akteuren und dem Raum formuliert wird, wonach dieser als „chorisches“ Kriterium nicht nur für (außerästhetische) Revolutionsfeiern, sondern auch für (illustrative, referentielle) Massenszenen fungiert: mangels „Bewegung“ auf der Bühne wird die „Masse“ zum „Hintergrund“ verflacht — wohingegen die „Anführer“ offenbar über bedeutend mehr Spielraum verfügen. Zugespitzt formuliert, bot der „Palast des Proletkult“ nur Platz für einige Helden oder „Solisten“ und für die Bastille (die Kulisse), nicht aber für die eigentliche Erstürmung (die Handlung) und ihre Träger (das Volk). Ohne „Bewegung“ (Vsévolodskij, Certeau) ‘implodiert’ der „Raum“ (von ‘Optionen’) zum „Ort“ (der „Ordnung“): mit ihren eingepferchten Insassen bleibt 638 N. N-v.: „Godovščina ‘Proletkul'ta’“ [„Der Jahrestag des ‘Proletkult’“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°25 vom 28.11.1918. S.4. (= „Jahrestag Proletkult. 1918.“) - Näheres zum Proletkult siehe Kap.IV.1. 639 „Jahrestag Proletkult.1918.4.“ 640 Ebd. <?page no="203"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 199 die B ASTILLE ein Theater und Gefängnis, wie viele andere vor der Revolution. Die E RSTÜRMUNG DER B ASTILLE zeigt somit, dass der Einsatz von Massenszenen ohne den ‘mythologischen Marsch’ weder eine Massenfeier noch ein Massenschauspiel ausmacht. Im Anschluss an diesen Befund zeigt nun der S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT , welche Faktoren außerdem konstitutiv sind für eine Inszenierung für oder von den Massen. <?page no="204"?> K APITEL III. 200 1+2/ Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch) während der Revolution. 1/ „Demonstration in Leningrad. Die Statue Katharina II., mit einer roten Fahne geziert“. (Fülöp-Miller.1926.T.117.) — Photo. Nach 1917. 2/ „Wir fordern! “ (großes Transparent) - „Schutz vor Fliegen“ (von links oben nach rechts unten) - „Trockene, saubere Windeln“ - „Die Mutterbrust“ - „Hebammen und keine Heilerinnen“ - „Saubere Luft und Licht“ - „Gesunde Eltern“. — Informationsblatt zur Mutter-Und-Kind-Vorsorge von Aleksej N. Komarov (? ). - Vor 1926. <?page no="205"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 201 3/ Die Schutzpatrone der Pferde: Floros (oben links) und Lauros (oben rechts). Neben den Tafelbergen typisch für die Ikonenmalerei: die Dreier- und Zweier- Anordnung (vgl. Kap II., 1). — Floros und Lauros mit Vlasij [Blasius] und Spiridon. - Ikone. Dorf Tipinica (Novgorod, nördliche Provinz). Erste Hälfte 16.Jh. 4/ Rot-Gardisten: „Den Kern der Truppeneinheiten bildeten Arbeiter, daneben stellten sich zahlreiche nichtkommunistische militärische und ökonomische Fachleute aus Patriotismus zur Verfügung. Die Bauern machten allerdings zahlenmäßig den größten Anteil aus / .../ .“ (Haumann in Bütow.1988.25.) — Photo. 1917. <?page no="206"?> K APITEL III. 202 5/ Attribute der Kirchen- und Bittprozessionen: Kruzifixe, Fahnen, Heiligenbilder. — Il’ja Je. Repin. Kreuz- / Kirchenprozession im Eichenwald. - Gemälde (Studie). 1878. 6/ Attribute der Kundgebungen und Demonstrationen: Plakate, Transparente, Fahnen (Schriftzug oben: „In ein schönes Leben führen wir den Weg“). — Photo einer Demonstration auf dem Roten Platz in Moskau am 07. November 1918. <?page no="207"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 203 7/ Fortsetzungen des Drachenmotivs. — Unbekannter Künstler. „Vier Jahre“. - Plakat. 1921. <?page no="208"?> K APITEL III. 204 8+9/ Die Verbrüderung von Soldat und Arbeiter: conditio sine qua non und point of no return der Revolution; bis 1919/ 1920 beliebtes Motiv in Presse und Buchdruck (1918/ 1919) und in den kleinen und großen Manöveraufführungen (1919/ 1920 - Vgl. Verbrüderungsmotiv 16 hier und Kap.IV., 9). — Illustration. 1918/ 1919 (? ). 10/ „Großflächige rote, orangefarbene, rhombenförmige Leinwände / .../ “ (Schlögel. 1988.357.) von Natan I. Al’tman für die Tribüne an der Alexander-Säule am 07. November 1918. — Photo. 1918. <?page no="209"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 205 11+12/ Die Revolution: eine Sache auf Leben und Tod. — Entwurf von Jakov M. Gumminer des Panneaus „Ruhm den Helden“ für den Bogen des Smol’nyj-Instituts (vgl. 18+19) in Petrograd zum 07. November 1918. (Schriftzüge mit Opfermotiv. Über dem Panneau: „Bogen des inneren Kreises“ - Panneau oben: „Ruhm den Helden, die durch ihren Tod die weltweite Revolution erschaffen“ - Panneau unten: „Ruhm den Helden, die mit ihrem Leben die weltweite Revolution erschaffen“). <?page no="210"?> K APITEL III. 206 13/ Ein weiteres, grundlegendes Merkmal: die Ikone sperrt sich gegen die Zeit als ‘Metrum’. Die Festung links bildet zwar eine zeitörtliche Klammer für die zwei Phasen der Kampfsequenz (ein Verfahren aus der Renaissance), für deren Ausgang ist jedoch die „wundertätige“ Marien-Ikone entscheidend und daher an oberster Stelle im Bild: das Wichtigste ist hier das Erste, in anderen Ikonen ist es das Größte (vgl. Einleitung, 3). Die Leserichtung (Mitte - unten - oben) ‘zerlegt’ die alltäglichen Reihenfolgen und Hierarchien, und konfiguriert die Elemente zu einer „ mgekehrten“ oder „Bedeutungs-Perspektive“. — Die Schlacht von Novgorod gegen Suzdal’. - Ikone. Novgorod. 1460−1470. (Vgl. Kap.V., 11). U <?page no="211"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 207 14+15/ ‘Tafelberge’ im Revolutionsdrama: Bühnen im Modus der „Apotheose“. 14/ Bühnenbild-Entwurf von Viktor A. Šestakov für Vladimir M. Vol’kenštejns S PARTAKUS (1921) in der Regie von Valerij M. Bebutov am Theater der Revolution (1923, Moskau). — Photo. 1923 (? ). 15/ Szene aus Vladimir M. Vol’kenštejns S PARTAKUS (1921) mit dem Bühnenbild von Viktor A. Šestakov in der Regie von Valerij M. Bebutov am Theater der Revolution (1923, Moskau). — Photo. 1923 (? ). <?page no="212"?> K APITEL III. 208 16/ „Schlußapotheose aus einer Verbrüderungsfeier zwischen Arbeitern, Bauern und Soldaten“. (Fülöp-Miller.1926.T.23.) (Vgl. Verbrüderungsmotiv 8+9 hier und Kap.IV., 9). — Photo. Vor 1926. <?page no="213"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 209 17/ Theophanes der Grieche. Verklärung Christi. - Ikone. Pereslavl’. Anfang 15.Jh. <?page no="214"?> K APITEL III. 210 18/ Das Smol’nyj-Institut: Ab August 1917 Sitz des Petrograder Sowjets und des VCIK. Gründungsort des SovNarKom (1917) und des RevVoenSovet (Oktober 1917 / Ende 1918). Schauplatz des bolschewikischen Putsches (25./ 26. Oktober 1917). — Photo. Vor 1926. 19/ Das Smol’nyj-Institut. — Photo. Um 1917. <?page no="215"?> D IE E ROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN R AUMS 211 20/ Unter dem Banner mit dem Kampfruf der Französischen Revolution („Freiheit! Gleichheit! und Brüderlichkeit! “) schien die Sonne bis 1918 auch für das russische Bürgertum (die beiden rechten Silhouetten). — Postkarte. Odessa. 1917. 21/ Eine der ersten und eine der letzten Forderungen der Aufständischen: „Alle Macht den Räten! “ — Fahne. Frühestens 1917. <?page no="217"?> IV. D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT als Aufstieg eines neuen Genres (12. und 16.03.1919 - Erstfassung) 641 Roždéstvenskij-Bezirk. Roždéstvenskij-Volkshaus (vormals Nikoláev-Akademie) am Sovétskij (vormals Súvorovskij) prospekt (32 b). 20.07.1919: Erweiterte Fassung - Uríckij-Platz (Schlossplatz) vor dem Winterpalais. ❐ 1 25.11.1919: Modifizierte Fassung unter dem Titel D AS R OTE J AHR - Uríckij-Platz (Schlossplatz) vor dem Winterpalais. ❐ 8+9 641 S VERŽENIE SAMODERŽAVIJA (D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT ). Nach der Premiere lief die Aufführung eine Zeit lang unter verschiedenen Titeln, wie z.B. K RUŠENIE MONARCHII (D ER Z USAMMENBRUCH DER M ONARCHIE . NN: „Kalendar’. 1-j spektakl’ dramatičeskoj masterskoj Krasnoj Armii“ [„Kalender. Erste Aufführung der Theaterwerkstatt der Roten Armee“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°21 vom 22.- 27.04.1919. S.7. (= „Erste Aufführung Theaterwerkstatt.1919.“)) oder S VERŽENIE CARIZMA (D ER S TURZ DES Z ARISMUS . NN: „Chronika. Truppa improvizatorov“ [„Chronik. Eine Truppe von Improvisatoren“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°110 vom 03.04.1919. S.3.) (= „Eine Truppe Improvisatoren.1919.“). Aufführung der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ (Februar 1919 bis Mai 1920) unter der Leitung von N.G. Vinogradov-Mamont. (Vinogradov-Mamont.[1966]1972.) - Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die Erstnennung der Funktion der Teilnehmer und Akteure. - Initiative und Grundidee: Vinogradov-Mamont (12) - Organisation: Kulturabteilung der Politischen Verwaltung des Petrograder Militärbezirks (PUR) (12) - Szenarium: Vinogradov-Mamont, A.P. Krajskij (Kuz’min) (34+47), Soldaten und Matrosen der Roten Armee bzw. Roten Flotte (37) - Dramaturgie-Assistenten: Kruglov (46), Novožilov (34+47) - Regie-Rat: Vinogradov-Mamont (39+41f.), N.A. Ščerbakov (Pantomime) (31), N.N. Bachtin (Chorleiter, Akteur) (31), Je.D. Golovinskaja (31), N.A. Lebedev (31), V.V. Šimanovskij (31), Ja.M. Čarov (31+38) - Regie-Mitarbeit: Vs.Ė. Mejerchol’d (43f.) - Regie-Assistent: Kelich (46) - Bühne / Ausstattung: K.V. Šillingovskij (51+53), P.A. Dydyško (51+53) - Musik: Trommeln, Zieharmoniken, Hörner (61+65) - Szenarium und Regie der erweiterten Fassung: D.A. Ščeglov (120) - Szenarium (und Regie? ) der modifizierten Fassung D AS R OTE J AHR : A.I. Piotrovskij (Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.58. - Mazaev. 1978.316.) Akteure: 130 Soldaten (überwiegend) und Matrosen (17) der Roten Armee bzw. Roten Flotte, sowie einige professionelle Schauspieler, darunter Je.D. Golovinskaja, N.A. Lebedev, V.V. Šimanovskij und Ja.M. Čarov (die hier nur als Regisseure fungieren) von der „Ersten öffentlichen Wanderbühne“ („Peredvižnoj teatr“) (31) - Demonstrant Osipov: Osipov (36) - Nikolaj II.: Nikolev (42) - Polizeihauptmann: Maljarevskij (55) - Demonstrant (Student) mit (echter) Verletzung: Malikov (59) - General-„Hengst“: Chodorov (36+62) - Junger Arbeiter der Putilov-Werke: Čižov (62) - Kommandant des Arsenals: A.P. Krajskij (65) - Feldwebel Lisica („Fuchs“): Zarnicyn (65+67) - Deutscher Oberst: Taraščenko (66) - Adjutant: Selëdkin (66) - A.I. Gučkov (Duma- Abgeordneter): Kulakov (71) - V.V. Šul’gin (Duma-Abgeordneter): Jerofeev (37+71) In weiteren Rollen: Lichoedov (19+33), Kamenjuk (34), Novožilov (34), Lazarev (34), N. Panifidov (34), F. Fonarëv (34), Fëdorov (36), S. Kočerga (36), Panafidin (39), Nastin (40), Zavalichin (44), Grečiškin (70). <?page no="218"?> K APITEL IV. 214 IV.1. Die „inscenirovka“ als Szenarium eines Soziotops Infolge ihres ‘Revolutionsmandats’ (Kap.I.1.5.) stellen die Masseninszenierungen die aufwändigste und insofern die erfolgreichste Form theatraler Selbstorganisation dar, als die unterschiedlichsten Soziotope - KomSoMól (Kommunistischer Jugendverband) und RábIs (Verband der Kunstschaffenden), Flotte und Armee - mittels spezifischer kultureller und künstlerischer Praktiken (und für den hier behandelten Zeitraum weitgehend ohne staatliche Auflagen) jeweils ihren Umbruch reflektieren und darstellen konnten. Sie basieren auf einem kollektiv verfassten Szenarium, das entgegen der lautlichen Ähnlichkeit der „insceniróvka“ (Plural „insceniróvki“) nicht auf den Werk-Charakter einer elaborierten Inszenierung, sondern auf den Ereignis- Charakter 642 einer improvisatorischen Aufführung abzielt. Piotróvskij fasst ihre Grundverfahren wie folgt zusammen: „1) [Tendenz] zur Masse — zum Chor, als grundlegener Kraft, die die Handlung vorantreibt, 2) zu einer [dargestellten, MD] Zeit ohne Pausen, mit einem insgesamt episodischen Aufbau des Szenariums, 3) zur Anwendung realer Gegenstände und Bewegungen: Militärparaden, Kundgebungen, Schlachten, 4) und insbesondere [einer Tendenz] zur Deutung des Raumes als einer gewissen topographischen Realität.“ 643 Zudem ist ein ‘expressionistischer Stil’ kennzeichnend: „Eine allgemeingültige Grundidee, Schematik der ‘Masken’, eine sprunghafte, kontrastreiche Handlung, Komprimiertheit — das ist das Besondere. In der traditionellen inscenirovka kommt noch ein festliches / feierliches Sujet und ein Gesangs- Chor hinzu.“ 644 Prinzipiell gilt: „/ .../ ihr Zweck sind rein festliche / feierliche Emotionen, ihre Mittel sind: eine elementare Handlung, eine offene [d.h. dezidierte und klare, MD] ideologische Haltung, ein unbedingt heiteres / gehobenes Finale.“ 645 Diese Beschreibung macht den Montagecharakter und die Drastik der Insceniróvka deutlich, deren auffälligstes Merkmal die vereinfachende Darstellung komplexer Vorgänge ist: „‘Die Arbeiter vollbringen die Revolution’, ‘Rot-Armisten im Kampf’ — die Motive dieser Inscenirovki sind nicht zahlreich, die Verfahren ihres Ablaufs nicht kompliziert. Ihnen liegt / .../ ein fortwährend zu variierendes Verfahren zugrunde — nicht die Verkleidung, sondern die Ver/ Wandlung [preobražénie, Kap.I.1.2.].“ 646 Mit diesen Merkmalen 642 Fischer-Lichte/ Roselt in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).237f. 643 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.64. 644 Piotrovskij, A.I.: „Molodaja dramaturgija“ [„Junge Dramatik“] (Mai 1924). In: Ders. 1925.63. 645 Piotrovskij, A.I.: „Melodrama ili tragedija? “ [„Melodram oder Tragödie? “] (Feb. 1924). In: Ders.1925.56f. (= Piotrovskij.(1924/ a).1925.) 646 Piotrovskij.(1921/ b).1925.26. <?page no="219"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 215 wird die Insceniróvka bald zum Sammelbegriff und Synonym für eine Masseninszenierung unter freiem Himmel, für die Darstellung eines opfer- und siegreichen Widerstandes und Kampfes eines unterdrückten Volkes gegen seine Peiniger: „Wie wir sehen, wählten die Autoren der inscenirovki nach eigenem Belieben revolutionäre Episoden aus der Geschichte, und fassten sie im Rahmen einer theatralen Vorstellung zusammen, jedoch unbedingt in einer chronologischen Abfolge, so dass die Geschichte gleichsam auf den Oktober hinauslief.“ 647 Die Formulierung einer teleologischen Zielrichtung rückt jedoch die Kontroverse zwischen einem Theater „für das Volk“ und einem Theater „des Volkes“ (Kap.II.1.1.) erneut ins Blickfeld: Will man die Insceniróvka zu einem Szenarium revolutionärer Bewegung(en) deklarieren, die einer gesetzmäßigen Kontinuität folgen, muss man in dieser Perspektive auch den Oktober entweder als eine Station unter vielen künftigen, oder aber als Endzustand der Geschichte relativieren. Will man hingegen die Beteiligten theatraler Selbstorganisation ernstnehmen, darf man bezweifeln, ob ihr oberstes Anliegen eine historische Chronologie oder die Einordnung der Revolution in die Menschheitsgeschichte ist, deren Hintergründe, Helden und Handlungen sie zu diesem Zeitpunkt eher vom Jahrmarkt und aus Legenden kannten (Kap.V.4.). Einen methodischen Lösungsansatz dieses Problems bieten die Begriffe ‘Bezugsrahmen’ und ‘Subtext’ (IV.3.), die für die jeweilige Einzeluntersuchung herausgearbeitet werden. Deren Relation zeigt, dass die Insceniróvka zugleich viel weniger und viel mehr war: ein Schutzraum für Orientierungsversuche im tagespolitischen Ausnahmezustand, und ein Theater-Laboratorium, wo eigene Erfahrungen zur Artikulation und zur Aufführung gelangen konnten. 648 Kontext, Interessenslage, Aussagewert und Wirkungsästhetik der Insceniróvka sind demnach das Produkt einer ‘Zeitenwende’ und von ihrer Krisensymptomatik her zu begreifen und zu bestimmen — wobei sie in Armeekreisen durchaus nicht als Notlösung galt, sondern als Neuansatz für ein zeitgemäßes, revolutionäres Repertoire begrüßt wurde 649 . Dies gilt für die vorliegende Insceniróvka umso mehr, als der S TURZ im Vorwort an die Zuschauer (IV.2.1.) als Vorlage für eine szenische Improvisation ausgewiesen und in den frühesten Rezensionen als „Szenarium“ (scenárij) 650 bezeichnet 647 Tamašin.1961.30.+28. 648 Z.B. die als „kollektivnoe tvorčestvo“ [„kollektives Werk“] bezeichnete Partisanen- Inscenirovka „K novoj žizni“ [„Für ein neues Leben“] eines anonymen Rot-Armisten: A.Š.: „Kollektivnoe tvorčestvo“ [„Kollektiv-Werk“] (14.09.1920). In: Jufit.1968.318f. (= „Kollektiv-Werk.1920.“) 649 Ders.Ebd. - „Vortrag Dmitriev Kubaner Armee.1920.318.“ - Auch in der Provinz stieß Theater in jeder Form - ob improvisiert oder etabliert - auf sehr reges Interesse. (Sobolew.(1925).21.) Zum „Theaterfieber“ siehe: Einleitung 1., FN1/ 3 und 2., FN19/ 26 sowie 4., FN107 - Kap.III.1., FN508 - Kap.III.4., FN579. 650 „Erste Aufführung Theaterwerkstatt.1919.7.“ - „Eine Truppe Improvisatoren. 1919.3.“ <?page no="220"?> K APITEL IV. 216 wird. Beide Begriffe - „insceniróvka“ und „scenárij“ - verweisen auf die Wechselwirkung einer literarischen Übergangs- und theatralen Improvisationsform 651 . Ins öffentliche Bewusstsein gelangt die Insceniróvka zunächst mit der Theatralisierung verschiedener Genres in den „bunten Abenden“ 652 der verzweigten und umtriebigen Proletkult-Bewegung 653 , und wird daher oft 651 In welcher Zeitenwende der Begriff „inscenirovka“ erstmals verwendet wurde, ist unklar. Möglicherweise taucht er mit der Bearbeitung und Aufführung von Gedichten zu Beginn des 18.Jh. während der Reformherrschaft Peters I. auf. Mit den ersten sozialen Unruhen während des Industrie-Aufbruchs im 19./ 20.Jh. kommen zahlreiche Roman-Dramatisierungen auf etablierten Bühnen zur Aufführung. Umso vehementer ist der Zugriff während der labilen Revolutionszeit: Dem allseits beklagten Mangel akzeptabler Spielvorlagen versucht man durch Presse-Aufrufe, Wettbewerbe und Agitation abzuhelfen (Einleitung 4., FN130). Ende 1918 gründet die Repertoire-Sektion des NarKomPros spezielle Gruppen, die sich mit der Inscenirovka im Sinne einer Adaptation sozialkritischer Romane beschäftigt. Spätestens hier kommt die Inscenirovka als Begriff in Umlauf. (Jufit.1968. FN116.78.) 652 Die erste Veranstaltung dieser Art fand zum ersten Jahrestag der Oktober-Revolution statt mit einem Auftritt Lenins, mit Liedern eines Arbeiterchors, den besagten „inszenierten“ bzw. theatralisierten Gedichten, dem shakespearschen Brutus-Monolog, sowie mit „Bewegungs-Etüden“ u.a. zur Marseillaise. (Mazaev führt das Genre und die Begriffsprägung auf den Proletkult zurück — was aufgrund der sonstigen Quellenlage nicht recht einleuchtet. - Mazaev.1978.312f.) Bei diesen Anlässen kamen die in Kap.II.1.6. genannten Sprech-u. Bewegungs-Chöre zum Einsatz. 653 Der Proletkult (Kurzform für „proletarische Kultur“, genauer: für das „Vereinte Zentralkomitee der proletarischen Organisationen für Kultur und Bildung“) wurde während der Provisorischen Regierung im September 1917 gegründet und definierte sich auch nach der Machtübernahme der Bolschewiki als eine autonome Organisationsform, die analog zur Partei (> Politik) und zu den Gewerkschaften (> Wirtschaft) für den Bereich > „Kultur und Bildung“ zuständig sein sollte. (Torke.1993.257.) Er beruht auf der von A.A. Bogdanov nach 1905 entwickelten und 1912 publizierten „Allgemeinen Organisationslehre Tektologie“, einem Systematisierungsversuch aller Wissensgebiete zur rationalen Organisation neuer Lebensverhältnisse, und damit aller „Dinge, Menschen und Ideen“: „Historisches Geschehen und Naturereignisse sollen als mathematische Größen und im Kontext symbolischer Formen und Gleichungen, d.h. als Form von gesetzmäßigen Abläufen, wie es vergleichsweise die Kybernetik anstrebt, in den Griff kommen.“ (Gorsen, P. / Knödler-Bunte, E. / Steinborn, B.: „Proletkult. Eine Dokumentation zur Proletarischen Kulturrevolution in Rußland“ (Kommentar und Anmerkungen zu den Texten 1-11.). In: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Bildung. Heft 5/ 6. Feb.1972. Jahrgang 2. S.148.) Dieser „allgemeinen Organisationslehre“ zufolge könne sich eine proletarische Kultur - gleichberechtigt neben Politik und Ökonomie - nur an den Bedarfen, Erfahrungen, Werten und Normen des (Industrie)Proletariats ausrichten. Der „klassenreine“ und kollektivistische, später als „mechanistisch“ und „fetischistisch“ kritisierte Ansatz ging einher mit einer breiten Ablehnung des (bürgerlichen) Kulturerbes, und mit einem energischen Einsatz für eine proletarische und zentralistische Nationalisierung der Theater. (Židkov.1991.56f., 77., 88.) Nach dem Muster der RKP(b) aufgebaut und mit eigenem ZK (Zentral-Komitee), eigenem Theater („Arena des Proletkult“, Mai 1918 bis Oktober 1920 - siehe Kap.III.6.) und Klubs, eigener Universität und Presse ausgestattet, bildete die mitglie- <?page no="221"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 217 auf diese theaterpolitische Organisationsstruktur und ihren Vordenker P.M. Keržéncev zurückgeführt 654 — was nicht korrekt und hier zu ergänzen ist: In seiner Programmschrift 655 räumt Keržéncev der - vorzugsweise proletarischen - theatralen Selbstorganisation eine Monopolstellung ein als einzig denkbarer Vorstufe zum sozialistischen Theater 656 . Methodisch gelte es, durch „Improvisation“ 657 und „Kollektivität“ 658 den „schöpferischen Instinkt“ 659 zu einem originären proletarischen Wertesystem zu befördern und beides im Volksschauspiel und im Volksfest zum Ausdruck zu bringen: „Das Volksschauspiel ist eine Etappe auf dem Wege der Entwicklung zu einer wirklichen Massenaufführung unter freiem Himmel“ 660 — die Keržéncev derstarke Bewegung bald eine Konkurrenz-Struktur zum NarKomPros und zur bolschewikischen Partei. Dies führte seit dem Ende des Bürgerkriegs zu einer schrittweisen Entmachtung des Proletkult: der Theaterbereich wird im Oktober 1920 dem NarKomPros einverleibt, 1922 übernehmen die Gewerkschaften die Leitung der Proletkult-Theater. 1932 folgt die Auflösung des Proletkult und anderer sich abgrenzender, literarischer und künstlerischer Organisationen. (Zograf, N.G. / Kalašnikov, Ju.S. / Markov, P.A. (et al.): Očerki istorii russkogo sovetskogo dramatičeskogo teatra. V trëch tomach. T.I., 1917-1934 [Abhandlungen zur Geschichte des russisch-sowjetischen Schauspiels. Bd.I., 1917-1934]. Moskva 1954. S.129f. - Theater-Enzyklopädie.Bd.IV. 1965.474f. - Volkova, N.B.: „Teatral’naja dejatel’nost’ Proletkul’ta“ (Vvedenie) [„Die theatrale Tätigkeit des Proletkult“ (Einleitung)]. In: Jufit.1968.328.-329.) 654 Rudnitsky, K.: Russian & Soviet Theatre. Tradition & the Avant-Garde. London 1988. S.45. 655 Keržencevs Hauptwerk Das schöpferische Theater (1918) stellt den einzigen theoretischen Gesamtentwurf jener Zeit für ein neues Theaterwesen dar. 656 „Ich bin der Ansicht, dass man das Prinzip des Liebhaber-Schauspielers möglichst aufrecht erhalten soll. Nur jene Arbeiter-Schauspieler werden wahre Schöpfer des neuen Theaters sein, die an ihrer Drehbank bleiben werden. Gewiß werden manche von ihnen sich auf dem Gebiete des Theaters weiter ausbilden und spezialisieren müssen; doch sehe ich darin nur eine Ausnahme, und zwar eher eine gefährliche als wünschenswerte.“ (Keržencev.[1920]1980.63.) 657 Die Ausführungen zum Begriff „Improvisation“ fallen bei Keržencev nur spärlich aus: „Ein Regisseur oder jemand anderes gibt einem Arbeiterensemble in zwei, drei Worten ein Thema an, entwirft vielleicht einige Typen und weist auf zwei, drei Momente der Entwicklung der Handlung hin, alles andere, der Dialog, der Gang der Handlung, ihre Lösung wird von den Mitwirkenden, vielleicht auch unter Beteiligung des Publikums, improvisiert.“ (Ders.Ebd.88.) 658 „Das kollektive Schaffen darf keinesfalls mit künstlerischen Massenhandlungen verwechselt werden, z.B. mit einer vielstimmigen Deklamation, mit dem Auftreten des Chors in der Oper, mit Massenszenen in einem Schauspiel. Das kollektive Schaffen beim Theater wird charakterisiert: a) durch das Bestreben seiner Teilnehmer, in szenischen Gestalten höhere Interessen des Kollektivs zu verkörpern (d.h. das kommunistische Ideal in all seiner Vielfältigkeit); b) durch die kameradschaftliche Organisierung der damit verknüpften Arbeit, die das Prinzip der Autorität ablehnt und der Kritik weitesten Spielraum läßt; c) durch die bewußte Stellung jedes Mitwirkenden zu den allgemeinen Aufgaben dieses Schaffens.“ (Ders.Ebd.103.) 659 Ders.Ebd.34f.+67f. 660 Ders.Ebd.215. <?page no="222"?> K APITEL IV. 218 neben „grandiosen Festen“ zu den „typischen Schauspielen der Zukunft“ 661 zählt. Um diese Entwicklung zu gewährleisten, plädiert er für ein personelles und strukturelles Rotationsprinzip innerhalb eines breitgefächerten, an die verschiedensten Bildungseinrichtungen geknüpften theatralen Netzwerks, das umfangreiche lokale und überregionale Begleitprogramme vorsieht 662 . Keržéncev begreift und bestimmt also jede Großveranstaltung hauptsächlich als didaktisches und agitatorisches Massenmedium innerhalb einer weitgreifenden Organisationsstruktur, deren Wurzel und Inbegriff die „Werkstatt“ 663 ist. Als eine Initiative theatraler Selbstorganisation im militärischen Bereich ist die „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ jedoch weder an ein proletarisches Reinheitsgebot, noch an einen didaktischen Flächenplan gebunden, sondern versteht sich zunächst als gemischte und mobile Einsatztruppe („Die Akteure“, Kap.III.2.) für bestimmte militärische und soziale Brennpunkte (Front, ländliche Regionen) zur Verarbeitung und Aufführung eigener Revolutionserfahrungen 664 . Bevor sie nach dem Beschluss vom 07.04.1919 gezielt zum Frontdienst eingesetzt wird 665 , nimmt sie als Laientruppe konzeptionell 661 Ders.Ebd.59. 662 Ders.Ebd.161f. - NN: „Rezoljucija Proletkul’tov o proletarskom teatre (Po dokladu P.M. Kerženceva)“ [„Resolution der Proletkulte zum proletarischen Theater“ (Nach dem Referat von P.M. Keržencev)]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°19 (Anfang / Mitte April). 1919. S.4. 663 „Das Theater muß eine ewige Werkstatt bleiben, in der gelehrt und gelernt wird, in der täglich Debüts stattfinden, in der man keine ersten und zweiten Schauspieler kennt und keine kleinen oder letzten Rollen.“ (Keržencev.[1920]1980.63.) Ganz ohne Berührungsängste vor dem Klassengegner paraphrasiert hier der Proletkult-Ideologe Keržencev die Lehre des großbürgerlichen Theater‘fürsten’ Stanislavskij, demzufolge es keine kleinen Rollen, sondern nur kleine Schauspieler gebe. 664 Die „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ wurde im Februar 1919 von N.G. Vinogradov-Mamont gegründet und bis Frühjahr 1920 geleitet, bevor Piotrovskij die Führung bis zur Auflösung im Mai 1920 übernahm. (Vinogradov-Mamont.[1966]1972. 123f.) - Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.58. 665 Ob „von außen“ delegiert oder „von innen“ gebildet, ob es sich um einmalige oder um beständige mobile Front-Truppen handelte, und ganz gleich, welcher Anteil an Zivilisten daran beteiligt war — eine entscheidende Voraussetzung für die Theaterarbeit mit der und für die Rote/ n Armee / Front ist der Beschluss zur Erfassung der Bühnen- und Theater-Arbeiter vom 07.04.1919. (NN: „Postanovlenie i vremennye pravila Soveta Oborony ob učëte sceničeskich i teatral’nych rabotnikov“ [„Beschluss und einstweilige Richtlinien des Rates für Verteidigung [STO] zur Erfassung der Bühnen- und Theater- Arbeiter“] vom 07.04.1919. In: Dekrete.Bd.V.1971.34. (= „Erfassung der Bühnen- und Theater-Arbeiter.1919.“) - Knjazevskaja/ Fevral’skij in Jufit.1968.293. - Židkov. 1991.65f.) Danach wurde jede Art von Theaterdienst ebenso wie „das Auftreten in den Armee-Theatern / .../ den Schauspielern [und anderem Personal, MD] als Militärdienst angerechnet.“ (Scherscheniewitsch in Kritschewski/ Kersten.1923.66.) Dabei handelte es sich um Sonder-Einsätze, die keine Entbindung von der regulären Militärpflicht bedeuteten (man konnte jederzeit ein- oder abberufen oder sonstwohin versetzt werden), die aber für die Beteiligten einen Aufschub gewähren oder in ganz besonderen Fällen den Status als „unersetzliche Arbeiter“ erzielen konnten (und damit den Wechsel von <?page no="223"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 219 eine Mittelstellung ein zwischen der Proletkult- (seit 1917/ 1918) und der Studiotheater-Bewegung (seit 1905) 666 , deren Aufschwung und Ausdehnung parallel zur Revolution verlaufen. Der kriegsbedingte, allgemeine Personalmangel führt zum Einsatz weniger Fachkräfte in mehreren selbstorganisierten theatralen Einrichtungen (Kap.II.2., FN433 - Kap.III.4., FN583). Diese Querverbindungen und die unterschiedlichen, eingangs genannten Soziotope prägen das Phänomen „Insceniróvka“. Während aber die „Arena“ (das Theater, FN653) des Proletkult mit improvisierten Deklamationen sowie Sprech- und Bewegungs-Chören im literarischen Genre verankert bleibt, besteht der durchschlagende Erfolg und das historische Verdienst der „Theaterwerkstatt“ in der Einführung und Etablierung außerästhetischer, ritueller Handlungen und performativer Abläufe in Verbindung mit ästhetischen Mitteln wie „Kundgebung, Marsch, Fahneneid, Parade, Fahnenweihe u.a. Hier erhielten diese Formen erstmals eine gewisse ästhetische Ordnung, unterzogen sich einer einfachen, aber theatralen Bearbeitung und kehrten dann anschließend wieder in die Sphäre der Massenfeier / des Massenfestes zurück, wo sie einstweilen eine breite Anwendung in den monumentalen Spektakeln von 1920 in Petrograd fanden.“ 667 So mögen die Meriten für den literarischen Aspekt der Insceniróvka beim Proletkult liegen — ihr theatrales und prägendes Potential erhält die Insceniróvka von der „Theaterwerkstatt“. In den einschlägigen Quellen gilt D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT als Prototyp der Manöverinszenierungen, insbesondere der Zuständigkeit des Kriegsin diejenige des Kultur- / Bildungskommissariats). („Erfassung der Bühnen- und Theater-Arbeiter.1919.34.“) Beim Eintritt in die militärische Sphäre unterstanden alle Beteiligten - ob im Regel- oder im Sonder-Einsatz - dem ‘absoluten’ Kommando der Armee und einer militärischen Disziplin: war man erst einmal dienstverpflichtet, bedeutete der Theater-Einsatz, dass man diesen nicht ohne wichtigen Grund quittieren oder nachlässig behandeln konnte (bei Strafe vor dem Revolutions-Tribunal: Kap.III.2., FN534). (NN: „Instrukcija dlja peredvižnych frontovych trupp i prikaz N°228 predsedatelja Vsebjurvoenkoma I. Jureneva, predpisyvajuščij rukovodstvovat’sja ‘instrukciej’“ [„Instruktion für die mobilen Front-Truppen und Befehl N°228 des Vorsitzenden des Vsebjurvoenkom [Allrussisches Büro der Kriegskommissare] I. Jurenev zur Beachtung der ‘Instruktion’“] vom 28.01.1919. In: Jufit.1968.296f. - Knjazevskaja/ Fevral’skij in Jufit.1968.FN66.326.) Sich beim Theater-Einsatz ‘unersetzlich’ / „unabkömmlich“ zu machen bedeutete also nicht, dem Krieg zu entkommen, sondern diesem - etwa durch die Recherche und Organisation eines vernünftigen Repertoires für die Front - von einer weitgehend intelligenten Seite zu begegnen und zu widerstehen. (NN: „Protokoll N°26 zasedanija Bjuro Repertuarnoj sekcii Petrogradskogo otdelenija TEO“ [„Protokoll N°26 der Sitzung des Büros der Repertoire-Sektion der Petrograder Abteilung der TEO“] vom 27.01.1919. In: Jufit.1968.45.) Siehe dazu auch IV.2.2., FN726. 666 Das „Studio an der Povarskaja“ entstand im bürgerlich-liberalen Umfeld des Moskauer Künstlertheaters (MChT) und bildete den Ausgangspunkt der Studio-Bewegung unter der Leitung von Stanislavskij und Mejerchol’d (siehe IV.5.2., FN818). 667 Mazaev.1978.318. <?page no="224"?> K APITEL IV. 220 für die prominente E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS (Kap.VI.) 668 . Die organisatorische Leistung, die ästhetische Wirkung, die gemeinschaftsstiftende Kraft und der ungeahnte Erfolg des S TURZES können m.E. nicht hoch genug ein/ geschätzt werden und erheben diese Aufführung - weit über einen Prototyp hinaus - zu einer Referenzgröße für alle weiteren Manöveraufführungen. Der S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT wird hier anhand seltener Quellen erstmals ausführlich und seinem Stellenwert entsprechend als Präzedenzfall untersucht, wobei die Aufführung der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ den konkretesten Einblick in die interne Struktur eines ‘militärischen Theatersoziotops’ ermöglicht. Die Beschreibung des Handlungsverlaufs folgt im Wesentlichen Vinográdovs Memoiren — ein originales Szenarium ist Piotróvskij zufolge nicht erhalten geblieben 669 . Vor allem die spektakuläre Erstfassung im geschlossenen Raum bietet Material für eine nahezu vollständige Ablaufskizze des S TURZES , anhand dessen die Funktionsmechanismen der Insceniróvka und die Wirkungsästhetik der Manöveraufführung spezifiziert werden können. IV.2.1. Handlungsverlauf des S TURZES im geschlossenen Raum Auf private Initiative und auf Anordnung der Kulturabteilung der Politischen Verwaltung des Petrograder Militärbezirks (PUR), und nach einer Vorbereitungszeit von nur 4 Wochen und 30 Proben zeigt die „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ unter der Leitung von N.G. Vinográdov-Mámont im März 1919 in einer knapp eineinhalbstündige Aufführung den S TURZ DER S ELBST- HERRSCHAFT im Volodárskij-Saal des Roždéstvenskij-Volkshauses 670 . Tradi- 668 Dies geht u.a. aus einem den Revolutionsfeiern und Masseninszenierungen gewidmeten Sonderheft von 1920 hervor, in dem exemplarisch ein improvisatorisches „Szenarium“ vorgestellt wird, das eine zur Inscenirovka des S TURZES analoge Struktur aufweist: „1. Episode: das Joch des Kapitalismus. 2. Episode: die erzwungene Arbeit der Ausgebeuteten. 3. Episode: Wohltätigkeit und andere Wege zur Bewusstseins- Verschattung der Ausgebeuteten. 4. Episode: der Konsum von Produktionsgütern im kapitalistischen System. 5. Erste Unruhen. 6. Episode: die reaktionäre Bourgeoisie (der 9. Januar 1905). 7. Episode: Untergrund. 8. Episode: Aufstand. 9. Episode: Sieg. 10. Episode: die Freude der Werktätigen.“ (Smyšljaev.(1920/ b).8f.) 669 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.52.-74., 118.-120. - Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.58. - Tamašin.1963.281f. 670 „Eine Truppe Improvisatoren.1919.3.“ - „Erste Aufführung Theaterwerkstatt. 1919.7.“ - Vor der Revolution beherbergte das Roždestvenskij-Volkshaus die Nikolaev-Akademie des Generalstabs, und nach dem Umsturz die Räume des Rates der Arbeiter-, Bauern- und Rot-Armisten-Deputierten (SovDep). (Vinogradov-Mamont. [1966]1972.52f.) Die Umwandlung zu kulturellen Zwecken wurde wie eine Neugründung dargestellt: „Am 9. November [1918] nimmt das Roždestvenskij-Volkshaus des Bezirkssowjets der Arbeiter- und -Bauern-Deputierten seine Tätigkeit auf. Für den Bedarf des Volkshauses ist die gesamte erste Etage des schönen und weitläufigen Gebäudes der ehemaligen Akademie des Generalstabs (Suvorovskij pr. 32 b) zugewiesen, mit fünf Sälen und angrenzenden Räumen. / .../ Das Volkshaus hinterlässt den Eindruck von heimischer Gemütlichkeit, Großzügigkeit und Einfachheit. / .../ “ Die Säle beher- <?page no="225"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 221 tionellerweise gibt es eine Doppelpremiere — eine öffentliche Generalprobe am Mittwoch, dem 12. März um 19.30 Uhr, sowie die eigentliche Premiere am Sonntag Abend, dem 16. März im Beisein politischer und künstlerischer Prominenz. Bei der ersten Aufführung ist der Saal völlig überfüllt 671 . Der Erfolg an beiden Abenden und auch später ist einzigartig, für heutige Verhältnisse kaum vorstellbar, und kann nicht anders als rauschend und überwältigend - kurz: nur als ein „Triumph“ (A.L. Grípič) 672 - bezeichnet werden: die Truppe wird beide Male frenetisch gefeiert, und der Werkstattleiter so heftig in die Höhe geschaukelt, dass er gegen die Stuckdecke prallt. Die Truppe wird am Premieren-Abend zu einer eigenständigen Militäreinheit befördert, und die Insceniróvka wurde in der Folge - als einzige der großen Manöveraufführungen - vor allem in dieser Erstfassung von vielen Seiten angefordert und etliche Male gezeigt. Im Eingangsbereich des quadratischen Mehrzwecksaals, der bis zu 600 Zuschauer fasst und an Beleuchtung außer Fenstern nur einen Kronleuchter hat, befindet sich ein grob zusammengezimmertes Podest, das mit rotem Tuch bezogen ist und das „Podest der Revolution“ darstellt. Darunter lagern Holzreste, Böcke, Klötze und vermutlich von Kampfhandlungen ramponierte Stühle als Material für eine Barrikaden-Szene. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals bildet eine flache Podiumsbühne mit Kulissen aus grünem Generals-Tischtuch (eine Hinterlassenschaft der ehemaligen Militär-Akademie) - hinten mit samtausgeschlagener Nische - das „Podest der Reaktion“. Die dritte Spielfläche ist der Mittelgang des Saals, der die beiden Bühnen verbindet: die Stuhlreihen sind entlang des Ganges einander gegenübergestellt und füllen den Raum bis knapp zu den Wänden, in denen sich zwei Seitentüren (je gegenüber ? ) befinden 673 . Auf dieser Achse zwischen dem „Podest der Reaktion“ und dem „Podest der Revolution“ (FN679) finden die Angriffs- oder Rückzugsbewegungen in beide Richtungen statt. Mit dem räumlichen war zugleich ein performatives Programm angelegt (Zweiteilung der Spielfläche mit Verbindungsweg), das noch in die III. I NTERNATIONALE hineinwirken (Kap.V.2.[9], FN875) und auch die E RSTÜRMUNG maßgeblich prägen sollte (Kap.VI.2.[1], FN1005). Die Handlung besteht aus 7 Bildern, die verschiedene Widerstandsmomente, Schlüsselepisoden und Kampfsituationen im Vorfeld der Oktoberbergten jeweils eine kostenlose Bibliothek, einen Kinosaal mit täglichem, meist didaktischem Programm, einen Vortrags- und einen Konzert-Saal: „In nächster Zukunft wird ein für 350-400 Zuschauer bemessenes Studio-Theater eingerichtet, das für den gelegentlichen Auftritt von Ensembles der Staatlichen und Kommunalen Theater und für die Proben von Studiobühnen vorgesehen ist.“ ([Unleserlicher Autor]: „Novyj Narodnyj Dom“ [„Ein neues Volkshaus“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°7 vom 05.11.1918. S.4.) - Zum Volkshaus siehe auch Kap.III.6., FN635 und Kap.V.5.1., FN948/ 953. 671 „Erste Aufführung Theaterwerkstatt.1919.7.“ 672 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.59f. 673 Ders.Ebd.54f.+71f. <?page no="226"?> K APITEL IV. 222 Revolution zeigen und mit dem Sturz des Zaren enden. Der eigentliche Bürgerkrieg wird als aktuelles Kampfmotiv nicht explizit thematisiert: 1. „Der 9. Januar“, 2. „Festnahme eines Untergrundkämpfers“, 3. „Das Arsenal“, 4. „Das Wolhynische Regiment. Verbrüderung“, 5. „Die Barrikaden“, 6. „Aufstand an der [Nord-]Front“, 7. „Die Abdankung Nikolajs“ 674 . Die Szene der Festnahme enthält „/ .../ ein ‘soldatisches Zwischenspiel’ mit volkstümlichen komischen Einlagen, Chorgesang, Ziehharmonika und Tänzen.“ 675 Die erst beiläufigen musikalischen Einlagen wurden systematisch erweitert (Lieder, Wechselgesang, Chorale) und rhythmisierten schließlich die gesamte Aufführung. Eine ähnliche Entwicklung hatten die Massenszenen: zunächst sind nur das Januar-Massaker sowie der Front-Aufstand als solche geplant, doch zuletzt bilden sie mit den Musikeinlagen das dramaturgische Grundprinzip 676 , und finden beim Publikum und in der Presse den meisten Anklang: „Einen besonderen Realismus verströmen die gut arrangierten Gruppenszenen (die Prozession zum Winterpalais usw.). [kursiv MD]“ 677 Beim Eintreten trifft der Zuschauer die im Raum verteilten Akteure auf ihrem „Kampfposten“ 678 : „Die Rot-Armisten der Werkstatt waren vorab wie folgt verteilt: 1) die Gruppe, welche die zaristischen Gardisten spielte, bewachte das ‘Podest der Reaktion’; 2) die zweite - eine Gruppe von Arbeitern - drängte sich am ‘Podest der Revolution’ zusammen; 3) die dritte - ebenfalls in Arbeiter-Kleidung - stand entlang der Wände und an der Tür; 4) die vierte - sechs ältere Facharbeiter - saßen im Publikum. Der Zuschauersaal befand sich in der Umzingelung unserer Rot-Armisten.“ 679 Arbeiter und Rot-Armisten tragen ihre übliche Kleidung, die Gardisten- Uniformen wirken ebenfalls noch alltagsvertraut: „Man brachte einen Haufen Uniformen — sogar welche von der Gendarmerie und der Polizei. Offenbar hatten die Polizisten während der Februar-Revolution aus den Dachluken der Akademie ins Volk geschossen. Dann haben sie sich in Zivil umgezogen und sind verschwunden, wobei sie ihre Uniformen auf dem Dachboden zurückließen.“ 680 Anfangs, am „Blutsonntag“ (1.Bild) trägt der „Zar“ einen „weinroten Umhang mit Hermelin“, sowie eine goldene Krone aus Karton 681 , 674 Ders.Ebd.36f. - Eine Rezension vermerkt eine andere Reihenfolge von 8 Bildern „mit Apotheose“: „1) 9. Januar 1905; 2) Die Familie eines Moskauer Studenten; 3) Meuterei im Militärgefängnis; 4) Das Arsenal; 5) Auf der Polizeistation; 6) Auf den Barrikaden; 7) An der Front; 8) Im Hauptquartier.“ („Eine Truppe Improvisatoren.1919.3.“) 675 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.38. 676 Ders.Ebd.42.+70. 677 „Eine Truppe Improvisatoren.1919.3.“ 678 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.58. 679 Ders.Ebd.61. 680 Ders.Ebd.57. 681 Ders.Ebd.63. <?page no="227"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 223 zuletzt, bei seiner Abdankung (7.Bild) ein einfaches Militärhemd mit Schulterstücken. Einer der beiden „Duma-Abgeordneten“, die das Abdankungs- Schreiben des Zaren entgegennehmen, erscheint großbürgerlich im Zylinder und Gehrock sowie mit weißen Handschuhen 682 . Geschminkt sind nur der „Zar“ und seine „Generäle“ 683 . Sein Portrait, das wahrscheinlich in der Podiumsnische stand, Kirchenfahnen, Kruzifixe und Ikonen, sowie Bajonette, Gewehre, Maschinengeschütze und rote Fahnen sind - ob schon historische Fundstücke oder noch Alltagsobjekte - als Requisiten im Einsatz. Geschossen wird mit Leerpatronen, die auf kurze Distanz kampffähig sind, wie reale Schüsse klingen und mit dem Pulvergeruch der Gewehre eine echte „Kampfstimmung“ 684 verbreiten. Die Aufführung beginnt mit einem „Gefechtsalarm“ aus Trommeln und Ziehharmoniken, der die folgende Handlung als „Kampf“ ausweist. Nach diesem „Appell“ betritt N.G. Vinográdov-Mámont die Bühne, mit einem Bajonett, einem Geschoss-Splitter und mit einem Vorwort 685 : „‹Wir sind Rot-Armisten und Frontkämpfer. Zwischen den Kämpfen hatten wir ein paar freie Tage. Wir haben beschlossen, eine Aufführung zu einem politischen Thema zu spielen. Wer sind die Schauspieler? Wir. Ob wir ein fertiges Stück haben? Nein. Wir haben selber eins verfasst. Wo ist der Theaterraum? Da, wo die Kämpfer zusammengekommen sind, sich hingesetzt und gesungen haben — da ist das Theater. Die Ausstattung? Sieben Tannen, die wir gefällt und auf ein Kreuzstück gestellt haben — das ist der Wald! Und statt einer Theaterklingel lasse ich diese Hülse eines riesigen Artillerie- Geschosses ertönen. Ich schlage sie mit dem Bajonett. Erste Klingel. Zweite. Dritte! Die Rot-Armisten-Handlung ‘Der Sturz der Selbstherrschaft’ beginnt! ›“ 686 Diese kleine Ansprache / Einführung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, denn sie bestimmt in wenigen Worten und über den Schluss der Aufführung hinaus das Geschehen zwischen Bühne und Saal und das Verhältnis zwischen Akteuren und Anwesenden: Die Arbeiter und Rot-Armisten sind im Tageslicht zunächst nicht von den übrigen Zuschauern zu unterscheiden. Erst der Rahmen - die akustische und 682 Ders.Ebd.71. 683 Ders.Ebd.58. - N.A. Gorčakov zufolge gilt dies für alle negativen Figuren: „Alle Darsteller der ‘Feinde’ wurden in einem grob karikatureske, buffohaften Stil gezeigt.“ (Gorčakov.1956.78.) 684 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.55. 685 Während der Revolution wurde den Einführungs- oder Vorworten bei Aufführungen jeder Art ein sehr hohe aufklärerische und politische Bedeutung beigemessen — was keine „propagandistische Erfindung“ der neuen Regierung war (vgl. Kap.III.4.: „Diskussionsraum“, FN586), sondern der Tradition einer seit jeher oralen Kultur entsprach (Einleitung 3., FN74 und 4., FN117 - Kap.I.2., FN278). 686 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.61. <?page no="228"?> K APITEL IV. 224 die verbale Ankündigung - macht deutlich, dass einige von ihnen gleich als Akteure einer Spielhandlung zu sehen sein werden. Da Vinográdov-Mámont nach dem Gefechtsalarm die Bühne betritt 687 , befindet auch er sich „im Kampf“. Indem er nicht rückblickend als ‘Veteran’, sondern explizit in seiner aktuellen Eigenschaft als Werkstatts- und Spielleiter und als Truppenführer spricht - gleichsam vor dem nächsten ‘Einsatz’ -, wird die angekündigte, abgeschlossene Spielhandlung als andauernde Kampfsituation deutlich: es geht in dieser Aufführung mitunter darum, die Verhältnisse des Moments auf ihre noch wirksamen Anfänge hin zu beleuchten. Vinográdovs Vorwort richtet sich an zwei Adressaten: Da man durch die räumliche Verteilung von Arbeitern und Rot-Armisten nicht erkennen kann, wer von ihnen zum Publikum gehört, zielt seine Ansprache erstens auf alle Anwesenden („Wir sind Rot-Armisten und Frontkämpfer. Zwischen den Kämpfen hatten wir ein paar freie Tage.“). Die Differenz zwischen Akteuren und Zuschauern wird mit diesen Worten weitgehend nivelliert: denn auch die Besucher sind größtenteils Rot-Armisten und / oder Frontkämpfer, die in diesem Moment über freie Zeit verfügen. Da Vinográdov als Truppenführer spricht, macht er zweitens „seine Mannschaft“ als militärische und als theatrale Truppe kenntlich („Wer sind die Schauspieler? Wir.“) — wobei sich beide Funktionen nicht nur begrifflich überlagern (auch im Russischen), sondern primär handlungsbezogen ineins fallen: als „Truppe“ haben die Männer eine definierte Mission bzw. erfüllen eine wichtige Aufgabe („Wir haben beschlossen, eine Aufführung zu einem politischen Thema zu spielen.“). Der Unterschied zwischen außerästhetischer und ästhetischer Handlung wird hier also als minimal bzw. irrelevant bestimmt: denn selbst das theaterferne Publikum wird - aus eigener Kenntnis - genau sehen können, ob bzw. dass die Worte und Objekte, die Bewegungen und Beziehungen sich zwischen Front und Bühne nur wenig unterscheiden („Da, wo die Kämpfer zusammengekommen sind, sich hingesetzt und gesungen haben: da ist das Theater.“). Aus diesem zweifachen Beziehungsgefüge („wir als Rot-Armisten / Frontkämpfer“ - „wir als militärische / theatrale Truppe“) entsteht nun ein drittes „Wir“: da sowohl die Zuschauer als auch die Akteure einen nahezu gleichen Status innehaben, ist hier selbst der theaterferne Soldat Teil der militärischtheatralen Truppe („Wir.“), denn er steht wie die anderen grundsätzlich für Sondereinsätze („Die Akteure“: Kap.III.2., FN533) und speziell in dieser Situation bereit. Das dritte „Wir“, das der Truppenführer Vinográdov impliziert, sind also ‘wir Kämpfer vor dem hiermit angekündigten (Sonder)Einsatz’, der aus der (erfolgten) „Absetzung des Zaren“ resultiert, und in eine (andauernde) ‘Ausweitung der Kampfzone’ mündet. Der somit vorausgesetzte Bereitschaftsdienst bedeutet umgekehrt, dass alles, was von diesem dritten „Wir“ eingebracht wird, für das nun folgende Geschehen nicht nur wichtig, sondern konstitutiv oder gar unentbehrlich ist: denn eine Truppe benötigt 687 Ders.Ebd. <?page no="229"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 225 jeden Mann. Situativ und funktional sind also alle Anwesenden miteinander verbunden, indem sie im engeren oder weiteren Sinne einen Beitrag zu einer außer/ ästhetischen Handlung, zu einem historischen und künstlerischen Prozess (und Ereignis) geleistet haben (werden): aus wessen Perspektive und auf welcher Ebene man es auch betrachtet — im Schlußsatz und im Endeffekt erweist sich der Sturz der Selbsttherrschaft ebenso wie D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT als Rot-Armisten-Handlung. Inwieweit dieses dritte „Wir“ nicht nur im Rahmen aufgerufen, sondern auch durch die Aufführung aktiviert wird, zeichnet sich in seiner Vorgeschichte als zweites „Wir“ ab, aus dem die besagte Truppe und die vorliegende Inszenierung hervorgehen. Als Schüler der ersten „öffentlichen“ (d.h. öffentlich zugänglichen), später auch „staatlichen“ Wanderbühne (Gosudárstvennyj obščedostúpnyj peredvižnój teátr, 1905-1928) von N.F Skárskaja und P.P. Gajdebúrov, hatte Vinográdov-Mámont deren vom Symbolismus geprägtes Motto („Theater ist ein Mittel zur Verwandlung des Lebens durch inspirierte Kunst“ 688 ) zu einem 7-Punkte-Programm erweitert, das bei der Gründung der „Theaterwerkstatt“ als offizieller „Schlachtplan“ 689 bestätigt wurde: „I. Das Theater ist ein Gotteshaus [chram]. II. Weltumfassende Gültigkeit / Universalität [vsemírnost’]. III. Monumentalität. IV. Kreativität der Massen. V. Orchester der Künste. VI. Die Freude der Arbeit. VII. Verwandlung der Welt.“ 690 Nachdem Vinográdov die Petrograder Einheiten per Moped abgefahren und seine Mannschaft rekrutiert hatte 691 , begann die Umsetzung des Weltenwandels durch Änderungen im eigenen Milieu: mit der Abschaffung von „Mutterflüchen, Selbstgebranntem und Zotenreißerei“, und mit der Einführung des Gebots vom Theater als einer „heiligen Sache“, die eben deshalb eine soldatische Disziplin erfordere. 692 Zum Zeitpunkt der Aufführung besteht die „Werkstatt“ aus 130 Rot- Armisten, von denen nur wenige „junge professionelle Schauspieler“ 693 und die übrigen Laien sind. Ein beträchtlicher Teil sind revolutionäre, ein geringer Teil zaristische Veteranen (früher beteiligt an militärischen Aktionen gegen die Arbeiterschaft), ein Drittel der Mannschaft hat den „Blutsonntag“ von 1905 erlebt 694 (Kap.I.1.2., FN241). Nachdem die Abkommandierung der Truppe, eine Unterkunft mit Minimalausstattung 695 , sowie eine weiträumige 688 Lanina, T.V.: „O Nikolae Gleboviče Vinogradove-Mamonte i ego knigi ‘Krasnoarmejskoe čudo’“ [„Über Nikolaj Glebovič Vinogradov-Mamont und sein Buch ‘Das Wunder der Rot-Armisten’“]. (Vorwort). In: Vinogradov-Mamont.[1966]1972.5. 689 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.15. 690 Ders.Ebd.13f. 691 Ders.Ebd.17. 692 Ders.Ebd.33. 693 „Eine Truppe Improvisatoren.1919.3.“ 694 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.36f. 695 Ders.Ebd.21. <?page no="230"?> K APITEL IV. 226 Mansarde als Probenraum organisiert waren ( ❐ 2+3) 696 , begann die gemeinsame Arbeit an Einzeldisziplinen (Pantomime, Chorsingen 697 ). Gleichzeitig entstand das Szenarium aus 7 Bildern, dessen Material von Vinográdov-Mámont - in zweijähriger Arbeit aus Erinnerungen und Gesprächen zusammengestellt - mit eigenen Erfahrungen verbunden und in Zusammenarbeit mit den Soldaten und Matrosen durch den Proletkult-Schriftsteller A.P. Krájskij zu Schlüsselepisoden fixiert wurde 698 . Eine typische, strukturprägende Bedingung der Masseninszenierungen sind - dem allgemeinen Konsens nach - diese aufgezeichneten Erlebnisse der Rot-Armisten, die bei der gesamten Vorbereitung der Inszenierung im Zentrum stehen: „Ruft euch das Gesamtbild in Erinnerung, aber auch den Kleinkram. Fabuliert nichts, erfindet nichts, sondern erinnert euch wahrheitsgetreu, wie es sich im Leben zugetragen hat.“ 699 Dementsprechend wurde bei der Ausarbeitung der Szenen improvisiert, wobei sich die Teilnehmer (4 verschiedene Gruppen mit einem je anderen Regisseur 700 ) in jenen Episoden einbrachten, die ihren Erfahrungen am nächsten kamen. Diese Erlebnisse sollten schließlich in einem grandiosen „Volksschauspiel“ (naródnoe déjstvo) aufgeführt werden 701 , worin das zentrale Anliegen der gesamten Truppe zum Ausdruck kam: „Wir zeigen nur das, was wir selbst erlitten haben zusammen mit den Volksmassen, wofür wir selbst unser Blut vergossen haben. [Herv. MD]“ 702 Ein weiteres, grundlegenes Moment im schriftlichen Entwicklungs- und körperlichen Probenprozess und eine wesentliche Voraussetzung für die Improvisation der Inszenierung ist der Analphabetismus der Truppe, der eine große körperliche Präsenz zur Folge hatte: Beim Ausformulieren einzelner Erinnerungen wirken die „Bauern in Uniform“ blockiert und kommen über ein ratloses Brüten oder Stocken kaum hinaus. Der gleiche Effekt stellt sich beim Sprechen einzelner Parts ein. Erst eine unwillkürliche Bewegung, ein unverhofftes Aufspringen bewirken einen artikulierten Gedanken- und Redefluss, der sich in Gesten und Gängen zwischen den Akteuren und durch den Raum entwickelt, und sich beim gegenseitigen Vorzeigen bestimmter Situationen zu Handlungsabläufen aufbaut. Entsprechend wirken die Kämpfer bei 696 Es handelt sich um das auf Abbildungen des Nevskij-Prospekts oft gezeigte „Singer“- Haus mit dem Globus auf dem Dach, das heute das „Haus des Buches“ („Dom knigi“) beherbergt. (Ders.Ebd.31.) 697 Ders.Ebd.33f. - Nach der Premiere wurden verschiedene Kurse unter prominenter Leitung eingeführt: Theatergeschichte (V.N. Vsevolodskij-Gerngross), Regie (V.Ė. Mejerchol’d), Literatur (V.B. Šklovskij). 698 Ders.Ebd.37. - Bei den Vorbereitungen mit der Kulturabteilung entstand die Idee einer Episode mit dem „Sturm auf das Winterpalais“. (Ders.Ebd.15.) 699 Ders.Ebd.38. 700 Ders.Ebd. 701 Gor’kij und Mejerchol’d nach Vinogradov-Mamont.[1966]1972.73. 702 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.36. <?page no="231"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 227 den Proben besonders motiviert und „wahrhaftig und ausdrucksstark“ 703 in Gruppen- oder Massenszenen, umso mehr auch dann, wenn sich „alltägliche“ militärische Situationen und Praktiken - im „Schützengraben“, beim „Geländemarsch mit Bajonett“, beim Einsatz von Musik und Gesang - zu einem feld--erprobten, inkorporierten Bewegungsablauf, zu einer „Partitur der Aufführung“ 704 verdichten. Diese Bewegungsfreiheit war jedoch in der kurzfristig als Spielort festgelegten Nischenbühne des Volkshauses nicht gegeben. Die Ausdrucksstärke schien am Tag der Generalprobe in der Enge und Unbeweglichkeit zu versiegen, die Aufführung drohte zu ‘implodieren’. Erst als mittags das gegenüberliegende Podest eingerichtet und der Mittelgang angelegt wurden, entfaltete sich der eigentlich Spielraum: „Die Kämpfer erhoben sich. Gingen zur Attacke. Nach dreijähriger Frontgewohnheit liefen sie, stolperten, fielen hin und standen wieder auf — so als ob sie nicht über einen Parkettboden, sondern über die durchpflügte, von Geschossen aufgewühlte Erde laufen würden. Da war er — der gewünschte und richtige Weg zu einer Wahrheit der Gefühle. Zur Kunst / schöpferischen Kraft [tvórčestvo]. Ich betrachte die Kämpfer und erkenne sie nicht wieder. Die Phantasie tobt. In den Herzen ist Feuer. Im Fierberwahn spielten wir die ganze ‘Handlung’ durch, vom ‘9. Januar’ bis zum Finale / .../ — und die Aufführung war geboren.“ 705 In den wiederholt unkalkulierbaren Zwischenfällen und Zuschauerreaktionen kommt schließlich der spezifische Ereignis-Charakter dieser Manöveraufführung zum Ausdruck, bei der das obengenannte, dritte „Wir“, d.h. die hier vereinten und agierenden Teilnehmer verschiedentlich und buchstäblich übers Ziel schossen: Bei der öffentlichen Generalprobe wurden den beiden hitzigsten Akteuren zwei ‘scharfe’ Patronengürtel abgenommen; trotz Leergeschossen erleidet der Rot-Armist Málikov beträchtliche Verletzungen an den Augen, spielt aber bei der Premiere mit Verband weiter (IV.5.1., FN781) 706 . Immer wieder reagiert das Publikum mit heftigstem Applaus, Gejohle und „Hurra“-Rufen. In einer Szene, in der Rot-Armisten ihre gefallenen Kameraden wegtragen, stehen die Zuschauer spontan und geschlossen auf und singen im Chor mit den Akteuren den damals weitbekannten Trauermarsch Ihr seid als Opfer gefallen 703 Ders.Ebd.39.