Paulusstudien
0515
2017
978-3-7720-5608-6
978-3-7720-8608-3
A. Francke Verlag
Friedrich W. Horn
Die in diesem Band vereinten Paulusstudien bewegen sich um drei inhaltliche Schwerpunkte und Fragen:
Gibt es Wandlungen und Veränderungen im Denken des Paulus? Sind diese kontextuell zu erklären oder deuten sie auf gedankliche Weiterarbeit hin?
Paulus entwirft eine Ethik für heidenchristliche Gemeinden. Diese kennt Adaptionen vorgegebener Werte, setzt aber doch innerhalb der Eschatologie und der Christologie eigene und neue Ausrichtungen.
Paulus tritt für das Recht heidenchristlicher Gemeinden ein. Dieser Schritt verlangt nach persönlichen und grundsätzlichen Klärungen des Verhältnisses zum Judentum und zu den judenchristlichen Gemeinden.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8608-3 www.francke.de Die in diesem Band vereinten Paulusstudien bewegen sich um drei inhaltliche Schwerpunkte und Fragen: Gibt es Wandlungen und Veränderungen im Denken des Paulus? Sind diese kontextuell zu erklären oder deuten sie auf gedankliche Weiterarbeit hin? Paulus entwirft eine Ethik für heidenchristliche Gemeinden. Diese kennt Adaptionen vorgegebener Werte, setzt aber doch innerhalb der Eschatologie und der Christologie eigene und neue Ausrichtungen. Paulus tritt für das Recht heidenchristlicher Gemeinden ein. Dieser Schritt verlangt nach persönlichen und grundsätzlichen Klärungen des Verhältnisses zum Judentum und zu den judenchristlichen Gemeinden. 22 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Kathy Ehrensperger, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp Paulusstudien Friedrich W. Horn 22 Paulusstudien Friedrich W. Horn 22 <?page no="1"?> Paulusstudien <?page no="2"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 22 · 2017 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Kathy Ehrensperger, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Friedrich W. Horn Paulusstudien <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG. Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen www.francke.de · info@francke.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 1865-2666 ISBN 978-3-7720-5608-6 <?page no="5"?> Dieses Buch widme ich Hannah, Emmalie, Jonna und Ella. <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . 14 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Kyrios und Pneuma bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Die letzte Jerusalemreise des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Ist Paulus der Begründer des Christentums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Zur Literarkritik der Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes und die vergänglichen Bilder der Menschen. Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 . . . . . . . . . . 152 Juden und Heiden - Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen. Ein Gespräch mit Krister Stendahl . . . . . . . . . . 168 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik. Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Paulus und der Herodianische Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Stephanas und sein Haus - die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia. Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 . . . . . . . . . . . 249 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger. Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis. Kennt Paulus auch Werke im Glauben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Wollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis Ortsverschiebungen. Transformationen des Gottesverständnisses im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Paulus und die Kardinaltugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Nicht wie die Heiden! Sexualethische Tabuzonen und ihre Bewertungen durch Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 <?page no="9"?> Vorwort Die in diesem Buch abgedruckten Aufsätze stellen eine Auswahl von Paulusstudien aus den vergangenen beiden Jahrzehnten dar. Diese wurden in chronologischer Reihenfolge angeordnet, durchgehend korrigiert und an ganz wenigen Stellen um zwischenzeitlich notwendig gewordene Hinweise ergänzt. Ich danke Jutta Nennstiel sehr herzlich für alle Arbeit an diesem Band. Sie hat Aufsätze, die nicht digital vorlagen, neu geschrieben, sodann alle Dateien in das NET -Format überführt und durchkorrigiert, sie hat das Register erstellt und den Band in der ihr eigenen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bis zur Abgabe an den Verlag betreut. Diesen Dank weite ich an dieser Stelle sehr gerne und von Herzen über dieses Buch hinaus aus auf die gesamte zurückliegende Zeit gemeinsamer Arbeit. Mainz, im April 2017 Friedrich W. Horn <?page no="11"?> Einführung 11 Einführung Die in diesem Band vorliegenden Aufsätze stellen eine Auswahl von Paulusstudien aus den vergangenen beiden Jahrzehnten dar. Sie stehen in Verbindung mit meiner Lehrtätigkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und sind in der Abfolge ihrer Publikationsjahre hier erneut wiedergegeben. Der erste abgedruckte Aufsatz gibt den Probevortrag wieder, mit dem ich mich 1994 in Mainz beworben habe. Das von mir herausgegebene Paulus Handbuch, Tübingen 2013, ist der Darstellung der Person und des Werks des Apostels gewidmet. Drei inhaltliche Schwerpunkte sind in den ausgewählten Paulusstudien gesetzt: a. Seit meiner Habilitationsschrift beschäftige ich mich mit der Frage nach Wandlungen innerhalb der paulinischen Theologie. Diese Fragestellung wurde für mich seinerzeit von Georg Strecker an der Georg-August-Universität in Göttingen angestoßen und sie wurde damals auch von meinen Vorgängern als Assistent Georg Streckers, von Gerd Lüdemann und Udo Schnelle, aber auch von weiteren Doktoranden aufgenommen. Es geht hierbei primär darum, Wandlungen innerhalb der Briefe des Paulus zwischen dem 1. Thessalonicherbrief als dem frühesten Brief und dem Römerbrief als dem vermutlich letzten Brief des Paulus zu erkennen und zu beschreiben. Darüber hinaus aber ist noch weiter zurückzufragen in die vor den Gemeindebriefen liegende antiochenische Zeit des Apostels und sogar in seine vorchristliche, jüdisch-pharisäische Vergangenheit. Hier liegen grundlegende jüdische und frühchristliche Prägungen des Paulus und sie sind in seinen Briefen unschwer zu erkennen. Der Frage nach Wandlungen liegt aber im engeren Sinn die Einsicht zugrunde, dass das Damaskuserlebnis oder die Berufung des Paulus nicht der archimedische Punkt ist, der alle weiteren theologischen Einsichten in sich schließt. Vielmehr setzt das Damaskuserlebnis, in dessen Zentrum wohl die als Offenbarung interpretierte Anerkennung des gekreuzigten Jesus als des Christus steht, die Notwendigkeit frei, diese Einsicht gedanklich zu bewältigen. Die Briefe des Paulus sind Dokumente dieses Reflexions- und Selbstfindungsprozesses christlicher Theologie. Man sollte jedoch nicht meinen, es sei ein gedanklicher Entwicklungsprozess des Apostels stimmig zu rekonstruieren. Die Ausführungen des Paulus in seinen Briefen sind in hohem Maße kontextuell eingebunden und bisweilen auch als Reaktion auf Strömungen in den Gemeinden oder als Auseinandersetzung mit weiteren Aposteln zu verstehen. Zu dem Thema der Wandlungen innerhalb der pau- <?page no="12"?> 12 Einführung linischen Theologie gehört auch die seinerzeit von Georg Strecker betonte Einsicht, dass die in allen Briefen des Paulus begegnende ‚in Christus-Vorstellung‘ so etwas wie die Konstante im Denken des Paulus darstellt. b. Auch der zweite Schwerpunkt verdankt sich einer Anregung Georg Streckers. Dieser war an allen ethischen Fragen des Neuen Testaments im Kontext seiner hellenistischen Umwelt interessiert und er arbeitete an einer monographischen Darstellung der Ethik des Neuen Testaments, die jedoch wegen seines frühen Todes nicht abgeschlossen werden konnte. Georg Strecker hatte mir in der Dissertation die Aufgabe gestellt, die Ethik des Evangelisten Lukas zu untersuchen (Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas, GTA 26, Göttingen 1983. 2 1986). Der Titel dieser Studie bewegt sich noch ganz in der seinerzeit bestimmenden Fragestellung nach dem theologischen Ort der Ethik. Damit jedenfalls war ein ethischer Schwerpunkt gesetzt, der hernach auch in der Beschäftigung mit Paulus erhalten blieb. Seit 1982 habe ich in der Theologischen Rundschau die Literatur zur Ethik des Neuen Testaments besprochen (ThR 60, 1995, 32-86; ThR 76, 2011, 1-36.180-221). Mit der Berufung von Ulrich Volp im Jahr 2008 (Kirchengeschichte / Patristik) und Ruben Zimmermann im Jahr 2009 (Neues Testament) konnte in Mainz das Zentrum für Ethik in Antike und Christentum ( EAC ) begründet werden. Neben regelmäßigen Tagungen, den Mainz Moral Meetings, und der Arbeit in Doktorandengruppen bzw. in einem Graduiertenkolleg konnten ab jetzt regelmäßig Publikationen zu ethischen Themen vorgelegt werden. Diese sind teilweise in einer Untergruppe der Reihe WUNT als ‚Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik‘ erschienen. c. Der dritte Schwerpunkt liegt in dem facettenreichen Thema Paulus und das Judentum. Durch die Berufung an die Gerhard-Mercator-Universität in Duisburg im Jahr 1992 wurde mir die Leitung des Forschungsschwerpunktes Geschichte und Religion des Judentums übertragen. Ich musste schnell erkennen, dass ich durch die Göttinger Studien- und Qualifikationszeit nicht auf die spezifischen Fragen vorbereitet war, die sich in Duisburg im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs, wie er in der Evangelischen Kirche im Rheinland geführt wurde, vorbereitet war. Gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen Heike Omerzu und Claudia Büllesbach und mit meinem Mitarbeiter Hermut Löhr haben wir in diesen Jahren in Duisburg einen anderen Schwerpunkt gesucht und haben zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit gearbeitet. Das Bild des hellenistischen Diasporajuden Paulus, eines römischen Bürgers und jüdischen Denkers, erfuhr durch diese Studien eine differenzierte Betrachtung. Auch die gemeinsame Arbeit an historischen, rechtlichen und theologischen Fragen zum Ende des Paulus findet einen Niederschlag in etlichen Beiträgen dieses Bandes. Durch die New Perspective on <?page no="13"?> Einführung 13 Paul, die mit großer zeitlicher Verzögerung in Deutschland rezipiert wurde, sind etliche Fragestellungen zum Judentum, zur jüdischen Matrix des Paulus und zur Gestalt seiner Theologie neu erschlossen worden. Man konnte und durfte diesen Fragen nicht ausweichen, zu grundsätzlich waren die Anfragen etwa an die Bedeutung der Rechtfertigungslehre und an die Ekklesiologie in der älteren deutschen Exegese. Vor allem hat mich interessiert, wie Paulus mit den sogenannten identity markers oder boundary markers des Judentums gegenüber der heidnischen Welt umgeht und welche Ethik er entwirft, wenn er nun seinerseits Heidenmissionar wird und christliche, vorwiegend heidenchristliche Gemeinden begründet. Hier in diesem Band nicht aufgenommen sind Aufsätze und Artikel zur Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte, die sich auf die Religionsgeschichtliche Schule und deren Nachwirkung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beziehen. Sie sollen dennoch erwähnt werden, weil es eine Grunderfahrung der Arbeit vergangener Jahre war, Wesentliches aus dem Studium der Arbeiten dieser Theologengeneration empfangen und gelernt zu haben. <?page no="14"?> 14 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum * Die neutestamentlichen Schriften blicken mehrheitlich mit erheblichem zeitlichem Abstand auf die Anfänge des frühen Christentums zurück. Dieser Blick ist in keinem Fall von einem ausschließlich historischen Interesse geleitet, er dient vielmehr durchgehend der Selbstvergewisserung der eigenen Gegenwart. So erscheint die Verhältnisbestimmung zum Judentum in fast allen Schriften durch eine klare Abgrenzung gekennzeichnet. Der weitgehend negative Verlauf der christlichen Mission an Juden einerseits und der Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. andererseits haben diese neutestamentliche Sicht im Wesentlichen geprägt. Gleichwohl ist für die Ausbildung von christlichen Gemeinden ein spannungsvolles Verhältnis zum Judentum geradezu konstitutiv. Es impliziert Nähe und Distanz zugleich. Man wird diese Frage auf mehreren Ebenen verfolgen, zugleich um die Gefahren eines simplifizierenden Geschichtsbildes und einer einseitigen Fragestellung wissen müssen. Das Judentum der neutestamentlichen Zeit ist eine ausgesprochen komplexe Größe. Und die Frage nach den Anfängen hat neben den theologischen gleichfalls sozialgeschichtliche, juridische oder auch politische Aspekte zu bedenken. Ich möchte versuchen, an einem klar begrenzten Aspekt jüdischer Lebenswirklichkeit - der Beschneidung der männlichen Juden - aufzuzeigen, wie und weshalb es zu einem eigenständigen, spezifisch anderen christlichen Weg kam. Ich möchte somit Ihren Blick auf die konkreten Formen gelebter Religion lenken. Parallel hierzu wäre etwa nachzudenken über die Bedeutung der jüdischen Speisegebote, des Sabbatgebotes, der Frömmigkeitsübungen wie Fasten und Almosen. Es sind dies die sog. ‚identity markers‘ 1 jüdischer Existenz im Gegenüber zur heidnischen Welt. Werden sie, wie von einem Teil des entstehenden Christentums, nicht mehr eingehalten, so hebt man das Unterscheidungskriterium auf und dispensiert sich zugleich vom jüdischen Gemeindeverband. Wir wissen, dass vor allem das Heidenchristentum, aber auch gebürtige Juden wie der Apostel Barnabas und Paulus von den Christusgläubigen aus dem heidnischen 1 Dieser Ausdruck im Anschluss an die mehrfache Verwendung in dem Werk von J. D. G. Dunn, Jesus, Paul and the Law. Studies in Mark and Galatians, London 1990. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum“, pp. 479-505, New Testament Studies, (1996) ©, Cambridge University Press 1996, reproduced with permission. <?page no="15"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 15 Raum keine Beschneidung verlangten. Wie kam es zu dieser Entscheidung, was hat diesen Weg begünstigt? Den Stellenwert des Themas mag ein Zitat von M. Hengel präzise anzeigen: „Der Kampf des Paulus gegen die Beschneidung und das Gesetz war […] in den Augen seiner judaistischen Gegner ein ‚Verrat am Judentum.‘“ 2 Dem religiösen korrespondiert ein politischer Aspekt: Heidenchristen sind ab jetzt von der jüdischen Alltagswelt (Tempelbesuch, Ehe mit einem Juden / einer Jüdin, Anspruch auf jüdische Wohltätigkeit, relative Sonderrechte im römischen Staat) a limine ausgeschossen. 1. Die frühesten christlichen Stellungnahmen zur Beschneidungsfrage Es kann zunächst eine gewisse Eingrenzung getroffen werden. Die Frage der Beschneidung ist kein Thema der Verkündigung Jesu. Dieser Befund verdient Beachtung, weil Aussagen zu anderen sog. jüdischen ‚identity markers‘, etwa das Verhalten am Sabbat, die Fastenpraxis, der Umgang mit Sündern, durchaus auf die Verkündigung Jesu zurückgehen und von der palästinischen Gemeinde in Apophthegmata aufgenommen worden sind. Allerdings ist sogleich zu sagen: die rechte Auslegung des Sabbatgebotes oder der Fastenpraxis stellt zur Zeit Jesu ein innerjüdisches Problem dar, in das Jesus eingreift. Die Beschneidung hingegen ist im palästinischen Judentum nahezu außerhalb jeder Diskussion. 3 Dies bedeutet positiv: Wir müssen davon ausgehen, dass Jesus die Beschneidung selbstverständlich voraussetzt, gerade weil er sie nicht thematisiert. 4 2 M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., WUNT 10, Tübingen 3 1988, 561. 3 O. Betz, Beschneidung V, TRE 2 (1978) 718: „In den Qumranschriften ist die Beschneidung als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt und deshalb nur in bildlichem Sinne erwähnt.“ Positive Zeugnisse für die Selbstverständlichkeit des Beschneidungsgebrauches stellen auch Lk 2,21; Joh 7,22; Phil 3,5 dar. 4 Der Rechtsstreit Joh 7,14-24 geht wohl auf die Auseinandersetzung der johanneischen Gemeinde mit dem Judentum zurück. Will man allerdings in V. 22-23 darüber hinaus ein Wort Jesu finden, so würde es rabbinischen Grundsätzen (Shab 18,3; 19,2; Ned 3,11), dass die Beschneidung über dem Sabbatgebot steht, entsprechen und insofern Jesu Verankerung im Judentum in dieser Hinsicht nur bestätigen. Der Dialog zwischen Jesus und den Jüngern über den Nutzen der Beschneidung in Log 53 des EvThom greift in dem Motiv der „Beschneidung im Geist“ zwar auf jüdische Voraussetzungen zurück, aber die schroffe Entgegensetzung zur realen Beschneidung ist doch wohl nur als christliche Interpretation zu begreifen. Insofern muss Log 53 des EvThom für die Rekonstruktion der Verkündigung Jesu ausfallen (Übersetzung bei W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 1: Evangelien, Tübingen 6 1990, 107-108: Seine Jünger sagten zu ihm: Ist die Beschneidung nützlich oder nicht? Er sagte zu ihnen: Wenn sie nützlich wäre, würde ihr Vater sie schon beschnitten in ihrer Mutter zeugen. <?page no="16"?> 16 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum Die Abgrenzung - sozusagen nach hinten - ist andererseits mit dem Apostelkonvent gegeben, über den Gal 2,1-10 und Apg 15 berichten. Nach beiden Berichten war das Thema des Konvents allgemein die Heidenmission (Gal 2,2.9; Apg 15,12). Auf dem Konvent allerdings tritt eine Gruppierung - Lk nennt sie „einige von der Partei der Pharisäer, die gläubig geworden waren“ (Apg 15,5); Paulus sagt rückblickend „die falschen Brüder“ (Gal 2,4) - mit der Forderung der Beschneidung der bekehrten Heidenchristen auf (Apg 15,5b). 5 Dies bedeutet: die Frage der Beschneidung allein war wohl nicht der direkte Anlass des Apostelkonvents, wurde aber zu einem zentralen Diskussionspunkt durch das Auftreten der „falschen Brüder“. 6 Sind die „falschen Brüder“ erst durch das Auftreten des unbeschnittenen Heidenchristen Titus auf das Problem aufmerksam gemacht worden? 7 Wohl kaum. Da der Kontakt zwischen der Jerusalemer Gemeinde und der Gemeinde Antiochias, als deren Delegaten Barnabas, Paulus und Titus nach Jerusalem ziehen, eng war, ist vielmehr anzunehmen, dass die „falschen Brüder“ auf dem Konvent bewusst Informationen aus Antiochia in die Diskussion Aber die wahre Beschneidung im Geist hat vollen Nutzen gehabt); vgl. zu Log 53 des EvThom M. Fieger, Das Thomasevangelium. Einleitung, Kommentar und Systematik, NTA.NF 22, Münster 1991, 162-163. 5 In Gal 2,4-5 ist diese Forderung nicht explizit genannt. Der direkte Kontext, nämlich die Erwähnung des unbeschnittenen Heidenchristen Titus (V. 3) und der Verweis auf die Diskussion mit den Falschbrüdern (V. 5b), die letztlich den unbeschnittenen Galatern zugutekam (V. 6b), legen diese Schlussfolgerung nahe. 6 So mit Recht G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Band I: Studien zur Chronologie, FRLANT 123, Göttingen 1980, 99. In ders., Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen, 1987, 178, allerdings: „Der Anlaß der Konferenz waren ähnliche Forderungen wie die auf der Konferenz erhobenen“. Wenn jedoch (von Lüdemann, Paulus I, 101-105) der antiochenische Zwischenfall als dem Apostelkonzil vorausgehend datiert wird und hierin für Paulus der eigentliche Anlass, nach Jerusalem zu gehen, gelegen haben soll, dann wäre Paulus im vollen Bewusstsein, die Reichweite des Zeremonialgesetzes zu diskutieren, zum Konvent gegangen. Nur unter dieser Voraussetzung könnte die Mitnahme des unbeschnittenen Titus zweifelsfrei als „Testfall“ (F. Mußner, Der Galaterbrief, HTHK 9, Freiburg 4 1981, 106) angesehen werden (vgl. zu dieser problematischen These: F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, FRLANT 154, Göttingen 1992, 367-368, Anm. 75. Die sog. Erste Missionsreise (Apg 13-14), die in Gal 1,21 angesprochen zu sein scheint, gehört wohl auch zu den Voraussetzungen des Apostelkonvents (mit Recht J. Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 1981, 195). 7 Im strengen Sinn bezieht sich Apg 15,5b „man muss sie beschneiden“ auf die Mitreisenden aus Antiochia (15,2). Der in Gal 2,3 erwähnte Titus war demnach nicht der einzige unbeschnittene Heidenchrist auf dem Konvent. <?page no="17"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 17 bringen. 8 Die präzise Identifizierung der ialschen Brüder fällt nicht leicht. 9 Sie stehen in einer Linie mit den Leuten des Jakobus, die bald in Antiochia auftauchen (Gal 2,12), sind aber nicht mit ihnen zu identifizieren. Dies alles besagt nun für unsere Fragestellung: Die Person des Titus (Gal 2,3) und die Erwähnung (weiterer) unbeschnittener Delegaten aus Antiochia (Apg 15,5) zum Konvent sind ein klarer Hinweis, dass hier in Antiochia - einer hellenistischen Großstadt mit einem Anteil von ca. 50 000 Juden und zusätzlichen Phoboumenoi ( Jos. Bell 7,46) - eine Gemeinde aus unbeschnittenen und beschnittenen Christen existiert. Dies ist freilich nur möglich, wenn die trennenden Faktoren des jüdischen Zeremonialgesetzes missachtet werden. Der sog. Antiochenische Streit , der nach dem Apostelkonvent stattfand 10 und über den Paulus in Gal 2,11-14 berichtet, zeigt am Beispiel der Speisefragen recht deutlich, dass in Antiochia ehemalige Heiden und Juden, die sich jetzt gemeinsam zu Christus bekennen, Speisegemeinschaft haben. Deutlicher aus der Perspektive des Zeremonialgesetzes gesagt: Reine und unreine Menschen essen Speisen, die zu verzehren einem Juden untersagt sind. 11 Nicht nur in der Frage der Beschneidung, ebenso in Speisefragen wird die bislang verbindliche Vorgabe der jüdischen Tora ignoriert. Was ist in Antiochia dadurch eigentlich geschehen? Die Beschneidung der männlichen Juden war im babylonischen Exil zu einem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal von der umgebenden babylonischen Bevölkerung geworden, unter der die Beschneidung nicht üblich war. Die Beschneidung war gleichsam das äußerliche Zeichen der Zugehörigkeit zum Gott Israels. Die Priesterschrift hat 8 F. Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, WMANT 13, Neukirchen- Vluyn 1963, 66, vermutet (mit Apg 15,1-2), dass dem Apostelkonvent eine Auseinandersetzung mit Judaisten wegen der Frage der Beschneidung in Antiochia vorausgegangen sein muss. Gegen G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Band II: Antipaulinismus im frühen Christentum, FRLANT 130, Göttingen 1983, 60, sagt Gal 2,4 nicht, die falschen Brüder hätten sich in die Gemeinde Antiochias eingeschlichen. Hier scheint Apg 15,1-2 in den paulinischen Bericht eingelesen zu sein. Allerdings verbindet Lk in Apg 15 vermutlich den Bericht vom Apostelkonvent mit demjenigen vom (nicht eigens erwähnten) antiochenischen Zwischenfall, sodass er bereits den Anlass zum Apostelkonvent - ganz analog zu dem des antiochenischen Zwischenfalls in der paulinischen Darstellung - in der Intervention judäischer Christen in der antiochenischen Gemeinde sieht. 9 Zur lukanischen Stilisierung der Beschreibung in Apg 15,5: A. Weiser, Die Apostelgeschichte, Kapitel 13-28, ÖTK 5 / 2, Gütersloh 1985, 369-370. 10 Die Vorordnung des antiochenischen Streits vor den Apostelkonvent vertritt jetzt auch O. Böcher, Das sogenannte Aposteldekret, in: H. Frankemölle / K. Kertelge (Hg.), Vom Urchristentum zu Jesus. FS J. Gnilka, Freiburg / Basel / Wien, 1989, 325-336, 331. 11 Der Angriff der Jakobusleute kann sich a) auf das Essen unreiner Speisen, b) auf die Tischgmeinschaft mit (ehemaligen) Heiden, c) auf beides beziehen; vgl. hierzu J. N. Sevenster, The Roots of Pagan Antisemitism in the Ancient World, NT.S 41, Leiden 1975, 139. <?page no="18"?> 18 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum diesem Brauch eine heilsgeschichtliche Verankerung gegeben, war doch nach Gen 17,11 die Beschneidung das „Zeichen des Bundes“. Hieran schließt sich der im Judentum gebräuchlich gewordene Ausdruck „Beschneidungsbund“ ( b e rit mila ) an. Es handelt sich also um mehr als nur um ein Abgrenzungszeichen in fremder Umwelt. Die Beschneidung erfuhr im Verlauf des Frühjudentums eine enorme theologische Aufwertung. Versuche, sie zurückzudrängen - so etwa durch die hellenistischen Reformer der Makkabäerzeit (1 Makk 1,15) oder aber das Verbot der Beschneidung durch den römischen Kaiser Hadrian 12 - bewirkten letztlich eher das Gegenteil. Dass männliche Kinder einer jüdischen Mutter am achten Tag beschnitten werden, war - auch wenn positive Zeugnisse rar sind - wohl selbstverständliche Praxis in der Zeit des zweiten Tempels. Wenn männliche Heiden den Zugang zum Gott Jahwe und zum Volk Israel suchten, so haben sie als Proselyten u. a. die Bescheidung zu übernehmen. Und genau hier liegt der Punkt, wo die christliche Gemeinde in Antiochia sich abweichend verhalten hat. Dass Kinder aus jüdischen Familien, die Christen geworden waren, weiterhin mehrheitlich beschnitten wurden, ist wahrscheinlich. Allein die Heidenchristen, wie das Beispiel des Titus zeigt, haben diesem Brauch nicht mehr entsprochen. Ihr Zugang zur Heilsgemeinde verlief - drastisch gesprochen - nicht mehr über den Umweg einer vorgängigen Konversion zum Judentum. Ohne Beschneidung erfüllten sie nicht die an einen Proselyten gestellten Bedingungen. So aber befanden sich Beschnittene und Unbeschnittene in einer Heilsgemeinde, die nun nicht mehr durch die traditionellen „identity markers“ bestimmt war. Wir besitzen keine direkten literarischen Zeugnisse aus der antiochenischen Gemeinde. Wenige wichtige Hinweise bietet wiederum die Apg. Hiernach sind die christlichen Hellenisten der Jerusalemer Urgemeinde nach der Verfolgung des Stephanus nach Phönizien, Zypern und Antiochia gezogen (11,19). Ein Teil dieser Hellenisten nimmt in Antiochia Predigttätigkeit gegenüber den Heiden auf (11,20). Der Jerusalemer Judenchrist Barnabas kommt nach Antiochia (11,22). Er ist verantwortlich für die Übersiedlung des Paulus aus Tarsus, wohin er nach der Bekehrung zurückgegangen war, nach Antiochia (11,26). Beide bleiben ein Jahr (11,26) in Antiochia und werden sodann (13,1) von der Gemeinde förmlich zu einer Missionsreise ausgesandt (13-14), die sie bis in die Provinzen 12 Nach KP 1 (1964) 1194 setzte Hadrian die Beschneidung mit der castratio gleich und stellte sie unter Strafe. Er folgte hierin wahrscheinlich einer Praxis Domitians. Ausführlicher dazu E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi 1, Leipzig, 5 1920, 677-678; ders., The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ 1, revised and edited by G. Vermes & F. Millar, Edinburgh 1973, 538-539. E. M. Smallwood, The Legislation of Hadrian and Antoninus Pius against Circumcision, Latomus 18 (1959) 334-347; M. Hengel, Hadrians Politik gegenüber Juden und Christen, JANES 16 / 17 (1984 / 85 Ancient Studies in Memory of E. Bickerman) 153-182. <?page no="19"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 19 Pamphylien, Pisidien und Lykaonien führt. Aus dem Bericht der Apg, der in den Grundzügen historisch korrekt sein dürfte, 13 wird deutlich, dass die antiochenische Gemeinde der eigentliche geistige Nährboden für die paulinische Theologie gewesen sein dürfte. Wenn die Paulusbriefe Formeln, Traditionsgut wiedergeben, dann wird unter den Texten Etliches mit gutem Grund als Erbe der antiochenischen Zeit zu verstehen sein. Die Gesprächslage auf dem Apostelkonvent setzt voraus, dass man nicht allein in Antiochia in einer Gemeinschaft von beschnittenen und unbeschnittenen Christen lebte, sondern diese Praxis auch auf der ersten Missionsreise zur Anwendung brachte. Hierbei werden Barnabas und Paulus die Anknüpfung an die Synagoge gesucht, 14 diejenigen aber, die sich zum christlichen Glauben, zu dem Gott Israels, der Jesus von den Toten auferweckt hat, bekehrten, nicht mehr als Proselyten mit der Beschneidung konfrontiert haben. Es ist denkbar, dass auch andere Hellenisten in ihrer Mission ähnlich verfahren sind. 15 Diese Annahme wird belegt durch zwei unterschiedliche Aussagenreihen in den paulinischen Briefen, die zumindest in der Substanz nicht anders denn als Traditionen der antiochenischen Gemeinde zu verstehen sind. Die erste Reihe stellt zugleich die älteste christliche Aussage zur Beschneidungsfrage dar. Die erste Reihe findet sich in 1 Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15: 1 Kor 7,19: ἡ περιτομὴ οὐδέν ἐστιν καὶ ἡ ἀκροβυστία οὐδὲν, ἀλλὰ τήρησις ἐντολῶν θεοῦ 13 Lüdemann, Christentum (s. Anm. 6), 144 zu Apg 11,19-26. Gegenüber ders., Paulus I, 168, ist loc.cit. auch die These (im Anschluss an H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen 2 1972, 80), Apg 13-14 stelle die lk Konstruktion einer „Modellreise“ dar, aufgegeben. 14 Unbeschadet der lk stereotypen Stilisierung zu einem Anknüpfungsschema (Apg 9,20; 13,14; 14,1; 16,13; 17,1-2; 17,10.17; 18,4.19; 19,8) wird ein historisch zutreffender Sachverhalt zugrunde liegen (dazu Weiser, Apostelgeschichte 2 [s. Anm. 9], 330). M. E. wird (gegen Lüdemann, Paulus I [s. Anm. 6], 96 Anm. 85) die These einer ausschließlichen Heidenmission Pauli dem gemischten Charakter der paulinischen Gemeinden nicht gerecht. 15 So M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 2 1984, 70; zustimmend R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71, Tübingen 1994, 97. Freilich ist aus der Philippus-Mission diesbezüglich nichts bekannt. Doch setzt die Bekehrungsgeschichte des äthiopischen Eunuchen (Apg 8,26-40) einen vergleichbaren Akzent: der Eunuch ist - wie der Heide - von der Endzeitgemeinde nicht mehr ausgeschlossen. D. Sänger, Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel. Studien zum Verhältnis von Kirche und Israel bei Paulus und im frühen Christentum, WUNT 75, Tübingen 1994, 238 Anm. 252, vermutet in einem Umkehrschluss der Argumente aus Gal 5,11; 6,12, dass bereits der Stephanuskreis auf die Beschneidung verzichtet habe und dass dies der Anlass der Strafsanktion gewesen sei. <?page no="20"?> 20 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum Gal 5,6: ἐν γὰρ Χριστῷ Ἰησοῦ οὔτε περιτομή τι ἰσχύει οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ πίστις δι ᾽ ἀγάπης ἐνεργουμένη Gal 6,15: οὔτε γὰρ περιτομή τί ἐστιν οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ καινὴ κτίσις Diese drei Formeln stellen jeweils in gleichem dreigliedrigem Aufbau und in weitgehend gleicher Sprache (abstrakt-kollektive Redeweise) den Zustand des Beschnittenseins bzw. den Zustand des Unbeschnittenseins als wertlos (1 Kor 7,19), 16 als bedeutungslos (Gal 5,6), 17 als „nichts“ (Gal 6,15) dar. Eingeleitet mit ἀλλά ist dem jeweils entgegengesetzt das Halten der Gebote Gottes (1 Kor 7,19), der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Gal 5,6), die neue Schöpfung (Gal 6,15). Es ist deutlich, dass diese Formeln in der Ablehnung jeglicher Relevanz des Zustandes der Beschnittenheit bzw. der Unbeschnittenheit eindeutig sind. Heiden müssen nicht darauf hingewiesen werden, dass ihr Zustand des Unbeschnittenseins wertlos ist. Also wenden diese Reihen sich an diejenigen, die diesem Unterscheidungsmerkmal einen Wert beimessen bzw. an diejenigen, die vor der Entscheidung stehen, sich dem Beschneidungsritual zu unterwerfen. Grundsätzlich schließen diese Formeln nicht den Weg der Beschneidung der heidnischen Konvertiten aus, allein kommt der Sache keinerlei Bedeutung mehr zu. Es würde sich gleichsam um einen profanen Akt handeln. Anders als Paulus in der galatischen Krise vertritt diese Reihe eine adiaphoristische Position. Da sie, wie die Nachsätze eindeutig zeigen, argumentativ im Rahmen jüdischen Denkens bleibt und keinesfalls mit der Nivellierung der Beschneidungsfrage die Tora insgesamt zur Diskussion stellt (vgl. nur 1 Kor 7,19: […] sondern das Halten der Gebote Gottes), so sprechen in ihr Judenchristen (und Heidenchristen, die diese Form von Toraobservanz akzeptieren) im Gegenüber zur Synagoge. 18 In dieser Reihe werden sehr wahrscheinlich Grundsätze der antiochenischen Mission sichtbar. 19 16 Bauer-Aland, 1198: „nichts wert, nichtig, ungültig“. H. Merklein, Der paulinische Leib- Christi-Gedanke, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 325 Anm. 34, betont zu Recht, dass Beschneidung und Unbeschnittenheit „ keine Rolle mehr spielen, faktisch (sarkisch) aber noch vorhanden sind“. 17 Bauer-Aland, 778: nichts „gelten, bedeuten“. 18 H. Schlier, Der Brief an die Galater, KEK 7, Göttingen 5 1971, 283 Anm. 1: „In 1 Kor 7,19 könnte ein jüdischer Satz übernommen sein“. Ähnlich zuvor bereits J. Weiß, Der erste Korintherbrief, KEK 5, Göttingen 9 1910, 187; R. Bultmann, Paulus, RGG 2 4 (1930) 1029. Dem ist insoweit zuzustimmen, als der Satz in seinen einzelnen Elementen den Rahmen jüdischer Theologie nicht verlässt. Allerdings ist die in ihm zum Ausdruck kommende Antithese nur unter christlichen Voraussetzungen möglich; so mit Recht P. Stuhlmacher, Erwägungen zum ontologischen Charakter der καινὴ κτίσις bei Paulus, EvTh 27 (1967) 1-35, 3. 19 Ob die Formeln über die Missionstätigkeit hinaus spezifisch antiochenische Gemeindeerfahrungen verarbeiten, kann angefragt werden. M. Hengel, Paulus und das antike <?page no="21"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 21 Die zweite Reihe findet sich in 1 Kor 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11. Hier allerdings kommt die Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittenheit und Unbeschnittenheit in dem Paar „nicht Jude und nicht Grieche“ 20 zum Ausdruck, und er ist darüber hinaus bereits zugeordnet der Aufhebung des Gegensatzes von Sklave und Freiem (1 Kor 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11), von Mann und Frau (Gal 3,28). Schließlich ist diese Aufhebung deutlich einem spezifischen Ort zugewiesen worden, nämlich der Taufe in den Christus hinein (1 Kor 12,13; Gal 3,27). In alledem muss diese Reihe deutlich einem sekundären Interpretationsstadium zugewiesen werden. Diese Tauftheologie ist bei Paulus erst ab der Korintherkorrespondenz nachzuweisen, und es ist problematisch, sie bereits in früheste Zeit zurückzuführen. Allerdings bezeugen diese Tauftraditionen zugleich noch die ältere Formel der Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittensein und Unbeschnittenheit, ja in Kol 3,11 ist περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία neben Ἕλλην καὶ Ἰουδαῖος gleichsam verstärkend zusätzlich genannt. Paulus ist mithin kaum der Begründer der beschneidungsfreien Mission, wohl aber wird er derjenige, der sie im heidenchristlichen Raum durchsetzt. Bleiben wir aber noch bei dem Paulus vor der galatischen Krise, die ihn zu beißender Polemik gegen jeglichen Versuch, die Beschneidung in den christlichen Gemeinden einzuführen, treibt - bei dem Paulus, der in der antiochenischen Mission mitwirkt. Die hier gültigen Grundsätze bestimmen auch seine eigene Position auf der zweiten Missionsreise. In Korinth reklamiert er den jeweiligen Stand zu einem Adiaphoron: jeder soll in dem Stand seiner Berufung bleiben, sei er beschnitten oder unbeschnitten. Niemand soll versuchen, eine Änderung herbeizuführen. Dies ist die grundsätzliche Sicht, die Paulus in allen seinen Gemeinden bislang anordnet (1 Kor 7,17). Ist es ein rhetorischer oder theoretischer Zusatz, wenn Paulus hinzufügt (1 Kor 7,18): Der als Beschnittener Berufene soll diesen Stand nicht operativ zu verändern suchen, der als Unbeschnittener Berufene soll sich nicht nachträglich beschneiden lassen? Der Satz ist kaum durch spezifisch korinthische Erfahrungen begründet. Eher will es scheinen, als wolle Paulus eben die zwei Möglichkeiten ausschließen, die den Grundsatz, Judentum (ders. und U. Heckel [Hg.]), WUNT 58, Tübingen 1991, 329, hat in einem Diskussionsbeitrag die These vertreten, dass durch das Verhalten des Petrus in Antiochia, welches Paulus als ἰουδαΐζειν kennzeichnet, die Heidenchristen zur Beschneidung verführt worden wären, auch wenn das Verb nicht notwendig diese Bedeutung impliziert. In Jos.Bell 2,454 ist die Beschneidung als letzte Maßnahme des ἰουδαΐζειν eigens genannt. 20 U. Heckel, Das Bild der Heiden und die Identität der Christen bei Paulus, in: R. Feldmeier und U. Heckel (Hg.), Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden, WUNT 70, Tübingen 1994, 269-296, weist darauf hin, dass hierbei - auch wenn Juden und Griechen genannt sind - nur an Judenchristen und Heidenchristen zu denken sei (280-281). Allerdings wird so die mögliche rhetorische Disposition unterbewertet, die - wie bei den Parallelbeispielen - Opposita benennt. <?page no="22"?> 22 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum dass der Stand des Beschnittenseins bzw. der Unbeschnittenheit nichts wert sei, ignorieren. 21 Dieser Grundsatz scheint nun aber durch die paulinische Praxis selbst in Frage gestellt zu sein. Denn nach Apg 16,1-5 hat Paulus zu Beginn der zweiten Missionsreise den Christ gewordenen Timotheus, der Sohn einer Judenchristin und eines Heiden war, selbst beschnitten. Legt man den Maßstab des Galaterbriefs zugrunde, dann hätte Paulus - um mit seinen eigenen Worten zu sprechen (Gal 5,11) - das Ärgernis des Kreuzes aufgehoben. Daher wird die Notiz der Apg in der Literatur häufig als redaktionell dem lukanischen Anknüpfungsschema angelastet. 22 Andererseits hat man erneut die Frage gestellt, ob Paulus den Verzicht auf Bestimmungen der Tora nur gegenüber Heidenchristen erwähnt hat, nicht aber gegenüber Judenchristen. 23 Schließlich gibt es Überlegungen, die Beschneidung des Timotheus in die Zeit vor den Apostelkonvent zu verlagern, sodass Paulus hier in einer noch weitaus offeneren Haltung zur Beschneidungsfrage agiert hätte. 24 Timotheus ist das Kind einer Mischehe. Das rabbinische Recht hat mit Blick auf Dtn 7,3-4 die Mischehe verboten und sie für ungültig erklärt (Qid 68b; Υεν 45a). 25 Die Kinder aus einer Mischehe folgen der jüdischen Mutter und gelten somit als Israeliten (Υεν 78a). 26 Die 21 Weiß, Der erste Korintherbrief (s. Anm. 18), 185, hat die Frage, ob eine aktuelle Herausforderung vorliegt, ausführlich diskutiert. Der Epispasmos war gewiss für das hellenistische Diasporajudentum im Kontext antiker Ironisierung der circumcisio und aufgeklärter Lebenshaltung ein Ausweg, allein ist dies in den Quellen selten angesprochen: 1 Makk 1,15; Jos. Ant 12,241; AssMos 8,3. Ob die Enthusiasten in Korinth, sofern sie aus dem Judentum kommen, dem Epispasmos zugesprochen haben, bleibt reine Spekulation. 22 Conzelmann, Apostelgeschichte (s. Anm. 13), 97. Der Übergang vom jüdischen Erbe zum Heidenchristentum muss sozusagen korrekt vollzogen werden: Timotheus kann als Sohn einer jüdischen Mutter nicht Heidenchrist werden, sondern Judenchrist. Auch berichtet allein Lukas von der Beschneidung Jesu (Lk 2,21). 23 G. Theißen, Judentum und Christentum bei Paulus. Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einem beginnenden Schisma, in: M. Hengel und U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991, 331-356 (339 Anm. 17). M. E. schließt ein dictum wie 1 Kor 7,17 in seiner adiaphoristischen Ausrichtung diese Unterscheidung aus. Praktisch würde diese Unterscheidung das Zusammenleben in gemischten Gemeinden - etwa in Speisefragen - unmöglich machen. 24 Nach Lüdemann, Christentum (s. Anm. 6), 183, hat man vielleicht „auf der Konferenz unter Hinweis auf Timotheus die Beschneidung des Titus“ verlangt. Auch Roloff, Apostelgeschichte (s. Anm. 6), 240, u. a. verlegen den ersten Kontakt des Paulus zu Timotheus und dessen Taufe (in 1 Kor 4,17 eventuell vorausgesetzt) auf die erste Missionsreise, nehmen aber die Beschneidung aus dieser Begegnung aus. 25 Zum Verbot der Mischehe: W. Bousset / H. Greßmann, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, HNT 21, Tübingen 4 1966, 93. 26 Die rabbinische Rechtsauffassung hat wohl Voraussetzungen vor dem 2. Jhd.; so L. H. Schiffman, At the Crossroads: Tannaitic Perspectives on the Jewish-Christian Schism, in: E. P. Sanders u. a. (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition 2, Philadelphia / London <?page no="23"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 23 nachträglich erfolgte Beschneidung entspricht demnach jüdischem Recht. 27 Hat aber Paulus sich in diesem Fall dem jüdischen Recht unterworfen? Die Begründung, die Lukas in Apg 16,3 gibt - er beschnitt ihn wegen der Juden, die in jener Gegend waren - erscheint aus der missionarischen Perspektive des Lukas einsichtig. Da Paulus in seiner Mission nach Lukas immer an die örtliche Synagoge anknüpft, würde die Mitnahme eines Mitarbeiters, der noch in gewissem Maße jüdisch lebt, aber unbeschnitten ist, Unverständnis und Misstrauen erzeugen. Ein anderes Argument als dieses ist aber auch für Paulus nicht vorstellbar. 28 Denn die Beschneidung des Timotheus widerspricht dem Grundsatz, den Paulus wenige Zeit später in Korinth geltend macht, dass Unbeschnittene und Beschnittene, wenn sie Christ geworden sind, in dem jeweiligen Stand bleiben sollen (1 Kor 7,18-19). Die Existenz eines „unbeschnittenen Juden“ ist ein Sonderfall, der nicht auszugleichen ist mit der Bestimmung, dass Heidenchristen nicht die Beschneidung, Judenchristen nicht den Epispasmos wählen sollen (1 Kor 7,17-19). Der Charakter einer missionsstrategischen Maßnahme 29 1981, 115-156, 338-352; anders S. J. D. Cohen, Was Timothy Jewish (Acts 16.1-3)? , JBL 105 (1986) 251-268; außerdem C. Bryan, A Further Look at Acts 16.1-3, JBL 107 (1988) 292-294. In Qid 3,12 wird diese Rechtsauffassung für den Fall, dass die Mutter Heidin und der Vater Jude ist, begründet; dazu Bill 2,741 und 4 / 1,378-379. H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 1969, 148, zeigt zu 1 Kor 7,14, dass Paulus sich von dieser Rechtsauffassung in Hinblick auf christliche Mischehen leiten lässt. Innerhalb des rabbinischen Judentums hat es jedoch auch Schwankungen zwischen patrilinearer und matrilinearer Folge gegeben; dazu Z. W. Falk, Mischehe, TRE 23 (1994), 3-7. 27 Sowohl das Faktum der Mischehe als auch die unterlassene Beschneidung des Timotheus könnten nahelegen, „that Timothy, living in the Diaspora, did not grow up in a pious or strictly observant Jewish home“ ( J. Gillman, Timothy, ABD 6 [1992], 558-560). Aber schon Bill 4 / 1,379 bemerkte: „Die Praxis wird den Vorschriften gewiss vielfach nicht entsprochen haben.“ Man muss hinzufügen, dass alle näheren Umstände unbekannt sind. Denkbar ist auch, dass die Mutter des Timotheus ursprünglich Heidin war, sodann jüdische Proselytin wurde und jetzt Christin ist. Dafür spricht, dass a) erst im Stand einer Proselytin ihre Ehe als ungesetzlich erscheint, dass b) so die unterlassene Beschneidung erklärlich wäre und dass c) in der neutestamentlichen Überlieferung (2 Tim 1,5) die Mutter des Timotheus den durch und durch heidnischen Namen Εὐνίκη hat: dazu Bauer-Aland, 654; sowie den Anhang „Prosopographie“ bei G. Mayer, Die jüdische Frau in der hellenistisch-römischen Antike, Stuttgart 1987, 103-127, wo dieser Name nicht verzeichnet ist. 28 Dass die Beschneidung „nicht nachträglich an dem Christen Timotheus vollzogen wurde, sondern an dem Neubekehrten (vor der Taufe? )“, so Lüdemann, Christentum (s. Anm. 6), 183, ist spekulativ, auch wenn diese Abfolge rabbinischem Recht entspricht (Υεν 47). Denkbar, wenngleich ebenfalls nicht nachweisbar ist die Vermutung von J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, EKK 15, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1988, 21, Paulus habe Timotheus auf der ersten Missionsreise (Apg 14,6-20) kennengelernt und bekehrt. 29 Diese Erklärung sollte immer der kritischen Anfrage von F. Overbeck, Kurze Erklärung der Apostelgeschichte, Leipzig 4 1870, 250, eingedenk bleiben: „Beschneidung ohne religiöse Bedeutung ist ein Ding, das zur Zeit des Paulus dem Judentum gegenüber <?page no="24"?> 24 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum aber lässt deutlich werden, dass damit keinesfalls die christliche Taufe relativiert noch die Beschneidung als Forderung an Christen anerkannt ist. Der Stand der Berufung wird durch die Beschneidung auch für Timotheus nicht verändert. 30 Nur wer von der scharfen Polemik des Galaterbriefs her argumentiert und sie zur Grundlage der gesamten paulinischen Theologie erklärt, muss die Historizität der Beschneidung des Timotheus in Frage stellen. Wer aber in Rechnung stellt, dass diese Auseinandersetzung und diejenige in Philippi noch vor Paulus liegen 31 und dass der Sonderfall des Timotheus mit dem Versuch, Heidenchristen nachträglich in den Abrahambund zu überführen, nicht verrechenbar ist, der wird die Historizität der Beschneidung des Timotheus für möglich halten. 32 Hat die Beschneidung des Timotheus ein für Paulus abträgliches Nachspiel gehabt? Immerhin scheint der Sachverhalt nicht völlig peripher gewesen zu sein, da noch Lukas Jahrzehnte später Zugang zu einer diesbezüglichen Tradition hat. In Gal 5,11 setzt Paulus sich mit einer Aussage auseinander, die ihm scheinbar angehängt wird: er predige noch die Beschneidung. Die rechte Auslegung dieses Verses ist außerordentlich schwierig. 33 Gehen wir davon aus, dass die in den galatischen Gemeinden aufgetretenen Gegner des Paulus zusätzlich zum Glauben die Beschneidung der Heidenchristen fordern, so hätte man dies auch für Paulus reklamiert. Hierbei würde das ἔτι in einem Sinne von dem, was zu Vorhandenem noch hinzukommt, verstanden. Die temporale Übersetzung, die einen Zustand, der immer noch andauert, beschreibt, 34 hätte auf einen Sachverhalt im Leben des Paulus vor der galatischen Mission Bezug genommen. Hier könnte man an die vorchristliche Zeit des Paulus, in der er als Pharisäer in der Diaspora für die schlechthin sinnlos war und an welches in der Wirklichkeit des Lebens nie gedacht werden konnte.“ E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 6 1968, 421, vermerkt zusätzlich: „Der Gedanke, daß man die Beschneidung an sich vollziehen läßt, um Schwierigkeiten der Mission zu vermeiden […] wäre für ihn [Paulus; F. W. H.] Lüge und Blasphemie Gottes in einem gewesen.“ Man muss freilich sehen, dass Lukas dies explizit anders verstanden hat. 30 Da Timotheus ja Jude von Geburt her ist, liegt der Fall anders als bei dem Heidenchristen Titus, der nach Gal 2,3 nicht beschnitten wurde. 31 Bereits Weiß, Der erste Korintherbrief (s. Anm. 18), 185, vermerkte, dass Paulus in der Beschneidungsfrage in 1 Kor 7 „eine ganz andere Betrachtungsweise“ als im Galaterbrief vortrage, die im Hinblick auf die gewöhnlich angenommene Chronologie (Datierung des Gal vor die Kor) verwunderlich sei. 32 Weiser, Apostelgeschichte (s. Anm. 9), 402, stellt Befürworter und Gegner dieser These zusammen. 33 Vgl. P. Borgen, Paulus Preaches Circumcision and Pleases Men, in: M. D. Hooker / S. G. Wilson (Hg.), Paul and Paulinism. FS C. K. Barrett, London 1982, 37-46; ders., Observations on the Theme ‚Paul and Philo‘. Paul’s Preaching of Circumcision in Galatia (Gal 5,11) and Debates on Circumcision in Philo, in: S. Pedersen (Hg.), Die Paulinische Literatur und Theologie, Göttingen 1980, 85-102. 34 So Bauer-Aland, 639, zu Gal 5,11. <?page no="25"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 25 Beschneidung eingetreten ist, denken. 35 Auch wird erwogen, die erste Mission in Syrien und Cilicien hätte hinsichtlich der Beschneidung noch nicht die vollen Konsequenzen gezogen. 36 Aber es findet sich in der Literatur immer wieder der Hinweis, die Gegner in den galatischen Gemeinden hätten die Beschneidung des Timotheus durch Paulus für sich als Argument ausgenutzt und gegen Paulus gewendet. 37 Nun geht eine Bezugnahme auf Timotheus aus der kurzen Aussage in Gal 5,11 keineswegs hervor. Die Kargheit der Notiz empfiehlt, sie nicht mit mehr zu befrachten, als sie im Kontext sagen will. Die Gegner in Galatien verfolgen mit ihrer Beschneidungspredigt auch persönliche Interessen: sie wollen, weil sie die Beschneidung predigen, möglichen Verfolgungen entgehen. Haben sie dabei auf Paulus als Bürgen der Beschneidung verwiesen, so hält Paulus dem entgegen: ich werde verfolgt, also kann ich kein Prediger der Beschneidung sein. Ob und gegebenenfalls welches eigene zurückliegende Verhalten er damit revozieren will, muss offen bleiben. 2. Die Begründung des Verzichtes auf die Beschneidung Der beschriebene Verzicht auf die Beschneidung in den heidenchristlichen Gemeinden durch die von Antiochia ausgehende Heidenmission ist nur verständlich als ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Hierbei sind insbesondere nicht allein christliche Faktoren zu beachten, sondern zugleich sind die Situation des Diasporajudentums und die heidnische Einstellung zum Brauch der Beschneidung wahrzunehmen. Die Antike kennt eine weit zurückreichende Kritik an der Beschneidung, die in neutestamentlicher Zeit vor allem das Judentum trag (vgl. nur Poseidonios bei Strabo 16,2,35-37; Juv. Sat 14,98; 6,160; Petron. Satir 68,8; Persius Sat 5,184; 35 Nach G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 2 1969, 35, haben die „späteren judaistischen Gegner in Galatien bei ihrem Eintreten für die Beschneidung die frühere Praxis des Apostels gegen ihn ausgespielt.“ In dieser vorchristlichen Zeit habe Paulus „jüdische Heidenmission nach den strengsten Grundsätzen“ betrieben. M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders. und U. Heckel, Paulus und das antike Judentum (s. Anm. 19), 177-291, 262, bezieht Gal 5,11 auf die Beschneidungspredigt des vorchristlichen Paulus vor Diasporapilgern in Jerusalem; vgl. zu dieser These außerdem die bei K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel, WUNT 62, Tübingen 1992, 56 Anm. 247, Genannten. 36 So O. Pfleiderer, Das Urchristenthum, seine Schriften und Lehren im geschichtlichen Zusammenhang, Berlin 2 1902, 43. Wenn allerdings die erste Verkündigung keine beschneidungsfreie Mission impliziert hätte, wären Anlass und Verlauf des Apostelkonvents völlig unklar. 37 Diese These wird erwogen von W. Bousset, Der Brief an die Galater, SNT 2, Göttingen 3 1917, 67; Haenchen, Apostelgeschichte (s. Anm. 29), 422; Lüdemann, Christentum (s. Anm. 6), 183. <?page no="26"?> 26 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum Horat. Sat 1,9,69). 38 Josephus berichtet in seiner Apologie Contra Apionem, er, der Ägypter Apion, spotte über die jüdische Beschneidung (2,13). Josephus hält ihm entgegen, dass ägyptische Priester ausnahmslos beschnitten seien, und er bemüht Herodot, um einen Altersbeweis für die Beschneidung zu führen (1,22). Philo geht in der Schrift De specialibus legibus im einleitenden Kapitel, das in den Handschriften die Überschrift Περὶ περιτομῆς trägt, auf den Brauch der Beschneidung ein, von dem er sagt, er werde von vielen Völkern belächelt. In seinen Ausführungen folgt Philo einer älteren apologetischen Tradition des hellenistischen Judentums, welche die heidnische Kritik schon längst verarbeitet hat. Aber es geht nicht nur um heidnische Kritik. Man hat sich ja auch im Judentum diesbezüglichen reformerischen Vorstellungen immer wieder geöffnet. 39 Es war ein Kennzeichen der hellenistischen Reform in Jerusalem zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes, dass von Juden der Epispasmos, die operative Wiederherstellung der männlichen Vorhaut gesucht wurde (1 Makk 1,15; Jos. Ant 12,241). Wiederum Philo berichtet in De mirgatione Abrahami 89-93 von Juden, deren allegorische Auslegung des Pentateuchs den wörtlichen Sinn des Geschriebenen im Sinne eines Zeremonialgesetzes aufhebt, d. h. man hat - einer alttestamentlich-jüdischen Tradition der Spiritualisierung der Kultusbegriffe entsprechend ( Jer 4,4; Dtn 10,16; Ez 44,7; 1 QS 5,5.26) - die Beschneidung nur noch allegorisch auf die Beschneidung der Lust und Begierde bezogen. Philo kann sogar in Quaestiones et solutiones in Exodum 2,2 (zu Ex 22,21) sagen, dass der wahre Proselyt jemand ist, der nicht seine Unbeschnittenheit (d. h. Vorhaut) beschneidet, sondern seine Begierden, Freuden und Leidenschaften der Seele. 40 38 J. Maier, Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike, EdF 177, Darmstadt 1982, 190: „Die Angriffe gegen die Beschneidung gehörten für jüdisches Bewußtsein schon längst zu den Hauptmerkmalen der Infragestellung durch die feindliche Umwelt“. 39 Interessant ist das Zeugnis der Papyri. CPJ 1,4 (3. Jh. v. Chr.) erwähnt im Zusammenhang des jüdischen Sklavenhandels von Palästina nach Ägypten die Übermittlung von vier Knaben als Sklaven, von denen zwei nicht beschnitten sind. Nach Gen 17,13.27 unterlag der Sklave jüdischem Recht und hätte beschnitten sein müssen. Allerdings ist wahrscheinlich die Anwendung der alttestamentlichen Gesetzgebung in der Sklavenfrage unterschiedlich ausgelegt worden; vgl. G. Stemberger, Juden und Christen im Heiligen Land, München 1987, 38-42. K. H. Schelkle, Israel im Neuen Testament, Darmstadt 1985, 11, fragt mit Recht, „ob nicht innerjüdische und heidnische Kritik voneinander wußten, ja sich vielleicht irgendwie gegenseitig bestärkten“. Das synkretistische Diasporajudentum der nachneutestamentlichen Zeit bedürfte hier gleichfalls einer sorgfältigen Untersuchung. Die kleinasiatische Sekte der Hypsistarier (4. Jh. n.Chr.) etwa weiß sich der Beachtung des Sabbatgebotes und der Speisevorschriften verpflichtet, sie verwirft jedoch das Beschneidungsgebot; dazu G. Bornkamm, Die Häresie des Kolosserbriefs, in: ders., Das Ende des Gesetzes, GAufs 1; BEVTh 16, München 3 1961, 139-156, 153-155. 40 R. Hecht, The Exegetical Contexts of Philo’s Interpretation of Circumcision, in: F. E. Greenspahn u. a. (Hg.), Nourished with Peace. FS S. Sandmel, Chico 1984, 51-79. <?page no="27"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 27 Jedenfalls ist auffällig, dass Philo in seiner Apologie der Beschneidung in De specialibus legibus 1,1-11 unter den vier Gründen, die für die Beschneidung sprechen, nicht die Beschneidung als Bundeszeichen erwähnt (anders allerdings in Quaestiones et solutiones in Genesim 3,49). 41 Weiß er, dass dieser Brauch „ein Haupthindernis aller Apologetik gegenüber der griech-röm Welt“ darstellt? 42 Die Apokalypse Assumptio Mosis, die um die Zeitenwende zu datieren ist, 43 spricht von Juden, die die Beschneidung verleugnen (8,2). Jub 15,33 nennt die Unterlassung der Beschneidung bzw. die reduzierte Beschneidung als Möglichkeit, das Gebot zu umgehen. Die heidnische Umwelt hat diesbezüglich Tendenzen im Diasporajudentum wahrgenommen. Der römische Epigrammatiker Martial (* 40 n. Chr.) berichtet zweimal von einem Verdecken der Vorhaut (Epigrammata 7,35, 82). Weitere heidnische Kritik, die aus der Zeit des römischen Beschneidungsverbots stammt, muss hier außer Betracht bleiben. Eine entscheidende Rolle kommt in dieser Fragestellung natürlich der Praxis der Proselytenaufnahme im Diasporajudentum zu. Bekannt ist die gegen das Ende des ersten nachchristlichen Jahrhudnerts datierte Diskussion in Υεν 46a zwischen Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua, ob für den Stand des Proselyten die Beschneidung oder das Tauchbad notwendig sind. 44 Leicht erinnert man sich in diesem Zusammenhang an die aufsehenerregenden Sonderfälle, etwa die Bekehrung des Königs Izates II . von Adiabene durc den jüdischen Kaufmann Ananias, der ihn aus poltischen Gjründen zunächst von der Beschneidung Zu SpecLeg 1: S. Daniel, De Specialibus Legibus I et II, Œuvres de Philon 24, Paris 1975, 14-15. 41 In diesem Zusammenhang bedürfte auch der Befund, dass eine Reihe jüdisch-hellenistischer Schriften die Beschneidung nicht oder kaum thematisiert, einer Erklärung. Der die alttestamentliche Geschichte von der Urgeschichte bis Saul nacherzählende Liber Antiquitatum Biblicarum hat wahrscheinlich nur eine Anspielung auf den „Beschneidungsbund“ in 9,3 (dazu E. Reinmuth, Pseudo-Philo und Lukas. Studien zum Liber Antiquitatum Biblicarum und seiner Bedeutung für die Interpretation des lukanischen Doppelwerks, WUNT 74, Tübingen 1994, 193 ). Auch die Übersetzung der LXX gibt לומ in Dtn 30,6 mit περικαθαρίζω, in Jos 5,4 mit περικαθαίρω anstelle von περιτέμνω wieder. Sie interpretiert damit möglicherweise in Anlehnung an ägyptische Vorstellungen (Herodot Hist 2,37; Philo SpecLeg 1,5) die Beschneidung als Bedingung für kultische Reinheit; dazu G. Mayer, לומ, ThWAT 4 (1984) 734-738. 42 So R. Meyer, περιτέμνω, ThWNT 6 (1959) 78. Auch Sib 4,163-170 erwähnen im Zusammenhang der Bekehrungspredigt Tauchbad und Umkehr, nicht aber die Beschneidung. 43 So E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, JSHRZ 5 / 2 (1976) 60: „ist eine Abfassung nur wenig nach 6 n. Chr. höchst wahrscheinlich“; ebenso G. Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung, München 1977, 32. 44 Der Text ist abgedruckt und also leicht zugänglich bei H. G. Kippenberg und G. A. Wevers (Hg.), Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, GNT 8, Göttingen 1979, 153; Der Babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von R. Mayer, München 1963, 206-208. <?page no="28"?> 28 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum abhält ( Jos.Ant 20.34-48), der jedoch durch den gesetzesteuen Eleazar einige Zeit später auf eigenes Begehren hin die Beschneidung übernimmt. 45 Im Alltag des Diasporajudentums wird man allerdings eine gewisse Variabilität, die auch die Vernachlässigung der Beschneidung bedeuten konnte, nicht ausschließen dürfen. 46 Erst mit der Konsolidierung des rabbinischen Judentums nach dem zeitweiligen Beschneidungsverbot unter Hadrian und im Gegenüber zum Weg des Heidenchristentums erfährt die Beschneidung eine theologische und praktische Aufwertung, die sich vielfach in der rabbinischen Literatur niedergeschlagen hat. 47 Die christliche Mission in der Diaspora wird in der Regel zunächst das Umfeld der örtlichen Synagogen und jüdischen Gemeinden gesucht haben. Hier traf sie jedoch nicht nur auf „Volljuden“ und Proselyten, sondern vor allem auf die sog. Phoboumenoi, Gottesfürchtige, die von einem offiziellen Übertriff zum Juden- 45 Vgl. dazu L. H. Schiffman, The Conversion of the Royal House of Adiabene in Josephus and Rabbinic Sources, in: L. H. Feldman / G. Hata (Hg.), Josephus, Judaism, and Christianity, Leiden 1987, 293-312; J. Neusner, The Conversion of Adiabene to Judaism, JBL 83 (1964) 60-66. P. Marinkovic, „Geh in Frieden“ (2 Kön 5,19). Sonderformen legitimer JHWHverehrung durch ‚Heiden‘ in ‚heidnischer‘ Mitwelt, in: R. Feldmeier und U. Heckel (Hg.), Die Heiden. Juden, Christen und das Problelm des Fremden, WUNT 70, Tübingen 1994, 3-21, weist auf die Auffälligkeit hin, dass die offenere Antwort in der Beschneidungsfrage durch den Diasporajuden Ananias gegeben wird, die rigorosere hingegen durch den Galiläer Eleazar. Hierin erkennt Marinkovic einen Beleg für unterschiedliche Auffassungen innerhalb des Judentums über die vom heidnischen JHWHverehrer zu erfüllenden religiösen Pflichten. 46 E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi 3, Leipzig 1964 (Nachdruck Leipzig 1909), 173: „Es war schon viel gewonnen, wenn jemand sich zur bildlosen Verehrung des allein wahren Gottes bekehrte. Hinsichtlich des Zeremonialgesetzes hat man zunächst nur gewisse Hauptpunkte gefordert.“ D. E. Garland, The Intention of Matthew 23, NT.S 51, Leiden 1979, 129-130: „These Diaspora missionaries seemed to have been less concerned that Gentile adherents keep the cultic commandments, including circumcision, than that they should believe in the one God of Israel and live according to basic ethical requirements.“ N. J. McEleney, Conversion, Circumcision and the Law, NTS 20 (1974) 319-341, nennt die einschlägigen Texte und folgert (328): „But there is some small evidence that the precept of circumcision was not always insisted upon if formerly Gentile adherents otherwise practiced the Law fully. In other words, the rabbinic insistence on fulfilment of the precept seems to have been a reaction against a tendency that was already present in Judaism apart from Christianity.“ R. G. Hall, Circumcision, ABD 1 (1992) 1029: „Every religious or cultural tradition has its dropouts.“ Grundsätzlich zur Frage der jüdischen Mission in der Diaspora: S. McKnight, A Light among the Gentiles: Jewish Missionary Activity in the Second Temple Period, Minneapolis 1991. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass selbst auf dem Apostelkonvent nach dem Bericht des Paulus und des Lukas nicht das Judenchristentum insgesamt, sondern nur die „falschen Brüder“ die beschneidungsfreie Mission thematisierten. 47 Vgl. den Exkurs „Das Beschneidungsgebot“ bei Bill 4 / 1, 23-40; L. W. Snowman, Circumcision, EJ 5 (1971) 567-576. <?page no="29"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 29 tum absahen, aber Inhalte des jüdischen Glaubens, etwa die monotheistische, bildlose Gottesverehrung oder ethische Prinzipien jüdischen Lebens anerkannten und sich zu eigen machten. Diese Gruppe ist von derjenigen der Proselyten, die den Übertritt mit der Beschneidung verbunden hatten, zu unterscheiden. 48 Es ist zu vermuten, dass es überwiegend Frauen waren, die als Proselyten oder Phoboumenai den Anschluss an die örtliche Synagoge suchten. 49 Daher war die Frage der Beschneidung ohnehin nur die Ausnahme. Nach M. Hengel haben die Hellenisten, die sich der antiochenischen Gemeinde angeschlossen haben, eine vorgängige Praxis des Diasporajudentums fortgeführt, nämlich die Gottesfürchtigen nicht unter Androhung des Ausschlusses vom Heil zur Beschneidung zu zwingen. 50 Diese Sicht entspricht einem breiteren Konsens in der Forschung. G. Bornkamm hat bereits gesagt: „Die Mission der Diasporasynagoge verfuhr nach einigermaßen liberalen Grundsätzen und begnügte sich damit, die ‚Gottesfürchtigen‘ aus der heidnischen Bevölkerung, die sich zur Gemeinde hielten, auf das monotheistische Glaubensbekenntnis, ein Minimum von rituellen Geboten […] und auf die sittlichen Grundforderungen des Gesetzes zu verpflichten, ohne ihnen jedoch die Beschneidung und damit den Eintritt in den Stand des als volles Glied des jüdischen Volkes geltenden ‚Proselyten‘ zuzumuten“. 51 48 Die Sonderstellung der „Gottesfürchtigen“ ist durch die sog. Aphrodisiasinschrift, die Proselyten und Gottesfürchtige (θεοσεβεῖς) voneinander abhebt, wohl gesichert; dazu J. Reynolds / R. Tannenbaum, Jews and Godfearers at Aphrodisias. Greek Inscriptions with Commentary, Cambridge 1987; L. H. Feldman, Proselytes and ‚Sympathizers‘ in the Light of the New Inscriptions from Aphrodisias, REJ 148 (1989) 26-305. In Übersetzung findet sich der Text bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton (Hg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 2 1991, 66-67. 49 Dazu K. G. Kuhn und H. Stegemann, Proselyten, PRE.S 9 (1962) 1248-1283, 1266; K. G. Kuhn, προσήλυτος, ThWNT 6 (1959) 727-745; Bousset / Greßmann, Religion (s. Anm. 25), 81; Schürer, Geschichte (s. Anm. 46), 168. Die frühchristliche Mission profitiert ganz analog zu der jüdischen Synagoge von der größeren Aufgeschlossenheit der Frauen; ausführlich dazu: A. v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 4 1924, 589-611. Die jüdische „Missionsschrift“ JosAs thematisiert die Konversion am Beispiel einer Frau, umgeht damit eine Stellungnahme zur Beschneidungsfrage. 50 Hengel, Paulus (s. Anm. 19), 286. 51 Bornkamm, Paulus (s. Anm. 35), 34: „Wir ersehen daraus, daß schon auf dem Feld der jüdischen Heidenmission zwei in der Frage der Beschneidung differierende Richtungen miteinander stritten, eine von der Diaspora und eine von Jerusalem ausgehende.“ Ähnlich bereits W. Bousset, Kyrios Christos, FRLANT 21, Göttingen 3 1926, 291; K. G. Kuhn, ThWNT 6 (1959) 731: „Dem hellenistischen Judentum lag also bei seiner Missionstätigkeit gar nicht so sehr an der Annahme der Beschneidung durch die Heiden und der Wahrung der kultischen Vorschriften“; J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 90-91; Heckel, Bild der Heiden (s. Anm. 20), 293. <?page no="30"?> 30 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum Wenn die Bedingungen des Übertritts für den Proselyten im ersten Jahrhundert n. Chr. bereits relativ fixiert waren - Beschneidung, Tauchbad, Opferdarbringung 52 -, dann hätte die heidenchristliche Mission in Hinblick auf die Phoboumenoi die Beschneidung nicht gefordert, die Taufe jedoch in zunehmend verchristlichter Interpretation und die Gabe, die möglicherweise mit der paulinischen Kollektenaktion in einem Zusammenhang steht, 53 zur Geltung gebracht. Die Anforderungen an die Phoboumenoi zur Konversion wären gleichsam minimalisiert und letztlich auf den Glauben an Gott in Jesus Christus konzentriert worden. Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum wäre also denkbar gewesen auf der Grundlage von Phoboumenoi, die als judaisierte Heiden der christlichen Mission am ehesten zuneigten. Freilich ist die Notwendigkeit der Beschneidung innerhalb des Judentums nur vereinzelt in Frage gestellt worden. Liberalere Einstellungen, auf die Philo und Josephus sich beziehen (s. o.), haben nach unserer Kenntnis das Beschneidungsgebot wohl im Einzelfall umgangen, aber doch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die hellenistische Reform z. Z. des Antiochus IV . Epiphanes ist durch die Makkabäer wirksam zurückgewiesen worden. Es müssen daher für die Entscheidung der von Antiochia ausgehenden Mission zusätzliche Argumente beigebracht worden sein, um den Zustand des Beschnittenseins bzw. Unbeschnittenseins für indifferent zu erklären. Betrachten wir erneut die drei Formeln aus antiochenischer Tradition. In 1 Kor 7,19 und Gal 5,6 wird die Abwertung des Zustandes des Beschnittenseins mit einer veränderten Gewichtung innerhalb der Tora vorgetragen. Eben nicht dieser Aspekt des Zeremonialgesetzes gilt etwas, sondern das Beachten der ἐντολαὶ θεοῦ. Ja das Beschneidungsgebot wird faktisch aus den „Geboten Gottes“ ausgeklammert, da es ihnen gegenübergestellt wird. Es wird hiermit die Einheit der Tora aufgespalten. Verstehen wir Gal 5,6 als einen Kommentar zu dieser Stelle, so ist deutlich, dass jetzt das Liebesgebot die ἐντολαὶ θεοῦ zusammenfasst. Es ist hier bereits angelegt, was in der paulinischen Theologie eine klare Explikation erfährt: Das Liebesgebot ist die entscheidende Zusammen- 52 Zu den Aufnahmebedingungen: Kuhn / Stegemann, Proselyten (s. Anm. 49), 1274-1276; G. Delling, Die Bewältigung der Diasporasituation durch das hellenistische Judentum, Göttingen 1987, 79-83. Strittig ist vor allem die zeitliche Ansetzung des Tauchbades; dazu Kuhn / Stegemann, Proselyten, 1274-1275. 