+41f. 704 Ders.Ebd.43. 705 Ders.Ebd.55. - In der Folge fand eine Aufführung des S TURZES im „Eisernen Saal“ des Volkshauses im Aleksandrovskij-Park statt (IV.2.2., FN720), wo der Mittelgang ca. 4,30 x 74,50 m maß. (Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.57.) Dieser Saal befand sich im offenen Westflügel, hatte eine unverdeckte Mechanik und wirkte wie ein großes Foyer (Alekseev-Jakovlev/ Kuznecov.1948.154.): siehe Kap.V.5.1., FN948/ 953 und ebd. ❐ 20. 706 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.58f. <?page no="232"?> K APITEL IV. 228 (Vy žértvoju páli - heute ein Revolutionslied-Klassiker). „Einige junge Männer und Mädchen mischten sich unter die Kämpfer und folgten den gefallenen Helden.“ 707 Nach der Vorstellung werden die benommenen Akteure von Hunderten Zuschauern in einem allseitigen, unbändigen Verbrüderungs- Rausch umringt, man lässt sie hochleben mit Tränen der Rührung und wilden Gesten der Begeisterung, mit Umarmungen und Hochrufen. Bei der Premiere entsteht in der Szene des „Blutsonntags“ während der Attacke von Weiß-Gardisten auf Demonstranten vor dem Winterpalais ein lautstarker, tumultartiger Moment der Bedrohung aus dem Publikum: „Die werktätige Jugend unter den Zuschauern war drauf und dran die zaristische Garde anzugreifen.“ 708 In der Szene, wo sich das Wolhýnische Regiment erstmals mit den Aufständischen verbrüdert - historisch der Wendepunkt zum eigentlichen Umsturz und beliebtes Motiv in der Kunst und im Theater (Kap.III., ❐ 8+9 und ❐ 15) - bricht der Saal in frenetischen Applaus, bei der Bezwingung der Kommandeure in begeistertes Gelächter und in der folgenden Arsenal-Szene im Chor mit den Akteuren in „Hurra“- Rufe aus, während die Polizisten-Darsteller infolge der aufgeheizten Stimmung Vinográdov zufolge in echter Panik fliehen 709 . Beim Heraustragen der Toten wird abermals das Lied der gefallenen Opfer angestimmt und löst die gleichen Reaktionen aus wie zuvor: „Majestätische Trauer-Akkorde. Der Zug umrundet dreimal langsam den Saal. Die Frauen weinen. Die werktätige Jugend schließt sich den Soldaten-Reihen an. Vsevolod Mejerchol’d hob das Gewehr eines gefallenen Helden auf, warf es über die Schulter und marschierte in einer Formation mit den Rot-Armisten los.“ 710 In einer anderen Szene wendet sich ein Soldat plötzlich an den prominenten Tenor F.I. Šaljápin mit der Bitte, den eben evozierten Traum der Soldaten von einer besseren Zukunft mit einem Lied zu bekräftigen — woraufhin dieser tatsächlich aufsteht, und das Knüppelchen schmettert. 711 In der Schlußszene bildet sich abermals ein Ring um die Zuschauer; nach der formalen „Abdankung des Zaren“ 712 wird der Saal „gestürmt“: 707 Ders.Ebd.59. 708 Ders.Ebd.63. 709 Ders.Ebd.67. 710 Ders.Ebd.68. 711 Ders.Ebd.70. - Das Knüppelchen (Dubinuška) ist ein altbekanntes Volkslied aus dem 19.Jh. mit mehreren Versionen. Im ursprünglichen Plot wandert der Knüppel von Generation zu Generation als Vielzweckgerät der Landarbeiter, und verwandelt sich schließlich in eine Waffe gegen die jeweiligen Unterdrücker und Ausbeuter (die sozialen „Masken“ der Massenschauspiele und Manöverinszenierungen: Zaren, Offiziere, Popen, Gutsherren und Herrschaften / „Bourgeois“). 712 Bezeichnend für die Schnellebigkeit der Revolutionszeit ist, dass in dieser Szene die Marseillaise ertönte (Ders.Ebd.71.), aber nirgends ein Mitsingen der Zuschauer überliefert ist. Das zuvor parteienübergreifende, allgegenwärtige französische Revolutionslied wurde zum sicheren Erkennungszeichen der „bourgeoisen“ Provisorischen Regierung, in dem Maße, wie die Bolschewiki ihre Macht und die von ihnen favorisierte <?page no="233"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 229 „Die Türen der Kulissen flogen auf. Von beiden Seiten stürmten die Reihen an den Rändern herein. Eine mit Bajonetten gespickte Formation — von oben, von links, von rechts, von hinten, von unten. / .../ Majestätisches Aufrichten der Bajonette und der roten Fahnen. Marsch in den Zuschauerraum.“ 713 Wie der Auftakt der Aufführung - jedoch völlig anders und unerwartet - war auch das Finale der Premiere ein doppeltes, und ging von einem öffentlichen Taumel in eine offizielle Auszeichnung über. Bevor die Vorstellung so recht beendet werden konnte, wurde die „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ zu einer eigenen Militäreinheit befördert: „Und das Finale? Ein Finale gab es nicht. Die Kämpfer stiegen mit roten Fahnen vom Podest hinunter in den Saal. In einem Schwall von Begeisterung kamen ihnen die Massen von Arbeitern und Rot-Armisten entgegen. Man empfing keine Akteure, die ihre Rollen erfolgreich gemeistert hatten, sondern Gleichgesinnte eines gleichen heiligen Kampfes für die große Sache der Revolution. Wir und die Zuschauer vereinten uns in brüderlicher Umarmung. [kursiv MD]“ 714 „‹Die Führung und die Politverwaltung des Militärbezirks gratuliert der Theaterwerkstatt zum außerordentlichen Sieg an der proletarischen Kunstfront. Zum Dank für die Revolutions-Aufführung ‘Der Sturz der Selbstherrschaft’ ordne ich an: Punkt eins — den gesamten personellen Bestand der Werkstatt als Frontbesatzung zu betrachten und in die Kategorie ‘Kampfration’ aufzunehmen. / .../ Punkt zwei — dem gesamten personellen Bestand anstelle von Schuhen mit Wickelgamaschen Armeestiefel mit Schaft auszuteilen.›“ 715 Internationale durchsetzten. In der Übergangszeit sorgten die Theateru. Opern-Orchester mit diesen Hymnen für leidenschaftliche Gefechte um die musikalisch-politische ‘Lufthoheit’, was im Saal zuverlässig zu heftigen Eklats und Tumulten führte. (Svift [Swift] in Černjaev/ Galili/ Chajmson.1994.397. - Figes/ Kolonitskii.1999. 31f.+40f.) 713 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.72. 714 Ders.Ebd.73. - Mazaev.1978.314. 715 B.P. Pozern, Vertreter des Petrograder Militärbezirks (PUR), am Ende der Aufführung. (Vinogradov-Mamont.[1966]1972.73.) Zur Rationierung von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern siehe Kap.III.2., FN509. - Da es noch bis Ende des Bürgerkriegs eine ČKval (auch: Čekval - Sonderkommission zur Herstellung / Verteilung von Filzstiefeln) (NN: „Postanovlenie SNK o snabženii rabočich brezentom, valenkami, trikotažnymi izdelijami, gotovymi mechami i obuv’ju“ [„Beschluss des SNK zur Versorgung der Arbeiter mit Zelt- / Segeltuch, Filzstiefeln, Stricksachen, fertigen [konfektionierten] Pelzen und Schuhwerk“] vom 03.01.1920. In: Dekrete.Bd.VII.1975.451.) sowie eine ČKLap (Sonderkommission zur Herstellung / Verteilung von Bastschuhen) gab, leuchtet unmittelbar ein, dass Schaftstiefel (wie jedes andere gute Schuhwerk oder Wolldecken etc.) im Krieg primär ein Überlebensmittel, und nur sekundär eine Trophäe / ein Statussymbol waren. (NN: „Postanovlenie SNK o planovych komissijach“ [„Beschluss des SNK zu den Planungs-Kommissionen“] vom 17.03.1921. In: Dekrete.Bd.XIII.1989.214.) <?page no="234"?> K APITEL IV. 230 Der Moment aufgewühlter Rührung und unbändiger Begeisterung gleicht der tumultartigen Gelöstheit und Dankbarkeit am Ende der Osterliturgie (Kap.1.1.2.): in beiden Fällen vereint die cultural performance „Gleichgesinnte“, deren Stimmung und Status über den Moment und die Veranstaltung hinaus von keinen Differenzen oder Alltagslasten getrübt wird. Das dritte „Wir“ hat sich am Ende dieses geglückten „Sondereinsatzes“ nicht bloß als äußerst aktiv, sondern als überaus stabil erwiesen: denn die Akteure haben ihre Rolle nicht vollständig verlassen, und auch das Publikum kehrt lange nicht zu seinem üblichen Verhalten zurück („keine Akteure, sondern Gleichgesinnte“). So ist es ein absolut singuläres Ereignis der (russischen) Theatergeschichte, dass der Rahmen tatsächlich nicht geschlossen werden konnte („Ein Finale gab es nicht.“) und kein ‘geordneter Rückzug’ zustandekam, weil die Truppe vom Freund umzingelt und überwältigt wurde. IV.2.2. Handlungsverlauf des S TURZES unter freiem Himmel Als besondere Qualität wurde in der Presse einhellig das kollektive und improvisatorische Moment der Vorbereitung und Ausführung sowie die Übertragbarkeit der Aufführung an andere Spielorte hervorgehoben: „Im Umfeld des Kriegskommissariats [VoenKóm] hat sich eine originelle Truppe von Schauspieler-Improvisatoren organisiert. Mit dem Vorhaben, an der Front unter feldmäßigen Bedingungen aufzutreten, die oft keine Aufbaumöglichkeiten eines auch nur provisorischen Theaters zulassen, spielt die Truppe ohne jegliche szenische Einrichtung, indem sie sich in die Zuschauerlinie einreiht. Der Spielplan ist aus eigener Hand. Ein Szenarium wird nur in den allgemeinen Zügen kollektiv erdacht und erarbeitet; der Rest sind Details, die sich in der Aufführung entwickeln und sich aus ihrem Fortgang ergeben.“ 716 Weiterhin heißt es dazu: „Die Idee der Theaterwerkstatt der Roten Armee, Gruppen revolutionärer Schauspieler und Regisseure zu bilden, die zugleich auch die Autoren der von ihnen selbst gespielten Stücke sind, bewährt sich glänzend 717 . Die von der Werkstatt geschaffenen Stücke werden so inszeniert, dass sie in jeder beliebigen Einrichtung in jedem großen Raum aufgeführt Im zaristischen Russland reichte das Geld eines einfachen Bauern oft nichtmal mehr für Fußlappen, aber immer für das wesentliche Accessoire seiner Ehrerbietung: die Mütze, die er obligatorisch abziehen musste, um bei einer Begegnung entblößten Hauptes dazustehen vor den Vertretern von Staat oder Kirche. Einfach unfassbar. 716 „Eine Truppe Improvisatoren.1919.3.“ 717 Mit den „Gruppen revolutionärer Schauspieler und Regisseure“ sind diese in ihrer Eigenschaft als mobile Instruktoren bzw. Spielleiter für den Einsatz an verschiedenen Orten gemeint. Diese Idee geht auf Keržencev zurück. (Keržencev.[1920]1980. 101.+108.) Im Februar 1919 gründete die Theatersektion des VoenKom hierfür eigens ein Studio in den Räumen des Proletkult, wobei Arbeit und Ziele des Studios Vinogradovs „Theaterwerkstatt“ entsprachen. (NN: „Chronika - Otkrytie krasnoarmejskoj dramaturgičeskoj studii“ [„Chronik - Eröffnung eines Studios für Dramatik der Roten Armee“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°78 vom 14.02.1919. S.3.) <?page no="235"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 231 werden können.“ 718 So fand auch eine Aufführung im Eisernen Saal des Volkshauses im Aleksándrovskij-Park statt (Kap.V.5.1., FN948/ 953 - ❐ 20 ebd.), wo bald darauf die III. I NTERNATIONALE als nächstes Projekt der Theaterwerkstatt geprobt und gezeigt wurde 719 . In der Folge des S TURZES wurden Straßen und Plätze, Höfe und Gebäudeflügel, Freitreppen und Scheunen oder gar die Vorhalle einer Kirche bespielt 720 . Unter dem Titel D ER S TURZ DES Z ARISMUS fand jeweils eine Aufführung statt am 01. Mai 1919 in einem „Arbeitshaus“ 721 vor zweitausendfünfhundert Arbeitern und Rot-Armisten des Bezirks, sowie im offenen Gelände der Krasnosél’sker Lager. 722 Der Erfolg dieses Konzepts führt in den ersten Monaten zu einer Anforderung der Aufführung von allen Petrograder Einheiten 723 : „Das Stück wurde täglich gespielt. Es etablierte sich eine Tradition: eine Militäreinheit geht an die Front, vor der Abfahrt finden am Bahnhof eine Kundgebung und ‘Der Sturz der Selbstherrschaft’ statt. / .../ Zur Aufführung traten wir in Marschformation an, mit Gewehren und Liedern.“ 724 Infolgedessen erfordert die Diversifizierung der Auftrittsorte eine stetige Arbeitsteilung und Anpassung von Text (tagespolitische Anspielungen, musikalische Einlagen) und Ausstattung (Größe der Podeste, Art der Requisiten) an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten. Aufgrund der strategischen und wirtschaftlichen Blockade durch die Konterrevolution und Intervention (Frühjahr 1918 bis Frühjahr 1920) werden alle Produktionszweige auf Kriegsbedarf umgestellt und landesweite Zwangsrequirierungen und Umverteilungen (razvërstki) vor allem für die Armee durchgeführt (ab Mai 1918), die sich auf die Bevölkerung äußerst belastend und destabilisierend auswirken („Kriegskommunismus“). Während der Offensive der Judénič-Truppen gegen Petrograd (Oktober / November 1919) wird unter der Parteilosung „Alles für die Front“ ein Maximum an Ressour- 718 NN: „Teatr - Sverženie carizma“ [„Theater - Der Sturz des Zarismus“]. In: Krasnaja gazeta [Rote Zeitung]. N°96 vom 03.05.1919. S.4. 719 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.57. - Siehe auch FN705. 720 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.80. 721 „Arbeitshäuser“ waren barackenartige, an Manufakturen angeschlossene und oft von sozialen Organisationen eingerichtete und unterhaltene Fertigungsräume / Werkhallen, in denen Tagelöhner Gebrauchsgüter aller Art herstellten ( ❐ 4). 722 „Also — stellen Sie sich die riesige Weite eines schon leicht braungewordenen Feldes vor, das sich kaum merklich in Terrassen nach unten erstreckt, eine Art natürliches Amphitheater. Weiter unten liegt eine breite Niederung ‘mit großem Fassungsvermögen’. Dort befindet sich eine kleine, aber hohe Bretterbühne. Dahinter sind Plätze für ein Orchester. Ganz unten — das regungslose Band eines stillen Sees.“ (Puščin, Ja. [anlässlich einer anderen Manöveraufführung]: „Opyt teatralizacii voennogo manevra“ [„Experiment eines theatralisierten Militärmanövers“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°540 vom 26.08.1920. Ohne Seitenangabe.) 723 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.76. 724 Ders.Ebd.80. <?page no="236"?> K APITEL IV. 232 cen mobilisiert 725 . Die Theaterarbeit findet nicht mehr nur gastspielweise an der Front statt, sondern wächst sich in zweierlei Hinsicht zu einem umfassenden Militärdienst aus. Erstens untersteht der materielle und personelle Bestand der Theaterwerkstatt einer militärischen Priorität, und wird wiederholt für die Front abkommandiert. Zweitens führt der Status als eigenständige Militäreinheit dazu, dass innerhalb dieses ‘Schutzraumes’ nicht nur regulär Sonderrationen und andere Vergünstigungen als ‘Hilfe zur Selbsthilfe’ erteilt, sondern regelmäßig auch als ‘Hilfe zur Weiterhilfe’ eingezogen wurden: „Der Petrograder Militärbezirk ‘leierte’ in voller Fahrt eingespielte Einheiten sowie die zusammengesuchte und instandgesetzte Technik aus uns heraus und schickte alles an die Front. / .../ Die Theaterwerkstatt trat mehrere Male am Tag vor den Marschkompanien auf — morgens, tagsüber, nachts.“ 726 Infolgedessen wurden innerhalb eines halben Jahres 250 Vor- 725 Stöckl.1983.678f. - Tamašin.1961.10. - Die Blockade Russlands ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen Konterrevolution („weiße“ Generäle und Kosaken-Atamane) und Intervention („Entente“, Mittelmächte und alliierte Verbände). Der Angriff Petrograds von Estland her durch den weißen General Judenič im Oktober/ November 1919 bildet mit den zeitversetzten Fronten der Generäle Kolčak (Nordosten), Denikin (Südosten) und Vrangel’ (Süden), der polnischen Westoffensive und der japanisch-amerikanischen Belagerung Ostsibiriens (dazwischen die tschechischfranzösische Einnahme der transsibirischen Eisenbahn: d.h. die Kappung der wichtigsten ‘Versorgungsleitung’), sowie der militärischen Präsenz und materiellen Hilfe deutscher Freikorps und britischer Einheiten an den Rändern eine Umzingelung, die zwar keinem Stellungskrieg mit Massenmobilisierung entsprach (Stöckl.1983.670f.), aber durch die Ubiquität, die Dauer und Unberechenbarkeit schlimmste Verheerungen und ein „traumatisches Erlebnis“ zur Folge hatte, dessen Verhinderung und Prävention fortan „Grundbestandteil sowjetischer Außenpolitik“ wurde. (Haumann in Bütow. 1988.25.) Die gegnerischen Bündnisse und ihre Anführer bilden folglich die zentralen, negativen Leitmotive und Leidfiguren in den Masseninszenierungen. 726 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.115f. - Der schnelle Wechsel vom Kampfzum Theater-Akteur, vom Kriegsgerät zum Requisit (et vice versa) ist paradigmatisch für den herrschenden Ausnahmezustand im Bürgerkrieg (Einleitung 3., FN48/ 49 - Vgl. „Exkurs“ zu den Barrikaden in Kap.I.1.4.). Mit dem Beschluss vom 07.04.1919 und der anschließenden Erfassung aller Theater- und Bühnenarbeiter (siehe IV.1., FN665) ließen sich nicht bloß mobile Theater- Einsätze effizienter planen. Zum einen konnte am prominenten Beispiel der beförderten „Theaterwerkstatt“ der Korpsbzw. Chor-Geist, d.h. die Truppen-Moral auf eine denkbar einfache und reibungslose Art gestärkt und medial multipliziert werden. Zum anderen - und vor allem - verstanden es die findigen und eifrigen Armisten, für ihre eigene, theatral motivierte Arbeit Material oder Leistungen in einem nennenswerten Maßstab zu organisieren. Die materiellen und technischen Ergebnisse ihrer primär theatralen Improvisation waren somit weniger Requisiten, als vielmehr Produkte mit einem hohen Tauschwert, die dann mit einer sekundären, militärischen Bestimmung weiterverwendet wurden. Hier verlief die Konfliktlinie zwischen einer freiwilligen und einer abgenötigten / erzwungenen Leistung. Zwischen Ausbeute und Ausbeutung von Theater (nicht nur im militärischen Bereich) bestand ein schmaler Grat, der gleichwohl seine Institution und seinen Ort hatte: die (ursprünglich zivile? ) Kommission oder Verwaltung namens „Centroutil’“, die - wie ein heutiger Hof für Wertstoffe und Re- <?page no="237"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 233 stellungen gegeben 727 . Dies führte schließlich bereits im April 1919 zu einer Abspaltung 728 und Zusammenstellung einer speziellen Front-Truppe der „Werkstatt“ aus 65 Mobilisierten, wobei für die wichtigsten Feiertage (Mai / Oktober-November, wenn nicht öfter) die besten Kräfte abgezogen wurden, „denn die in Petersburg stationierten Militäreinheiten werden durch die zentrale Arbeitskommission ausreichend versorgt.“ 729 cycling - Materialien und Geräte zur Um- / Aufarbeitung und Weiterverwertung sammelte. (NN: „Postanovlenie Soveta Oborony o vvedenii predstavitelja Voennogo vedomstva v Centroutil’“ [„Beschluss des Verteidigungsrats [STO] zur Einführung eines Vertreters der Militärbehörde in Centroutil’“] vom 19.05.1919. In: Dekrete. Bd.V.1971.203. - Siehe auch: NN: „Dekret o peredače godnogo dlja voennych nadobnostej imuščestva v rasporjaženie Narodnogo komissariata po voennym delam“ [„Dekret zur Abgabe und Verfügung an das Kriegskommissariat von für militärische Bedarfe geeignetem Eigentum“] vom 29.07.1918. In: Dekrete.Bd.III.1964.113. - NN: „Postanovlenie o sozdanii komissii dlja maksimal’nogo uskorenija proizvodstva voennogo snarjaženija (Črezvyčajnoj komissii po proizvodstvu predmetov voennogo snarjaženija)“ [„Beschluss zur Schaffung einer Kommission zur maximalen Beschleunigung der Produktion von militärischer Ausstattung (Außerordentliche Kommission zur Produktion von Gegenständen militärischer Ausstattung“] vom 16.08.1918. In: Dekrete.Bd.III.1964.574. - NN: „Postanovlenie Soveta Oborony o predostavlenii vsemi učreždenijami i organizacijami v Črezvyčajnuju komissiju po snabženiju Krasnoj Armii vedomostej ob imuščestve, imejuščimsja na ich skladach“ [„Beschluss des Verteidigungsrates [STO] an alle Institutionen und Organisationen zur Überlassung von Aufstellungen von in ihren Lagern befindlichem Eigentum [also einfach: Lager-Bestandslisten, MD] an die Außerordentliche Kommission zur Versorgung der Roten Armee“] vom 11.12.1918. In: Dekrete.Bd.IV.1968.206f.) Zur Erinnerung: jeder verdammte Nagel, ob krumm oder rostig, war kriegsrelevant (Kap.III.2., FN515). 727 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.127. 728 In einer Rezension von Anfang April 1919 wird die Größe der Truppe auf etwas „über 60 Darsteller“ beziffert. („Eine Truppe Improvisatoren.1919.3.“) 729 NN: „Peterburg — Pod gromom kanonady / Teatr na fronte“ [„Petersburg — Im Kanonendonner / Theater an der Front“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°40 vom 04.-07.11.1919. S.12. - Vinogradov-Mamont.[1966]1972.116. Nach Möglichkeit wurden Theater- und Konzert-Aufführungen gezielt in Lazarette und ähnliche Brennpunkte geschickt. (NN: „Chronika“ [„Chronik“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°278-279 vom 28./ 29.10.1919. S.2.) Wie man sich denken kann, waren diese Fronteinsätze der Theater im Bürgerkrieg kein Spaziergang: „Ganze Wochen in unbeheizten Güterwaggons, und das in Epidemie-Wintern, als jede Fahrt ein Lotto-Spiel mit dem Tod war, vieltägiges Herumsitzen auf Umsteigebahnhöfen, und nach der Ankunft an den Zielort: bloß dünner Tee in einem Agit-Treff und ein Auftritt in einer Scheune nur aus Ritzen, im Winter.“ (Piotrovskij, A.I.: „Sovetskij aktër“ [„Der sowjetische Schauspieler“] (Nov. 1922). In: Ders.1925.30.) - Die Angst vor und Ansteckung mit den überall drohenden Seuchen (Typhus, Cholera, Gelbfieber, Pest) war allgegenwärtig (Kap.III.2., FN515 - Kap.III.4., FN629 - Einleitung 4., FN110). In der Theaterpresse wimmelt es nur so vor Todesmeldungen (nackte Aufzählungen und ‘apathische’ Meldungen, ohne besinnlich-literarische Trauersprüche wie man sie heute kennt). Auch Vinogradov beklagt den Tod eines Weggefährten dieser Inszenierung aus der Kulturabteilung. (Vinogradov-Mamont.[1966]1972.17.) <?page no="238"?> K APITEL IV. 234 In dieser Konstellation findet am Sonntag, dem 20. Juli 1919 das erste und nach Quellenlage einzige ‘Heimspiel’ der militärischen Auswahlmannschaft und der Petrograder Stammtruppe vor dem Winterpalais statt ( ❐ 8+9): „Auf dem Schlossplatz, vor dem Tor des Palais und der Alexander-Säule befinden sich zwei Erhöhungen. Auf der größeren ist ein Zelt für die Akteure und die Requisiten. Dazwischen ist ein schmaler Durchgang durch die gierige, ungeduldig umringende Menge.“ 730 Die gegenseitige Entfremdung der Truppenteile sollte nur ein Grund für den weitaus geringeren Erfolg der Aufführung sein — was nicht bloß dem in Petrograd verbliebenen Spielleiter bewusst war, sondern auch für die Presse sichtbar wurde. Zum einen war die ursprüngliche Dramaturgie durch zahlreiche Standardformen der Revolutionsfeste erweitert bzw. überfrachtet worden („Massenmärsche“, „Revolutionslieder“, „politische Kundgebungen“) 731 , die sich an der Front gut bewährt hatten, im Stadtraum aber ihre Wirkung verfehlten: waren die offenen oder geschlossenen Spielorte sonst sehr gut besucht oder gar überbelegt, füllten die zehnbis zwölftausend Zuschauer nun gerade mal ein Drittel des riesigen Schlossplatzes aus ( ❐ 6+7). Auch die üblichen Podeste wirkten hier „fehl am Platze und dürftig“ 732 . Der Auftritt und Text des Akteurs, der wegen seiner großen Ähnlichkeit den Zaren darstellte und stets für Überraschung oder gar Unruhe sorgte, wirkte auf dem Balkon des Winterpalais verloren, und selbst die Schüsse aus 500 Gewehren versickerten in der Weitläufigleit des Platzes. Ohne entsprechende akustische Signale oder die typischen Geräusche ließ sich die schnelle Szenenfolge offenbar keiner übergreifenden Handlungslogik zuordnen, denn „/ .../ aus irgendeinem Grund laufen die Arbeiter, fallen nieder, werfen Ikonen hin. Zehntausend Zuschauer begreifen nicht, was vor sich geht, und... sind fassungslos.“ 733 Zum anderen scheint auch die Spielweise der Akteure mit einer „naturalistischen“ Überfrachtung durch den zuständigen Frontkollegen der ursprünglichen und erfolgreichen „Authentizität“ geschadet zu haben, auf die der Werkstatt- und Spielleiter abzielte: „Er [D.A. Ščeglóv, Leiter des Studiotheaters des Petrograder Proletkult 734 ] zeigte einen ‘naturmäßigen’, ‘reanimierten’ Nikolaj II. Er hatte die angeborene ‘Knorrigkeit’ der Rot-Armisten bereinigt, das ‘Ungestüme ihrer Gefühle’ gedämpft und zur naturalistischen, seelenlosen Ähnlichkeit mit einer ameisenhaften ‘Lebendigkeit’ umfrisiert. Inspirierte Rot-Armisten, Teilnehmer der Großen Revolution hatte er in provinzielle, klischeehafte Liebhaber von Schauspielerei verwandelt. Und 730 Piotrovskij, A.: „Sverženie samoderžavija - (Predstavlenie na Dvorcovoj ploščadi)“ [„Der Sturz der Selbstherrschaft - (Eine Vorstellung auf dem Schlossplatz)“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°199-200 vom 26./ 27.07.1919. S.2. 731 Lanina, T.: „Massovyj spektakl’“ [„Eine Massenaufführung“]. In: Večernyj Leningrad [Leningrad am Abend / Leningrader Abendausgabe]. N°165 vom 20.07.1979. S.3. 732 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.119. 733 Ders.Ebd.120. 734 Tamašin.1961.30. <?page no="239"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 235 überall Verse wie Paukenschläge eingebaut.“ 735 Allein dem Ende dieser Fassung konzediert Vinográdov einen gewissen Aufschwung: „Nur im Schlussbild, als die Kämpfer beim Bajonettangriff das Hauptquartier des Zaren stürmten, brach sich die naturgewaltige Kraft unserer Rot-Armisten eine Bahn und entzündete den revolutionären Enthusiasmus der Zuschauer.“ 736 Zu einem zwiespältigen Urteil (und mit einer fragwürdigen Argumentation) hinsichtlich der Gesamtkonzeption dieser Fassung kommt indes Piotróvskij, der zu diesem Zeitpunkt in die „Werkstatt“ drängte (bzw. ein eigenes Theater anstrebte) und Vinográdov-Mámont in Kürze als Leiter ablösen sollte 737 . „Ein irgendwie sehr handgestricktes, ungeschicktes, aber echtes Drama setzte ein“ 738 , das vom Publikum allerdings positiv aufgefasst wurde: „Knatternde Verse, aber wie freudig sind sie aufgenommen worden, mit welcher Dankbarkeit wurde geklatscht! Im Applaus dieser Minute und in der Gleichmütigkeit gegenüber den folgenden ‘Miniaturen’, der Abdankung Nikolajs II. usw. offenbarten die Zuschauer sowohl ihren Geschmack als auch die Fehler der Organisatoren. Und der erste und wichtigste ist die sklavische Abhängigkeit vom Milieuhaften [byt] und vom Milieu-Theater. Humor statt Lachen, Psychologie statt Dramatik.“ 739 Unter „Abhängigkeit vom Milieuhaften“ versteht Piotróvskij die eher banale als expressive Gestik, Mimik und Diktion der Akteure, die von der wirkungsvollen Bewegung zwischen den Podesten nicht aufgewogen werden: „Eine äußere Einheit der Handlung gibt es nicht, aber hier kommt der Einfall zweier gegenüberliegender Bühnen sehr zupass. Zielstrebig und in Massen, mit Liedern und Schüssen die Podeste wechselnd, lösen die Schauspieler auf originelle Art durch eine äußerst anschauliche topographische Missachtung der Einheit des Ortes das Problem der Einheit der Handlung. / .../ Doch was tatsächlich für einige lakonische Szenen gilt, kann nicht die Abfolge loser Episoden zusammenhalten.“ 740 Ferner zählt Piotróvskij zur „Abhängigkeit vom Milieuhaften“ weniger einzelne Momente wie das ängstlich-ehrerbietige Abnehmen der Kopfbedeckung der Demonstranten in der Episode vor dem Winterpalast 1905 (in der Zarenzeit eine obligatorische Subordinations- Geste gegenüber Staat und Kirche: FN715) oder eine Szene mit Schießanleitungen, als vielmehr Elemente des Rahmens, wie die in der Erinnerung noch sehr gegenwärtige Präsenz von Polizeiaufsehern, die zur Aufführung wiederholt erscheinen und das Publikum irritieren: „Und dann die Polizeiaufseher des Reviers, die unweigerlich am Schluss jeder Szene auftauchen, und in der Menge weißgott keine theatralen Emotionen [sic] ausgelöst haben. Das ist 735 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.120. 736 Ders.Ebd. 737 Gorčakov.1956.77. 738 Piotrovskij.(1919).2. 739 Ders.Ebd. 740 Ders.Ebd. <?page no="240"?> K APITEL IV. 236 wohl kaum gut so. Denn wo sollte man endgültig mit dem Realismus abrechnen, wenn nicht auf dem Schlossplatz? “ 741 Bezeichnend ist, dass die Erstfassung keinerlei theoretischer Fragestellungen auslöst, während die Freilicht-Fassung zwar eine gleichlautende Kritik („zuwenig Dramatik“), aber kontroverse Begründungen hervorruft, die an die dargelegte „Realismus-Schematismus“-Debatte der Jahrhundertwende (1902/ 1908) anknüpft (Kap.I.1.4. - I.1.5.): Vinográdov moniert stilisierende Kulturpraktiken wie die Formen und Verfahren der Revolutionsfeste (Massenmärsche, Revolutionslieder, Kundgebungen) und des Laientheaters („Ameisenhaftigkeit“ / Detailversessenheit, Verse) als naturalistische Überfrachtung, die gleichsam die ‘echte’ Naturwüchsigkeit des Soldatenmilieus verwässere. Interessant ist, dass Vinográdov „Naturalismus“ mit einem ‘Zuviel’ an theatraler Zeichenhaftigkeit und einem ‘Zuwenig’ an „Authentizität“ und Schlüssigkeit der Handlung assoziiert (Fassungslosigkeit der Besucher). Piotróvskij dagegen bemängelt die illusionshemmende Banalität schauspielerischer Ausdrucksformen als (naturalistische) „Milieuhaftigkeit“ und die fehlende Schlüssigkeit der Handlung („Abfolge loser Episoden“). Hier wird „Naturalismus“ mit einem ‘Zuwenig’ an theatraler Zeichenhaftigkeit verknüpft, das ein ‘Zuviel’ an „Authentizität“ bewirke und folglich eine „höhere Realität“ (Piotróvskij: Kap.I.1.5., FN266) sowie „theatrale Emotionen“ verfehle, dabei aber die Akzeptanz des Publikums treffe (freudiger Applaus). Unter umgekehrten Vorzeichen sind beide Kritiker also der gleichen Meinung, dass der „Naturalismus“ der Freilicht-Fassung die bestehenden Verhältnisse nicht in der gebotenen Form verhandelt — ein Problem, das nicht bloß in der individuellen Rezeption der Aufführung, sondern ebensosehr in der allgemeinen Wahrnehmung der Verhältnisse begründet ist: Wie bereits ausgeführt wurde, besteht zum Zeitpunkt des S TURZES kein zuverlässiger Konsens, keine gesicherte Konvention darüber, was als „Realismus“ oder „Schematismus“ gelten soll — allein die proportionale Relation und diskursive Fortführung beider ‘Wirklichkeitsreihen’ (Kap.I.1.5.) in den und anlässlich der Manöverinszenierungen, allein die jeweilige Kombination und Konfrontation von „nicht-zeichenhaft“ vs. „zeichenhaft“, von ‘symbolisch’ vs. ‘symbolhaft’ lassen sich gesichert feststellen. Als „authentisch“ gilt dabei, was in einer historischen Konstellation und innerhalb einer theatralen Konfiguration jeweils als wirklich und wirksam, als echt und beständig (und insofern als ‘unverfälschbar’ oder ‘heilig’ erachtet wird (Einleitung 5.: FN164, FN170 - Kap.I.1.2.: FN217+218). Der Vergleich beider Kritiken zeigt, dass für Vinográdov das ‘Wie’ - d.h. die Darstellung des Milieuhaften - für Piotróvskij aber das ‘Was’ - die Darstellung des Milieuhaften - ‘falsch’ bzw. unangemessen ist: für den einen stellt das Milieuhafte eine Voraussetzung theatraler Produktion („inspirierte Rot-Armisten“), für den anderen ein Ausschlusskriterium dar („sklavische Abhängigkeit“). Umgekehrt und zugespitzt formu- 741 Ders.Ebd. <?page no="241"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 237 liert, ist für Vinográdov das militärische Theatersoziotop ‘heilig’ (d.h. nicht an sich, sondern nur in seiner Darstellung ‘verfälschbar’), für Piotróvskij aber, der verstärkt das Parteimilieu und die „Theaterwerkstatt“ anstrebte, ‘nicht von Bestand’. So zeigt diese Kontroverse erneut die Liminalität und die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ der Revolution (Kap.III.1.), d.h. die parallele Virulenz und Gültigkeit verschiedener ‘Wirklichkeitsreihen’, und damit die prinzipielle Relativität und Verhandelbarkeit von „Realität“ und „Realismus“, die in stabilen Zeiten wie selbstverständlich hingenommen werden. Unter der Autorschaft (und Regie? ) Piotróvskijs erhielt der S TURZ zum zweiten Oktober-Jahrestag (25.11.1919) sowohl eine andere Form als auch einen neuen Titel (D AS R OTE J AHR ). „Zum grundlegenen Material kam ein Zwischenspiel in der Art des Balagan [Jahrmarkt- / Schaubuden-Vorstellung: Kap.V.4.] hinzu, mit der Teilnahme buffonesker Figuren wie des ‘Kapitals’, des ‘Ministers’, des ‘Generals’ (das Zwischenspiel stellte die Zeit der ‘Provisorischen Regierung’ dar), sowie ein abschließender Teil, der vom Oktober- Umsturz handelte.“ 742 Die letzte Station dieser Trilogie („Februar-Revolution“, „Kerenskiade“ und „Oktober“ 743 ) griff die ursprüngliche Idee in den Vorbereitungen zum S TURZ auf (IV.1., FN663/ 664 und IV.2.1., FN702) und zeigte den Sturm auf das Winterpalais bis zur Fassade. Wie gleich zu sehen sein wird (IV.4.), waren Presse und Zeitzeugen eher von der Erstfassung und vom Übergang des geschlossenen zum offenen Raum beeindruckt, während die Erweiterung zum Oktober-Sieg der Bolschewikí kaum Erwähnung fand. In der E RSTÜRMUNG von 1920 (Kap.VI.) verkehrt sich dieses Verhältnis: in einem kalkulierten, synchron(isiert)en Jubel geht dort die symbolhafte Re--Präsentation und Re--Integration des Winterpalais als Machtmonument mit dem Triumphzug der Bolschewikí einher, wobei das vom S TURZ übernommene, vielmehr ‘übertrumpfte’ Raumkonzept (mit gedoppelter Zweiteilung: zwei Bühnen und zwei Hälften des Schlossplatzes) den Ort ‘rehabilitiert’ und als Machtsymbol abschließt. IV.3. Bezugsrahmen und Subtext Als ‘Bezugsrahmen’ soll hier und im Weiteren der konkrete Anlass einer Manöverinszenierung bezeichnet werden, nicht im Sinne einer offiziösen Zielbestimmung oder einer opportunen Rückprojektion, sondern nach Möglichkeit als tagesbzw. sozialpolitische Ausgangssituation. Der Bezugsrahmen stellt einen Teilaspekt von Goffmans Rahmen-Konzept, ein „Element“ von „mehreren Organisationsprinzipien für Ereignisse“ dar (vgl. Einleitung 3., FN48). Weitere „Rahmungen“ und Markierungen aus dem 742 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.58. - Piotrovskijs Einfluss zu diesem Zeitpunkt kam in der Autorschaft dieser Erweiterung zum Ausdruck. (Geldern.1993. 125f.) 743 Mazaev.1978.316. <?page no="242"?> K APITEL IV. 238 ästhetischen oder kulturanthropologischen Bereich werden in der nachfolgenden Wirkungsästhetik untersucht. Gerade bei den ersten Petrograder Revolutionsfesten steht die Ausgangssituation oder der Anlass in einem Missverhältnis zur Unabgeschlossenheit und den Rückschlägen der Revolution. Vor dem Hintergrund andauernder Bürgerkriegswirren stellt sich daher mit jeder Masseninszenierung die Frage, welcher Aspekt der Revolution in welcher Weise dargestellt wird und zu welcher Bedeutung (in wessen Bewertung) gelangt. Dieses Problem macht eine kurze Begriffsklärung erforderlich. Als Oberbegriff umfassen die „Massenfeiern“ (mássovye prazdnestvá, seltener: mássovye toržestvá = Massenfeierlichkeiten) seit 1918 in der Häufigkeit und Bandbreite ihrer Verwendung die Gesamtheit aller Großveranstaltungen im näheren und weiteren Kontext der Revolution. (Allgemeiner oder außerhalb dieses Zusammenhangs ist die Bezeichnung „Masseninszenierung“ [mássovaja postanóvka] oder „Massenaufführung“ [mássovyj spektákl’] geläufig). Wie im Deutschen zwischen „Fest“ und „Feier“ unterschieden wird, changiert die Stimmung auch im Russischen zwischen „Dur“ (prázdnik) und „Moll“ (prazdnestvó, seltener: toržestvó - Einleitung 3., FN40/ 44 - „Exkurs: Abgrenzungen zwischen Fest und Feier“ in Kap.V.). Dieser Unterschied verschwimmt allerdings im Plural „prazdnestvá“ (was dem deutschen Hyperonym „Festlichkeiten“, „Feierlichkeiten“ entspricht 744 > also „Feste“ oder „Feiern“), sowie vor allem beim Adjektiv „prázdničnyj“ (festlich / feierlich), und wird hier mehr dem Kontext als dem Wortlaut nach übersetzt. (Bis Ende 1919 und oft darüberhinaus besteht auch offiziell keine Klarheit über die Abgrenzung zwischen „Fest / Feier“ und „Spektakel“ [s.u.]) 745 . In der deutschen Übersetzung suggeriert die semantische Färbung von „Masse“ soziologisch eine amorphe Menschenmenge einerseits und verweist politisch auf eine bestimmte „Klassen“zugehörigkeit anderseits. Jedoch revidiert die jüngste Revolutionsforschung Begriffe wie „Masse“ und „Klasse“ als historisch bedingte Konstrukte zugunsten dynamischer, identifizierbarer und folglich identitätsstiftender Formationen und ihrer „Lebenswelten“ 746 („Die Akteure“, Kap.III.2.). Der hier geführte Plural Revolutionsfeste umfasst auch alle Feier-Aktivitäten anlässlich der beiden wichtigsten Revolutionsdaten, und ist insofern zeitgemäßer und konkreter, als er auf den Anlass und den Kommunikationsvorgang statt auf einen quantitativen oder spekulativen Adressaten verweist. 744 Koch, R.: „Fest oder Feier? Eine Bedeutungsanalyse“. In Beilharz/ Frank.1991.38. 745 NN: „Iz rezoljucii po principial’nym voprosam raboče-krest’janskogo teatra“ (17−19 nojabrja 1919g.) [„Aus der Resolution zu prinzipiellen Fragen des Arbeiter- Und-Bauern-Theaters“] (vom 17.-19.11.1919)]. In: Jufit.1968.62. 746 Altrichter.1997.64. - Hobsbawm/ Ranger.1983. - Schramm.1983. - Suny/ Adams.1990. - Černjaev/ Galili/ Chajmson.1994. - Senjavskaja.1997. - Volobuev/ Buldakov/ Ischakov. 1997. - Starcev/ Poltorak/ Boriskovskaja.1999. - Glebkin.1998. <?page no="243"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 239 Der Sammelbegriff „Massenspektakel“ (mássovye zrélišča) wird im Russischen ebenfalls häufig verwendet und formuliert eine Festform, die keinen ausgesprochen revolutionären Bezug haben muss, z.B. bei historischen Schlachtendarstellungen (Kap.V.4.). Zudem rückt hier die Betrachter-Perspektive bzw. die visuelle Dimension in den Vordergrund (zrélišče, von: zret’ = sehen, erblicken, betrachten), die um die Jahrhundertwende eher pejorativ besetzt war (Kap.II.1.3.): „Dieser Begriff [pozórišče] bezeichnet ganz offensichtlich ostentative Elemente, die in größere Zusammenhänge wie vor allem das alte soziale Fest eingebettet sind und die sich charakteristisch an geltende Normen nicht halten. Davon übriggeblieben ist der Begriff ZRELIŠČE, Schau, der heute neben Spektakl’ übertragen auch für Schauspiel verwendet wird.“ 747 „Massen-Vor--stellungen“ (mássovye pred--stavlénija) enthalten den gleichen Gestus, klingen als „Massenschauspiele“ jedoch eleganter. Der russische Begriff „spektákl’“ bezeichnet prinzipiell die „Aufführung“ im Unterschied zur „Inszenierung“ (postanóvka), und ist nicht zu verwechseln mit dem deutschen Homonym. Stärker als das „Spektakel“ im Deutschen verdeutlicht Holitschers anlässlich der E RSTÜRMUNG geprägte Bezeichnung „Schaugepränge“ 748 (Einleitung 2., FN29) den russischen Begriff „zrélišče“, und die dort kodierten, komplementären Perspektiven von Herausstellen und Beobachten. „Massenhandlung / Massenschauspiel“ (mássovoe déjstvo) verflacht in der deutschen Übersetzung jene kultische Dimension des Begriffs „déjstvo“ (Kap.I.1.5., Kap.II.1.3. und II.2.), die seit der Theaterkrise den Kommunikationsvorgang zwischen Akteuren und Zuschauern zum „Andachtsspiel“, zum „liturgischen Akt“ (Ivánov) verzahnt hatte. Der Begriff taucht auf im S PIEL VON DER III. I NTERNATIONALE (Mitte Mai 1919 - Kap.V.1., FN853), setzt sich aber nicht durch, zumal seit dem M YSTERIUM DER BEFREITEN A RBEIT (01. Mai 1920) ein spürbarer Distanzierungsprozess gegen „religiöse Atavismen“ im Gange ist. Rückwirkend auf die frühen Massenschauspiele angewendet, formuliert „déjstvo“ eine Abwertung des kultischen Moments im sozialen Handeln. 749 Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage nach dem Bezugsrahmen und das begriffliche Problem insofern, als D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT den ersten „Jahrestag“ 750 der Absetzung der Monarchie markiert, und damit den ‘Präzedenzfall’ bzw. die Referenz-Inszenierung des Ende 1918 etablierten, gleichnamigen Feiertags darstellt (Einleitung 1., FN2). In Vinográdovs Bericht 747 Baumbach.1998.14f. - In „pozorišče“ steckt der Begriff „pozor“ (Schande, Schändung), der die ‘Anstößigkeit’ des Zeigens bzw. Ausstellens bereits klanglich deutlich macht. 748 Holitscher.(1924).24. 749 Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.277f. - Mazaev.1978.145f. - Zu den Begriffen „dejstvo“, „dejstvie“ und „dejstvovanie“ als Kult- / Spielhandlungen siehe: Einleitung 5., FN165+166 - Kap.I.1.5., FN269 - Kap.II.1.3. und II.2., FN423. 750 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.57. <?page no="244"?> K APITEL IV. 240 taucht dieser besondere Umstand allerdings nicht auf: in der Situation selbst und noch in der Erinnerung ist der Regisseur / Truppenführer völlig von der Lösung organisatorischer Probleme und der Einhaltung des Premierentermins absorbiert 751 , und auch im Vorwort am Abend der Vorstellung wird diese nur als „Aufführung zu einem politischen Thema“ ausgewiesen (IV.2.1., FN686). Über den Bezugsrahmen gibt der ‘Subtext’ eine genauere Auskunft, womit hier und im Weiteren die unterbelichteten Begleitumstände einer Manöverinszenierung bezeichnet werden (flankierende Maßnahmen, beiläufige Motive, versteckte Kausalitäten), die neben den erklärten Vorsätzen als bedeutsame Details bzw. als wesentliche Faktoren auftreten und sich folglich als Akzentverschiebung oder gar als Korrektiv zum expliziten Bezugsrahmen verhalten. Im Unterschied zur „Lücke im Sinn“ 752 oder zur einer Kontingenz, die sich außerplanmäßig während der Aufführung ereignet, ist der Subtext in der Inszenierung bewusst angelegt, aber in der Folge ausgeblendet worden oder unbemerkt geblieben. Mit den hier genannten Voraussetzungen ist D ER S TURZ DER S ELBSTHERR- SCHAFT in mehrfacher Hinsicht als Gedenktag zu verstehen, denn er umfasst drei damit verbundene Zeitdimensionen, die einen motivischen Fokus ergeben: Erstens aktualisiert der S TURZ eine historische Episode (den „Blutsonntag“ von 1905) und damit eine diachrone Ebene hinsichtlich der Ereignisse von 1917. Zweitens stellt er insofern eine Synchronie der zeitpolitischen Entwicklung her, als alle dargestellten Motive des Kampfes oder des Widerstands von 1917 sowohl für den Bürgerkrieg als auch für die Revolution des Jahres 1919 akut sind. Drittens enthält der S TURZ ein rhythmisches Moment, da er die Abfolge des Falls der Monarchie nachvollzieht: die Chronologie dieses Stationendramas entspricht einer ‘Chronologik’ der Aufführungsdaten insofern, als sich der Fall der Monarchie im engeren Sinne tatsächlich in Etappen vom 26./ 27. Februar bis zum 03. März alten Stils (11./ 12. bis 16. März neuen Stils) 1917 ereignet und mit den Premierendaten des 12. und 16. März 1919 übereinstimmt 753 . Damit erfolgt ein Fokus auf alle 751 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.49. 752 Fischer-Lichte/ Roselt in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).252. 753 Den Auftakt dieser Umsturz-Sequenz bildete der Kriegsüberdruss und die Solidarisierung der numerisch wie logistisch weit überlegenen Petrograder Garnison, ohne die ein Umsturz allein durch die aufständische Arbeiterschaft undenkbar gewesen wäre: als erstes wurde das Garderegiment Wolhynien aktiv mit der Entwaffnung der eigenen Offiziere und der strategischen Besetzung Petrograds. (Altrichter.1997.312.) In dieser Situation regte der Duma-Abgeordnete V.V. Šul’gin - in der Aufführung die Rollenfigur mit Zylinder und Gehrock - den Sturz des Zaren zur Rettung der Monarchie an: am 27. Februar (12. März) berief die Duma das konservative „Provisorische Dumakomitee“ ein, kurz darauf konstituierte sich der „Sowjet der Arbeiter- und Bauern-Deputierten“ (in der Mehrheit Soldaten) mit einem sozialistischen Exekutivkomitee. Beide Komitees verstanden sich als regierungsbildende Ordnungsgremien: „An demselben 2.(15.) März, an dem die Provisorische Regierung in ihr Amt trat, unterzeich- <?page no="245"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 241 Schritte, die zum historischen Sturz führten, wobei der Ursprung hierfür und der Akzent beim theatralen S TURZ auf der Februar-Revolution 1917 liegt: alle Aufführungselemente gelten der Reflektion der Beweggründe bzw. dem Gedenken an die Träger des revolutionären Aufstands. Die aktuelle Ebene des Kampfes von 1919, die Vinográdov als Truppenführer eines ‘Sondereinsatzes’ im Rahmen markiert und verkörpert (IV.2.1.), wird nichtmehr ‘ausformuliert’: sie wird in der Begeisterung der „Apotheose“ buchstäblich aufgesprengt. IV.4. Bezugsgröße: Der S TURZ zwischen „revolutionärer inscenirovka“ und Ritual Die ‘Bezugsgröße’ bezeichnet die Gattung, in der eine Manöverinszenierung im Verhältnis zu ihrem Anlass erfolgt. Diesen Bezeichnungen wird hier und im Weiteren ein relativ hoher Stellenwert beigemessen, ganz im Sinne des „mythologischen Bewusstseins“ (Kap.III.3.), demzufolge ein/ e Name / Bezeichnung den Charakter, die Spezifik und die Identität des Bezeichneten ebensosehr prägt, wie er / sie im Gegenzug die Wahrnehmung, die Bewertung und das Verhältnis des Bezeichnenden dazu offenlegt. So zeigt die Bezugsgröße den von den Veranstaltern gewünschten oder von Rezensenten erwarteten Effekt an, der in der anschließenden Wirkungsästhetik (IV.5.) überprüft wird. Obwohl der S TURZ anhand des Subtextes als ein Gedenktag bestimmt werden konnte, bezeichnen weder Rezensionen oder Erinnerungen, noch Monographien oder Sammelbände diese Aufführung als „prázdnik“ oder „prazdnestvó“ („toržestvó“), d.h. als Fest- oder Feiertag. Bei der Premiere nennt Mejerchól’d die Aufführung ein großartiges Werk „roher Architektur“, und M.A. Gór’kij bestätigt die Eigenbezeichnung „Volksschauspiel“ oder „volkstümliche Spielhandlung“ (naródnoe déjstvo) 754 , welches die „Werkstatt“ für sich definiert hatte (IV.2.1., FN698/ 702). Selbst Piotróvskij attestiert, wenn auch weniger wohlwollend: „Ein unerwartetes, außergewöhnliches, mit nichts vergleichbares Theater.“ 755 Vor dem Hintergrund seiner ethnologischen Studien begrüßt und bezeichnet Vsévolodskij die Aufführung als ein „Werk / Phänomen schöpferischen Volkstums“ (fakt naródnogo tvórčestva) 756 . Der auf Masseninszenierungen und Zirkus spezianete Nikolaus II. nach einem vergeblichen Versuch, die Hauptstadt zu erreichen, in Pskov, dem Hauptquartier der Nordfront, die Abdankungsurkunde zugunsten seines Bruders Michail / .../ . Ein Ausweg für die Rettung der Dynastie und der Monarchie war es jedoch nicht mehr: Am Morgen des 3.(16.) März verzichtete angesichts der Lage auch Michail, und damit war Rußland zur Republik geworden.“ (Stöckl.1983.637f. - Rosenfeld, G.: „Nachwort“. S.175f. In: Nabokow.[1922]1992.) (= Rosenfeld/ a. in Nabokow.[1922]1992.) - Vgl. Kap.III.4., FN607. 754 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.73. 755 Piotrovskij.(1919).2. 756 Vsevolodskij-Gerngross nach Vinogradov-Mamont.[1966]1972.78. <?page no="246"?> K APITEL IV. 242 lisierte Je.M. Kuznecóv prophezeit sogar: „Ihre [Vinográdovs] Aufführung ist außergewöhnlich und unwiederholbar. Doch ich bin sicher: in einigen Jahren greift das Theater diese Linie der Volkstümlichkeit, der Heroik und des höheren Realismus auf.“ 757 Selbst der Revolutionsgegner Gorčakóv bezeugt, dass die innovativen, experimentellen Ansätze der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ einen entscheidenden und positiven Impuls für diese neue Form der „Massenspektakel“ (mássovoe zrélišče) oder der „Massenschauspiele“ (mássovoe déjstvo) gestiftet haben 758 . Eine frühe Rezension bezeichnet die Aufführung als „ersten Meilenstein, der neue Wege zur Kreativität eines proletarischen Theaters aufzeigt.“ 759 Ein später Nachruf bestätigt die Richtigkeit dieser Voraussagen mit dem Hinweis auf die folgenden Masseninszenierungen, deren Auslöser und Vorbild D ER S TURZ DER S ELBSTHERR- SCHAFT sei (IV.1.). 760 Einerseits gilt diese Insceniróvka in der Wahrnehmung der Zeitzeugen übereinstimmend als ein neues Prinzip von Masseninszenierung gemäß der obengenannten Mittelstellung der „Theaterwerkstatt“ zwischen Studiotheater- Bewegung und Proletkult (IV.1.): sie bezeichnet die logistische und theatrale Selbstorganisation militärischer Kreise für ihresgleichen, also für ein großteils bäuerliches, kaum gebildetes Publikum in der Stadt und in den Randgebieten, an der Front und auf dem Land. In diesem Sinne bezeichnet Vsévolodskij den S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT als „erstes erfolgreiches Experiment einer revolutionären inscenirovka“. 761 Anderseits spiegelt die Vielfalt der Bestimmungen den Zwiespalt der zeitgenössischen Theoretiker hinsichtlich der Wirkungsweise der Insceniróvka — ein Zwiespalt, der - neben den branchenüblichen Revierkämpfen um die sozialpolitische und künstlerische Deutungshoheit - mit dem jungen Genre und der fehlenden Erfahrung zusammenhängen mag. Während Keržéncev die Fragen nach einer außer/ ästhetischen Verortung, nach Wirkungsweise und Stellenwert der Insceniróvka als Zukunftsproblem des sozialistischen Theaters verdrängt 762 , spricht Vsévolodskij aufgrund ihres Gegenwartsbezugs der theatralen Selbstorganisation eine revolutionäre Langzeitwirkung ab 763 757 Kuznecov nach Vinogradov-Mamont.[1966]1972.77. 758 Gorčakov.1956.78. 759 „Erste Aufführung Theaterwerkstatt.1919.7.“ 760 Lanina.(1979).3. - Mazaev.1978.317f. 761 Vsevolodskij.1929.Bd.2.387. 762 „Heute kann man auf dem Gebiete der Schaffung von Volksfesten nur von Versuchen sprechen. Solche Feiern, die einen grandiosen Maßstab und Inhalt haben, werden erst nach Jahren intensivster Arbeit, nachdem die Massen der Kunst unmittelbar nahegetreten sein werden, möglich sein.“ (Keržencev.[1920]1980.135f.) 763 „Das selbsttätige Theater ist immer zutiefst aktuell; da es im Moment eines aktuellen Umbruchs entsteht, hat es keine Zeit und keine Möglichkeit, große Themen zu stellen; daher auch seine übliche Kurzlebigkeit.“ (Vsevolodskij.1929.Bd.2.383. - Dazu auch: Ders.1929.Bd.1.355.) Im Unterschied zu Keržencev, der im Liebhabertum einen Schutz des Proletariats gegen den bürgerlichen Professionalismus sah, erkennt Vse- <?page no="247"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 243 und meidet ohnehin den Ästhetikbegriff zugunsten eines expansiven Arbeitsbegriffs (vgl. dazu Kap.II.2.). Allein Piotróvskij stellt sich diesem Problem — und die Insceniróvka in einen Widerspruch, dessen Lösung zum außerästhetischen Bereich tendiert: „All diese [oben aufgeführten, MD] Mittel wären ungenügend, wenn der spektakelhafte Ausdruck der ‘inscenirovka’ nicht durch den Einfluss einer außertheatralen Größenordnung verstärkt würde, durch eine alltägliche Festlichkeit / Feierlichkeit [sic] der Situation, durch eine Bedeutsamkeit der Zeit und des Orts: die ‘inscenirovka’ ist das Phänomen einer alltäglichen Größenordnung, und ihr dramatischer Mechanismus kann nicht aus dieser alltäglichen Verwobenheit herausgerissen werden. [kursiv MD]“ 764 Dem S TURZ als Prozess und als Produkt wird also grundsätzlich und einhellig ein originäres und zukunftsweisendes Potential für ein neues theatrales Genre zugeschrieben, das nicht als Theater „für das Volk“, sondern mehrheitlich als Theater „des Volkes“ empfunden wird. Der Blick auf die „alltägliche Verwobenheit“ (Piotróvskij) zeigt indes, dass der S TURZ auch eine „außeralltägliche Größenordnung“ enthielt und hervorbrachte, da bestimmte Aufführungen im geschlossenen Raum und unter freiem Himmel auch als „Ritual“ begriffen werden können. Weiter oben wurde gezeigt, inwieweit der Rahmen ein drittes „Wir“ aufruft und die Aufführung einen Übergang von Akteuren und Publikum zu einer Truppe von „Gleichgesinnten“ vollzieht, wobei das unabgeschlossene, aufgesprengte Finale diese Transformation aufrechterhält (IV.2.1.). Wenn offenbar stets an den gleichen Stellen (Generalprobe, Premiere - IV.2.1.) eine außerästhetische Realität in die theatrale Wirklichkeit einbricht, und wenn die Verabschiedung der Truppen in die Kriegsrealität an der Front durch die Theaterwirklichkeit des S TURZES am Bahnhof erfolgt und sich zudem als „Tradition“ etabliert (IV.2.2., FN724), markiert die Aufführung eine liminale Phase: sie vollzieht eine Ablösung vom Profanen zum Sakralen. Eine erste Grenzüberschreitung in Richtung „Feier“ erfolgt beim Bühneneinsatz mit dem Statuswechsel der Teilnehmer zu Eingeweihten einer Erlebnisgemeinschaft mit einem (wie auch immer) durchgestandenen Revolutionsrisiko. Eine ultimative Grenzüberschreitung in Richtung „Krieg“ findet beim Fronteinsatz statt, mit der Statusänderung der Beteiligten zu „Jenseitigen“ im Sinne von Todgeweihten einer Schicksalsgemeinschaft mit bevorstehenden Opfern, d.h. mit sicheren Verlusten. Auch wenn einige der Rot-Armisten überleben werden, wird niemand mehr Derselbe volodskij im „Liebhabertum“ bloß die Verarbeitung der ‘Konkursmasse’ des bürgerlichen Theaters. Dagegen grenzt er wiederum das „Laientheater“ im Kontext von „Volksbrauchtum“ ab, welches er in erster Linie als kulturgeschichtliche Etappe der Kategorie „Handlung“ begreift. (Vgl. Kap.II.2.) 764 Piotrovskij.(1924/ a).1925.56f. <?page no="248"?> K APITEL IV. 244 sein. Jeder wird als ein Anderer von der Front zurückkehren: traumatisiert oder tot (Einleitung 3., FN48/ 50). IV.5. Wirkungsästhetik des S TURZES : ‘Manöverhaftigkeit’ als „Zeugniswerk“ eines Soziotops IV.5.1. Materialität und Ästhetizität Nachdem die Insceniróvka im Umfeld der frühen Festkultur lokalisiert wurde, folgt nun die Untersuchung ihrer Wirkungsästhetik. Hierfür lassen sich die bei Fischer-Lichte / Roselt für die Performance entwickelten Aspekte „Materialität“, „Ästhetizität“, „Medialität“ und „Semiotizität“ 765 insofern auf die Insceniróvka anwenden, als diese bereits durch ihre Entstehung und Struktur gattungs- und grenzüberschreitend angelegt und somit auch in ihrer Funktion gezielt auf improvisatorische und integrative Prozesse ausgerichtet ist (IV.1.). Unter „Materialität“ ist die konkrete, phänomenale Beschaffenheit und Verwendung von Körpern (Menschen oder Dinge) und Lauten (Stimmen oder Geräusche) im und durch den Raum, d.h. „als Elemente in einem dynamischen Prozeß“ zu verstehen: „Sie [die spezifische Materialität der Aufführung] wird vielmehr durch das Zusammenspiel mit den sich im Raum bewegenden, sprechenden oder auch singenden Akteuren - oder anderen Bewegungen und Lauten - hervorgebracht.“ 766 Die „beidseitige, erspürbare physische Präsenz“ und das unmittelbare Gewahrwerden dessen, „was zwischen den Teilnehmern geschieht“ wäre mit „Ästhetizität“ zu beschreiben: „Im Verlauf der Aufführung werden Energien ausgetauscht, Kräfte entbunden, Aktivitäten in Gang gesetzt, Transformationen erlebt.“ 767 Als „Medialität“ wird jener Aspekt der Aufführung bestimmt, der in den Reaktionen und in der Teilnahme der Zuschauer und dabei als wechselseitiges Aushandeln der „Spielregeln“ wirksam wird: „Starke physiologische und affektive Reaktionen werden ebenso herausgefordert wie ganze Handlungssequenzen.“ 768 Schließlich bezeichnet „Semiotizität“ das Bedeutungsangebot, das nicht in den jeweiligen Elementen angelegt ist, sondern aus dem „Kontext der performativen Prozesse“ 769 hervorgeht. Bezogen auf die Wirkungsästhetik leuchtet ein, dass diese Aspekte im Zuge der jeweiligen Untersuchung sich weder systematisch noch trennscharf von einander abgrenzen lassen: so ‘entzündet’ sich die Ästhetizität mindestens ebenso oft an der Ma- 765 Fischer-Lichte/ Roselt in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).242f. 766 Dies.Ebd.238.+242. 767 Dies.Ebd.239f. - Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ a.22. 768 Fischer-Lichte/ Roselt in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).239.