53 Die Kollekte ist eine wirtschaftliche Unterstützung der Jerusalemer Gemeinde im Zusammenhang einer Hungersnot in Palästina (ausführlich dazu Lüdemann, Paulus I [s. Anm. 6], 108-109). Dieser wirtschaftliche Aspekt steht aber doch nicht notwendig in einer Spannung zu einem Verständnis, demzufolge die Heidenchristen „den traditionellen Status der Gruppe der ‚Gottesfürchtigen‘ einnehmen können“; darauf weist hin K. Berger, Almosen für Israel, NTS 23 (1977) 200. Schroffe Ablehnung dieser These jetzt wieder durch Becker, Paulus (s. Anm. 51), 273. <?page no="31"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 31 fassung der Tora, auf die die heidenchristliche Gemeinde verpflichtet wird. 54 Hierin folgt die heidenchristliche Mission Vorgaben des hellenistischen Diasporajudentums, wenn auch die Antithese gegen die Beschneidung (als Teil des Zeremonialgesetzes) hier so nicht zu vernehmen ist. Diese Antithese aber gilt es zu erklären. „Antiochia stolpert nicht zufällig ins Heidenchristentum. Nein, es vollzieht, theologisch durchdacht, einen folgenschweren Schritt, nämlich die Lösung vom Judentum“. 55 Die dritte Formel der antiochenischen Gemeinde, die Paulus in Gal 6,15 zitiert, stellt in ihrer Antithese dem Zustand des Beschnittenbzw. Unbeschnittenseins den Begriff der καινὴ κτίσις gegenüber. Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu erweisen, ob es Paulus war, der an dieser Stelle den Begriff der Neuschöpfung in die Antithese eingetragen hat, oder ob er die Antithese insgesamt so aus der Tradition der antiochenischen Gemeinde übernommen hat. Für die letztere Annahme spricht, dass der Begriff bei Paulus nur hier und in 2 Kor 5,17 verwendet worden ist, also eher am Rand der paulinischen Sprache steht. Dieser schmale Befund macht die Erklärung dessen, was der Begriff besagt, nicht leicht. Die Arbeit von U. Mell 56 hat von daher mit Recht die Traditionsbildung des Frühjudentums 57 als Interpretationshilfe herangezogen und gezeigt, dass hier gleichfalls der Begriff in antithetischer Verwendung, in kosmischer Ausweitung, in eschatologischer Akzentuierung, in soteriologischer Ausrichtung und in begrifflicher, nicht metaphorischer Fassung erscheint. Dieser weitgehenden Kongruenz steht ein Unterschied gegenüber: In (1 Kor 7,19; Gal 5,6 und) 6,15 ist die Wirklichkeit der Neuschöpfung radikal präsentisch gedacht, nicht aber mehr Gegenstand zukünftiger Erwartung. Die Interpretation der Gegenwart als Zeit der Neu- 54 Vgl. dazu Horn, Angeld (s. Anm. 6), 369-372; ders., Wandel im Geist. Zur pneumatologischen Begründung der Ethik bei Paulus, KuD 38 (1992) 149-170. 55 So J. Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, SBS 155, Stuttgart 1993, 82. Dem Verzicht auf die Beschneidung gehen andere Entscheidungen, etwa die Speisegemeinschaft von Judenchristen mit Heidenchristen unter Missachtung des Zeremonialgesetzes, parallel. A. Feldtkeller, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, NTOA 25, Freiburg / Göttingen 1993, 80-81, beschreibt diesen Weg sachgemäß zunächst als Entäußerung jüdischer Elemente, ohne zugleich eine Ersetzung durch fremdreligiöse Elemente vorzunehmen. 56 U. Mell, Neue Schöpfung. Eine traditionsgeschichtliche und exegetische Studie zu einem soteriologischen Grundsatz paulinischer Theologie, BZNW 56, Berlin / New York 1989. Mell spricht sich im Übrigen für eine Verwendung des Begriffs bereits in der vorbzw. nebenpaulinischen Tradition aus, reserviert dieser Frage aber ausschließlich eine kurze Anmerkung (302 Anm. 82). 57 Mell hat das Material umfassend gesichtet (9-257) und kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff in der jüdischen Theologie nicht einseitig festgelegt, sondern offen für eine soteriologische Füllung war. In dem Vergleich (302-303) bezieht er sich auf Belege des „asidäisch geprägten Frühjudentums“ ( Jub 1,29; 4,26; 11QTemple 29,9; äthHen 72,1; 1QS 4,25; 1QH 13,11-12). <?page no="32"?> 32 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum schöpfung gründet - was jedoch auf der Ebene der paulinischen Redaktionsstufe erst ganz deutlich erkennbar ist - im Blick auf Christus. Daher heißt es da, wo die antiochenischen Traditionen in Taufaussagen überführt werden: Alle sind einer in Christus Jesus (Gal 3,28), wir sind alle in einen Leib hineingetauft worden (1 Kor 12,13), alles in allem ist Christus (Kol 2,12). 2 Kor 5,17 benennt Christus als den heilvollen Ort nach der eschatologischen Wende. Schon in Gal 5,6 ist dieses „in Christus“ zur Begründung des Verzichts auf die Beschneidung genannt, und es hat von hier aus wohl auch nachträglich Einzug in die HSS zu Gal 6,15 gefunden. So sind es wohl schöpfungstheologische, am Begriff der καινὴ κτίσις hängende Überlegungen, zum anderen christologische Gründe, die zu einer Antithese gegen eine Wertigkeit des Standes der Beschnittenheit bzw. Unbeschnittenheit geführt haben. Dass mit der Taufe „in Christus“ hinein im hellenistischen Christentum der Ort gefunden wurde, der beide Begründungen in sich vereinte und von daher den Akt der Beschneidung überflüssig machte, ist evident, allein ist es problematisch, diese Inerpretation bereits für die frühe Zeit der antiochenischen Mission zugrunde zu legen. Die schöpfungstheologische Kritik an der vorgängigen Beachtung der trennenden Differenz zwischen dem Stand des Beschnittenbzw. Unbeschnittenseins wird in den genannten Tauftraditionen klar bezeugt, insofern sie sogar die Aufhebung der schöpfungsmäßigen Differenzierung von Mann und Frau ansagen. Ob man zusätzlich Diskussionen in den gemischten Gemeinden zur Frage, weshalb das Judentum vor Abraham, also zur Zeit der Schöpfungsordnung, unbeschnitten war, voraussetzen darf, ist ungewiss, aber nicht auszuschließen. 58 Die christologische Kritik ist in ihrer Begründung schwerer zu fassen. Es ist ja keine notwendige Folgerung, dass das Christusgeschehen den Abrahambund aufhebt. Das Judenchristentum hat diese Konsequenz bekanntlich nicht gezogen. Fraglos aber ist das Christusgeschehen bereits in frühster Zeit als eine nicht partikulare, auf Israel begrenzte, sondern als eine universale, auch Heiden betreffende Wirklichkeit verstanden worden. 59 Die Notwendigkeit eines unterscheidenden Zeichens zwischen Israel und den Völkern war hinfällig geworden. Was Bund ist und wer dazugehört, wird nicht über den Beschneidungsbund definiert, sondern über die Christuszugehörigkeit. Beide Begründungen stehen einem Festhalten des Beschneidungsgebots kritisch 58 Paulus scheint in Röm 4,11 solche Diskussionen vorauszusetzen. Nach U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK 6 / 1, Neukirchen-Vluyn 1978, 264, folgt Paulus hier rabbinischer Lehrtradition. P. Schäfer, Beschneidung, EKL 3 1 (1986) 441-442, erwähnt diesbezügliche Diskussionen im rabbinischen Judentum; vgl. auch Bill 3,203. 59 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments 1, Göttingen 1992, 215, erkennt speziell in Jesu Heilstod für die Vielen das „theologische Recht“ zur beschneidungsfreien Heidenmission. Man muss freilich sehen, dass diese soteriologische Interpretation des Todes Jesu nicht notwendig, wie für 1 Kor 7,19 gezeigt, eine durchgehende Torakritik impliziert hat. <?page no="33"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 33 gegenüber. Dennoch wird auch hier anzunehmen sein, dass das Gewicht des Faktischen, nämlich die Existenz unbeschnittener Christen erst im Vorfeld des und im Anschluss an den Apostelkonvent, nachträglich nach Begründungen des neuen Verhaltens hat suchen lassen. Die Existenz des Judenchristentums erinnert beständig daran, dass dieser Weg nicht zwingend war. 3. Jüdische und judenchristliche Reaktionen Die erste deutliche Reaktion auf den von Antiochia eingeschlagenen und sodann vor allem durch Paulus durchgesetzten Weg findet sich in dem Einwand der „falschen Brüder“ auf dem Apostelkonvent. Sie klagen die Beschneidung der anwesenden Heidenchristen ein. Auch wenn Paulus es so darstellt, als habe man sich - in Anwesenheit dieser falschen Brüder - durch Handschlag mit dem Leitungsgremium der Urgemeinde (Gal 2,9) auf einen gemeinsamen Weg im Sinne der Zulassung der beschneidungsfreien Heidenmission verständigt, so zeigt die Folgezeit doch eine andere Entwicklung auf. Dass der antiochenische Weg für das palästinische Judentum unannehmbar war, bedarf keiner Begründung. In der rabbinischen Literatur wird der heidenchristliche Weg nicht thematisiert. „Jedenfalls ergibt keiner der in der Forschung bisher angeführten rabbinischen Texte […] eine klare Bezugnahme auf christliche Standpunkte […]“ 60 Der halachische Status eines unbeschnittenen Christen glich demjenigen eines Nicht-Juden. 61 Christliche Kritik an der Beschneidung stand in einer Tradition mit der paganen Kritik an der Beschneidung, bedurfte also keiner eigenständigen rabbinischen Reaktion. Inwieweit zelotischer Eifer, der die Beschneidung erzwingen wollte, bis in den heidenchristlichen Raum ausgestrahlt hat, ist ungewiss. 62 Die Zwangsbeschneidungen der Makkabäer- und der auf sie folgenden Zeit (1 Makk 2,45-46, Jos. Ant 13,257-258: 318-319) mögen zu pauschalisierenden Urteilen über jüdischen Missionseifer geführt haben (vgl. Hippolyt. Elenchos 9,26). Über vereinzelte ähnliche Vorkommnisse berichtet Josephus (Vita 113; Ant 20,38 ff.), allerdings nicht im Zusammenhang mit Christen. Natürlich ist bei der paulinischen Korrespondenz mit den Gemein- 60 Maier, Auseinandersetzung (s. Anm. 38), 190. 61 Dazu P. S. Alexander, „The Parting of the Ways“ from the Perspective of Rabbinic Judaism, in: J. D. G. Dunn (Hg.), Jews and Christians. The Parting of the Ways A. D. 70 to 135, WUNT 66, Tübingen 1992, 1-25, 4-6. 62 Nach R. Jewett, The Agitators and the Galatian Congregation, NTS 17 (1970 / 71) 198-212, stehen die judaistischen Gegner des Paulus in Galatien unter einem auf sie ausgeübten zelotischen Druck (6,12-13), der sie die Beschneidungspredigt vortragen lässt, jetzt auch Riesner, Frühzeit (s. Anm. 15), 248-250. Bezieht man Gal 4,29 - οὔτως καὶ νῦν - auf Juden und nicht auf Judenchristen, dann würde Paulus diese gegenwärtige Pression im Licht der alttestamentlichen Geschichte deuten. <?page no="34"?> 34 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum den in Galatien, in Korinth und Philippi zu fragen: Sind die hier auftretenden Gegner, für die ja in zwei Fällen eine Beziehung zur Beschneidungsfrage konstitutiv ist, Juden oder sind es Judenchristen? Meines Erachtens handelt es sich in jedem Fall um Judenchristen. Die eigentliche Reaktion des Judentums besteht in der umfassenden, positiven Darlegung der Beschneidung im rabbinischen Schrifttum, auch wenn es nie zur Ausbildung eines eigenen Traktats in der Mischna kam. Aber sie ist nicht allein durch den Weg des Heidenchristentums initiiert, ebenso als Antwort auf das römische Beschneidungsverbot und als Selbstdefinition nach den jüdischen Kriegen. Unbeschadet der Beschlüsse des Apostelkonvents hat es ein Judenchristentum gegeben, das die Forderungen der Tora inklusive Sabbatobservanz und Beschneidung einhielt und gleichzeitig Heidenmission betrieb. 63 U. Luz hat in seinem großen Kommentar diese Sicht für die matthäische Gemeinde vorausgesetzt. 64 Sodann ist aus nachpaulinischer Zeit auf die Judenchristen zu verweisen, die andere Christen zu Sabbat und Beschneidung überreden wollen ( Justin. Dial 47,2-3). 65 Im synkretistischen Judenchristentum der Ebioniten wird die Beschneidung dadurch begründet, dass ja auch Christus beschnitten war (Epiphanius Haer 30, 26,1-2). 66 Auch für Elkesai ist neben dem Sabbatgebot und dem Gebet in Richtung Jerusalem die Beschneidung bezeugt (Hippolyt. Ref 9,14,1; Epiphanius Pan 19,3,5-6). Die Quelle AJ II (in R I 33-71) der Grundschrift der Pseudoklementinen ist durchaus kultkritisch, aber sie bewertet die 63 Die hinter der Logienquelle stehende Gemeinde wird mit Mt 5,18 / Lk 16,17 fraglos an dem Brauch der Beschneidung festgehalten haben, ihre Mission wird anfänglich den palästinischen Raum nicht überschritten haben. Ob dies allerdings für die späte Redaktionsstufe, die eine Öffnung zu den Heiden impliziert, noch vorausgesetzt werden kann, ist nicht sicher (vgl. zur Literarkritik: F. W. Horn, Christentum und Judentum in der Logienquelle, EvTh 51 (1991) 344-364. Jedenfalls erwähnen Mt 8,5-13 / Lk 7,1-10 in der Begegnung des römischen Hauptmanns mit Jesus allein die Wohltätigkeit und den Glauben. Es scheint die Quelle Q als wesentliche Tradition für Lk in dieser Hinsicht nicht sperrig gewesen zu sein. 64 U. Luz, Das Evangelium nach Matthaus, EKK 1 / 1, Neukirchen-Vluyn, 1985, 68. Eine hiervon abweichende Sicht haben vorgelegt: H. Stegemann, „Die des Uria“. Zur Bedeutung der Frauennamen in der Genealogie von Matthäus 1,1-17, in: G. Jeremias u. a. (Hg.), Tradition und Glaube. FS K.-G. Kuhn, Göttingen 1971, 246-276, 273; G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 3 1971, 34 Anm. 3. Auch Stegemann vermutet, dass der Verzicht auf die Beschneidung in der Gemeinde des Matthäus „Indiz einer Auffassung der Sache (ist), die bereits im hellenistischen Diaspora-Judentum verbreitet war“ (273). 65 Zur Analyse des Textes Lüdemann, Paulus II (s. Anm. 8), 206-208. 66 Wiederum Lüdemann, Paulus II (s. Anm. 8), 258-260. Außerdem H. Lichtenberger, Synkretistische Züge in jüdischen und judenchristlichen Taufbewegungen, in: Dunn (Hg.), Jews (s. Anm. 61), 85-97, 88-91. <?page no="35"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 35 Beschneidung und die Reinheitsgesetze positiv (R I 33,5). 67 Die zu Beginn des 3. Jh. geschriebene syrische Didaskalia erwähnt Judenchristen, die an Reinheitsvorschriften, Waschungen, Sabbat und Beschneidung festhalten (121-122, 136 ff.). Freilich scheint es daneben bereits im 1. Jh. schon eine metaphorische Interpretation gegeben zu haben, die den Begriff der Beschneidung, wie etwa für die „kolossische Häresie“ zu vermuten, in einen mysterienhaften Initiationsritus einordnet. 68 Deutliche Spuren eines Judenchristentums, das für die Beschneidung der Heidenchristen eintritt, finden wir nach dem Apostelkonvent erstmals durch die Beschneidungsforderung der Paulusgegner in den galatischen Gemeinden (6,12-13). 69 Welche Absichten diese Gegner insgesamt leiteten, ist nicht leicht zu entscheiden. Immerhin steht die Einhaltung von Speisegeboten nicht zur Debatte. Das von Paulus im Galaterbrief erstmals ins Gespräch gebrachte Abrahambeispiel lässt fragen, ob der Abrahambund / Beschneidungsbund in der Argumentation der Gegner eine wesentliche Rolle gespielt hat. 70 Jedenfalls sind die Vorgänge in den galatischen Gemeinden nicht anders denn als judenchristliche Reaktion auf die beschneidungsfreie Heidenmission zu erklären. Eine genauere Verortung dieser Gegnerschaft ist ungewiss. Paulus stellt sie in eine Perspektive mit den Falschbrüdern des Apostelkonvents, eventuell auch mit den Jakobusleuten, die in Antiochia auftreten. 71 Im Philipperbrief ist die Gegnerschaft, die noch nicht Fuß in der Gemeinde gefasst hat, nahezu ganz auf die Beschneidungsfrage reduziert. Der sog. Kampfbrief, der ab 3,2 vorzuliegen scheint, ist sozusagen 67 So G. Strecker, Judenchristentum, TRE 17 (1988) 310-325, 322; ebenso W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987, 132 (in Auseinandersetzung mit der gegenteiligen These von Lüdemann, Paulus II [s. Anm. 8], 244), um dennoch von einem „inneren Abrücken von jüdischen religiösen Äußerungen (wie der Beschneidung)“ (134) zu sprechen. 68 Wahrscheinlich war der Begriff der περιτομή (Kol 2,11) durch die kolossische Häresie vorgegeben, wohl kaum - wie in Galatien - im Zusammenhang eines Eintritts in den Abrahambund, sondern als sakramentale Initiationshandlung, die nach 2,11 metaphorisch als Ausziehen des Fleischesleibes interpretiert worden ist; vgl. dazu E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK 9 / 2, Göttingen 1968, 153-155. 69 Vgl. zu diesen Gegnern Horn, Angeld (s. Anm. 6), 346-350; hier auch Abweisung der Position von N. Walter, Paulus und die Gegner des Christusevangeliums in Galatien, in: A. Vanhoye (Hg.), L’Apôtre Paul, BETHL 73, Leuven 1986, 351-356, der zufolge es sich um jüdische Gegner gehandelt hat. 70 So Wilckens, Römer (s. Anm. 58), 1,259. Für diese These, die Gegner hätten mit Abraham argumentiert, kann auch sprechen, dass nach jüdischer Sicht Abraham der Vater der Proselyten ist, der - ursprünglich unbeschnitten - sodann in den Beschneidungsbund aufgenommen wurde (Belege bei Bill 3,195; Wilckens, Römer, 1,259 Anm. 817. 71 Für Lüdemann, Paulus II (s. Anm. 8), 149, sind diese galatischen Gegner mit den Falschbrüdern „identisch“; gegen eine weitergehende Zuordnung der Gegner zum Herrenbruder Jakobus bietet Pratscher, Herrenbruder (s. Anm. 67), bedenkenswerte Argumente. <?page no="36"?> 36 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum eine präventive, wohl auch von den galatischen Vorgängen geleitete Maßnahme des Paulus im Gegenüber zu den judenchristlichen Missionaren. Paulus kämpft ihnen gegenüber im Galater- und Philipperbrief polemisch für die Grundsätze der antiochenischen, beschneidungsfreien Heidenmission. In seiner Polemik bedient er sich u. a. des paganen Vorwurfs, Beschneidung stehe mit Kastration bzw. Verstümmelung auf einer Stufe (Gal 5,12; Phil 3,2 72 ). Wenn irgendwo, dann muss hier gefragt werden, ob die Begrifflichkeit „Gegner, Irrlehrer“ nicht abwegig ist. Man sollte versuchen, die Absichten dieser judenchristlichen Missionare von dem sie noch prägenden jüdischen Hintergrund her zu verstehen und sie nicht sogleich an dem Maßstab heidenchristlicher Theologie paulinischer Prägung zu messen. Predigen sie einen „Rückfall in ein an das Gesetz gebundenes Judenchristentum“? 73 Wie sollten Heidenchristen zurückfallen in einen Zustand, in dem sie noch nie waren? Es muss diese judenchristliche Mission ernstgenommen werden als ein Versuch der Heidenmission, der unter Beibehaltung des jüdischen Rahmens und des Christusbekenntnisses Heiden in den Beschneidungsbund eingliedert. In seinem wohl letzten Schreiben, dem Römerbrief, gibt Paulus in 3,1-8 die polemische Dialogsituation, in der er sich gegenüber dem Judentum (und Judenchristentum) befindet, wieder, indem er jüdische Einwände gegen seine Theologie zur Sprache kommen lässt. „Was ist der Nutzen der Beschneidung? “ (3,1b). Diese Frage ist nach den polemischen Ausführungen des Galaterbriefs verständlich, aber sie wird auch Paulus selbst bewegt haben. 74 Paulus gibt im Wesentlichen zwei Antworten: a) In Röm 2,25-29 geht er von dem jüdischen Grundsatz aus, dass die Übernahme der Beschneidung verpflichtet, die Tora insgesamt zu erfüllen (Apg 15,5; Gal 5,3; Υεν 47b). Röm 2,1-24 hat aber gerade dem Juden vorgehalten, dass seine Missachtung der Tora den Namen Gottes entehrt. Insofern befindet sich der beschnittene Jude mit dem unbeschnittenen Heiden auf einer Stufe, da beide unter der Anklage Gottes, die Tora nicht zu beachten, stehen. Eine Beschneidung, die vor Gott gilt, kann mithin nur eine Beschneidung des Herzens sein, die vom Geist Gottes vollzogen wird - ein innerer, kein äußerer Akt. Paulus knüpft hier an die in der jüdischen Überlieferung 72 Der von Paulus hier verwendete Begriff „Hund“ dient in der antiken Polemik für unterschiedliche Konnotationen. Dass hier die gelegentlich im rabbinischen Schrifttum bezeugte Gleichsetzung „Hund = Unbeschnittener“ anklingen soll, schließt das parallel stehende „Verschnittene“ aus. Daher gebraucht Paulus den Begriff hier am wahrscheinlichsten als Synonym für „Heide“ und wendet „die jüdische Waffe gegen ihre eigenen Träger“; so O. Michel, κύων, ThWNT 3 (1938) 1102. 73 So U. B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11 / 1, Leipzig 1993, 144. Nach der gegnerischen Position bietet Paulus wohl kein „defizientes Christentum“ (143), sondern ein defizientes Juden(christen)tum. 74 D. R. Hall, Romans 3,1-8 Reconsidered, NTS 29 (1983) 183-197. <?page no="37"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 37 angekündigte Beschneidung des Herzens und Ausstattung mit dem Geist an. 75 b) In der positiven Inanspruchnahme des Abrahambeispieles in Gal 3,1-29 hat Paulus jeglichen Bezug auf die Beschneidung in Gen 17 vermieden, wohl aber Abraham als Beispiel für Glaubensgerechtigkeit (Gen 15,6 in Gal 3,6) hingestellt. Nach Gal 3,3 gehört die Beschneidung auf die Seite der σάρξ; wie sollte sie auch eine positive Bedeutung haben? Bezeugt Röm 4 demgegenüber ein „bemerkenswertes theologisches Umdenken“? 76 Die Beschneidung, die Abraham (Gen 17) nach der Zurechnung der Glaubensgerechtigkeit empfing (Gen 15), wird positiv erklärt als σφραγὶς τῆς δικαιοσύνης τῆς πίστεως (Röm 4,11). 