+244. 769 Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ a.16. <?page no="249"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 245 terialität, wie sie sich auf die Medialität beziehen lässt 770 . Beide Aspekte werden daher in einem gleichen Abschnitt behandelt. „Gleichwohl wird / .../ bereits der Akt der Wahrnehmung nicht vollzogen, ohne dass nicht gleichzeitig Bedeutung generiert würde.“ 771 Daraus folgt der enge Bezug von „Medialität“ und „Semiotizität“ im gleichen Abschnitt. Obwohl der Volodárskij-Saal als Mehrzwecksaal ausgewiesen ist, vermag die Aufführung dem Spielort eine gänzlich neue und spezifische Qualität abzugewinnen. Während dort eine reguläre Veranstaltung raumzeitlich durch die zentralperspektivische Nischenbühne (Hauptteil) und den gegenüberliegenden Ein- / Ausgang bestimmt wird (Anfang und Ende), sprengen nun die beiden Podeste, der verbindende Mittelgang und die Außengänge diese Frontalität zu mehreren Spielflächen auf, die mal sukzessiv, mal simultan genutzt werden 772 . In schneller Szenenfolge erweitert sich der Wahrnehmungsfokus von einem fixen Standort zu einem plastischen Bewegungsraum: die Aufmerksamkeit des Publikums wird vom starren, ‘hierarchischen’ Viereck von Schauspielern und Zuschauern in einen dynamischen, ‘gemeinschaftlichen’ Kreis von Beteiligten gelenkt und verdichtet (wo man sich beobachten oder distanzieren kann, sich hier aber meist bestätigen wird) — und zwar nicht bloß in der „Umzingelung“ oder „Stürmung“ der Rot-Armisten zu Beginn und zum Schluss der Aufführung, sondern durchweg in der Abfolge und Sogwirkung der Ereignisse an verschiedenen Schauplätzen. Diese werden zu einem großen Teil durch bestimmte Laute evoziert: die Nachahmung von Geräuschen kommt atmosphärisch („Vogelstimmen“ / „Wald“) und handlungsbezogen („fahrender Zug“ / „Front“) in einer Virtuosität und Perfektion zum Einsatz, die den Unterschied diverser Geschosse (Schrappnell, Granate) wiedergibt und so auf die topographische und soziale Erfahrung des Frontkämpfers, des Taigá-Bewohners, des Fischers oder Jägers verweist 773 . Die naturbezogene Nachahmung wird hier zur theatralen Mimesis 774 : die Praktiken der „Bauern in Uniform“ erhalten den Charakter einer ästhetischen Strategie. Dass die positiven Figuren sich selbst vor ihresgleichen darstellen, wird auf mehreren Ebenen unmittelbar deutlich, konstituiert die gemeinsame Identifikationsbasis und befördert den Ereignis-Charakter des S TURZES . Die Eigen- und Rollennamen der Rot-Armisten sind gleichlautend, sowohl bezüglich des Rahmens und der ‘Bruchstellen’, als auch während der Aufführung: Vinográdov tritt mit einem Vorwort als Werkstatt-, Spiel- und Truppenleiter auf, und der Vertreter der PUR, B.P. Pózern, vollzieht mit der Auszeichnung 770 Fischer-Lichte/ Roselt in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).244. 771 Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ a.29. 772 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.58. 773 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.44., 63., 69. 774 Siehe hierzu die Ausführungen zum Begriff „Theatralität“ in der Einleitung, insbesondere Fischer-Lichtes Aufführungsbegriff (Einleitung 3., FN58/ 62), sowie Wulfs Mimesis-Begriff (Einleitung 3., FN64 - Kap.II.3., FN500). <?page no="250"?> K APITEL IV. 246 der „Theaterwerkstatt“ eine reguläre Amtshandlung, die verbindliche Veränderungen zeitigt. Mejerchól’ds oder Šaljápins spontane Auftritte im Spiel unterscheiden sich kaum von ihrem weitbekannten, oft bühnenreifen Auftreten im Alltag. Wie beim historischen Umsturz fungiert Fëdorov auch in der Aufführung als Kundschafter, der die Arbeiter im Arsenal mit seinen (damaligen) Worten und dem ihm eigenen Slang vor Festnahmen warnt und zum Aufstand ruft 775 . Und der Rot-Armist Ósipov meint und spielt keinen anderen, als den Ósipov, der wie viele andere am „Blutsonntag“ 1905 vor dem Winterpalais „mit Blei gefüttert“ wurde. 776 Die Konvergenz von realer Person und fiktiver Figur zeigt sich insbesondere in den Verhaltensweisen bestimmter Handlungssequenzen, z.B. in der Wahl und dem Umgang mit Waffen: In der Aufführung zeigt Ósipov mit routinierter Erfahrung, wie er und andere Demonstranten von 1905 damals vor dem Gang zum Schlossplatz improvisierte Waffen erwägen, sich dann aber für das Mitführen von Heiligen- und Zarenbilder entscheiden; im Eifer der vorgeführten Konfrontation bricht er aus Versehen eine Trägerstange entzwei 777 . Neben der expliziten Darstellung tritt die implizite Haltung der Rot-Armisten in einer Form zutage, die eine Unterscheidung von außerästhetischer oder ästhetischer Rolle schwierig macht: Die Tatsache, dass die Soldaten in ihrer eigenen zerrissenen Uniform und mit aufgelöstem Schuhwerk dennoch als frisch rasierte und frisierte Laien-Akteure antreten, steht weder für den Übereifer von „Provinztheater“, noch für eine Kennzeichnung der Rollenfiguren. In der Sorgfalt oder gar Andacht der Truppe gegenüber ihrer theatralen Mission wird vielmehr das Bewusstsein eines Übergangs in eine andere Sphäre deutlich, denn es handelt sich bei dieser Reinigungsprozedur um einen allgemeinen ethischen Kodex der Schauspieler 778 , und hier besonders um ein Ritual der Frontkämpfer vor der nächsten Schlacht: denn im Todesfall muss der Kämpfer auch äußerlich ‘rein’ der ‘heiligen’ Erde (der „Wohnung der Toten“, der „Heimat der Vorfahren“) übergeben werden 779 . Der ‘Übergriff’ auf Theater als einer „heiligen Sache“ (Vinográdovs Theaterstatut: IV.2.1., FN690) stellt für die Rot-Armisten gleichsam einen „Eintrittsritus“ vom Profanen zum Sakralen dar, der eine vorbereitende Reinigung zur Erzielung ihrer „Kultfähigkeit“ erfordert 780 . Der Grund hierfür liegt auf der Hand: 775 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.36.+64. 776 Ders.Ebd.36.+62. 777 Ders.Ebd.36.+63. 778 Mičurin, G.: Gorjačie dni aktërskoj žizni [Die hitzigen Tage eines Schauspieler-Lebens]. Leningrad 1972. S.43. 779 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.52. - Senjavskaja.1997.83. - Kuchinke/ Dmitriev. 1989.70. 780 Caillois.[1950]1988.47f. - R. Schaeffler setzt „Reinheit“ mit „Kultfähigkeit“ gleich (Ders. in Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.36.), A. Hahn erweitert sie zu einer „Kulturfähigkeit“. Die „Unreinheit“ kultischer und sozialer Situationen begreift er als „Kopräsenz von störenden Momenten, die aber nicht zur verbindlich thematischen Situation gehören.“ Im Regelfall verleiht die „Statusreinheit“ der Situation eine „Status- <?page no="251"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 247 die psychische und physische Versehrbarkeit der Kämpfer an der Kriegs- und Kunstfront findet ihre Bestätigung und ihren Ausdruck in der besagten Schussverletzung des Akteurs Málikov, der die Szene trotz Gesichts-Verbrennungen durchsteht, die statt nur bis zu den Wimpern ebensogut hätten „ins Auge“ gehen können (IV.2.1., FN706) 781 . Ein weiterer Ausdruck für die Konvergenz von ästhetischer Handlung und kultischer Haltung ist das obengenannte Abschiedsritual der Aufführung am Bahnhof vor dem Truppeneinsatz an die Front. Auch die Requisiten haben in der Aufführung keine andere Funktion als im Krieg, der permanent die Bedeutung der Gegenstände von ihrer Anwendungsbestimmung im Alltag zur Zweckentfremdung im Ausnahmezustand relativiert bzw. umkodiert. Als Distanzhalter oder Grenzmarken dienen sie der Abwehr und dem Schutz: Waffen verursachen Lärm, Bedrohung und Verletzungen, Holzreste bilden eine Abgrenzung (Barrikade), Ikonen und Kruzifixe markieren eine schützende Tabuzone (auch wenn sie den Demonstranten von 1905 nichts nützte). Ganz anders in der E RSTÜRMUNG (Kap.VI.) hat die rote Fahne im S TURZ einen einfachen, zeichenhaften, fast pragmatischen Charakter. Hier steht sie - kurz und bündig - für eine klare politische Haltung, die nicht ständig betont werden muss: sie taucht als Variation im Bodentuch für das „Podest der Revolution“ auf (IV.2.1.), und im Finale als abschließendes Bekenntnis (IV.2.1., FN713). Der Einsatz der Musik gleicht demjenigen der Requisiten: es muss nicht erst ein „gemütliches Beisammensein“, ein Veteranen-Treffen, eine Fußball- Revanche oder eine Theater-Aufführung geben, um im russischen Alltag gesungene, gespielte oder gegrölte Melodien zu hören (was alles rein garnichts mit „russischer Seele“ zu tun hat). In einer traditionell oralen Kultur ist Musik ein integraler Bestandteil sozialer Kommunikation. Ganze Lieder, einzelne Strophen oder wenige Takte werden leicht und elegant in gewöhnliche Gespräche und Situationen eingeflochten, mit der gleichen Funktion und Selbstverständlichkeit, wie man hierzulande ironische Verse, bildhafte Redewendungen oder markante Filmsentenzen zitiert (‹Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen.› - C ASABLANCA , USA 1942). Dementsprechend bilwürde“, die in (zeremonialen) Vorkehrungen hergestellt und gesichert wird, die man weitestgehend als „Takt“ versteht: „Anstandsregeln, der gute Ton, Umgangsformen, Begrüßungs- und Abschiedsformeln haben also fast alle einen zeremonialen Kern, d.h., sie sichern die sozialen Situationen gegen abweichende Interpretation, sie erhalten die Würde einer Selbst- oder Situationsdarstellung, weisen Lächerlichkeit ab, markieren die Grenzen zwischen unterschiedlichen Situationsdefinitionen. Man muss sich dabei stets vergegenwärtigen, dass die Reinheit, um die es hier geht, nicht notwendig einen moralischen Aspekt haben muss.“ (Hahn in Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.56f.) Die hier beschriebenen Markierungen von Situationen überschneiden sich daher vielfach mit Goffmans „Organisationsprinzipien für Ereignisse“ innerhalb seiner „Rahmen-Analyse“ (Einleitung 3., FN48). 781 Vinogradov zu Malikov: „‹Warum bist du denn [trotz Verletzung] liegengeblieben? › — Malikov: ‹Das Theater ist ein Gotteshaus! ›“ (Vinogradov-Mamont.[1966]1972.59.) <?page no="252"?> K APITEL IV. 248 den gesungene, gespielte, geklopfte, geklatschte Melodien oder Rhythmen eine Zäsur oder eine Pointe, einen Kommentar oder eine Klarstellung, oder einfach nur den abschließenden Tusch! einer bestimmten Situation. Traditionell ‘theatergemäße’, d.h. artifizielle Elemente wie der Gefechtsalarm zum Auftakt (Trommeln, Zieharmoniken, Hörner), der unechte Wald aus echten Tannen sowie die Pappkrone und der Purpurmantel des Zaren sind anteilig wenig vertreten. In diesem Zusammenhang („künstlich - natürlich“) sind die negativen Figuren, d.h. die sozialen „Masken“, für alle Massenschauspiele und Manöverinszenierungen von großer Bedeutung und folgen stets dem gleichen Konzept: in der Regel richtet sich die Gestaltung nur auf das Erscheinungsbild (Kostüm und Schminke), im S TURZ ist außerdem die Namensgebung überliefert. Zwischen zwei unterschiedlichen, kulturanthropologischen Blickwinkeln ist hier der prospektive, auf die Wirkung der Maske (i.S.v. Maskierung) gerichtete (Canetti) gegenüber dem retrospektiven, die Legitimation von Maske und Uniform reflektierende (Caillois), zu bevorzugen 782 . Demnach markiert die Maske (Maskierung) den „Endzustand der Verwandlung“ (Canetti), und verbietet selbst die Vorstellung einer über den Tod hinausweisenden Entwicklung: „Die Starrheit der Form wird zur Starrheit auch der Distanz: dass sie sich gar nicht verändert, ist das Bannende an ihr. / .../ Sie drückt viel aus, aber sie verbirgt noch mehr. Sie ist eine Trennung: Mit einem gefährlichen Gehalt geladen, den man nicht kennen darf, zu dem eine Beziehung der Vertrautheit nicht möglich ist, kommt sie sehr nahe an einen heran; aber sie bleibt, in eben dieser Nähe, scharf von einem abgesondert. Sie droht mit ihrem Geheimnis, das sich hinter ihr staut. Da ein fließendes Ablesen wie von einem Gesicht von ihr nicht möglich ist, vermutet und fürchtet man Unbekanntes dahinter.“ 783 In dieser Perspektive löst die Maske in zweierlei 782 Hinter der Maske (Maskierung) und der Uniform erkennt Caillois zwei verschiedene Autoritäten, deren Antagonismus jedoch nicht recht deutlich wird: „In der zivilisierten Gesellschaft ersetzt die Uniform die Maske der Rauschgesellschaften. Sie ist ungefähr deren Gegenteil. Die Maske war dazu bestimmt, zu verbergen und zu erschrecken. Sie bedeutet den Einbruch einer furchtbaren, unberechenbaren, jählings auftauchenden und gewaltsamen Macht, die sich erhebt, um der profanen Menge einen frommen Schauder einzuflößen und ihren Leichtsinn und ihre Fehltritte zu bestrafen. Auch die Uniform ist eine Verkleidung, aber eine offizielle, dauernd gültige und vorschriftsmäßige, die überdies das Gesicht freiläßt. Sie macht aus dem Individuum den Repräsentanten und den Diener einer unparteiischen und unbeweglichen Regel, nicht die fiebernde Beute einer ansteckenden Gewaltsamkeit.“ (Caillois, R.: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch [1958]. Stuttgart 1960. S.150.) Strukturell ist diese Differenz leicht zu widerlegen: das nackte aber starre Gesicht lässt sich durchaus als Verlängerung der Uniform bezeichnen, hinter der sich „die fiebernde Beute einer ansteckenden Gewaltsamkeit“ umso besser anonymisieren lässt. Funktional läuft beides auf die Variation eines ähnlichen Autoritätssystems hinaus, innerhalb dessen die „verkündende“ Uniform der „zivilisierten Gesellschaft“ die „verbergende“ Maske der „Rauschgesellschaften“ ergänzt. 783 Canetti, E.: „Die Figur und die Maske“. In: Ders.[1960]1980.419.+421. <?page no="253"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 249 Hinsicht (orthodoxe) Urängste aus, da sie das „Auge des Zyklopen“ (Florénskij, Kap.II.3.) und den „Blick der Medusa“ (Welsch, Kap.I.4.) in sich vereint: sie negiert physiologische Prozesse (Mimik - „Ablesen“) und verursacht eine körperlose „Ansteckung“ (Einleitung 3.) durch „das Bannende“ und „Unbekannte“ hinter ihr. Da sie auf Distanz wirkt (diese also nicht bloß festlegt, sondern auch ‘beherrscht’), hat sie die Macht, den Menschen zeitweise oder endgültig in (Todes)Starre zu versetzen. Im russisch-orthodoxen Kontext ist die Maske daher kein berechenbares Kultobjekt, keine Verhüllung eines Sterblichen zur invertierten Vermittlung einer verborgenen Gottheit innerhalb einer kurzfristigen Kulthandlung, und noch weniger eine daraus folgende, überzeitliche Gedächtnisstiftung durch den kultisch legitimierten Maskenträger 784 . Außerhalb sehr enger Grenzen von heidnischer Volksmythologie und ländlichem Volkstheater (Kap.V.4., FN931) 785 bedeutet Maskierung in ihrer unmittelbaren Materialität eine unkalkulierbare Gefahr und Bedrohung, denn sie steht für jedwede aktive Täuschung — von der Verstellung 786 über die Irreführung bis zur Pervertierung realer (Macht)Verhältnisse 787 (zu denen auch das Negieren natürlicher Entwicklungen gehört, wie etwa Lenins Einbalsamierung: Einleitung 4., FN92). Damit steht die Maskierung für das Grauen und das Böse schlechthin. Entsprechend stigmatisiert sie auch den Maskenträger als ‘des Teufels’. Seit dem Welt- und im Bürgerkrieg überträgt sich dieser archaische Bedeutungskern auf die soziale Charaktermaske des „äußeren“, mit der NÖP-Zeit verstärkt auf den inneren, immer weniger dissoziierbaren „Feind“ 788 (Kap.III.2., FN543). Da ursprünglich jede Form von Semiose ausschließlich dem Zaren als weltlichem und sakralem Herrscher vorbehalten war und nur von ihm ausgehen durfte (IV.5.2., FN813), und da auch dieser Bedeutungskern erhalten und noch spürbar blieb, ist eine Überschreitung durch den 784 Schaeffler in Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.20f. 785 Münz in Münz/ Amm.1998.276. - Bogatyrëv, P.G.: „Narodnyj teatr čechov i slovakov“ [„Das Volkstheater der Tschechen und Slowaken“] (1940). In: Ders.1971.115f. - Ders.: „Chudožestvennye sredstva v jumorističeskom jarmaročnom fol’klore“ [„Künstlerische Mittel in der humoristischen Jahrmarkt-Folklore“] (1968). In: Ders.1971.470. 786 Canetti, E.: „Nachahmung und Verstellung“. In: Ders.[1960]1980.414f. 787 Dies kann Amtsanmaßung sein wie im Falle der zahlreichen falschen Zaren („Pseudo- Demetrius“), oder aber Amtsmissbrauch, wie ihn die echten Herrscher - Ivan der IV. (der „Schreckliche“) oder Peter I. (der „Große“) - vorzugsweise in Form von inszenierten Travestien ausgeübt haben. (Uspenskij, B.A.: „Car’ i samozvanec: samozvančestvo v Rossi kak kul’turno-istoričeskij fenomen“ [„Zar und Usurpator: Usurpation in Russland als kulturhistorisches Phänomen“]. In: Ders.: Izbrannye trudy. Tom I. Semiotika istorii. Semiotika kul’tury [Ausgewählte Arbeiten. Band I. Geschichtssemiotik. Kultursemiotik]. Moskva 1994. S.84f.+105f. - Ders.Ebd.: „Antipovedenie v kul’ture Drevnej Rusi“ [„Konträres Verhalten in der Kultur der Alten Rus’“]. S.324f.+329.) 788 Glebkin.1998.103f. <?page no="254"?> K APITEL IV. 250 „Untertan“ auf diesem Gebiet ein ‘Sakrileg’ und eine ‘Entwertung’ vom tabuierten Symbol zum verhandelbaren Zeichen. 789 Genau dies - die Erschütterung / Absetzung überlieferter Hierarchien - passiert vor aller Augen im S TURZ , und ergibt für den Zuschauer folgendes Bild: Durch die gewandelten Verhältnisse sind nun der Zar und seine Generäle nicht nur kostümiert, sondern - ihrer neuen Fallhöhe entsprechend - auch geschminkt. Die im S TURZ wohl erstmalige Verwendung echter Uniformen durch eben noch ‘unechte’, nämlich ‘subalterne’ Träger, die jedoch seit kurzem als neue Herrscher legitimiert und befugt sind, bewirkt folglich keine verhöhnende Travestie und keine stigmatisierende ‘Verfälschung’ der Rot- Armisten (IV.2.1., FN680/ 684), sondern die Verfremdung der Uniform zum Kostüm, und damit die (rückwirkende) Entlarvung der ‘Falschheit’, d.h. Unrechtmäßigkeit der abgesetzten Machthaber. Als negative Figuren sind die (sozialen) „Masken“ in den Manöveraufführungen somit prinzipiell allein aufgrund von Schminke und Kostüm zu erkennen — ganz gleich, wie diese Elemente im einzelnen ausgeführt sind: denn sie bestimmen sich zuvörderst im Unterschied oder Kontrast zu den positiven, überwiegend ‘naturbelassenen’, ‘unverfälschten’ oder nicht--stilisierten Figuren. Ein ähnlicher Mechanismus gilt für die Objekte (Attribute und Requisiten): in allen Manöveraufführungen kommen bei beiden Gruppen (invasive) Waffen (mit Blindgeschossen) zum Einsatz, und bei den Aufständischen auch Geräte oder Strategien, die im Laufe des Kampfes zu Waffen umfunktioniert werden. Hierbei ist festzuhalten, dass die Echtheit dieser Objekte die ‘Echtheit’ der Rollen auf je unterschiedliche Weise verstärkt: bei den positiven Figuren wird darüber auch der Status ihrer Rechtmäßigkeit beglaubigt, wohingegen bei den negativen Figuren nur die Echtheit ihres gegnerischen 789 Lotman, Ju.M.: „‘Dogovor’ i ‘vručenie sebja’ kak archetipičeskie modeli kul'tury“ [„‘Vertrag’ und ‘Selbstübereignung’ als archetypische Kulturmodelle“]. In: Ders.: Izbrannye stat’i v trëch tomach. Tom III: Stat’i po istorii russkoj literatury. Teorija i semiotika drugich iskusstv. Mechanizmy kul’tury. Melkie zametki [Ausgewählte Aufsätze in drei Bänden. Band III: Aufsätze zur Geschichte der russischen Literatur. Theorie und Semiotik anderer Künste. Mechanismen der Kultur. Kleine Anmerkungen]. Tallin 1993. S.351+354. - Ders.: „Problema vizantijskogo vlijanija na russkuju kul’turu v tipologičeskom osveščenii“ [„Das Problem des byzantinischen Einflusses auf die russische Kultur, typologisch beleuchtet“]. In: Ders.: Izbrannye stat’i v trëch tomach. Tom I: Stat’i po semiotike i tipologii kul’tury. [Ausgewählte Aufsätze in drei Bänden. Band I: Aufsätze zur Semiotik und Typologie der Kultur]. Tallin 1992. S.121f. - Hierzu ausführlich: Uspenskij, B.A.: Car’ i Patriarch. Charizma vlasti v Rossii (Vizantijskaja model’ i eë russkoe pereosmyslenie) [Zar und Patriarch. Das Charisma der Macht in Russland (Das byzantinische Modell und seine russische Umdeutung / Umsetzung)]. Moskva 1998. Den Zusammenhang zwischen Semiosis (Zeichen) und Religion (Symbol) bringt Kerényj folgendermaßen auf den Punkt: „Zeichen lassen Deutungen zu, sind manchmal vieldeutig und immer an den Augenblick gebunden. Sie sind gleichsam Stimmen der Zeit. Die fortwährende Beachtung einer Welt sinnfälliger Zeichen, die sich in der Zeit entfaltet, heißt religio.“ (Kerényj.(1938/ b).[1971]1995.86.) <?page no="255"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 251 Status zementiert wird — ohne dass ihnen über das echte Objekt der Bonus der Rechtmäßigkeit zuteil würde: auch deshalb ist der „Feind“ durch eine weitere Überzeichnung, durch ein zusätzliches Detail wie Maske / Schminke abgewertet. Dieser Logik entsprechend kommen positive und negative Figuren prinzipiell in der Konfrontation zum Einsatz, die im S TURZ aufgrund des geschlossenen und überschaubaren Raumes in relativ individualisierten Szenen erfolgt („psychologischer Zweikampf“ im 4. Bild 790 ). Mangels eigener Erfahrung mit exponierten Gesellschaftsvertretern diente den Bauern ihre Kenntnis der motorischen Eigenarten von Tieren als Vorlage für die jeweiligen „Masken“ (General-„Stier“, -„Truthahn“, -„Esel“) 791 , die mit Mejerchól’ds Unterstützung zu parodistischen Bewegungen und Gängen entwickelt wurden 792 . Interessant ist, dass die jeweilige Bezeichnung nicht bloß als Arbeitstitel während der Proben, sondern in der Anrede der Rollenfigur während der Vorstellung, also als „sprechender“ Name verwendet wird (Feldwebel Lisíca = Feldwebel Fuchs) 793 , etwa wie im Märchen oder in der Fabel („Gevatter Fuchs“): Motorisch wird auf das reale Tier, appellativ auf seine charakterliche, allegorische oder volksmythologische Eigenschaft Bezug genommen (die Schläue des Fuchses). Der Name ist ‘Programm’ („Das ‘Mythologische Bewusstsein’“, Kap.III.3.), in beiden Fällen: bei den positiven Figuren prägt er die Identität der Person, bei den negativen Figuren verweist er auf ihre Scheinhaftigkeit oder „Larve“, definiert ihr Defizit und erfüllt so die gleiche Funktion wie die Maske. Durch die gemeinsame Identifikationsbasis und die enge Wechselbeziehung zwischen Akteur und Zuschauer freut sich dieser nicht nur über den Wiedererkennungs-Effekt: Wie bei den Geräuschen erkennt er, dass bei der Gestaltung und Benennung der Rollen s/ ein traditionelles, spezifisches Können und s/ ein bestimmtes Wissen in eine Strategie mit Vorbild-Funktion umgemünzt wird, indem man sie auf einen neuen, unspezifischen Gegenstand anwendet, und diesen somit bestimmbar und beherrschbar macht. IV.5.2. Medialität und Semiotizität Die ästhetische Aufsprengung, Verfremdung und Erweiterung räumlicher, lautlicher, visueller und performativer Elemente durch die Akteure bewirkt zweierlei. Zum einen führt sie die Effektivität und Legitimität partikularer Taktiken (Tier-Mimikry) für bestimmte „Fronten“ oder Zwecke vor: für den Zuschauer folgt daraus, dass er früher oder später, direkt oder indirekt mit seinen persönlichen Fähigkeiten in der sich abzeichnenden, sozialen Entwicklung einen anerkannten Platz finden kann. Zum anderen ermutigt ihn diese 790 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.66. 791 Ders.Ebd.46. - Siehe auch General-„Hengst“, Feldwebel-„Fuchs“: IV.1., FN641. 792 Ders.Ebd.43f. 793 Ders.Ebd.67. <?page no="256"?> K APITEL IV. 252 Taktik, kausale Vorgaben und etablierte Normen (z.B. eine hierarchische Befehlskette) solange zu ver/ wenden, bis andere Verknüpfungen, neue Strategien und eine gewünschte Umkehrung der Verhältnisse eintreten (die Solidarisierung des Wolhýnischen Regiments mit den aufständischen Arbeitern). Als objektive Teilnehmer des Raum- und Handlungskonzepts sind die Zuschauer auch subjektiv Beteiligte: die Identifikation mit den Figuren und Vorgängen wird besonders deutlich am Ende einer Szene oder Sequenz, wenn die Anwesenden im wiederholten, kollektiven Revolutionsgesang bzw. Trauerchoral gleichsam Teil der Front- und Theater-Truppe werden. Neben dem ästhetischen Ort eröffnet die besondere Form von Lautlichkeit einen religiösen Raum, der auf den Stellenwert des Gesangs und die Spezifik der Gemeinde in der orthodoxen Liturgie verweist. Die Liturgie zelebriert die Eucharistie als wichtigstes Mysterium und vergegenwärtigt die gesamte Heilsgeschichte. Sie bildet so „den Mittelpunkt des ganzen kirchlichen Lebens“ 794 - gleichsam das Kernstück orthodoxer cultural performances. Hiervon sind drei Praktiken festzuhalten — ergänzend zu Sobórnost’ (Kap.II.1.1. - II.1.4.) und als ‘Lesezeichen’ für die folgenden Ausführungen: 1) Gefordert ist der responsive Chor in seiner ganzen Leiblichkeit, Stimmlichkeit und Aufmerksamkeit, ohne Hilfsmittel wie Bänke, Musikinstrumente oder Gebetsbücher; 2) Die Konsekration findet im engen Wechselgespräch zwischen Priester und Gemeinde statt 795 ; 3) Die eigentliche Wandlung wird erst mit der Epiklese wirksam, d.h. mit dem Anrufen und ‘Inkrafttreten’ des Gottesgeistes, und nicht durch die partikulare Intention des Priesters (Béskin: „kein rachitisch-blutarmes ‘Ich’, sondern ein stolzes ‘Wir’“ - Kap.II.1.1., FN346. Das katholische „Ego te absolvo“ wird in der Orthodoxie als anmaßend empfunden und ist dort völlig undenkbar.). 796 Von hier aus werden die Grundsätzlichkeit und Tragweite des „ritual commitment“ 797 in den Manöveraufführungen sowie die Funktion und Bedeutung von verbalem, stimmlichem und körperlichem Einsatz im S TURZ deutlich: im Zentrum steht das real vergossene Blut der Revolutionäre, als Opfer und als Gedenken („Wir zeigen nur das / .../ wofür wir selbst unser Blut vergossen haben.“ - IV.2.1., FN702), zeiträumlich umgeben von einem ‘magischen’ (Bann)Kreis („Umzingelung“: IV.2.1., FN679), was sequenziell in den musikalischen Einlagen der Akteure und im Gesang der Zuschauer eine Zustimmung, Verstärkung und ‘(Er)Füllung’ erfährt und schließlich eine Öffnung, Transzendierung und „Erlösung“ durch die Gemeinde („Stürmung“: IV.2.1., FN713). In diesem „responsiven“ Sinne bereiten die Chorale 794 Beck.1926.87f. 795 Ders.Ebd. - Heiler in Stupperich.1966.128. 796 Ders.Ebd.122.+128. 797 Mit „ritual commitment“ („rituelle Übereinkunft“) bezeichnen Humphrey und Laidlaw die bewusste Bereitschaft zur Teilhabe am Ritual (Humphrey/ Laidlaw.1994.261.). Vgl. „Exkurs zum Ritual“ in IV.5.2. <?page no="257"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 253 als „kleine Entlassungssegen“ 798 die „große Erlösung“ der „Apotheose“ 799 vor — womit die (vorgeblich atheistische) Presse fortan den allgemeinen Überschwang bei der Verbrüderung von Akteuren und Zuschauern im Finale der Massenaufführungen bezeichnet. Für den S TURZ (und im M YSTERIUM , Mai 1920) bleibt die ‘endogene Eruption’ und Kontingenz dieses Moments, d.h. der offenkundige Ereignis-Charakter der „Apotheose“ festzuhalten. Anlässlich der letzten E RSTÜRMUNG (Kap.VI.) spricht dagegen niemand mehr von einer „Apotheose“; dort wird zu sehen sein, dass auch der abschließende Höhepunkt durch verschiedene Muster der Intensitäts-Steigerung durchkalkuliert und mit- -inszeniert wird: die „Apotheose“ ist dort ein vorsätzlich induzierter Rausch mit Werk-Charakter, ein ‘exogener Overkill’ von sich verschränkenden oder simultanen Effekten und Aktionen, die mit hoher Frequenz und großer Wucht auf alle Sinne einströmen, bzw. eindreschen. Im ersten Fall ist die „Apotheose“ unwillkürlich / kontingent, im letzten unabweislich / aufgenötigt. Der Unterschied ist eminent: Das sich in der Aufführung und „Apotheose“ des S TURZES konstituierende Sozium lässt sich als ein flüchtiges Gebilde bestimmen, das zwischen Theater- und Kirchengemeinde oszilliert. Einerseits bleibt das Konzept der Aufführung durchaus im üblichen Rahmen theatraler Verabredung, die sich damals in einer vielfältigen „Entdeckung des Zuschauers“ 800 übte (Kap.I.1.3., Kap.I.3.). Anderseits wird es durch die Reaktionen der Zuschauer weit übertroffen, wobei sich dieses ‘Übermaß’ als „liturgische“ Verhaltensweise realisiert. Vor diesem Hintergrund prägt die Insceniróvka des S TURZES nicht bloß ein neues Prinzip der Masseninszenierung, sondern auch eine neue Art von Publikum: Mit „Existenzial“ (ėkzistenciál) bezeichnet Glébkin eine informelle Konstruktion von Ideen und Wünschen in Verbindung mit einer bestimmten Konstellation von Personen oder Gruppen — d.h. einen sozialen Konsens, der mittels besonderer Vorgänge und Begriffe eine eher empfundene als bewußte Gemeinschaft jenseits geläufiger soziologischer Kriterien bildet („Wir in Nordrhein-Westfalen“ - „Wir können alles, außer Hochdeutsch“ - „Mia san mia“). Fassbar wird ein „Existenzial“ - so Glébkin weiterhin - erst im Austausch mit seinen Interessensvertretern. Bevor es als persönliches Übergangsritual oder als öffentliches „Vitalisierungsritual“ (staatliche Feiern und Veranstaltungen) eine Form erhält und zum Ausdruck kommt (Einleitung 4., FN142/ 143), schwankt es zwischen einem verborgenen Erkennungszeichen (z.B. einem „Augenzwinkern“, das Goffman zur „komplizenhaften Kommunikation“ in Täuschungsmanövern zählt 801 ) oder einer manifesten Praktik (etwa einem häufig nachgeahmten Spruch, Akzent oder Sprachduktus, wie J.F. Kennedys „Isch bin oin Börlinärr! “ oder M. Reich- 798 Beck.1926.80f. 799 Vgl. hierzu Kap.V.4., FN944. 800 Fischer-Lichte, E.: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20.Jh.. Tübingen 1997. 801 Goffman.[1974]1993.98. <?page no="258"?> K APITEL IV. 254 Ranickis „Ein--fach--schrrrräkk-lich! “). In dieser Bandbreite ist das „Existenzial“ eine Orientierungsgröße für Werte aller Art. 802 Bezogen auf das militärische Soziotop und die Insceniróvka des S TURZES lässt sich dieser Wertefundus als ‘Manöverhaftigkeit’ bezeichnen, und muss zuvörderst gegen die verbreitete und irreführende Reduktion auf das „Manöver“ schlechthin abgesetzt werden: Vsévolodskij leitet die ‘Manöverhaftigkeit’ der Insceniróvka erstens aus ihrer Vorform ab, die er auf die Kundgebung und die Militärparade zurückführt. Zweitens beruhe sie auf dem „authentischen“ Kontingent von Personen, Geräten und Praktiken, die allesamt dem gleichen Umfeld entstammten (vgl. Kap.II.2., FN465/ 466). Vsévolodskij zufolge resultieren daraus unmittelbar realistische Handlungsformen: „Kämpfe, Attacken, Festnahmen usw.“ 803 Für Mazáev besteht die ‘Manöverhaftigkeit’ hauptsächlich in der strikt hierarchischen Regie und der konzentrischen Spielleitung — was jedoch erst seit dem M YSTERIUM (Mai 1920) zum Einsatz und danach in der W ELTKOM - MUNE (Juli 1920) zum Ausdruck kommt. Daraus leitet Mazáev die Bewegungsabläufe der Masseninszenierungen im Ganzen ab: „Die Leitung des Spektakels war auf diese Weise streng zentralisiert, wie bei den Manövern der Armee, und alle Bewegungen der Leute waren streng reglementiert.“ 804 Für Piotróvskij schließlich ist die zentralisierte Organisationsstruktur der Insceniróvka im Sinne der Durchführung vor Ort nur ein Aspekt ihrer ‘Manöverhaftigkeit’, die er weiterhin widersprüchlich formuliert: „Wie schon gesagt, waren die direkten Vorläufer der Spektakel von 1920 rein militärische Feierlichkeiten [toržestvá]. Das Spektakel am 1. Mai [M YSTERIUM ] und die ‘Erstürmung’ des Winterpalais haben diesen militärischen Charakter gänzlich beibehalten. Die übrigen Festlichkeiten [prazdnestvá] waren von zivilen Institutionen ausgerichtet, doch ihre wichtigsten Teilnehmer blieben die Rot-Armisten und Matrosen, und das allgemeine Organisationsprinzip behielt im großen und ganzen einen streng zentralisierten ‘militärischen Charakter’ bei. Es waren die Festlichkeiten [prazdnestvá] des Kriegskommunismus. Dies darf man bei der Bewertung und Erforschung der Gründe ihres zügigen Aufschwungs und Abklingens nicht vergessen. / .../ Der eigentliche Prozess der Feier im Sinne seiner Leitung kann am ehesten mit einem komplizierten Manöver verglichen werden.“ 805 Der Vorstellung von der Insceniróvka als einer Veranstaltung im Stechschritt „stereometrischer Figuren“ 806 in einem roten Fahnenmeer ist jedoch 802 Glebkin.1998.22f. 803 Vsevolodskij.1929.Bd.2.389f. 804 Mazaev.1978.342. 805 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.64f. 806 Canetti, E.: „Befehlserwartung“. In: Ders.[1960]1980.345. (= Canetti/ c.[1960]1980.) <?page no="259"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 255 in mehrfacher Hinsicht zu widersprechen. Ein Rezensent vermerkt als kennzeichnende Farben der Masseninszenierungen und Revolutionsfeste eine bewusste Dominanz des naturnahen Blau und Grün gegen das offiziöse Rotgold-Spektrum von Kunst und Kirche, und erklärt dies wie folgt: „Sagen wir eher, man darf nichts dekorieren, man kann nur den Sinn der Ereignisse und der Dinge herausfinden, und ihnen mit Mitteln der Ausstattungskunst eine Form geben, die mit der Bewegung des Lebens übereinstimmt.“ 807 Desweiteren ist die Armee zwar eine „künstliche Ansammlung vieler“, aber auch im Ernstfall gerade keine Masse, weil sie zum effektiven Einsatz in flexiblen Einheiten einen gewissen Spielraum beibehalten muss: „Dass sie zusammen marschieren, soll äußerlich sein; die Spaltbarkeit der Abteilung macht ihre Verwendbarkeit aus. [kursiv MD]“ 808 Canettis Befund ist für den S TURZ umso gültiger, als sich der ‘mythologische Marsch’ (Kap.III.5.) durch den aufgesprengten Raum (IV.5.1.) bis zum Schluss der jeweiligen Aufführung in mehrfachen Anläufen und Taktiken differenziert, erneuert und erweitert („Marsch in den Zuschauerraum“: IV.2.1., FN713 - Einsatz auf Bahnhöfen bei Verabschiedung von Truppen: IV.4., FN724). Wenn also der S TURZ in jeder Hinsicht ein liminales Phänomen (und ein „Existenzial“ im Sinne Glébkins) mit einer neuartigen Ausdrucksform darstellt (mobiles Soziotop, selbstorganisierte Insceniróvka mit Ereignisstatt Werk-Charakter, wechselseitige Dynamik zwischen Theater und Ritual, Theater- / Kirchengemeinde statt „Veranstalter“ oder „Zuschauer“), handelt es sich um kein werk- oder befehlstreues Absolvieren kanonisierter Vorgaben innerhalb einer starren Gehorsams-Hierarchie („Manöver“). Gerade weil das militärische Soziotop über vielfältige Handlungsoptionen verfügt (Kap.III.2.) 809 , verbinden sich die Möglichkeiten der Armee und die „Mobilität und Polyfunktionalität“ von Theater (Fischer-Lichte: Kap.I.1.4., FN262) zu einem ‘dialogischen Verhältnis’ (‘Manöverhaftigkeit’). Zum einen steuert dieses Verhältnis die Wechselwirkung zwischen der referentiellen Funktion der Inszenierung (historische Episoden, „Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen, Situationen etc.“ 810 ) und der performativen Funktion der Auf- 807 Šč., A.: „O smysle i principach dekorativnogo načala massovych narodnych predstavlenijach i zreliščach“ [„Über die Bedeutung und die Prinzipien eines dekorativen Ansatzes der Massenschauspiele und Massenspektakel des Volkes“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°62 vom 27.04.-02.05.1920. S.11f. - Zu den Sparzwängen im Bereich Dekoration für die Jahre 1918, 1919 und 1920 siehe Einleitung 4., FN110 und Kap.III.4., FN614. 808 Canetti/ c.[1960]1980.347. 809 Der Einsatz an der Kriegsfront eröffnete nicht bloß die Chance zusätzlicher Vergünstigungen gegenüber den Möglichkeiten an der „Kunstfront“ (Vinogradov-Mamont. [1966]1972.50.), sondern barg auch das höhere Risiko militärischer Sanktionierung (vgl. die parallele Rechtsprechung von Zivil- und Kriegsrecht: Kap.III.2., FN534 - Vgl. IV.1., FN665 und IV.2.2., FN726). 810 Fischer-Lichte, E.: „Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“. In: Fischer-Lichte/ Kolesch.(1998).14f. <?page no="260"?> K APITEL IV. 256 führung (improvisatorisches Handeln der Akteure, spontanes Eingreifen der Zuschauer, Dynamik und Atmosphäre nach Maßgabe wechselseitiger Beteiligung): obwohl letztere überwiegt, lässt sie sich ohne erstere nicht entwickeln. Zum anderen steuert es die Wechselbeziehung der Beteiligten untereinander. „Manöver“ und ‘Manöverhaftigkeit’ lassen sich somit modellhaft auf Lótmans Unterscheidung zweier Kommunikations-Systeme beziehen: Lótman zufolge ist die Interaktion zwischen Individuum und Sozium im russisch-orthodoxen Kulturkreis seit dem Mittelalter in zwei Systeme organisiert: Das „religiöse“ System besteht in einem Glauben, dessen Merkmale „Einseitigkeit“, „Fehlen von Zwangsausübung in den Beziehungen“, „Nicht- Äquivalenz“ (Fehlen jeglichen Austauschs) und „bedingungslose Gabe“ 811 das Modell der „Selbstübereignung“ einer Gruppe (eines Individuums) an die höhere Macht (vručénie sebjá vo vlast’) kennzeichnen, und damit nicht bloß das Kommunizieren, sondern auch den Glauben adressatlos, letztlich also gegenstandslos macht: „Eine Seite übereignet sich der anderen, ohne dass dieser Akt durch irgendwelche Bedingungen begleitet würde / .../ . Deshalb sind die Kommunikationsmittel in dem Fall keine Zeichen, sondern Symbole, deren Beschaffenheit die Möglichkeit einer Abweichung [otčuždénie] des Ausdrucks vom Inhalt ausschließt, und folglich auch die des Betrugs oder der Auslegung.“ 812 Folglich ist das Modell der „Selbstübereignung“ eine alle Bereiche umfassende Verabsolutierung des Symbols, was zu einer strikten Rollentrennung und Aufgabenteilung führt: „Indem sie das religiöse Empfinden auf die Staatlichkeit erweiterte, verlangte die soziale Psychologie dieses Typs von der Gesellschaft gewissermaßen die Übergabe der gesamten Semiosis an den Zaren, der zu einer symbolhaften Figur wurde, gewissermaßen zu einer lebenden Ikone. Das Schicksal der übrigen Gesellschaftsmitglieder wurde indes ein nullwertiges semiotisches Verhalten, von ihnen wurde eine rein praktische Tätigkeit verlangt. / .../ Den Untergebenen wird eine praktische Dienstpflicht abverlangt, die reale Resultate hervorbringt. Die Sorge um die soziale und zeichenhafte Seite ihres 811 Lotman.1993.346. 812 Ders.Ebd.345f. - Keines der beiden Modelle könne in Reinform in einer Weltreligion oder in einem Weltreich bestehen, woraus die Notwendigkeit eines „Verhandlungsspielraums“ für die Vitalität von Symbolen und der Kultur, aus der sie hervorgehen, scheinbar evident wird. Doch anders als im Römischen Imperium, wo sich das „von unten“ entstehende, christliche religiöse Prinzip mit dem heidnischen römischen „Vertragsrecht“ arrangiert habe, sei in der mittelalterlichen Kiever Rus’ - also recht spät (988 erfolgt die Taufe) - das christliche religiöse Prinzip „von oben“ eingeführt worden, und stigmatisierte fortan das schamanistische, magische „Vertragsmodell“ als „dunkle Macht“. (Ders.Ebd.347.) - Zum „magischen“ Prinzip siehe auch Hahn in Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.76f. <?page no="261"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 257 Lebens und ihrer Tätigkeit wird als ‘Faulheit’, ‘List’ oder gar als ‘Verrat’ empfunden.“ 813 Dem „religiösen“ steht in jeder Hinsicht das „magische“ System entgegen. Es besteht in einem Glauben an und einem Kommunizieren mit höhere/ n Mächte/ n, die mittels bestimmter Formeln und Praktiken gebändigt und gelenkt werden können, also ihrerseits einer übergeordneten Regelhaftigkeit unterstehen. Diesem mächtigen Regelwerk des „magischen“ Systems liegt das Modell des „Vertrags“ (dogovór) zugrunde, dessen Merkmale und Bedingungen „Gegenseitigkeit“, „Zwangsausübung“, „Äquivalenz“ (des konventionell-zeichenhaften Austauschs) und „Vertragsverbindlichkeit“ zwei ungleiche Gruppen (ver)handlungsfähig machen: „Allerdings setzt das Vorhandensein eines Vertrags auch die Möglichkeit seiner Verletzung voraus, im gleichen Maße, wie aus der Beschaffenheit eines konventionell-zeichenhaften Austauschs die potentielle Möglichkeit des Betrugs und der Desinformation hervorgeht. [kursiv MD]“ 814 Das Modell eines „Vertrags“ verfügt somit über einen Spielraum, der die Möglichkeit von Falsifizierung einerseits und von Rollentausch anderseits bereithält. Die Entstehungsgeschichte des S TURZES (IV.1., FN664 und IV.2.1., FN688/ 704) zeigt nicht nur eine wechselseitige, ‘dialogische’ Entwicklung referentieller und performativer Elemente. Ein weiterer Aspekt von ‘Manöverhaftigkeit’ im hier beschriebenen „Vertrags“-Sinne ist die damalige, breite Akzeptanz der Roten Armee, deren Funktionswandel anlässlich der frühen 813 Lotman.1993.351. - Hier wäre zu ergänzen, dass Lotman die dogmatische Seite der Orthodoxie für sein Religiositäts-Modell heranzieht, ohne auf die praktizierte, subversive Verfremdung von Geboten hinzuweisen, wie dies in der Faustregel ‘Konzil schlägt Kanon’ (Kap.II.1.2., FN352/ 355) zu sehen war. Ein Blick auf die Rahmen-Theorie von E. Goffman ergibt hier eine interessante Parallele: demnach ist eine Handlung gleich welcher Art fortsetzbar oder replizierbar (in der Tradierung einer Fertigkeit, als Darstellung in einem Kunstwerk), d.h. transformierbar. Die Transformation erfolgt in zwei Varianten, die dem hier dargestellten Vorgang der ‘Verifikation’ bzw. ‘Falsifikation’ im Anschluss an Lotman / Uspenskij entspricht: „Es scheint also, dass ein Stück Handlung zweierlei in die Welt setzen kann, dass es als Muster dienen kann, von dem zwei Arten von Ableitungen hergestellt werden: eine Modulation oder eine Täuschung.“ (Goffman.[1974]1993.98f.) Der Grad an „Selbstübereignung“, das Skandalöse am totalitären Cäsaropapismus / am autokratischen Zarismus byzantinischer Prägung tritt umso drastischer hervor, wenn man sich die ontische Notwendigkeit von (praktizierten) Kulturmustern vor Augen führt: „Die extreme Unspezifiziertheit, Ungerichtetheit und Veränderbarkeit der angeborenen (d.h. genetisch programmierten) Reaktionsfähigkeiten des Menschen bringt es mit sich, dass er ohne die Hilfe von Kulturmustern in seinen Funktionen defizient bliebe. / .../ Die Abhängigkeit des Menschen von Symbolen und Symbolsystemen ist derart groß, dass sie über seine kreatürliche Lebensfähigkeit entscheiden.“ (Geertz. [1983]1995.60. - Tenbruck in Lenk.1978.90f.) 814 Lotman.1993.345. <?page no="262"?> K APITEL IV. 258 Mai- und Oktober-Feiern beschrieben wurde („Der ‘mythologische Marsch’“, Kap.III.5.), und die von Piotróvskij als Kriterium genannt wird: „Die Umgebung, in der die ersten ernsthaften Versuche einer Gestaltung der Spektakel geprägt wurden und entstanden sind, indem sie aus den alltagsrituellen [sic] Grundlagen der Feier hervorgingen, war 1919 die Rote Armee. Das war kein Zufall. Die Einheiten der Roten Armee, die höchst aktive junge Leute enthielten und diese jungen Leute aus ihrem traditionellen Lebensalltag herausgerissen hatten, stellten auf natürliche Art und Weise die flexibelsten und energischsten Zellen einer neuen Lebensweise dar. Die militärische Organisation und Disziplin verlieh den in der Roten Armee entstehenden Vorhaben leicht Massencharakter und Bedeutsamkeit. Eine nicht geringe Rolle spielte auch das agitatorische Moment, welches von den militärischen Polit- Abteilungen ganz richtig berücksichtigt wurde. Daher ist die Vorrangstellung der Roten Armee hinsichtlich der Entwicklung der Feiern für die Jahre 1919- 1920 unbestreitbar.“ 815 Vor diesem Hintergrund wird Vsévolodskijs und Piotróvskijs jeweils erste Bestimmung von ‘Manöverhaftigkeit’ gegenstandslos, derzufolge die Militärparade eine Vorform der Insceniróvka sei. Wie in der Ablaufskizze des S TUR - ZES zu sehen war, agierten Soldaten, Veteranen und Matrosen eben nicht „im Namen von“ mitgeführten Obrigkeitsinsignien oder Führerporträts, sondern nur für sich und diejenigen, die ihre Erfahrung, ihren Rang und ihren Status teilten: „Wir zeigen nur das, was wir selbst erlitten haben zusammen mit den Volksmassen, wofür wir selbst unser Blut vergossen haben. [kursiv MD]“ (IV.2.1., FN702). Dabei wurde im engen Einbezug der Zuschauer die vorerst unvollständige Semantik neuer Werte auf die etablierte Syntax ritueller und liturgischer Praktiken bezogen (die Reinigung vor dem Einsatz; die Verständigung über Lieder, Wechselgesang, Chorale; der Wechsel vom linearen Gehorsam zur mehrseitigen Solidarität; der Übergang von der Aufmerksamkeit im Stehen zur proxemischen Aktion) — ein Vorgang, der eine ‘dialogische’ Revision oder gar Erneuerung von Symbolen und Ritualen vollzieht. 815 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.56f. - Das Kriegskommissariat (VoenKom) als offizieller Veranstalter des S TURZES wusste diese Akzeptanz wohl zu mehren: „Die Abteilung für Kultur und Bildung des Kriegskommissariats hat eine spezielle Theatersektion gegründet, die mit der Ausarbeitung eines Planes für ein Theater der Roten Armee beauftragt wurde, welches die Avantgarde eines neuen Arbeiter-und- Bauern-Theaters darstellen soll. Die nunmehr gebildete Theatersektion hat ihre Arbeit bereits aufgenommen.“ (NN: „Chronika — Teatr Krasnoj Armii“ [„Chronik — Das Theater der Roten Armee“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°79 vom 15.02.1919. S.2.) Zu diesem Zeitpunkt hatten diverse Behörden (VoenKom, NarKomPros) und Verbände (Proletkult, Gewerkschaften) jeweils relativ unabhängig funktionierende Kultur- / Theaterabteilungen. Spätestens 1920 wurden sie zentralisiert und dem NarKomPros einverleibt. <?page no="263"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 259 Im Kommunikationsvorgang einer Militärparade aktualisiert sich hingegen eine Hierarchie, die gerade nicht ‘teilt’, sondern sich in ‘Kontrolleure’ und ‘Kontrollierte’ spaltet, und damit dem Modell der „Selbstübereignung“ (Lótman) entspricht. Diese Praxis entsteht - wie schon erwähnt - eben nicht seit Beginn der Revolutionsfeiern und Manöverinszenierungen, sondern erst mit der W ELTKOMMUNE (Juli 1920) und der E RSTÜRMUNG (November 1920), d.h. im Vorfeld der NÖP-Zeit (1921-28). Und sie entfaltet sich erst Mitte der 1920er Jahre 816 , wo sie entsprechend eine konkrete bauliche bzw. architektonische ‘Kontrollinstanz’ aufweist: „Das wohl wichtigste Element, das die gesamte Handlung auf sich ‘kurzschließt’, wird nun die Tribüne, an der die Demonstranten vorbeimarschieren. / .../ Während in den vorrevolutionären und ersten nachrevolutionären Jahren die Demonstration, die / .../ eine ‘Syntax’ des Kreuzganges nachzeichnete, nicht den Einbezug eines sie wahrnehmenden und bewertenden Subjekts in ihre Struktur erforderte, so tritt dieses Subjekt nun in Erscheinung. ‘Die empfangende Organisation’ wird zu einem notwendigen Attribut des Rituals. / .../ Wenn früher der ‘sakrale Kontakt’ mit dem Existenzial in der Seele eines jeden Demonstrationsteilnehmers stattfand und [hierfür] keine äußeren Manifestationen benötigte (auf dieser Ebene waren alle Teilnehmer einander gleich), so ‘materialisierte’ sich nun diese ideelle Prozedur, sie verlangte eine deutliche Ausdrucksform. [fett MD]“ 817 Von hier aus lässt sich eine Neubestimmung von ‘Manöverhaftigkeit’ als spezifisches Merkmal oder Wirkprinzip der Insceniróvka im militärischen Milieu vornehmen. Mit Blick auf die russische Formale Schule („Spezifizierung“) und in Anlehnung an Geertz’ „religiöse Disposition“ (Kap.II.1.2., FN366), ist die ‘Manöverhaftigkeit’ zum einen als ein ästhetischer Spielraum zu unterscheiden vom „Manöver“ als einer logistischen Bedingung (welche Mazáev als einziges Merkmal nennt). Wie schon anlässlich der Frage der „unechten“ Barrikaden dargelegt (Kap.I.1.4.), sind revolutionsspezifische Objekte, Bewegungen, Töne etc. nur schwer semiotisierbar, d.h. kaum von / aus der Kriegsrealität abzulösen, und werden einerseits als überwiegend ‘echt’ wahrgenommen. Als theatrale Wirklichkeit konfiguriert (durch besondere Markierungen: farbliche oder lautliche Betonungen; durch den unspezifischen Einsatz in symmetrischen Arrangements oder synchronen Abläufen), erhalten die Personen, Attribute, Vorgänge etc. einen stilisierten Charakter, und werden anderseits als tendenziell verfremdet empfunden. Dieser 816 Lane.1981.159.+164. 817 Glebkin.1998.100f. - Siehe hierzu die Tribüne in der E RSTÜRMUNG (Kap.VI.4., VI.5.1.). - Bei der Herausbildung neuer architektonischer Gattungen (vom Kiosk bis zum Palast der Sowjets) wird die Tribüne zu einem eigenständigen Motiv / Element bei Architektur- und Design-Wettbewerben oder in Planungsentwürfen komplexer Bauprojekte im öffentlichen Bereich. (Strigalëv.(1981).116.) <?page no="264"?> K APITEL IV. 260 Mechanismus bewirkt keine „naturalistische“ oder referentielle Verlängerung, sondern die reflexive Verschiebung der Ausgangssituation (siehe „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3.). So ist die militärische Rückbindung der ‘Manöverhaftigkeit’ materiell bedingt, während ihre ästhetische Überschreitung performativ verläuft und verschiedene ‘Wirklichkeitsreihen’ (Kap.I.1.5.) verbindet. Zum anderen lässt sich ‘Manöverhaftigkeit’ im Anschluss an Lótman und ergänzend zu Piotróvskijs zweiter Bestimmung als ein sozialer, ‘dialogischer’ Spielraum begreifen, der die militärische Hierarchie zu einem zivilen Soziotop hin überschreitet und verschiedene Milieus oder ‘Welten’ verbindet. Diese Öffnung fördert einen Rollentausch und Perspektiv-Wechsel der Akteure, die zwar als feste Armee-Truppe organisiert bleiben, sich aber zugleich als variable Theater-Truppe sortieren. Während die ästhetischen Grenzüberschreitungen so vielfältig sind wie die konfigurierten, abgestuften ‘Wirklichkeitsreihen’, lassen sich die sozialen Grenzüberschreitungen in zweierlei Hinsicht genauer bestimmen. Die Ablösung vom traditionellen, militärischen ‘Sperrbezirk’ erfolgt erstens als eine Kompetenzerweiterung nach außen: Im Unterschied zu regulären Formationen demonstriert eine Einheit wie die „Theaterwerkstatt“ ein völlig anderes Selbstverständnis sowie neue Fähigkeiten bei der Artikulierung und Erprobung, Darstellung und Vertretung eigener Belange. Erstmals zeigen Soldaten, dass sie außer zu gehorchen und zu verteidigen (d.h. erobern und sichern, aber auch plündern und töten) in der Lage sind, auch jenseits von Flüchen, Zoten und Exzessen selbstbestimmt und überlegt zu entscheiden und zu handeln. Erstmals zeigen Soldaten auch, dass es einen Kampfgeist jenseits des „Befehlsnotstands“, jenseits standartisierter Situationen oder zermoniöser Außendarstellungen geben kann. Mit und durch ein originäres und variables Spektakel wie den S TURZ bestimmen die Rot-Armisten selbst, welche ihrer Erfahrungen in welchem Maße verarbeitet, geformt, und tradiert werden sollen, und in welcher Weise und bis zu welchem Grade die Zuschauer zu erreichen sind. Sie können individuell und kollektiv ein Meinungsbild von historischen, aktuellen, bevorstehenden Entwicklungen herstellen, neue Bezüge und Bedeutungen entdecken und darin sich und ihresgleichen eine Rolle und einen Sinn zuordnen. Die hohe, wechselseitige Identifikation zeigt, dass die mit--geteilten Eindrücke, Werte, Empfindungen und Ansichten berufen und berechtigt sind, auch weiterhin aus diesem oder einem vergleichbaren Zusammenhang und Kreis heraus aufgeführt und vertreten zu werden. Den Kombattanten eröffnet sich so die Möglichkeit, der obligaten Leistungsoptimierung von ‘außen’ oder von ‘oben’ fakultative (ästhetische) Werte aus ihrer Mitte entgegenzusetzen, aufrechtzuerhalten (und notfalls durchzufechten). Die aktuelle, theatrale Selbstorganisation trägt dazu bei, ihre Rechte und Positionen zu sichern und zu erneuern, die in der militärischen Selbstorganisation (Soldatenräte) mit der <?page no="265"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 261 Eroberung ziviler Werte sowie in der Studiotheater-Bewegung mit der Erprobung eigener Verfahren bereits seit 1905 legitimiert und bewährt waren. 818 Zweitens wirkt sich die Ablösung vom traditionellen, militärischen ‘Sperrbezirk’ als eine Kompetenzerweiterung nach innen aus: Mit und durch den S TURZ waren die Soldaten der „Theaterwerkstatt“ von reinen Befehlsempfängern - wenn auch nur vorübergehend oder eingeschränkt - zu Weisungsbefugten geworden. Die sonst nach außen gerichtete Gewaltausübung gegen wuchernde Probleme (Feind, Front, Erschöpfung, Parasiten, Seuchen, Verluste, Verheerungen) konnte entzerrt und entschärft werden, indem sie zu einem internen Lösungsansatz für die Darstellung von Gegnern oder auch Erfolgen fokussiert und in ein spielerisches Kräftemessen unter Gleichgestellten verwandelt wurde. Von entscheidender und unschätzbarer Bedeutung dabei ist, dass die Soldaten und Matrosen hierfür Erinnerungen und Erfahrungen nutzten, Überlegungen anstellten, Fähigkeiten verfremdeten und Fertigkeiten entwickelten, die ihnen (oder ihresgleichen in der Vergangenheit) niemals zuvor von niemandem abverlangt worden waren. Erstmals wurde die Bedeutung eines Menschen nicht in PS berechnet (Einleitung, ❐ 5). Erstmals wurde das ‘Innenleben’ des „Bauern in Uniform“ nicht nur als existent vermutet, sondern: als respektwürdig erachtet. Erstmals erhielt sein intellektuelles und ästhetisches Vermögen und Vergnügen - so primitiv, gering oder ungeübt es auch gewesen sein mag - einen persönlichen Wert (und nicht bloß eine private Bedeutung) und überdies einen öffentlichen Mehrwert. Erstmals wuchs ihm überhaupt eine anerkannte Zuständigkeit und Verantwortung als ‘Zeichensetzer’, Wertschöpfer und Sinnstifter zu (undenkbar für die zaristische Hybris: FN813! ). Erstmals ging es um die Darbietung seiner Person und Identität (Namen! ), seiner Integrität und seines Körpers: nicht als Verschleiß-Masse oder als „Opfer“, sondern als Frucht und „Ertrag“ — ein naturrechtlicher Wert, der nicht hierarchisch verliehen, deklariert oder 818 Ab 1905 konstituieren Arbeiter, Bauern und Soldaten ihre eigenen Entscheidungsstrukturen, die sich in der Folge zu „Räten“ (sovety = Sowjets) ausdifferenzieren. So hatte das Militär bis 1917 Soldatenausschüsse, Milizen und Frontkomitees gebildet, d.h. das Prinzip „Mitbestimmung“ etabliert. (Anweiler.1958.61f. - Altrichter.1997. 261f.) „Durch Dekret vom 23.April 1918 [vielmehr vom 22.04.1918: „Dekret VCIK o porjadke zameščenija dolžnostej v Raboče-Krest’janskoj Krasnoj Armii [„Dekret des VCIK zur Dienst-und-Einsatz-Ordnung in der Roten Arbeiter-und-Bauern-Armee“] - MD] wird die Wahl der Kommandeure seitens der Soldaten abgeschafft. Durch Dekret vom 8. April [1918] werden die Befugnisse der Militärkommissare festgelegt, dieser ‘Organe der Sowjetgewalt’ bei der Armee.“ (Miliukow.1925.73.) Zusammen mit dem Dekret vom 22.04.1918 zur „Pflichtausbildung in Kriegskunst“, d.h. zur allgemeinen Wehrpflicht (Kap.III.2., FN530) wurde die Basis für ein neues Heer gelegt und die alten, autoritären Gehorsamsstrukturen re--installiert. Etwa zeitgleich zur Bildung der ersten Räte entstehen die ersten Theaterstudios im Umfeld des Moskauer Künstlertheaters (MChT). Im weiteren Sinne gehören die bereits erwähnten „Gottsucher“ zu einer vergleichbaren Bewegung informeller bzw. dezentraler und selbstverwalteter Strukturen (vgl. Einleitung 1., FN1 und Kap.II.3., FN470). <?page no="266"?> K APITEL IV. 262 dekretiert, sondern nur gleichberechtigt erkämpft, erfahren und beglaubigt werden kann. Was der „Bürger“-Status der ersten Dekrete nur nominell in Aussicht gestellt hatte (Kap.III.2.), wurde vor einer konkreten Zeugen- und Zuschauerschaft wenigstens entwurfsweise realisiert: das „Vertragsverhältnis“ (Lótman) der „Theaterwerkstatt“ bot den Schutz- und Freiraum, die vormalige Überforderung durch Rollenvorgaben (Kap.I.3.) in eine Erprobung von Rollenverhalten zu verwandeln. So konnte der Rot-Armist auf seinen älteren Status als Zivilist zurück- und auf seinen künftigen Status als sich und seine Umwelt formender Demobilisierter vorgreifen. Er war damit kein eingespielter Bürger, aber ein engagierter Bürge, und die Insceniróvka eine ‘performative Bürgschaft’ für die bitter erhoffte Friedenszeit. Welche Zumutungen noch zu erwarten waren, welche Hoffnungen auch verloren gehen würden — die Erfahrung eines neuen Selbstwerts - begründet und beglaubigt in und durch eine Insceniróvka dieses Typs - war unhintergehbar, unleugbar und irreversibel. In dieser Bedeutungsperspektive erweist sich der S TURZ als das „Zeugniswerk“ (Florénskij: Kap.II.3., FN507) eines Soziotops. Exkurs zum R ITUAL , orthodox gefasst: „Liminalität“ - „Communitas“ - „Theatralität“ Mit dem S TURZ als Vollzug einer inneren und äußeren Aufwertung, dessen Ritual nicht bloß dargestellt und behauptet, sondern bei jeder Aufführung tatsächlich vollzogen und erlebt wurde, stellt sich indes das Problem einer begrifflichen Erläuterung. Wenn in der Forschung vom Ritual die Rede ist, wird seine kulturelle Situierung stets soweit vorkonfektioniert mitgeliefert, dass selbst der Balinesische Hahnenkampf wie selbstverständlich zwischen zwei europäischen „Ritualsprachen“ 819 („katholische Theologie“ vs. „protestantische Kritik“) ausgetragen wird. Kurioserweise bleibt eine systematisierende anthropologische Ritualdefinition jedoch weiterhin ein Desiderat. Dieser Exkurs unternimmt daher den vielleicht exotischen Versuch, jene ‘Lexeme’ oder Aspekte der westlichen Ritualforschung zu bündeln, die der orthodoxen Denktradition in der dargestellten Zeitenwende am nächsten kommen, und den hier geführten Ritualbegriff bestimmen. Im Anschluss an das eingangs dargestellte Verhältnis zwischen Fest und Ritual (Einleitung 3., FN40/ 48) werden die bisherigen Einlassungen und Implikationen zum Ritual mit einigen spezifischen und konstitutiven Merkmalen - also Kriterien - ergänzt. In formaler Hinsicht vermag das Ritual seine unspezifischen Merkmale mit dem Fest zu teilen (Kap.V.4.: Kontingenz - „Weg“ - ‘Matrix’), in struktureller Hinsicht (und hier setzt seine Spezifik ein) hat es jedoch eine deutliche Affinität zur Feier (Konzept - „Karte“ - ‘Metrum’). Funktional ist es am allerwenigsten das, was ihm gelegent- 819 Davis nach Köpping/ Rao.2000.26. <?page no="267"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 263 lich unterstellt wird: ein zeremoniöses Relikt oder ein bedeutungsloser Atavismus 820 . Seine Bedeutung zielt weniger auf eine symbolhaft kodierte Information („Mythos“) als auf die Bedeutsamkeit oder Außeralltäglichkeit symbolhaft vollzogener Handlung, die dazu beiträgt, den kontigenten Alltag einzuordnen und zu überhöhen (und nicht dazu, um eine vorfindliche Religion zu ‘bedienen’) 821 : „Rituelle Performativität repräsentiert nicht nur die Bedeutung - wie das Symbol -, und sie offenbart auch nicht nur etwas (ganz) Anderes - wie die Allegorie, sondern sie generiert in ihrem Vollzug Bedeutung, indem sie auf ihren Kontext, ihre Konventionalität und ihre Effekte verweist.“ 822 D. Gellner warnt vor zuviel Funktionalismus und vor einer Verkürzung des Rituals auf allzu eingeschliffene, monotheistischmessianische Denktraditionen. Dagegen postuliert er drei Arten von Religion, die er aus dem jeweiligen Ritualtypus deduziert (was m.E. die Idee wachhält, es könnte umgekehrt sein: dass es die Verhaltensmuster sind, aus denen die Religionen hervorgehen. Siehe dazu Vsévolodskijs Befund [1929] zur Evolution dreier Grundhandlungsarten: Kap.II.2., FN441/ 442). Gleichwohl bleibt auch bei Gellner die Verwandschaft zur Familie der „Übergangsriten“ bestehen (die Gennep als Drei-Phasen-Modell bestimmt hatte, mit einer „Ablösungs-“, einer „Zwischen-“ oder „Schwellen-“ und einer „Integrationsphase“), denn alle drei Varianten sind mit dem Überbrücken einer gehörigen Distanz, der Bewältigung eines bedeutenden Umbruchs oder dem Erreichen eines wichtigen Ziels verknüpft 823 (also mit einer klaren und 820 Ich überspringe die umgangssprachlichen Niederungen, denen zufolge ein Ritual bloße Routine sei (selbst die hat eine konkrete Funktion und Bedeutung, und meist einen zeremonialen Kern), etwa bei politischen Verlautbarungen, Auftritten und Ereignissen. Auch sind Maria Callas oder Marilyn Monroe - nebenbei bemerkt - in vielerlei Hinsicht gewiss bemerkenswert, aber: eben keine Ikonen. 821 „Die Einstellung eines Golfspielers zu seinem Sport läßt sich zwar durchaus als ‘religiöse’ beschreiben [vgl. Kap.II.1.2., FN366 - MD], aber nicht schon dann, wenn er ihn nur leidenschaftlich gerne und bloß sonntags betreibt: er muss in ihm außerdem ein Symbol für transzendente Wahrheiten sehen.“ (Geertz.[1983]1995.59.) 822 Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).108. 823 „Die Kategorie ‘Religion’ muss dekonstruiert und durch eine Hierarchie von (mindestens) drei Typen der Religion ersetzt werden. Zunächst kommt die Soteriologie oder die Erlösungsreligion. Als zweite kommt die soziale oder kommunale Religion, über welche Durkheim theoretisiert hat und wofür sich dessen Theorie bestens eignet. Drittens gibt es die instrumentelle Religion, einen Versuch, spezifische Dinge in der Welt zu erlangen [eine Krankheit zu heilen, eine Prüfung zu bestehen - fett und kursiv MD].“ (Gellner, D.N.: „Religion, Politik und Ritual: Bemerkungen zu Geertz und Bloch“. In: Caduff/ Pfaff-Czarnecka.1999.58.) In Abwandlung der traditionellen Klassifizierung kosmischer (kalendarischer) und lebenszyklischer Rituale unterscheiden Wulf und Zirfas folgende Ritual-Typen: „Betonen Rituale einen Übergang in räumlicher, zeitlicher, identifikatorischer oder sozialer Hinsicht, so verwenden wir den klassischen Begriff der Übergangsrituale von Gennep <?page no="268"?> K APITEL IV. 264 bedeutenden Funktion! ) — was in dieser Arbeit grundsätzlich als ‘Statusänderung’ begriffen und hier (mit Blick auf das orthodoxe Handlungsgebot) besonders akzentuiert wird 824 : denn stärker als der ‘Wechsel’ verleiht die Änderung einer Situation die notwendige Deutlichkeit, um ihr eine „Statuswürde“ (Hahn) zu sichern, und damit überhaupt eine „Kultfähigkeit“ herzustellen 825 . Das hier favorisierte Paradigma ‘Statusänderung’ leistet mehr, als die traditionelle Klassifikation von kalendarischen und lebenszyklischen Riten fortzusetzen 826 : wie gleich noch gezeigt wird, bleibt es in den wechselvollsten und filigransten sozialen Situationen verifizierbar. Das Verhältnis lässt sich auf folgende Formel bringen: Ein Ritual markiert / beglaubigt eine Statusänderung, aber nicht jede Statusänderung (z.B. eine Prüfung) ist ein Ritual: um als solches kenntlich zu werden, bedarf das Ritual einer besonderen Inszenierung und Aufführung, die weitestgehend den Parametern einer Theatersituation entsprechen können. In beiden Fällen erkennen die Kulturanthropologen weniger eine Handlungsform als einen Handlungsmodus 827 , der beim / .../ ; betonen Rituale den Charakter der Krisenbewältigung bestehender Sozialitäten oder verstärken sie deren Zusammenhalt, so sprechen wir von konnektiven Ritualen.“ (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).97.) - Vgl. dazu „konnektive Rituale“ und „Vitalisierungs-Rituale“ bei Glebkin (Einleitung 4., FN142). 824 Soweit ersichtlich, formulieren Durkheim und Geertz am deutlichsten den Aspekt der Veränderung und ihrer Verbindlichkeit für das Ritual: „Das [den Übergang von einer Welt in die andere, MD] beweisen vor allem die Initiationsriten, wie sie bei vielen Völkern gebräuchlich sind. / .../ Man faßt diesen Wechsel nicht wie die einfache und gewöhnliche Entwicklung von bereits existierenden Keimen auf, sondern wie eine Verwandlung totius substantiae.“ (Durkheim.[1912]1981.65.+290.) - „Jemand, der beim Ritual in das von religiösen Vorstellungen bestimmte Bedeutungssystem ‘gesprungen’ ist / .../ und nach Beendigung desselben wieder in die Welt des Common sense zurückkehrt, ist - mit Ausnahme der wenigen Fälle, wo die Erfahrung folgenlos bleibt - verändert. Und so wie der Betreffende verändert ist, ist auch die Welt des Common sense verändert, denn sie wird jetzt nur noch als Teil einer umfassenderen Wirklichkeit gesehen, die sie zurechtrückt und ergänzt.“ (Geertz.[1983]1995.90.) Wulf und Zirfas begreifen das Ritual als eine „symbolische Inszenierung der Differenzbearbeitung“. Von Letzterer unterscheidet sich die ‘Statusänderung’ im oben ausgeführten Sinne durch das Bewusstsein oder gar Herausstellen ihres angestrebten Zwecks. Wulf und Zirfas hingegen schreiben dem Ritual eine ludische Komponente zu, die solch ein Bewusstsein tendenziell ‘überspielt’: „Diese ludische Inszenierung vermeidet es, Gemeinschaftbeziehungen auf kausale oder finale, vor allem aber reflexive Sinnstiftungen zu reduzieren.“ (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).108.+ 110.) 825 Hahn in Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.56f. - Zu den Stichworten „Reinheit“, „Statusreinheit“, „Statuswürde“, „Kultfähigkeit“ und „Kulturfähigkeit“ siehe IV.5.1., FN780. 826 Turner.[1969]2000.161f. 827 Neben den „Meinungen“ und „Vorstellungen“ („Glaubensüberzeugungen“ > „Denken“) sind es die „Handlungsweisen“ und „Verhaltensregeln“ („Riten“ > „Tun“), die Durkheim zufolge religiöse Phänomene kennzeichnen. (Durkheim.[1912]1981. <?page no="269"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 265 Ritual mit der ‘Initialzündung’ des „ritual commitment / stance“ (bei Michaels: „förmlicher Beschluß“ oder „intentio solemnis“) einsetzt: erst die besondere „Übereinkunft / Haltung“, die Bereitschaft zur Teilhabe am Ritual macht aus einem Kopfsenken eine rituelle Verbeugung, wobei die Intention der partikularen Handlung in eine übergreifende Intentionalität vorgeprägter (überlieferter) Sequenzen hinübergleitet. 828 Turner stellt erstmals den grundlegenen transformativen Mechanismus des Rituals heraus und bevorzugt später den Begriff „Zustandsänderung“ 829 , der jedoch den Kunstbzw. Konstrukt-Charakter ausklammert (auch ein Wetterwechsel ist eine Zustandsänderung), sowie zwei Konstituanten, die andernorts wiederum mit „Communitas“ und „Liminalität“ prägnant herausgestellt werden: demnach ist das Ritual ein öffentlichkeitsbezogener und gemeinschaftsstiftender Akt und ein grenzwertiger / grenzüberschreitender Vorgang. Die „Liminalität“ des Rituals ist dreifach begründet: sie bestimmt sich durch seinen Anlass (eine „Krise“ 830 , worin Normen und Regeln an ihre Grenzen 61.+67. - fett MD) - Gleiches gilt für den säkularen Bereich: siehe Humphrey und Laidlaw („The view that ritual is a quality of action, and not a class of events or institutions / .../ “) im Anschluss an C. Bell („/ .../ that it is best to abandon the focus on rituals as a set of independently existing objects in favour of a focus on the common strategies of ritualization (1992: 219).“ (Humphrey/ Laidlaw.1994.3., bes.71., 88., 93.) 828 Humphrey/ Laidlaw.1994.89., 93f., 97f. - Infolgedessen attestieren Humphrey und Laidlaw den Ritual-Teilnehmern eine Art ‘verminderte Schuldfähigkeit’ oder ein ‘gedämpftes Bewusstsein’ (vgl. dagegen Huizinga, der in der Spiel- und Kulthandlung keinen ‘Verlust’ sieht, sondern zwei virulente, ‘schwebende’ Bewusstseins-Ebenen: Huizinga.[1938]1994.33f.): „You have still done it, whatever you were dreaming off. / .../ The peculiar fascination of ritual lies in the fact that here, as in few other human activities, the actors both are, and are not, the authors of their acts. / .../ Ritual actors, we have said, are not directly authors of their acts, and their individual intention do not define what it is that they do.“ (Humphrey/ Laidlaw.1994.5.+261.) Die Extremposition dieser Logik erscheint indes fragwürdig: „So the identity of ritual acts is not established by intentions, even though the action is performed intentionally. / .../ Our own analysis in this book has also highlighted this last point, that ritual action appears to have an independent objective existence.“ (Dies.Ebd.100.+262.) Siehe dagegen folgende Aussage: „People certainly act as representatives of groups and categories both in and outside ritual; but it remains the case with ritual, as it does not for acting both in a play and under orders, that the actor is also the acknowledged and responsible agent.“ (Dies.Ebd.106.) Diese Zitate sind Paradebeispiele für das Problem, das Ritual einzukreisen, ohne hierfür Gegensätze und Dichotomien zu bemühen (siehe Einleitung 5., FN190/ 192). 829 „Ritual is transformative, ceremony confirmatory.“ (Turner (1964), zitiert nach Michaels, in: Caduff/ Pfaff-Czarnecka.1999.38.) - „‘Zustand’ ist ein umfassenderer Begriff als ‘Status’ oder ‘Amt’ und bezeichnet jeden kulturell definierten, stabilen oder wiederkehrenden Zustand.“ (Turner.[1969]2000.94.) 830 In historischen Umbruchzeiten überlagert die ‘katastrophische’ Bedeutung den ethymologischen Ursprung des Begriffs „Krise“ („Entscheidung“). Wulf und Zirfas sprechen generell von „Differenzerfahrungen“ (Brüche, Übergänge, Krisen). Dementspre- <?page no="270"?> K APITEL IV. 266 stoßen, d.h. unwirksam oder fragwürdig werden) (1.), ebenso wie durch seinen Vollzug, der eine „Schwellenphase“ (Gennep, s.o.) durchläuft (worin Grenzen revidiert, ver- und entworfen werden) (2.), und der schließlich neue Grenzen setzt und „absolute“ Konsequenzen zeitigt (3.). Gelingt das Ritual, erfährt der Einzelne oder eine Situation (eine Gemeinschaft) einen auf längere Dauer angelegten Wandel in die gewünschte Richtung. Misslingt es, ist der Rückschlag entweder definitiv (Gesichts- / Statusverlust), oder so radikal, dass die gesamte Prozedur erneuert werden muss (der Begriff „Zustandsänderung“ verdeckt diese mögliche ‘Dramatik’) 831 . Der erlangte Status ist also irreversibel (obgleich wandelbar) und das entsprechende Ritual unwiederholbar (obgleich repetitiv). Beides ist nur durch ein anderes Ritual modifizierbar: man ist nur einmal mit derselben Person „verheiratet“ — danach ist man „geschieden“, „verwitwet“, oder „wiederverheiratet“, aber nie wieder „ledig“. Im Unterschied zur Durchführung, die nur kollektiv erfolgen kann, spielen sich die Auswirkungen des Rituals auf der biographischen Ebene ab. Umgekehrt behält die persönliche, subjektbezogene (nicht: „subjektive“) Auswirkung ihre öffentliche Prägung: das Verhältnis, welches das Ritual zwischen dem Einzelnen und seinem Umfeld etabliert, ist reziprok (das Jawort gilt nicht weniger der Institution als der Person). Zu behaupten, das Ritual sei sozialchemisch inert, d.h. „unveränderlich“, da „gegen den Wechsel“ gerichtet (Michaels) 832 , bedeutet also nicht bloß, die Spezifik seiner Liminalität zu verfehlen und sein ludisches Potenzial zu verkennen 833 . Es bedeutet vor allem, die Zusammensetzung und Erwartungen, Erfahrungen und Spielräume seiner Teilnehmer zu ignorieren, und das Ritual auf die Formalität seiner Vorschriften zu verkürzen, anstatt es auf die Performativität und Wirkung - auf die Emergenz - seiner Auf- / Ausführung zu beziehen. Das Risiko der hier beleuchteten Aspekte drückt der Begriff ‘Statusänderung’ aus, deren Ritual an eine weltliche „Zurechnungs- Instanz“ (Tenbruck, Otto, Hahn) oder einen „heiligen Adressaten“ (Durkheim, Otto, Gehlen) appelliert (Einleitung 5., FN195/ 198). Jedes Soziotop fungiert als autoritative und vitale Basis für das soziale chend begreifen sie das Ritual als ein „Handlungssystem der Differenzbearbeitung“, oder auch als eine „symbolische Inszenierung der Differenzbearbeitung“. (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).96f., 108., 110.) 831 Köpping/ Rao.2000.25. 832 Michaels in Caduff/ Pfaff-Czarnecka.1999.34.+44. 833 Durkheim.[1912]1981.513. - Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).100.+110. - „Die ludische Seite gewährt Entscheidungsmöglichkeiten, ohne dass die Rituale Teile ihrer Funktion und Macht verlören.“ (Wulf in Fischer-Lichte/ Kolesch.(1998).258. - Wulf/ b.1997.1035.) <?page no="271"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 267 Bestehen / Fortkommen 834 des Einzelnen, und stellt gleichsam eine wechselseitige Implikation von Individuum und Sozium dar 835 : denn dem Soziotop obliegt die ‘Verwaltung’ des Status, den man sich ebensowenig selbst ausstellen kann wie ein Zeugnis oder eine Rezension (Kap.VI.1., FN984) 836 . Die primäre, manifeste Öffentlichkeit eines Rituals sind die anwesenden Teilnehmer selbst, um derentwillen und derentwegen es stattfindet, und wofür ihre leibhaftige Präsenz, der mimetische Vollzug sowie ein energetischer Austausch unerlässliche Bedingungen sind 837 . Darüberhinaus tritt eine weitere, ideelle oder transzendente Öffentlichkeit in Form von anerkannten (nicht notwendig institutionellen) Autoritäten hinzu, die bloß informell aktualisiert 834 Für den Wirkmechanismus der Instanz / Autorität ‘Soziotop’ bilden sich im frühen 20.Jh. zwei prominente Begriffe heraus: „Ehrfurcht“ (É. Durkheim in Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1912), und „Charisma“ (M. Weber in Wirtschaft und Gesellschaft, 1922). 835 Durkheim.[1912]1981.285., 294., bes.309.+313. - Zum Transfer der „Ehrfurcht“ bzw. Autorität von der Gesellschaft auf das Individuum siehe: Ders.Ebd.286f. - „Der soziale Raum ist eben doch die erste und letzte Realität, denn noch die Vorstellungen, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt.“ (Bourdieu, P.: „Sozialer Raum, symbolischer Raum“ (1989). In: Dünne, J. / Günzel, S. (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006. S.366.) 836 Wulf und Zirfas verweisen in dem Zusammenhang auf P. Bourdieu, dem zufolge „performative Prozesse immer auch Anerkennungsprozesse sind. [fett MD]“ Diese erfolgen als Zuschreibungen von Rollen, Kompetenz und Können, woraus „instituierte Attribuierungen“ entstehen, die besonders bei „Einsetzungsriten“ („rites d’institution“) gelten. (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).98.) 837 „Erst der im mimetischen Handeln gegebene Spielraum macht eine individuelle Aneignung von Ritualen möglich. / .../ Erst durch die Mimesis kollektiver kultureller Traditionen kommt es zu einer Selbstvergewisserung des Miteinanders, der Gemeinschaft und der Kommunität.“ (Wulf/ b.1997.1031.) - Zum Körper als Medium von „Gemeinschaft“ und „Grenze“ siehe: Köpping, K.-P. / Rao, U.: „Zwischenräume“. In: Fischer- Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.235f. Dass Beglaubigungsstrategien auch in Bezug auf die leibhaftige Präsenz der Ritualteilnehmer einem historischen Wandel unterliegen, zeigt der frühneuzeitliche Repräsentationsbegriff am Beispiel der Investitur des abwesenden sächsischen Kurfürsten Johann Georg II. in den Hosenband-Orden. In einem komplexen Repräsentationsakt kleiner und großer Tauschhandlungen wird das abwesende corpus naturale nicht etwa „vertreten“, sondern als corpus politicum inszeniert, nicht im Sinne von „darstellerisch abgebildet“, sondern im Sinne von „beweiskräftig vergegenwärtigt“. Die zentralen Kriterien des Rituals („ritual commitment“, FN797 - „Liminalität“ / Transformation - „Communitas“ / Öffentlichkeit) bleiben trotz der fehlenden Konstituante einer „leibhaftigen Präsenz“ der zentralen Figur wirksam im mimetischen Vollzug der übrigen Teilnehmer - realisiert in der und durch die Inszenierung: „Der natürliche Körper des Herrschers und die natürlichen Körper der Untertanen traten in wechselseitige, durch das Zeremoniell geregelte Handlungsbeziehungen und transformierten sich im Aktionszusammenhang zum corpus politicum.“ (Horn/ Warstat in Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.429f.) <?page no="272"?> K APITEL IV. 268 oder intendiert gegenwärtig ist (die Meinungs- und Versammlungsfreiheit; das Recht auf „happiness and safety“ 838 ). Regulär sind immer beide Aspekte aufgerufen, denn bereits die konkreten Ritual-Teilnehmer (ohne eine weitere, ideelle Autorität) sind mehr als ihre Summe: keine addierten Wesen, sondern eine potenzierte Macht (dieser Effekt setzt bekanntlich bereits ab zwei Personen ein). Jede der bisher aufgeführten Konstituanten ist bis zu einem gewissen Grad variabel, und in der Wechselwirkung entsteht ein selbst- / reflexiver Spielraum 839 , wie folgendes Beispiel zeigt: Wenn traditionsferne, konfessionslose Eltern den Milchzahn ihres Kindes verwahren und dazu eine Feier mit Gästen ausrichten, ist das ein außeralltäglicher Akt „im Namen von“ transzendenten Größen: des eigenen Andenkens an das Großwerden, des als Erwachsenen imaginierten Kindes, der erhofften gemeinsamen Zukunft, in der das wechselseitige Erinnern oder auch eine Übergabe des Zahns stattfinden kann. Der Zweck mag sein, die Vorstellungskraft und Beschwörungsleistung solch ideeller, präfigurativer Prozesse über einen großen Zeitraum aufrecht- und durch das materielle Objekt anschaulich zu erhalten. Erfolgt diese intime (nicht: „private“) Veranstaltung in inszenierter Form, ist es ein Ritual, das den Milchzahn vielleicht weniger zu einer Reliquie als zu einem Katalysator, und die Beteiligten zu Akteuren und Zeugen dieser und ihrer eigenen Transformation macht 840 : weniger das Transformierte (ein Zahn ist ein Zahn) als die 838 The representatives of the good people of Virginia: „Virginia bill of rights. June 12, 1776. Section 1“. In: Franz, G. (Hg.): Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung. München 1964. S.6. - Vgl. dagegen Humphrey und Laidlaw: „Apart from the anthropologist, there is frequently no one who could plausibly be regarded as an audience, and certainly no one who is there as a critic.“ (Humphrey/ Laidlaw.1994.263.) Hier bliebe anzumerken, dass Anthropologen oder Rezensenten auch als Auditorium oder Publikum geeignet sind. Die im Haupttext genannten, intendierten Autoritäten erweisen sich oft nicht nur als sehr präsent, sondern auch als sehr stark: im Zuge der Französischen Revolution gehören markante Personifikationen / Allegorien („Marianne“, „Égalité“) zur unverzichtbaren „Besetzung“ zahlreicher Kunst- und Literaturgattungen, zur Stiftung von sozialer Identität. (Baxmann, I.: Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur. Weinheim, Basel 1989.) 839 Durkheim weist ausdrücklich darauf hin, dass Riten nicht immer und exakt ihren angestrebten Zweck abbilden, sondern eine ungebundene, spielerische und ästhetische Seite haben — die keine Begleit-Erscheinung, sondern eine Bedingung von Religion sei. (Durkheim.[1912]1981.510.+513.) Auch Geertz betrachtet diese Komponente als konstitutiv für Ritual und Religion. (Geertz.[1983]1995.78. - Vgl. dazu Wulf/ b.1997. 1035.) 840 Die hier beschriebenen Kriterien für das Ritual lassen sich im Kontrast / in der Korrespondenz zu zwei ähnlichen Beispielen verifizieren: man vergleiche die „Andacht“ des Milchzahn-Rituals der Eltern mit der Sorgfalt bei der Vorbereitung eines Zahns als <?page no="273"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 269 Transformation selbst mag hier als ein ‘Heiliges’ gelten: Über eine aktive Partizipation an Prozessen der Wandlung hinaus, die ganz ohne Beteiligte, nur durch das Verrinnen von Zeit erfolgen, ermöglichen Rituale also die subjektivierende Aneignung, das persönliche Erleben und Einordnen / Verorten in einen sonst abstrakten, metaphysischen Zeitenlauf. Entlang und jenseits kodifizierter Vorschriften, rationaler Abläufe und etablierter Strukturen vermag das Ritual solcherart, Werte zu tradieren, Verhaltensmuster zu modulieren, und eine informelle Gemeinschaft zu begründen (daher ist es selbst weder immun gegen Ambivalenzen 841 , noch gegen Dichotomien: Einleitung 5.) — „was impliziert, dass [im Durkheimschen Sinne, MD] auch nicht-religiöse kollektive Veranstaltungen die ‘Heiligkeit’ der Gemeinschaft ausdrücken können.“ 842 Folgerichtig wird das Ritual dadurch nicht „säkular“ oder „profan“, sondern umgekehrt: für die Dauer seines Vollzugs sakralisiert oder heiligt es den Alltag, aus dem es hervorgeht, und in den es wieder eintritt. In diesem Sinne gilt das bisher Gesagte auch für das Theater — mit der Ausnahme und dem (bestechenden! ) Privileg (so mein Befund), dass dieses keine ‘Statusänderung’ vornimmt, sondern einen ‘Statuswechsel’ ermöglicht. 843 Exponat für eine geplante Ausstellung durch einen / mehrere Kurator/ en, oder mit der Konzentration bei der Präparierung eines Zahns als forensisches Asservat für einen anstehenden Strafprozess durch einen / mehrere Pathologen (siehe Geertz: FN821). 841 Wulf/ b.1997.1035. - Köpping/ Rao in Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b. 212. 842 Köpping/ Rao.2000.5. - Selbst im angeblich modernen / vorgeblich säkularen Alltag wird den Risiken und Gefahren des Übergangs mit zahlreichen Vorkehrungen begegnet: In jüdischen Haushalten ist im Eingangsbereich eine Mesusa befestigt, eine Kapsel mit einem heiligen Textschnipsel als apotropäische Vorrichtung, die der Bewohner oder Besucher beim Eintritt berührt; russisch-orthodoxe Reisende setzen sich zum Abschied „in Hut und Mantel“ mit denen, die sie begleiten oder die sie zurücklassen, einen Moment lang hin und schweigen ein Ründchen („prisest’ na dorožku“); protestantische Urlauber, die ihrem äußeren Pflichteifer entkommen wollen, aktivieren die innere Verantwortung, und füllen erst noch schnell und ganz für sich eine seitenlange, vorzugsweise gerichtsfeste Patientenverfügung aus, bevor sie den Flieger besteigen. Für die Darstellung zeremoniöser Vielfalt des Rosenkranz-Betens und der Anrufung von Schutzheiligen und Namenspatronen im Gefolge des Hl. Christopherus vor dem Abflug katholischer Passagiere reichen hier der Platz und das Medium ‘Buch’ nicht aus. 843 Das Milchzahn-Beispiel wurde bewusst in der kleinstmöglichen „Dimensionierung“ des Rituals gewählt, um die Unhintergehbarkeit der Relation „Öffentlichkeit - Transformation (Statusänderung)“ aufzuzeigen. Zu dieser Relation schreibt Fischer-Lichte: „Entsprechend gehen sie [die Ritualforscher Köpping und Rao] davon aus, dass es nicht ausschließlich die Veränderung des gesellschaftlichen Status der beteiligten Person ist, zu dem die Schwellenphase hinführen soll, sondern zu deren Transformation ‘in jeder möglichen Hinsicht’, die ihre Wirklichkeitswahrnehmung betrifft. / .../ Fazit: Zwischen Theater und Ritual als potentiell transformativen Aufführungen, die zu einer Transformation der Beteiligten führen <?page no="274"?> K APITEL IV. 270 Diese bisher wesentlich von Gennep, Durkheim und Turner abgeleitete Konfiguration ist mit Abstrichen vergleichbar mit dem Modell, das Michaels für das Ritual rekapituliert hat: 1. Ursächliche Veränderung - 2. Förmlicher Beschluss („ritual commitment“) - 3. Formale Handlungskriterien: Förmlichkeit (Repetitivität), Öffentlichkeit, Unwiderrufbarkeit, „Liminalität“ - 4. Modale Handlungskriterien: Vergemeinschaftung (societas), Transzendenz (religio), subjektive Wirkung (impressio) - 5. Veränderung von Identität, Rolle, Status, Kompetenz. 844 Die Logik dieses Modells provoziert indes eine grundsätzliche Frage, die an die oben deduzierte, einseitige Präskriptivität des Rituals anschließt: Wenn „Förmlichkeit“ das Königskriterium aller Ritualdefinitionen wäre (Michaels) 845 , aber jeder kulturelle Ausdruck notwendig „förmlich“ ist — worin bestünde dann die Differenzqualität zum und der Erkenntnisgewinn für das Ritual? Die vielbeschworene „Repetitivität“ (die Wiederholung des Gleichen, nicht des Selben) mag ein Merkmal sein, ist aber kein Kriterium, das spezifisch für das Ritual gilt: auch Theater kann in sich iterativ sein und ist mehrfach wiederholbar (da der Status unverbindlich bleibt). Nicht die Repetitivität macht beides „nachahmbar“ (wie Michaels meint) 846 und tradierbar (da Repetitivität nicht die Bedingung, sondern bereits die Folge von Nachahmung ist), sondern der mimetische Körper in der performativen können, jedoch nicht müssen, lassen sich keine klaren Grenzen ziehen.“ (Fischer-Lichte in Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.28.) Aus einer beliebigen („‘in jeder möglichen Hinsicht’“) Veränderung von „Wirklichkeitswahrnehmung“ auf eine Entgrenzung zwischen den „transformativen Aufführungen“ Theater und Ritual zu schließen, erscheint mir allerdings gewagt: Wozu der kollektive Aufwand eines Rituals, wenn die Verschiebung der Wirklichkeit a) unterhalb der kollektiven Wahrnehmung („potentiell transformativ“) und b) fakultativ oder zufällig bleibt („können, jedoch nicht müssen“)? Womit ist der jeweiligen Spezifik dieser Kategorien gedient, wenn man den evidenten Überschneidungen (Inszenierung, Aufführung, Interaktion) nachgibt („keine klaren Grenzen“), ohne die Differenzqualität der jeweiligen, aus Ritual und Theater resultierenden Transformation wenigstens ansatzweise zu bestimmen? Ich halte dagegen: Kommt es zu keiner sozialen Statusänderung (die gegenüber einem Statuswechsel weiter abzugrenzen wäre) oder kommt es zu einer bloß subjektiven Transformation von Wirklichkeitswahrnehmung, dann ‘implodiert’ das Ritual zu einer reinen Privatsache, entzieht sich der allgemeinen, praktizierten und diskursiven Verhandelbarkeit. Es entfällt damit auch als Vergleichsgröße in Bezug auf Theater, das - im Gegenzug - natürlich nicht seine Möglichkeiten und Funktionen, wohl aber seine privilegierte Stellung im Theatralitäts-Spektrum einbüßen würde. So vielfältig und unbestritten die Überschneidungen zwischen den beiden Kategorien auch sind, so eindeutig und unverzichtbar erscheint mir dieser eine, sichere Unterschied. 844 Michaels in Caduff/ Pfaff-Czarnecka.1999.29. 845 Ders.Ebd.34. 846 Ders.Ebd. <?page no="275"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 271 Handlung: „Rituale inszenieren Körper und mit den körperlichen Bewegungen Empfindungen und Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte. In diesen Inszenierungen verbinden sie Aisthesis und Ausdruck, Handeln und Verhalten zu einem sozialen Geschehen, das zur Nachahmung und Mitwirkung auffordert.“ 847 Wenn die Forschung im Anschluss an Singers cultural performance [1959] (vgl. Vsévolodskijs „déjstvovanie“ [1913/ 1929] in Kap.II.2., FN423) sich letzthin einig ist über den Inszenierungs- und Aufführungs-Charakter und damit auch über den Kunst- oder Konstrukt- Charakter von Ritual und Theater 848 , wäre zu überlegen, ob auch die anderen „formalen Komponenten“ wie „Öffentlichkeit“, „Unwiderrufbarkeit“ und „Liminalität“ nicht eher modale Qualitäten sind 849 , die keine Formenliste bilden, sondern eine Struktur- und Funktionsbestimmung erfordern 850 — wie es Michaels selbst an anderer Stelle formuliert: „Die Partitur von Ritualen muss vorliegen und entziffert, nicht die Interpretation beschrieben werden.“ 851 Mit Blick auf Gellners Warnung vor einem ‘blinden’, allzu routinierten Funktionalismus, aber auch im Bewusstsein des vorliegenden kulturellen Kontextes (dessen Prämissen hoffentlich hinreichend geklärt worden sind), ergibt sich aus dem bisher Gesagten für das Ritual eine ebenso funktionale 852 wie elastische Sortierung von 847 Wulf/ b.1997.1035. 848 Demnach variieren die Bezeichnungen für Ritual(e) zwischen: „kulturelle Inszenierungen (Performanzen)“ (Köpping/ Rao.2000.8.), „symbolische Inszenierung“ (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).93.), „symbolische“ und „kulturelle Aufführungen“ (Wulf/ b.1997.1034.+1030.), „szenische Aufführungen“ (Wulf in Fischer-Lichte/ Kolesch.(1998).258.), „transformative Aufführung“ (Fischer-Lichte in Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat.2003/ b.28.), „transformative“ und „(in Teilen) kreative Performanz“ (Köpping/ Rao.2000.1.+7.), „rituelle Performativität“ (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).108.). 849 Den Kern dieses Gedankens formuliert bereits Huizinga: „Wie der Form nach kein Unterschied zwischen einem Spiel und einer geweihten Handlung besteht, d.h. wie die heilige Handlung sich in denselben Formen wie ein Spiel bewegt, so ist auch der geweihte Platz formell nicht von einem Spielplatz zu unterscheiden.“ (Huizinga. [1938]1994.18.) 850 Diese Frage richtet sich auch an die von Wulf und Zirfas vorgeschlagenen formalen Kriterien: Repetitivität, Homogenität, Öffentlichkeit, Liminalität, Operationalität, Symbolik. (Wulf/ Zirfas in Fischer-Lichte/ Wulf.(2001).96f.) Vgl. die sich damit teilweise überschneidenden, dabei aber nicht explizit als modale Kriterien ausgewiesen „Aspekte“, die alle auf Gemeinschaftsstiftung abzielen (vgl. „‘Sobornost' ’ und ‘Communitas’“, Kap.II.1.4.): funktional (Bestätigung und Bekräftigung), koordinierend (Integrationsmöglichkeiten und Solidarität), sozialisierend (Herausbildung von Identität und Rollen), symbolisch (Zusammenhänge der Gemeinschaftsgeschichte), performativ (Erfahrung der Aufführung und Inszenierung). (Dies.Ebd.102f.) 851 Michaels in Caduff/ Pfaff-Czarnecka.1999.36. 852 Michaels unterscheidet in den Ritual-Theorien drei „Schulen“ mit einer je besonderen Haltung: Demnach haben die „Funktionalisten“ ein psychologisches und soziolo- <?page no="276"?> K APITEL IV. 272 Kriterien, deren Vollständigkeit erst seine Spezifik ausmacht: Demnach ist das Ritual außeralltäglich und irreversibel (daher unwiederholbar und nur durch seinesgleichen modifizierbar) [„Liminalität“], öffentlichkeitsbezogen und gemeinschaftsstiftend (daher selbst- / reflexiv) [„Communitas“], und es ist - als Voraussetzung und Wahrnehmungsbedingung dieser Eigenschaften - inszeniert und aufgeführt (mimetisch und realitätstiftend) [„Theatralität“]. gisches Interesse („Rituale sind Krisenintervention“ / „Rituale sind Bündnisse“ - „zweckorientierte“ Haltung: „Ein Auto ist ein Nutzfahrzeug“), die „Konfessionalisten“ ein religiöses Anliegen („Rituale sind Hierophanie“ - „sinnorientierte“ Haltung: „Ein Auto ist ein Mythos“), und die „Formalisten“ einen positivistischen Schwerpunkt („Rituale sind reine Form“ - „formorientierte“ Haltung: „Ein Auto ist ein motorgetriebenes Fahrzeug; warum es fährt und wohin es fährt, interessiert uns nicht.“). (Ders.Ebd.24f.) <?page no="277"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 273 1/ Lageplan zur Manöveraufführung D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT (12. und 16.03.1919). <?page no="278"?> K APITEL IV. 274 2+3/ In der Mansarde des Singer-Hauses am Nevskij-Prospekt N°28 (heute „Dom knigi“ = „Haus des Buches“) wurde 1919 D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT entwickelt und geprobt. Siehe Lageplan. — Photo. 2008 und 2006. <?page no="279"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 275 4/ Ein Arbeitshaus. Rechts oben in der Ecke hängt - wie in fast allen öffentlichen und privaten Räumen - eine Ikone. — Photo. Ende 19. / Anfang 20.Jh. 5/ Theater an der Front. — „/ .../ Eine Theateraufführung vor den Soldaten des Duchovčinskij-Regiments. 1915−1917.“ (Das Rußland der Zaren.1989.208.) - Photo. <?page no="280"?> K APITEL IV. 276 6+7/ Der Schlossplatz (Urickij-Platz) im Achsen-Sprung (linker Flügel Generalstab Alexander-Säule - Admiralität - und umgekehrt). 6/ „Massenfest auf dem Uritzki-Platz vor dem Winterpalais“. (Fülöp-Miller.1926. T.115.) — Photo. Vor 1926. 7/ Brigade der Arbeiterjugend der bildenden Künste (IZORAM) und Dekoration vor dem Winterpalais zum 01. Mai 1932. — Photo. 1932. <?page no="281"?> D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT 277 8/ Szene aus der Manöveraufführung D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT auf dem Schlossplatz. — Photo. 1919. 9/ Szene aus der Manöveraufführung D ER S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT auf dem Schlossplatz mit der Verbrüderung von Arbeitern und Soldaten, ohne die es in Russland keinen Machtwechsel gegeben hätte. (Transparent links: „Schande den Deserteuren, Eigensüchtigen und Feiglingen, Ruhm den [..? ..] Soldaten“. Rechts: „Nur der Sieg der Roten Armee [rettet uns - ? ] vor der Zerrüttung“. (Vgl. Verbrüderungsmotive 8+9 und 16 in Kap.III.). — Photo. 1919. <?page no="283"?> V. D IE III. I NTERNATIONALE (11.05.1919) 853 Petrograder Bezirk (vormals Petersburger Seite). Vorplatz des Volkshauses (vormals „Volkshaus des Imperators Nikoláj II.“) am Krónverskij-Prospekt im Aleksándrovskij-Park. ❐ 1 V.1. Vorbemerkung Obwohl die III. I NTERNATIONALE als erste große Manöverinszenierung für den freien Raum konzipiert wurde 854 , bleibt ihre Darstellung in den einschlä- 853 Zu dieser Aufführung sind drei Titel im Umlauf — ein Zeichen für den improvisatorischen Charakter der noch jungen Inscenirovka. In den Memoiren des Werkstattleiters figuriert als Titel D IE D RITTE I NTERNATIONALE (T RETIJ I NTERNACIONAL , Vinogradov- Mamont.[1966]1972.104.), ebenso in den Ankündigungen und Rezensionen. (NN: „III. Internacional“ [„Die III. Internationale“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°132 vom 09.05.1919. S.2. (= „III. Internationale/ a.1919.“) - I.R.: „III. Internacional“ [„Die III. Internationale“]. In: Krasnaja gazeta [Rote Zeitung]. N°104 vom 13.05.1919. S.4. (= „III. Internationale/ b.1919.“)) Eine Rezension erhebt gar den Schriftzug eines Dekorations-Banners zum Titel der Aufführung: E S LEBE DIE III. I NTERNATIONALE ! (B. N-v: „Pod otkrytym nebom“ [„Unter freiem Himmel“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°136 vom 14.05.1919. S.1. (= „Unter freiem Himmel.1919.“)) Vermutlich um Verwechslungen mit anderen gleichlautenden Veranstaltungen zu vermeiden, taucht im Rückblick der Titel D AS S PIEL [dejstvo] VON DER III. I NTERNATIONALE auf. (Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.267. - Siehe Kap.III.6, FN637.) Aufführung der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ unter der Leitung von N.G. Vinogradov-Mamont - Organisation: Kulturabteilung der politischen Verwaltung des Petrograder Militärbezirks (PUR) - Szenarium und Regie (Leitung): Vinogradov- Mamont - Assistenz: D.A. Ščeglov - Regie-Rat: Je. Golovinskaja, N.V. Lebedev, V.V. Šimanovskij, Ja.M. Čarov, N.N. Bachtin, N. Ščerbakov, Gruzdev, P.K. Golubjatnikov (davon Rot-Armisten: A.P. Krajskij, Kelich) - Requisite (Weltkugel): Lavrechin - Kostüme und Ausstattung: Sektion für Theaterdekoration der Abteilung Bildende Kunst (des NarKomPros) - Assistent für die Tierstimmen: Zavalichin - Ton / Musik: ein Orchester (möglicherweise das Symphonie-Orchester der PUR) Spielleiter und Oberkommandeur: Osipov - Reiterbote: Nastin - Anführer der Miliz: Lichoedov - Weibliche Miliz-Abteilungen - KomIntern- / Auslands-Delegation und „Revolutionstribunal“ mit Vertretern verschiedener Nationalitäten, Rassen und Ethnien - Eskorte der Auslands-Delegation: Kočerga, Kamenjuk - Anführer der Husaren (der Kavallerie): Babič - Admiral Kolčak: Jerofeev - General Denikin: Fëdorov - General Judenič: Chodorov - Anführer der Partisanen: Novožilov - Lakai: Panifidov - Kommandeur der Artillerie: Popov - Popen: Lazarev, Grečiškin - Einheiten der Infanterie (mit Dragonern), Artillerie, Kavallerie (Husaren), Rot-Flottisten und Miliz Petrograds - Kommandant der Peter-und-Paul-Festung (Vinogradov-Mamont. [1966]1972.102.-112.) - Auszubildende der Sowjetischen Kommandeur-Kurse, Mitglieder proletarischer Berufsverbände („III. Internationale/ a.1919.2.“) 854 Mazaev.1978.317. <?page no="284"?> K APITEL V. 280 gigen Quellen blass. Dies mag mit dem wechselvollen und irreführenden Titel der Aufführung zusammenhängen (FN853): wie weiter unten gezeigt wird (V.3. „Bezugsrahmen und Subtext“), hat die III. I NTERNATIONALE kaum etwas mit der gleichnamigen politischen Formation zu tun. Knapp zwei Monate nach dem furiosen Erfolg des S TURZES DER S ELBST- HERRSCHAFT erhält Vinográdov-Mámont, der Leiter der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“, von der Kulturabteilung der politischen Verwaltung des Petrograder Militärbezirks (PUR) einen zweifachen Auftrag: zur Zusammenstellung und Befehligung einer Abteilung für die Front, und zur Organisation und Durchführung eines Agitationsspektakels zu Ehren der Roten Armee. Diesem Auftrag war im Februar die Planung eines Massenspektakels unter Vinográdovs Federführung im Rahmen der ersten Jahrestagsfeier der Roten Armee (Gründung am 23.02.1918) vorausgegangen, von der - infolge klimatischer, technischer und organisatorischer Probleme - nurmehr eine Parade und „ein Amtspapierchen“ 855 übriggeblieben waren. Das Projektes wird im Mai 1919 wieder aufgegriffen, als - zeitgleich mit der Reformierung der Militärverwaltung zur PUR - eine zentralistische Effektivierung der Armee und zugleich eine politische Stärkung der Partei, d.h. die engere Verbindung zweier Amtsbereiche einsetzt. Für die PUR erhöhen sich damit die politischen, für die „Theaterwerkstatt“ außerdem die personellen Anforderungen, und für beide der ohnehin äußerst hohe zeitliche Druck: zwischen der adaptierten Grundidee und der Aufführung liegen höchstens zehn Tage. Das vorliegende Kapitel verarbeitet erstmals seltene oder vernachlässigte Quellen zu einer weitgehend vollständigen Ablaufskizze, die auf den Memoiren des Initiators und Leiters der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ basiert und durch andere Quellen ergänzt wird. 856 V.2. Skizze des Handlungsverlaufs [1] Am Sonntag, dem 11.05.1919 um zwei Uhr mittags findet auf dem Vorplatz des Volkshauses im Aleksándrovskij-Park die nur einmal aufgeführte III. I NTERNATIONALE statt. Eine Spieldauer dieser zweiten großen Manöverinszenierung ist nicht überliefert, doch die Handlung wäre mit Auftakt-Parade auf etwa eine Stunde zu veranschlagen (ohne die darauffolgenden Abschluss-Kundgebungen im Park [9]). Rezensionen und Berichte heben das strahlende Mai-Wetter als wesentlichen Faktor für die allgemeine Feststimmung und das zahlreiche Publikum hervor: Zwanzigtausend Zuschauer umstellen den Vorplatz, dichtgedrängt „wie die Kerne einer Sonnenblume“ 857 , 855 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.102f. 856 Ders.Ebd.102.-112. 857 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ <?page no="285"?> D IE III. I NTERNATIONALE 281 während die hundertfünzig Armisten der „Theaterwerkstatt“ 858 auf den Spielflächen und das mehrere Hundert Mann starke Militär auf Distanz postiert (unweit der Tróickij-Brücke) und von den Zufahrten her aktiv sind: „An der Aufführung nehmen etwa 1000 Mann teil [einschließlich der Armisten der „Werkstatt“, MD], wovon neun Zehntel noch nie auf einer Bühne gestanden haben.“ 859 Das Volkshaus ist festlich geschmückt; über dem Haupteingang am Kopf der zentralen Freitreppe prangt ein rotes Banner mit der Aufschrift „Es lebe die III. Internationale! “ 860 , auf der vorgelagerten Freifläche glänzen hinter weißen Brüstungen 861 die Bläser des Orchesters in der Mai-Sonne. Im Hintergrund (hinter dem Banner) stehen ein Pionierzug und die Rot-Armisten der „Theaterwerkstatt“, deren Alarm- und Feststimmung an die Angstlust „im Morgengrauen vor der Schlacht“ 862 erinnert — verstärkt durch die Geräuschkulisse: dem Wiehern der Pferde, dem Klirren der Waffen, dem Geaune und Gelächter der Menschen. Das Modell eines riesigen Weltglobus, an dem sich einige Männer mit Teerfackeln zu schaffen machen, sorgt besonders bei den Kindern für zusätzliche Spannung. 863 Auf dem Vorplatz am Fuß der zentralen Freitreppe sitzt ein einzelner Reiterbote im roten Kosaken-Rock auf einem Rappen. Oben auf der Freifläche tritt der Werkstattleiter Vinográdov-Mámont als „Feldherr des bevorstehenden Spektakels“ 864 mit einer Leuchtpistole nach vorne; mit der Zündung einer roten Rakete ertönt ein Fanfarensignal. Wenige Schritte davon entfernt verkündet der bereits im S TURZ aktive Ósipov als Spielführer und „Oberbefehlshaber“ den Beginn der Handlung und begleitet die folgenden Auftritte und Episoden. Wie die übrigen Sprechrollen trägt er ein Megaphon am Bund. [2] Es folgen die Präliminarien eines Truppenaufmarsches: Nach einer feierlichen Orchester-Ouvertüre postiert sich unter Lichoédovs Kommando (vermutlich der Anführer der Miliz) eine Ehrenwache in der Mitte der obengelegenen Freifläche. Ósipov wiederholt den Willkommensgruß und den Hochruf auf die III. Internationale. In unmittelbarer Nähe folgen die Aufstellung einer ausländischen Arbeiter-Delegation durch eine Zwei-Mann-Eskorte, ein Rapport von Lichoédov, ein Marsch derselben Gruppe um die Ehrenwache, dann erneut ein Fanfarensalut mit roten und grünen Raketen, und wieder ein Hochruf auf Sowjetrussland als Ursprungsort der III. Internationale. Nach einer Salve von Salut- 858 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.105. 859 „III. Internationale/ a.1919.2.“ 860 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.107. 861 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ 862 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.107. 863 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ 864 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.107. <?page no="286"?> K APITEL V. 282 schüssen kündigt der oben plazierte Ósipov eine Truppenparade zu Ehren der III. Internationale an. Im fliegenden Galopp gibt der unten postierte Reiterbote das Aufbruchsignal von Einheit zu Einheit weiter. Auf die bunten Leuchtraketen folgen begeisterte Ovationen aus dem Publikum. [3] Daraufhin findet unten vor dem Volkshaus die Parade statt mit bandverzierten Bläsern (silber) und einer Standarte (rot), gefolgt von Rot-Flottisten in einfacher Montur (weiß-blau), einem schmucken Leib-Husarenregiment (rot-dunkel-gold), der Infanterie (grün-rot) mit Geschützen auf Lafetten. Den Schluss bilden die weiblichen Miliz-Abteilungen (blau), die über die Haupttreppe nach oben hinter dem Banner verschwinden. Im Gegenzug tritt dort die Auslands-Delegation nach vorne (grau-buntes Zivil? ), begleitet vom Applaus einer zwanzigtausendköpfigen Menge. [4] Eine Alarm-Fanfare eröffnet die eigentliche Spielhandlung. In stakkatohaften Exklamationen warnt Ósipov (oben) vor der nahenden imperialistischen Intervention (Amerika, England, Frankreich) und ruft die „Bürger“ (unten) zu den Waffen: ‹Wir werden es den Dienern des weltweiten Kapitals zeigen — den weiß-gardistischen Generälen und Admirälen! › 865 Der Aufruf wird von der gleichen Alarm-Fanfare bekräftigt. Es folgt ein kakophonisches Melodiengemisch aus den Nationalhymnen einiger Entente-Mächte und einer zaristischen Hymne. Auf der oberen Freifläche erscheinen nacheinander links, mittig und rechts drei Adjutanten und annoncieren mit hämischen Attributen die konterrevolutionären „Admiräle und Generäle“ Kolčák und Deníkin, nach deren Auftritt der volltrunkene Judénič angekündigt und von „weißen Offizieren“ zu kakophonischen Klängen herbeigeschleift wird. Die Bewegungen und Gänge dieser Figuren bleiben bis zuletzt überzogen und parodistisch: Der geschmeidige „Deníkin“ wedelt sich mit einem Taschentuch die derben Gerüche vom Leib, der scharnier--artige „Kolčák“ fordert nach einem Rund- und Durchblick per Teleskop, widerständige Arbeiter aufzuhängen und aufständische Dörfer und Städte niederzubrennen. Daraufhin zündet der oben im Hintergrund stehende Pionierzug Nebelkerzen. [5] Aus den schwarzen Schwaden erscheint oben ein Mann in Bauerntracht (Wickelmantel, Bastschuhe) mit Axt und Flinte und läutet Sturm: ‹Mužiki! [(einfache Land- / Bauers-) Männer, MD] Mir nach — in die Taiga! Zu den Partisanen! › 866 865 Ders.Ebd.108. 866 Ders.Ebd.109. <?page no="287"?> D IE III. I NTERNATIONALE 283 Sofort befielt „Deníkin“ seiner „Freiwilligen-Armee“, von allen Mužikí neun zu prügeln und den zehnten zu erschießen. „Judénič“ ordnet hingegen an, Weiber und noch mehr Wodka heranzuschaffen. Ein scharwenzelnder Lakai trippelt mit Tablett heran und löst breites Gelächter im Publikum aus. Die „weißen Offiziere“ führen drei mit Zelttuch bedeckte Frauengruppen heran. „Kolčák“ formuliert ein allgemeines Prosit auf ein heiliges und geeintes, von Bauern und Arbeitern befreites Russland. Auf „Judéničs“ Forderung nach Schaschlik und geröstetem Vieh sind in den Nebelschwaden Flammen zu sehen und hinter dem Banner erst Tierstimmen (Blöken, Muhen, Wiehern), dann „das herzergreifende Heulen des brennenden Viehs“ 867 zu hören. „Judénič“ fuchtelt mit einer Peitsche, schießt in die Luft und befielt, die Frauen zu prügeln. Unter den Zelttüchern treten nun die Milizionärinnen hervor und richten ihre Flinten gegen die „Offiziere“, was mit tosendem Applaus aus dem Publikum begrüßt wird. In den Schwaden taucht erneut ein „Partisan“ auf und wirft mit dem Ruf ‹Schlag die Weißen! › 868 eine Granate in die „Offiziersgruppe“ — doch ohne Erfolg: [6] Oben im Hintergrund ruft „Kolčák“ durch das Megaphon um Hilfe: ‹Entente! Washington! London! Paris! Warschau! Schickt mehr Kanonen, Panzer, Maschinengewehre. (Zu den Offizieren) Und wir, Herrschaften — auf zum Marsch auf Moskau! Regimenter Jesu, vorwärts-marsch! › 869 Unter Trommelwirbel und mit einer Kirchenmelodie aus dem Orchester setzt sich ein Zug aus „Popen“ mit Kriegsbzw. Kirchenfahnen und „Offizieren“ in Bewegung. In abwechselnden Schlacht- und Hurra-Rufen beschwören die „Generäle und Admiräle“ die Eroberung Petrograds, Moskaus und schließlich des gesamten russischen Imperiums. [7] „Das Orchester dröhnt fortissimo.“ 870 — als aus dem Nebel der Weltglobus mit dem eingezeichneten Sowjetstaat auftaucht, worauf ein Bauer, ein Arbeiter sowie Lenin abgebildet sind. Aus dem Publikum hört man heftige Ovationen und Hochrufe auf den „Genossen Lenin“. Ósipov ruft oben zum Angriff auf die „weißen Generäle“ — im Galopp übermittelt der Reiterbote unten den Befehl ringsum an die Einheiten. Die „rote Infanterie“ begibt sich im Laufschritt zur zentralen Spielfläche auf dem Vorplatz. Auf Ósipovs Befehl bringt die „rote Artillerie“ das Gerät in Stellung, auf Popóvs Kommando wird das Feuer eröffnet. 867 Ders.Ebd.110. 868 Ders.Ebd. 869 Ders.Ebd. 870 Ders.Ebd. <?page no="288"?> K APITEL V. 284 Gleichzeitig überquert die Infanterie die anliegenden Zufahrten und geht seitlich der Sockel in Deckung, um Mann für Mann auf die obere Freifläche zu klettern: Beim Bajonett-Angriff auf „Deníkin“ und „Judénič“ eilen weiße Dragoner (leichtgerüstete Infanteristen, manchmal beritten) die Treppe hinab, während die „Popen“ mit gerafften Priesterröcken und lautem Geschrei die Stufen herunterkullern und mit halsbrecherischen Saltos, Purzelbäumen / Luftsprüngen „in Jahrmarkttradition das Volk belustigen“. 871 Auch die „rote Kavallerie“ erhält Ósipovs Befehl per Reiterboten und greift auf Bábičs Kommando (dem Anführer der Husaren bzw. der Kavallerie) die „Weißen“ mit Säbelhieben in alle Richtungen an. Schließlich setzen die Reiter-Husaren „Judénič“ fest, und die Infanteristen nehmen „Deníkin“ gefangen. Auf der obengelegenen Freifläche bleibt „Admiral Kolčák“ mit Gefolgschaft zurück — ein Fall für die Rot-Flottisten: auf Ósipovs Kommando galoppieren Pferd und Bote die Treppe hinauf, gefolgt von den mehrere Stufen überspringenden Rot-Flottisten. Als „Oberkommandeur“ und Spielleiter befiehlt Ósipov: ‹Im Namen der Sowjetrepublik werden der Admiral Kolčak und die Generäle Judenič und Denikin dem Gericht übergeben! › 872 [8] Während Lichoédov die „Delinquenten“ entwaffnet und ihnen Handschellen anlegt, beruft Ósipov auf der oberen Freifläche das Revolutionstribunal ein: ‹Das Urteil spricht das von der Dritten Kommunistischen Internationale gewählte Internationale Revolutionstribunal. Genossen Richter! Nehmen Sie Ihre Plätze ein! › 873 Die „Genossen Richter“ aller Herren Länder und Hautfarben treten an Ósipov heran, der nun die Internierung der „Generäle“ anordnet: ‹Bis zum Tribunal sind Kolčak, Judenič und Denikin in die Kasematten der Peter-Und- Paul-Festung einzusperren! › 874 Nun fahren auf dem Vorplatz unten vier Lastkraftwagen vor: der erste für die Weltkugel und das Orchester, der zweite mit Revolutionsplakaten für Ósipov und die „Richter“ bzw. KomIntern-Delegierten, der dritte mit Karikaturen und für die „Generäle“, schließlich der vierte mit weiteren Orchestern. Der Zug setzt sich in Bewegung, gefolgt von den Zuschauern. [9] Am Johannes-Tor (im Ostzipfel des Aleksándrovskij-Parks) erfolgt die Übergabe der „Delinquenten“ an den (möglicherweise echten) Kommandanten der Festung. Spätestens hier endet die ästhetische Handlung, der sich eine außerästhetische Veranstaltung anschließt: 871 Ders.Ebd.111. 872 Ders.Ebd. 873 Ders.Ebd.111f. 874 Ders.Ebd.112. <?page no="289"?> D IE III. I NTERNATIONALE 285 „Die Armee der Zuschauer wird sogleich von Agitatoren übernommen. Auf roten Tribünen, die an den Festungsmauern, im Park, auf dem Troickaja-Platz, am ehemaligen Kšesinskaja-Palais und gegenüber der Moschee errichtet wurden, sind Redner plaziert. Das theatrale Massenspiel hat sich in ‘tagespolitische’ Kundgebungen ‘zur Dritten Internationale’ verwandelt. [fett MD]“ 875 V.3. Bezugsrahmen und Subtext Während sich Militär und Regierung neu strukturierten, um in den wechselnden Ausnahmezuständen Herr der Lage zu bleiben, hatten die flächendeckenden, berüchtigten Zwangsrequirierungen und -verteilungen von Gütern und Leistungen (Kap.IV.2.2. - Kap.III.4.) auf dem Land und in den Städten zahlreiche Unruheherde geschürt: in der als nationalen Kornkammer geltenden, traditionell aufmüpfigen Ukraíne, bei den rebellischen Matrosen von Kronstadt, und innerhalb der streik- und revolutionserprobten, städtischen Arbeiterschaft 876 . Die damit einhergehende, wachsende Opposition proletarischer Vertreter gegen den weiteren Ausbau eines konzentrischen Partei-Apparats parierte die Führung mit einer Umlenkung des Konflikts auf ein außenpolitisches Thema: Die allseits spürbare Atmosphäre einer revolutionären Kontagiosität (Einleitung 3.) während der deutschen November-Aufstände 1918 schien der Oktober-Revolution zunächst den erhofften, außenpolitischen Auftrieb zu geben. Noch in der ersten Euphorie (mit zahlreichen Solidaritäts-Adressen, etlichen Getreide-Waggons und einem geplanten Hilfsfonds für das „rote“ Kiel und Berlin 877 ) konstatierte Lenin jedoch, dass „bei den Deutschen nicht Oktober, sondern Februar“ 878 herrsche, d.h. dass die Absetzung des alten Regimes („Februar“) noch keine Etablierung eines republikanischen Räte- 875 Ders.Ebd. - Die Idee der roten Tribüne ist eine Weiterentwicklung der roten Bühne als „Bühne der Roten“ aus dem S TURZ (Kap.IV.2.1., FN672/ 674 und FN679). Das dort entwickelte räumliche und performative Programm (Zweiteilung der Spielfläche mit Mittelgang / Verbindungsweg) wurde in der E RSTÜRMUNG übernommen (Kap.VI.2.[1], FN1005). 876 Stöckl.1983.680f. 877 NN: „Soobščenie ob otpravke VCIK dvuch maršrutnych poezdov s chlebom v Germaniju i o predpisanii VCIK mestnym Sovetam nemedlenno pristupit’ k sozdaniju osobogo fonda pomošči revoljucionnym rabočim i soldatam Germanii“ [„Mitteilung zum vom VCIK veranlassten Transport zweier direkter Güterzüge mit Getreide nach Deutschland, und zur Anordnung des VCIK an die lokalen Sowjets, unverzüglich die Schaffung eines eigenen Hilfsfonds für die revolutionären Arbeiter und Soldaten Deutschlands in Angriff zu nehmen“] vom 12.11.1918. In: Dekrete.Bd.IV.1968.14f. 878 NN: „Soobščenie ob obsuždenii SNK 11 nojabrja revoljucionnych sobytij v Germanii“ [„Mitteilung zur Erörterung des SNK vom 11. November der revolutionären Ereignisse in Deutschland“] vom 12.11.1918. In: Dekrete.Bd.IV.1968.15. <?page no="290"?