77 Hierbei ist der Charakter der Beschneidung als Erkennungszeichen aufgenommen, aber als nachträgliches Zeichen der vorgängigen Glaubensgerechtigkeit zugewiesen. Da die Glaubensgerechtigkeit aber Abraham als Unbeschnittenem zugesprochen wurde, damit von der Beschneidung gelöst worden ist, kommt der Beschneidung in der Zeit nach der universalen Offenbarung der Glaubensgerechtigkeit keine entsprechende Funktion als Zeichen oder Siegel mehr zu. 78 Die Beziehung zu Abraham ist jetzt ausschließlich über die πίστις gegeben. Von einem eigentlichen Umdenken kann also keine Rede sein, wenn auch die Beschneidung jetzt, wie bereits in Phil 3,3, nicht mehr der σάρξ zugeordnet wird. Somit hat Paulus die Frage der Bedeutung der Beschneidung auf der Ebene der Schriftauslegung so erklärt, dass seine beschneidungsfreie Mission unter der Heidenwelt nicht gegen, sondern mit Abraham leben kann. 75 Vgl. nur Ez 36,26-27; Jub 1,23; 4 Esr 6,26; 1 QS 5,5; OdSal 11,1-3 u. a. Zu diesem Motivbereich ausführlich: M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, ÖTK 12, Gütersloh 1993, 242. 76 So H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments 2: Die Theologie des Paulus, Göttingen 1993, 242. 77 Ob Paulus mit dem Begriff „Siegel“ bereits einen Bezug zur Taufe andeuten will, ist ungewiss, da σφραγίς als christliche Taufbezeichnung erst in der Mitte des zweiten Jahrhunderts sicher belegt ist. Denkbar ist, dass Paulus sich hier an einen jüdischen Sprachgebrauch im Anschluss an die Auslegung von Gen 17 anschließt, der die Beschneidung des Proselyten als Bundessiegel interpretiert hat (ausführlich zur Diskussion der Belege Wilckens, Römer (s. Anm. 58), 1,266-267). Die Polemik liegt also möglicherweise versteckter als im Gal. 78 Insofern kann der These von K. Haacker, Der Römerbrief als Friedensmemorandum, NTS 36 (1990) 25-41, 35, dass Paulus „die jüdische Beschneidungspraxis nach 4,11-12 nicht abschaffen will, sondern nur umdeutet“, nicht zugestimmt werden. Auch ist es ungewiss, ob Paulus das für Abraham Gesagte auf das Judenchristentum allgemein ausweiten würde (so K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen / Basel 1994, 257). Denn für das Judenchristentum steht ja - anders als bei Abraham - die Beschneidung zeitlich vor (! ) dem Glauben. <?page no="38"?> 38 Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 4. Die Auswirkungen des Verzichts auf die Beschneidung Mit dem Verzicht auf die Beschneidung war der Faktor, der in der Mission des hellenistischen Diasporajudentums eine beeinträchtigende Rolle gespielt hat, beseitigt. Im Sinne einer missionarischen Konkurrenz befand sich die heidenchristliche Kirche im hellenistischen Raum gegenüber dem Judentum in einem deutlichen Vorteil und war gegenüber paganen relligiösen Gemeinschaften in einer Ebenbürtigkeit. 79 Zwar findet sich im frühen Christentum nicht nur eine Relativierung des Beschnittenbzw. Unbeschnittenseins, sondern auch eine Polemik gegen den Versuch, Heidenchristen die Beschneidung auferlegen zu wollen. Diese Polemik greift in neutestamentlicher Zeit aber nicht über auf eine Polemik gegen die Beibehaltung des Beschneidungsbrauches im Judentum. 80 Die schnelle Ausbreitung des Heidenchristentums drängte das Judenchristentum an den Rand. In den neutestamentlichen Spätschriften wird die Beschneidungsfrage nicht mehr thematisiert, auch nicht in denjenigen Schriften, für die gelegentlich ein judenchristlicher Hintergrund behauptet wird ( Jak, Hebr, 1 Petr, Offb). Paulus war nicht der Begründer der beschneidungsfreien Heidenmission, aber ihr Durchsetzer, was ihm von judenchristlicher Seite den Vorwurf der Apostasie eingetragen hat. 81 Für Paulus wurde die Beschneidungsfrage im Brief an die galatischen Gemeinden das hermeneutische Mittel zur Ausarbeitung der Rechtfertigungslehre ohne Werke des Gesetzes. 82 Innerhalb des Judenchristentums hat man an der Beschneidungspraxis bis heute festgehalten. Innerhalb des Heidenchristentums hat die Taufe als alleiniger Initiationsritus sich durchsetzen können. Für die Ablösungszeit der heidenchristlichen Kirche vom Judentum ist noch bezeichnend, dass man an der Vorstellung der Beschneidung mittelbar festhält, indem man sie spiritualisiert (Röm 2,28-29; Phil 3,3; Kol 2,11). Während 79 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie (s. Anm. 59), 353-354, verweist auf die Nähe von 1 Kor 12,13; Gal 3,28 zu analogen Bestimmungen, etwa im Tempelgesetz in Philadelphia (Ditt Syll. 3 985) oder in kleinasiatischen Mysterienkulten (SEG 4 308,8; 303,8); weitere Belege bei K. Berger und C. Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, TNT 1, Göttingen 1987, 274-278. 80 Gibt Lukas die Einstellung seiner Zeit wieder: für Juden, auch wenn sie Christen geworden sind, gilt die Beschneidungspflicht, Heidenchristen sind hiervon befreit? 81 Iren. Adv Haer 1,26,2 von den Ebioniten: […] et apostolum Paulum recusant, apostatam eum legis dicentes. 82 Rechtfertigungsaussagen haben alttestamentlich-jüdische Voraussetzungen und finden sich auch in der vorpaulinischen Tradition (vgl. Becker, Paulus [s. Anm. 51], 294-304). Die spezifische Gestalt der paulinischen Rechtfertigungstheologie, die jeglichen soteriologischen Anspruch der Tora ausschließt, ist zuerst im Brief an die galatischen Gemeinden bezeugt; vgl. dazu F. W. Horn, Paulusforschung, in: ders. (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments, BZNW 75, Berlin / New York 1995, 30-59. <?page no="39"?> Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum 39 für die Beschneidung nur schwer ein Bezug zum Christusgeschehen hergestellt werden konnte, 83 hat man die Taufe auf den Name Jesu oder als Nachvollzug seines Sterbens und Auferstehens mit dem Heilsereignis verbinden können. Der Weg des Judenchristentums hat sich zwischen der heidenchristlichen Kirche und der Formierung des rabbinischen Judentums nicht halten können und wurde von beiden Seiten zunehmend - aufgrund anderer Aspekte als des Festhaltens an der Beschneidung - als häretisch angesehen. Leicht wird vergessen, dass der Beschluss des Apostelkonvents nicht nur die Legitimität eines heidenchristlichen, sondern selbstverständlich auch die eines judenchristlichen Wegs anerkannt hat. Es muss als zweifelhaft erscheinen, ob der Weg des Heidenchristentums ohne gewisse Umstrukturierungen und Vorgaben im hellenistischen Diasporajudentum möglich gewesen wäre. 84 83 Nach Epiphanius Haer 30,26,1-2 verweisen die Ebioniten, wie bereits gesagt, auf den Sachverhalt, dass auch Jesus beschnitten wurde. 84 Wenn also gefragt wird, ob der Weg des Judenchristentums in der Zuordnung von jüdischem Beschneidungsbrauch und Christuszeugnis nicht der konsequentere Weg war, sollte bedacht werden, dass innerhalb des antiken Judentums die Beschneidungsfrage unterschiedlichen Wertungen offenstand. Auch das Heidenchristentum steht im Verzicht auf die Beschneidung in einer jüdischen Tradition. <?page no="40"?> 40 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer * Der Abschluss der paulinischen Missionsarbeit ist durch eine gewisse Tragik im Hinblick auf das Verhältnis zu seinem jüdischen Volk und zur judenchristlichen Gemeinde Jerusalems gekennzeichnet. Obwohl Paulus im Römerbrief, geschrieben unmittelbar vor seiner letzten Jerusalemreise, eine Erwählungstheorie für sein Volk, seine Stammverwandten nach dem Fleisch (Röm 9,3) entwirft, muss er doch im selben Schreiben seine Sorge um die Errettung von den Ungläubigen (ὰπειθοῦτες) in Judäa (Röm 15,31) aussprechen. Das Schicksal der in den heidenchristlichen, paulinischen Gemeinden gesammelten Kollekte für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem (Röm 15,26; 1 Kor 16,1; 2 Kor 8,1-4; Gal 2,10), gedacht als sichtbares Zeichen der Verbundenheit mit der Muttergemeinde, entzieht sich unserer Kenntnis. Es ist möglich, dass die Kollekte nicht angenommen worden ist. Die Übernahme der Auslösungskosten für vier judenchristliche Nasiräer im Jerusalemer Tempel, ein in jüdischer Frömmigkeit hoch geachtetes Verhalten, und der hierfür erforderliche Purifikationsprozess führen zu einem Konflikt, in dessen Folge Paulus festgenommen und zum Prozess nach Rom gebracht wird. Obwohl die letzte Reise nach Jerusalem folglich unter dem Vorzeichen der Kompromissbereitschaft steht, kann sie das Paulus vorausgehende Gerücht, er lehre den Abfall von Mose und wiegle gegen das jüdische Volk und den Tempel auf (Act 21,21.28), nicht verstummen lassen. Die historischen Umstände, die zur Festnahme im Tempelbereich geführt haben, werden von Lukas in groben Zügen festgehalten (Act 21-23). Unklarheit besteht jedoch hinsichtlich eines paulinischen Nasiräats und der Auslösung von vier Nasiräern. Der Erhellung der historischen Abläufe ist der folgende Beitrag gewidmet. Die die Forschung zumeist bestimmende theologische Frage, ob es denkbar ist, dass der im Galaterbrief vehement gegen Beobachtung jüdischer Gesetzesfrömmigkeit polemisierende Paulus nun in Jerusalem eben solche Frömmigkeit praktiziert, soll solange zurückgestellt werden, bis Klarheit gewonnen ist, was Paulus getan hat und was nicht. Es liegt kein sicheres Urteil über die präzise Gestalt des von Paulus übernommenen Nasiräatsgelübdes bzw. die Übernahme der Auslösungskosten für die vier Nasiräer vor. Man hat innerhalb der älteren Exegese von einem „gordischen * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer“, pp. 117-137, Novum Testamentum (1997) ©, Koninklijke Brill NV / Leiden, 1997, reproduced with permission. <?page no="41"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 41 Knoten“ gesprochen. 1 Die jüngere redaktionsgeschichtliche Forschung lastet diese Unklarheiten in der Regel Lukas an, der keine präzisen Vorstellungen von jüdischen Sitten und Gebräuchen gehabt habe. 2 Methodisch wird so vorzugehen sein, dass zunächst die lukanischen Aussagen dargestellt werden. Sodann ist zu fragen, ob sie mit zeitgenössischen jüdischen Aussagen zum Nasiräat in Einklang gebracht werden können. Schließlich ist eine historische Einordnung vorzunehmen. Aussagen aus zwei Texteinheiten der Apostelgeschichte sind zu analysieren: 1) Act 18,18-22; 2) Act 21,15-27. 1. Act 18,18 - 22 1.1 Die lukanischen Aussagen Paulus verabschiedet sich von der korinthischen Gemeinde, um mit Priszilla und Aquila auf dem Seeweg nach Syrien zu fahren. In der östlich von Korinth gelegenen Hafenstadt Kenchreä lässt er im Zusammenhang eines Gelübdes sein Haar scheren. Nach der Überfahrt durch die Ägäis bleiben Priszilla und Aquila in Ephesus. Paulus tritt die Fahrt nach Syrien alleine an, landet aber in der Hafenstadt Caesarea, die in paulinischer Zeit nicht zur Provinz Syrien, sondern zum prokuratorischen Verwaltungsbezirk Judäa zählte. 3 In der lukanischen Darstellung stellt dies den Abschluss der sog. 2. Missionsreise (Act 15,36-18,22) dar, an die sich die sog. 3. Missionsreise ohne genaue 1 So W. M. L. de Wette, Kurze Erklärung der Apostelgeschichte, Kurzgefasstes exegetisches Handbuch zum Neuen Testament I / 4, Leipzig 3 1848, 143. 2 Dieses Argument findet sich in redaktionsgeschichtlicher Arbeit gehäuft, ohne dass es je wirklich begründet worden wäre. Gegenwärtig erscheint diese Auskunft dringend modifikationsbedürftig. E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1968, 479 Anm. 2: „Lukas scheint von dem Nasiräatsgelübde keine genaue Vorstellung besessen zu haben“. H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen 2 1972, 131: „Der folgende Bericht macht Schwierigkeiten, wenn man die jüdischen Vorschriften über Gelübde vergleicht; doch rührt das daher, daß Lk. von diesen keine genaue Kenntnis hat.“ A. Weiser, Die Apostelgeschichte, ÖTK 5 / 2, Gütersloh / Würzburg 1985, 498: „Lukas schien Kenntnis vom Gelübdegebrauch nicht aber von dessen genauer Durchführung zu haben“ (sic! ); ebenso J. Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 1981, 276. 3 Allerdings herrscht ein unklarer Sprachgebrauch (vgl. E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ I. A New English Version Revised and Edited by G. Vermes & F. Millar, Edinburgh 1973, 360 Anm. 35): Tacitus, Ann 2,42; Hist 5,9 und Josephus, Bell 2,117 sprechen einerseits von Judäa als eigener Provinz, andererseits aber von Judäa als Teil der Provinz Syrien (Ant 17,355) bzw. als Annex Syriens (Ant 18,2; Ann 12,23). Auch wird man fragen müssen, ob Lukas dem Sprachgebrauch seiner Zeit oder demjenigen zur Zeit des Paulus folgen will. Undeutlich bleibt ebenfalls, ob Aquila und Priszilla ursprünglich mit bis nach Syrien fahren wollen und ob Paulus in Ephesus die Pläne geändert hat. <?page no="42"?> 42 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer Angaben über den Aufenthalt in der antiochenischen Gemeinde anschließt. Der Text deutet vieles nur an und lässt den Leser mit Fragen zurück. Was impliziert die eher beiläufige Erwähnung des Haarescherens im Zusammenhang eines Gelübdes, und auf welches Subjekt ist sie zu beziehen? Das absolut gebrauchte Verb κείρομαι bezeichnet das profane Haareschneiden bei Mensch (1 Kor 11,6) und Tier (Act 8,32). In Act 21,24 wird Lukas das Verb ξυράομαι (τὴν κεφαλήν) verwenden. ξυράομαι bedeutet im Medium „ganz kahl scheren, rasieren lassen.“ 4 Sowohl κείρομαι als auch ξυράομαι sind durch das zugeordnete εὐχή (Act 18,18; 21,23) zwingend als religiöse Handlungen gekennzeichnet. Dies allerdings ist bei ξυράομαι ohnehin naheliegend, da dieses Verb im alttestamentlich-jüdischen Sprachraum im Kontext des Nasiräatsgelübdes gebraucht wird (Num 6,9. 18. 19 LXX ; Jos, Ant 19,294; Bell 2,313). Es wird in der Literatur häufig vermutet, das in Act 18,18 erwähnte Scheren des Haares stehe in keinem Zusammenhang mit einem Nasiräat, 5 was zumeist unter Hinweis auf die Differenz zu jüdischen Bestimmungen über ein Nasiräat zu belegen gesucht wird. Vielmehr handle es sich, so die ältere Literatur, um ein privates, 6 möglicherweise in Anlehnung an heidnische Praktiken gewähltes Gelübde. 7 Dies ist jedoch von der sprachlichen Seite her unwahrscheinlich. Lukas verwendet εὐχή in Act 21,23 zweifelsfrei als Begriff für das Nasiräatsgelübde. 8 Daher und wegen des begründenden γάρ wird dieser Sprachgebrauch auch in Act 4 W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von K. und B. Aland, Berlin / New York 6 1988, 1114. 5 So E. Haenchen, Apostelgeschichte, 478 f.; G. Schneider, Die Apostelgeschichte, HThK V / 2, Freiburg / Basel / Wien 1982, 255. 6 H. A. W. Meyer, Kritisch Exegetisches Handbuch über die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1861, 372: „Von dem eigentlichen Nasiräer-Gelübde ist daher an u. St. gänzlich abzusehen; es ist ein Privatgelübde (votum civile) zu verstehen“; so auch (gem. Verweis von Meyer) J. A. Bengel, F. Spitta, B. Weiß. Nach E. Haenchen, Apostelgeschichte, 482, ist die These vom „Privatgelübde“ nur erfunden worden, „um die Abweichungen vom Nasiräatsgelübde erträglich zu machen.“ 7 W. M. L. de Wette, Apostelgeschichte, 143, erwähnt - ohne sich deren Meinung zu eigen zu machen - diejenigen Autoren, die an heidnische Gelübde ( Juven XII 81; Artemidor, onirocrit I 25; Censorin, de die nat., c. 1) erinnern. Aufgenommen und mit weiteren Belegen abgestützt (DiodS 1,18; Il 23,141 f.) wurde diese These von K. v. Orelli, Art. Nasiräat, RE 3 13, 653-655. H. H. Wendt, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 8 1899, 305, vermutet, ohne Belege anführen zu können, hier liege ein Privatgelübde freierer Art vor, „wie es unter den Juden der Diaspora wohl als Surrogat für das eigentliche Nasiräat üblich war.“ In der Gegenwart hat F. F. Bruce, The Acts of the Apostles, Leicester 3 1990, 398, zu dieser These Stellung genommen: „The dedication of hair which had remained unshorn for the duration of a vow was not unknown in the Greek world (see New Docs. 1 [1976], § 4; 3 [1978], § 46) but no Greek background need to be sought for Paul’s action here.“ 8 Philo, Agr 175; LegAll 1,17; SpecLeg 1,247; Imm 87 spricht von dem Nasiräatsgelübde als von der μεγάλη εὐχή; vgl. auch Num 6,2 LXX. <?page no="43"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 43 18,18 vorauszusetzen sein, auch wenn Lukas hier κείρομαι und nicht ξυράομαι liest. Das Scheren der Haare (Partizip Aorist: κειράμενος) steht zu dem Gelübde (Imperfekt: εἶχεν) in dem Verhältnis eines vorläufigen Abschlusses zu einer zuvor begonnenen Handlung. Philologisch nicht wirklich eindeutig zu klären ist die Frage, ob Paulus oder Aquila sich die Haare habe scheren lassen. Von der syntaktisch engeren Stellung her ist an Aquila zu denken. Häufig hat man in der Literatur darauf verwiesen, dass die Namensumstellung (Priszilla vor Aquila) ein klarer Hinweis sei, „der an Deutlichkeit nichts zu wünschen läßt“ 9 , den Namen Aquila mit dem Verb κειράμενος zu verbinden. Allerdings besagt die Stellung der Namen zueinander wenig. Die Voranstellung des Namens Aquila belegen Act 18,2; 1 Kor 16,19; diejenige des Namens Priszilla Act 18,18.26 (diff HSS ); 2 Tim 4,19. Nicht nur die Handschriften D und h haben die Aussage auf Aquila gedeutet, ebenso eine Reihe namhafter Ausleger und Übersetzer (Vulgata, Theophylakt, Castellio, Hammond, Grotius, Alberti, Kuinoel, Wieseler, Oertel, Schneckenburger, Meyer, Overbeck, Preuschen, Wendt, Knopf, Greeven, Bauernfeind, Zahn). Wenn in dieser Frage eine Lösung herbeigeführt werden kann, dann so, dass im Kontext die Konsequenzen einer Deutung auf Aquila bzw. Paulus bedacht werden. Schließlich gibt die Reiseroute des Paulus in Act 18,22 Fragen auf. Kann ἀναβάς, wie im gegenwärtigen Luthertext (1990), mit „ging hinauf nach Jerusalem“ übersetzt werden? ἀναβαίνω wird von Lukas nur Lk 2,42 (diff HSS ) absolut gebraucht, um den Weg nach Jerusalem zu beschreiben, sonst immer mit einer Ortsangabe (Lk 18,31; 19,28; Act 11,2; 15,2; 21,12.15; 24,11; 25,1.9); vgl. auch Lk 2,4 (nach Juda), 18,10 (zum Heiligtum), Act 3,1 (zum Heiligtum). Dieser absolute Gebrauch von ἀναβαίνω für „nach Jerusalem gehen“ ist aber nicht unüblich (vgl. etwa Jos, Bell 2,334). Alle Versuche, ἀναβαίνω ausschließlich im Rahmen der geographischen Verhältnisse von Hafen und Stadtzentrum Caesareas erklären zu wollen, scheitern an dem korrespondierenden κατέβη. 10 Ein „Abstieg“ ist sinnvoll nur von Jerusalem nach Antiochia, nicht aber von Caesarea nach Antiochia. Und eine Schiffsreise von Ephesus mit dem Ziel Syrien (Antiochia) über Caesarea ist nur sinnvoll, wenn man einen Besuch Jerusalems im Blick hat. Der Weg von Ephesus direkt nach Antiochia hätte entlang der kleinasiatischen Südküste geführt. Daher wird Lukas aus diesen und weiteren inhaltlichen Gründen bei τὴν ἐκκλησίαν nicht die Gemeinde in Caesarea, sondern die Jerusalemer 9 So Th. Zahn, Die Apostelgeschichte des Lukas, KNT V / 2, Leipzig / Erlangen 1+2 1921, 661. 10 Es ist allenfalls sprachlich möglich, ἀναβαίνω auf das Aufsteigen aus dem Wasser vom Schiff (= vom Schiff aus ans höher gelegene Land des Hafens) zu beziehen (so Th. Zahn, Apostelgeschichte [s. Anm. 9], 664 Anm. 72), bei καταβαίνω hingegen greift diese bildhafte Sprache nicht mehr. <?page no="44"?> 44 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer Urgemeinde im Blick haben. 11 Im Übrigen haben auch D, Ψ, der Mehrheitstext, gig, w, sy in Act 18,21 den Zusammenhang als Jerusalemreise aufgenommen, allerdings eine Zeitangabe hinzugefügt. 1.2 Das Verhältnis zu jüdischen Aussagen über das Nasiräat Es ist häufig gegen eine Deutung des Haarescherens in Kenchreä als einer Handlung im Zusammenhang eines Nasiräats vorgebracht worden, diese Handlung müsse im Tempelbezirk bzw. in Jerusalem vorgenommen werden. Nun sind wir über die Gepflogenheiten innerhalb des Diasporajudentums diesbezüglich nicht gut informiert. 12 Die Möglichkeit der Übernahme des Gelübdes im Ausland steht außerhalb jeglicher Frage. 13 In der Mischna Naz 3,6 und im Traktat Nazir 19b, 20a des babylonischen Talmud werden die Bedingungen zur Erfüllung des Gelübdes für den aus dem Ausland kommenden Nasiräer diskutiert. Konnten die Haare, wie bei Act 18,18 zu vermuten, auch in der Diaspora geschoren, damit die Zeit des Gelübdes beendet, die eigentlichen Auslösungsfeierlichkeiten hingegen allein in Jerusalem abgelegt werden? J. Klausner hat vermutet, es sei unter den Diasporajuden Brauch gewesen, das Haar außerhalb Palästinas zu scheren. 14 P. Billerbeck erkennt in Act 18,18 einen Beleg dafür, „dass das Nasiräatgelübde auch im Ausland übernommen werden“ konnte. 15 Mit gewisser Einschränkung schreibt er sodann aber, dass keine derjenigen Stellen, welche die Freiheit zum Scheren an einem beliebigen Ort ansprechen, „sich auf das Scheren des Nasiräers im Auslande“ bezieht. 16 Auch M. Boertien hat in seiner Abhandlung keinen Zweifel daran gelassen, dass es möglich war und tatsächlich auch vorkam, das Haar in der Diaspora zu scheren und die eigentliche Auslösung sodann im Jerusalemer Tempel vorzunehmen, obwohl dieser Sachverhalt aus 11 In den Act ist in 5,11; 8,1.3; 11,22; 12,1.5; 14,27; 15,4.22; 18,22 bei dem Gebrauch von ἐκκλησία an die Jerusalemer Urgemeinde zu denken. J. Roloff, Art. ἐκκλησία, EWNT I, 1005: „An einigen dieser Stellen schlägt der älteste Sprachgebrauch durch: ἡ ἐ. ohne Ortsangabe als Bezeichnung der Jerusalemer Urgemeinde […] So 18,22: (Pls) ‚stieg hinauf (nach Jerusalem) und begrüßte die Gemeinde ‘“. 12 Schon Th. Zahn, Apostelgeschichte, 662 Anm. 67, klagte: „Darüber wie ein in der Diaspora bleibender Nasiräer den gesetzlichen Vorschriften über die an den Tempel gebundenen kostspieligen Opfer bei der Einlösung des Gelübdes nachkam, finde ich keine hinreichend deutlichen Angaben“. 13 Sh. Safrai, Die Wallfahrt im Zeitalter des Zweiten Tempels, FJCD 3, Neukirchen-Vluyn 1981, 73 f., spricht von der „Einrichtung, das Nasiräat im Ausland zu beginnen und in Israel zu vollenden.“ 14 J. Klausner, Von Jesus zu Paulus, Jerusalem 1950, 359 (in deutscher Übersetzung: Königstein 1980). 15 H. L. Strack / P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II, München 7 1978, 749. 