> K APITEL V. 286 systems oder einer proletarischen Regierung bedeute („Oktober“). Nach der Ermordung von R. Luxemburg und K. Liebknecht (Januar 1919) schien es der russischen Regierung 879 daher umso dringender, die Idee der „Weltrevolution“ (Kap.III.2., FN541) durch die Gründung der Dritten, diesmal „Kommunistischen“ Internationale (KomIntern) anzufachen (Gründungs- / I. Kongress: 02.-06.03.1919, Moskau), die zu einem wirksamen Instrument der bitter benötigten Außenhandelsbeziehungen Russlands entwickelt werden sollte. 880 Eine weiterführende Perspektive war in dieser angespannten Lage also dringend geboten: „Der 1. Mai und die Oktober-Feiern des Jahres 1919 stehen im Zeichen der Angriffe General Judeničs auf Petrograd. Material ist knapp, nur ausgewählte Punkte der Stadt sind dekoriert, über den Theatereingängen hängen Plakate: ‘Keine höhere Ehre, als für Petrograd zu fallen’ / .../ .“ 881 Die wachsende und unberechenbare Bedrohung durch Entente und Intervention einerseits (Kap.IV.2.2.), und die langsame und ungewisse Auswirkung der KomIntern-Aktivitäten anderseits, erforderte indes eine schnellere Maßnahme, die mit einem Agitationsstück, das einen ähnlichen Erfolg wie den S TURZ erwarten ließ, offenbar sehr gelegen kam. Die Politik agierte gleichsam ‘im moralischen Windschatten’ des Militärs: Zum einen konnten mit einer Festaufführung unter Mitwirkung der Roten Armee die eigenen Streitkräfte be- und eingeschworen werden. Zum anderen ließ sich in einer Festaufführung zu Ehren der Roten Armee, die weiterhin eine unangefochtene moralische Überlegenheit genoss (Kap.III.4., FN626/ 627 - Kap.IV.5.2.) neben ihrer militärischen Unverzichtbarkeit auch die politische Notwendigkeit der Partei demonstrieren. Vor diesem Hintergrund wird der erste Entwurf der „Theaterwerkstatt“ für eine Manöverinszenierung verworfen und Anfang Mai 1919 den jüngsten politischen Erfordernissen angepasst 882 : innerhalb kürzester Zeit legt der „kleine Kreis“ (ein mehrköpfiger Regie-Rat) als eigenen Vorschlag das Thema der „III. Internationale“ fest, danach folgt die Ausarbeitung im „großen Kreis“ (mit den Rot-Armisten), wobei Vinográdov federführend ist beim Erstellen des Szenariums 883 . Die von den Rot-Armisten eingebrachten, doch vom Werkstattleiter als zu „episch“ befundenen Motive sind durchweg der Volksmythologie entlehnt oder schildern persönliche Erlebnisse aus dem Revolutions‘alltag’. Dagegen gibt die Kulturabteilung der PUR eine „drama- 879 Zur Erinnerung: Die neue russische Regierung = VCIK (Vserossijskij central’nyj ispolnitel’nyj komitet = Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee, 1917-1938) + SNK / SovNarKom (Sovet narodnych komissarov = Rat der Volkskommissare, 1917-1946) + STO (Sovet truda i oborony = Rat für Arbeit und Verteidigung, 1918/ 1920-1937). Siehe auch Kap.III.2., FN510. 880 Stöckl.1983.642.+698f. 881 Schlögel.1988.357. 882 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.102., 104., 106. 883 „III. Internationale/ a.1919.2.“ - „III. Internationale/ b.1919.4.“ <?page no="291"?> D IE III. I NTERNATIONALE 287 tische“ Handlungslinie vor mit drastischen Kollisionen, agitatorischen Appellen und einem universellem Anspruch: „Das Bündnis der Kommunisten der ganzen Welt... das Bündnis der Arbeiter aller Länder gegen die Haie, Hyänen und Schakale des Kapitalismus — dies ist der weltweite Maßstab des Leninschen Gedankens. / .../ Hier ist der gesamte Planet: weiße, gelbe, schwarze Völkerschaften erheben sich und stellen sich unter die Fahne der Dritten Internationale! “ 884 Meine These zur III. I NTERNATIONALE schließt an den Subtext dieser Verlautbarung an: eine Vorgabe lässt sich nur soweit befolgen, wie man sie mit seinen Vorstellungen vereinbaren oder zumindest verbinden kann. Die Veranstalter mögen von der III. I NTERNATIONALE ein symbolhaftes Zusammenrücken von Militär und (Partei)Politik und andere Bündnisse und Effekte erwarten — die Ausführenden entgegnen dies einerseits bereit-, anderseits eigenwillig, mit einem spielerischen Ab- / Ausrücken in den Fest- und Freizeit- Bereich, und in einer Form, die ihnen selbst vertraut, beherrschbar und vorzeigbar erscheint. Diese These enthält einen soziologischen und einen kulturanthropologischen Ansatz. Wenn der Vertreter einer Politverwaltung übereifrig, agitatorisch oder sonstwie berauscht oder von „Haien, Hyänen und Schakalen des Kapitalismus“ spricht, versteht der „sympraktisch“ (Glébkin: Einleitung 4., FN143) veranlagte Soldat darunter bei Weitem nicht zwingend dieselbe „Bestie Mensch“. Was beide vereint, ist nicht das Verhältnis zum Kapitalismus, sondern der Horror vor dem Krieg. Was beide trennt, ist der kognitive und metaphorische Weg, der zwischen den beiden Enden der gleichen Parabel liegt. Als Landmann ist der „Bauer in Uniform“ mit dem gebotenen Respekt vor der Schöpfung bzw. den Naturgewalten und vor der Kreatur ausgestattet (siehe unten in V.4. den Hl. Georg, sowie die stets sorgfältige Gestaltung seines Drachens: ❐ 7 hier - ❐ 3 in Kap.II.), und er weiß Naturerscheinungen von Kulturphänomenen zu unterscheiden. Gewiss versteht er die verunglimpfende Stoßrichtung der damals üblichen, ‘zoologischen’ Entgleisungen 885 als eine an ihn gestellte Erwartung bei der Umsetzung der bevorstehenden Aufführung. Doch weder kennt er die Verhaltensweisen der polemisch missbrauchten Tiere, noch durchschaut er die Motive der verwendeten Vergleiche (und er weiß, dass er das nicht weiß): primär lösen sie bei ihm keine Aggression, sondern Faszination aus. Wenn nun im orthodoxen Weltbild sogar Eltern zu den Heilsmittlern zählen (Kap.III.2., FN517+518), 884 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.105f. 885 Eine ‘zoologische’ Polemik war in der politischen Plakatkunst und im aggressiven Staatsjargon jener Zeit durchaus üblich. Zur englischen Außenpolitik (in russischer Perspektive: Intervention) nach dem Rückzug von Deutschland und Österreich am Ende des 1. Weltkriegs sagte W. Churchill: „Nachdem ich all die Tiger und Löwen geschlagen habe will ich nicht von Pavianen [den Sowjets] besiegt werden.“ (Moynahan.1994.107.) <?page no="292"?> K APITEL V. 288 hat folglich auch der Hai seinen respektablen Platz innerhalb der Schöpfung. Diese Position ebenso wie die Besetzung der ‘Menagerie’ gilt es, inszenatorisch auszuhandeln, und dabei hat der „Bauer in Uniform“ mit seiner pragmatischen Vorstellung zur ‘Hof-Führung’ einen klaren Vorsprung vor dem Politiker mit seiner polemischen Vorgabe zur ‘Bestiariums-Pflege’ (und beide wissen das). Obwohl also den Rot-Armisten die Entwicklung eigener Themen verwehrt bleibt, sind deren Erfahrungen nicht zu tilgen und ihre Ausführung unverzichtbar: ihre körperliche Präsenz, ihre sensorische Auffassungsgabe und ihre motorische Bereitschaft sind konstitutiv für die Inszenierung und für die Aufführung. Zugleich besteht eine seltsame Affinität zwischen den Vorstellungen der Kulturabteilung der PUR und den Wünschen der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ — zwischen der vorgegebenen Polit-Folklore und den verworfenen („epischen“) Volksmythologemen: die metaphorische Buntheit des ‘Feindlichen’ (exotische Raubtiere) und des ‘Fremden’ (polychrome Ethnien) weist eine klare, strukturelle Gemeinsamkeit auf 886 . Folgt man dieser Spur, lässt sich diese hybride Ausgangssituation bis in die topographischen Gegebenheiten nachvollziehen, denn das Gelände und die daraus resultierende ‘Raumpartitur’ eröffnen eine ganz besondere Stimmungslage zwischen Fest und Festung, Vergnügen und Schrecken, Freizeit (Zeitfülle) und Gefängnis (Zeitleere). Der Aleksándrovskij-Park ist traditionell und aktuell ein Ort für proxemische Repräsentationen: Mit seinen breiten, ebenen Wegen fungiert er außer als Flaniermeile für Paare und Passanten auch als Reitstrecke für Kutschen und Kavallerie. Zum einen beherbergt der Park im Westen den Zoo (und dieser vielleicht auch „Hyänen und Schakale“, sofern die Tiere wegen der Hungersnot nicht bereits geschlachtet waren 887 ), im Osten das Volkshaus, und auf den Grünflächen dazwischen findet an Feiertagen das „farbenprächtige Chaos“ 888 der Jahrmärkte und Volksfeste statt (mit „weißen, gelben, schwarzen Völkerschaften“). Zum anderen grenzt dieser Ort an eine diametral entgegengesetzte Welt: umsäumt vom Krónverskij-Boulevard im Norden, umspannt der Park im Halbrund die kleine vorgelagerte Insel mit dem Arsenal, und umfasst - würde man den Kreis im Süden schließen - die gegenüberliegende Insel mit der Peter-und-Paul-Festung — wie ehedem auch zum Zeitpunkt der Aufführung das Verließ für Regierungsgegner („Repräsentationsorte“, Kap.III.4.). 886 Ivleva, L.M.: „Mir personažej v russkoj tradicii rjažen’ja (K voprosu o rjažen’e kak tipe igrovogo perevoploščenija)“ [„Die Welt der Figuren in der russischen Tradition des Verkleidens (Zur Frage des Verkleidens als Typus spielerischer Verkörperung)“]. In: Russkij fol’klor [Russische Folkore]. Bd.XXIV. Leningrad 1987. S.68f. - Bogatyrëv. (1940).1971.107. 887 Schlögel.1988.440. 888 Nekrylova.1984.32. - Dmitriev in Alekseev.1968.254. <?page no="293"?> D IE III. I NTERNATIONALE 289 In der Vogelperspektive eines Stadtplans liegen Volkshaus, Arsenal und Festung etwa auf einer Linie, jeweils getrennt durch einen Wasserlauf ( ❐ 1). In der Raumtiefe ergibt sich für den Zuschauer folgende Situation: Den Krónverskij-Boulevard im Rücken, das Volkshaus mit gestaffelten Flächen, mit Durchfahrten und Sichtachsen in den umliegenden Park- und Freiflächen vor Augen, entwickelt sich die Aufführung drumherum und dazwischen, während Arsenal und Festung im Hintergrund bleiben (oder zwischen den Bäumen als Horizont auf- und abtauchen): „Und ringsum am Boulevard entlang hatten die verschwiegenen Häuser das Spektakel im Halbkreis umringt — als würden sie ebenfalls der ‘Dritten Internationale’ zusehen und lauschen.“ 889 Noch bevor ein Szenarium feststeht, wird die Kombination aus Wegenetz und Grünanlage von den Rot-Armisten der „Theaterwerkstatt“ als ideal befunden für raumgreifende, manöverartige Aktionen 890 . Das Volkshaus ist traditionell ihr (Freizeit-)Ort, das Bespielen der Außenanlage erstmals ihre Sache. Ihnen eröffnet sich ein günstiger Spielraum: einerseits gegliedert, anderseits weitläufig. Während die Raumpartitur der ersten und der letzten großen Manöveraufführung eine überschaubare, zirkelförmige Konstellation mit kompakter (S TURZ , Kap.IV.5.1.) oder komplexer (E RSTÜRMUNG , Kap.VI.5.1.) Binnenstruktur aufweist, folgt die Laufrichtung der III. I NTER- NATIONALE einer ausgeprägten ‘Kippschalter’-Dynamik der innertheatralen Spielhandlung, auf den ‘Bühnen’ von Freifläche (oben) und Vorplatz (unten). So ergibt der Gesamteindruck der Bewegungen ein disparates, munteres Über- und Neben-, Nach- und Durcheinander, ohne besondere Raffinesse symbolhafter Bezüge, dramaturgischer Strukturen oder ästhetischer Verfahren. Für die Veranstalter ist der Schauplatz ebenfalls sehr vorteilhaft: mit dem Park knüpfen sie an die Tradition einer etablierten Vergnügungsmeile und mit dem Volkshaus an eine Epoche des demokratischen Aufbruchs an, und bekunden damit ihre Volksnähe, ohne während der Aufführung selber physisch anwesend zu sein. Dafür übernehmen leibhaftige „Agitatoren“ und „Redner“ die Veranstaltung im Ostrand des Parks unweit des Volkshauses ( ❐ 1), etwa auf halber Höhe zwischen Arsenal und Festung. Beide Bauten entstammen dem selben Entstehungs- und Funktionskontext einer Zeit vor der Gewaltenteilung, einer Zeit der Machtkonzentration. Das von „Heterotopien“ markierte Areal (Festung und Arsenal, Jahrmarkt- und Festwiesen) 891 und seine konkrete Nutzung aktualisieren somit 889 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ 890 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.106. 891 Für M. Foucault sind „Heterotopien / .../ sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager / .../ in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur [in Ergänzung und im Unterschied zu den Utopien] gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ Es sind die abgezirkelten, aber zugänglichen Orte (Institutionen) der Aussätzigen <?page no="294"?> K APITEL V. 290 eine zweifache, ambivalente Symbolhaftigkeit: zum einen überlagern sich die Orte politischer Macht und militärischer Potenz, und grenzen an zwei andere, sich überlagernde Bereiche, die des zivilen Alltags und urbaner Zerstreuungen. Zum anderen inszenieren die neuen Machthaber ihr Werk an Orten des ‘Gewährens’ (des Vergnügens) und des ‘Gebietens’ (des Schreckens), die auf eine einzige, alte Autorität / Autokratie zurückgehen. So scheint das topographische Gleichgewicht auch für den aktuellen Bezugsrahmen perfekt ausbalanciert: für die Aufwertung der Partei im Windschatten der Armee, für die Allianz zweier Mächte in einem koordinierten, leichtfüßigen Wechsel‘spiel’ gegen den äußeren Gegner, und unter einer internationalen Schirmherrschaft (KomIntern-Delegierte). Wie der Bezugsrahmen gezeigt hat, bleibt ein restaurativer Subtext der Geschichte abrufbar in der Topographie und ihren Monumenten, in einem Areal der Gewaltenballung. Ob deren doppelte Symbolhaftigkeit auch für die Perspektive des Publikums gilt, ob also ein ‘Transfer’ der räumlich kodierten Machtkonzentration von der zaristischen Autokratie auf die hegemoniebestrebte Partei erfolgt, zeigt erst die Wirkungsästhetik. Wie vorher in der Bezugsgröße zu sehen bleibt, ist jedoch eine subversive ‘Tiefenschärfe’ in der theatralen Tradition angelegt, die eine sich abzeichnende Engführung relativiert, und die geltende Identität der Armee aus der gewollten Instrumentalisierung durch die Partei herauslöst. V.4. Bezugsgrößen: Jahrmarkt, Balagan, Schlachten-Stücke Von den hier behandelten Manöverinszenierungen ist die III. I NTERNATIO - NALE am schwächsten im kollektiven Bewusstsein verankert. Die spärlichen, teils gleichlautenden Ankündigungen und Rezensionen annoncieren ein „Stück mit ausgeprägt revolutionärem Charakter“ 892 — eine zu diesem Zeitpunkt geläufige Formulierung mit geringer Aussagekraft zu Funktionsweise, Wirkungsradius und Stellenwert einer Aufführung. Die Sprache der Rezensenten übernimmt offenbar den überdrechselten Stil einer Pressemitteilung der Veranstalter, und beschreibt ein Geschehen, das hinter einer stereotypen, quasi austauschbaren Thematik aus gestanzten Beschwörungen und utopischen Zielen verschwimmt: „Im Stück wurde der Kampf der Werktätigen der ganzen Welt zur Erlangung der Befreiung von der das Proletariat knechtenden Herrschaft der alten gesellschaftlichen Ordnung gezeigt, der Angriff und Untergang Kolčaks und der bevorstehende Triumph des Kommunismus.“ 893 und Außenseiter, die Schwellengebiete oder Grenzbereiche des alltäglichen Verkehrs und der sozialen Ordnung. (Foucault, M.: „Andere Räume“. In: Barck, K. / Gente, P. / Paris, H. (et al.) (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig 1990. S.39.) 892 „III. Internationale/ a.1919.2.“ - „III. Internationale/ b.1919.4.“ 893 Ebd. <?page no="295"?> D IE III. I NTERNATIONALE 291 Umso dringender stellt sich hier die Frage nach dem besagten „revolutionären Charakter“ oder einer „revolutionären“ Spezifik. Der Verlaufsskizze nach wirkt die Handlung recht hölzern in ihrer mechanischen Abfolge von politischen Aufrufen und militärischen Aktionen. Der Begriffsbestimmung einer Manöverinszenierung zufolge (Einleitung 3.) ist einerseits jede Art von großangelegter, planvoller Aktion, die vor allem trotz der Revolution erfolgt, bedeutsam und insofern „revolutionär“. Mit der genannten Formulierung dürfte anderseits eher die Darstellung revolutionärer Prozesse als eine revolutionäre Darstellung von Prozessen gemeint sein. Gibt es zwischen diesen Polen - zwischen der Tatsache, was durch das Stück zur Aufführung gebracht wird, und der Tatsache, dass dieses Stück zur Aufführung gelangen konnte - eine besondere Qualität, ein ‘revolutionäres Wie’ der Aufführung selbst, worin Akteure und Zuschauer gleichermaßen involviert wären? Mit dem Begriff „Freilichtinszenierung“ 894 ist offenbar der kleinste gemeinsame Nenner für die Gattung der III. I NTERNATIONALE getroffen. Eine Rezension erwähnt dort ein Heldenbegräbnis 895 — eine frühe Form politischer Manifestationen (Kap.III.4., FN568/ 570 und Kap.III.5., FN631), nunmehr tragischer, feierlicher Aspekt vieler Aufführungen, der hier aber weder in den Memoiren Vinográdovs noch in anderen Dokumenten vorkommt. Insgesamt geben die Quellen übereinstimmend eine gehobene, heitere Stimmung wieder („Das Ganze war zweifellos bildkräftig, drastisch, gut zusammengefügt.“ 896 ), ohne die immer labileren Produktionsbedingungen 897 zu verschweigen, die den Ereignis-Charakter der Insceniróvka deutlich in Richtung Zufallsfaktor ausdünnen: „Es ist eigentlich kein Stück, sondern inszenierte revolutionäre Losungen. Eine Reihe von Losungen, die das Aufständische im Volk aufrechterhalten.“ 898 Die Handlung reduziert sich auf ein rudimentäres „Schema“ 899 oder „Gerippe“ (kanvá 900 ), die wenigen Sprechrollen sind improvisiert und verlieren sich trotz der Megaphone im allgemeinen Stimmengewirr und Volksgetümmel 901 . Während Piotróvskij die III. I NTERNATIONALE in einem anderen Kontext von ihrem (offiziellen) Anlass her als „Fest“ (prázdnik) erwähnt 902 , bezeichnet Vsévolodskij sie in seiner „Geschichte des russischen Theaters“ einfach nur als „Pantomime“ 903 . Im Unterschied zur anfänglichen, „allgemeinen Feststimmung“ der Zuschauer [1] wirken die nachträglichen Beschreibungen verhalten und uneinheitlich, was die Frage 894 Schlögel.1988.357. 895 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ 896 Ebd. 897 Piotrovskij, A.I.: „Chudožnik i zakazčik“ [„Künstler und Auftraggeber“] (Sept. 1920). In: Ders.1925.24. - Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.266. 898 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ 899 Ebd. 900 „III. Internationale/ a.1919.2.“ - „III. Internationale/ b.1919.4.“ 901 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ 902 Piotrovskij.(1920).1925.24. 903 Vsevolodskij.1929.Bd.2.389. <?page no="296"?> K APITEL V. 292 aufwirft, ob es sich bei der III. I NTERNATIONALE tatsächlich um ein Volks- Fest, oder nicht doch eher um eine Armee-Feier handelt. Im Anschluss an die eingangs skizzierte Darstellung (Einleitung 3., FN40/ 48), folgt hier zunächst eine genauere Abgrenzung beider Begriffe. Exkurs: Abgrenzungen zwischen F EST (Kontingenz - „Weg“ - ‘Matrix’) und F EIER (Konzept - „Karte“ - ‘Metrum’) Neben kulturanthropologischen und religionsphilosophischen Definitionen liefert G.M. Martins Theorie einige ästhetische „Bausteine“: „Eine Feier wirkt allemal durchformter, zeremonieller und ist darin eher rituellem Verhalten zuzuordnen / .../ [sie ist] bestimmt durch eine gewisse Schwere, durch Pathos, durch dunkle Räume, satte Farben, ernste Musik / .../ während das Fest leichter, unpathetischer, heller und heiterer ist und so dem Spiel näher kommt.“ 904 Zu den ästhetischen Merkmalen sind die strukturellen Eigenschaften zu ergänzen: die Feier impliziert mit der Festlegung einer ‘Besetzungsliste’ und eines Programms ein verbindliches Zeitschema und die Pflicht zur Pünktlichkeit, während das Fest mit der Offenheit seines ‘Soziogramms’ und Ablaufs „Anonymität, Randsiedelei, späteres Kommen, früheres Gehen“ 905 an exponierten oder auch abgelegenen Stellen ermöglicht — auch um den Preis der eigenen Auflösung (siehe hier im Finale, V.5.2.). Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die unterschiedlichen Zeitwerte und Zeitgefüge, welche die vorliegende Arbeit im Anschluss an Berdjáev (Kap.I.1.2.) und Vsévolodskij (Kap.II.2.) wiederholt ins Blickfeld rückt 906 : während einer Feier ein abgemessener Duktus, eine planmäßige Chronologie innewohnt („und dann - und dann - und dann“), eignet dem Fest eine trudelnde, synkopische Dynamik („dann und wann“ - „mal da, mal dort“), die solche Maßeinheiten abwechselnd aufruft oder aufhebt, also verwischt, und somit eine Tendenz zur Zeitenthobenheit aufweist. O.F. Bollnow spricht von einer „kreisenden Struktur der Zeit“ im Fest (verstärkt durch Musik und Tanz 907 ), die auf ein „in sich ruhendes Sein“ und eine tiefe Glückserfahrung von existentieller Geborgenheit im Sinne einer „ewigen Gegenwart“ (Bollnow) hinauslaufe 908 . Trotz der hier je anders formulierten / er- 904 Martin.1973.74f. 905 Ders.Ebd.74. 906 Einleitung 5., FN172/ 175 - Kap.I.1.2. (Berdjaev), I.1.5., I.2., I.3. - Kap.II.1.5., II.2. (Vsevolodskij), II.3. - Kap.III.4., FN592/ 593 - Kap.IV.3. - Kap.VI.5.2., FN1102/ 1104. 907 Vgl. dazu Kerényj.(1938/ a).[1971]1995.40. 908 Bollnow.1955.234. <?page no="297"?> D IE III. I NTERNATIONALE 293 fahrenen zeitlichen Intensität im Fest unterscheiden sich beide Beschreibungen in ihrer ‘Anthropometrie’ weniger voneinander, als von der Geometrie der sequenziell-fortlaufenden Zeitstruktur der Feier. Mit der je unterschiedlichen Dynamik verbindet sich eine Dramaturgie, die bei der Feier auf ein Zentrum oder einen Fokus zuläuft, die Beteiligten weitgehend in einer gleichen, gebündelten ‘Hauptströmung’ der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung hält (ganz gleich wie diese verläuft) und schon von daher verbindlich ist, während sie sich bei einem Fest über mehrere Knotenpunkte verteilt und disparate bzw. lose ‘Binnen-’ und netzartige ‘Nebenströme’ mit verschiedenen Akteuren hervorbringt: „Entscheidend wichtig wird, dass sich hierbei keine exklusiven Beziehungsstrukturen formieren, die wünschenswerte Fluktuationen und Austauschprozesse zwischen einander (noch) nicht bekannten Festteilnehmern und Gruppen blockieren.“ 909 Insgesamt kann die „Feier“ als „die engere Veranstaltung“ 910 gelten, wohingegen eine zeiträumlich und existentiell erfahrbare „Weite“ im „Fest“ 911 zu verorten wäre (Bollnow). Aus diesen Befunden und anderen Festtheorien folgt für den vorliegenden Kontext zum einen, dass insbesondere das zeitliche Erleben und Empfinden den Gesamteindruck von Fest oder Feier steuert und bestimmt 912 , und zum anderen, dass sich mit den hier (Bollnow) und oben (Martin) genannten Attributen auch der besondere „Seelenzustand“ (Bollnow) oder - körperbetonter formuliert - der spezifische ‘Aggregatzustand’ der Beteiligten beschreiben lässt (z.B. als „Ausschlag“ oder als „Wangenröte“: Einleitung 2., FN22+23). Die aus diesen Merkmalen und Eigenschaften resultierende, individuelle Disposition oder kollektive Gestimmtheit wirkt zweifellos in die sich entfaltende Organisationsform der Festteilnehmer hinein. Im Anschluss an Gebhardt wäre sie für das Fest als „Vergemeinschaf- 909 Henecka in Beilharz/ Frank.1991.21. 910 Bollnow.1955.214. 911 Ders.Ebd.238. 912 „Platon hat die ‘Atempause’ / .../ der Feste eine göttliche Gründung genannt.“ (Pieper. 1963/ a.57.) - „In den glücklicheren Epochen manifestiert das Verborgene sich immerhin von Zeit zu Zeit als anschaubare Gestalt in den großen Festtagen, an denen der Dahingang der werktäglich genutzten Zeit für einen Augenblick zum Stillstand kommt. [d.h. im orthodoxen Sinne ‘aufgehoben’ wird (Kap.II.3., FN494/ 495 und Kap.I.1.2.) - fett und kursiv MD]“ (Pieper.1963/ a.129f.) - „Die Kommunikation im Bereich der Freizeit ermöglicht ihrerseits, sich der Zeit bewusst zu werden, was zu guter Letzt auch zur Herausbildung des Feiertags [prazdnik] führt.“ (Mazaev.1978.68.) - „Dann scheint in der Festlichkeit des Sonntags etwas anderes auf, das menschliches Dasein erst zu einem menschlichen macht: dass Muße mehr ist als ungenutzte Zeit, dass es außer dem Zustand angespannter Zeitlichkeit auch die Gelöstheit eines zeitlosen Daseins gibt. [fett und kursiv MD]“ (Schrey in Beilharz/ Frank.1991.26f.) <?page no="298"?> K APITEL V. 294 tung“, für die Feier als „Vergesellschaftung“ 913 zu beschreiben, wobei sich dieser Befund mit den bereits genannten, polaren Begriffen von Berdjáev („Gemeinschaft“ - „Gesellschaft“), Porret („Publikum“ - „Volk“) und Turner („Communitas“ - „Struktur“) überschneidet (Kap.II.1.4.). Bei näherer Betrachtung fallen diese Bestimmungen jedoch eher in den funktionalen oder modalen Bereich von Fest und Feier, als dass sie deren strukturale Aspekte betreffen — weshalb an diesem Punkt auf die Einzeluntersuchungen verwiesen wird. Aus der jeweiligen Stimmungslage lassen sich somit drei zentrale Differenzkriterien zwischen „Feier“ und „Fest“ ableiten, die grundsätzlich als Tendenzwerte zu verstehen sind. Zunächst wird die Feier von einem Konzept geprägt, wohingegen das Fest von Kontingenz getragen wird: die Feier tendiert zur Leistung, das Fest zur Gabe. Zudem entfalten sich zwei Ablaufspannungen, die sich als dramaturgisches Ergebnis von Certeaus räumlichem Modell „Karte“ [Feier] oder „Weg“ [Fest] lesen lassen (zentripetaler „Ort“ der „Ordnung“ - zentrifugaler „Raum“ von ‘Optionen’: Kap.III.4.). Zuletzt ließe sich das Zeitgefüge - genauer: das Zeitempfinden - der Feier mit einem ‘Metrum’, dasjenige des Festes hingegen mit einer ‘Matrix’ in Verbindung bringen, insofern als das Fest eine Aufhebung der Zeit im Sinne ihrer Unerschöpflichkeit vermittelt — zwei Dimensionen, wie man sie aus Romeos und Julias schönem Dialog über „die Nachtigall“ oder „die Lerche“ kennt. 914 Sowohl die bei Shakespeare angedeutete Situation als auch die bisher aufgeführten Polaritäten offenbaren das Risiko des Festes, das nicht „abläuft“ sondern „glückt“, daher auch leicht „mißlingt“ 915 und in Krawalle oder Tragödien umschlagen kann 916 . Demgegenüber besteht die Fragilität der Feier in ihrer Gratwanderung zwischen dem „Erhabenen“ und dem „Lächerlichen“ 917 . Dennoch leuchtet unmittel- 913 Gebhardt.1987.52., 59., 69., 73., 74. 914 Shakespeare, W.: Romeo und Julia [1599]. 3. Aufzug, 5. Szene. 915 Martin.1973.75. - Bollnow.1955.216. 916 Neben den Beispielen in der Einleitung (Einleitung 3., FN37+38) wäre Thomas Vinterbergs „Dogma“-Film F ESTEN (D AS F EST , DK/ S 1998) zu nennen: dort provoziert der Sohn einen Eklat, als er bei einer Familienfeier den sexuellen Missbrauch durch den Vater öffentlich macht. - R OMEO UND J ULIA wäre im vorliegenden Kontext als das Paradigma des verunglückten Festes zu begreifen (Tod statt Hochzeit), denn: die Tragödie nimmt ihren Lauf nicht infolge des andauernden Konflikts der Familien (der schon ewig währt und immer so weitergehen könnte), sondern erst dann, als das Gegenstück zum chronischen Exzess der Eltern - die unbedingte Liebe der jungen Leute - hinzutritt, und das feinjustierte, wohlgepflegte, gutgeölte Räderwerk der Feindschaft empfindlich stört (vgl. die Vorstellung von „Eltern als Heilsmittler“: Kap.III.2., FN517+518). Zwei ‘Konzepte des Absoluten’ stehen sich hier gegenüber: unvereinbar in ihrer militanten, strukturellen Ähnlichkeit. 917 Bollnow.1955.218. <?page no="299"?> D IE III. I NTERNATIONALE 295 bar ein, dass die Feier aufgrund ihres formalen Regelwerks, ihrer strengeren Inszenierung, weniger anfällig ist für Einflüsse, die eine Veranstaltung ‘torpedieren’ könnten. Was das Fest durch Überschwang und Überraschung riskiert, aber auch gewinnt, verliert die Feier an ‘Höhenrausch’ zugunsten eines gesicherten Ablaufs: „Getragene Stimmung kann man liturgisch herstellen, Gegenstimmungen jedenfalls ausschließen, Freude und Übermut aber sind nicht machbar.“ 918 Gerade die Diskontinuität und Gelöstheit, die Durchlässigkeit für Zu- und Ausfälle machen das Fest gegenüber der Feier zu einem komplexeren, „umfassenderen“ Phänomen, das weder als „Affirmation (Übermut)“ von, noch als „Rebellion (Exzess)“ gegen bestehende/ n Verhältnisse/ n, sondern als „Öffnung des Zeithorizontes“ (Tenbruck), als Erweiterung oder „Aufsprengung des Bewußtseins- und Lebensfeldes“ (Martin), als ein „metaphysisches Aufgehobensein“ (Bollnow) 919 zu begreifen ist, denn — so mein Fazit im Anschluss an K. Kerényj und A. Kotte: das Festliche hat eine unmittelbare und offenkundige Affinität zum Spiel 920 . Das Fest vermag somit eher, feierliche Momente aufzunehmen, als die Feier imstande wäre, festliche Elemente zuzulassen. 921 Bevor in der Wirkungsästhetik weitere Nachweise dargelegt werden, ist bereits hier offenkundig, dass die III. I NTERNATIONALE die Kriterien „Kontingenz“, „Weg“ und ‘Matrix’ aufweist. Mit der allgemeinen Feststimmung [1], den karrikaturesken Verfahren [5, 7] und dem fröhlichen Schluss-Konvoi [8] rückt die Aufführung in die Sphäre des Volksfestes und in den Fokus städtischer Jahrmarkttradition [7] 922 : „An den Markttagen tauchten auf den Plätzen neben den Handelszelten verschiedene Vergnügungs-Einrichtungen auf“ 923 , die nach den Hauptattraktionen benannt waren, und mit ihren Eisrutschen (góry 924 : ❐ 4 - ❐ 9 in Kap.I.), Schaukeln (kačéli: ❐ 3) und Karussellen (karuséli: ❐ 2) seit dem 18.Jh. und vereinzelt bis zum 1. Weltkrieg in 918 Martin.1973.75. 919 Tenbruck in Kap.II.2., FN454 - Martin.1973.21f. - Bollnow.1955.238. 920 Kerényj.(1938/ a).[1971]1995.38.+46. 921 Kotte, A.: „Die Welt ist kein Theater. Zur Spezifik des Festes und des theatralen Handelns“. In: Weimarer Beiträge. Jg.34, H.5/ 1998. S.782. 922 Mazaev begründet die Affinität zur Jahrmarkttradition mit der dezentralen Aufspengung der Bühne in mehrere Spielflächen unter freiem Himmel, was in den Inszenierungen der „Theaterwerkstatt“ eben zu keiner „feierlichen“, sondern zu einer „festlichen [fest--bezogenen] Interpretation des Spielorts“ geführt habe. (Mazaev.1978.318.) 923 Savuškina, N.I.: Russkaja narodnaja drama [Das russische Volksschauspiel]. Moskva 1988. S.30. 924 „Die Eisrutschberge / .../ bestehen aus einem 10-15 m hohen Holzgerüst, das oben eine Galerie trägt, von der die mit Eisquadern belegte Rutschbahn ausgeht.“ (Baedeker, K.: St. Petersburg und Umgebung. Handbuch für Reisende. Leipzig 1913. S.XVII.) <?page no="300"?> K APITEL V. 296 ganz Russland verbreitet waren 925 . Vor allem im 19.Jh. traf sich ganz Petersburg anlässlich der wichtigsten Kirchenfeiertage (Weihnachtszeit bis zum Dreikönigsfest, Butterwoche vor der Großen Fastenzeit, Osterwoche, Pfingsten 926 ) bei den überaus beliebten Volksfesten und -vergnügungen (naródnye gulján’ja) entlang der Nevá in der Altstadt mit dem Admiralitäts- und Schlossplatz, dem Aleksándrovskij-Park, dem Marsfeld und der Michájlovskij-Manege 927 : „Lieder, Reigen, Tänze, Ziehharmoniken, die leuchtenden Sarafane [schürzenartiges, langes Frauenkleid: ❐ 3] der geröteten Mädchen, die blauen Hemden der jungen Männer, Schmuckketten, Schleifen / .../ , und nebenan die Umschlag-Schaukeln und das Karussell / .../ “ 928 — all dies mischte sich mit den wetteifernden Spottversen und Werbesprüchen, mit den an- und abschwellenden Parodien und Deklamationen von Händlern und Schaustellern, Gauklern und Bärenführern, Getränke- und Spielzeug-Verkäufern. Im offenen Raum dieser allumfassenden Geräuschkulisse kam jeder mit jedem ins Gespräch und ins Geschäft — der Markt- und Rummelplatz war ein zentraler Ursprungs- und Austragungsort eines vielfältigen, verbalen Austauschs (Kap.I.2., FN278). Im abgegrenzten Bereich der Balagáne, den als Zelt oder Holzbau ausgebildeten Jahrmarkt-Theatern ( ❐ 3-5), die innen und außen mit Kerosin- Lampen beleuchtet und bunt geschmückt waren 929 , fand indes die Verschiebung zu einer visuellen Kultur statt 930 . An der Grenzlinie dieser Bereiche stand - wie bei allen Attraktionen - ein auffällig herausgeputzter Ausrufer 925 Nekrylova.1984.22. - Im Gegenzug zu den reformatorischen Konzessionen seit Abschaffung der Leibeigenschaft (1861) standen alle größeren Menschen-Ansammlungen unter besonderer staatlicher Beobachtung. Seit den 1870er Jahren wurden die Jahrmärkte und Volksfeste immer weiter in die Außenbezirke abgedrängt und verloren allmählich an Bedeutung. (Dies.Ebd.171f.) 926 Dies.Ebd.16. 927 Alekseev-Jakovlev/ Kuznecov.1948.154. - „In den wenigen Tagen während der Volksfeste hatten die Balagane, Karussells und Rutschen zehntausende Besucher — mehr, als alle moskauer und petersburger Theater im ganzen Jahr.“ (Dmitriev in Alekseev.1968. 248.) 928 V.N. Davydov (1931) zitiert in: Bogatyrëv.(1968).1971.451. - „Eine rote Bluse mit grünen Ärmeln, eine blaue Schürze, die unter den Armen mit gelben Bändern gebunden wird, eine Jacke ohne Ärmel, und ein bunter Kopfputz, der mit Gold- und Silberstickereien durchwirkt ist, - das ist das übliche Festkostüm der russischen Frau.“ (Novikov (1903) in Kuchinke/ Dmitriev.1989.28.) - Zur Farbe „rot“ siehe Kap.III.4., FN594. 929 Schlögel.1988.386. - Dmitriev in Alekseev.1968.248. - Die Balagane hatten ein Fassungsvermögen für 100 bis 1000 Zuschauer: „Drinnen gab es gut ausgestattete Bühnen, die zwar zerlegbar waren, aber aus gleichen, festverfügten Teilen montiert wurden. Vor der Bühne befand sich der Orchestergraben für zwölf-fünfzehn Musiker. Danach kamen die Logen, zwei-drei Sesselreihen, Bänke und zuletzt die Stehplätze, die in der Fachsprache ‘Verschlag’ hießen.“ (Dmitriev.Ebd.) „Außen waren sie meist geschmückt mit Lämpchen, Fähnchen, Schildern.“ (Schlögel.Ebd.) 930 Nekrylova zufolge treffen auf dem Jahrmarkt eine agrarische und industrielle Kultur aufeinander. (Nekrylova.1984.10.) <?page no="301"?> D IE III. I NTERNATIONALE 297 (zazyvála) 931 , und trieb mit kräftiger Stimme und frechen Sprüchen vom Eingang oder Balkon her das Publikum zusammen ( ❐ 4-6): „Gleich nebenan / .../ ruft ein riesiger Leierkasten mit Nebelhorn über den ganzen Platz hinweg die Leute herbei, brüllt der Marktschreier aus Leibeskräften stets das gleiche Lied vom Beginn der letzten Vorstellung / .../ .“ 932 Im Inneren erforderte ein abgestimmtes Programm eine erhöhte Konzentration auf die Akteure und ihr jeweiliges Medium: Balaláika-Spieler mit folkloristischen und satirischen Strophen, Chöre mit oder ohne Volkstanz, Feerien und Gruseltricks, Dressurnummern und Kunststücke, Marionetten-Theater und Werkzeug-Orchester, Lieder oder Legenden in „lebenden Bildern“ oder als Massenszenen, Vaudevilles und Harlekinaden, Insceniróvki von Fabeln und Poemen. 933 Vom „Gottsucher“ Lunačárskij (Kap.II.3., FN470) als „heiliger Balagan“ 934 bezeichnet, förderten die Darbietungen dieser genussvollen, heidnischen Sphäre den Austausch eher innerhalb des Publikums als zwischen Saal und Bühne, denn bis in die 1860er Jahre war die Aufführung von Szenen mit russischen Alltagsmotiven und in russischer Sprache weitgehend verboten. Zwischen den kirchlichen und politischen Empfehlungs- und allgegenwärtigen Zensurlisten hatte sich ein Repertoire aus Musik und Folklore, Variété und Zirkus herausgebildet — d.h. eine klare Tendenz zur Pantomime 935 . Mit der stärkeren Nutzung von Festdaten und -plätzen zur Selbstinszenierung der Obrigkeit seit Mitte des 19.Jh. einerseits 936 , und im Zuge einer allgemeinen Politisierung mit ruckartigen Reformanläufen anderseits (Kap.I.1.2., FN237), hielten zunehmend auch episierende Formen mit biblischen oder historisch-historisierenden Motiven ( ❐ 7, ❐ 10) und gesprochenen Texten Einzug auf den Bühnen 937 , auf die der Besucher in ganz anderer Weise als bisher, nämlich mit eigenen Pointen, Sprüchen oder Kommentaren reagieren konnte. 931 Dmitriev in Alekseev.1968.257. - Nekrylova.1984.28. - Bogatyrëv.(1968).1971.470. - Im Unterschied zur orthodoxen Sphäre (Kap.IV.5.1., FN784/ 789) war in der heidnischen Welt der Jahrmärkte, Balagane und Folklore die Maskierung (Kostüm und Schminke) weit verbreitet. Bogatyrëv zufolge hatte diese keinerlei kultischen Charakter, sondern diente einzig pragmatischen Zwecken: zum einen sollte der Akteur soweit verfremdet sein, dass er während der Aufführung vor der Dorfgemeinschaft unerkannt blieb, zum anderen musste die Rollenfigur soweit stilisiert sein, dass sie den „Herodes“ irgendwie glaubhaft machen konnte. (Ders.(1940).1971.115f.) Die Ausrufer strebten mit ihrer ausgesucht grellen, aber wenig sorgfältigen Ausstaffierung eine größtmögliche Auffälligkeit an, um viele Besucher anzulocken. (Ders.(1968).1971.470.) Beide Formen der Maskierung (Verfremdung / Nachvollziehbarkeit) hatten also den Zweck, den Kontakt zum Publikum herzustellen und aufrechtzuerhalten. 932 Savuškina.1988.33. 933 Dmitriev in Alekseev.1968.252f.+255f. - Nekrylova.1984.155. 934 Lunačarskij, A.V.: „Akademija fizičeskoj krasoty i ostroumija“ [„Eine Akademie der physischen Schönheit und des Geistes“] (1919). In: Ders.1981. S.313. 935 Bogatyrëv.(1940).1971.24.+87. - Nekrylova.1984.158f. 936 Dies.Ebd.168.+170. 937 Dies.Ebd.160. <?page no="302"?> K APITEL V. 298 Zu den beliebtesten, in alle weltanschauliche Richtungen formbaren Figuren der Volksmythologie und des Volkstheaters avanciert seitdem der draufgängerische aber edelmütige, in jeder Hinsicht schlagfertige, welt- und weibgewandte Soldat oder Ritter mit ‘Führungsqualitäten’ und der ‘Lizenz zum Heldentum’ (und die Varianten: ‘Anführer von Aufständen’, ‘Beschützer der Beleidigten’, ‘Rächer der Enterbten’, ‘Retter von Witwen und Waisen’). Ob allein (meistens) oder in Begleitung (selten), ob stolz schweigend oder rhetorisch versiert — er ist vor allem Rebell, d.h. Kämpfer aus Überzeugung und in letzter Instanz seinem (reinen) Gewissen verpflichtet: sein offizieller Auftrag oder seine konspirative Mission bestehen darin, auch auf unkonventionelle Weise Unrecht zu sühnen und Mißstände zu bekämpfen — und dort, wo schon alles zum Guten gewendet ist, zum Besseren zu steigern. Dieser Typus geht funktional und ikonographisch auf den Hl. Georg zurück ( ✳ Kappadokien, heute Türkei - † 303), der kleinasiatische Urahn aller „Soldatenheiligen“ ( ❐ 7 hier und ❐ 3 in Kap.II.). Seine berühmteste Wundertat ist die legendäre Tötung des Drachens, als nicht weniger wunderbar, aber gesichert gilt das Überstehen zahlreicher Folterungen um seines christlichen Glaubens willen. In der byzantinischen Zeit und in der orthodoxen Kultur verkörpert er den Kampf und den Widerstand ‘für die gerechte (bzw. höhere) Sache’. In der Volksmythologie ist Georg ein äußerst beliebter ‘Ostern’-Held, und die Personifizierung einer moralischen und mobilen Wehrhaftigkeit. Es gibt keine Darstellungen von ihm ohne Lanze, und nur selten ohne Pferd (wie er selbst eine Lichtgestalt: immer ein Schimmel). Georgs Nachfahre in der Neuzeit ist der stets dienstreisende und gewappnete, trink- und schussfeste Kosake, Husar oder Offizier, der mit Tressen, Narben oder einem exotischen Namen (Kap.III.3., FN547/ 558) 938 versehen, d.h. vom Vorgesetzten aus- und vom Leben gezeichnet ist — also von den Frauen geliebt und vom Schicksal auserwählt wird (kurzum: kein Drache ist ihm fremd). Oft sind ihm Attribute und Gewohnheiten eigen, die sein Erscheinungsbild - obwohl unrasiert und fern der Heimat - ins Herausragende oder gar Erhabene verlängern (Säbel, Kopfbedeckung, wallender Bart, ‘visionärer’ Blick, gebieterische Geste zum Horizont): das unverzichtbare Pferd ist nicht bloß sein Gefährt, sondern sein mobiler Sockel ( ❐ 7-11) — wie er selbst ‘von oben’ gelenkt und angetrieben von einer animalischen Kraft (V.5.2. - auch die rustikale Haartracht ist oft dieselbe: ❐ 8). Mit diesen Merkmalen wirkt der archetypische, ‘modular’ angelegte Soldat und Held eben nicht monolitisch-abgeschlossen 939 , sondern vielfältig funktionalisierbar 938 Savuškina.1988.47.+117. 939 „Kurz, in der Folklore halten sich nur solche Formen, die sich für das betreffende Kollektiv in funktionaler Hinsicht als brauchbar erweisen. Dabei / .../ kann die Funktion einer bestimmten Form durch eine andere [Funktion] ersetzt werden.“ (Bogatyrëv, P.G.: „Fol’klor kak osobaja forma tvorčestva“ [„Folklore als eine besondere Form des [kulturellen] Schaffens“] (1929). In: Ders.1971., S.372.) <?page no="303"?> D IE III. I NTERNATIONALE 299 und proxemisch flexibel: nur so entspricht er dem Effizienzkriterium der „Spaltbarkeit“, das Canetti als Spezifikum der Armee herausgestellt hat (Kap.IV.5.2., FN806+808) — nur so kann er als Einzelner die Armee schlechthin verkörpern: nicht als Abtrünniger oder Schismatiker, sondern als kleinste legitime Einheit einer höheren Macht, als wirksames ‘Molekül’, das noch alle Eigenschaften eines Ganzen, eines „Existenzials“ (Einleitung 4. - Kap.IV.5.2.), einer Gemeinschaft in sich trägt. In Anlehnung an diesen Typus manifestieren sich die staatlichen ‘Stellschrauben’ für eine Demokratisierung von Theater im Sinne einer Lockerung des zaristischen Semiose-Monopols (Kap.IV.5.1., FN789) im letzten Drittel des 19.Jh. in den Darstellungen eines breitgefassten, militärischen Milieus, und fungieren dort als sozialpolitischer Indikator: im verwegenen Abenteurertum (Schillers R ÄUBER ), in parodistischen Alltagspraktiken (D IE A USWAHL DER R EKRUTEN ), sozialkritischen Legenden (J EMEL ’ JÁN P UGAČËV - S TEN ’ KA R AZIN , A TAMAN [Anführer] DER W OLGA -R ÄUBER ) oder in patriotischen (meist pantomimischen) Schlachten-Stücken, deren Massenszenen sich bald zu Freilicht-Formaten auswuchsen 940 . In diesem Kontext findet in den 1880er Jahren eine der ‘Mutter-Schlachten’ statt, die in räumlicher Hinsicht den S TURZ und die E RSTÜRMUNG gleichsam vorwegnimmt 941 . Doch auch kleine, krude Formen, in denen der traditionelle russische „lubók“ 942 fortlebte, 940 „In den Massen- und Schlachten-Darstellungen, die in Gärten und Parks veranstaltet wurden, war vieles von den Kriegs-Pantomimen der Jahrmarkts-Balagane übernommen, vor allem die szenischen Effekte und der gesamte Charakter der Inszenierungen: das Vorherrschen von Massenszenen, die Spektakelhaftigkeit von handgreiflichen Scharmützeln, die pausenlosen Explosionen, die Prächtigkeit von Bränden, einstürzenden Bauten [und] Befestigungen, [sowie] ein effektvolles Finale — der Sieg über den Feind.“ (Nekrylova.1984.166.) 941 „Im Moskauer Familien-Garten lief eine Aufführung, die ‘Das See-Fest in Sevastopol', oder Der Russisch-Türkische Krieg’ hieß [mit bis zu zwölftausend Zuschauern, MD], wobei die ersten beiden Akte und der letzte (vierte) im Theater stattfanden, und die Ereignisse des dritten Aktes sich auf dem Teich und im Zentrum des Gartens abspielten: ‘Am rechten Ufer stellte die Dekoration eine türkische Stadt dar: dort brannte eine riesige Festungs-Wand (100 Aršin [= 71 m] lang und 40 Aršin [= 28,40 m] hoch). Auf dem gegenüberliegenden Ufer stand eine russische Batterie mit Geschützen / Geräten für die Einnahme.’“ (Alekseev-Jakovlev zitiert nach Nekrylova.1984.166.) 942 Dies.Ebd.32.+158. - Der „lubok“ ist ein Genre der russischen Volkskunst: einzelne oder mehrere Bilder („Volksbilderbogen“) als Holzschnitt (seit dem 15.Jh.), Druckgraphik (16.Jh.), oder als Handzeichnung (18.Jh.) mit szenischen, sequenziellen Darstellungen, oft mit kurzem (satirischen) Text oder Dialog ( ❐ 9+10 - Kap.I., ❐ 10). Während die traditionelle Lubok-Produktion 1919 per Beschluss eingestellt wurde, erlebt der agitatorische Lubok einen Aufschwung mit eigenem Verlag („Segodnjašnij [Der moderne] lubok“), für den ein Großteil der bildkünstlerischen Avantgarde-Prominenz tätig war. In der Stalinzeit wird der Lubok erneut als abwertender Sammelbegriff für alles Schrille, Minderwertige oder eben ‘Holzschnittartige’ verwendet. Erst seit kurzem wird er unter kulturhistorischen Gesichtspunkten als wichtige Gattung wiederentdeckt und aufgewertet. Auch in diesem Sinne lässt sich der Lubok - neben dem japanischen Manga - als östliche Urform des Cartoons oder Comics begreifen. <?page no="304"?> K APITEL V. 300 waren heißbegehrt 943 . Ganz gleich, ob diese Spektakel mit oder ohne Text, für die Bühne oder für einen Park konzipiert waren — sie verliefen meist nach dem gleichen Muster: „Die Ausstattung war relativ üppig, entsprach aber wenig einer historischen Glaubwürdigkeit, besonders bei den Kostümen und den Waffen. Der Plot folgte einer Schablone: erstes Bild — im Lager der Russen, zweites [Bild] — im Lager des Feindes, drittes [Bild] — Massenszene einer Schlacht mit irgendwelchen starken Effekten wie einem Brand oder einer Explosion, und zum Abschluss — eine Apotheose, wo der Sieg der russischen Waffen [und] der Ruhm unseres Heeres gefeiert wurden. Manchmal erweiterte man den Plot durch eine Kriegsgefangenschaft oder die Flucht daraus oder durch die Festnahme eines Spions. Die Apotheose hatte immer den Charakter eines allegorischen Bildes. [kursiv MD]“ 944 Diese Beispiele und ihre Varianten dienen weniger dazu, das Genre der vorliegenden Manöverinszenierung über den historischen Kontext herzuleiten. Vielmehr sind daraus zwei Aspekte hervorzuheben, die für die hier anschließende Wirkungsästhetik der III. I NTERNATIONALE von Bedeutung sind. Zum einen sehe ich hier den Befund von P.G. Bogatyrëv bestätigt, demzufolge das Publikum des Volkstheaters eine ausgeprägte Vorliebe für die stets gleichen Helden, Motive und Stücke hat. Das Gleiche gilt in Bezug auf die Mittel und Verfahren des Volksfestes und seiner Genres. Hierzu zählen die allegorischen oder parodistischen Umzüge, die aus mehreren Themen-Wagen mit erhöhten Plattformen bestanden und tableaux vivants aus Fabeln oder Legenden konfigurierten 945 . Der Schluss-Konvoi mit den Lkw’s, die den jeweiligen Gruppen vorbehalten sind [8], knüpft direkt an diese Tradition an 943 Quentin Tarantino hätte seine Freude daran: „Der Vorhang geht auf. Die Handlung, ist anzunehmen, spielt sich in einer türkischen Stadt ab. Auf der Bühne stehen irgendwelche Vogelscheuchen herum, Türken, wie es scheint. Plötzlich ein Alarmsignal. Ein russischer Offizier mit verbundenen Augen wird hereingeführt. Dann wieder weggebracht. Dekorationswechsel. Es erscheint eine Stadt; ein Pascha mit irgendwelchen Weibern rennt auf der Bühne rum. Eine russische Abteilung kommt; eine Schlacht beginnt. Die Russen siegen. Bengalisches Feuer — [aber] so heftig, dass auch wirklich garnichtsmehr zu sehen ist auf der Bühne. Allmählich erkennt man, dass die russischen Soldaten dastehen und ihre Bajonette in die Türken gerammt haben — die Offiziere in Offiziere, die Generäle in Generäle. Eine Trommel dröhnt unerträglich, und mit jeder Salve lodert die Flamme der Kerzen auf. Der Vorhang geht runter. Der Lärm in den Ohren der Zuschauer hört nicht gleich auf; erst nach einer Weile ist das Gehör wieder imstande, Worte wahrzunehmen.“ (Uspenskij (1863), zitiert in: Nekrylova.1984.168.) 944 Alekseev-Jakovlev (1948), zitiert in: Nekrylova.1984.167. - Alekseev-Jakovlev ist - als namhafter Regisseur zahlreicher Unterhaltungsprogramme und künstlerischer Leiter in Volkshäusern und Balaganen - ein Zeitzeuge des 19.Jh. Ob der Begriff „Apotheose“ damals im Umlauf war oder rückwirkend auf diese Zeit bezogen wird, ließ sich hier nicht ermitteln. (Vgl. Kap.IV.5.2., FN799.) 945 Alekseev-Jakovlev/ Kuznecov.1948.124. <?page no="305"?> D IE III. I NTERNATIONALE 301 und zielt unmittelbar auf einen Wiedererkennungseffekt beim Publikum. In Bezug auf die Figuren, so Bogatyrëv weiterhin, reiche die Aktivität des „kundigen“ Zuschauers vom Einwurf einer Pointe bis zum Einbezug in einen rituellen Vorgang: „Das ästhetische Empfinden solch eines Zuschauers gleicht den ästhetischen Empfindungen des Schauspielers, der bei jeder Ausführung seiner Rolle immer und immer wieder jeden Part, jeden Monolog des Stücks durchlebt.“ 946 Zum anderen, so meine Ergänzung im Anschluss an Ch. Wulf, sind diese im weiteren Sinne mimetischen Wiederholungen kein reproduktiver Vorgang, sondern eine hochauflösende Differenzierung von Helden, Motiven und Stücken, welche die persönliche und soziale Situation des Zuschauers einbezieht — also ein produktiver (kritischer, ‘wachsamer’) Aneignungsprozess, der einen hohen Identifikationswert zur Folge, und nicht zur Voraussetzung hat (siehe „Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2., 846/ 847). V.5. Wirkungsästhetik der III. : ‘Manöverhaftigkeit’ als Spiel- und Funktionslust der Truppen V.5.1. Materialität und Ästhetizität Auch das Volkshaus ist ein historisches Monument mit einem autoritären Hintergrund und einer hierarchischen Leitung — beides Merkmale, die an der architektonischen Oberfläche abrufbar bleiben (V.3., FN886/ 891); doch im Vergleich zum Arsenal und der Festung ist sein Konzept und seine Wirkung pluralistisch, denn es gehörte zu den wichtigsten Einrichtungen der „zaristischen Fürsorge zur volksweiten Nüchternheit“ (cárskoe Popečítel’stvo o naródnoj trézvosti) 947 : „Das war eine Art Theater-Spektakel-Kombinat, bestehend aus einem Operntheater und einem Schauspiel, einer Unterhaltungsbühne für den Winter und einem Sommergarten mit einem geräumigen Theater, einer offenen Bühne und einer Konzert-Fläche, mit Achterbahnen und zahlreichen Attraktionen.“ 948 Das Volkshaus stammt aus Nížnij Nóvgorod, einem weitbekannten Traditionsort für Jahrmärkte, Warenmessen und Volksfeste 949 . 1899 wurde der ehemalige Kunstpavillon der Allrussischen Ausstellung zerlegt, und als dreigliedriges, stationäres Bauwerk in Petersburg errichtet ( ❐ 12-20): „Anfangs war das Volkshaus eine ganz eigenartige Fortsetzung der Volksvergnügungen auf den Freiflächen. [kursiv MD]“ 950 Das imposante Gebäude ist allen Schichten zugänglich und ermög- 946 Bogatyrëv.(1940).1971.58.+61. 947 Es fällt schwer, hier von einer „sozialen“ Einrichtung zu sprechen, denn: „Das Wodka- Monopol war die größte einzelne Einkommensquelle des russischen Staates.“ (Moynahan.1994.18.) - Zum Volkshaus siehe auch Kap.III.6., FN635 und Kap.IV.2.1., FN670. 948 Kuznecov in Grigor’eva/ Ščirina.1968.503. 949 Bogatyrëv.(1968).1971.450. - Schlögel.1988.385. 950 Alekseev-Jakovlev/ Kuznecov.1948.154.+155. I NTERNATIONALE <?page no="306"?> K APITEL V. 302 licht dem Publikum eine große Bewegungsfreiheit mit einem „/ .../ Zuschauersaal, dessen Parkett und obere Ränge von breiten seitlichen Fluren umsäumt waren / .../ den sogenannten Wandelgängen, von wo aus man die Aufführung im Stehen sehen konnte [kursiv MD].“ 951 Von den Petersburger Studenten und Arbeitern auf den Stehplätzen kommen während der Vorstellungen die intensivsten Reaktionen in Richtung Bühne. Die großzügigen Seitengänge werden in den Pausen ausgiebig zum Flanieren und Erproben sozialer Rollenspiele genutzt 952 . Umgekehrt setzen sich bestimmte bühnenspezifische Genres funktional nach außen fort ( ❐ 14): „Das Volkshaus hat einen Sockel der größer ist als mannshoch. In der Mitte ist eine Treppe. Der von einer Glaskuppel gekrönte Haupteingang führt in eine großzügige Eingangshalle mit Treppen zu den oberen Rängen [ ❐ 15, ❐ 16]. Im Ostflügel befindet sich das Schauspiel [mit jeder Form von Illusions- und Ausstattungstheater: Oper, Feerie, Schlachten- und Abenteurer-Stück - MD]. Im Westflügel ist der Eiserne Saal für die Unterhaltungskunst [mit mobilen, sichtbaren und offenen Formen: Zirkus-Nummern, Musik-Ensembles, Volksmärchen - MD]. Lange und breite Terrassen ziehen sich an der Fassade der Gebäudetrakte entlang. Drei Freiflächen auf einem hohen Sockel, Treppen, Durchfahrten für die Bewegungen der Kavallerie und Artillerie — wie geschaffen für ein Massenspiel! [kursiv MD]“ 953 ( ❐ 12, ❐ 13). Diese Beschreibung ruft einige wichtige Merkmale russischer Festtradition auf, denn bei der Bespielung des Volkshauses und seines Einzugsgebiets herrscht eine weitgehende Durchdringung von innen und außen: Die offene Konstruktion und unverdeckte Mechanik des Eisernen Saals mit weitläufiger Foyer-Atmosphäre und einem stehenden und flanierenden Publikum ( ❐ 20) 954 , die großzügigen Wandelgänge entlang der Sitzreihen ( ❐ 18) und die üppigen Terrassen an der Fassade, die Fortsetzung einiger Genres in den Park und die Verlängerung bestimmter Vergnügungen bis ins Volkshaus (vgl. V.4., FN940+941), das Gebäude selbst mit seinen Vorsprüngen und Durchfahrten (V.3.; ❐ 12-14), und bedingt auch die Festung als Zitat eines ‘Passionsortes’ [8-9] — diese topographisch-architektonischen Elemente und ihre proxemische und performative Nutzung erinnern an die liturgischen Praktiken des orthodoxen Osterfestes (Einleitung 5., Kap.I.1.2.). Entsprechend kennzeichnen die Dekorationen den Spielort als Festort, ohne ihn durch Aufbauten zu verdecken, also im orthodoxen Sinne zu ‘maskieren’ d.h. zu ‘verfälschen’. Der Einsatz der roten Fahne ist gegenüber demjenigen im S TURZ (Kap.IV.5.1.) intensiviert bzw. stark variiert: sie taucht 951 Dies.Ebd.154. 952 Dies.Ebd.158. 953 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.106f. 954 Anlässlich der histrionischen Aufführungen der „Volkskomödie“ wird eine weit in den „Eisernen Saal“ hineinragende Bühne erwähnt (auf der Abbildung nicht zu sehen), die sich mechanisch versenken ließ. (Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.200. - Alekseev-Jakovlev/ Kuznecov.1948.154f.) <?page no="307"?> D IE III. I NTERNATIONALE 303 oben als stationäres Banner über der zentralen Freitreppe [1] und unten als mobile Standarte bei der Parade auf [4] und stellt knapp und klar ein politisches Bekenntnis dar. Als Schmuck im Eingangsbereich (mit Aufschrift: „Es lebe die III. Internationale! “ [1]) fungiert sie als Willkommens- und Hochruf, der vielfältig wiederholt, d.h. betont wird: optisch (rote Raketen [1, 2], Standarte [3]), akustisch (Fanfarensignal [1], Hochruf, Fanfaren- Salut, Salutschüsse [2]), verbal (Grußworte Ósipov [1], Willkommensgruß und Hochuf Ósipov [2]) und proxemisch (Ehrenwache, Aufstellung der Auslands-Delegation, Marsch um die Ehrenwache [2], Parade, Hervortreten der Auslands-Delegation [3]). Dieser ‘hochfrequente’, iterative Vorgang entspricht der oben zitierten Rezension, derzufolge das Spiel keine zusammenhängende, komplexe Begebenheit entwickele, sondern „inszenierte revolutionäre Losungen“ (V.4., FN898) in einer simplen, parataktischen Struktur auf- und ausführe. Es fällt auf, dass die Zeitstruktur der deklarativen oder imperativen Ausrufe an das ‘eilige’ Dekret erinnert ([1] „Es lebe / .../ ! “, [4] ‹Wir werden / .../ ! ›, [5] ‹Mužiki! Mir nach / .../ ! ›, ‹Schlag die Weißen! ›, [6] ‹/ .../ Schickt mehr Kanonen / .../ ›), wohingegen die wenigen längeren Parts die Zeitstruktur des ‘elaborierten’ Gesetzes andeuten (Einleitung 1. - Kap.III.3. - Kap.VI.5.2.) und im Zusammenhang mit dem Revolutionstribunal auch thematisieren [7,8]. 955 Im Unterschied zu den Tönen und Klängen im S TURZ (Kap.IV.5.1.) und in der E RSTÜRMUNG (Kap.VI.5.1.) gibt es in der III. I NTERNATIONALE erkennbar weniger naturnahe Laute: die wenigsten stammen von den Pferden (Getrappel und Schnauben: 2, 3, 7, 8), die meisten kommen aus der Menge (allesamt Affekte: nachgeahmte Tierstimmen [5], Geschrei der fliehenden Popen [7] - Ovationen [2, 7], Applaus [3, 5], Gelächter [5], „Lenin-“ / Hochrufe [7]). Auffällig ist hier eine für negative und positive Figuren nahezu gleich starke Verbindung mit stilisierten Klängen. Die Tonspur der „Weißen“ besteht nicht bloß aus Musik, also der melodischen Verknüpfung von Harmonien, sondern aus der kakophonischen Verzerrung mehrerer Hymnen [4]. Nur einmal erklingt eine unverzerrte Kirchenmelodie, jedoch begleitet von einem Trommelwirbel, d.h. akustisch ‘geschreddert’, also entstellt [6]. Alle anderen akustischen Effekte bilden die Tonspur der „Roten“ und gehören in den militärischen Kontext, der die Geräusche der Pferde ebenso ‘vereinnahmt’, wie die Laute der Geräte (Gerumpel: Platzierung der Lafetten, Metallklirren: Säbelhiebe [7]) oder die Klänge von Instrumenten (musikalisch-militärischer Appell oder Alarm - gleichsam die Instrumentalfassung der „natürlichen“ Affekte: Fanfarensignal [1], Fanfarensalut [2], Salutschüsse [2], Bläser (Parade) [3], Alarm-Fanfare {wiederholt} [4], Trommelwirbel [6]). 955 Zum Zeitwert / Zeitgefüge einzelner Verfahren siehe Kap.II.2.: „Vsevolodskijs ‘dejstvovanie’“, sowie Kap.III.3.: „Das ‘Mythologische Bewusstsein’“. <?page no="308"?> K APITEL V. 304 Um diese relative Strukturgleichheit aufzubrechen und die Figuren weltanschaulich trennen und akzentuieren zu können, bedarf es eines besonderen Differenzmerkmals, welches hier ein aktiver oder eher passiver Aktionsmodus ist (ein Verfahren, das bei den Objekten wiederholt wird): Es ist anzunehmen, dass sich die partikularen Kommandos ([7]: Reiterbote, Popóv, Bábič, Ósipov) akustisch und gestisch von Ósipovs allgemein verbindlichen Ansagen [1, 2, 4, 8] und Befehlen [7] absetzen: erstens betont dies die Strategie und Arbeitsteiligkeit, zweitens kann der Zuschauer genauer verfolgen, wie exakt eine bestimmte Aktion durchgeführt wird, und drittens verleihen diese ‘Takte’ den Handlungen einen Rhythmus. Diese Vermutung wird gestützt durch die Ausrufe des „Oberkommandos“ [Ósipov: 1, 2, 4, 7, 8 - Lichoédov: 2], die fast immer zusammen mit einem Signal, Tusch, u.Ä. ertönen, wobei die mittlere Führungsebene nur mit Megaphon und ohne Sondereffekte auskommt (Reiterbote [2, 7] - die Kommandeure [7]), während für das Fuß- und Reitervolk die Hintergrundmusik des Orchesters bleibt [7]. Dagegen bleiben die ‘boshaften’ Befehle der Generäle Kolčák, Deníkin und Judénič ohne weitere Betonung und somit stärker ‘in der Luft hängen’ [5]. Der lautliche Kontrast zu dieser relativen Unwirksamkeit folgt direkt mit dem Beitrag des „Partisanen“ und der Verknüpfung ‘Exklamation - Explosion’ (Granate [5]). Die Einleitung und Auflösung dieser Sequenz, in der die inkriminierten „Admiräle und Generäle“ ihre ganze Garstigkeit ausbreiten [5, 6] und unmittelbar Anlass zum Angriff geben [7], besteht einmal in der Ehrenwache, der Auslands-Delegation [2] und der Truppenparade [3], und dann im Militärmanöver [7], im Revolutionstribunal [8] und in der Internierung [9] — also aus denjenigen Szenen, wo Wort, Tat und Tusch zusammenfallen, oder anders formuliert: wo die Rot-Armisten zeigen, ‘wo die Musik spielt’. Diese markante, lautlich-proxemische Verknüpfung und Verstärkung nach dem Muster ‘gesagt - getan’ oder ‘Befehl / Aufruf - Ausführung’ ist für die Darstellung der Entschlossenheit der Anführer (der ‘verantwortliche’ Ósipov, der ‘exponierte’ Reiterbote, die ‘risikobereiten’ Kommandeure) und die Tatkraft der Armee (die ‘wackeren’ Einheiten) unerlässlich und für den Fortgang des Geschehens konstitutiv. Die ‘geordnete’ Tonspur der Roten Armee steht somit im Kontrast zur ‘trunkenen’ Kakophonie der Weißen Generäle und vermittelt den Eindruck einer größeren Stringenz und Zuverlässigkeit. Wie im S TURZ (Kap.IV.5.1.) zu sehen war und in der E RSTÜRMUNG (Kap.VI.5.1.) zu sehen bleibt, treten die positiven Figuren auch hier höchstwahrscheinlich in ihrer unverfälschten, „natürlichen“ Amtstracht oder Alltagskleidung auf: die Delegierten in Zivil [2], die Militärs (vom Orchester [1] über die Eskorte [2] bis zum Festungs-Kommandanten [9]) in ihren jeweiligen Uniformen (der Reiterbote [1] trägt eine rote, d.h. sicherlich Gala- Uniform, was die Signalwirkung auf dem Rappen und die Sichtbarkeit im Raum verstärkt), die Miliz-Abteilung in „Einheits-Blau“ [3], die Partisanen in ihrer bäuerlichen Arbeitskleidung [5]. <?page no="309"?> D IE III. I NTERNATIONALE 305 Auch die negativen Figuren tragen mit Sicherheit echte Kleidung und keine angefertigten Kostüme: die Adjutanten, „Admiräle und Generäle“ und Offiziere Uniformen mit den spezifischen Abzeichen [4], der Lakai eine Livree [5], die Popen ein Habit mit den standesgemäßen Accessoires [6]. Selbst wenn es sich um stilisierte Fundus-Stücke für eine bessere Fernsicht handeln würde, wäre das Kostüm der Armee-Einheiten einerseits und dasjenige der Generäle und Popen anderseits strukturell gleich (in beiden Fällen Uniformen). Als entscheidendes Differenzmerkmal fungiert hier wiederum die Maske, die zwar nur einmal erwähnt wird, aber in der bisherigen Logik mit einiger Sicherheit bei den Antagonisten vermutet werden kann: „Kostüme und Schminke waren prima.“ 956 Im Vergleich zum S TURZ und zur E RSTÜRMUNG heben sich die positiven Figuren der III. I NTERNATIONALE durch ihre muntere, nicht--tragische Wehrhaftigkeit ab. Nur die jeweiligen Generäle werden mit privaten Makeln gezeigt und dadurch ‘verkleinert’ (neben der besonderen Gewalttätigkeit [4, 5] die banalen Grausamkeiten: Weiber, Wodka, Schaschlik [5]): sie sind sofort als korrupter Konterpart zum ‘aufrechten’ Volkshelden (V.4.) zu erkennen. Entgegen den oben zitierten Rezensionen (V.3.) sind weder die übrigen Einzelakteure im unheilvollen Licht partikularer Schwächen, milieubedingter Konflikte oder sonstiger Not zu sehen (kein „Heldenbegräbnis“), noch werden andere darbende oder unterdrückte Gruppen gezeigt (kein ‘geknechtetes Proletariat’ — aber das leidende Vieh als ‘soziales’ Wesen [5]). Auch die Frauen [3, 5] haben ihren üblichen sozialen Kontext und die revolutionsbedingte Militarisierung hinter sich, und treten kampfbereit, geistesgegenwärtig und gerüstet auf (vgl. Kap.III.2., FN530). Der Kampf für die Revolution wird also nicht über das Opfer oder die ‘Passion’ der Arbeiterschaft legitimiert, sondern allein durch die Dekadenz und Diskreditierung der reaktionären Militär-Elite motiviert. Anders als im S TURZ (Kap.IV.2.1.) oder in der E RSTÜRMUNG (Kap.VI.2., VI.4.) wird die Darstellung einer Entwicklung von mehreren, früheren Aufständen bis zum ultimativen, aktuellen Widerstand gleichsam überflüssig: nach der Provokation durch die Generäle [5, 6] folgt der sofortige Angriff durch die Einheiten [7], und aus diesem direkten Einsatz ist unmittelbar ersichtlich, wiesehr die Zeiten, Menschen und Verhaltensweisen sich gewandelt haben (sollen). Dass diese Transformation neben den bekannten tragischen Motiven auch leichte und komische Aspekte zulässt, wird ganz bewusst in der Travestie angelegt, die seit jeher Bestandteil der heidnisch-„heiligen“ (V.4., FN934) Jahrmarkt-, Volksfest- und Balagán-Tradition ist: in zwei aufeinanderfolgenden Aktionen stehen sich die Miliz-Frauen als mannhafte ‘Flintenweiber’ [5] und die Popen als effeminierte Geistliche [7] (traditionell: lange Haare, wallende Gewänder, sanfte Stimmlage, freundliches Gemüt, allerlei Zierart an Feiertagen) mit spiegelverkehrten Geschlechter-Merkmalen, aber gleich heftigen 956 „Unter freiem Himmel.1919.1.“ <?page no="310"?> K APITEL V. 306 Zuschauer-Reaktionen gegenüber („tosender Applaus“ [5], Belustigung des Volkes „in Jahrmarkttradition“ [7]): wie die posamentierten Damen aus höheren Kreisen, vergangenen Zeiten und anderen Aufführungen mussten hier nun die geschmückten (und geschminkten? ) Popen ihre Applikationen und Anhängsel (wehende Bärte, wackelnde Kopfbedeckungen, wippende Kruzifixe) mitsamt ihrer ‘weibischen’ Aufregung im Zaum halten. Bei den Objekten (Requisiten und Attribute) ist eine Zweiteilung zu erkennen, die vom Konzept der anderen Manöverinszenierungen abweicht (siehe Kap.IV.5.1., FN789/ 790): im Regelfall werden viele echte (außerästhetische) Objekte den Protagonisten zugeordnet, während die Antagonisten mit nur wenigen echten bzw. vielen künstlichen (überzeichneten) Gegenständen hantieren, oder aber echte Gegenstände in ‘verkehrten’, ‘nicht-rechtmäßigen’ (überzeichneten) Situationen bedienen. Demgegenüber unterscheiden sich die Objekte der III. I NTERNATIONALE nach ihrem passiven oder aktiven Einsatz. Zum ‘passiven’, einfachen Inventar zählen die dekorativen Bänder der Bläser und die rote Standarte, die als reine Farb- und Signalwerte erscheinen [3], sowie die Revolutionsplakate, die das siegreiche Ende dieser Kampf- Episode markieren [8]. (Die in [8] erwähnten Karikaturen können ohne nähere Angaben nicht zugeordnet werden.) In die gleiche Kategorie gehören die Axt und Flinte des Partisanen, die als Alltags-Attribut der Personen- Charakterisierung dienen [5], sowie die Kriegs- und Kirchenfahnen, die zusammen mit den Popen nurmehr das Zitat einer religiösen Praktik und dazu die Entourage der Offiziere darstellen [6]: deren Einsatz ist eher emblematisch und bleibt ohne weiterführende dramaturgische Funktion. Dagegen werden die übrigen, ‘aktiven’ Objekte ihrem instrumentellen Ursprung und intendierten Zweck nach eingesetzt: Leuchtpistole und Megaphon [1], Lafetten-Geschütze [3], Taschentuch, Teleskop und Nebelkerzen [4], Tablett [5], Peitsche, Flinten und Granate [5], Bajonett und Säbel [7], Handschellen und Lkw [8]. Eine Ausnahme bildet der Globus [1]: als einziges „künstliches“, d.h. theatergemäßes (sonderangefertigtes) Requisit, das aber als ‘aktives’ Erinnerungsfanal und Auftaktsignal für die Episode der Verteidigung Russlands bzw. den Angriff auf die Generäle auftaucht [7], gehört er gleichwohl zur positiv besetzten Armee. Eine weitere, spiegelverkehrte Ausnahme sind Taschentuch und Tablett als echte (außerästhetische) und ‘aktive’ Dinge, die aber trotzdem zum negativ besetzten Militär gehören. So halten sich ‘passive’ Dinge und ‘aktive’ Geräte in Bezug auf die Protagonisten und Antagonisten in etwa die Waage (ähnlich wie beim Aktionsmodus) — und fallen aus der bisher beschriebenen, ästhetischen Logik heraus (die heidnische Volkstheater-Tradition durchwirkt gleichsam die orthodoxe Linie). Was die Protagonisten nun aber eindeutig ‘positiv’ macht, ist der größere Anteil der gesamten Ausstattung (hierin vergleichbar mit der E RSTÜR - MUNG , Kap.VI.5.1.). Ein weiteres, untrügliches Differenzmerkmal sind die Pferde, gleichsam die spiegelverkehrte Funktion zur Maske: wer zusätzlich zu <?page no="311"?> D IE III. I NTERNATIONALE 307 der Technik auch die kreatürlichen, unverstellten und insofern „echten“ Kräfte bezähmt (den ‘hippologischen’ Schutzpatronen Floros und Lauros sei Dank: Kap.III.2., FN517 - ❐ 3), steht dem orthodoxen Verständnis zufolge - wie der Hl. Georg - ‘auf der richtigen (rechtmäßigen) Seite’. Trotz ihrer „Echtheit“ und ihres ‘aktiven’ Einsatzes wirken nun aber die beschriebenen Objekte umso weniger als ernstzunehmendes Kriegsgerät oder als wirksame Bedrohung, je überschaubarer ihre Verwendung im Rahmen der vorhersehbaren Handlung ist. Im Gegensatz zu den Waffen und religiösen Insignien im S TURZ (Kap.IV.5.1.), die etwas Heiliges abgrenzen und bewahren, oder auch zu den Barrikaden im S TURZ (Kap.IV.2.1.) und im M YSTERIUM (Mai 1920), die für eine Zweckentfremdung der Dinge und für die Labilität von Tabuzonen stehen und den Krieg als ‘verkehrte Welt’ und existentielle Gefährdung spiegeln, geht von den hier geführten Instrumenten keinerlei Ambivalenz, Bedrohung oder Abgründigkeit aus. Und im Unterschied zu den gleichfalls zahlreichen und invasiven Waffen in der E RSTÜRMUNG (Kap.VI.5.1.) verteidigt das Arsenal der III. I NTERNATIONALE umso weniger etwas ‘Absolutes’, dessen Zerstörung oder Pervertierung zu befürchten wäre. Abgesehen von der unscharfen Munition (vgl. dagegen die Gefahr der Leerpatronen im S TURZ : Kap.IV.2.1., FN706 und Kap.IV.5.1., FN781) wirken die Waffen hier schon dadurch ‘entschärft’, dass der Kampf selbst belanglos erscheint. Hinter diesem Einsatz steht kein lohnender Gegenwert, nichts wirklich Verteidigungswürdiges: eine organisierte, voll bewaffnete Mehrheit greift eine lächerliche und dekadente, schlecht gerüstete Minderheit an, deren Unterlegenheit und Verurteilung schon im Moment ihres Auftritts feststehen. Wie bei einer Schießbude, die dem Schützen jede Deckung und alle Rückzugsmöglichkeiten bietet, wird gegen einzelne, exponierte ‘Pappfiguren’, deren Ausrüstung und Gegenwehr sehr beschränkt bleibt und deren Fluchtwege sämtlich umstellt sind, ein Aufgebot realer Waffen und echter Verbände gerichtet — und dies obendrein im Namen einer globalkommunistischen ‘Pappmaché’-Welt (Globus). Dass in dieser Aufführung der Sieg über drei schwere Gegner in satirischer Weise vorweg- und (zu) leicht genommen wird, dass hier das Fell des Bären verteilt wird, der noch längst nicht erlegt, ja nichtmal umzingelt ist — derlei Diskrepanzen versteht auch der letzte Bauer, der statt mit seinem Namen mit einem Kreuz zeichnet. Die von der Politverwaltung intendierte „Front“ der III. I NTERNATIONALE verläuft daher nicht entlang zweier als gegnerisch oder unvereinbar deklarierter, tatsächlich aber gleichermaßen ‘papierner’ und lächerlicher ‘Welten’: folgerichtig ist für die Festnahme der Generäle [7], die Konstituierung des Revolutionstribunals [8] oder die Internierung der Gefangenen [9] keine einzige Reaktion überliefert. Die evidente ‘Demarkationslinie’ der Aufführung ist vielmehr die Art und Weise, wie die weißen Generäle davongejagt werden, sie verläuft im parodistischen Modus und entlang dem, was von den Zuschauern als gültig an/ erkannt wird und worauf sie reagieren: <?page no="312"?> K APITEL V. 308 vor den Flinten und Geschützen steht nichts wirklich Echtes — aber dahinter steckt das reale Können der Truppen. V.5.2. Medialität und Semiotizität Dem hier verfolgten, aufführungszentrierten Ansatz entsprechend gibt das Zuschauerverhalten Aufschluss über den Charakter der III. I NTERNATIONALE , die der Form nach heterogen ist, der Wahrnehmung nach aber mehrheitlich und einmütig als Fest gelten kann, und zwar nicht wegen des Wetters [1], sondern aufgrund der Atmosphäre. Als Paradigma dieser Aufführung zeichnet sich eine allseitige, weitgehend freie Beweglichkeit ab: die Akteuren vollführen - zu Fuß oder zu Pferd - zahlreiche Stellungswechsel; die Zuschauer können verschiedene Positionen im Raum einnehmen („Weg“), die eine bessere Übersicht, eine höhere Konzentration und ein intensiveres Zeitempfinden ermöglichen, oder sie geraten in andere, ‘warmgelaufene’ Grüppchen, wo ein anderer Blickwinkel bestimmte Kommentare und Sprüche, ein ausgelassenes ‘Mikroklima’ und ein herabgesetztes Zeitempfinden generiert hat (‘Matrix’). So findet von allen Seiten ein netzartig-feinmaschiger, pulsierendsynkopischer Austausch und Abgleich von Wahrnehmungen und Reaktionen statt, ein stetiges, gegenseitiges Spiegeln, Anpassen und Bezeugen kommunikativer Prozesse (Kontingenz): wechselnde Perspektiven und verschiedene Intensitäten erweisen sich somit nicht als Resultanten, sondern als Determinanten des Festes. Die allgemeine Beweglichkeit und Aktivierung bewirkt offenbar eine hohe Reagibilität, denn „/ .../ die Zuhörer entgegneten jeden Aufruf, der von der ‘Bühne’ kam (die Ausrufe eines Arbeiters: ‹Es lebe die weltweite sozialistische Revolution! › wurden von der zahlreichen Menge aufgegriffen und wiederholt).“ 957 Darüberhinaus reagiert das Publikum besonders stark auf optische / visuelle Effekte und kunstfertige oder artistische Einlagen. Auf die „bunten Leuchtraketen“ [1] und die umnebelte Weltkugel mit dem Konterfei von Bauer, Arbeiter und Lenin [7] folgen „begeisterte“ [1] oder „heftige Ovationen“ mit „Hochrufen auf den ‘Genossen Lenin’“ [7]. Etwas „flacher“, dafür flächendeckend wirkt der Applaus beim Auftritt der farbigen Auslands- Delegierten [3]. „Breites Gelächter“ [5] ertönt bei der wieselhaften Dienst- und Tablett-Fertigkeit des Lakais, und die überraschend wehrhaften Damen von der Miliz ernten „tosenden Applaus“ [5]. Eine ähnliche Begeisterung dürften die herabkullernden Popen „mit gerafften Priesterröcken und lautem Geschrei“ [7] ausgelöst haben. Es fällt auf, dass nur für die Kernhandlung rund ums Volkshaus [4-8] und für die Auftakt-Parade [1-3] Reaktionen überliefert sind. Letztere bildet einen unvollständigen Rahmen, denn die eingeführten Protagonisten („echte“ Armee-Einheiten und die Delegation aus „echten“ Ausländern 958 ) erfahren 957 „III. Internationale/ b.1919.4.“ 958 Vinogradov-Mamont.[1966]1972.105f. <?page no="313"?> D IE III. I NTERNATIONALE 309 keine entsprechende ‘Entlassung’ aus der inneren Spielebene: vielmehr werden sie dort als Statisten assimiliert [8]. Hier drängt sich der Vergleich mit dem Finale im S TURZ auf, wo der Rahmen ebenfalls nicht geschlossen wurde und die Beteiligten ihre Rollen nicht verlassen haben (Kap.IV.2.1., FN714). Der entscheidende Unterschied besteht in der III. I NTERNATIONALE allerdings darin, dass die Delegierten gleichsam wie Inventarstücke ‘links liegen gelassen’ werden von der Aufmerksamkeit und der Absetzbewegung des Publikums; im S TURZ dagegen erfolgt umgekehrt ein Zustürzen auf die und eine Anähnlichung mit den Akteure/ n, und der Rahmen konnte nicht geschlossen werden, weil er im allseitigen Tumult regelrecht ‘aus den Angeln gehoben’ wurde. In der III. I NTERNATIONALE wiederum führt das Versickern der Handlung zu einer Auflösung des Rahmens, und nicht zu einer Steigerung der Vorgänge, die ein Aufbrechen des Rahmens bewirken könnte (in der W ELTKOMMUNE [Juni 1920] und in der E RSTÜRMUNG [Kap.VI.4.] wird der Rahmen vorsätzlich offengelassen bzw. vorsätzlich verschoben). Dieser gleitende Auflösungs-Effekt wird durch den mindestens zehnminütigen Fußmarsch vom Volkshaus zur Festung verstärkt [8-9]. Dabei handelt es sich gewiss nicht um den ‘mythologischen Marsch’ (Kap.III.5.), bei dem die Stationen, Verluste und Errungenschaften der Revolution in einem ‘proxemischen Dialog’ der Teilnehmer reflektiert und gewürdigt werden: denn die Gelegenheit wird vor allem genutzt, um den Heimweg anzutreten. Zieht man nochmals eine Viertelstunde für die Auftakt-Paraden ab, bleibt etwa eine Stunde für die Kernhandlung übrig, die mit der Festnahme und dem Abtransport der Generäle als hinreichend beendet gelten kann [8]: der Moment der Übergabe am Festungstor fügt dem Gezeigten nichts Entscheidendes hinzu und wirkt nurmehr wie ein Appendix — trotz des spektakulären Ortes, der wohl mitgedacht, aber eben nicht mitinszeniert wurde [9]. Selbst wenn die Armee-Einheiten und die Auslands-Delegation die folgende, abschließende „‘tagespolitische’ Kundgebung“ [9] im Ostzipfel des Aleksándrovskij-Parks begleiten, hat sich dort der Kommunikationsprozess auf andere Akteure („Agitatoren“ und „Redner“) und mehrere Orte („Festungsmauern“, „Park“, „Tróickaja-Platz“, „Kšesínskaja-Palais“, „Moschee“) verteilt, und somit grundlegend verwandelt [9]. Der Wechsel der Situation und der Sprung der Ebenen bewirken einen merklichen Abfall der Spannung, zumindest aber einen deutlichen Schwund der Rezensenten und vieler anderer Besucher. So entspricht die Dauer der Handlung der Reichweite ihrer Wirkung [8]: sie endet dort, wo Reaktionen und ihre Überlieferung ausbleiben — d.h. dort, wo die Leute sich zurückziehen und nach Hause gehen. Von hier aus lässt sich die Frage, was in dieser Manöveraufführung zur Erscheinung gelangt, leicht beantworten: es handelt sich um eine heterogene, in keiner Hinsicht „revolutionäre“ (V.4.), aber in jedem Fall sehr dynamische und streckenweise auch mitreißende Spielhandlung. Die im Rahmen, d.h. an die zeiträumlichen ‘Ränder’ plazierten Delegierten (Auftakt-Parade [3], Abschluss-Kundgebung [9]) sind weitaus passivere Beobachter, als die mobilen <?page no="314"?> K APITEL V. 310 Zuschauer ringsum. Anders als der Titel nahelegt, geht es daher nicht um die III. I NTERNATIONALE , sondern um die Bekämpfung der Konterrevolution, wobei Erstere den Anlass und Letztere den Schwerpunkt der Handlung bildet: Bei allem, was im Zusammenhang mit der Festsetzung der Generäle geschieht (und der Beitrag der Delegierten ist hier gleich null), liegt der Akzent auf der parodistischen oder artistischen Durchführung einzelner Aktionen und Sequenzen. Das Publikum reagiert dort am stärksten, wo die höchste instrumentelle und körperliche Geschicklichkeit vorherrscht: beim „Lakai“ (mit Tablett) und den „Milizionärinnen“ (mit Flinte). Wenn man davon ausgehen kann, dass den „Popen“ (mit baumelnden Accessoires) die gleiche Begeisterung entgegenbracht wurde, ist stark anzunehmen, dass dies in ähnlicher Weise für die Infanterie- und Kavallerie-Einsätze (mit Bajonett und Pferd) gegolten hat [7]. Wenn also im Laufe des Spiels ein ganzes Spektrum von schmucken und kampffähigen Einheiten weder im Elend noch im Triumph, sondern bei der Ausübung ihrer ureigenen Kompetenzen gezeigt und angefeuert werden, kommt darin ein Phänomen zum Ausdruck, das in der Medizin und in der Kulturpsychologie als „Funktionslust“ bezeichnet wird. Damit ist die als angenehm empfundene Aktivität einzelner Organe gemeint gemäß ihrer besonderen Beschaffenheit, und das daraus resultierende Erleben „der eigenen funktionalen Potentialität. Nicht die objektive Richtigkeit von Ergebnissen wäre hier der eigentliche Verstärker, sondern das Gefühl, mit bestimmten Gegebenheiten ‘richtig’ umgehen zu können.“ 959 (So neigt ein Mensch mit guter Stimme dazu, beim Singen auch das ganze Ton- und Klang-Spektrum zu nutzen, oder auch den gewöhnlichen Wirkungsradius zu überschreiten und unspezifische Laute oder Geräusche zu imitieren.) Neben dem strategischen Vermögen der oberen (Ósipov, Lichoédov - die Generäle) und mittleren Führungsebene (Reiterbote, Kommandeure - Offiziere, Adjutanten) haben vor allem die ausführenden Truppen ausgiebig Gelegenheit, ihr technisches Können vorzuführen: Reiten, Laufschritt, In-Deckung-Gehen, In-Stellung-Gehen, Lafetten-Aufstellen, Geschütze-Zünden, Bajonett- und Säbel-Einsatz, Umzingelung, Festnahme [7]. Zu den geläufigen Fähigkeiten kommen besondere Talente hinzu: wie im S TURZ (Kap.IV.5.1.) zeigen die Rot-Armisten der „Theaterwerkstatt“ (im Hintergrund der oberen Freifläche [1]), wie Tierstimmen für ästhetische Ziele eingesetzt werden [5], und erstmals in einer Manöverinszenierung zeigen Frauen, dass sie ihren kühlen Kopf bewahren und den Umgang mit der Waffe beherrschen [5]. (In der E RSTÜR - MUNG wird diese Kompetenz wegparodiert zugunsten des alten Frauenbildes: Kap.VI.2.[3, 4, 7]). Besonders die Reiter beeindrucken durch ihre Fertigkeit, sich selbst und das Fluchttier „Pferd“ unbeschadet über das Hindernis „Treppe“ hinaufzutreiben, ebenso wie die flüchtenden Popen es trotz hinderlicher Kleidung schaffen, die Treppe unfallfrei mit Saltos und Purzelbäumen hinabzukullern [7]. 959 Boesch.1980.121f. <?page no="315"?> D IE III. I NTERNATIONALE 311 Die teils artistischen, teils militärischen Verfahren machen hier erneut den Zweiklang des Begriffs „Truppe“ deutlich (nebenbei auch der „Avantgarde“ = Vorhut), die dem Theater und dem Militär gleichermaßen angehört und somit auch eine zweifache Zielgruppe anspricht: „die Armee der Zuschauer“ [9] und die Zuschauer als aktive und potentielle Soldaten (Kap.III.2., Kap.IV.2.1.). Beide Bereiche stehen in einem verwandten, funktionalen Zusammenhang, denn die Aufgabe der Armee („das Unmögliche möglich machen“) entspricht dem Gebot der Artistik („das Schwere leicht zeigen“). Effizienz und Erfolg sowie die Kunst des Könnens sind hier wechselseitig eng verwoben, denn die Geschicklichkeit einzelner Akteure bestimmt insgesamt die Kriegs‘kunst’ und folglich auch die Geschicke der ganzen Truppe. Im Zentrum der III. I NTERNATIONALE steht somit ihre ‘Manöverhaftigkeit’, die als eine wechselseitige Beherrschung von parodistischer Spiel- und militärischer „Funktionslust“ bestimmt werden kann: alles dies sieht und hört, erlebt und erkennt auch der zugereiste, analphabetische Bauer, denn er kennt die Vorgänge wie Angriffs-, Täuschungs- oder Fluchtverhalten von Soldaten, Popen und Pferden aus eigenem Erleben, ebenso wie die Spielräume und Übergangsformen dieser Verhaltensweisen — auch wenn er dafür andere Begriffe hat. So lässt sich das semiotische und symbolhafte Angebot aus diesem Befund mit Schlögels Feststellung wie folgt reformulieren: „Eine Revolution [eine Armee - MD], die sich selber spielt, hat gesiegt; sie hat Kraft bewiesen für die Tathandlung und hat einen Atem, der auch noch fürs Spiel reicht.“ (Einleitung 3., FN36) Dem Beobachter vermittelt diese Demonstration dreierlei: Erstens wird neben den Reserven im Spiel (Funktionslust) die Belastbarkeit im Ernstfall (Funktionstüchtigkeit) präsentiert bzw. präfiguriert. Zweitens lassen sich verschiedenartige Gattungen und Taktiken von Truppen (hier: artistische und militärische) erfolgreich zu einer Strategie (die Einheiten als Einheit) und zu einem Ziel (Bekämpfung der Konterrevolution) zusammenführen. Und drittens zeigen der daraus resultierende Erfolg und der Mannschaftsgeist, dass es lohnend ist, Teil der Armee zu sein oder zu werden. Eindeutiger als im S TURZ oder in der E RSTÜRMUNG offeriert die III. I NTERNATIONALE einen anderen Typus von Manöverinszenierung, worin ‘Ertrag’ („Der ‘mythologische Marsch’“, Kap.III.5.) und ‘Genuss’ (Kap.IV.5.2.) sich als Motivpaar behaupten gegenüber dem ‘Opfer’ und ‘Kampf’ als Entsagung oder Verlust. Die Perspektivsteuerung dieser Vorgänge verläuft wesentlich über die Mittel und Verfahren in der Tradition des Jahrmarktes, des Volksfestes und des Balagán, dessen Kommunikationsprozess horizontal angelegt ist, und wo ein heroischer Einzelkämpfer aus dem militärischen Milieu - der volksmythologische Held in Georgs Tradition - zur überzeitlichen Identifikationsfigur eines aktuellen Vergemeinschaftungsvorgangs wird (V.3.). Welche cha- <?page no="316"?> K APITEL V. 312 rakterliche und weltanschauliche Ausstattung, welcher situative oder dramaturgische Kontext ihm im Einzelnen bereitstehen, er verfügt über vier irreduzible Eigenschaften: Erstens ist er kein von sich aus asketisches und selten tragisches, sondern ein stets hartnäckiges, zuweilen sogar hedonistisches Agens. Zweitens bieten seine ‘modularen’ Eigenschaften eine ideale Vorlage für individuell variable, hohe Dienste und höchste Leistungen (V.4., FN937/ 939). Drittens sichert sein archetypischer Ursprung immer die Rückbindung zur (festlichen, artistischen, militärischen) Gemeinschaft oder zum „Existenzial“ (Glébkin: Einleitung 4., FN142/ 143 - Kap.IV.5.2., FN800/ 802 und FN834/ 836). Und viertens ist seine ‘hohe Mission’ ein unveräußerlicher, nur gegen ein ‘höheres Gewissen’ einlösbarer und insofern ‘absoluter’ Bestandteil seiner selbst (wie der Einsatz des Prinzen Friedrich von Homburg in Kleists gleichnamigem Stück). Wenn nun die räumliche Situation der Kernhandlung ‘oben’ (Freifläche als ‘Kommando-Bücke’) und ‘unten’ („Einsatztruppen“), d.h. in einer ‘Kippschalter’-Dynamik verläuft (V.3.), können beide Bereiche am besten überbrückt werden, wenn der volksmythologische Held seine ‘modularen’ Eigenschaften ‘vertikal’ weitergibt: für den Transfer unkonventioneller oder überdurchschnittlicher Fertigkeiten lassen sich - wie oben ausgeführt - der spielleitende Oberbefehlshaber (oder befehlshabende Oberspielleiter), die wehrhaften Frauen, sowie die trainierten Reiter-Husaren und Tierstimmen-Nachahmer anführen. Indem der mythologische Held gleichsam auf viele Einheiten verteilt wird, kann er in zwei Richtungen wirken: er sorgt einerseits für den unbedingten Erhalt, anderseits für eine relative Durchlässigkeit der Hierarchie. Analog zum „Mythologischen Bewusstsein“ (Kap.III.3.) wird der Zuschauer auf diese Weise zum Mit-Kämpfer und Mit-Akteur einer ‘(volks)mythologischen Truppe’ im Spannungsfeld zwischen Armee und Artistik. Die Perspektivsteuerung lässt hier jedoch ansatzweise und umrisshaft eine weitere Instanz erkennen: den ‘wachsamen Blick’ der Partei, der in der III. I NTERNATIONALE erstmals in Vertretung oder Begleitung durch die Auslands-Delegierten in der einleitenden Rahmenhandlung sowie über die Agitatoren und Redner in der abschließenden Kundgebung installiert wird. Vom Publikum aus betrachtet steht diese ‘Aufsicht’ außerhalb des Spiels: durch den schwachen Schluss und den unvollständigen Rahmen versickert diese Maßnahme jenseits der kollektiven Wahrnehmung. So gelingt den Veranstaltern ein Agitationsspektakel zu Ehren der Armee, nicht aber zur Aufwertung der Partei. Ein symbolhafter Transfer findet nicht statt: weder die Umkodierung des hybriden Raumes in ein eigenes hegemoniales Terrain, noch die Prägung der eigenen Autorität durch die ‘geborgte Legitimität’ und Präsenz der Armee (V.3.). Aus diesen ‘Leerstellen’ erwächst jedoch bald ein Lerneffekt für die letzten großen Massenschauspiele: in der W ELTKOMMUNE (Juni 1920) wird erstmals die Veranstalter- und Gäste-Tribüne markant plaziert, in der E RSTÜR - MUNG (November 1920) ist dieser „monarchische Punkt“ (Florénskij: <?page no="317"?> D IE III. I NTERNATIONALE 313 Kap.II.3., FN491) mit der Prominenten-Tribüne als politischem Fokus nochmals dominant potenziert: um einen historischen (Winterpalais), technischen (Regie-Podest) und inszenatorischen (Lenin-Figur) Bezugspunkt, zu einer topographischen ‘Gewaltenballung’ und Machtkonzentration (Kap.VI.4., VI.5.1.). <?page no="318"?> K APITEL V. 314 1/ Lageplan zur Manöveraufführung D IE III. I NTERNATIONALE (11.05.1919). <?page no="319"?> D IE III. I NTERNATIONALE 315 2/ Rutschbahn auf dem Marsfeld in St. Petersburg. — Photo. Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="320"?> K APITEL V. 316 3/ Volksfest. Unten links: eine Frau im roten Sarafan. — Aquarell (Ausschnitt) von Karl I. Kol’man. Erste Hälfte 19.Jh. <?page no="321"?> D IE III. I NTERNATIONALE 317 4/ Volksfest. Balagan (Jahrmarkt- / Volksfest-Theater) mit Balkon und Ausrufern. — Aquarell (Ausschnitt) von Karl I. Kol’man. Erste Hälfte 19.Jh. <?page no="322"?> K APITEL V. 318 5/ Volksfest. Balagan mit Balkon und Ausrufern. — Lithographie (Ausschnitt). Mitte 19.Jh. 6/ Ausrufer. (Schriftzug: „Matrëna“ [Frauenname]). — Zeichnung von N. Dal’kevič [Mečislav M. Dal’kevič? ]. Anfang der 1880er Jahre. <?page no="323"?> D IE III. I NTERNATIONALE 319 7-11/ Kämpfe(r) und Helden(taten). 7/ Seit Mitte des 19.Jh. mehren sich episierende Formen mit biblischen und historischen Motiven und gesprochenen Texten auf den Bühnen des Volkstheaters. Auch diese Ikone ist im Vergleich zu 3 in Kap.II. eine „erzählerische“ Ausformulierung der Wundertat des Hl. Georg. — Das Drachenwunder des Großmärtyrers Georg. - Ikone. Nordrussland. Ende 17. / Anfang 18.Jh. <?page no="324"?> K APITEL V. 320 8/ Das Bild (ca. 3x4 m) zeigt überlebensgroß drei der bekanntesten Männer der Volksmythologie (vgl. die gleiche ‘lodernde’ Haartracht von Held und Pferd): Dobrynja Nikitič, IIja Muromec, Alëša Popovič. Ganz gleich, wo man steht: die Recken bleiben ‘überragend’. Blickkontakt und ‘Augenhöhe’ erfolgen nur zwischen dem Betrachter und den Pferden (die wiederum auf gleicher ‘Augenhöhe’ mit Repins „Treidlern“ sind: Einleitung 6.) — Viktor M. Vasnecov. Recken. - Gemälde. 1898. 9/ „Jermak Timofeevič, der Bezwinger Sibiriens“. (Nekrylova.1988.105.) — Lubok. Um 1860. <?page no="325"?> D IE III. I NTERNATIONALE 321 10/ „Der türkische Pascha Muralej und der türkische Pascha Aga“. (Nekrylova. 1988.117.) — Lubok. 1820−30er Jahre. 11/ Die Schlacht von Novgorod gegen Suzdal’. — Ikone (Ausschnitt, vgl. 13 in Kap.III.). Novgorod. 1460−1470. <?page no="326"?> K APITEL V. 322 12-20/ Das Volkshaus im Aleksandrovskij-Park in St. Petersburg. 12/ Vorderfront. — Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="327"?> D IE III. I NTERNATIONALE 323 13/ Rückfront. — Photo. Anfang 20.Jh. (? ). 14/ Freigelände. — Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="328"?> K APITEL V. 324 15/ Vestibül mit Porträt der Zarin Aleksandra (Aleksandra Fëdorovna Romanova). Dahinter erstreckt sich der „Eiserne Saal“ im offenen Westflügel. — Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="329"?> D IE III. I NTERNATIONALE 325 16/ Vestibül mit Porträt des Zaren Nikolaj II. (Nikolaj Aleksandrovič Romanov). Hinter dem Porträt beginnt der (geschlossene? ) Ostflügel. — Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. 17/ „Buffet“. − Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="330"?> K APITEL V. 326 18/ Zuschauersaal im (geschlossenen? ) Ostflügel, in dem das Schauspiel angesiedelt war. — Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. 19/ Einrichtung eines Bühnenportals im „Eisernen Saal“ des offenen Westflügels. — Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="331"?> D IE III. I NTERNATIONALE 327 20/ „Saal“. Es handelt sich um den „Eisernen Saal“ im Westflügel, der die Unterhaltungskunst beherbergte. Hier fand eine der Aufführungen des S TURZES DER S ELBST - HERRSCHAFT statt (1919). — Postkarte. Ende 19. / Anfang 20.Jh. <?page no="333"?> VI. D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS als „Traditionsbruch der Feiern“ 960 (08.11.1920) 961 Zentralbezirk (vormals Kazánskij-Bezirk). Uríckij-Platz (vormals Schlossplatz). ❐ 1 VI.1. Inszenierung eines Coup d’État — Inscenirovka als Coup de théâtre „Als Höhepunkt des bewaffneten Aufstands in Petrograd gilt die sogenannte Erstürmung des Winterpalais, die Lenin und Trockij vorgeschlagen hatten, die aber aus rein militärischer Sicht völlig sinnlos war (die sechs oder zehn offiziell anerkannten Opfer der Erstürmung bleiben für immer namenlos, was nicht normal erscheint angesichts eines so exaltierten Umgangs mit den gefallenen Kämpfern der Revolution). Der Logik ihrer Initiatoren zufolge sollte 960 Piotrovskij, A.I.: „Prazdnestva 1920 goda“ [„Die Feiern des Jahres 1920“] (März 1922). In: Ders.1925.17. (= Piotrovskij.(1922/ a).1925.) 961 V ZJATIE Z IMNEGO DVORCA [(D IE E RSTÜRMUNG / E INNAHME / B ESETZUNG DES W INTERPALAIS .] - Die hier bevorzugte „Erstürmung“ greift den Überrumpelungs- Effekt der Ereignisse auf: siehe FN987/ 988 und FN 996/ 998. Organisation: Politische Verwaltung des Petrograder Militärbezirks (PUR) - Gesamtlogistik: D.Z. Tëmkin („Sonderbevollmächtigter der Armee und Flotte zur Organisation der Oktober-Feierlichkeiten“) - Künstlerische Leitung: N.N. Jevreinov - Bühne / Ausstattung: Ju.P. Annenkov - Ton / Musik: Hugo (in russischer Transskription: Gugo) I. Varlich (manchmal auch: Verlich), mit dem Symphonie-Orchester der PUR - Autorenkollektiv = Regiestab: Rote Bühne: N.V. Petrov, N.I. Mišeev, L.S. Viv’en - Weiße Bühne: A.R. Kugel’, K.N. Deržavin, A.F. Klark, A.G. Movšenzon, Ju.P. Annenkov - Schattenpantomime: Andreev, Levickij, Guzeev - Kampfhandlungen: Mirimanov, Stepanov, Glagolev. Kerenskij: Bruk [Filmschauspieler] - Lenin: kein Name überliefert (Petrov.1960.194. - Šubskij, N.: „Na ploščadi Urickogo (Vpečatlenija moskviča)“ [„Auf dem Urickij-Platz (Eindrücke eines Moskauers)“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°75, 1920. S.4. - Jevreinov, N.N.: „‘Vzjatie Zimnego dvorca’. Vospominanie ob inscenirovke v oznamenovanie 3-j godovščiny Okjabr’skoj revoljucii“ [„‘Die Erstürmung des Winterpalais’. Erinnerung an eine Inscenirovka zur Begehung des dritten Jahrestages der Oktober- Revolution“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°45, 1924. S.7f. - Deržavin, K.N.: „Massa kak takovaja (Po povodu inscenirovki ‘Vzjatie Zimnego dvorca’)“ [„Die Masse als solche“ (Zur Inscenirovka ‘Die Erstürmung des Winterpalais’)“]. In: Žizn’ iskusstva [Leben der Kunst]. N°607 vom 12.11.1920. S.2.) Rot-Armisten und Rot-Flottisten: größtenteils „die Petersburger Garnison und die Kronstädter Baltische Flotte“ (Holitscher.(1924).17.) <?page no="334"?> K APITEL VI. 330 diese Aktion eine sakrale Handlung werden, eine historische Apotheose, gleichbedeutend mit der Erstürmung der Bastille. [kursiv MD]“ 962 Eine gänzlich andere Art der Handlung und der Gemeinschaft als in der III. I NTERNATIONALE oder im S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT re--präsentiert sich in der eineinviertel Stunden dauernden E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS am Abend des 08. November 1920 (22 Uhr) 963 — genauer: am Vorabend der NÖP-Zeit, die das Ende des Räteprinzips 964 und den Beginn einer zentralistischen Parteihegemonie markiert. Für die E RSTÜRMUNG ergeben sich daraus zwei maßgebliche Faktoren: Einmal sind es keine namenlosen Frontkämpfer, die jede Phase der Insceniróvka selbst- oder mitbestimmen und -gestalten. Der Impuls dazu kam aus der Politverwaltung des Petrograder Militärbezirks (PUR), der - im Unterschied zum S TURZ - eine eigene Kulturabteilung fehlte (seit dem Spätsommer 1920 wurden die Kultur- und Theaterabteilungen der Vereinigungen und Verbände zurückgedrängt und dem NarKomPrós einverleibt). Für logistische und organisatorische Aufgaben hatten sich mittlerweile auch in anderen Bereichen militärische Praktiken eingebürgert: bis auf wenige Ausnahmen ordnete der Allrussische Verband der Kunstschaffenden (VseRábIs) landesweit eine „zwangsläufige und unentgeltliche“ 965 Beteiligung ihrer Mitglieder an der Ausrichtung der Oktober-Feierlichkeiten an. Als „kollektiver Autor“ der E RSTÜRMUNG figurieren höhergestellte Personengruppen („Regisseure, Literaten, Publizisten, Künstler, Architekten, Elektrotechniker, Militäroberste, und Parteimitglieder“ 966 ), die allesamt nicht zum ausführenden Personal zählen, sondern - angeführt von einer professionellen Riege prominenter Regisseure, Zirkusleute und Theaterkritiker - das bis dahin aufwendigste und bis heute wohl berühmteste Massenschauspiel verfassen und inszenieren. 967 962 Janginov, R.M.: „Ėkscentričeskoe v russkoj revoljucii“ [„Das Exzentrische in der russischen Revolution“]. In: Trošin, A.S. (Hg.): Kinovedčeskie zapiski 7 [Filmwissenschaftliche Aufzeichnungen 7]. Moskva 1990. S.144. 963 „Gesprächsnotiz.1920.114f.“ (siehe FN984) - Šubskij.(1920).4. - NN: „Vzjatie Zimnego Dvorca. Opyt massovogo predstavlenija. Tri sceny. Soderžanie predstavlenija“ [„Die Erstürmung des Winterpalais. Experiment einer Massenaufführung. Drei Szenen. Inhalt der Aufführung“]. In: Petrogradskaja pravda [Petrograder Pravda]. N°251 vom 07.11.1920. S.3. (= „Experiment.1920.“) 964 Siehe Kap.II.3., FN470 - Kap.IV.5.2., FN818. 965 NN: „Cirkuljarnoe pis’mo CK Vserossijskogo sojuza rabotnikov iskusstv ob učastii členov sojuza v provedenii prazdnovanija III godovščiny oktjabrja“ [„Rundbrief des ZK des VseRabIs zur Beteiligung der Mitglieder bei der Durchführung der Feier des III. Oktober-Jahrestages“]. In: Vestnik teatra [Der Theaterbote]. N°72/ 73 vom 07.11.1920. S.24. Zitiert in: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.53.116. 966 Jevreinov.(1924).7. 967 Deržavin, K.N.: „‘Vzjatie Zimnego dvorca’ v 1920 g. (K pjatiletiju inscenirovki)“ [„‘Die Erstürmung des Winterpalais’ 1920 (Zum fünften Jahrestag der Inscenirovka)“] (07.-10.11.1925). In: Jufit.1968.274. - Zu den beratenden Runden wurden zwar Veteranen der Erstürmung eingeladen (Jevreinov.(1924).7.), doch ihre Beiträge tau- <?page no="335"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 331 Ferner ist mit dem besagten Umbruch innerhalb der Festkultur eine Häufung sozialpolitischer Verbindlichkeiten mittels symbolhafter und ritueller Praktiken (Amboss-Schläge, Umhertragen von Anführerporträts, Eide) als fester Bestandteil verschiedener cultural performances zu beobachten: 1920 werden die „Subbótniki“ 968 erstmalig auf den 01. Mai gelegt, die ersten Massen-Vereidigungen der Roten Armee erfolgen während der Mai-Feier 1921, chen weder als Handlungsmotive noch als Rand-Anekdoten auf: ihr Stellenwert damals und heute geht über eine Fußnote leider nicht hinaus. 968 Die Subbotniki (subbota = Samstag) waren besondere, kollektive Arbeitseinsätze ohne Entlohnung, manchmal mit hunderten und tausenden mehr oder minder Freiwilligen, die das sozialistische Arbeits- und Gesellschaftsethos stärken und demonstrieren sollten. In Moskau findet am 01.05.1920 ein Massen-Subbotnik mit 425 Tausend Menschen und 1 Lenin statt, ferner die Grundsteinlegung zweier Denkmäler, sowie Sophokles’ König Ödipus in einer Massenaufführung von / durch Rot-Armisten. (Mazaev. 1978.303.) Die Genese des Subbotnik ähnelt / folgt dem Paradigma der Effektivierung und Engführung (VI.4.) in der E RSTÜRMUNG : Im April 1919 führen Eisenbahner eine wichtige Reparaturarbeit ihrer Bahnstrecke in einer unprätentiösen, freiwilligen Samstag-Nachtschicht durch. Mit der Veröffentlichung dieses Falls wurde daraus der „erste kommunistische Subbotnik“ und ein (spektakulärer) Präzedenzfall für weitere Sondereinsätze, die ein Jahr später als Gestaltungsmittel des Mai-Feiertags institutionalisiert wurden. (NN: „Postanovlenie Prezidiuma VCIK o prevraščenii prazdnovanija 1 Maja 1920g. vo Vserossijskij subbotnik“ [„Beschluss des Präsidiums des VCIK zur Umwandlung der Feier des 1. Mai 1920 in einen Allrussischen Subbotnik“] vom 08.04.1920. In: Dekrete.Bd.VIII.1976.20f. - NN: „Postanovlenie VCIK o sozdanii komissii dlja rukovodstva provedeniem Vserossijskogo subbotnika 1 Maja 1920 goda“ [„Beschluss des VCIK zur Schaffung einer Kommission zur Leitung und Durchführung des Allrussischen Subbotniks am 1. Mai 1920“]. Spätestens vom 24.04.1920. In: Dekrete.Bd.VIII.1976.93f.) Ende 1919 häufen sich die Freistellungen und Sondereinsätze bestimmter Berufsgruppen für strategische Instandsetzungen (Straßen, Schienen, Telegraphen) oder zivile Aufgaben (Bergungen, Transporte, Schneedienst). (NN: „Dekret SNK o porjadke otpuska zaključënnych na raboty v sovetskie učreždenija“ [„Dekret des SNK zur Regelung der Freistellung von Gefangenen für Arbeiten in sowjetischen Institutionen“] vom 17.12.1919. In: Dekrete.Bd.VII.1975.422f.) Seit Anfang 1920 erfolgen die ersten Abkommandierungen ganzer Truppenteile oder bestimmter Einheiten (in geschlossener Formation und vorbehaltlich des Frontdienstes) zu sogenannten „Arbeits-Armeen“ für infrastrukturelle Sicherungs- und Aufbauarbeiten. (NN: „Postanovlenie Soveta Oborony o Pervoj revoljucionnoj armii truda“ [„Beschluss des Rates für Verteidigung [STO] zur Ersten revolutionären Arbeits-Armee“] vom 15.01.1920. In: Dekrete. Bd.VII.1975.96f.) Vor diesem Hintergrund - und flankiert von regelmäßigen, öffentlichen Gratifikationen (vorzugsweise Naturalien) und Erklärungen der Regierungsorgane ‘auf Augenhöhe’ mit der Bevölkerung (siehe Kap.III.2., FN522+539) - stellte die Verknüpfung von „Sondereinsatz“ und „Feiertag“ einen originären Beitrag zur sowjetischen Festkultur / Aufbauleistung dar. Als der Bürgerkrieg an Schärfe verlor, schwand auch das Engagement und die Effektivität dieser Maßnahmen, deren zunehmende soziale Kontrolle und Schau-Charakter den Aus- und Anführern immer mehr Arbeit verursachte, und schließlich nurmehr auf Lenins Geburtstag beschränkt wurde. (Mazaev.1978.301f.) <?page no="336"?> K APITEL VI. 332 Umbenennungen, Totenehrungen und Fahnenweihen werden im größeren Stil seit 1922 praktiziert 969 , und die zentrale Oktober-Feier 1922 findet erstmals als „Fest der Verfassung“ mit einer feierlichen Verabschiedung von KomIntern-Delegierten auf dem Schlossplatz vor dem Winterpalais statt. 970 In der E RSTÜRMUNG signalisieren die Amboss-Schläge des Schmieds an der roten Fahne diese Wende (Handlungsverlauf [4], ❐ 19) — ein Motiv, das bereits während der Französischen Revolution auf Flugblättern, in Abhandlungen und Bilderbögen weite Verbreitung fand. In der (weithin abendländischen) Volksmythologie gilt der Schmied als gefahrenerprobte, aber auch gefährliche Figur, ist er doch Herrscher über das Feuer, über Arbeitsgerät und Waffen. In der klassischen Ikonographie ist er die Verkörperung eines „eisernen“ Willens („Die Schmiede des Vulkans“). Zu seinen Fertigkeiten gehört das „Umschmieden“ 971 — ein Motiv, das hier für eine so radikale (Geist/ Feuer > Materie/ Eisen) wie (zunehmend diskussions)resistente Transformation der Verhältnisse steht. Die Trias „Schmied, Hammer, Amboss“ - oder auch nur einzelne Hammerschläge - lassen sich also einerseits als ein rituelles Einschwören auf die anstehende Zeitenwende verstehen, und kündigen anderseits ein strenges, sozialistisches Arbeitsethos an ( ❐ 7 in Kap.III.). Diesen neuerlichen Umwälzungen entsprechend lautet meine These, dass die E RSTÜRMUNG im Ganzen und im Gegensatz zum S TURZ als eine Inszenierung von Sakralisierungen zu begreifen ist, in Lótmans Bestimmung der „Selbstübereignung“ (Kap.IV.5.2., FN812+813), d.h. als Rekurs auf eine etablierte, rituelle Syntax zum Zweck der Reproduktion ihrer Semantik, als einseitige, ‘monologische’ Verabsolutierung und Abschließung eines Symbols oder Rituals. Die Geschwindigkeit der Revolutionsereignisse erlaubt es, nur drei Jahre nach dem Machtwechsel von einer zwar kontroversen, aber zweifellos epochalen Masseninszenierung zu sprechen — ein Eindruck, der durch die Flüchtigkeit der nur einmal gespielten Aufführung 972 verstärkt wird. Allein den Vorbereitungen haftet bereits das Signum des Ultimativen an. Als ob es den S TURZ DER S ELBSTHERRSCHAFT und die nachfolgenden Manöveraufführungen nicht gegeben hätte, kündigt das offizielle Szenarium oder „Libretto“ mit der E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS den „Beginn einer weitreichenden Arbeit zur Gründung eines Theaters der Massenspiele“ 973 an — wohingegen Piotróvskij darin „das letzte und imposanteste der militärischen / manöverartigen 969 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.77f. 970 Piotrovskij, A.I.: „Prazdnik Pjatiletija“ [„Die Feier des Fünfjahrestages“] (Nov. 1922). In: Ders.1925.31f. 971 Ivleva.(1987).72. 972 Šubskij.(1920).4. - Geldern.1993.205. 973 NN: „Libretto inscenirovki ‘Vzjatie Zimnego dvorca’ (ne pozdnee 7 nojabrja 1920g.)“ [„Libretto der Inscenirovka ‘Die Erstürmung des Winterpalais’ (spätestens vom 7. November 1920)“]. In: Jufit.1968.272f. (= „Libretto Erstürmung.1920.“) <?page no="337"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 333 Massenspektakel“ 974 sieht. Ähnliche Einschätzungen wiederholen sich in verschiedenen Berichten. So betrachtet der Rezensent N. Šúbskij die „Geschichte“ als einen weiteren Protagonisten, der Augenzeuge Holitscher hingegen ein „Theater der Zukunft“ als die eigentliche Perspektive der E RSTÜRMUNG : „Sie [die Geschichte i.S.v. Historie] war es, die diese schmutzignasse Oktober- Nacht mit einem mystischen und unheimlichen Gefühl großer Katastrophen erfüllte. Und in jenen Minuten, als, wie drei Jahre zuvor die ‘Avrora’ [der Panzerkreuzer ‘Avróra’] mit ihren Kanonen losdonnerte und das Grollen ihrer Geschütze in das Knattern der Gewehre einfiel, hörte das Theater auf, Theater zu sein, indem es das Leben und die Kunst zu einem untrennbaren Ganzen verschmolz. Dieses Gefühl des Auflebens einer historischen Tragödie kann man nicht erzählen — man muss es erleben! [kursiv MD]“ (Šúbskij) 975 [11] „Über den ethischen, den künstlerischen Wert, die historische Berechtigung solchen Schauspiels kann man seine Ansicht formen wie man mag. Packend, tollkühn, aufrüttelnd und in den innersten Fibern erschütternd war es. Unvergeßlich durch seine Unmittelbarkeit, Licht, Bewegung, durch die Idee der Masse, die es trug. Hier schien dem Theater der Zukunft - dem Theater, das einer politischen Idee gehorcht und dient - in Wahrheit eine Bahn gebrochen. [kursiv MD]“ (Holitscher) 976 Noch im Probenstadium scheint die E RSTÜRMUNG nicht bloß einen Wendepunkt zu zeigen, sondern selber ein solcher zu sein: „Gewiss wird die völlig neue Errungenschaft der Regie-Technik, die nachts unter freiem Himmel im Krachen der Schüsse und im Glanz der Feuerwerke und Detonationen möglich ist, von der Masse nicht sofort gebührend beurteilt werden, aber sie darf keinesfalls von den Theoretikern oder Historikern der Bühne ignoriert werden.“ 977 Ein genauer Blick darauf zeigt jedoch, dass die Faszination des ‘erlebten’ Grenzwerts zwischen „Leben“ und „Kunst“ (Šúbskij) allzu häufig auf die damalige und nachträgliche Verblendung durch die schillernde Monumentalität und mediale Multiplizierung der E RSTÜRMUNG hinausläuft: Zum einen figuriert die Monumentalität in den Berichten als Zahlenzauber, der keine Vergleichsgrößen nennt, sondern sich am eigenen Material berauscht und darin verheddert. So schwanken die Angaben zur Vorbereitungsdauer vor Ort zwischen einer und drei Wochen 978 , und die Zahlen der 974 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.75. 975 Šubskij.(1920).5. 976 Holitscher.(1924).18f. 977 NN: „Na repeticii inscenirovki ‘Vzjatie Zimnego Dvorca’“ [„Bei der Probe der Inscenirovka ‘Die Erstürmung des Winterpalais’“]. In: Petrogradskaja pravda [Petrograder Pravda]. N°248 vom 04.11.1920. S.2. (= „Bei der Probe.1920.“) 978 Jevreinov erinnert 6 Wochen für die gesamte Vorbereitung inklusive der Ausarbeitung des Szenarios (Jevreinov.(1924).7.), Piotrovskij nennt 1 Woche für die Vorbereitung der Teilnehmer (Piotrovskij.(1922/ a).1925.17.). Die Rezensenten sprechen von 2−3 <?page no="338"?> K APITEL VI. 334 ausgewiesenen Hauptakteure der E RSTÜRMUNG - die Teilnehmer und das Winterpalais - zwischen 6.000 979 und 10.000 980 Akteuren und über 60.000 981 oder 100.000 982 Zuschauern 983 , sowie zwischen 50 oder 62 984 bis 400 985 aufleuchtenden Fenstern. 986 (Über die Anzahl des Winterpalais herrschte immerhin Einigkeit.) Zum anderen verbürgt die Aura und Einheit des Ortes scheinbar stets die „Authentizität“ und Schlüssigkeit aller Vorgänge (VI.4.) — ganz gleich, welcher oder wessen Standpunkt in diesem suggestiven Panorama eingenommen wird. Schon die Ankündigung bestimmter Effekte - etwa die Eroberung des Luftraumes durch Aeroplane - wird vereinzelt als Fakt der Aufführung dargestellt, obwohl er in den meisten Zeugenberichten fehlt 987 . Auch bei der Wochen Vorbereitungszeit mit Nachtarbeit auf dem Schlossplatz und in den umliegenden Gebäuden. (Deržavin (1925) in Jufit.1968.274. - Šubskij.(1920).4.) 979 Markov.(1927).1976.441. 980 Šubskij.(1920).5. - Jevreinov.(1924).7. 981 Šubskij.(1920).4. 982 NN: „Vzjatie Zimnego dvorca (Vpečatlenija)“ [„Die Erstürmung des Winterpalais (Eindrücke)“]. (Izvestija Petrogradskogo Soveta rabočich i krasnoarmejskich deputatov [Nachrichten des Petrograder Deputiertenrates der Arbeiter und Rot-Armisten]) (09.11.1920). In: Jufit.1968.273f. (= „Eindrücke.1920.“) 983 Zum Vergleich mit den Einwohnerzahlen Petrograds während der Revolution siehe Einleitung 2., FN19. 984 NN [NIK]: „Iz soobščenija o besede s odnim iz avtorov i režissërov massovoj inscenirovki ‘Vzjatie Zimnego’ N.N. Jevreinovym, opublikovannogo v gazete ‘Žizn' iskusstva’“ [„Aus einer Gesprächsnotiz mit einem der Autoren und Regisseure der Massen-Inscenirovka ‘Die Stürmung des Winterpalais’, N.N. Jevreinov, abgedruckt in der Zeitung ‘Leben der Kunst’“] (N°596-597 vom 30./ 31.09.1920). In: Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.50.114f. (= „Gesprächsnotiz.1920.“) - Jevreinov.(1924).8. - Verlauf und Duktus der genannten „Gesprächsnotiz“ provozieren den Verdacht, dass sich hinter dem Akronym N I K der Klarname Nikolaj Jevreinov verbirgt: der stets selbstbegeisterte, obsessive Theatermann treibt nicht nur die zur E RSTÜRMUNG genannten Zahlen und Fakten in die Höhe — im Namen einer allgegenwärtigen „Theatralität“ (Einleitung 3., FN55) multipliziert er die mediale Resonanz, indem er seine Rolle als Regisseur zum Reporter verdoppelt. Nun ja. 985 Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.282. 986 Die unkommentierte Aufzählung Ju. Annenkovs zur weißen Bühne wirkt etwas merkwürdig: „125 Ballett-Tänzer, 100 Zirkus-Leute, 1750 Extra-Studenten [? ], 200 Frauen, vorzugsweise Studentinnen [! ? ], 260 Hilfsschauspieler [Verschämte Umschreibung / politisch korrekte Bezeichnung für „Statisten“ oder „Laien“? ], 150 Assistenten.“ (Spielmann, H.: Die russische Avantgarde und die Bühne. 1890-1930. (Ausstellungskatalog). Schleswig 1991. S.34.) Ein noch aufwändigeres Massenspektakel mit dem Titel K AMPF UND S IEG DER S OWJETS auf dem Chodynka-Feld in Moskau unter Mejerchol’ds Regie scheiterte 1921 an der materiellen und logistischen Umsetzbarkeit. (Gregor/ Fülöp-Miller.1928.105. - Zolotnickij, D.I.: Budni i prazdniki Teatral’nogo Oktjabrja [Alltag und Feste des Theateroktobers ]. Leningrad 1978. S.14. - Strigalëv.(1981).114.) 987 „Gesprächsnotiz.1920.“ = Tolstoj/ Bibikova/ Levčenko.1984.Dok.50.114f. > Keržencev.[1920]1980.210. > Schlögel.1988.353. <?page no="339"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 335 Datierung interferieren E RSTÜRMUNG (die aufgeführte ‘Eroberung’ der - tatsächlich - stillen Einnahme des Winterpalais, in der Nacht vom 25. auf den 26.10. alten Stils, d.h. am 07./ 08.11.1917) und Erstürmung (die eigenmächtige Machtübernahme: Besetzung der strategisch wichtigsten Punkte am 24.10. und in der Nacht zum 25.10.; Proklamation zum „Sturz der Provisorischen Regierung“ und „Übernahme der Staatsgewalt“ am 25.10., d.h. 07.11.1917) 988 . Und noch 1961 bezeichnet sie Tamášin - entgegen den verbürgten Ereignissen - als „/ .../ eine grandiose Aufführung, die historisch wahrheitsgetreu den Sturm auf das Winterpalais im Oktober 1917 wiedergibt. Das echte Palais wurde von ‘Roten’ besetzt und von ‘Weißen’ verteidigt, und der echte Kreuzer ‘Avrora’ ‘beschoss’ ihn mit seinen Waffen. [kursiv MD]“ 989 (Vgl. Handlungsverlauf [6]). Der inflationäre und hilflose Gebrauch des Attributs historisch 990 oder von Anführungszeichen zeugt damals und auch später von einem Verschwimmen der Realitätsebenen: „Hier war alles ‘echt’, und wenn man sich mit der Beschreibung dieser inscenirovka vertraut macht, vergisst man, dass all dies nicht am 25. Oktober 1917, sondern drei Jahre später geschah.“ 991 Hinzu kommt, dass die Schnitt-Gegenschnitt-Dramaturgie aus S.M. Ėjzenštéjns Film O KTOBER von 1927/ 28 die Licht-Dunkel-Dramatik 988 Hierzu nennen die Zeitzeugen den 08.11. als Aufführungsdatum (NIK (1920) in „Gesprächsnotiz.1920.114f.“ - Šubskij.(1920).4. - „Experiment.1920.3.“ - Petrov.1960. 207.), wohingegen spätere Berichte das Datum des Machtwechsels (07.11.) übernehmen. (Volodarskaja, Je.D. / Bogatyrëva, Š.Š.: „Massovye prazdnestva“ (Vvedenie) [„Die Massenfeiern“ (Einleitung)]. In: Jufit.1968.272. - Geldern.1993.206.: vgl. VI.4., FN1080.) 989 Tamašin.1961.32. - Fülöp-Miller, R.: Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Rußland. Wien 1926. S.200. - Gregor/ Fülöp-Miller.1928.104.+105. Die ‘Aurora’ konnte das Winterpalais vielleicht beschießen wollen, aber wohl kaum treffen können: sie war auf der Großen Neva (Bol’šaja Neva) an der Nikolaevskij- Brücke (seit 1918: Leutnant-Schmidt-Brücke, heute: Blagoveščenskij-Brücke), d.h. an der zweiten Brücke etwa 1 km westlich vom Winterpalais steckengeblieben. Sie sollte nur einen Blindschuss in Richtung Peter-Und-Paul-Festung als Signal für dessen Besetzung abgeben. Dieses Signal aber, das Holitscher als grauenhaftes „Gedröhn“ bezeichnet (VI.2.