16 P. Billerbeck, Kommentar II, 750. <?page no="45"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 45 den Quellen so nicht zu belegen ist. 17 Der Mischnatraktat Nazir 6,8b weiß zu unterscheiden zwischen demjenigen, der im Tempelbereich, und demjenigen, der in der Provinz das Haar hat scheren lassen. Das Wort Provinz (הנידמ) wird in der Mischna entweder als Gegensatz zum Tempelbezirk oder zu Jerusalem gebraucht. So belegt dieser Satz wohl, dass zwischen dem Schneiden der Haare und der Auslösung im Tempel ein zeitlicher und räumlicher Abstand liegen kann, 18 ein deutlicher Beleg für die Möglichkeit des Schneidens der Haare im Ausland ist damit aber nicht gegeben. 19 Wohl aber setzt mNaz 6,8b Diskussionen darüber voraus, ob auch derjenige, der außerhalb Jerusalems oder des Tempels sein Haar hat scheren lassen, es unter dem Kessel im Tempelbereich verbrennen soll oder nicht. Es gab wohl auch die Sitte (vgl. bNaz 45b), dass Diasporajuden das abgeschorene Haar im Ausland begraben haben. 20 Jos, Bell 2,313-314 berichtet von der Königin Berenike, die nach Jerusalem gekommen ist, um das Nasiräatsgelübde zu erfüllen. Josephus umschreibt zwar den Inhalt des Gelübdes, Enthaltung von Wein und Schneiden der Haare, er sagt aber nicht, dass Letzteres etwa in der Nasiräerkammer im Jerusalemer Tempel vollzogen wurde. Einen gewissen Sonderfall stellt der Brauch ägyptischer Juden dar, das Scheren im Tempel zu Leontopolis vorzunehmen (mMen 13,10). 21 Da also auf jeden Fall die Möglichkeit bestand, das Haar außerhalb Jerusalems (in Palästina) scheren zu lassen, könnte Act 18,18-22 einem Nasiräatsgelübde zugeordnet werden und wäre zugleich einziger deutlicher Zeuge für die Möglichkeit des Scherens in der Diaspora. 22 Das möglicherweise in Korinth abgelegte Gelübde findet einen vorläufigen Abschluss im Scheren der Haare in Kenchreä, sein eigentliches Ende aber mit einem Ausweihungsopfer bei einem Jerusalembesuch. 23 17 M. Boertien, Die Mischna. III. Seder: Naschim. 4. Traktat: Nazir, Berlin / New York 1971, 93 f. 150. 18 So auch K. G. Kuhn, Der tannaitische Midrasch Sifre zu Numeri, RT II / 3, Stuttgart 1959, 692; R. Pesch, Die Apostelgeschichte, EKK V / 2, Zürich u. a. 1986, 155. 19 Die Parallelstelle SifBam § 35 zu 6,18 liest nicht הנידמב, sondern ןילובגב, d. h. „im Landgebiet“, was sich deutlicher auf das ganze Gebiet Palästinas außerhalb von Jerusalem bezieht (dazu M. Boertien, Nazir, 150). 20 J. N. Epstein, Tannaim, Jerusalem / Tel Aviv 1957, 385. 21 Dazu M. Boertien, Nazir, 30.93. 22 H. Conzelmann, Apostelgeschichte, 117, bindet die Möglichkeit des Haareschneidens exklusiv an Jerusalem. Daher greift seine Kritik an der lukanischen Darstellung nicht. Auch E. Haenchen, Apostelgeschichte, 479 Anm. 2, interpretiert Lukas fälschlicherweise so, als habe er sagen wollen: Paulus habe zu Beginn des Nasiräats das Haar scheren lassen. 23 So als Erwägung auch bei O. Böcher, Christus Exorcista. Dämonismus und Taufe im Neuen Testament, BWANT 96, Stuttgart u. a. 1972, 112. Ebenso G. Schneider, Apostelgeschichte, 255. Mir ist gegen G. Schneider allerdings unverständlich, weshalb dies „nicht den Regeln für ein Nasiräatsgelübde“ entsprochen haben soll. Auch H.-G. Perelmuter, <?page no="46"?> 46 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 1.3 Die historischen Zusammenhänge Wir haben bislang die Textpassage Act 18,18-22 als Einheit betrachtet. Es bestehen allerdings mehrere Einwände gegen diese Sicht, die einen historischen Zusammenhang von Schneiden der Haare in Kenchreä und Jerusalemreise in Frage stellen. Act 18,18-22 enthält nur wenige Aussagen, welche die Einleitungswissenschaft nicht der Quelle Itinerar zuordnet. 24 Die entscheidenden Informationen des Textes bis auf die Jerusalemreise in V. 22 gehen jedoch alle auf die vorlukanische Tradition zurück. Diejenigen Textpassagen, die überwiegend der lukanischen Redaktion zugewiesen werden (V. 19b.20.21a), lassen sich sprachlich und inhaltlich von dem Kontext abheben. 25 Strittig ist die Einordnung von V. 18d. Kann diese Notiz allein der lukanischen Redaktion zugewiesen werden? Ist sie ohne jeglichen Anhalt an einer Tradition formuliert? 26 Gewiss lässt sich V. 18 glatter lesen, wenn der Teil κειράμενος […] εὐχήν (V. 18d) übergangen werden kann. Die oben behandelte Frage, welchem Subjekt dieser Satzteil zuzuordnen ist, entfällt. Dagegen erwägt Lüdemann die Zuweisung des Satzteiles „und mit ihm war Priszilla und Aquila“ zur Redaktion, wodurch die grammatikalische Stellung von κειράμενος […] εὐχήν geklärt, zugleich aber auch dieser Satzteil zur Tradition zu zählen wäre. 27 Die redaktionsgeschichtliche Erklärung bemerkt, der Satzteil V. 18d κειράμενος […] εὐχήν sei eingefügt, um die gesetzestreue Frömmigkeit des Paulus im Angesicht der bevorstehenden - freilich unhistorischen - Jerusalemreise zu illustrieren. 28 Es kann aber gefragt werden, ob nicht die Argumente ebenso gut für eine Tradition eingesetzt werden können, welche besagt: Paulus hat sich vor der Abfahrt nach Jerusalem in Kenchreä als Abschluss eines Gelübdes die Haare scheren lassen. Diese Tradition bedient sich merkwürdigerweise zur Umschreibung des Nasiräats nicht des im jüdisch- Art. Gelübde III. Judentum, TRE 12, 1984, 305, versteht Act 18,18 im Zusammenhang eines Nasiräatgelübdes. 24 A. Weiser, Apostelgeschichte, 388, und U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1994, 315, zählen Act 18,18.19a.21b.22 f. zum Itinerar. Auch G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 214: „Er formuliert hier also in Bindung an Tradition, die V. 18-19a und V. 21b-23 umfaßt“. 25 Vgl. A. Weiser, Apostelgeschichte, 498 f. 26 So z. B. A. Weiser, Apostelgeschichte, 497 f. Act 18,18d sei, was auch durch sprachliche Verweise vorgetragen wird, ein redaktioneller Zusatz. Lukas wolle Paulus „als mustergültigen jüdisch frommen Christen erscheinen“ lassen (498), obwohl Lukas keine Kenntnis von der genauen Durchführung des Nasiräatsbrauches gehabt habe. Auch G. Lüdemann, Christentum, 212, erwägt: „Der soeben angeführte Satz geht möglicherweise auf Lukas zurück“. Dagegen aber die oben (Anm. 24) zitierte Bemerkung (214). 27 G. Lüdemann, Christentum, 212 f. 28 So E. Haenchen, Apostelgeschichte, 478 f.; A. Weiser, Apostelgeschichte, 498. <?page no="47"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 47 hellenistischen Raum gebräuchlichen Verbs ξυράομαι. Das häufig vorgetragene Argument, Lukas lasse auch an anderen Stellen Paulus als mustergültigen Juden erscheinen (Act 16,3; 21,20-24), 29 hilft nicht weiter, da m. E. beide Belege eine historische Grundlage haben und nicht allein redaktionsgeschichtlich zu erklären sind. 30 Wenn Lukas aber wirklich Paulus als frommen Juden darstellen will, weshalb dann in nahezu unverständlicher Abbreviatur, welche weder das Gelübde noch den Jerusalembesuch deutlich anspricht? Ist nicht gerade diese Abbreviatur ein Zeichen dafür, dass auch V. 22 einem traditionellen Stationenverzeichnis inklusive Jerusalembesuch zugeordnet werden kann? Der Jerusalembesuch Act 18,22 läge zwischen dem Besuch anlässlich des Apostelkonvents (Act 15,2) und dem letzten Jerusalemaufenthalt (Act 21,15). Das Zeugnis des Galaterbriefs spricht auf den ersten Blick gegen die Historizität dieser Reise. Nach Gal 1 f. hat Paulus bis zur Abfassung des Gal nur zwei Jerusalembesuche unternommen, den Besuch bei Petrus (Gal 1,18) und die Reise zum Apostelkonvent (Gal 2,1). Dies sagt Paulus bei der Abfassung des Galaterbriefs vor dem zweiten Besuch der galatischen Gemeinden, den Act 18,23 (vgl. Gal 4,13) im Blick hat. Eine rein redaktionsgeschichtliche Betrachtung hat, weil ein Jerusalembesuch in die Chronologie des Galaterbriefs nicht eingeordnet werden kann, eine nur literarische Erklärung gesucht. Die Mehrheit der Forschung erkennt jedoch in V. 22 einen Traditionssplitter, differiert allerdings in der Beantwortung der Fragen, welches Reiseziel diese Reise gehabt habe und zu welchem Zeitpunkt sie erfolgt sei. Die Diskussion ist in Weisers Kommentar wiedergegeben, 31 die entscheidenden Vorschläge zur Lösung des Problems sind hier nur kurz anzudeuten: 1. Die Quelle berichtete von einem Besuch Antiochias. Der Jerusalemabstecher gehe auf lukanische Redaktion zurück. 2. Lukas hat den Jerusalembesuch eingetragen, weil seine Quelle von einer Reise, die Paulus unvorhergesehenerweise nicht nach Antiochia, sondern zunächst nach Caesarea führte, berichtete. 3a. Die Jerusalemreise 18,22 ist eine Dublette des letzten Jerusalemaufenthaltes. 3b. Sie ist eine Dublette der Reise zum Apostelkonvent. 4. Paulus ist wirklich zwischen Apostelkonvent und letztem Jerusalembesuch auf dem Weg nach Antiochia nach Jerusalem gereist. 29 Wiederum A. Weiser, Apostelgeschichte, 498. 30 Vgl. F. W. Horn, Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum, NTS 42 (1996), 479-505 (zu Act 16,1-5), wieder abgedruckt in diesem Band. D. Sänger, Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel. Studien zum Verhältnis von Kirche und Israel bei Paulus und im frühen Christentum, WUNT 75, Tübingen 1994, 52 (zu Act 21,20-24 s. u.). 31 A. Weiser, Apostelgeschichte, 500-502. <?page no="48"?> 48 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer Die redaktionsgeschichtlichen Erklärungen (l. und 2.) haben eine gewisse Plausibilität, wenn auch, wie bereits erwähnt, das von Lukas gesuchte Ziel - die Anbindung des Paulus an Jerusalem - nicht klar zum Ausdruck gebracht wird. Die vielfach vorgetragene Hypothese 3 erkennt in 18,22 einen Traditionssplitter aus einem in den Act zuvor bzw. an späterer Stelle berichteten Zusammenhang, muss aber, um eine Chronologie erstellen zu können, etliche nicht einpassbare Daten vernachlässigen. 32 Demgegenüber soll hier einer gelegentlich wohl geäußerten, 33 aber selten ernsthaft verfolgten Vermutung nachgegangen werden, der zufolge der Weg von Caesarea nach Antiochia Paulus vermutlich kurz nach Jerusalem führte, auch um hier sein Nasiräat zu beenden. 34 Demnach hätte Lukas in den Act mit seiner Quelle, dem Itinerar, einen Sachverhalt historisch zutreffend wiedergegeben. Zugleich ist mit der Quelle, die in 18,1-3.7 f.11 schon zu Wort kommt, der Beginn und der vorläufige Abschluss dieses Nasiräats auf die Zeit in Korinth und Kenchreä festgelegt. Die Probleme dieser Auslegung sind weitaus geringer als diejenigen derer, die in 18,22 eine Dublette bzw. einen Traditionssplitter einer anderen Reise erkennen. Die Anfragen an diese Überlegung lauten: Widerstreitet nicht das paulinische Zeugnis im Galaterbrief der Annahme einer Jerusalemreise nach dem Apostelkonvent? Können die Auslösungsverbindlichkeiten eines Nasiräats bei einem Kurzbesuch vollzogen werden? Paulus erwähnt diese in Act 18,22 angesprochene Reise nach Jerusalem an keiner Stelle. Kann dies schon die Folgerung begründen, dieser Befund schließe sie geradezu aus? 35 Nach dem Gesagten handelt es 32 Ohne die Position G. Lüdemanns, der sich zuletzt diese These zu eigen gemacht hat, hier in toto referieren zu wollen (G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel I: Studien zur Chronologie, FRLANT 123, Göttingen 1980, 165-173; ders., Christentum, 212-214), sei auf eine gravierende Problematik dieser Hypothese hingewiesen: Um Act 18,22 als Tradition einer mit Barnabas (! ) unternommenen Reise zum Apostelkonvent verstehen zu können, wird die Reiseroute gegen den Text der Act von Caesarea über Antiochien, wo sich Barnabas anschließt, nach Jerusalem verlegt (Christentum, 214). 33 In jüngster Zeit vor allem W. Schmithals, Die Apostelgeschichte des Lukas, ZBK.NT 3,2, Zürich 1982, 170; I. H. Marshall, The Acts of the Apostels. An Introduction and Commentary, TNTC, Leicester 1992, 299-304; R. Pesch, Apostelgeschichte, V / 2, 154-158; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71, Tübingen 1994, 264 f. 34 G. Schneider, Apostelgeschichte, 255, zeigt sich sehr reserviert gegenüber E. Haenchens These einer Dublette, um seinerseits 18,22 als Notiz des Itinerars zu verstehen. G. Schneider, Apostelgeschichte, 256 f., interpretiert diesen im Itinerar erwähnten Kurzbesuch in Jerusalem mit einer Frage: „daß der Aufenthalt kurz war (zur Beendigung des Gelübdes? ).“ Auch H. Conzelmann, Apostelgeschichte, 117, setzt Gelübde und Jerusalembesuch in Beziehung, wendet sich aber gegen eine historische Interpretation. R. Pesch, Apostelgeschichte, 156: „[…] dachte die Quelle in 18,18 offenbar auch an eine Jerusalemreise (vgl. 22b) zur Auslösung des Naziräatsgelübdes.“ 35 So H. Conzelmann, Apostelgeschichte, 117. <?page no="49"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 49 sich um einen kurzen privaten Jerusalembesuch auf dem Weg nach Antiochia, wo er einige Zeit bleibt. Wenn diese Reise tatsächlich stattgefunden hat, so sind aus ihr, jedenfalls nach der Nennung des Stationenverzeichnisses in den Act, ohnehin keine wegweisenden neuen Pläne hervorgegangen. Ein inhaltlicher Grund für ihre Erwähnung hätte für Paulus also nicht bestanden. In Gal 1-2 erwähnt Paulus zwei Jerusalembesuche (1,18; 2,1), ohne den Kurzbesuch aus Act 18,22 anzusprechen. Allerdings ist zu bedenken, dass Paulus in Gal 1-2 ausschließlich auf den Zeitraum von seiner Berufung bis zum Apostelkonvent bzw. bis zum Antiochenischen Konflikt blickt. Von daher ist die Nichterwähnung eines Jerusalembesuches außerhalb dieses Zeitraumes erklärlich. 36 Die Bedingungen für das eigentliche Ausweihungsritual für den aus der Diaspora anreisenden Nasiräer lauten nach dem Mischnatraktat mNaz 3,6a, wobei wir die Frage nach der Gültigkeit dieser Bestimmungen in der Zeit des Paulus einmal dahingestellt sein lassen: 37 Wenn jemand (im Ausland) ein langes Nasiräat gelobt hat, sein Nasiräat vollendet hat und danach in das Land (Israel) kommt, so sagt die Schule Schammais: Er soll (noch) dreißig Tage Nasiräer sein. Die Schule Hillels aber sagt: Er soll (wieder) von Anfang an Nasiräer sein. Dies bedeutet: Paulus hätte, um das Nasiräat beenden zu können, zunächst eine siebentägige Reinigungsperiode, die nach einer Besprengung am dritten und am siebten Tag durch ein Tauchbad abgeschlossen wird (Num 19,19), übernehmen müssen. Im Anschluss daran hätte Paulus nochmals ein mindestens dreißig Tage währendes Nasiräat einhalten müssen. Erst dann konnte das Ausweihungsopfer dargebracht werden. Kürzere Fristen, die gelegentlich als Möglichkeit vermutet werden, 38 entsprechen nicht den Bestimmungen der Mischna. 39 mNaz 3,6b berichtet über das Nasiräat der Königin Helena von Adiabene, welches diese Bestimmungen im Grundsatz auch für die Zeit des 1. Jh. n. Chr. illustriert. Der anschließende Besuch in Antiochia wird zeitlich mit χρόνον τινά (Act 18,23) umschrieben. Falls diese Formel als „offenbar längerer Aufenthalt“ 40 aufzulösen ist, dann könnte die Ausweihung in Jerusalem unter den o. g. Fristen 36 So mit Recht R. Pesch, Apostelgeschichte, 157; R. Riesner, Frühzeit, 265. 37 Vgl. zum Text und den textkritischen Problemen: M. Boertien, Nazir, 91-95. 38 Th. Zahn, Apostelgeschichte, 741, hält mit Bezug auf mNaz 3,3-4 ein siebentägiges Nasiräat für möglich. Die Bestimmung der Mischna ist hierbei jedoch falsch interpretiert; dazu M. Boertien, Nazir, 86 f. Insofern ist in Blick auf die Dauer des Nasiräats gegen Th. Zahn, Apostelgeschichte, 741, Lk. nicht „ein besserer Zeuge als die ganze rabbinische Tradition.“ 39 M. Petuchowski/ S. Schlesinger, Mischnajot III - Ordnung Naschim, Basel 3 1968, 253 Anm. 28: „Weniger aber als 30 Tage kann ein Nasirat nicht dauern.“ 40 So R. Riesner, Frühzeit, 279; ähnlich auch E. Haenchen, Apostelgeschichte, 395. Bauer / Aland, Wb, 1770: „einen gewissen Zeitraum hindurch, einige Zeit.“ <?page no="50"?> 50 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer (30 Tage) noch als Kurzbesuch gelten. Nach dem Gesagten erscheint es als möglich und denkbar, dass Paulus in dem in Act 18,22 angesprochenen Jerusalembesuch sein in Kenchreä beendetes Nasiräat mit der Ausweihung abgeschlossen hat. 41 Diese Notiz geht im Wesentlichen auf die Quelle des Lukas zurück. Nur wenn man Lukas weit vom Diasporajudentum entfernt in einem ausschließlich heidenchristlich, ehedem rein heidnischen Bereich ansiedelt, kann man eventuell erwägen, dass Lukas von dem Brauch des Nasiräats keine Anschauung gehabt habe. Die Bekanntheit von Nasiräatsgelübden auch in der Diaspora spricht eher dagegen. Dass aber der Redaktor Lukas Haareschneiden und Jerusalembesuch in dieser allenfalls andeutenden Abbreviatur mit der Quelle übernommen oder gar selbst beschrieben hat, um auf diese Weise Paulus als vorbildlichen Juden darzustellen, muss doch als recht unwahrscheinlich gelten. Fragen wir abschließend nach möglichen Motiven, die Paulus bewegt haben können, ein Nasiräat zu übernehmen. M. Boertien hat aus der rabbinischen Überlieferung folgende Motive zusammengestellt: Unterstützung und Bekräftigung einer Gebetsbitte, z. B. um einen Sohn, bei Antritt einer gefährlichen Reise, beim Anfang eines Krieges, um Heilung von einer Krankheit oder Rettung aus einer Gefahr, 42 sodann als Ausdruck der Liebe zur Tora als Zeichen des Willens zur Bekämpfung des bösen Triebs. 43 1 Makk 3,49 belegt, dass Nasiräern eine besondere Offenbarungsfunktion beigemessen wurde. Kann ein Nasiräat übernommen worden sein, um besondere Offenbarungsfunktion zu erhalten? Philo interpretiert das Nasiräat in SpecLeg 1,247-254 als unblutige Selbstweihe, in der das Haar als Ersatz für das Menschenopfer dargebracht wird. 44 Es werden die Haare des Paulus in Kenchreä geschnitten, also wird, wie bemerkt, die Übernahme des Gelübdes wohl in der unmittelbar zurückliegenden Zeit in Korinth erfolgt sein. Die Mission in Korinth und das Gelübde sind in der Literatur gele- 41 Act 18,22 nennt im Zusammenhang des Jerusalemaufenthaltes nicht die Auslösung des Nasiräats, sondern allein ἀσπασάμενος τὴν ἐκκλησίαν. Ob Ersteres unbedingt in der lukanischen Quelle oder als Nachtrag durch Lukas hätte Erwähnung finden müssen, sei dahingestellt. ἀσπασάμενος (τὴν ἐκκλησίαν) könnte eine red. Einfügung sein (vgl. neben Act 18,22 noch 20,1; 21,7.19; 25,13 und Lk 1,40; 10,4 diff Mk / Q. Die Interpretation im Sinne einer missionsstrategischen Maßnahme (so R. Riesner, Frühzeit, 265) überfrachtet die Aussage. 42 Jos, Bell 2,313 spricht von dem „Brauch, daß alle, die durch Krankheit oder andere Notlage beschwert sind, geloben“ (Übersetzung Bauernfeind / Michel I, 243). 43 Nach O. Böcher, Dämonenfurcht und Dämonenabwehr. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der christlichen Taufe, BWANT 90, Stuttgart u. a. 1970, kennt das nachbiblische Judentum das Nasiräat „vor allem als (exorzistisches) Kampfmittel gegen den teuflischen bösen Trieb“. 44 Dazu M. Boertien, Nazir, 26 f. <?page no="51"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 51 gentlich in einen direkten Zusammenhang gebracht worden. 45 Obwohl etliche Begebenheiten in Korinth ein hinreichendes Motiv für ein Nasiräatsgelübde gewesen sein mögen (Act 18,12; 1 Kor 2,3; 16,9), entzieht sich der wahre Beweggrund unserer Kenntnis. Es kann sich auch um ein privates Motiv gehandelt haben. 2. Act 21,15 - 27 2.1 Die lukanischen Aussagen und ihr Verhältnis zu jüdischen Aussagen über das Nasiräat Die letzte Jerusalemreise führt Paulus und seine Begleiter zum Herrenbruder Jakobus und den Ältesten. Es wird der Missionserfolg des Paulus unter den Heiden erwähnt, aber auch auf die Bekehrung zehntausender, d. h. einer ungeheuer großen Zahl von Juden hingewiesen. Diese Judenchristen zeichnen sich aus durch Gesetzeseifer. Gleichzeitig kursiert unter ihnen das Gerücht, Paulus lehre die Diasporajuden den Abfall von Mose, indem er sage, man solle die Kinder nicht mehr beschneiden und nicht mehr nach den jüdischen Sitten wandeln. Während Jakobus und die Ältesten auf den paulinischen Missionsbericht mit einem Lob Gottes antworten, befürchten sie gleichzeitig feindliche Reaktionen von Seiten der gesetzeseifrigen Judenchristen, denen die Ankunft des Paulus mitgeteilt worden ist. In dieser Situation geben Jakobus und die Ältesten Paulus den Ratschlag, die Ausweihungskosten für vier Nasiräer zu übernehmen, um so das Gerücht des Gesetzesabfalls durch eine gesetzestreue Handlung zu zerstreuen. So weit jedenfalls ist der Text der Act leicht nachzuvollziehen. Unsicher wird die Interpretation erst in der Analyse des Wortlauts des Ratschlags (Act 21,23b.24) und in der Rekonstruktion dessen, was Paulus in Befolgung des Ratschlags getan hat (Act 21,26). Unter den Judenchristen Jerusalems befinden sich vier Männer, welche die Auslösung ihres Nasiräats noch nicht vollzogen haben. Der gewählte Ausdruck εἰσὶν ἡμῖν ἄνδρες τέσσαρες (Act 21,23) zeigt an, dass diese Männer Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde sind, 46 nicht aber Juden(christen) aus der Diaspora, die einer Purifikation vor der Ausweihung bedurft hätten. Der demonstrative Akt der Gesetzestreue, zu dem Paulus aufgefordert wird, soll an Männern aus dem Bereich vollzogen werden, aus dem auch die „Zehntausende“ judenchristlicher 45 C. Clemen, Paulus. Sein Leben und Wirken II: Darstellung, Gießen 1904, 179: „Wahrscheinlich tat er deshalb gleich damals das Gelübde, sein Haupthaar scheren zu wollen, wenn er hier glücklich zu Ende käme“. Mit „damals“ hat C. Clemen den Beginn der Mission in Korinth im Blick (II, 192). 46 Vgl. BDR § 189,1: εἴναι mit Dativ kennzeichnet den Besitz; vgl. auch Act 8,21; 10,6. <?page no="52"?> 52 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer Gesetzeseiferer stammen. Die vier Männer haben eine εὐχὴ ἐφ ἑαυτῶν, 47 also ein noch bestehendes Gelübde. Der Paulus unterbreitete Vorschlag ist dreiteilig: a. τούτους παραλαβών; b. ἁγνίσθητι σὺν αὐτοῖς; c. δαπάνησον ἐπ᾽ αὐτοῖς. ad a) Der Ausdruck τούτους παραλαβών besagt hier nicht mehr, als dass Paulus die vier Männer „mit sich nimmt“ (vgl. V. 26a) bzw. „sie zur Hilfe nimmt“ für seinen Zweck, seine Gesetzestreue zu erweisen. Der Ausdruck impliziert keineswegs, dass Paulus sich den vier Nasiräern angeschlossen hat, um nun seinerseits ein Nasiräat zu übernehmen. 