[8]), hatte es in sich, denn hierfür wurden 1917 Leergeschosse verwendet, die eine weit heftigere „ear-splitting“-Wirkung hatten als die übliche Kampfmunition. (Rabinowitch, A.: „The Bolsheviks Come to Power“. In: Suny/ Adams.1990.412.) Es ist anzunehmen, dass der Effekt-Junkie Jevreinov (siehe VI.4., FN1068+1069 und oben FN984) eben diese stärkere ‘Bedröhnung’ für die Aufführung 1920 bevorzugte. Der Beschuss des Winterpalais 1917 erfolgte dann von der Festung her, war aber schwach und ungenau. 990 Die spekulative Verwendung zeigt sich in folgendem Beispiel: „Kaum hatten die Aufständischen den Hof gestürmt, gingen sogleich die Scheinwerfer auf der ‘Aurora’ an, die an ihrem historischen Platz lag.“ (Handlungsverlauf: VI.2.[5], FN1038 = Petrov. 1960.194.) Indes: die Aufgabe eines Panzerkreuzers ist es, zu kreuzen ̶ die Nikolaevskij-Brücke ist so viel oder so wenig „historisch“, wie andere Brücken, also ein Liegeplatz oder Einsatzort unter vielen anderen. 991 Mazaev.1978.339. <?page no="340"?> K APITEL VI. 336 und Massen-Motive der E RSTÜRMUNG so überzeugend und mitreißend fortsetzt, dass Film und Photos bis heute von einigen Theaterhistorikern für Dokumentarmaterial der realen Einnahme / Besetzung gehalten werden ( ❐ 7) 992 . Die zur Fiktionalisierung tendierende Monumentalität überlagert also weiterhin die ästhetische Wirklichkeit ebenso wie die außerästhetische Realität: „As a matter of fact, it was better organized than the actual storming of the Winter Palace / .../ , which was full of confusion.“ 993 Bevor „die völlig neue Errungenschaft der Regie-Technik“ (FN977) unter der „Bezugsgröße“ (VI.4.) und im Abschnitt „Wirkungsästhetik“ (VI.5.) betrachtet wird, beginnt die ‘Spurensicherung’ des Spektakels genau hier: gegen den Zahlenzauber setzt sie ein Zahlenverhältnis, gegen die Auratisierung des Winterpalais den Ortswechsel. So gab es Šúbskij zufolge auch gedämpfte Zuschauerreaktionen zur E R- STÜRMUNG : „Ich habe noch die spöttische Stimme eines neben mir stehenden Teilnehmers des Oktober-Umsturzes im Ohr. Der lauschte dem pausenlosen Geknatter der Gewehre, und sagte: ‹’17 [im Jahre 1917, MD] wurden aber weniger Patronen verteilt, als jetzt! › 994 Bereits 1919 beschreibt der Augenzeuge J. Reed die vorgeblich konzertierte und gloriose Absetzung der Kerénskij-Regierung als eine ungeordnete und nervöse Festnahme einiger erschöpfter, provisorischer Minister im nachtdüsteren, desertierten Winterpalais ( ❐ 4) — unter Ausschluss der schlafenden Öffentlichkeit Petrograds 995 : eine kleine, unheroische Aktion als Teil eines großen, dreisten 992 Für diesen Hinweis danke ich Tat’jana Zagorskaja und Aleksandr Čepurov von der Theater-Akademie in St. Petersburg. - Hierzu auch Geldern.1993.1f. - Vgl. dazu das Photo in: Astrow, W. / Slepkow, A. / Thomas, J. (Hg.): Illustrierte Geschichte der Russischen Revolution 1917. Berlin 1928. Reprint von 1970, Frankfurt a.M. S.395. - Die Aufnahme mit dem Regie-Podest an der Alexander-Säule ( ❐ 7) stammt höchstwahrscheinlich von der Generalprobe, die frühestens am 05.11.1920 auf dem Schlossplatz stattgefunden hat. Bis dahin probte man im Wappen-, Georgievskij- und Nikolaevskij-Saal des Winterpalais. („Bei der Probe.1920.2.“ - Jevreinov.(1924).7f. - Deržavin (1925) in Jufit.1968.274.) Irritierend ist eine nahezu identische Aufnahme (Rauchwolken! ) ohne Regie-Podest, die als Bild aus Ėjzenštéjns Film kursiert. 993 Deák, F.: „Russian Mass Spectacles“. In: Drama Review. N°2, Bd.19, 1975. S.20. - Geldern.1993.201. 994 Šubskij.(1920).5. - Siehe dazu auch FN989. 995 Am Abend des 25. Oktober befanden sich knapp 3000 Verteidiger der Provisorischen Regierung in kleineren Gruppen in den 1100 Zimmer und den Innenhöfen des Winterpalais (Moynahan nennt 1500 Zimmer, siehe ❐ 4. Altrichter gibt 1054 Zimmer an (Altrichter.1997.28.). So setzt sich der Zahlenrausch bis heute fort! ) Bei der Räumung am 26. Oktober war ein beträchtlicher Teil bereits geflüchtet. (Rabinowitch in Suny/ Adams.1990.410.) Im Laufe der Nacht drangen einige hundert Bolschewiki in Trupps durch die Seiten- oder Kellereingänge und sonstige Öffnungen in den Palast ein. (Reed.[1919]1983.149f.) Bei der Einnahme gab es insgesamt sechs Tote (Stöckl.1983.649.), im weiteren Verlauf in Petrograd und Umgebung „nicht einmal 2000 Tote und Verwundete“ (Rosenfeld/ a. in Nabokow.[1922]1992.177.) — ein Bruchteil gegenüber vergleichbaren Aktionen. <?page no="341"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 337 Bluffs. Und die aktuelle Revolutionssforschung lokalisiert den eigentlichen Handstreich als eine Verkettung taktischer, aber auch zufälliger Umstände, zuerst in einer Privatwohnung, und zuletzt Smól’nyj-Institut ( ❐ 18+19 in Kap.III.): Am Abend des 10. Oktober 1917 treten einige radikalisierte Mitglieder des Zentralkomitees „getarnt mit Perücken, Schminke und falschen Bärten“ 996 konspirativ in der Wohnung eines ZK-Mitglieds zusammen, um einen Majorisierungs-Putsch für den bevorstehenden Zweiten Allrussischen Sowjetkongress zu planen, bei dem die Bolschewikí „nicht die geringste Chance [hatten], / .../ eine Mehrheit zu erzielen.“ 997 Am Abend des 25. Oktober suchen bewaffnete Bolschewikí in den über 1000 Räumen des Winterpalais nach einer Handvoll verbliebener Minister, und der übermüdete Sowjetkongress in endlosen Debatten nach einer handlungsfähigen, demokratischen Linkskoalition (Kap.III.4., FN607). Auf die ‘Nacht der falschen Bärte’ folgt die ‘Nacht der langen Messer’ — durch eine dreiste Täuschung des Kongresses (d.h. der gesamten sozialistischen Flanke) schaffen die Bolschewikí kurzerhand eigene Fakten, und damit eine eigene Majorität: Die Verkündung der kurz vorher anlaufenden, eigenmächtigen Besetzung des Winterpalais (mit der vorgeschützten Unterstützung der „aufständischen Massen“) sollte die Macht der Bolschewikí symbolisch sichern, bevor ihre mehr als unsichere Stellung in den wechselvollen Ab/ Stimmungen des Kongresses vollends gescheitert wäre. Die brüskierten Linken verließen im Zorn den Kongress — die Bolschewikí aber ‘hielten die Stellung’: „By quitting the congress, we ourselves gave the Bolsheviks a monopoly of the Soviet, of the masses, and of the Revolution. By our own irrational decision, we insured the victory of Lenin’s whole ‘line’.“ 998 Die List ging auf: Die orale, kirchliche Praxis ‘Konzil schlägt Kanon’ (Kap.II.1.2.) wurde in dieser Nacht (25./ 26. Oktober 1917) als politische Paraphrase ‘Gerücht schlägt Gesetz’ sanktioniert, und sollte genau drei Jahre später (07./ 08. November 1920) - an einem weiteren Wendepunkt der Revolution - in einem großartigen Spektakel erneut beglaubigt werden. Die politische Inszenierung erfuhr damit eine Re-- Legitimierung durch ihren ‘ästhetischen Wi(e)dergänger’. Der Schnittpunkt von „Leben“ und „Kunst“ (Šúbskij) als Faszinosum der Einnahme / Besetzung oder „Erstürmung“ des Winterpalais - so meine These weiterhin - besteht nicht in der Un/ Menge echter Panzerwagen oder Veteranen, sondern ist historisch (auf die Vergangenheit gerichtet) im Rekurs auf den Sturz der Provisorischen Regierung, und historisch (eine Praktik tradierend) in der taktischen Fortführung und Überbietung symbolischer 996 Moynahan.1994.93. 997 Ders.Ebd. 998 Suchanov nach Rabinowitch in Suny/ Adams.1990.417f. - Moynahan.1994.95. - Fortan galten die linken Fraktionen als ‘Aus--Weichlinge’, die Bolschewiki aber als die standhaften Verfechter der Revolution, zumal sie bereits sehr früh und so entschieden wie niemand sonst für das Ende des Weltkriegs eingetreten waren. <?page no="342"?> K APITEL VI. 338 Bezüge und Handlungen (Wahl des Spielorts und Modus der ‘kalkulierten’ Feier: VI.4.). Beide Aktionen (die Sprengung des Kongresses 1917, die E R- STÜRMUNG DES W INTERPALAIS 1920) sind jede für sich als eine Inszenierung zu begreifen, unterscheiden sich aber durch eine klare ‘Demarkationslinie’: in beiden Fällen werden theatrale Mittel angewendet (bestimmte/ r Zeitpunkt / Zeitdauer, eigens hergerichteter Ort, falsche Bärte, echte Perücken, geprobtes Rollenspiel beim Kongress und beim Massenschauspiel, Ausrichtung auf ein bestimmtes Publikum) — allerdings sind die Teilnehmer des Kongresses 1917 viel weniger in die Spielregeln involviert als die Zuschauer der Aufführung 1920 (VI.3., FN1057/ 1061). Weit entfernt von einer repräsentativen Mehrheit (von der sich die Bezeichnung „bol’ševikí“ seit 1903 wie ein Legitimations- Siegel ableitet) und erst recht von einer transparenten Gemeinschaft, behauptet sich eine kleine, konspirative Minderheit strategisch und militant nach außen: der Coup de théâtre von 1920 re--inszeniert und reformuliert den Coup d’ État von 1917. Um den Blick auf dahingehend kaum beachtete Indizien und Effekte in der Aufführung freizulegen, wird Holitschers Bericht durch ergänzende Einzelbeobachtungen zu einer Montage des Handlungsverlaufs erweitert 999 . Die typographischen Zeichen markieren zusätzlich die Nahtstellen der anderen Quellen, die Nummerierung der Sequenzen dient einer leichteren Zuordnung bei den nachfolgenden Verweisen. VI.2. Montage des Handlungsverlaufs [1] Der nach dem ermordeten Volkskommissar Uritzky benannte Platz vor dem Winterpalais ist der ehemals Dwortzowy-Ploschtschad, d.h. Schloßplatz benannte, mit der von Nikolaus I. zum Andenken an Alexander I. errichteten, von einem ein Kreuz schwingenden Engel gekrönten Säule. » Der Urickij-Platz war durch Theateraufbauten verwandelt, durch einen hohen (wie ein einstöckiges Haus), als ‘Kommando-Brücke’ mitten auf den Platz gebauten Verschlag direkt an der Säule [ ❐ 7 - MD], der mit einer ganzen Reihe von Telephonen und Signalklingeln ausgestattet sowie mit Seilabtrennungen versehen ist ○ Im Abstand von 4-5 Sažen [ca. 10 m, MD] / .../ auf beiden Seiten der Säule / .../ ○ 1000 , die den Spielort zwischen dem Palais und den 2 Bühnen markieren, wohinter das Publikum, das keinen Platz auf den eigens errichteten Tribünen fand, keinen Zutritt hatte. « 1001 < Am Gebäude des Kriegskommissariats [vielmehr vor dem Archiv, MD] wurde eine mehrstöckige Tribüne errichtet, / .../ und vor dem Haupttor des 999 Holitscher.(1924).18.-22. 1000 „Eindrücke.1920.273.“ 1001 Jevreinov.(1924).8. <?page no="343"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 339 Palais wurden Holzstapel zusammengetragen, die dort am 7. November 1917 lagen. > 1002 [Lageplan, ❐ 5] |In den Zufahrtsstraßen zum Schloßplatz standen Truppenteile mit über 300 Automobilen und Lastkraftwagen bereit / .../ . | 1003 Der Fassade des Winterpalais gegenüber ist der weite Platz von einem riesigen, halbkreisförmigen Gebäude, dem Oberkommando, abgeschlossen [ ❐ 3]. Das Archiv, aus dem wir zusahen, befindet sich zwischen Palais und Oberkommando auf der Millionajaseite. [Lageplan, ❐ 5] [2] Zwei große Bühnen 1004 waren vor dem Oberkommando aufgeschlagen, rechts eine weiße, links eine rote { / .../ (sowohl was die Bemalung als auch was die Beleuchtung betrifft) / .../ } 1005 ; in der Mitte verband sie ein geschwungener Brückenbogen. [ ❐ 10+11] / The left platform / .../ had three horizontal levels. The main level (the largest) was connected to the square by wide stairs. Here the main crowd scenes took place. On the main platform close to the arched entrance, a quadrangular platform was raised. It was used to emphasize a small group or an individual speaker. The third platform was a long narrow platform in the back / .../ . The decor of this platform consisted of a stylized imitation of brick walls, factory chimneys, parts of machinery, and a prison ◊ (...) and even a memorial obelisk. 1006 ◊ Their interiors were lighted with a strong red light. On the opposite side of the arched entrance was the right platform / .../ . It had four horizontal levels: the main level was symmetrical to the main level of the ‘red’ / .../ and was also connected to the square by wide stairs. Mass scenes relating to the action of Provisional Government / .../ took place there. The second platform, about six feet [ca. 2 m, MD] higher / .../ , belonged to the servants of the bourgeoisie. The third level was a tribune with the members of Kerensky’s Provisional government. The fourth level was a small platform raised in the middle, slightly behind the tribune — from here Kerensky directed the members of his government. The horizontal division of the right (white) platform was in accordance with the social structure. The decor of the ‘white’ platform was a stylization of a decaying ancient hall. / 1007 1002 Deržavin (1925) in Jufit.1968.274. 1003 Schlögel.1988.363. 1004 Jevreinov gibt pro Bühne 20 Sažen an (ca. 42,60 m), Keržencev und Deržavin sprechen von 30 Sažen (ca. 63,90 m - In der Übersetzung von Keržencev sind irrtümlich „30 Meter“ angegeben.) (Jevreinov.(1924).8. - Keržencev.[1920]1980.209. - Deržavin (1925) in Jufit.1968.274.) 1005 Keržencev.[1920]1980.209f. - Die Idee der Zweiteilung der Spielfläche (samt Mittelgang / Verbindungsweg) und der roten Bühne als Bühne der „Roten“ stammt aus dem S TURZ (Kap.IV.2.1., FN672/ 674 und FN679). Die Idee der roten Tribüne als Podium der „Roten“ taucht in der III. I NTERNATIONALE auf (Kap.V.2.[9], FN875). 1006 Geldern.1993.203. 1007 Deák.(1975).15f. <?page no="344"?> K APITEL VI. 340 * Das von der Theaterwerkstatt der Roten Armee erfundene Prinzip der Gegenüberstellung zweier durch einen Übergang verbundener Spielflächen wurde hier in riesigen Maßstäben nachgebildet. * 1008 [ Hinter der Kulissen-Brücke und unter der Arkade des Oberkommandos spielte das von H.I. Varlich dirigierte, fünfhundertköpfige Orchester. 1009 ] □ Die Brücke zwischen beiden Welten bildet die Arena ihrer Zusammenstöße. Hier kämpfen und töten sie, hier siegen sie und treten ab. 1010 / Here scenes of short battles between Bolsheviks and the Provisional Government, as well as actions of desertion from one camp to another, took place. / 1011 15 000 Menschen waren Akteure, einige Berufsschauspieler darunter, die anderen Eleven der Theaterschulen, Mitglieder der Proletkultklubs, der Theatervereine der Roten Armee und der Baltischen Flotte. Am Schluß des Schauspiels spielten aber etwa 100 000 Menschen mit, die aus allen Seitenstraßen, von den Tribünen und aus den Häusern hervorströmten. ○ Inmitten der ganzen anwesenden Menge sind viele Vertreterinnen des Dorfes. Sie halten sich in engen Grüppchen, aus Angst, sich in der dichten Volksmasse zu verlieren. Jene Bäuerinnen, die zum ersten Mal Piter besuchen [Kurzform für Petrograd, St. Petersburg - MD], reagieren besonders heftig auf alle Seltsamkeiten ringsum. Mit Neugierde und einiger Aufregung beobachten sie die Scheinwerferkegel, die den wolkigen Himmel ablaufen. ○ 1012 [3] Ein leichter Regen beeinträchtigte die Wirkung; man achtete seiner nicht. Als wir nach 10 Uhr unsere Fensterplätze einnahmen, hatte das Schauspiel eben begonnen. Um 10 Uhr ächzte dumpf eine Kanone, und die Kommando-Brücke, die an die Aleksandrov-Säule geklebt war, gab das Signal für den Beginn. Die bogenförmige Brücke leuchtete auf, und 8 Fanfarenbläser bliesen einen durchdringenden Auftakt. Der Tusch verklang und sie verschwanden wieder im Dunkeln. In der darauffolgenden Stille ertönte Litolff’s machtvoller ‘Robespierre’, der vom Symphonie-Orchester des Petrograder Militärbezirks gespielt wurde. Und die Vorstellung begann. □ 1013 ◊ One hundred and fifty searchlights mounted on the roofs of surrounding buildings were switched on at once, illuminating the Whites, who opened the action. ◊ 1014 1008 Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.279. 1009 MD nach Geldern.1993.204. 1010 Šubskij.(1920).4. 1011 Deák.(1975).16. 1012 „Eindrücke.1920.273.“ 1013 Šubskij.(1920).4. 1014 Geldern.1993.204. <?page no="345"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 341 Der hoch oben an der Alexander-Säule klebende Scheinwerfer beleuchtete taghell die rechts liegende weiße Bühne, auf der soeben die provisorische Regierung Kerenskis eine Sitzung abhielt. Die Hauptfiguren der weißen Bühne waren Kerenskij, die Übergangsregierung, Würdenträger und Finanzgrößen des alten Regimes, das Frauenbataillon, Großgrundbesitzer, Bankiers und Kaufleute, Frontkämpfer, Krüppel und Invaliden, begeisterte Damen und Herren vom kompromisslerischen Typ. / .../ Das erste Licht, das die Weißen aufleuchten ließ, zeigte ihren Sieg in karikaturesker Form. Zu den Klängen der ‘Marseillaise’, die zu einer Polonaise umkomponiert war, tritt Kerenskij vor die wartenden Damen und Herren. Sein Darsteller hatte die Gestik des früheren Premiers erfasst, und im typischen Khaki weckte er die erhöhte Aufmerksamkeit der Menge. □ 1015 ○ Das Erscheinen Kerenskijs ruft Gelächter und treffsichere Pointen hervor, der die begeisterten Begrüßungen seiner Verehrer blasiert entgegennimmt. ‹Diesmal ist ihm der Hochmut etwas vergangen, wo er doch bei den Ministern und Bankiers im Ausland Klinken putzen geht›, — hört man aus einer Gruppe von Arbeitern. ‹Ja, das verdiente Geld hat seinen Preis› — entgegnet ein junger Rot-Armist, ohne dabei die Bühne aus den Augen zu lassen. ○ 1016 / These characters were usually played by professional actors. It was not an easy task to portray a negative character because the audience, encouraged to participate in the action, often got in the way, blocking the path of a representative of the ruling class or the bourgeoisie, and were often unrestrained in their expression of emotion. / 1017 Von der unsichtbaren roten Bühne her drang undeutliches Gemurmel herüber. Es war die leise murrende Menge, die genug vom Kriege hatte, aber sich Kerenskis Machtwort fügen musste, weil der Ministerrat, drüben, unter dem Vorsitz des Tribunen, soeben die Fortsetzung des Krieges bis zum siegreichen Ende beschlossen hatte. Der Scheinwerfer flog auf die rote Bühne hinüber — da sah man Arbeiter, Weiber, Kinder und Krüppel müde aus den Fabriken wanken. Verstümmelte Soldaten schleppten sich hinüber zur Brücke, weil das Aufgebot erfolgt war und neue Heerscharen zusammengestellt werden sollten. Auf der roten Bühne ging es ‘unpersönlicher’ zu [ ❐ 8, ❐ 12, ❐ 18 +19]. Dort herrschte eine zunächst graue, dumpfe, unorganisierte Masse, die dann immer aktiver, organisierter, mächtiger wurde. Aufgestachelt durch die ‘Milizen’ wandelte sie sich zur roten Garde, die durch flammendrote Banner ihre Form erhielt. □ 1018 1015 Šubskij.(1920).4. 1016 „Eindrücke.1920.273.“ 1017 Deák.(1975).21. 1018 Šubskij.(1920).4. <?page no="346"?> K APITEL VI. 342 [ Dies vollzieht sich als Überblendung von einem weißen zu einem roten Scheinwerferlicht. 1019 ] Auf der weißen Bühne schoben Kapitalisten indessen mit ihren Wänsten Geldsäcke vor den Thron Kerenskis hin, Minister sprangen von der Ministerbank und scharrten die Herrlichkeiten zu einem Haufen zusammen während drüben von der dunklen Seite her einzelne wilde Schreie sich über das Murren erhoben und der Ruf: ‹Lenin! › ‹Lenin! › undeutlich erst, dann aber schon lauter emporflackerte. « Zaghaft ertönt die ‘Internationale’, und durch die Musik hindurch dringen Rufe aus der Menge, erst einzelne, bald darauf aus hunderten Kehlen: ‹Lenin! Lenin! › / .../ Nun folgt eine Darstellung der Juli-Tage und der Kornilov-Affaire. » 1020 Nun sah man Kerenski auf seinem Thron zu Häupten der Ministerbank große Gebärden beschreiben, energisch fuchteln und auf die Geldsäcke weisen. □ Nach einer mimischen Rede, die in Gesten gehalten wurde und die, wie das seinerzeit so war — Ovationen und Blumen hervorbrachte, nahm der ‘Oberste Befehlshaber’ die Spitze der weißen Pyramide ein; unterhalb davon befanden sich an einem grünen Tisch die Minister in Gehröcken und mit riesigen Aktentaschen, und noch weiter unten war noch Platz für untertäniges Defilieren [ ❐ 9, ❐ 14]. Mit vor Eifer gekrümmten Rücken bat man einen Würdenträger um etwas. Danach kamen die Bankiers als Kreditgeber mit den Geldsäcken ‘Das Pfand der Freiheit’ [ ❐ 9, ❐ 13]. Hinter ihnen — Großgrundbesitzer und Invaliden auf Krücken mit Plakaten: ‘Krieg bis zum siegreichen Ende’ usw. usw... 1021 > Durch die Geräusche auf der ‘weißen’ Spielfläche intensivierte sich für die Zuschauer die lautliche Wahrnehmung der handelnden Masse. Hinter der Bühne applaudierten spezielle Rasseln den Reden Kerenskijs, und eine ganze Kompagnie von Requisiteuren schlug mit Hämmern die Melodie vom Klopfen der Krücken der im ersten Bild langsam daherschreitenden Invaliden. < 1022 { Kerenski empfängt mit einer rosa Flagge in der Hand die Würdenträger und die Bankiers mit der Freiheits-Anleihe. Alle schreiten rhythmisch unter einer kriegerischen Musik und unter den Rufen ‹Krieg bis zum siegreichen Ende! › } 1023 ◊ The Whites formed a chorus, with Kerensky in the role of the coryphaeus / .../ ◊ 1024 1019 MD nach Geldern.1993.206. 1020 Jevreinov (1920), zitiert in: Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.279. 1021 Šubskij.(1920).4. 1022 Deržavin.(1920).2. 1023 Keržencev.[1920]1980.211. 1024 Geldern.1993.204. <?page no="347"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 343 □ Wenn der ‘Kriegsbericht’ günstig war drehten sich alle im Walzer. Wenn die Aktien fielen, griffen die Bankiers nach den Säcken und flohen in alle Himmelsrichtungen. Unterdes saß die Übergangsregierung und tagte und tagte, und änderte dabei nur die Positur ihrer ‘Beratungen’. Für die ‘moskauer Gespräche’ hatte man übrigens einen wundervollen lautlichen Ausdruck gefunden — ein zuckersüßes Glockengeläut, vermischt mit der Melodie von: ‘Rühme ich, rühme dich, unser russischer Zar..! ’ □ 1025 Die Minister aber waren in eine sonderbare pendelnde Unruhe geraten. Sie schoben sich auf ihrer Bank unruhig hin und her, denn von der unsichtbaren roten Bühne tönte der Tumult schon rhythmischer herüber, man konnte sogar Gesang hören: Akkorde, die die „Internationale“ sein mochten, oder auch nicht. Immer noch sprach und gestikulierte Kerenski. 1026 ○ Der schnelle Wechsel der Ereignisse auf der Bühne fesselt die gespannte Aufmerksamkeit der Zuschauer. Der Umsturz-Versuch der mittlerweile verhassten Übergangsregierung Kerenskijs im Juli, der mit einer vorübergehenden Niederlage des Proletariats endete, bewirkt einen tiefen Seufzer der Enttäuschung. / .../ Im Zuge des anwachsenden revolutionären Auftriebs steigt die Stimmung der dichten, weiter einströmenden Menge von Arbeitern und Soldaten, und auch die der Zuschauer. ○ 1027 Der Ministerbank hatte sich allmählich eine einheitlich schwankende Bewegung bemächtigt. Man sah die ganze, grau gekleidete Reihe gleichförmig nach rechts, dann mit einem Ruck nach links sich biegen. Einige Male wiederholte sich dies in immer heftigere Bewegung. Da kamen mit parodistischem Wackeln die berühmten Kerenskischen Frauenbataillone auf die Bühne [ ❐ 16+17], schwangen ihre Flinten und riefen Kerenski ihr ‘Moriturae te salutant! ’ zu. [4] Während die weiße Bühne erlosch, flammte plötzlich die rote auf. { Nun erschallen die Pfeifen der Fabriken und Werke. } 1028 Um eine riesige rote Fahne drängten sich dort Arbeiter, Frauen und Kinder, Soldaten mit Waffen, Volk aller Art zusammen. Die Fabriken, die Gefängnisse, große rote Kulissen mit vergitterten, von innen hell beleuchteten Fenstern, hatten ihre Tore weit aufgetan. Immer neue Scharen entstömten ihnen, um sich um die rote Fahne zu ballen. → Auf der ‘roten Bühne’, wo eine Fahne prangt, schlägt ein Schmied auf einen Amboss. Um ihn herum gruppieren sich Arbeiter und Arbeiterinnen. Es ertönen Rufe wie: ‹Nieder mit dem Krieg! Brot her! › ← 1029 1025 Šubskij.(1920).4. 1026 Hier folgt eine plausible, aber ungesicherte Stelle aus einem Vorab-Bericht: „Agitatoren werden in die Masse der Regierungstruppen eingeschleust, und wechseln zu den Arbeitern über, erst in einzelnen Gruppen, dann in einem unaufhaltsamen Strom.“ („Experiment.1920.3.“) 1027 „Eindrücke.1920.273.“ 1028 Keržencev.[1920]1980.211. <?page no="348"?> K APITEL VI. 344 ◊ While about half the group stand forestage and hold statuesques poses, the other half rhythmically strike anvils with their hammers. ◊ 1030 / The crowds shouts pro-Soviet slogans and begins to sing the ‘International’. / 1031 Aus dem wilden Durcheinandergewoge hob sich die „Internationale“ in mächtigem, artikulierten Chor empor. → Auf der Erhöhung erscheint ein Mensch in Mantel und Mütze, alle Blicke sind auf ihn gebannt. Er ruft die Werktätigen zum bewaffneten Aufstand auf. ← 1032 Das Wort ‹Lenin! › stieg, vom Unisono tausender Kehlen emporgeschleudert, zum Himmel auf; derweil formierten sich um die Fahne die Bataillone zum Marsch nach jener Brücke hin, die die Bühnen miteinander verband. Hinüber flog der Scheinwerfer nach der weißen Seite: wie vom Sturm geschüttelt, schwankte bereits die Ministerbank hin und her. { Und nach und nach schwindet die Geschlossenheit der Weißen, ihre Marseillaise wird immer unsicherer und mißtönender. } 1033 Eine Salve von drüben — die Leibwache um Kerenski stürzt mit geschwungenen Gewehren zum Brückenbogen - die Ministerbank fällt mit einem Krach unter den Tisch - aus einer Seitengasse des Uritzkyplatzes schießen wilden Getutes zwei Automobile zu der weißen Bühne heran [ eines davon mit amerikanischer Flagge 1034 ] — Kerenski schwingt sich mit einem Saltomortale von seinem Thron über die Ministerbank zu den Stufen, die von der Bühne aufs Pflaster hinunterführen, die Automobile schlucken ihn mitsamt den Ministern und jagen in rasender Fahrt quer über den Platz an der Säule vorbei zum Winterpalais hinüber, dessen Tor sich blitzgleich öffnet und die Automobile aufnimmt. □ Da rennen sie, verfolgt vom Lichtstrahl des Scheinwerfers bis zum Tor des Winterpalais, um im Hof zu verschwinden. Die Angreifer stürzen ihnen hinterher. Es rumpeln die Lastwagen, die Artillerie. Die Luft erschallt von den Salven der ‘Avrora’ die auf der Neva steht, vom Knattern der Gewehre und Maschinenpistolen. □ 1035 / The second part begins immediately with the entrance of trucks filled with workers through the arched entrance of the General Staff building. They pass through the corridor between the spectators and head right to the Winter Palace, where military cadets and the Women’s Batallion have positioned themselves behind the huge pile of wood in order to defend it. The 1029 Chajčenko, G.A.: Sovetskij teatr. Puti razvitija [Das sowjetische Theater. Wege der Entwicklung]. Moskva 1982. S.12. 1030 Geldern.1993.205. 1031 Deák.(1975).18. 1032 Chajčenko.1982.12. 1033 Keržencev.[1920]1980.211. 1034 MD nach Geldern.1993.206. 1035 Šubskij.(1920).4. <?page no="349"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 345 first attack of the revolutionaries is stopped, but from the side entrances of the square the army arrives to help them. Infantry and armored cars fill the square in front of the Palace. After a short battle, military cadets [ ❐ 15] and the Women’s Batallion give up the last defense post and run into the Palace, followed by armed workers and soldiers. / 1036 « Zwei-drei Minuten durchgehendes Krachen. » 1037 [5] Jetzt begann das Winterpalais mitzuspielen. ∞ Kaum hatten die Aufständischen den Hof gestürmt, gingen sogleich die Scheinwerfer auf der ‘Avrora’ an, die an ihrem historischen Platz lag. Die Scheinwerfer begannen unruhig das Dach abzulaufen. ∞ 1038 Im ersten Stockwerk erglommen mit einem Schlag sämtliche Fenster in hellstem Licht — daweil ging die Aktion auf der Bühne weiter. Unter Maschinengewehrgeknatter und wildem Schießen entwickelte sich dort oben um tausend rote Fahnen ein Gefecht und Handgemenge zwischen der Roten Armee und den übriggebliebenen Weißen. Tote und Verwundete kollerten über die Brücke, die Stufen, fielen über die Brüstung des Brückenbogens auf das Pflaster des Platzes hinunter. « Unter der Arkade des Generalstabs stürmten die Panzerwagen und die gesamte rote Garde des damaligen Petrograds hervor. Von der Mojka [dem Kanal vom Marsfeld her, MD] — die Pavlovzer [das Pávlovskij-Regiment, MD]. Von der Admiralitäts-Einfahrt — bewaffnete Matrosen. Ihr gemeinsames Ziel — der Winterpalast. » 1039 [Lageplan, ❐ 5] Im Winterpalais erloschen daweil die Lichter, flammten wieder auf, erloschen wieder. { Dieses fortwährende Flimmern, das Hell- und Dunkelwerden der Fenster gibt eine lebhafte Vorstellung von der inneren Verstörtheit und dem seelischen Erleben des ungeheuren Gebäudes. } 1040 ║ In den Fenstern waren weiße Stores herabgelassen, und auf ihrem Hintergrund - mittels chinesischem Schattentheater - entwickelten sich kleine Kampfpantomimen / des Kampfes und Falls der Kerenskij-Regierung 1036 Deák.(1975).18f. 1037 Jevreinov (1920), zitiert in: Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.279. 1038 Petrov.1960.194. 1039 Jevreinov (1920), zitiert in: Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.279. 1040 Keržencev.[1920]1980.212. - Diese Stelle wirkt wie eine Paraphrase auf Jevreinov, der die „Mimik“ der Schattenrisse als Ausdruck der „inneren Kämpfe“ des Winterpalais konzipierte: „Der Regisseur muss es fertigbringen, dass die Steine zu sprechen beginnen, dass der Zuschauer spürt, was dort drinnen vorgeht, hinter diesen kalten schönen Wänden.“ („Gesprächsnotiz.1920.114f.“) Ob diese Tiefenwirkung in Richtung Palais erreicht wurde, ist nicht überliefert: denkbar ist auch der stärkere Rückbezug zur den parallel ablaufenden Brücken-Gefechten. <?page no="350"?> K APITEL VI. 346 (...).║ 1041 ∞ Die Duelle in den Fenstern endeten mit dem Sieg der Aufständischen. ∞ 1042 Minutenlang tobte die Schlacht auf dem Brückenbogen. Endlich war sie entschieden. Nun war die ganze kämpfende Masse der Soldaten zu einer Armee geeint, der Roten Armee, und machtvoll strömte diese Masse, die „Internationale“ singend, über die Treppe hinunter, dem Winterpalais zu. ○ Der zielstrebige Angriff des Winterpalais beginnt. Die Zuschauer sind elektrisiert, noch einen Moment, und die Menge, so scheint es, durchbricht die Absperrung, und läuft mit den Automobilen und Scharen von Soldaten und Arbeitern Sturm gegen die letzte Festung der verhassten Kerenskiade. ○ 1043 Aus den Seitenstraßen des Uritzkyplatzes marschierten Regimenter hervor, schloßen sich jenen von der Bühne Kommenden an, Zehntausende und Zehntausende — aber was war das? Von dort hinten, hinter dem Winterpalais, von der Newa her, erdröhnte plötzlich furchtbarer Donner! [6] Die „Aurora“, das historische Kriegsschiff, das im November 1917 das Winterpalais bombardiert hatte, feuerte jetzt, auf dem selben Fleck der Newa verankert, zur Mitwirkung an diesem Schauspiel bestellt, seine Kanonen ab, um das Mysterium zum Erlebnis der Revolution selbst zu erhöhen... [7] Das Winterpalais lag schon seit einer Weile stockfinster da. Ein Torflügel tat sich halb auf und aus ihm flitzten die Automobile mit Kerenski und den Seinen im Hui zur Millionaja hinunter und weg. ∞ Auf dem leeren [sic] Schlossplatz entspann sich die letzte satirische Episode - die Flucht des als Frau [ als Wohlfahrts-Schwester 1044 ] verkleideten Kerenskij - und die ganze Pantomime endete mit einem Feuerwerk und Salut-Schüssen. ∞ 1045 ○ Kerenskij und seine Minister retten sich per Automobil, und erregen mit ihrer überstürzten Flucht die Begeisterung der Zuschauer. Das Proletariat hat gesiegt! ‹Hurra› — tönt es von der Bühne in vielstimmigem Chor. ‹Hurra, hurra› — schallt es als Antwort von den Zuschauern her. ○ 1046 [8] Jetzt waren es bereits hunderttausend, die zum Winterpalais zogen. Der ganze riesige Platz war erfüllt von schreienden, laufenden, singenden, brüllenden Massen, die alle dem Winterpalais zustrebten. Gewehrschüsse, 1041 Annenkov, Ju.: „Revoljucija i teatr“ [„Revolution und Theater“]. In: Parižskij Vestnik [Le messager russe de Paris]. N°66 vom 22.07.1925. S.2f. 1042 Petrov.1960.194. 1043 „Eindrücke.1920.273.“ 1044 MD nach Chajčenko.1982.12. 1045 Petrov.1960.195. - Kerenskij entkam eine Woche später, nachdem Moskau von den Bolschewiki erobert war, als Matrose verkleidet ins Ausland. (Stöckl.1983.654.) 1046 „Eindrücke.1920.273.“ <?page no="351"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 347 Maschinengewehrgeratter, das furchtbare Gedröhn von der „Aurora“ her... grauenhaft, entsetzenerregend... [9] Wir hinter unserem Fenster waren ein wenig bleich geworden. Wir wußten es ja genau: solche Gelegenheiten pflegte die Gegenrevolution - nicht etwa eine von Schauspielern gestellte, sondern die wirkliche, in ihren Schlupfwinkeln auf ihre Stunde lauernde Gegenrevolution - abzuwarten, um unter der Decke des Theaterdonners und der Aufregung Putsche und Aktionen zu inszenieren und auch zu vollführen. Es gab hierfür Anhaltspunkte, Präzedenzfälle. [10] Aber alsbald stiegen Raketen, die des Feuerwerks, das das Schauspiel beschließen sollte, zum Himmel auf; die „Aurora“ verstummte, die Massen verteilten sich, verliefen sich in der Nacht, und wir kehrten schweigend in unser Haus an der Newa, gegenüber der Peter-Pauls-Festung, heim. { Man hört Sirenen, gedehnte Pfeifentöne. Feuerwerk. } 1047 ∞ Alle Scheinwerfer - von der ‘Avrora’ und vom Schlossplatz - konzentrierten sich auf eine riesige rote Fahne, die sich über dem Palais entrollte, und in allen Fenstern flammte rotes Licht auf. ∞ 1048 □ Im satten Purpur steigt aus der Dunkelheit die Fahne der Sieger über dem Palais empor. Fünf rote Sterne leuchten am Giebel auf. Raketen fliegen hoch. Diamantene Sterne erleuchten den Himmel. Ein Funkenregen sprüht Kaskaden von Feuerwerken. Die ‘Internationale’ ertönt. Zu ihren Klängen beginnt die Siegesparade, beleuchtet von Scheinwerfern und Raketen... □ 1049 ○ Das Orchester spielt die ‘Internationale’, die von mehreren zehntausend Stimmen aufgenommen wird. / .../ Momentweise wird es taghell. Erst jetzt sieht man die ganze vielköpfige Menschenmenge. Der Platz ist vollkommen mit Menschen gefüllt. / .../ Nach dem Feuerwerk fand auf dem Platz eine Parade statt. Zur Musik fuhren Einheiten der Roten Armee, Abteilungen von Matrosen und Kavallerie-Schwadrone mitten über den Platz, und begaben sich, die Kolonne überholend und vorbei an den Reihen der Zuschauer, zurück in ihre Kasernen. Die Reiterhusaren in weißen Uniformen und mit hohen Tschakos [Husarenhelme, MD] mit hell brennenden Fackeln in der Hand, stachen besonders hervor. ○ 1050 ** Den Schluß der Veranstaltung bildeten eine große Truppenparade, ein allgemeiner Chorgesang und ein Festzug, an dem sich auch das Publikum beteiligte. ** 1051 1047 Keržencev.[1920]1980.212. 1048 Petrov.1960.195. 1049 Šubskij.(1920).4f. 1050 „Eindrücke.1920.273f.“ 1051 Gregor/ Fülöp-Miller.1928.104. <?page no="352"?> K APITEL VI. 348 VI.3. Bezugsrahmen und Subtext Neben dem auslaufenden Räteprinzip, der sich formierenden Parteihegemonie und der Häufung ritueller Praktiken im öffentlichen Raum bilden zwei weitere zentrale Faktoren den Vorlauf der E RSTÜRMUNG : Zum einen ist mit der Niederschlagung Deníkins im März 1920 der Wendepunkt erreicht und nach dem Ende der Polen-Offensive und dem Krieg an der Südwest-Front (Frühjahr bis August 1920) sowie mit dem anstehenden Sieg über Vrángel’ im November das Ende des Bürgerkriegs eingeleitet. Um die Jahreshälfte 1920 erfolgen die ersten Demobilisierungen, so dass auch nach außen und in den Randgebieten sichtbar wird, dass „die größte Schlinge, die wir am Hals hatten, von uns durchtrennt wurde / .../ . [kursiv MD]“. 1052 Zum anderen führt der eklatante Mangel an Versorgungsgütern aller Art - gemessen an den Petrograder Mai-Veranstaltungen von 1920 1053 - zu einer sichtbaren Reduzierung der städtischen Dekoration zugunsten einer Konzentration auf eine zentrale Masseninszenierung im Rahmen der bevorstehenden Oktober-Feiern 1054 . Entsprechend plant die PUR, den dritten Jahrestag der Revolution „entschieden und unbeirrt“ mit einer „grandiosen Massenhandlung“ 1055 zu begehen: „Daher wurde beschlossen, an diesem denkwürdigen Tag / Gedenktag [pámjatnyj den’] vor hunderttausenden Zuschauern eine feierliche Aufführung [toržéstvennyj spektákl’] zu geben, worin die wichtigsten Ereignisse ablaufen, die der Erstürmung des Winterpalais vorangingen, und schließlich die Erstürmung selbst, die den endgültigen Sieg des Proletariats markiert.“ 1056 Entsprechend galt die E RSTÜRMUNG noch 1933 als „das glänzendste Beispiel einer politischen Aufführung.“ 1057 Wie wenig die Veranstalter ein Gedenken, wie sehr sie ein Spektakel anstrebten und auf einen garantierten Erfolg ihres Konzepts erpicht waren, geht aus drei von der Forschung kaum beachteten Sicherungsmaßnahmen hervor. Erstens wurden per Zeitungsannonce vorzugsweise Zeitzeugen der darzustellenden Ereignisse gesucht: Kriegsversehrte (Handlungsverlauf [3]), Beteiligte des Umsturzes und ehemalige Hofbedienstete 1058 . Zweitens „rechneten wir [der Regie-Stab, MD] mit den Artilleristen die Bedingungen aus, unter denen die Glasscheiben des Palais vom Kanonendonner nicht bersten würden, 1052 Lunačarskij.(1920/ a).1981.89. 1053 Schlögel.1988.358f. 1054 Stoffe, Fahnen etc. waren zu dem Zeitpunkt Mangelware, stattdessen gab es Schmuck aus Grünzeug, hölzerne Aufbauten und einige elektrifizierte Lichtdekorationen am Smol’nyj, auf dem Marsfeld, dem Urickij-Platz, an den Brudergräbern der „Waldsiedlung“. („Mitteilung.1920.115f.“) 1055 Deržavin (1925) in Jufit.1968.274. 1056 Jevreinov.(1924).7. 1057 Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.282. 1058 Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.280. - Jevreinov.(1924).7. <?page no="353"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 349 u.d.m., u.s.w.“ 1059 Und drittens wurden vorab Verhaltens-Instruktionen für die Zuschauer in Umlauf gebracht: „The spectators were well prepared; newspapers warned that the events would all be theatrical and requested that the audience not panic at the gunfire. There would be no reason to move during the performance; / .../ .“ 1060 Überdies enthielten sie Hinweise, wo und womit sich die Zuschauer im Laufe des Geschehens auch aktiv einbringen konnten. 1061 So gibt der Subtext wiederum eine genauere Auskunft über die Inszenierung, als ihr offizieller Anlass: Die bevorstehende Aufführung erhält durch die Zeitzeugen und Invaliden schon im Ansatz das Signum einer „Authentizität“, d.h. den vorgeblich ‘absoluten’, tabuierten Status der Unwiderlegbarkeit. Dieser Status wird durch Instruktionen aufrechterhalten, die darauf abzielen, ein bestimmtes Verhalten zu steuern, geplante Vorgaben einzuhalten und eine besondere Reaktion / Interaktion des Publikums zu optimieren: eben darin erkennt Piotróvskij den „Traditionsbruch der Feiern“ (VI.1., FN960) — eine bis zur „Absurdität“ getriebene, eingeübte Folgsamkeit der Beteiligten 1062 . Mit diesem Reglement und der besagten (teilweisen Zwangs)Rekrutierung der Teilnehmer ist unverkennbar ein Gefälle zwischen ‘Lenkern’ und ‘Gelenkten’ angelegt, welches den Anlass der Oktober-Ereignisse in den Hintergrund rückt, und das Anliegen der Veranstalter ins Zentrum der Feiern stellt: VI.4. Bezugsgröße: Die E RSTÜRMUNG als Triumphzug der Bolschewiki So wie die E RSTÜRMUNG vorab als „feierliches Spektakel“ 1063 geplant und angekündigt wird, dominiert auch in den frühen Rezensionen und nachfolgenden Berichten ihr spektakulärer, rauschhafter Charakter mit den eingangs genannten, ‘dröhnenden’ Superlativen. Außer als „völlig neue Errungenschaft der Regie-Technik“ (VI.1., FN977) figuriert sie im Probenbericht als „Insceniróvka“ und „Spektakel“, während Keržéncev sie als „kolossale Massenaufführung“, Gorčakóv gar als „von den Maßstäben imposanteste ‘Mas- 1059 Jevreinov.(1924).8. 1060 Geldern.1993.203. 1061 Keržencev.[1920]1980.210. - Deák.(1975).21. - Leider konnten diese Instruktionen bei der Recherche in Petersburg nirgends ausfindig gemacht werden. 1062 „Aber insgesamt ist die Feier des 7. November zweifellos ein Traditionsbruch der Feiern, der einige ihrer Entwicklungslinien bis zur Absurdität treibt. / .../ Ohne Reglementierung gibt es kein Ritual, und in der enormen Organisiertheit der Petrograder Feiern beispielsweise im Vergleich zu den revolutionären französischen Feierlichkeiten besteht nur der unvermeidliche Unterschied von Feiern einer Klasse der Organisation der Massen — des Proletariats. Die ganze Frage ist nur, wie bewusst die für die Feierlichkeit organisierten Massen handeln.“ (Piotrovskij.(1922/ a).1925.17.) Siehe auch VI.5.2., FN1102. 1063 „Gesprächsnotiz.1920.114f.“ <?page no="354"?> K APITEL VI. 350 senhandlung’“ bezeichnet 1064 . Piotróvskij hingegen betrachtet sie wegen des geschichtsträchtigen Schauplatzes, der eine besondere Andacht aufruft, primär als „Feier“. 1065 Im Rückblick der Regisseure differenzieren sich diese Eindrücke nur wenig und ergeben ein heterogenes Bild vom Charakter der Aufführung: Während Petróv die E RSTÜRMUNG schlicht als „Massenaufführung“ erinnert, sieht Deržávin darin „eine große Panorama-Revue, voller Satire, tragischem Pathos und historischer Größe“, deren Palast-Episoden ein „grandioses Schlachten-Gemälde“ zeigen 1066 . Diese Beschreibung bestätigt Jevréinovs Regie-Konzept, wonach die drei Schauplätze jeweils „in einem komödiantischen Stil“ (weiße Bühne), „als heroisches Drama“ (rote Bühne) sowie als „Schlachten-Spektakel“ (Winterpalais) präsentiert werden 1067 . Das Ergebnis der Umsetzung bezeichnet Jevréinov in zuverlässiger Megalomanie und notorischer Selbsterhebung (VI.1., FN984) als eine „grandiose Handlung“ in einem „nie dagewesenen Maßstab“ 1068 , sowie als ein „wahrhaft-erhabenes und historisch unvergessliches Spektakel“ von „weltweit historischer Bedeutung“ 1069 . Dass diese Größenordnung und Kombination dreier „Stile“ bereits eine neue Errungenschaft der Regie darstelle, ist - angesichts der inszenatorischen Diversität der Balagáne und Volkshäuser - und gerade auch der Dimensionen der traditionellen Jahrmarkt- und Schlachten-Stücke - eine ebenso markige wie zweifelhafte Behauptung (Kap.V.4., FN940/ 944). Da die besagte Teilung in drei Genres nicht trennschaft verläuft, sondern spannungssteigernd ineinandergreift (die „Schlacht“ beginnt bereits auf der Brücke des Generalstabs [4], und setzt sich nach einer Verfolgungsjagd erst am Winterpalais [Holzstapel], dann hinter der Fassade [Schattenspiel] fort [5]), befördert sie zunächst unterschiedliche Stimmungen mit verschiedenen Intensitätsgraden, die bei der Insceniróvka schließlich in einem ähnlichen und allgemeinen, „unbedingt heiteren / gehobenen Finale“ (Kap.IV.1., FN645) kulminieren. Für die Bestimmung der Bezugsgröße ergeben sich daraus zwei besondere Probleme, die bis heute die Rezeption und Mythologisierung der E RSTÜRMUNG bestimmen: Zum einen ist - einem Naturgesetz der Ablaufspannungen zufolge - der Ausgang einer Aufführung in nahezu allen Fällen markant oder gar entscheidend für den Gesamteindruck. Hier ist der dritte Teil titelgebend für die gesamte Aufführung und maßgeblich für deren anschließende und langfristige Rezeption, denn „Die Erstürmung / Einnahme / Besetzung...“ („Vzjátie...“) zielt zuvörderst auf das Ergebnis, d.h. auf den Sieg. Die inszenierte E RSTÜR - 1064 Keržencev.[1920]1980.212. - Gorčakov.1956.92. 1065 Piotrovskij.(1922/ a).1925.16. - Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.62. 1066 Petrov.1960.194. - Deržavin (1925) in Jufit.1968.275. 1067 „Gesprächsnotiz.1920.114f.“ - Jevreinov.(1924).7f. - Zum Genre der „Schlachten- Gemälde“ oder „Schlachten-Stücke“ siehe Kap.V.4. 1068 „Gesprächsnotiz.1920.114f.“ 1069 Jevreinov.(1924).7. - Darunter tut er ’s nicht. <?page no="355"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 351 MUNG entwirft gegenüber den verbürgten Abläufen der wenig spektakulären ‘Erstürmung’ bzw. der nahezu widerstandslosen Einnahme einen falschen Rückbezug und eine eigene Kausalität, wonach erst die entschlossene Absetzung der Provisorischen Regierung den Sturz der Monarchie („...des Winterpalais“) besiegelt — wonach also nicht die Aufständischen, sondern erst eigentlich die Bolschewikí die Revolution vollenden (siehe auch Kap.III.4., FN607). Damit etabliert die Inszenierung eine andere Zeitrechnung, die auf der außertheatralen Ebene zu einer zeitlichen Engführung verstärkt wird: denn der gespielte und gefühlte Sieg in der Aufführung geht einher mit dem auch ansonsten spürbaren Ende des Bürgerkriegs (VI.3., FN1052). Zum anderen gilt der reale Schloss- / Schauplatz als tradierter und empfundener Garant für eine „realistische“ Handlung (mit konkreten und verbindlichen Folgen wie in Holitschers Befürchtung [9]) 1070 . Es handelt sich hierbei um eine mythologisierende Engführung: den Berichten zufolge wirkt sich der Schauplatz offenbar sakralisierend auf die theatrale Handlung aus, d.h. auf den Verlauf, die Wahrnehmung und die Rezeption der Aufführung. Bevor die Bezugsgröße der E RSTÜRMUNG deutlich wird, zeichnet sich an diesem Beispiel die Engführung als ein zentraler Wirkmechanismus der E R- STÜRMUNG ab: Im öffentlichen Bewusstsein gilt der Schlossplatz bereits vor dem „Blutsonntag“ von 1905 als unheilvoller, stigmatisierter Traditionsort für Demonstrationen (Kap.I.1.2., FN241), und das Winterpalais als „der gleiche alte Stammsitz, das Nest für Geheimnisse und Verbrechen, der Hort des Erbfluchs, wie die unveränderliche Palastfassade der griechischen Bühne.“ 1071 In Piotróvskijs einprägsamen Beschreibungen wird der Platz anlässlich des S TURZES zu einer „bestimmten topographischen Realität“ 1072 erhoben, und der Palast anlässlich der E RSTÜRMUNG zu einem „von der Geschichte geheiligten Gebäude“ 1073 überhöht. Durch die wechselseitige Aufladung von Metaphern und Symbolen, durch die Engführung von Ort und Handlung wächst der „Erstürmung des Winterpalais“ der „Realismus“ einer ontischen Religiosität zu: Hier gilt als „real“, was wirklich, d.h. wirksam und von Bestand ist (vgl. Kap.I.1.2., FN217) 1074 , was der zeitlichen Akzidens und Erosion entzogen und durch persönliche Erfahrung, öffentliches Erinnern und symbolhafte Bezüge gefiltert und gefestigt wird, und so zu einer allgemeingültigen Aneignung und Assimilation führt: 1070 Holitscher (1924), siehe Handlungsverlauf [5, 8, 9] - Jevreinov.(1924).7f. - Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.59. - Gregor/ Fülöp-Miller.1928.105. 1071 Piotrovskij.(1919).2. 1072 Piotrovskij in Gvozdev/ Piotrovskij/ Izvekov.1926.78. 1073 Piotrovskij.(1922/ a).1925.16. 1074 Schaeffler in Hahn/ Hünermann/ Mühlen.1977.20. - Eliade.[1957]1998.68. <?page no="356"?> K APITEL VI. 352 „Wenn im Theater die Spielfläche an sich neutral ist und eine zeichenhafte Bedeutung oder auch eine beliebige Anzahl von Bedeutungen bekommt in Abhängigkeit von der Entwicklung der Handlung, dann hat der Handlungsort der Feier [prazdnestvó] seine absolute, unabhängige und unveränderliche Bedeutung — er ist heilig [svjaščénno].“ 1075 Piotróvskijs vielzitierte und weitreichende Definition (bis Geldern, 1993: Einleitung 4., FN154/ 156) wurde ihm wiederholt als ‘Apodiktum’, als symbolistische (d.h. religiöse, irrationale) Verirrung ausgelegt 1076 . Dabei läuft sein Befund - kurz und bündig - auf die Unterscheidung zwischen einer „absoluten“ und einer relativen Bedeutung hinaus: Setzt man wie er das Primat des Ortes voraus, d.h. einen begrenzten Satz von Merkmalen, und bewertet die Handlung nach dieser abgeschlossenen Bedeutung, konvergieren Ort und Handlung zu einem „analogischen Symbol“ 1077 , und der Ort ‘heiligt’ das Medium (Feier), d.h. er verleiht ihm (ihr) eine ‘absolute’ Bedeutung, eine sakrale Prägung (also ein weiteres Superlativ). Setzt man aber das Primat der Handlung voraus, also ein dynamisches Bündel von Aktionen und Prozessen, und überträgt diese auf den Ort, bleibt beides ein je verhandelbares Zeichen, und das Medium (Theater) bestimmt den Ort, d.h. es relativiert und verändert seine Bedeutung. Da „Bedeutung“ ihrerseits stets als Zuschreibung, d.h. als Handlung erfolgt, sind der Ort und sein Primat also selbst Produkte von Handlung: kein Numinosum, sondern ein Artefaktum. Wenn nun Piotróvskij den Handlungsort einer Feier als „absolut“ bestimmt, die E RSTÜRMUNG explizit und eindeutig als „Feier“ (FN1065) und diese wiederum als „reale“, d.h. außerästhetische Handlung postuliert (Einleitung 3., FN72), ist die Aufführung damit primär als funktional ‘abgeschlossen’ qualifiziert: E RSTÜRMUNG und „Feier“ scheinen demnach so eng verwoben, dass sie der Verhandelbarkeit des theatralen Zeichens und der ästhetischen Handlung weitgehend entzogen sind. (Wie unten zu sehen bleibt, ist das Winterpalais in diesem „absoluten“, superlativen Sinne ohne ‘Maske’, d.h. ohne Dekorationen oder Aufbauten belassen. 1078 ) Diese Folgerung kollidiert nun aber mit der klaren Referentialität, dem Rollenspiel und der Spektakelhaftigkeit der E RSTÜRMUNG , die eine ästhetisch konfigurierte, effektvolle Auswahl disparater Revolutions-Episoden zeigt. Was also rechtfertigt den Befund „Feier“ (Piotróvskij) gegen den allgemeinen Tenor „Spektakel“, das von der Atmosphäre eher zum „Fest“ tendiert (siehe Einlei- 1075 Piotrovskij.(1922/ a).1925.13. (Vgl. Einleitung 3., FN72.) - Das russische Adverb „svjaščenno“ konnotiert beide Aspekte des „Heiligen“: „sacer“ und „sanctus“ (siehe Einleitung 5., FN164). 1076 Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.277. 1077 „Die analogische Symbolbildung - wie Symbolbildung überhaupt - erweist sich somit als Assimilationsvorgang: eine bestimmte Situation, ein bestimmtes Objekt, werden mit erwünschten oder gefürchteten Qualitäten einer anderen Gegebenheit identifiziert.“ (Boesch.1980.90.) 1078 Jevreinov.(1924).8. - Zu „Maske“ und „Maskierung“ siehe Kap.IV.5.1. <?page no="357"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 353 tung 3., FN40/ 48 und „Exkurs: Abgrenzungen zwischen Fest und Feier“ in Kap.V.4.)? Die hier aufgezeigten Probleme der Bezugsgröße (Engführung von Ort und Handlung, Stellenwert des Schlussteils) liefern zugleich die Lösungsansätze für deren Bestimmung: Zum einen ist der Schlossplatz zwar keine „Synomorphie“ (eine „strukturelle Kongruenz zwischen Handlung und Situation“ 1079 ), eher schon eine ‘topographische Partitur’ (eine räumliche Gegebenheit, die ein bestimmtes Verhalten mit einer gewissen Varianz nahelegt), und ganz gewiss eine architektonische Kulisse für herrschaftliche Inszenierungen aller Art (Kap.III.4., „Repräsentationsorte“), zu deren Ausdrucksform eher die Programmatik / das Konzept einer Feier als der Rausch / die Kontingenz eines Festes zählt („Exkurs Abgrenzungen“ in Kap.V.4.). Gelderns Befund zum „Zentrum der Revolution“ („final, irreducible“) reflektiert nicht, dass der Schlossplatz seit jeher ein Ort für Inszenierungen und damit immer schon auch Schauplatz von Entscheidungen und Handlungen war: „But the storming of the Winter Palace, of all events commemorated by mass spectacles, was historically [sic] the most concrete [in Bezug worauf? MD]. / .../ Winter Palace, which finally solved the technical problems of mass spectacles, was the first in which depicted time was unified. With action concentrated in a single place and time, the festival was able to establish the palace seizure as the centre of the Revolution. No historical myth is complete without that centre, the moment of absolute change. / .../ Winter Palace could only be about the October Revolution, it could only be played on Palace Square, and only on November 7. This performance fixed the final, irreducible centre of the revolution.“ 1080 Wenn es Eliade zufolge mehrere bedeutsame, symbolhafte oder heilige Zentren geben kann, da es sich um keinen „geometrischen Raum“ handelt 1081 , leuchtet es keineswegs ein, weshalb ein Massenschauspiel zur Oktober- Revolution alleine an diesem Ort und Datum erfolgen muss, da die Abdankung des Zaren im März in Pskov und der Putsch im Oktober im Smól’nyj (VI.1., FN995/ 998) vollzogen wurden — ganz zu schweigen von solchen Schlüsselstationen wie den Kasernen des Garderegiments Wolhýnien (siehe S TURZ : Kap.IV.2.1., FN674 und IV.3., FN753). Fragwürdig bleibt, dass und wie sich die ‘künstlerische Setzung’ einer eigenmächtigen Minderheit über die Leistung(en) einer breitaufgestellten Mehrheit hinwegsetzt. Für seine Argumentation übernimmt Geldern also das illusionistische Angebot der Ver- 1079 Barker nach Boesch.1980.75. - Boesch nennt als Beispiel hierfür „Treppen“ und „Treppensteigen“ und ergänzt, dass die zentrale Valenz eine Antizipation ist, da die Handlung über sich hinausweist: man läuft über eine Treppe nicht um ihrer selbst willen, sondern um anderswohin zu gelangen. (Ebd.84.) 1080 Geldern.1993.201., 205., 206. - Vgl. dazu Einleitung 4., FN151/ 156. - Zur Datierung der Aufführung siehe VI.1., FN988. 1081 Eliade.[1957]1998.51.+53. <?page no="358"?> K APITEL VI. 354 anstalter der E RSTÜRMUNG , ohne es als ein bereits inszeniertes zu reflektieren. Es ist und es bleibt jedoch die vorsätzliche Handlung, die das Charisma eines kulturellen Ortes prägt, und nicht das lokale Charisma, welches eine vorsätzliche Handlung ‘schicksalhaft’ macht („could only be“): das Spezifische einer Inszenierung (einer Handlung als Bluff oder als Plot) ist — die Inszenierung (das Handeln als außer/ ästhetische Performativität). Zum anderen und im Unterschied zu den obengenannten Gesamteindrücken der E RSTÜRMUNG liefern die Einzelbeobachtungen des Finales die genaueren Hinweise: So stellen die Ankündigungen einen abschließenden Festumzug mit Truppenparade in Aussicht 1082 , die Šúbskij als Siegesparade bezeichnet [10], während der Zeugenbericht [10] und Keržéncev eine (nicht näher definierte) Parade mit Fackeln 1083 und Petróv ein Feuerwerk mit Salut- Schüssen nennen [7]. Am schlüssigsten wirkt die Reihenfolge bei Gregor/ Fülöp-Miller [10]: „Den Schluß der Veranstaltung bildeten eine große Truppenparade, ein allgemeiner Chorgesang und ein Festzug, an dem sich auch das Publikum beteiligte.“ 1084 Der springende Punkt aber ist hier, dass die Zuschauer zu diesem Zeitpunkt [10] die Seilabsperrungen gerade erst durchbrochen haben [8], als die Militäreinheiten „vorbei[ziehen] an den Reihen der Zuschauer“ [10]: Durch das kalkulierte Einströmen des Publikums in die Handlung und das darauf abgestimmte Einströmen der Parade in die Menge wird der abschließende Rahmen - d.h. die Markierung des Realitäts-Status der Veranstaltung - vorsätzlich verwischt. Indem die Zuschauer in die theatrale Handlung eingreifen und diese im Jubel beenden, setzen sie als Teilnehmer den Schlusspunkt der Aufführung. Indem nun aber die Akteure wieder in die Situation hineinparadieren, suspendieren sie diesen Status und verschieben den Schlusspunkt: sie reaktivieren die vorige, regie--geführte Spiel-Ebene und sich selbst als Fokus, und der Jubelmasse wird im Handumdrehen / im Handstreich die Rolle des Claqueurs in einer plötzlich verlängerten Inszenierung zuteil. In der Wendigkeit der Ereignisse entsteht eine ‘Kontamination’ (Einleitung 3. - Kap.I.4.) zwischen der außerästhetischen und der ästhetischen Ebene: als Bestandteil der Aufführung verteilt sich die Begeisterung auf alle (Vor)Kämpfer — als Bestandteil der Inszenierung konzentriert sie sich nur auf die Sieger. Der Taumel im Finale der E RSTÜRMUNG beginnt als allgemeiner Rausch und endet als gerichteter Jubel: durch die Intervention der Parade schlägt die Aufführung von Kampf und Sieg um in die Vorführung eines Triumphes. Im Gegensatz zu der Einnahme läuft bei der E RSTÜRMUNG alles ‘nach Plan’: so folgt die Begeisterung der Teilnehmer nicht der Kontingenz eines Festes, sondern dem Konzept der Feier (Kap.V.4.). Das wirklich Aller/ Letzte dieser Aufführung und ihre Bezugsgröße ist die Parade, d.h. der Triumphzug der Bolschewikí. 1082 „Libretto Erstürmung.1920.“ - „Experiment.1920.3.“ 1083 Keržencev.[1920]1980.212. 1084 Gregor/ Fülöp-Miller.1928.104. <?page no="359"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 355 Wollte man nun den Trick des manipulierten Schluss-Rahmens als regietechnische, „völlig neue Errungenschaft“ bezeichnen (VI.1., FN977), wäre einzuwenden, dass das Erstlingsrecht dieser Praktik der W ELTKOMMUNE gehört (Juli 1920). Zweifellos übernimmt die E RSTÜRMUNG auch die Technik des ‘offenen Rahmens’ aus dem S TURZ (März 1919), wo dieser aber - konträr dazu - zweifelsfrei spontan aufgesprengt und als „Apotheose“ erlebt wird, also ganz klar Teil der Aufführung, und nicht Teil der Inszenierung ist (Kap.IV.2.1., FN713/ 715 und IV.5.2., FN798/ 800). Der gleiche kontingente Effekt wiederholt sich als Verbrüderung im Finale des M YSTERIUMS (Mai 1920), wo ebenfalls eine Fusion der Menge mit den Akteuren stattfindet, wo aber im Gegensatz zur E RSTÜRMUNG für ausnahmslos alle Beteiligten die gleiche Situation (singend) und der gleiche Status gelten (barhäuptig), im Sinne eines „ritual commitment“ (Kap.IV.5.2., FN797) und im Sinne der rituellen Grenzüberschreitung („Exkurs zum Ritual“ in Kap.IV.5.2.). Dass nun die hier beschriebene, dramaturgische Engführung eine autoritäre Lesart vorgibt und einen Richtungs- oder Hierarchiewechsel ausschließt, bei dem etwa - umgekehrt - die revolutionäre, liberale Linke („Ministerbank“) der Adressat des Jubels, oder auch die paradierende Vorhut zum Statisten für die Menge sein könnten, zeigt die besondere Konfiguration, die in der vorangehenden W ELTKOMMUNE erprobt und in der E RSTÜRMUNG verfeinert wird, und sowohl dort als auch hier von der Forschung bisher übersehen wurde: Diese Konfiguration besteht in der Sitz- und Sichtordnung, wonach sich die besagte Perspektiv-Steuerung der ‘Gelenkten’ durch die ‘Lenker’ (VI.3.) über die Gesamtdauer der E RSTÜRMUNG erstreckt: So gibt es ein stehendes Publikum „hinter den Seilabsperrungen“ 1085 [1], sowie „passiv dasitzende Zuschauer“ 1086 auf der seitlichen Tribüne [1], wohin der Zutritt nur mit Eintrittskarten und Passierscheinen möglich war (die Kontrolleure sind zugleich ‘Grenzposten’) 1087 . Die Höhe der mehrstöckigen Tribüne entspricht etwa derjenigen des Palast-Balkons (von wo aus sich der Zar in seltener Gnade seinen Untertanen zeigte: ❐ 8 in Kap.IV.), und bildet somit den direktesten und exklusivsten Aussichts-Posten (bei ‘gleicher Augenhöhe’ zwischen neuen Veranstaltern und alten Autoritäten: wie in der W ELT - KOMMUNE ). Hinter der Tribüne befindet sich das Archiv, das prominenten Besuchern einen geschützten, aber separierten Platz bot, der z.B. Holitschers Bericht ermöglichte (Lageplan, ❐ 5). Das Raumprogramm folgt also einer höchst konventionellen oder gar feudalen, hierarchischen Aufteilung in ‘Parkett’ (Platz), ‘Rang’ (Archiv) und ‘Loge’ (Tribüne), und impliziert damit jenen „monarchischen Punkt“ (Florénskij: Kap.II.3., FN491), die der militärische 1085 Šubskij.(1920).4. 1086 Piotrovskij.(1922/ a).1925.17. 1087 Jevreinov.(1924).8. <?page no="360"?> K APITEL VI. 356 Feldherr oder politische Oberbefehlshaber braucht, um den Fortgang des besagten „Schlachten-Spektakels“ (Jevréinov) zu verfolgen. Von der Forschung ebenfalls unbeachtet blieb die Entsprechung dieses Fokus in der zunächst evozierten [3], dann sichtbaren Figur „Lenins“ [4] unmittelbar vor dem ersten Marsch auf die weiße Bühne und dem anschließenden „Sturm“ auf das Winterpalais [4+5]. Als Organisator im Hintergrund und Katalysator vor Ort fungiert „Lenin“ auf der Bühne genau als jene Führungs- / Kontrollinstanz, die den Veranstaltern auf der erhöhten Tribüne entspricht 1088 . So ist die E RSTÜRMUNG schließlich auch darin historisch (zukunftsweisend) - so meine These weiterhin - als sie erstmals ausformuliert, was in der III. I NTERNATIONALE angedeutet bleibt (Kap.V.2.[9] , FN875 und V.5.2.) und in der W ELTKOMMUNE präfiguriert wird, und was seit der E RSTÜR - MUNG eine unverzichtbare („absolute“) Praktik für die späteren Masseninszenierungen darstellen sollte: die architektonische, ‘räumliche Materialisierung’ der Perspektiv-Steuerung im Fokus der erhabenen Tribüne, die Funktionsverschiebung vom Schauspieler als Generator und Träger der theatralen Handlung (Brjúsov: Kap.I.1.4., I.2.) auf die Veranstalter als ‘Generatoren- Station’ für das gesamte Geschehen. Von diesem Politiker- und Privilegierten- Podium aus erwartete der leibhaftige Lenin und spätere Leidfiguren der Macht neben Darbietungen auch Ehrerbietungen, und von den Ergebenen nicht nur Ergebnisse, sondern vor allem Gesten der „Selbstübereignung“ (Lótman: Kap.IV.5.2., FN812+813). Welche weiteren Effekte die bisher identifizierten Mechanismen der Engführung (politisch: coup d’ État / coup de théâtre - zeitlich: Ende der Provisorischen Regierung / Ende des Bürgerkriegs - mythologisierend: Ort + Handlung - dramaturgisch: beendete Aufführung / verlängerte Inszenierung - inszenatorisch: „Lenin“ / Tribüne) in Verbindung mit anderen Verfahren hervorbringen, wird nun in der Wirkungsästhetik der E RSTÜRMUNG untersucht. VI.5. Wirkungsästhetik der E RSTÜRMUNG : ‘Manöverhaftigkeit’ als Manövrierbarkeit der Masse VI.5.1. Materialität und Ästhetizität Neben den Medien „Laute“ und „Bewegung“, die in der oralen und performativen Kultur Russlands wurzeln (Einleitung 3., FN74 und 4., FN117 - Kap.I.4.), als Remedien aus der Theaterkrise hervorgehen (Kap.II.2., FN431+432) und sich wie Rhizome in der Aufführungstradition fortsetzen (Kap.III.4.), ist das Medium „Licht“ derjenige Faktor, der die E RSTÜRMUNG von den hier vorgestellten Manöverinszenierungen am prägnantesten abhebt. Wer bestimmte Küstenregionen und Breitengrade kennt, weiß um die spezifi- 1088 Zum Kommunikationsvorgang rund um die „Tribüne“ siehe Kap.IV.5.2., FN817/ 818. n <?page no="361"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 357 schen Lichtverhältnisse, die untrüglich die Nähe des Wassers anzeigen, und dass der Petersburger Himmel einer „schmutzignassen Oktober-Nacht“ (VI.1., FN975) besonders tief und wie ein ‘Deckel’ auf dem nahezu runden Schlossplatz hängen kann. So steht der Palast auf einer Demarkationslinie, die das Raumgefühl in ein ‘Jenseits’ (Rückfront / Nevá) mit einer unwirklichen Schwärze und ein ‘Diesseits’ (Fassade / Schlossplatz, ❐ 2) mit einer relativen Dunkelheit trennt. Die Aufführung beginnt in der Düsternis und Enge, und endet in der Bewegung und Öffnung (Durcheinanderlaufen, Parade) mit „Kaskaden von Feuerwerken“ [10]. Anfangs sind die Zuschauer stehend auf dem nassen Schlossplatz in zwei Blöcken zusammengepfercht. Weder Konturen noch Ausdehnungen sind zu sehen: es gibt nur einige „Scheinwerferkegel, die den wolkigen Himmel ablaufen“ [2] und eine latente Unruhe vermitteln. Mögliche Bodenlichter für die Akteure und Assistenten werden wohl vom Regen geschluckt. Wahrscheinlich sind auch die sieben, mit hunderten Truppenteilen, Panzer- und Lastkraftwagen und einigen Automobilen besetzten Zufahrten kaum zu erkennen: lange Zeit bleibt die Gangbarkeit dieser nur erahnbaren Fluchtwege unsicher. Dem Vernehmen nach verstärkt die Kälte diese klaustrophobische Ausgangssituation (Lageplan, ❐ 5). In der ersten Halbzeit werden die Scheinwerfer nur als gebündelte Beleuchtung des jeweiligen Schauplatzes eingesetzt: außerhalb der „fliegenden“ [3, 4] oder „aufflammenden“ [4] Lichtschneise, die mal die weiße, mal die rote Bühne zeigt, bleibt alles dunkel [3]. Zwischen auf- und abschwellenden, undeutlich-verzerrten Musikeinsätzen hört man das Murren der Menge, „Kerénskijs“ Gerede (Rasseln), und beiderseits abwechselnd rhythmische Klopfgeräusche (Krücken) sowie vereinzelte Ausrufe [3]. Die erste Mobilisierung der grauen Menge vollzieht sich in einer Überblendung vom Weißzum Rotlicht [3], die zweite erfolgt kurz darauf um eine „riesige rote Fahne“, zusammen mit den „Pfeifen der Fabriken und Werke“ [4], während aus den Fenstern und Toren der Kulisse das Licht sowie „immer neue Scharen entströmen“ [4]. Kurz vor der Halbzeit mit „Kerénskijs“ erster Flucht [4] wird die beklemmende Stimmung des Aufruhrs durch die ersten Gefechte von innen und von außen gesteigert: von den „Roten“ an der Brücke kommt die erste Salve, von den „Weißen“ preschen „wilden Getutes“ zwei Fluchtautos heran [4] „verfolgt vom Lichtstrahl des Scheinwerfers bis zum Tor des Winterpalais“ [4], wo sich die Kämpfe fortsetzen [5]. Dazu ertönt minutenlanges Krachen von „Salven der ‘Avrora’“ und das „Knattern der Gewehre und Maschinenpistolen“ [4]. Der wenige Raum über den Köpfen bis zum tief hängenden Himmel füllt sich mit immer größerem Lärm (Geschosse, Geschrei, Gesang und Musik), der bis zum Schluss nichtmehr abreißt. Gleichzeitig gerät der Schlossplatz von innen („von den Tribünen und aus den Häusern“) durch das Einströmen von Menschenmassen [3, 4] sowie von außen („aus allen Seitenstraßen“) durch den Zustrom von Autos und Truppen [5] immer stärker in Bewegung. <?page no="362"?> K APITEL VI. 358 Die Ausweitung der Kämpfe vom Generalstab zum Winterpalais läutet die zweite Halbzeit mit Simultanhandlungen ein [5]. Während auf der Brücke und den Bühnen weitergekämpft wird, ist nun auch die andere Hälfte des Spielfelds zu erkennen: am Holzstapel entzündet sich ein Gefecht (Scheinwerfer) mit anschließender Flucht der „Weißen“ ins Innere des Palais [4], danach flackert das Winterpalais außen (Scheinwerfer am Dach) und innen (Aufblenden der Fenster) in zahlreichen Leucht-Effekten auf (Schatten-/ Kampfpantomime) [5]. Hier wird im Lichte einzelner oder gebündelter Scheinwerfer die Ausdehnung der „Brandherde“ und das Treiben auf dem Schlossplatz sichtbar (für eine Panorama-Ausleuchtung gibt es keine Hinweise): erst als „Kesselsituation“ der Zuschauer [5], dann als dritte Mobilisierung oder allgemeiner „Sturm“ der Akteure von den beiden Bühnen zum Palais (damit enden die Brücken-Gefechte) [5], schließlich im Jubel als „Sturm“ und „Ausbruch der Massen“ [8] nach „Kerénskijs“ zweiter und endgültiger Flucht [7]. In der allseitigen Begeisterung des Finales (‹Hurras› von der Bühne und aus dem Publikum [7]) geschieht alles annähernd gleichzeitig: das Licht erstrahlt zwar aus allen Scheinwerfern, aber gebündelt, über eine „riesige rote Fahne“ vom Palast-Dach, „und in allen Fenstern flammte rotes Licht auf.“ [10]. Während ringsum Funkenregen und Feuerwerke blitzen [10], ertönt die Internationale als Orchester-Musik mit Chor-Gesang, und leitet die Parade der Truppenteile ein, im Lichte der „Scheinwerfer und Raketen“ und mit brennenden Fackeln bei den Reiterhusaren [10]. „Momentweise wird es taghell. Erst jetzt sieht man die ganze vielköpfige Menschenmenge.“ [10]. Im flackernden Widerstreit zwischen „dunkel“ und „hell“, ‘böse’ und ‘gut’ hat sich die Ausgangssituation der „engen Pforte“ 1089 bis zur Schlußszene in eine ‘Lösung’, ‘Öffnung’ und ‘Verklärung’ verwandelt. Parallel zu den Lichtverhältnissen bilden sich zwei eng aufeinander bezogene Faktoren der räumlichen Orientierung und Perspektivierung heraus, die das Innen-Außen-Motiv verschiedentlich durchspielen: Erstens sind sehr bald und sehr regelmäßig zwei Tonspuren als dem ‘Freund’ (realistisch-auftrumpfend) oder ‘Feind’ (dissonant-künstlich) zugehörig bestimmbar (ein Verfahren, das erstmals in der III. I NTERNATIONALE auftaucht: Kap.V.5.1.): Im Vergleich fällt auf, dass die „Roten“ mit Abstand die meisten Töne aus dem außerästhetischen Bereich (Stimme — Waffen und Geräte) auf sich vereinen (Stimme: undeutliches Gemurmel / leises Murren [3], wilde Schreie [3], ‹Lenin›-Rufe {undeutlich} [3], ‹Lenin›-Rufe {lauter} [3], Seufzer [3], Ausrufe {Brot statt Krieg} [4], ‹Lenin›-Rufe {unisono} [4], ‹Hurras› [7], 1089 Das Symbol der „engen Pforte“ (der „Schwelle“, der „Brücke“) bezeichnet einen gefahrvollen Engpass / Übergang von einer profanen zu einer sakralen Zone. (Eliade. [1957]1998.156f. - Matthäus 7,8 und Lukas 13. In: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1984. S.10+92.) <?page no="363"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 359 Geschrei / Gebrüll [8] - Waffen und Geräte: Pfeifen der Fabriken und Werke [4], Hammer-Schläge [4], erste Salve [4], Avróra-Salven [4] / Knattern der Gewehre und Maschinenpistolen [4, 5], Avróra-Kanonendonner [5], Gewehrschüsse / Maschinengewehr-Geratter / Gedröhn {„Aurora“} [8], Sirenen / Pfeifentöne [10]). Demgegenüber ist der Anteil der Klänge aus dem ästhetischen Bereich sehr gering (Internationale {Musik - zaghaft} [3], Internationale {Musik und Chor} [10]). Eine Mischform beider Kategorien ist die Singstimme (Internationale {Gesang - undeutlich} [3], Internationale {Gesang - artikuliert} [4], Internationale {Gesang - laut} [5], Gesang [8], Internationale {Musik und Chor} [10]). Eine andere Mischform ist das Klopfen der Krücken [3], denn es handelt sich um ein klangliches Substitut, um zwei verschiedene Geräte, wobei die einen (die Hämmer hinter den Kulissen) die anderen (die Krücken auf der Bühne) verfremden bzw. verstärken. Ohne nähere Angabe kann der „rhythmische Tumult“ [3] nicht zugeordnet werden. Ein Grenzfall beider Kategorien sind das Feuerwerk [7, 10] und die Salut-Schüsse [7], denn sie bilden eine klangliche Koinzidenz, ein ‘akustisches / lautliches Homonym’. Die „Weißen“ werden dagegen mit einer viel geringeren Diversität und einer anteilig größeren Stilisierung von Klängen ausgestattet (Marseillaise {dissonant} [3], kriegerische Musik [3], Walzer [3], „zuckersüßes Glockengeläut“ / Zaren-Melodie [3], Marseillaise {unsicher} [4]). Demgegenüber stammen nur sehr wenige Töne der „Weißen“ aus dem realitätsnahen Bereich (Stimme: ‹Kriegs›-Rufe [3] — Waffen und Geräte: krachende Ministerbank [4], tutende Autos [4], Knattern der Gewehre und Maschinenpistolen [4, 5]). Gleichwohl gibt es auch hier Mischformen: der hektische „Kerénskij“ ist ohne natürliche Stimme, seine gestischen Reden werden mit Rasseln vertont [3], und wirken dadurch weit künstlicher, als das Klopfen der Krücken [3] (die Kriegsversehrten traten auf beiden Bühnen auf). Der Werk-Charakter dieser Tonspuren wird nur einmal durchbrochen durch den Schreck-Moment oder Ereignis-Effekt der losdonnernden „Aurora“ (VI.2.[5-10]: „/ .../ aber was war das? “), von der zuvor nur Salven zu hören waren [4]. Zweitens wird der Schlossplatz als Projektionsraum für Farbwerte genutzt, wobei diese anfangs die Organisation der Tonspuren aufgreifen, um abschließend den Einsatzmodus des Lichtes zu übernehmen: Wie der verhangene Nachthimmel für das Feuerwerk, dienen die blickdichten Fassaden als Hintergrund für die Vorstellung, bzw. als Grundmauer für die Kulissen, ohne dass die neue Nutzung die alte Substanz verändern oder verleugnen müsste. Was auch immer sich damals oder dahinter zugetragen haben mag, spielt sich jetzt und davor sowie in veränderter Form ab: innerhalb einer neu bestimmten Zeitrechnung (VI.4.: die Vertreibung der Provisorischen Regierung als Vollendung der Revolution) und eines neu ‘möblier- <?page no="364"?> K APITEL VI. 360 ten’ und frisch getünchten Handlungskreises. Durch diese erste Verlagerung des Schwerpunkts verkehrt sich die räumliche Relation vom alten ‘Außen’ zum neuen ‘Innen’, bevor die Handlung ein neues Zentrum definiert. Dieses Drehmoment beginnt - raumprogrammatisch (VI.4.) und bühnen- / bautechnisch gesehen - mit einem vorgesetzten Bau-Element: das Neue beginnt einfach da, wo das Alte aufhört, jeweils auf- oder abgewertet / -geblendet durch die ontische Bedeutung des Lichts (im Kontrast der abwechselnden Richt-Scheinwerfer [3, 4], im Funkenregen und Feuerwerk vor dem Nachthimmel [10]) und markiert durch die symbolhaften Farbwerte (weiße und rote Bühne, Überblendung vom Weißzum Rotlicht [3], Farb-Effekt / „Rot“-Verlauf des Fahnenmotivs [3, 4, 5, 10]). Dabei entspricht die ‘Maskierung’ der roten und weißen Bühne nicht nur der Markierung ihres revolutionären oder reaktionären Charakters (die räumliche Teilung stammt aus dem S TURZ [Kap.IV.2.1., FN672/ 674 und FN679], die farbliche Zuordnung aus der III. I NTERNATIONALE [Kap.V.2.[9], FN875]). Aufbau und Farbe lassen sich ebenso als Stigmatisierung im Kontrast zum Winterpalais begreifen — denn beide Bühnen sind dreidimensional und bemalt, also betont kulissenhaft [2], und damit im orthodoxen Kunstverständnis als ‘falsch’ / ‘verkehrt’ gekennzeichnet (Einleitung 5., FN175). Keine der beiden Farben hat die eigene „Realität“ oder ‘Richtigkeit’ bzw. ‘Rechtmäßigkeit’ erreicht: in der Verschränkung von religiöser Syntax und politischem Symbol taucht die Figur des Zwitters (Kap.I.4., FN322 - Kap.II.3., FN490) in Form von „Kerénskijs“ rosa Flagge auf [3] (die klassische Farbe der Travestie) als theatrales Zeichen für die Zwiespältigkeit und Labilität der „Provisorischen Regierung“. In dieser Logik stehen die beiden Bühnen nicht nur ontisch (abwechselndes Licht) und politisch (jeweilige Farbe) gegeneinander, sondern auch kausal und zeitlich im (überdeutlichen, ‘expressionistischen’) Kontrast zum gegenüberliegenden, ‘ungeschminkten’ und weitgehend ‘naturbelassenen’ Winterpalais. Nach dem Flackern der Fenster (eine Replik auf die schwankende Ministerbank) wird das Palais letztendlich zum Ort einer Entmischung / Reinigung der ‘profanen’ Farbe und zur Potenzierung eines ‘sakralen’ Lichts (Feuerwerk) und Leuchtens (Fahne auf dem Dach und rote Fenster). Dem Kode der Ikonenmalerei entsprechend (Kap.II.3., FN492), wächst die Bedeutung der „Roten“ mit der Größe, Anzahl und Exponiertheit ihrer Fahne. Sie hat keinen personenbezogenen Zeichenwert (z.B. als Erkennungsmarke), sondern eine dramaturgische Signalfunktion. Der ‘Weg’ der Fahne (von der „riesigen rote Fahne“ [VI.2.[4], FN1028/ 1029] auf der roten Bühne, unweit von Schmied und Amboss [4] bis zur „riesigen roten Fahne / .../ über dem Palais“ [10] - VI.2.[4], FN1048) folgt ‘symmetrisch’ den markanten Punkten des Geschehens: in dem Abschnitt mit dem höchsten Kampf- Aufgebot und den meisten Simultan-Aktionen [5] tauchen - der Tumult- Frequenz entsprechend - „tausend rote Fahnen“ auf (VI.2., FN1038/ 1039). Indem ihr Farbwert - umgeben vom Feuerwerk - zuletzt als Lichtwert aufscheint, wird die rote Fahne zu einer sakralisierten Zurechnungsinstanz (‘im <?page no="365"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 361 Namen von’). Als Symbol einer raumgreifenden, politischen Bewegung und als Zeichen einer zunehmenden sozialen Organisiertheit unterscheidet sich das Fahnenmotiv der E RSTÜRMUNG mit einer ‘heilstiftenden’, religiösen Bedeutung von den hier vorgestellten Manöverinszenierungen. In der Bewertung und Perspektive dieser beiden Faktoren (Tonspur - Farb-/ Lichtwerte) offenbart sich nach der Halbzeit [5] - d.h. beim zweiten Wechsel des Handlungsfokus vom Generalstab zum Winterpalais - eine neue, alte Hierarchie mit einem neuen, alten Tabu, das Caillois zufolge (Einleitung 1., FN11) die profane von der heiligen Sphäre trennt: ‘Dort’ figurieren beide Bühnen als getünchte Kulissen einer gerade überwundenen Welt, während die Brücke als schmaler Grat, als ‘Übergang mit Abgrund’ die zeiträumliche Gefahrenzone schlechthin symbolisiert. Dort verstärkt das lautliche Chaos des Schlachtengetöses den Kollisionseffekt nach innen und diffundiert ihn nach außen, über den Schlossplatz hinaus. ‘Hier’ figuriert der Palast als ‘naturbelassenes’, d.h. beständiges oder gar ‘überzeitliches’ Monument. Der ‘falsche’ / ‘ungültige’ Teil ist die Fassade in jenem kurzen, künstlichen Projektions-Moment, der die realistischen Zusammenstöße auf der Brücke graphisch überzeichnet und zur Lichtmetaphorik der Schattenkämpfe verfremdet [5]: beide Aktionen sind ‘nicht von Bestand’ (VI.4., FN1074) und verschwinden bald wieder im Dunkeln („Das Winterpalais lag schon seit einer Weile stockfinster da.“ [7]). Der ‘gültige’ Teil des Palais beginnt mit der zweiten Flucht und endgültigen Vertreibung „Kerénskijs“ [7], d.h. mit dem Moment, wo das „rote“ Prinzip - nunmehr ohne „weiße“ Überbleibsel - zu seiner „kultischen Reinheit“ 1090 gelangt (Fahne auf dem Dach als ‘Krönung’, rotes Licht in den Fenstern [10]). Hier erfolgt das Ende aller Kollisionen: die instrumentelle (Orchester) und stimmliche Domestizierung (Chor) des Schlachtengetöses zur Internationale, und schlussendlich auch die visualisierte Zügelung / Umwertung vom Schlachtenfeuer zum Feuerwerk. Entlang der vorgeblendeten Fassaden des Schlossplatzes (einschließlich der Tribüne vor dem Archiv) folgt diese neue ‘Bespielung’ der alten Flächen- und Außenwirkung, deren größtes Tabu das Winterpalais selbst bleibt, da ihm nur eine flüchtige Verfremdung zuteil wird (Schattenkämpfe und rotleuchtende Fenster), während sein raumzeitliches Gefüge, seine plastische Substanz oder sein äußeres Dekor unangetastet bleiben. ‘Hier’ läuft die E R- STÜRMUNG also auf keine Veränderung, sondern auf die Übernahme der vorfindlichen, autoritären Struktur hinaus. Indem die Bolschewikí an den damit verbundenen Repräsentationsanspruch anknüpfen und dadurch ihre eigene Autorität demonstrieren, wird das Winterpalais als „Übertragungsmedium“ 1091 eines Machttransfers rehabilitiert und als Machtsymbol zementiert. 1090 Zur „Reinheit“ kultischer und sozialer Situationen siehe Kap.IV.5.1., FN780. 1091 Durkheim.[1912]1981.480f. <?page no="366"?> K APITEL VI. 362 Indem nun auf dem Schlossplatz eine andere Peripherie und ein anderer Handlungskreis konfiguriert werden, wird die Säule zu deren räumlichem Zentrum und zum radialen Fluchtpunkt unterschiedlicher ‘Welten’. Während der Palast ein ambivalentes Tabu darstellt, weil es nicht völlig inert geblieben ist und durch die Schattenkämpfe ‘fiktional affiziert’ wurde, bleibt die Säule unverändert ein paradoxes Tabu. Durch den verhangenen Nachthimmel fehlt ihr so etwas wie die ‘heilige’ Valenz 1092 , und durch die Seilabsperrungen [1] bleibt sie sowohl der Alltagsals auch der Spielsphäre entzogen, da sie diese mit ihren Scheinwerfern [3] nur bestrahlt, sich selbst aber ausblendet: die Säule samt angrenzendem Regie-Podest stellt somit eine Bruchstelle im topographischen und symbolhaften Gefüge dar. Erst in Verbindung mit ihren funktionalen Parallelen wird beides als ein weiterer Grenzpunkt wahrnehmbar: denn Säule und Podest entsprechen zum einen der alle/ s überschauenden, ihrerseits aber übersehbaren, diskret angelegten „Lenin“- Figur [4], und zum anderen der alle/ s überschauenden, aber unübersehbaren ‘Feldherren’-Tribüne. Diese vier Punkte (Palast und Podest/ Säule, Bühne und Tribüne) sind zugleich Steuerinstanzen und Machtpositionen, und bilden eine geometrische und symbolhafte Konfiguration (Lageplan, ❐ 5): ein schräges T-Kreuz mit einer ästhetischen Achse (Bühnen <—> Palast / Fiktionalität), und einer außerästhetischen Achse (Säule mit Podest <—> Tribüne / Faktizität). Dazwischen verlaufen die kalkulierten Bewegungsströme (einströmende Akteure; erst umgrenzte, dann freigelassene Zuschauer). Die vier Punkte verbinden sich jeweils mit ästhetischen oder außerästhetischen bzw. anthropologischen Kontrasten (alt - neu, aktiv - passiv, vergänglich - beständig, etc.), deren Kombinationen und Oppositionen eine kaleidoskophafte, sehr hohe Assoziationsdichte ermöglichen. Der liminale Aspekt von Theater und die spezifische Theatralität der E RSTÜRMUNG gehen genau von den Polen / Rändern sowie von der ‘Bruchstelle’ / dem Kreuzpunkt der Achsen aus, und umgibt das Mittelfeld der Zuschauer gleichsam mit einem diffusen Klima aus Faktizität und Fiktionalität, mit einer Atmosphäre, deren ‘symmetrische’ Bedeutungsfülle eine planvolle Machtfülle aufruft. Palast und Podest, Bühne und Tribüne potenzieren sich gegenseitig als Machtinstanz und steuern das außerästhe- 1092 Die Beispiele für die Symbolik von Säulen, Treppen, Bergen etc. sind Legion: der „Weltnabel“ oder die Weltsäule, der „heilige Berg“ (Klöster, Festungen, Festspielorte, Richtstätten) oder „heilige Baum“ in den unterschiedlichsten Mythologien (Eliade.[1957]1998.34f.+152f.), darunter insbesondere der Hauspfosten der Thai (Boesch. 1980.78f.). Vgl. auch den Richtungs- und Bedeutungswechsel in den Künsten: Boticellis Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie („Unterwelt“), Jessners Stufenbühne (1916), das Treppenmotiv in Ėjzenštejns P ANZERKREUZER P OTËMKIN (UdSSR, 1925 - Treppe in Odessa) und O KTOBER (UdSSR, 1927/ 28 - Treppe im Winterpalais), die Sterbesequenz von Molière als ‘Endlosschleife’ im Treppauf-Treppab im gleichnamigen Film von Mnouchkine (I/ F 1978), sowie die Reihung: der Turmbau zu Babel - die „Tugendleiter“ in der byzantinischen Ikonenmalerei - Tatlins Turm-Projekt als Denkmal für die III. Internationale (1920). <?page no="367"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 363 tische und das ästhetische Geschehen, ohne dass Grad und Grenze der jeweiligen Zuständigkeit / Realität wirklich fassbar würde (ein klarer Verstoß gegen das orthodoxe Transparenzgebot: siehe die Relation ‘Vordergrund / Hintergrund’ im „Exkurs zur ‘Umgekehrten Perspektive’“ in Kap.II.3.). Sie bilden ein schwer zu greifendes, ‘unangreifbares’ Dreieck zwischen altem Regime, theatraler Regie (samt Führerfigur) und neuer Regierung, und damit eine autoritäre, sakrale Herrschafts-Struktur. Genau hier - im Zentrum und an der Peripherie des bespielten Raumes - erfolgt eine weitere, symbolhafte Engführung: der Symboltransfer vom referentiellen, ‘gespielten’ Machtwechsel der Revolutionäre zur performativen, ‘spielerischen’ Machtdemonstration der Bolschewikí. Etwa umgekehrt proportional zum Umfang der ‘Maskierung’ der Schauplätze verhält sich der Anteil der Kostümierung der Figuren, deren Gestaltung in den Manöveraufführungen dieser Arbeit dem im S TURZ geprägten Konzept folgen (Kap.IV.2.1., IV.5.1.). Im Unterschied zum Proletariat und zum Militär (jeweils in grauer [3] und feldgraubrauner Berufskleidung) tragen die über 2000 „weißen“ Vertreter Theater- und Opern-Kostüme 1093 ( ❐ 13), deren Details sich in der Weite des Raumes und den genannten Sichtverhältnissen verlieren 1094 . Dafür sind viele Requisiten überzeichnet (Geldsäcke mit Zahlenangabe des Inhalts ( ❐ 13), übergroße Aktentaschen, „Kerénskijs“ rosa Flagge [3] und Frauenkostüm [7]), und 600 Figuren sind geschminkt 1095 . Eine weitere Form von ‘Übertreibung’ sind die akrobatischen Leistungen insbesondere der negativen Figuren („Kerénskijs“ Saltomortale bei der ersten Flucht [4] - Herunterkollern der Kämpfer von der Brücke [5]). An dieser Stelle ist ein wirkungsästhetischer Effekt in den Manöveraufführungen hervorzuheben, der bereits in der III. I NTERNATIONALE drastisch zutage tritt (Kap.V.5.2.): die Überzeichnung von Maske (Kostüm oder Schminke) und Requisit (Objekt oder Attribut) markiert den Gegner und wertet diesen ab, wohingegen die Überzeichnung von Gestik und Motorik den Gegner ebenfalls kennzeichnet, die zirkushafte und akrobatische Parodie ihm aber die größten Sympathien seitens der Zuschauer sichert (vgl. entsprechende Einlagen in Kap.IV.2.1., IV.2.2. und IV.5.1., sowie Kap.V.2.[4, 5, 7] und V.5.2.). Wie verbinden sich diese scheinbar gegenläufigen Konzepte, und warum wird der gegnerische Status einer negativen Figur durch diese positiven (und gegenüber der Maske zumeist eindrucksvolleren) Fähigkeiten nicht relativiert? Im Anschluss an die Ausführungen zur III. I NTERNATIONALE (Kap.V.) lautet meine Erklärung, dass der Zirkus samt seiner Nachbar-Disziplinen (Balagán, Variété, Dressurnummern, etc.) die ultimative, aber im Gegensatz zum Krieg auch reversible Verfremdung der alltäglichen Erscheinungsformen 1093 Annenkov.(1925).2f. 1094 Keržencev.[1920]1980.212f. 1095 Geldern.1993.255. <?page no="368"?> K APITEL VI. 364 und Lebenswelten darstellt. Als hoch spezialisierte und extrem hierarchische Form treibt der Zirkus die dort auftretenden Unterschiede, Devianzen oder Abgründe in einem ‘kontrollierten Ausnahmezustand’ und mit vollem Körpereinsatz auf eine spektakuläre Spitze, in deren sicherem ‘Windschatten’ sich der staunende Zuschauer seiner Normalität vergewissern kann — „/ .../ als wäre es eine soziale Funktion des Zirkus / .../ , für ihre Besucher zu klären, worin die Ordnung und die Grenzen ihrer grundlegenen Rahmen bestehen.“ 1096 In der chaos-getriebenen Revolutionszeit ist jeder Orientierungswert und jeder Sicherheitsfaktor bedeutsam, und die Akrobatik vollendet, was die Maske einleitet: die erprobte Bewältigung oder gar genussvolle Wahrnehmung des ‘ganz Anderen’. Anders formuliert: Was die Maske an ‘dämonischer Künstlichkeit’ einbüßt, gewinnt sie an „Echtheit“ als normale, clowneske ‘Berufskleidung’. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der ausgeglichene Realismus der Figuren an der unteren und oberen sozialen Skala, mit dem Einsatz von „verstümmelten Soldaten“ auf der roten sowie von „Invaliden auf Krücken“ auf der weißen Bühne [3]. Dieses Verhältnis reflektieren die zueinander relativ ebenbürtig gehaltenen Repräsentanten-Figuren („Kerénskij“ im „typischen Khaki“ [3], „Lenin“ in „Mantel und Mütze“ [4]), von denen schließlich „Kerénskij“ - seiner Fallhöhe entsprechend - zwar der lächerlichen Travestie (Flucht in Frauenkleidern und nicht bloß - wie verbürgt - als Matrose [7] 1097 ), aber nicht dem Vergessen anheimfällt, wohingegen vom „Lenin“-Darsteller kein Name überliefert ist. Diese relative Balance mit einer maßvollen Parodie (vgl. dagegen die „Generäle“ in der III. I NTERNATIONALE , Kap.V.5.1.) lässt sich als ein Tribut an die reale Kräfteverteilung der gegnerischen Parteien begreifen (wie die Gestaltung von Georgs Chlamys und den Flügeln des Drachens: ❐ 3 in Kap.II. - ❐ 7 in Kap.V.). Ungebrochen realistisch in Gestaltung und Einsatz ist dagegen die Mehrheit der Requisiten und Objekte, die einen instrumentellen (Ministerbank [3], Aktentaschen [3], Krücken und Plakate [3]) oder einen symbolhaften Charakter haben (rote Banner [3,5], Blumen [3], rosa Flagge [3], riesige rote Fahne [4,10], amerikanische Flagge [4] - Beides: Geldsäcke [3], Hammer und Amboss [4], Fackeln [10]). In beiderlei Hinsicht sind die „Roten“ weitaus besser gerüstet, denn sie bedienen nahezu das gesamte Aufgebot an technischer Logistik (die Waffen entlang der obengenannten „roten“ Tonspur, sowie Lkw’s [1] und Panzerwagen [5] - Auch hier zeigt sich der tiefere Sinn des Prädikats „bol’ševík“: derjenige, der eine moralische oder eine materielle Mehrheit besitzt). Im Unterschied dazu verfügen die „Weißen“ (Offiziersanwärter und Frauen-Bataillon) nur über den Holzstapel [1] und über 1096 Goffman.[1974]1993.41. 1097 Siehe VI.2.[7], FN1044+1045. - Zur Travestie als traditioneller, herrschaftlicher Strafmaßnahme in Russland siehe Kap.IV.5.1., FN787. <?page no="369"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 365 kleinteiliges Gerät (Gewehre einschließlich der Flinten [3] und Maschinenpistolen [4, 5], ferner über einige Automobile [4, 5, 7]). Wie anlässlich des S TURZES zu sehen war (Kap.IV.5.1.), verwenden die negativen Figuren auch hier die gleichen echten (außerästhetischen) Gegenstände, wie die positiven Figuren, ohne dass ihnen dadurch eine größere Legitimität zuteil würde: den Ausschlag macht hier der karikatureske Auftritt [3] und akrobatische Abtritt „Kerénskijs“ [4] sowie die überzeichneten Bewegungen seiner Entourage [3, 4], die vom Zuschauer gleichzeitig als kunstvoll und als ‘deviant’ wahrgenommen werden (siehe oben). Bei den Symbolen setzt sich auf der Seite der „Weißen“ eine ähnlich sporadische und parodistische Über- (riesige Aktentaschen [3]) bzw. Unterdimensionierung fort (rosa [3] bzw. amerikanische [4] Flagge), wohingegen die immer größere und exponiertere Fahne der „Roten“ eine externe Signalfunktion hat, die ihren kräftemäßigen, gleichsam ‘heilstiftenden’ / ‘heiligen’ Zuwachs anzeigt [3, 4, 5, 10]. Dem orthodoxen (byzantinischen) Kode entsprechend verstärkt dieses ‘Überaufgebot’ echter (außerästhetischer) Gegenstände und deren zweckgemäße Anwendung die (moralische) Rechtmäßigkeit seiner Nutzer (vgl. Kap.IV.5.1.). Sowohl beim Arsenal und Fuhrpark als auch beim Lärm-Pegel der „Roten“ (Pfeifen [4], Sirenen, Pfeifentöne, Feuerwerk [10]) handelt es sich somit um invasive und legitime Mittel und Intensitäten der Raumbesetzung, wobei die akustische Schlagkraft und ‘illuminierende’ Wucht mit dem strategischen Durchsetzungsvermögen der „Bolschewikí“ einhergeht. Im Anschluss an jenen Zeitzeugen, der die Zahl der verwendeten Patronen ironisiert (VI.1., FN994), bleibt festzuhalten, dass im S TURZ das weitaus größere Problem (die Absetzung der Monarchie) mit deutlich bescheideneren Mitteln ‘bewerkstelligt’ und dargestellt wurde, wohingegen in der E RSTÜR - MUNG gegen eine einzelne Reizfigur bzw. eine „provisorische“ Regierung eine unverhältnismäßige Mobilmachung und Materialschlacht aufgeführt wird. Waren die Kämpfer im S TURZ mit Namen und Beziehungen versehen und somit ‘Meister des Schicksals’ (siehe „Das ‘Mythologische Bewusstsein’“, Kap.III.3.), treten die Aufständischen der E RSTÜRMUNG als anonyme und übereifrige ‘Herren der Technik’ auf. Der ‘einfache Mann’ oder besagte Zeitzeuge ist also sehr wohl imstande, solche Relationen zurechtzurücken, einen ‘byzantinischen Aufwand’ auf die Petrograder Kargheit herunterzubrechen, und daraus adäquate Folgerungen zu ziehen. So bleibt nun die Frage, wie und warum er sich dennoch mitreißen läßt. VI.5.2. Medialität und Semiotizität „Für das Theater ist es wichtig beim Publikum den Eindruck eines gefüllten Platzes zu erwecken, seiner visuellen Wahrnehmung durch die Masse der Teilnehmer einer Aufführung. / .../ Die absichtlich betonte Logik einer graphischen [Kursiv d. Autors] Ausdruckskraft aller Arrangements, die abseits von den Prinzipien einer psychologischen Handlungsmotivation entwickelt wurden <?page no="370"?> K APITEL VI. 366 und vom Gedanken einer Parade [Kursiv d. Autors] ausgingen, hat eine Reihe von Arabesken hervorgebracht, deren Zweck es war, in den Augen der Zuschauer durch die Kombination ihrer farbenprächtigen Flecken zu flimmern / zu schillern. / .../ Dies wird, zusammen mit den Beleuchtungs-Vorrichtungen, die einen Weg zu großen szenischen Möglichkeiten weisen, in Zukunft einen entscheidenden Beitrag zur Erlangung des endgültigen Ziels der Masseninszenierung leisten — der Offenlegung des naturgegebenen Wesens der Masse als solcher. [kursiv MD]“ (K.N. Deržavin, Regisseur der „weißen“ Bühne) 1098 Die zeithistorische Formel der „Masse als solcher“ verliert an politischer Anrüchigkeit, wenn man sie im Lichte eines neuen, vorerst unverdächtigen Begriffs sieht, der seit den 1990er Jahren als „Schwarmverhalten“ bekannt ist. Dabei handelt es sich um große Verbände von Individuen (Tiere oder Menschen) auf engem Raum, die auf bestimmte Reize hin impulshaft synchrone und gleichgerichtete Bewegungsabläufe und Verhaltensmuster zu einem bestimmten Zweck (Ausweichen vor einem Hindernis, Abwehren eines Feindes), jedoch ohne manifeste oder bewusste Steuerinstanz ausführen (wiewohl die Ordnung dieser Formationen sofort auffällt). Die E RSTÜRMUNG konfiguriert alle sechs dieser Faktoren: der ‘Verband’ kommt zusammen, weil es (außertheatral) etwas zu erleben und (innertheatral) etwas zu bewerkstelligen gibt (der Titel gibt programmatisch den ‘Zweck’ und Modus vor: „Die Erstürmung des Winterpalais“ bedeutet die zügige und endgültige Vertreibung „Kerénskijs“ / der „Provisorischen Regierung“ und den sicheren Triumph der „Bolschewikí“: VI.4., FN1069/ 1070). Zur ökonomischen Aktivierung und effizienten Ausführung der notwendigen ‘Verhaltensmuster’ werden bestimmte ‘Reize’ (Licht, Ton, Farbe, Objekte, Bewegungen, Kollisionen etc.) auf engem ‘Raum’ in Gang gesetzt, wobei die ‘Steuerinstanz’ in diesem Fall durchaus lokalisierbar ist: einerseits kaum manifest („Lenin“), anderseits mehrfach präsent (T-Kreuz). Im Anschluss an das zentrale Paradigma ‘Engführung’ (VI.4.) lässt sich dieses Aktionsprogramm als proxemische Verdichtung und performative Intensivierung begreifen: Die Menge wird zum einen auf immer engerem Raum zusammengedrängt (Seilabsperrungen [1], Einströmen von Akteuren und Maschinen [3, 4, 5], Parade [10]) und zum anderen unter eine immer höhere Spannung gesetzt (Simultanschlacht Brücke - Holzstapel [4], Fokus-Wechsel: Flucht der „Weißen“ vom Holzstapel in den Palast [5] - Simultanschlacht Palastfassaden - Bühnen [5] - Flucht „Kerénskijs“ [7]), wodurch eine kontinuierlichen Steigerung erzielt wird: der stetige Zustrom von außen (Menschenmassen [3, 4] - Autos und Truppen [5]) führt schließlich zu einer ‘Entladung’ von innen (Aufbruch der vorpreschenden Akteure [5], Ausbruch der nachziehenden Zuschauer [8]). Der inszenierte Druckaufbau ruft bestimmte Erfahrungen mit der politischen Blockade auf (Kap.IV.2.2., FN725), die den Anwesenden ins Gedächtnis und in die Knochen ‘gebrannt’ ist. Er mündet in einen kalkulier- 1098 Deržavin.(1920).2. <?page no="371"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 367 ten Druckausgleich, der sich in zwei Phasen und in zwei Kollektive teilt (Akteure [5], Zuschauer [8]). Erst am Ende der Aufführung, als die visuelle und auditive Szenerie auch für die Zuschauer als proxemischer Raum erfahrbar wird, kommt es zu einer Mischung und Angleichung der Druckverhältnisse „Akteure“ und „Zuschauer“ („Der Platz ist vollkommen mit Menschen gefüllt.“ [10]). Mit der proxemischen Verdichtung geht also eine performative Intensivierung des Aktionsprogramms einher, was jenseits ethologischer und physikalischer Analogien die Frage nach dem Status der Teilnehmer sowie nach der performativen und kommunikativen Interaktion provoziert. In Fortsetzung des zentralen Statuts der „Theaterwerkstatt der Roten Armee“ (Kap.IV.2.1.) lautet eine von Jevréinovs Regieanweisungen: „‹Die Zeit der Statisten ist vorbei. / .../ Ihr seid vielleicht wertvollere Schauspieler, als die Schauspieler vom alten Theater-Schlag. Ihr seid Teil eines kollektiven Schauspielers. Aus der Art und dem Umfang dessen, was ihr erlebt / erlitten habt, entsteht ein neuer Effekt einer neuen theatralen Handlung.›“ 1099 Dementsprechend betont das „Libretto“, die bevorstehende Inszenierung zeige keine „dressierten Artisten“, sondern „einen in seiner Kunst virtuosen einheitlichen kollektiven Akteur.“ 1100 Šúbskij bezeugt gar einen „sagenhaften Schauspieler- Giganten“ als „/ .../ Träger neuer, monumentaler Theaterformen. Beflügelt vom Rhythmus der Massenbewegungen unterliegt er keiner zahlenmäßigen Berechnung mehr [was der eingangs genannte Zahlenzauber durchaus bewiesen hat - MD], seine Quantität ist bereits zu einer neuen Qualität umgeschmolzen und ergießt sich wie beim individuellen Schauspieler als Quelle einer neuen Ausdrucksform.“ 1101 Im völligen Gegensatz zu diesen Kollektiv- Formeln beklagt Piotróvskij nicht nur die mechanische Folgsamkeit der Beteiligten (VI.3., FN1062), sondern auch den Zerfall des (nur ideell vorausgesetzten) Chores zu einer „Menge von Statisten“: „Alles dies ist zu konkret, um zu einem Symbol zu werden.“ 1102 Mit dieser Kritik ruft Piotróvskij gewissermaßen den Mechanismus der Theaterkrise auf, das Missverhältnis von „Realismus“ und „Schematismus“ (Kap.I.1.4., I.1.5.) und den damit verknüpften, jeweiligen Zeitkode (Kap.I.1.5., I.2.): die unterstilisierten Komponenten („zu konkret“) verhinderten demnach eine stilisierende Verdichtung („Symbol“). Mit dem Befund einer Mangelerscheinung von Symbolen fordert er jedoch den Einwand heraus, dass die E RSTÜRMUNG durchaus programmatisch eine zielgerichtete Handlung mit einer unmissverständlichen Symbolik anstrebt und entfaltet. Wie oben zu sehen war (VI.5.1.), nutzen die Veranstalter zur Aneignung und Sicherung eines überlieferten, ‘überzeitlichen’ Autoritäts-Monopols alte Herr- 1099 „Bei der Probe.1920.2.“ - Siehe Kap.IV.2.1., FN702: „Wir zeigen nur das, was wir selbst erlitten haben zusammen mit den Volksmassen, wofür wir selbst unser Blut vergossen haben.“ (Vinogradov-Mamont.[1966]1972.36.) 1100 „Libretto Erstürmung.1920.272.“ 1101 Šubskij.(1920).5. 1102 Piotrovskij.(1922/ a).1925.16f. <?page no="372"?> K APITEL VI. 368 schafts-Monumente (Generalstab, Säule, Winterpalais), und flankieren sie mit neuen Machtpositionen (Bühne, Podest, Tribüne), die sich von ihrer Zeitstruktur wie ein Signal zum Symbol oder wie ein Dekret zum Gesetz verhalten („Das ‘Mythologische Bewusstsein’“: Kap.III.3. - Schlusswort 5.). Wollte man die umständliche und zögerliche Politik der Provisorischen Regierung in typographische Zeichen übersetzen, wären dies Gedankenstriche, Frage- und Auslassungszeichen (festzumachen an der ‘verzappelten’ Kriegsfrage) 1103 , während die Politik der resoluten und agilen Bolschewikí fast ausschließlich in Ausrufezeichen erfolgt (‘lieber Zwangsfrieden als Endloskrieg’: Kap.III.2.). Getrieben von diesem Imperativ, haben es die „Roten“ - ob auf der Bühne oder hinter den Kulissen - immer eilig, und agieren stets initiativ oder antizipatorisch / präjudizierend und raumgreifend (Putsch beim Sowjetkongress: VI.1., FN998 - „revolutionärer Auftrieb“ [3] und „Immer neue Scharen“ [4] - erste Salve von den „Roten“ [4]). Dagegen bleiben die Zuschauer zusammengedrängt und fixiert, reaktiv und affirmativ. Vom „schnellen Wechsel der Ereignisse auf der Bühne“ [3] über die Simultanschlachten (Brücke - Holzstapel [4], Palastfassade - Bühnen [5]) bis zum allseitigen und gleichzeitigen Siegestaumel vor dem Palast (Sturm der Zuschauer [8], Jubel und Parade [10]) erfolgt die performative Intensivierung durch eine Beschleunigung der Abfolge [1-4] und als Verkettung und Multiplizierung der Aktionen / Simultanhandlungen [5-10] (analog zur Licht-Regie: VI.5.1.). Dies entspricht ganz und gar keiner Mangelerscheinung, sondern einer Frequenzerhöhung, die von den Reaktionen der Zuschauer aufgegriffen und mitgetragen wird (von der Neugierde der Bäuerinnen [2] über die Elektrisierung der Zuschauer [5] bis zum allgemeinen Jubel [10] - dazwischen: „Im Zuge des anwachsenden revolutionären Auftriebs steigt die Stimmung der dichten, weiter einströmenden Menge von Arbeitern und Soldaten, und auch die der Zuschauer“ [3]): „/ .../ es ist klar, dass es Momente gab, wo das Packende und das Beben in elektrischen Wellen von den sich entladenden Menschen ausging, und sie zu einem Paar Pupillen und zu einem vor Aufmerksamkeit geöffneten Mund verschmolz.“ 1104 Der Seufzer anlässlich der „roten“ Niederlage („Juli-Ereignisse“) [3], die chorische Internationale und die „Lenin“-Rufe [4] sind kurz und rhythmisch, einprägsam und genau, und wirken daher wie vertonte Zuschauer-Instruktionen. Bis auf den zitierten Zeitzeugen (VI.1., FN994 - VI.5.1.) sind keine weiteren Abweichungen des Publikums von der Bewertungsvorgabe erkennbar. Die stärksten Reaktionen wie „erhöhte Aufmerksamkeit“, ausführliche Kommentare [3] und große „Begeisterung“ [7] gelten traditions- und erwartungsgemäß (V.4.) dem clownesken „Kerénskij“ und der „weißen“ Bühne, und leiten den Spott zuverlässig und ‘arbeitsteilig’ von der Bühne ins Parkett. Das Publikum folgt der vor- 1103 Stöckl.1983.640f.+643f. - Vgl. Einleitung 4., FN115/ 116. 1104 Šubskij.(1920).4. <?page no="373"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 369 gegebenen Spannungslinie und führt sie seinerseits fort: Inszenierung und Aufführung laufen also synchron. Wenn nun in der beschriebenen Tempo- und Spannungssteigerung der E RSTÜRMUNG vom ‘anthropometrischen, mythologischen Marsch’ der Revolutionsfeste (Kap.III.5.) kaum mehr übrigbleibt als eine ‘vorgefertigte’, ‘atemlose’ Sogbewegung, bei der die zeiträumliche ‘Lauf-’ und die sozialpolitische ‘Leserichtung’ vorbestimmt wurden und befolgt werden, lassen sich die ‘Gelenkten’ als ‘Mitläufer’ (‘Schwarm-Individuen’) bezeichnen, deren Relation zu den ‘Lenkern’ (‘Steuerinstanz’) einer „Selbstübereignung“ und keinem „Vertragsverhältnis“ (Lótman: Kap.IV.5.2., FN811/ 814) entspricht (‘Impulsbewegung’). Sollte nun die Faszination des Lichtes und der Rausch der Beschleunigung, die Fülle symbolhafter Bezüge (VI.5.1.) und die „Logik der graphischen Ausdruckskraft“ (Deržávin, FN1098) tatsächlich Grund genug sein für die Regression von einer Gemeinschaft (S TURZ - März 1919) zu einer Jubelmasse (E RSTÜRMUNG - November 1920)? Genügt eine ausladendsymmetrische Prachtentfaltung, um die (eben erst) erkämpfte ‘Manöverhaftigkeit’ zugunsten einer autoritären Manövrierbarkeit preiszugeben? Eine vorläufige Antwort darauf gibt eine weiterer Aspekt der performativen Intensivierung, der zugleich als verstärkende, doppelte ‘Absicherung’ fungiert. Die radikale Verkehrung der Verhältnisse, die in der Beklemmung, Zwitterhaftigkeit und Düsternis beginnt und nach mehreren Aufständen in der Befreiung, Eindeutigkeit und Erleuchtung endet, erfolgt in der Verschränkung zweier Umkehrmechanismen: des Ostermotivs (‘Stationen der Passion’ - Tod und Auferstehung) und der Zirkussituation (‘Montage der Attraktionen’ - die Leichtigkeit des Schweren). Die Fixierung des Publikums während der Vorstellung (zwischen und von den Steuerinstanzen sowie durch die Seilabsperrungen) steht zweifellos im Gegensatz zur unbeobachteten und freien Platzwahl und Beweglichkeit beim Osterfest, dessen Episoden und Stationen in wechselseitigen Litaneien und Gesängen (nach)vollzogen werden. Doch die gemeinsamen Kreis-Gänge um die Kirche (gegen den Uhrzeigersinn) und die Öffnung der Königspforte (cárskie vráta: die Mitteltür der Ikonostase) als Höhepunkt der ‘Heilserwartung’ werden vom Popen an- und durchgeführt (vergleichbar mit dem ‘arbeitsteiligen’ und zeitversetzten Sturm erst der Akteure [5], dann der Zuschauer [8]), erfolgen ebenfalls bei voller Illumination und auch zu vorgerückter Stunde bzw. am Ende der Liturgie. Ebensowenig wie die Königspforte von Laien überschritten werden darf, bleibt das Winterpalais tabu für das Volk: so bilden diese Merkmale eine modellhafte Entsprechung zur Aufführung. Die festgesetzten Beteiligten im Mittelfeld stehen auch im Kontrast zu den zentripetalen Bewegungsströmen ringsum (Menschenmengen, Truppenteile und Wagen-Kolonnen) und zu dem spät ‘gewährten’, ‘vektoriellen’ Sturmlauf zum Palais. Diese beherrschende, fast durchgehende Konfiguration in der E RSTÜRMUNG überlagert den obengenannten Status: indem der Zuschauer <?page no="374"?> K APITEL VI. 370 mittendrin steht, aber gleichzeitig außenvor bleibt, übernimmt er funktional die Position des atem--beraubten Zirkusbesuchers, der sich während der gesamten Vorstellung auf deutlicher Distanz zu den auserwählten Akteuren und ausgesuchten Attraktionen befindet. Bei allen drei cultural performances (Osterliturgie, Zirkusvorstellung, Manöveraufführung) findet eine Angleichung der Teilnehmer erst am Ende und nur unter der Bedingung der Akklamation statt; doch mit dem verschobenen Rahmen und manipulierten Jubel (VI.4.) bildet die Parade eine stärkere Rückbindung der E RSTÜRMUNG an den vermeintlich volksnahen und egalitären Zirkus. Man könnte nun entgegnen, dass die Osterliturgie ebenso ‘vorgefertigt’ und unzweideutig, unbeirrt und autoritär auf eine Akklamation zusteuert (die Lobpreisung des Herrn / des Sohnes und seiner ‘revolutions’gleichen Leistung: der „Auferstehung“), wie die beiden anderen Gattungen. Doch während hier eine schrittweise Vorbereitung auf die Öffnung der Königspforte stattfindet, erfolgt die ‘Erlösung’ oder ‘Freigabe’ des Publikums in der E R- STÜRMUNG schlag- oder schwallartig und ohne Rückversicherung der Zuschauer. Keine Konsekration ohne Kon--Vention, d.h. ohne Übereinkunft (Kap.IV.5.2, FN795): Im Osterfest wird das Verbrüderungsmotiv nicht bloß evoziert oder ‘herab’beschworen, sondern in der Situation selbst vollzogen: mimetisch und responsiv im Blickkontakt und Wechselgesang zwischen Priester und Gemeinde sowie im mehrfachen Auf- und Zuziehen des Vorhangs, d.h. im Blickwechsel mit dem Altar. Klingt der Chor dabei falsch, unsicher oder sonstwie schräg, passiert es schonmal (so meine Erfahrung), dass der Pope den Ablauf kurzerhand unterbricht, in einem ‘privaten’ Tonfall nach dem Problem fragt, und die Wiederholung der Passage auch gestisch korrigiert oder kommentiert. In der E RSTÜRMUNG hingegen findet zwar eine ‘unaufhaltsame’ Ballung der Aufständischen („Immer neue Scharen entströmten ihnen [den Fabriken und Gefängnissen] / .../ “ - Fahnen-Motiv in [4, 5]) und eine immer größere Sichtbarkeit statt [5-10], aber keine erkennbare Verständigung, weder als Solidaritätsadresse, geschweige denn als Verbrüderungsmotiv (stattdessen: Amboss-Schläge als ‘Kampfschwur’ [4] - ‹Hurras› als ‘Sturmsignal’ für die Menge [7] - vgl. dagegen die ‘Entlassungs- Segen’ im S TURZ : Kap.IV.5.2., FN798). Kein Atemholen, keine Zäsur und keine Besinnung leisten hier ein integratives Angebot für den beidseitigen Anschluss, für die Querverbindungen oder Perspektiv-Wechsel der „Chöre“ (Ivánov: Kap.II.1.5., II.1.6.) oder „Kreisläufe“ (Lunačárskij, Kap.II.3.). Das Aktionsprogramm der E RSTÜRMUNG wird nicht als optionaler „Weg“ innerhalb eines plastischen „Raums“ ausgehandelt, sondern als imperative „Karte“ an einem imperialen „Ort“ verordnet (Certeau: Kap.III.4., FN558/ 560). Der Unterschied zwischen Dekret und Gesetz, Symbol und Signal, „Karte“ und „Weg“, Reflex und Reaktion, Gehorsam und Konsens, ist graduell, aber gewaltig, und besteht - so mein Befund - wesentlich und spezifisch in der Zeitstruktur dieser Begriffe. <?page no="375"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 371 So konfiguriert die E RSTÜRMUNG zuvörderst ein funktionierendes Ordnungsbild, dessen Symmetrie und Intensität vom kriegsgeschädigten, revolutionsmüden Zuschauer als transparent und wirksam wahrgenommen und empfunden wird, und dem er sich deshalb freiwillig anschließt und einfügt. Vor dem Hintergrund einer jahrhundertelang verinnerlichten Himmels- und Herrschafts-Hierarchie und ihrer sehr kurzen und nur relativen Aufhebung / Nivellierung während der Revolution, stellen die Instruktionen und Seilabsperrungen der Inszenierung offenbar eine geringfügige und unverdächtige, bloß ‘arbeitsteilige’ Maßnahme für den abschließenden, gemeinschaftlichen Siegestaumel der Aufführung dar. Bis dahin verläuft die Identifikation des Zuschauers einerseits entlang seiner tradierten Glaubenswelt, einer militarisierten und sakralisierenden Hierarchie (vom Farbzum Lichtwert: von den feldgrauen, ‘farblosen’ Milizen über die rote Garde [3] bis zur Roten Armee {Amboss-Schläge} [4]) mit ‘byzantinischer’ Pracht und herrschaftlichem Instrumentarium, mit schillernden Sonderrängen und ‘ikonischen Lichtgestalten’ (zu Pferd, also erhaben: „Die Reiterhusaren in weißen Uniformen und mit hohen Tschakos“ [10]). Anderseits knüpft die Identifikation an seine vertraute Lebenswelt an, entlang den hochspezialisierten und kunstvollen Fertigkeiten aus Balagán und Zirkus, worin Gegner, Hindernisse und Widrigkeiten auf leichte und lustvolle Weise überwunden werden und beherrschbar erscheinen. Die in diesen beiden Traditionslinien oder Kultur-Strategien - Ostern und Zirkus - kondensierte Zeit- und Erfahrungsfülle scheint einen probaten Ausgleich zum Tempo und Aktionismus der Bolschewikí herzustellen. In beiden Fällen wird die Verminderung von Selbstbestimmung und Eigenbeteiligung mit einem Gewinn an Vertrautheit und Sicherheit ‘verrechnet’, und die ‘Bilanz’ offenbar als lohnend erachtet. Am Ende des Bürgerkriegs und aller materiellen Ressourcen, am Ende der moralischen Kräfte und des revolutionären Anstands stellt der Mach(t)Werk-Charakter der E RSTÜRMUNG ästhetisch ein Aufbäumen und sozial eine Verschleiß-Erscheinung dar: eine letzte ‘Panikblüte’. <?page no="376"?> K APITEL VI. 372 1/ Lageplan zur Manöveraufführung D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS (08.11.1920). <?page no="377"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 373 2/ Das Winterpalais: „Hort des Erbfluchs“ (Piotrovskij, Kap.V.4.) am Schlossplatz (Urickij-Platz). Dahinter, am anderen Ufer der Neva: „die tausendmal verfluchte Peter-Und-Paul-Festung“ (Olbracht in Jufit.[1920]1968.269.). „Die letzten Gefangenen dieses Gefängnisses waren 1921 für sehr kurze Zeit die Teilnehmer des tragischen Kronstädter Aufstands.“ (Kann/ Suchotin.2000.27.) — Postkarte. Ende 20.Jh. 3/ Der Generalstab am Schlossplatz mit Alexander-Säule. — Photo. Vor 1987. <?page no="378"?> K APITEL VI. 374 4/ Das desertierte Winterpalais kurz vor der Besetzung (1917): „Es war mit seinen 1500 Räumen so groß, daß Verteidiger und Angreifer einander kaum zu Gesicht bekamen.“ (Moynahan.1994.97.) — Photo. 1917. <?page no="379"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 375 5/ „Allgemeine Regie-Konzeption der Inszenierung“ auf dem Schlossplatz (auf der Basis der Graphik in Rafalovič/ Kuznecov/ Mokul’skij.1933.278/ 279.). <?page no="380"?> K APITEL VI. 376 6+7/ Der Schlossplatz im Achsen-Sprung (Generalstab - Winterpalais - und umgekehrt, dazwischen die Alexander-Säule mit Regie-Podest). 6/ Bühnenbild-Entwurf von Jurij P. Annenkov von 1920. 7/ Probenphoto (frühestens vom 05.11.1920) mit Regie-Podest (vgl. IV.1., FN992). <?page no="381"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 377 8/ Die „rote“ Bühne. — Probenphoto (frühestens vom 05.11.1920). 9/ Die „weiße“ Bühne. (Links im Mittelfeld: Transparent mit Schriftzug „Das Pfand der Freiheit“. Rechts am Tisch: die „Provisorische Regierung“). — Probenphoto (frühestens vom 05.11.1920). <?page no="382"?> K APITEL VI. 378 10+11/ Die Verbindungsbrücke. — Probenphotos (frühestens vom 05.11.1920). <?page no="383"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 379 12/ Die „Roten“. — Probenphoto (frühestens vom 05.11.1920). <?page no="384"?> K APITEL VI. 380 13/ Die „Weißen“. (Transparent mit Schriftzug: „Das Pfand der Freiheit“). — Probenphoto (frühestens vom 05.11.1920). <?page no="385"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 381 14+15/ „Weißgardisten“ (vorne) und „Provisorische Regierung“ (hinten). — Probenphotos (frühestens vam 05.11.1920). <?page no="386"?> K APITEL VI. 382 16/ „Das Frauenbataillon“. (Gregor/ Fülöp-Miller.1928.T.399.) — Probenphoto (frühestens vom 05.11.1920). 17/ „Das Frauentodesbataillon“. (Das Russland der Zaren.1989.99.) — Photo. 1917. <?page no="387"?> D IE E RSTÜRMUNG DES W INTERPALAIS 383 18+19/ Tumult bei den „Roten“. — Probenphotos (frühestens vom 05.11.1920). <?page no="388"?> K APITEL VI. 384 20/ „Siegreiche Militärautos“. (Gregor/ Fülöp-Miller.1928.T.403.) — Probenphoto (frühestens vom 05.11.1920). <?page no="389"?> Schlusswort 1. Neue „Grammatik“ mit alten „Ismen“ Als die russische Revolution Mitte November 1920 soweit gefestigt schien, dass eine Restauration durch die alten Macht-Eliten ausgeschlossen werden