48 ad b) Die eigentlichen Auslegungsschwierigkeiten sind mit dem Ausdruck ἁγνίσθητι οὺν αὐτοῖς verknüpft. Er wird in V. 26 wieder aufgenommen. Sodann begegnet das Substantiv ἁγνίσμός in der Wendung διαγγέλλων τὴν ἐκπλήρωσιν τῶν ἡμερῶν τοῦ ἁγνισμοῦ (V. 26). Auch diese Aussagen sind dahingehend interpretiert worden, als habe Paulus ein Nasiräat übernommen. Das Verb ἁγνίζεσθαι ist jedoch nicht notwendig in diesem Sinn zu interpretieren, ja „das bloße ἁγνίζεσται bezeichnet nirgends das Ablegen des Nasiräatsgelübdes.“ 49 Das Verb kann a) in dem Zusammenhang eines Nasiräatsgelübdes gebraucht werden: Num 6,3 LXX , vgl. aber auch ἁγνισμός (Num 6,5 LXX ), ἁγνεία (Num 6,2 LXX ); b) im Zusammenhang unterschiedlicher Purifikationsprozesse. 50 Vor dem Passa: Ex 19,10 LXX ; Joh 11,55; Jos, Ant 12,145; in Bezug auf Unreinheit: Num 19,12; 31,19.23; Jos 3,5; 2 Chr 29,5.34; 30,17 LXX ; Act 24,18. Von einem siebentägigen Reinigungsritus in Verbindung mit dem Verb ἁγνίζεσθαι sprechen die Belege Num 19,12; 31,19 LXX . Da Paulus als ein aus dem Ausland kommender Jude, der den Tempel betreten will, ohnehin einer siebentägigen Reinigung bedurfte, und da Act 21,27 eine Frist von sieben Tagen erwähnt, könnte man problemlos solch einen Purifikationsprozess hier angedeutet sehen. Jedoch spricht Lukas in V. 24 und 26 davon, dass die Reinigung des Paulus sich mit den Nasiräern, σὺν αὐτοῖς, vollziehen soll. Diese aber sollten doch im Stand kultischer Reinheit sein. Kann man 47 Der Ausdruck folgt der Diktion der LXX; vgl. Num 6,7; 30,7. 48 So spricht z. B. H. H. Wendt, Apostelgeschichte, 345, davon, dass Paulus in das bestehende Nasiräatsgelübde der vier Nasiräer eingetreten sei. Die von H. H. Wendt beigebrachten Belege (mNaz 2,6; Jos, Ant 2,94) sprechen allerdings nicht von einem Eintreten in ein Nasiräat anderer, sondern von der Übernahme der Auslösungskosten. 49 P. Billerbeck, Kommentar II, 757. 50 F. Hauck, Art. ἁγνός, ThWNT I, 122: „Das Wort bedeutet in den Zustand der Kultfähigkeit versetzen und geht so auf die verschiedenen Maßnahmen, die dazu dienten“. <?page no="53"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 53 daher voraussetzen, deren kultische Reinheit sei etwa durch Berühren einer Leiche oder durch Betreten außerpalästinischen Raums 51 aufgehoben worden, so dass diese nun zusammen mit Paulus eines Purifikationsprozesses bedurften? 52 Hierbei läge der ungewöhnliche, wenngleich nicht unmögliche Zufall zugrunde, dass die vier Nasiräer gleichzeitig ihre Reinheit verloren hätten. Ist diese Auslegung bei der Präposition σὺν αὐτοῖς notwendig? M. Bachmann 53 hat demgegenüber vorgeschlagen, σὺν αὐτοῖς hier „im Sinne von ‚ihnen bei‘“ zu übersetzen, so dass V. 24 und 26 ausschließlich von einer Purifikation des Paulus sprechen, die ihn in denjenigen Stand der Reinheit bringt, den die Nasiräer bereits besitzen. Damit wäre folgende häufig vertretene Ansicht abgewiesen: Die lukanische Quelle habe noch klar zwischen ἁγνισμός als Purifikation einerseits und Nasiräat andererseits unterschieden, Lukas aber habe beides (wohl wegen des Vorkommens des Begriffs im Zusammenhang des Nasiräats in Num 6,4 und der Purifikation in Num 19,12 LXX ) „irrig […] kombiniert“ 54 und sei so zu der Vorstellung gekommen, Paulus sei in ein bestehendes Nasiräat eingetreten. ad c) Der Ausdruck δαπάνησον ἐπ᾽ αὐτοῖς spricht die Num 6,14-15; mNaz 6,7-9 genannten, erheblichen Ausweihkosten an, die Paulus für die Nasiräer übernehmen soll. Act 21,26 berichtet, wie Paulus den Ratschlag befolgt, sich am nächsten Tag „ihnen gleich“ heiligt, in den Tempel geht und die Erfüllung der Tage der Reinigung anzeigt. Hierbei stellt V. 26a zunächst nahezu eine Wiederholung von V. 24a dar und ist im Sinne der o. g. Interpretation aufzunehmen. Dennoch bleibt die Aussage dieses 51 M. Boertien, Nazir, 94, vermutet, die vier Nasiräer seien aus dem Ausland nach Jerusalem gekommen und bedürften jetzt einer Purifikation. Gegen diese Vermutung spricht m. E. der Wortlaut von V. 23b (s. o. Anm. 46), der für eine Abkunft dieser Nasiräer aus der Jerusalemer Urgemeinde spricht. 52 Diese Position vertritt P. Billerbeck, Kommentar II, 758. Nach seiner Auffassung sollten die vier Nasiräer wegen ihrer Verunreinigung nicht das Nasiräat erneut beginnen, sondern eine siebentägige Purifikation übernehmen, um sodann das Nasiräat zum Abschluss zu bringen. Ausführliche Kritik dieser Position durch E. Haenchen, Apostelgeschichte, 541 Anm. 1. 53 M. Bachmann, Jerusalem und der Tempel. Die geographisch-theologischen Elemente in der lukanischen Sicht des jüdischen Kultzentrums, BWANT 109, Stuttgart u. a. 1980, 319-321. Im Einzelnen verweist M. Bachmann neben inhaltlichen Erwägungen darauf, dass σύν in der Koine häufig anstelle von μετά gebraucht wird; so auch Lk 2,13 und Act 8,31. Hätten Bauer / Aland, Wb, 1559 f., Act 21,24 nicht ebenso unter 1. („mit dem Dat. der Pers. zur Bez. von Gemeinschaft u. Begleitung“) anstelle von 2.a. („mit jmdm. zusammen etw. tun, empfinden od. erleiden“) aufführen können? 54 H. Conzelmann, Apostelgeschichte, 131. <?page no="54"?> 54 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer Verses undeutlich, ja missverständlich. Das Part. Aor. ἁγνίσθείς scheint vorauszusetzen, Paulus habe am folgenden Tag vor dem Tempelgang gemeinsam mit den Nasiräern eine einmalige Reinigung vollzogen. 55 Dies kann aber mit V. 27 nicht in Einklang gebracht werden, da hier klar ein siebentägiger Purifikationsprozess des Paulus impliziert ist, in den Paulus (in V. 26) erst eintritt; so auch Act 24,18. Der Ausdruck τὴν ἐκπλήρωσιν τῶν ἡμερῶν τοῦ ἁγνισμοῦ setzt eine mehrtägige Reinigungszeit voraus. Weder kann Paulus als ein aus der Diaspora anreisender Jude in einem einmaligen Purifikationsakt die Reinheit erlangen noch bedürfen die Nasiräer eines Purifikationsaktes, befinden sie sich doch unmittelbar vor dem Ausweihakt im Stand der Reinheit. Andererseits kann Paulus bei dem Tempelgang nicht die Erfüllung der Tage der Reinigung für sich anzeigen, da er die siebentägige Purifikation, von der V. 27 sprechen wird, noch gar nicht abgeleistet hat, so dass der Ausdruck τὴν ἐκπλήρωσιν τῶν ἡμερῶν τοῦ ἁγνισμοῦ durch V. 26c unstrittig auf den Ausweihakt der vier Nasiräer zu deuten ist. 56 Die bereits erwähnte Unsicherheit in der Auslegungsgeschichte, ob ἁγνισμός auf das Nasiräat oder auf den Purifikationsprozess zu beziehen ist, setzt sich in der Auslegung dieses V. 26 fort. Ganz unwahrscheinlich ist hingegen die oft vorgetragene Auslegung, der zufolge Paulus mit dem Tempelgang in ein siebentägiges Nasiräat 57 eingetreten sei und sogleich den Ausweihakt angezeigt habe. 58 55 H. H. Wendt, Apostelgeschichte, 347, erwägt, dass Lukas bei dem Part. Aor. entweder einmalige Reinigungsriten im Blick habe, die dem Tempelgang vorausgingen, oder aber den Eintritt in das Nasiräat anzeigen wolle. F. F. Bruce, Acts, 448, interpretiert das ἁγνίσθείς als „first step in the week-long purificatory process.“ 56 Vgl. Num 6,5 LXX im Zusammenhang des Nasiräatsgelübdes: ἕως ἄν πληρωθῶσιν αἱ ἡμέραι; 6,13 LXX: ᾖ ἂν ἡμέρᾳ πληρώσῃ ἡμέρας εὐχῆς; 1 Makk 3,49: τοὺς ναζιραίους, οἳ ἐπλήρωσαν τὰς ἡμέρας. 57 So Th. Zahn, Apostelgeschichte II, 741. 58 E. Haenchen, Apostelgeschichte, 542 f., unterscheidet die Aussage der lukanischen Quelle von der Redaktion. Lukas sei es „nicht möglich gewesen, diese im Itinerar sich nur flüchtig abspiegelnden Zusammenhänge ganz richtig zu erfassen“ (543). Vor allem habe Lukas nicht um den Unterschied zwischen ἁγνισθείς als Entsühnung und ἁγνισμός als Nasiräat gewusst und sei so zu der irrigen Vorstellung gekommen, Paulus sei in das Nasiräat der vier Judenchristen eingetreten. In der Quelle hingegen sei der Unterschied zwischen Entsühnung und Nasiräat klar festgehalten worden. Demgegenüber hat unsere Auslegung zu zeigen versucht, dass die Annahme eines Bedeutungswandels zwischen Quelle und Redaktion nicht notwendig ist; weitgehende Übernahme der Position E. Haenchens durch H. Conzelmann, Apostelgeschichte, 114; W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987, 93-95. Nach J. Roloff, Apostelgeschichte, 314, ist vermutlich schon der Quelle eine Verwechslung von Purifikation und Nasiräat unterlaufen. <?page no="55"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 55 Dies ist mit den jüdischen Nasiräatsbestimmungen in keinem Fall in Ausgleich zu bringen. 59 Ebenso unwahrscheinlich ist die Annahme, Paulus habe erst jetzt, mit einer Verzögerung von vier oder fünf Jahren und zudem erst auf Anraten des Jakobus, sein in Kenchreä abgeschlossenes Nasiräat förmlich beendet. 60 Im Tempel zeigt Paulus als derjenige, der bereit ist, die Ausweihkosten für die vier Nasiräer zu übernehmen, τὴν ἐκπλήρωσιν τῶν ἡμερῶν τοῦ ἁγνισμοῦ ἕως οὗ προσηνέχθη ὑπὲρ ἑνὸς ἑκάστου αὐτῶν ἡ προσφορά an. Nicht ganz eindeutig ist der Bezugspunkt von ἕως οὗ. Soll gesagt sein, dass Paulus in dem Tempel blieb, bis die Opfer für einen jeden dargebracht sind? Oder ist - m. E. wahrscheinlicher und mit den meisten Kommentaren - die Erfüllung der Tage damit präzise terminiert auf den Zeitpunkt, an dem die Opfer im Tempel dargebracht werden? 2.2 Die historischen Zusammenhänge Im Mittelpunkt des lukanischen Berichts steht der Vorschlag des Jakobus und der Ältesten, Paulus solle durch eine Handlung im Tempel, nämlich die Übernahme der Ausweihkosten für vier Nasiräer, den Verdacht, er lehre unter den Diasporajuden den Abfall von Mose, ausräumen. 61 Paulus folgt diesem Vorschlag nach dem Bericht der Act ohne Zögern. Er kann damit, wie auch Lukas weiß, nicht mehr erweisen, als dass er in einem konkreten Fall sich als Bewahrer der Tora (V. 24c) erweist. Die Vorwürfe vor allem an seine Verkündigung (V. 21, 28) kann er durch den einmaligen Akt nicht ausräumen. Die Berechtigung dieser Gerüchte und Vorwürfe ist höchst zweifelhaft. Doch ist auf historischer Ebene in diesem Zusammenhang ohnehin nur wichtig, was man in Jerusalem über Paulus dachte bzw. auf redaktioneller Ebene, wie Lukas im Zusammenhang des Prozesses des Paulus Anklage und Verteidigung vorbringen will. Die Übernahme der Ausweihkosten war nicht nur eine fromme Handlung, sondern bot eine willkommene Möglichkeit, die eigene Gesetzestreue unter Beweis zu stellen. So jedenfalls zeigt es der Bericht des Josephus, Ant 19,293 f. über den Amtsantritt von König Agrippa I. Dieser, οὐδὲν τῶν κατὰ νόμον 59 Um einen Ausgleich herzustellen, beruft man sich häufig auf Ausnahmeregelungen; so z. B. W. M. L. de Wette, Apostelgeschichte, 162: „Es scheint, dass die Priester denen, welche die Kosten des Gelübdes trugen, eine kürzere Zeit u. viell. nach ihrem Belieben erlaubten.“ 60 Dagegen in Auseinandersetzung mit M. Bachmann mit Recht M. Klinghardt, Gesetz und Volk Gottes, WUNT II / 32, Tübingen 1988, 271 f. 61 Nach Hegesipp (bei Euseb, H. E. II 23,5) war Jakobus von Mutterleib an ein Nasiräer. Diese Stilisierung reduziert W. Pratscher, Herrenbruder, 112, darauf, dass Jakobus „möglicherweise […] einmal ein zeitlich beschränktes Nasiräat auf sich nahm,“ allein sei „die Annahme eines solch zeitlich beschränkten Nasiräats freilich bloß Vermutung.“ Gegebenenfalls läge also der Rat des Jakobus an Paulus in einer Linie mit seinem eigenen Frömmigkeitsprofil. <?page no="56"?> 56 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer παραλιπών, 62 übernimmt die Ausweihkosten einer großen Menge von Nasiräern. Es ist nicht unwichtig, dass diese Kostenübernahme ein selbstständiger Akt neben dem Nasiräat anderer war (dazu ausführlich mNaz 2,5-6), ja als solcher das eigentliche Nasiräat in der Wertigkeit zurückzudrängen schien. 63 Die erheblichen Kosten der Nasiräatsauslösung mögen zu dieser Verschiebung beigetragen haben. Nach Num 6,14-17 hat der Nasiräer ein einjähriges Schaf ohne Fehler als Brandopfer, ein einjähriges Schaf ohne Fehler als Sündopfer, einen Widder ohne Fehler als Dankopfer zu bringen, sodann einen Korb mit ungesäuertem Kuchen von feinstem Mehl, mit Öl vermengt, ungesäuerte Fladen, mit Öl bestrichen, und was dazu gehört an Speiseopfern und Trankopfern (vgl. auch mNaz 6,7-9). Die tumultuarischen Ereignisse gegen Paulus im Tempel bei dem Abschluss der siebentägigen Purifikation (Act 21,27-30) haben letztlich wohl eine Übernahme der Auslösungskosten für die vier Nasiräer verhindert. Gleichwohl kann die Frage gestellt werden, mit welchen Mitteln Paulus eine gleich vierfache Auslösung hätte bezahlen wollen bzw. können? Hat Paulus einen Teil der Kollekte einsetzen wollen? Jegliche Antwort ist Spekulation, da wir nicht wissen, welche Geldmittel Paulus zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen. 64 Vor der Übernahme der Ausweihkosten muss Paulus, der aus dem Ausland kam und als unrein galt, seine eigene Entsühnung vornehmen. Hierauf bezieht sich präzise der Ausdruck αἱ ἓπτὰ ἡμέραι συντελεῖσθαι (V. 27). Nach Act 20,16 kommt Paulus auch als Wallfahrer anlässlich des Wochenfestes nach Jerusalem. Als solcher unterliegt er den Bestimmungen für Festpilger aus dem Ausland. 65 62 Dieser Satzteil bezieht sich zunächst auf die von Agrippa I. dargebrachten Dankopfer. Allerdings setzt Jos die Ausführung über die Auslösung der Nasiräer mit διὸ καί in eine unmittelbare Beziehung zu dieser Gesetzesfrömmigkeit. 63 Ausführlich wieder M. Boertien, Nazir, 70 f. 64 M. Klinghardt, Gesetz, 272, erachtet es als „durchaus wahrscheinlich, daß Pls die aus der Kollekte stammenden Mittel (oder einen Teil davon) für die Ausweihung - es handelt sich immerhin um zwölf einjährige Opfertiere und acht Körbe mit Kuchen bzw. Fladenbrot - aufgewendet hat“. Bereits E. Haenchen, Apostelgeschichte, 544, hatte - ausgehend von der Beobachtung des lukanischen Schweigens über die Kollekte - die Meinung vertreten, die jerusalemische Kirchenleitung hätte, um einen Bruch mit dem palästinischen Judentum zu vermeiden, die Kollekte eines Paulus nicht annehmen können. Die Verwendung der Kollekte für die vier Nasiräer sei ein Kompromiss, der nicht in Widerspruch zu der karitativen Abzweckung der Kollekte stand. Paulus sei auf diesen Kompromissvorschlag eingegangen. Für diese These kann auch sprechen, dass die Übernahme der Ausweihkosten für Nasiräer traditionell eine hohe soziale Bedeutung hatte, dazu J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit ]esu, Göttingen 3 1969, 145. 65 Ausführlich zum Thema: Sh. Safrai, Wallfahrt, 142-206; zur siebentägigen Purifikation auch R. Deines, Jüdische Steingefäße und pharisäische Frömmigkeit. Ein archäologischhistorischer Beitrag zum Verständnis von ]oh. 2,6 und der jüdischen Reinheitshalacha zur Zeit Jesu, WUNT II / 52, Tübingen 1993, 185. <?page no="57"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 57 Sie sollten eine Woche vor Beginn des Festes in Jerusalem eintreffen, um einen siebentägigen Purifikationsprozess zuvor abschließen zu können. In dieser Zeit lassen sich die Pilger am dritten und am siebten Tag mit Sühn-Wasser besprengen (vgl. mNaz 7,3; bNaz 54b). Philo, SpecLeg 3,205 hält als Diasporajude fest: „Ins Heiligtum aber gestattete er auch den ganz Reinen nicht vor sieben Tagen einzutreten, er gebietet ihnen am dritten und siebenten Tage sich vorschriftsmäßig zu reinigen.“ 66 Nicht nachvollziehbar ist die lukanische Aussage, dass Paulus während der Reinigung 67 in den Tempelbezirk geht, um die Ausweihung der Nasiräer anzuzeigen. Nach V. 27 ist die Purifikation ja noch nicht abgeschlossen. Nimmt man das Zeugnis des Philo ernst, dann hätte Paulus also die bevorstehende Auslösung der Nasiräer nicht während seiner Purifikationzeit an dem von Lukas genannten Ort, im Tempelbezirk, 68 anzeigen können (V. 26). Schließlich ist zu fragen, ob nicht auch die Festnahme des Paulus mit der Purifikation und der Übernahme der Ausweihkosten zusammenhängt. J. Weiß 69 hat darauf hingewiesen, dass im Bericht des Lukas eine Nachricht über den Umgang des Paulus mit Trophimos ausgefallen sein muss, und zwar etwas, was die Anklage der Juden in V. 28 verständlich macht. Man hat Paulus mit dem Heidenchristen Trophimos (vgl. 20,4) in der Stadt gesehen (21,29). In halachischer Sicht ist Trophimos ein Heide. Eine Begegnung des Paulus mit dem Heiden(christen) Trophimos würde die Absicht, innerhalb der siebentägigen Purifikationszeit levitische Reinheit zu erlangen, ins Gegenteil verkehren. Das Verhalten des Paulus hätte die über ihn kursierenden Gerüchte teilweise bestätigt. 3. Theologische Bewertung Nach dem Dargelegten ist es wahrscheinlich, dass Paulus auf der zweiten Missionsreise aus eigenem Antrieb ein Nasiräat eingegangen ist und bei seinem letzten Jerusalembesuch auf Anraten des Jakobus und der Ältesten die Ausweihkosten für vier Nasiräer übernommen hat. Je nachdem, welches Bild man von dem Heidenapostel Paulus, seiner Mission und seiner Theologie hat, mag es schwerfallen, diese Nasiräatsfrömmigkeit in das gedachte Bild einzuordnen. Wenn man der Interpretation des Nasiräats, wie durch P. Billerbeck gegeben, 66 Sh. Safrai, Wallfahrt, 144 f., vermerkt dazu, dass der Talmud keine Purifikation für diejenigen anordnet, die eigentlich rein sind. An denjenigen Stellen, auf die man sich hier beziehen kann, ist Verunreinigung durch Berühren einer Leiche vorausgesetzt. 67 Einige Dutzend rituelle Tauchbäder befanden sich auf dem Tempelberg, wenige und nur besonderen Gruppen vorbehaltene im Tempelbezirk (Sh. Safrai, Wallfahrt, 144). 68 In Act 3,3 ist mit εἰσιέναι εἰς τὸ ἱερόν der Tempelbezirk, in den das „Schöne Tor“ führt, gemeint, noch nicht aber das eigentliche Tempelgebäude. 69 J. Weiß, Über die Absicht und den literarischen Charakter der Apostelgeschichte, Göttingen 1897, 39 f.; ebenso E. Haenchen, Apostelgeschichte, 546. <?page no="58"?> 58 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer Glauben schenkt, dann hätte Paulus mit einer Leistung der „Werkgerechtigkeit“ seine Mission abgeschlossen. 70 H. J. Holtzmann gibt der seiner Zeit voraufgehenden Tendenzkritik an dem lukanischen Bericht mit einem Votum von A. Hausrath Ausdruck: „Eher aber sei glaublich, dass […] Calvin auf seinem Totenbette der Mutter Gottes einen goldenen Rock gelobt, als dass Pls solche Wege beschritten habe.“ 71 Da uns jedoch die Historizität des Nasiräats und der Übernahme der Ausweihkosten nach der Analyse der Berichte der Act wahrscheinlich ist, muss abschließend unvoreingenommen nach der theologischen Interpretation gefragt werden. Der Bericht des Lukas, demzufolge Paulus selbst ein Nasiräat übernommen hat und die Ausweihkosten für vier Nasiräer zu übernehmen bereit war, bezeugt zunächst positiv, dass der Apostel an dieser Stelle keinen absoluten Bruch mit Tora und jüdischer Frömmigkeit vollzogen hat; mit der Tora, da das Nasiräatsgesetz ja ein Teil von ihr ist (Num 6). Den religiösen Stellenwert des Nasiräatsgelübdes im hellenistischen Judentum, dem Paulus entstammt, zeigt nicht nur die Bezeichnung μεγάλη εὐχή an (Philo, All 1,17 u. ö.; vgl. ähnlich Num 6,2 LXX), sondern auch seine vielfache Behandlung im Schrifttum Philos (Agr 174-178, Imm 87-90; All 1,17; ausführliche Darlegung des Nasiräatsgesetzes in SpecLeg 1,247-254 im Zusammenhang der Behandlung der Opfergesetze). Allein bei der Übernahme der Ausweihkosten durch Paulus kann gefragt werden, ob sein Verhalten aus „taktischen“ Erwägungen erklärbar ist und seinerseits eine Position zur Tora, ähnlich wie in Act 16,1-5, freilegt. In Act 18,18-22 hingegen kann die Übernahme des Nasiräats kaum anders als durch einen persönlichen Entschluss bedingt erklärt werden. Insofern ist die Erwägung, innerhalb des missionarischen Kanons des Paulus - „den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne“ (1 Kor 9,20a) - sei das Verhalten erklärlich, abwegig, da gar kein Motiv zur Rücksichtnahme erkennbar ist. Vielmehr stoßen wir hier auf eine Grundschicht jüdischer Torafrömmigkeit, die auch nach der Berufung zum Heidenapostel nicht gebrochen wurde. 72 Weshalb aber wird diese Grundschicht in Fragen der Speisegesetze, der Beschneidungs- und Kalenderfragen gebrochen, hier aber offenbar nicht? Grundsätzlich ist Paulus bereit, die bislang Juden und Heiden trennende Größe der Tora als Norm aufzuheben, wo 70 P. Billerbeck, Kommentar II, 748: „Im großen u. ganzen hielt man das Nasiräatsgelübde für ein verdienstliches Werk, durch das man sich das Wohlgefallen Gottes u. die Erfüllung persönlicher Wünsche glaubte sichern zu können.“ 71 H. J. Holtzmann, Die Apostelgeschichte, HC I / 2, Tübingen 3 1901, 133. 72 Einen nicht unwichtigen zusätzlichen Hinweis zur Erklärung der Fortsetzung der Nasiräatsfrömmigkeit liefert O. Böcher, Das Neue Testament und die dämonischen Mächte, SBS 58, Stuttgart 1972, 44: Paulus teilt die Voraussetzung des jüdischen Volksglaubens, demzufolge das Haar apotropäische Kraft hat (vgl. 1 Kor 11,5 f.). <?page no="59"?> Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer 59 sie eine Gemeinschaft von Juden- und Heidenchristen unmöglich macht. Dies ist bei dem Nasiräatsgesetz nicht der Fall, weil das Nasiräat eine individuelle Möglichkeit, nicht aber eine alle verpflichtende Norm ist. Ein Heidenchrist hätte nie ein Nasiräat übernehmen können, da ihm zur Auslösung des Nasiräats der Zugang zum Tempel verwehrt war. Er war freilich auch nicht an diese Form der Selbstweihe gebunden, da ihm andere religiöse Übungen, wie Askese, Gebet und Wohltätigkeit, bereitstanden. Insofern ist das Nasiräat für das Beieinander von Juden- und Heidenchristen irrelevant. Gleichwohl hätte Paulus sich im Rahmen seiner Theologie kritisch zu dem Brauch des Nasiräats verhalten müssen, sobald dieser als Möglichkeit des „Gesetzeseifers“ und des „Rühmens“ in Blick gekommen wäre. <?page no="60"?> 60 Kyrios und Pneuma bei Paulus Kyrios und Pneuma bei Paulus * Ein Blick in die Forschungsgeschichte zur Theologie des Paulus zeigt, dass eine Verhältnisbestimmung von Kyrios und Pneuma an folgenden Vorgaben insbesondere erarbeitet bzw. problematisiert worden ist. 1 Vielfach wurde 2Kor 3,17 als paulinischer Beleg für einen christologischen Geistbegriff oder für ein pneumatisches Verständnis des erhöhten Kyrios angesehen und somit für die paulinische Theologie insgesamt vorausgesetzt. Diese identifikatorische Sichtweise von Kyrios und Pneuma wurde im Umfeld anfänglicher religionsgeschichtlicher Betrachtungsweise des Neuen Testaments auf dem Hintergrund frühchristlicher Kultmystik in den hellenistischen Gemeinden erklärt, es wurden jedoch in dieser Perspektive erhebliche gedankliche Unschärfen in Kauf genommen. Die genannte Textstelle ließ gleichwohl daran festhalten, im Zentrum der paulinischen Christologie eine pneumatische Christusmystik zu sehen. Wahrscheinlich wurde hierbei einem einzelnen Beleg, nämlich 2Kor 3,17, eine recht hohe Bürde aufgeladen, denn etliche Beobachtungen stellen diesen so gewonnenen bzw. behaupteten christologischen Geistbegriff in Frage. Der paulinische Geistbegriff behält mit seiner jüdischen Begriffsgeschichte in den meisten Fällen eine klare Zuordnung zu Gott. Umgekehrt ist in der atl.-jüd. Tradition eine Identität von Messias und endzeitlichem Geist nie bezeugt, selbst von der jüdischen Tradition der endzeitlichen Geistbegabung des Messias macht Paulus keinen Gebrauch. Das Wirken des Geistes kann Paulus wohl als dem Wirken des erhöhten Kyrios entsprechend beschreiben. Es gibt eine gemeinsame Schnittmenge. In den meisten Fällen jedoch ist das Wirken des Geistes und dasjenige Christi unterschiedlichen Bereichen zugeordnet. Da aber die Diskussion immer wieder die wenigen paulinischen Belege, in denen eine Nähe oder gar eine Identität von Kyrios und Pneuma bezeugt ist, in das Zentrum der Betrachtung gerückt hat, soll nach einem begriffsgeschichtlichen Überblick mit einer Analyse dieser Texte eingesetzt werden. 1 Die knappen Hinweise bei I. Hermann, Kyrios und Pneuma. Studien zur Christologie der paulinischen Hauptbriefe, StANT 2, München 1961, 17-20, geben einen Überblick, verweisen aber auch auf erste Aporien: „Die Frage, ob bei dieser Identifikation das Pneuma personal vorgestellt sei, wird von den meisten Autoren dieser Auslegungsrichtung stillschweigend offen gelassen“ (18); außerdem K. Stalder, Das Werk des Geistes in der Heiligung bei Paulus, Zürich 1962, 19-24; F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, FRLANT 154, Göttingen 1992, 324-326 (Lit.! ). * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Kyrios und Pneuma bei Paulus, in: Udo Schnelle / Thomas Söding (Hg.), Paulinische Christologie, Exegetische Beiträge. Hans Hübner zum 70. Geburtstag, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 59-75. <?page no="61"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 61 1. Zur Begriffsgeschichte Der Sprachgebrauch des Paulus bezüglich des πνεῦμα zeigt überwiegend eine theologische Zuordnung oder Ausrichtung an. Dies ist zunächst erkennbar in folgenden Wortverbindungen. 2 a. τὸ πνεῦμα (τοῦ) θεοῦ bzw. αὐτοῦ: Röm 8,9. 11. 14; 15,19 ( v. l. ); 1Kor 2,11. 12. 14; 3,16; 6,11; 7,40; 12,3; 2Kor 3,3; Phil 3,3. b. b)τὸ πνεῦμα (τὸ) ἅγιον: Röm 5,5; 9,1; 14,17; 15,13.16; 1Kor 6,19; 12,3; 2Kor 6,6; 13,13; 1Thess 1,5.6; 4,8 c. c)τὸ πνεῦμα ἁγιωσύνης: Röm 1,4. Bei τὸ πνεῦμα (τὸ) ἅγιον (vgl. Jes 63,10 f; Ps 50,13; 142,10 v. l. ; Dan 5,12; PsSal 17,37; Sus 45 Theod; außerdem IQS III 7; IV 21; IX 3 u. a.) und τὸ πνεῦμα ἁγιωσύνης (vgl. TestLev 18,11) lässt die atl.-jüd. Vorgeschichte beider Begriffe an nichts anderes als an theologischen Sprachgebrauch denken. Vom Kontext her ist theologischer Sprachgebrauch bei folgenden absoluten Verwendungen von τὸ πνεῦμα gegeben: Röm 8,11. 16. 23.26; 15,30; 1Kor 2,4. 10. 13; 12,13; 2Kor 1,22; 3,8; 4,13; 5,5; 11,4; Gal 3,2. 5. 14; 5,5. 16. 22.25; 6,8; Phil 1,27; 2,1; 1Thess 5,19; evtl. in theologischem Sinn Röm 12,11. Die absolute Verwendung von πνεῦμα entzieht sich häufig einer präzisen Zuordnung. Sie fungiert als Gegenbegriff zu γράμμα (Röm 2,29; 7,6; 2Kor 3,6), ἁμαρτία (Röm 8,2), σάρξ (Röm 8,4.5.6.9; 1Kor 6,16 f; Gal 3,3; 4,29; 5,16.17), σῶμα (evtl. Röm 8,10.13), νόμος (Gal 5,18). Gott gegenüber, aber auch vom menschlichen Geist zu unterscheiden, steht τὸ πνεῦμα in Röm 8,27; 1Kor 2,10; 12,4.7.8. 9. 11; 14,2. Der Plural πνεύματα steht für charismatische Äußerungen (Prophezeiungen) in 1Kor 12,10; 14,12.32. Wenige Male ist ein eindeutig anthropologischer Sprachgebrauch gegeben: τὸ πνεῦμα μου/ αὐτοῦ (Röm 1,9; 1Kor 14,14. 15. 16; 16,18; 2Kor 2,13; 7,13), τὸ πνεῦμα ἡμῶν / ὑμῶν (Röm 8,16; Gal 6,18; Phil 4,23, Phlm 25), τὸ πνεῦμα (τοῦ) ἀνθρώπου (1Kor 2,11); πνεῦμα in Verbindung mit σῶμα (1Kor 7,40), σάρξ (2Kor 7,1) oder neben ψυχή und σῶμα (1Thess 5,23); absolutes τὸ πνεῦμα (evtl. in anthropologischem Sinn Röm 12,11; 1Kor 5,5; 2Kor 12,18). Schließlich sind folgende Verbindungen zu benennen, in denen πνεῦμα in der Regel durch einen Genitiv der Sache näher beschrieben wird: τὸ πνεῦμα δουλείας bzw. υἱοθεσίας (Röm 8,15), τὸ πνεῦμα κατανύξεως (Röm 11,8), τὸ πνεῦμα τοῦ κόσμου (1Kor 2,12), ἐν ἀγάπῃ πνεύματι (1Kor 4,21), ἐν πνεύματι πραΰτητος (Gal 6,1). 2 Vgl. auch die Zusammenstellung bei W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. K. Aland und B. Aland, Berlin u. a. 1988, 1355-1361. <?page no="62"?> 62 Kyrios und Pneuma bei Paulus Natürlich ist im Einzelnen manche Zuordnung strittig. Die Differenz zwischen dem theologischen und dem anthropologischen Sprachgebrauch ist nicht immer präzise auszumachen, insofern die Gabe des Geistes Gottes an die Glaubenden diese zu Geistbegabten, zu πνευματικοί (1Kor 2,13.15; 3,1; 12,1; 14,37; Gal 6,1) gemacht hat. Gegenüber diesem theologischen Sprachgebrauch und Wortfeld sind Zuordnungen von πνεῦμα zu Kyrios bzw. Jesus Christus selten, begrifflich uneinheitlich, und die Interpretation der wenigen Belege ist in ihrem jeweiligen Kontext zudem noch ausgesprochen unsicher. Es sind dies: Röm 8,9 (εἰ δέ τις πνεῦμα Χριστοῦ οὐκ ἔχει), 1Kor 15,45 (ὁ ἔσχατος Ἀδὰμ εἰς πνεῦμα ζῳοποιοῦν), 2Kor 3,17a (ὁ δὲ κύριος τὸ πνεῦμά ἐστιν), 2Kor 3,17b (οὗ δὲ τὸ μνεῦμα κυρίου, ἐλευθερία), 2Kor 3,18 (καθάπερ ἀπὸ κυρίου πνεύματος), Gal 4,6 (τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ) und Phil 1,19 (τὸ πνεῦμα Ἰησοῦ Χριστοῦ). In einem weiteren Umfeld wären noch Röm 8,15 (πνεῦμα υἱοθεσίας) und 1Kor 6,17 (ὁ δὲ κολλώμενος τῷ κυρίῳ ἓν πνεῦμά ἐστιν) zu bedenken. Die Frage nach dem Verhältnis von Christologie und Pneumatologie bei Paulus darf aber nicht auf die Auslegung dieser wenigen im Verhältnis zu der überwiegend theologischen Ausrichtung geradezu peripheren christologischen Belege reduziert werden. 3 Es stellt sich doch grundsätzlich die Frage, wie Paulus die Wirksamkeit des erhöhten Kyrios in ihrem Verhältnis zur Wirksamkeit des der christlichen Gemeinde übereigneten und des in ihrer Mitte zugleich frei wirkenden Geistes Gottes sieht. Ist sie als voneinander unabhängig zu denken, oder bietet Paulus Ansätze für einen christologischen Geistbegriff, der freilich über die wenigen genannten Belege allein nicht zu erfassen ist? 4 Es sollen nun in einem ersten Schritt die wenigen direkten Zuordnungen von Kyrios, Sohn Gottes, letzter Adam bzw. Jesus Christus und πνεῦμα in gebotener Kürze und unter Berücksichtigung der neueren Forschung analysiert werden. 5 3 Der verdienstvollen Arbeit von I. Hermann, Kyrios, ist diese Kritik nicht ganz zu Unrecht vorgehalten worden. Hier heißt es auf S. 50 zu 2Kor 3,17: „Demnach ist Vers 17a der locus classicus, der das Verhältnis von Kyrios und Pneuma beleuchtet. Hier wird deutlich, was sich im weiteren Verlauf der Untersuchung immer wieder ergeben wird: das Wirken des Erhöhten ist nur zu verstehen als ein Wirken mittels des Pneuma. Wo der Geist erfahren wird, da wirkt Christus selbst durch sein Pneuma im Inneren des Menschen.“ 4 Diese Fragestellung wird von einer ihr entsprechenden anthropologischen Problematik begleitet. Ist der in der Taufe den Glaubenden verliehene Geist Gottes so sehr an die neue Existenz der Christen gebunden, dass diese jetzt als das ‚Selbst der Glaubenden‘ anzusprechen ist, oder bleibt eine Freiheit des Geistes Gottes bzw. Christi im Gegenüber zu den Glaubenden; dazu S. Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden, in: ZThK 93 (1996) 163-192. 5 Grundsätzlich verweise ich zur Behandlung des Themas auch auf den Exkurs ‚Zum Verhältnis von Kyrios und Pneuma in der paulinischen Theologie‘, in F. W. Horn, Angeld, 324-345. In diesem Exkurs werden auch weitere Literatur und die religionsgeschicht- <?page no="63"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 63 2. Die direkten Zuordnungen von κύριος, υἱὸς θεοῦ, ἔσχατος Ἀδάμ bzw. Ἰησοῦς Χριστός und πνεῦμα in den paulinischen Briefen Die Variabilität der christologischen Bezeichnungen steht der These einer klaren Identität von Kyrios und Pneuma durchaus im Wege. Daher ist zu vermuten, dass die Zuordnung zum Pneuma von einer spezifischen christologischen Aussageabsicht aus, wie sie in den unterschiedlichen Titeln und ihrer kontextuellen Verwendung zum Ausdruck kommt, vollzogen wird. 2.1 „Wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, ist dieser nicht sein“ (Römer 8,9c) Dieser geradezu juridisch 6 wirkende Satz steht zu dem ihn umgebenden Kontext in einer gewissen Spannung. Paulus erwähnt erstmals das πνεῦμα Χριστοῦ, während er in V. 9a.10b.11a entweder den absoluten (theologischen) Gebrauch bevorzugt oder in V.9b eindeutig vom πνεῦμα θεοῦ bzw. in V. 11b αὐτοῦ spricht. Sodann führt V. 9c einen Einzelfall an (τις), während der Kontext die Gesamtgemeinde anspricht. Schließlich differiert in den mit εἰ δέ eingeleiteten Sätzen (V. 9c.10.11) allein in V. 9c die syntaktische Struktur von derjenigen in V.10 und V.11, insofern in V. 9c das Subjekt nicht wechselt. Daher ist V. 9c nicht ohne Grund schon aus formalen Gründen als ein Traditionssplitter 7 oder als ein literarkritisch gesondert zu behandelndes Stück 8 betrachtet worden. Die Interpretation der knappen Aussage hat zunächst zu bedenken, dass dieser Satz nur sinnvoll ist als Unterscheidungsmerkmal innerhalb der christlichen Gemeinde. Οὐκ αὐτοῦ εἶναι heißt so viel wie ‚gehört nicht zu Christus‘, setzt also Strittigkeit darüber voraus, wer zu Christus gehört. Die Christuszugehöriglichen Probleme einer Geistchristologie bedacht. Außerdem: R. Penna, Lo Spirito di Cristo, SRivBib 7, Brescia 1976; C. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 79-82 (Exkurs: Christus und der Geist). 6 E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 4 1980, 215, erkennt „die Struktur der Feststellungen heiligen Rechts“; P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 1989, 112, verweist auf die Unterscheidung „in juristischer Präzision zwischen Christen und Nichtchristen. 7 O. Michel, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 4 1966, 192, erkennt eine von Paulus hier eingefügte Scheideformel. Der Verweis auf die Parallelen in 1Kor 16,22; Did 10,6 und auf die Abendmahlsliturgie wollen auf einen Sitz im Leben des Gemeinderechts deuten; ausführlicher in diesem Sinn jetzt K. Niederwimmer, Die Didache, KAV I, Göttingen 1989, 202-205. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2. Röm 6-11, EKK 6 / 2, Zürich / Neukirchen-Vluyn (1980) 3 1993, 131, vermutet eine gottesdienstliche Exkommunikationsformel. 8 Nach W. Schmithals, Der Römerbrief. Ein Kommentar, Gütersloh 1988, 269, sprengt der Versteil den lehrhaften Charakter des Traktats. Daher handle es sich um einen brieflichen Zusatz des Paulus im Zusammenhang mit der Abfassung seines Schreibens nach Rom. <?page no="64"?> 64 Kyrios und Pneuma bei Paulus keit kann unterschiedlich festgestellt oder proklamiert werden (sakramental: Gal 3,26-28; homologisch: Röm 10,9; 1Kor 12,1-3). Hier nun wird der Besitz des Geistes Christi zum Erkenntnisbzw. zum Ausschlusszeichen gemacht, kaum gegenüber Außenstehenden, für die diese Formel doch sehr voraussetzungslos wäre, vielmehr innerhalb der christlichen Gemeinde. Oder wird erklärt, dass nicht Geistbesitz an sich, wie immer er sich im paganen Raum etwa durch Glossolalie, Prophetie oder thaumaturgische Gaben artikulieren mag, in die Christuszugehörigkeit stellt, sondern dass eben dies erst das spezifische und unterscheidende πνεῦμα Χριστοῦ vollzieht? 9 Weshalb aber wird dann eben dieses πνεῦμα Χριστοῦ genannt und nicht, wie im umgebenden Kontext, das πνεῦμα θεοῦ? Es bleibt m. E. erwägenswert, diese Formel mit den Enthusiasten in Korinth in Verbindung zu bringen. Dass unter ihnen vom πνεῦμα ἔχειν gesprochen wurde, erweist die polemische Aufnahme in 1Kor 7,40. Auch die in Korinth vollzogene Unterscheidung innerhalb der Gemeinde zwischen πνευματικοί und σαρκινοί / σάρκικοι und die πνευματικός-ψυχικός-Antithese zeigen die Tendenz an, die Geistbegabten exklusiv in die Christuszugehörigkeit zu stellen, zumal sie durch die Glossolalie diesen Stand demonstrativ belegen. Allerdings ergibt sich hier das Problem, weshalb Paulus eine Formel, die seinen eigentlichen Intentionen und den Darlegungen im Kontext nicht direkt konform geht, hier zur Sprache bringt. Es ist zunächst festzustellen, dass mit V. 9c der Übergang von dem ἐν πνεύματι εἶναι (V. 9a) über das πνεῦμα ἐν ὑμῖν (V. 9b) zum Χριστὸς ἐν ὑμῖν (V. 10a) semantisch erleichtert wird. Andererseits ist die Beobachtung, zuletzt von Joseph A. Fitzmyer 10 vorgetragen, nicht von der Hand zu weisen, dass Paulus in Röm 8,9-11 die Vielfalt pneumatologischer Beschreibungen bewusst zur Sprache kommen lässt, um die möglichen Dimensionen der Zuordnung zu Gott, Christus und Geist zu benennen. Während bislang V. 9c als im Wesentlichen vorpaulinische Formel betrachtet wurde, erkennt James D. G. Dunn geradezu ein „key element in Paul’s definition of ‚Christian‘“. 11 Mit der Definition des Geistes als des πνεῦμα Χριστοῦ sei „the end point of climax of a long Judeo-Christian attempt to define the Spirit of 9 Dies würde durchaus eine gewisse Parallele zu 1Kor 12,1-3 darstellen, insofern pneumatische Äußerungen an sich mehrdeutig sind und also eines Kriteriums der Unterscheidung bedürfen. 10 F. A. Fitzmyer, Romans. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 33, Doubleday 1993, 481. 11 J. D. G. Dunn, Romans, WBC 38, Dallas 1988, 429. Dunn berührt sich in dieser Einschätzung wieder mit E. Käsemann, Röm, 215: „Jedenfalls handelt es sich um eine der wichtigsten Aussagen paulinischer Theologie und die Grundlage ihrer Paränese.“ <?page no="65"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 65 God“ erreicht. 12 Die Interpretation betont sodann geradezu einen methodistischen Weg: „only those whose lives demonstrate by character and conduct that the Spirit is directing them can claim to be under Christ’s lordship.“ 13 2.2 „Der letzte Adam (wurde) zu einem lebenschaffenden Geist“ (1Kor 15,45b) Im Zusammenhang der Ausführungen über die Modalität der Leiblichkeit der Totenauferstehung (1Kor 15,42-49) führt Paulus in V. 45 ein Schriftzitat (οὕτως καὶ γέγραπται) an, welches im näheren Zusammenhang die vorangehende Aussage, es werde ein σῶμα πνευματικόν auferstehen (V. 44b), begründen soll. Allerdings bezieht sich nur V. 45a auf Gen 2,7 LXX : ἐγένετο ὁ πρῶτος ἄνθρωπος Ἀδὰμ εἰς ψυχὴν ζῶσαν. Aber auch die zweite Vershälfte V. 45b erscheint noch als Schriftzitat, da das Prädikat des ersten Halbsatzes in ihr gelesen werden muss. Sachlich hat V. 45b zum Schriftzitat nur noch einen begrenzten Bezug, insofern der Ausdruck (καὶ ἐνεφύσησεν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτου) πνοὴν ζωῆς durch (ὁ ἔσχατος Ἀδὰμ εἰς) πνεῦμα ζῳοποιοῦν nur entfernt aufgenommen wird. Die Gegenüberstellung von Adam als erstem Menschen und Christus als letztem Adam zielt auf zwei Sachverhalte, die eigentlich inkommensurabel sind. Der erste Adam ist Stammvater der Menschen, insofern er und sie gemeinsam durch die Geschöpflichkeit verbunden sind. Der letzte Adam hingegen ist nicht einfach wie der erste Adam Stammvater, sondern er ist durch seine Auferstehung in die Funktion gesetzt worden, lebenschaffender Geist, πνεῦμα ζῳοποιοῦν, zu sein. Diesem Ausdruck ist jetzt nachzugehen. Erwartet hätte der Leser wohl σῶμα πνευματικόν (vgl. V. 44.46), zumal auch der Abschluss des Gedankengangs in V. 49 deutlich die Gemeinsamkeit des himmlischen Wesens des letzten Adams mit demjenigen der Glaubenden betont und Christus so klar als Stammvater zu erkennen ist. Der Ausdruck πνεῦμα ζῳοποιοῦν begegnet im NT in 1Kor 15,45; 2Kor 3,6; Joh 6,63; 1Petr 3,18, und dies jeweils in einem Kontext, in dem als Gegenbegriffe zu πνεῦμα sowohl σάρξ und ψυχή als auch γράμμα fungieren. Ζῳοποιεῖν als Gottesprädikat („Gott, der die Toten ins Leben ruft“) wird von Paulus in Röm 4,17; 12 J. D. G. Dunn geht ebd. davon aus, dass innerhalb des Judentums keine festen Kriterien zum Verständnis des Geistes erreicht worden sind. Erst innerhalb des Christentums sei Jesus als Kriterium gefunden worden (Apg 16,7; 1Petr 1,11 und die paulinischen Belege). Für die paulinischen Belege gilt diese Identifikation freilich nur in Bezug auf den auferstandenen und erhöhten Christus (430). Wiederum 430: „that Christ and Spirit are perceived in experience as one-Christ known only in and through the Spirit, the Spirit known only as (the Spirit of) Christ.“ 13 J. D. G. Dunn, Röm, 429, der diesen Erweis des gelebten Geistes betont von dem verbalen Bekenntnis oder dem Sakrament absetzt (430). <?page no="66"?> 66 Kyrios und Pneuma bei Paulus 8,11 bezeugt; außerdem im NT : Joh 5,21, vgl. auch 1Tim 6,13 v. l. und Eph 2,5; Kol 2,13 (συζῳοποιεῖν); in der jüdischen Tradition: Ps 71,20; 2Reg 5,7; Neh 9,6; 2. Ben d. Achtzehngebets; JosAs 8,3.9; 12,1; 20,7; Arist 16 u. a. Mit Bezug auf Christus begegnet ζῳοποιεῖν in 1Kor 15,22; 1Petr 3,18 (und nochmals Eph 2,5; Kol 2,13), mit Bezug auf das Gesetz in Gal 3,21, in einem Bildwort in 1Kor 15,36. Es besteht in jüdischer Literatur ein Wortfeld, in dem Gottes Geist und Leben in engem Bezug zueinander stehen: Gen 2,7; 6,17; 7,15; Ez 37,5.9 f; Ps 104,29 f; 2Makk 14,46; Philo, Op Mund 30,6. Der Begriff πνεῦμα ζῳοποιοῦν jedoch ist spezifisch neutestamentlich, 14 die Identifizierung dieses lebenschaffenden Geistes mit dem auferweckten Christus als dem letzten Adam ist ausschließlich in 1Kor 15,45 bezeugt. Die Erklärung dieses Befundes hat ganz analog zu demjenigen in Röm 8,9c auf Vorstellungen innerhalb des pneumatischen Enthusiasmus, wie er in Korinth begegnet, aufmerksam gemacht. 15 Man verweist auf die Singularität der Zuordnung von Christus und lebenschaffendem Geist und auf die präsentische Formulierung, die in einer Spannung zu dem Futur in 1Kor 15,22; Röm 8,11; Phil 3,21 steht. Die zu vermutenden Absichten werden allerdings unterschiedlich beschrieben. Entweder erkennt man einen Bezug auf eine möglicherweise durch Apollos vermittelte hellenistisch-jüdische Auslegungstradition, nach der „Gen. 2,7 soteriologisch als Geburt des Pneumatikers interpretiert“ 16 wird. Oder man vermutet eine Verbindung von Präexistenz-Christologie und Urmensch- Lehre. Christus in geistbegabter Präexistenz verleiht den Pneumatikern den Geist. 17 Wesentlich ist, dass Paulus eine - wie auch immer geartete - Urmensch- Lehre voraussetze und auf den Kopf stelle. Erst der Auferweckte vermittelt den lebenschaffenden Geist! Ἀλλ᾽ οὐ πρῶτον τὸ πνευμτικὸν ἀλλὰ τὸ ψυχικόν, ἔπειτα τὸ πνευματικόν (1Kor 15,46)! Demzufolge geht Paulus auf diese Vorstellung ein, um sie zu korrigieren. Die in dieser Korrektur gegebene Aussage, dass der auferweckte Christus zum lebenschaffenden Geist geworden ist, bleibt eine siguläre, auf 1Kor 15,45 begrenzte Position. Immerhin gilt positiv festzuhalten, 14 Vgl. F. W. Horn, Angeld, 197 f; J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids 1998, 261. 15 Hier ist vor allem auf die Arbeit von G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1 Korinther 15, FRLANT 138, Göttingen 1986, zu verweisen; zuvor bereits B. A. Pearson, The Pneumatikos-Psychikos Terminology in 1 Corinthians. A Study in the Theology of the Corinthian Opponents of Paul and Its Relation to Gnosticism, SBL.DS 12, Missoula 1973. 16 C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Berlin 1996, 409. Zur Interpretation des philonischen Schöpfungsberichts: T. H. Tobin, The Creation of Man: Philo and the History of Interpretation, CBQ.MS 14, Washington 1983. 17 So etwa U. Wilckens, Zu 1Kor 2,1-16; in: Theologia Crucis-Signum Crucis. FS E. Dinkler, hg. von C. Andresen u. G. Klein, Tübingen 199, 501-537. <?page no="67"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 67 dass Paulus sich wennschon, dann überhaupt nur einen christologischen Geistbegriff vorstellen kann, der sich auf den Erhöhten, den Auferweckten bezieht, nicht aber auf den Präexistenten oder den Irdischen. 18 Selbst die im jüdischen Schrifttum recht breit bezeugte Vorstellung der Geistbegabung des Messias wird von Paulus nicht aufgenommen. In Verbindung mit der vermuteten Zuordnung von Röm 8,9c zum Enthusiasmus kann sich allerdings andeuten, dass in diesem Bereich ein christlogischer Geistbegriff bestimmend war. 19 Demgegenüber verzichtet James D. G. Dunn auf eine religionsgeschichtliche Einordnung des Motivbereichs, 20 um 1Kor 15,45 ganz im Sinn einer von Paulus beabsichtigten Zuordnung von Kyrios und Pneuma zu interpretieren. 21 „The implication, then, is that Paul intended to represent the risen Christ as in some sense taking over the role of or even somehow becoming identified with the lifegiving Spirit of God […] So it is hardly surprising that Paul’s bringing of these self-manifestations of God into focus in Christ should include an identification of the Spirit also with Christ.“ Dunn beschreibt eine Tendenz im paulinischen Denken, gemäß der pneumatologische Aussagen durch ihre Zuordnung zu Christus präzisiert oder definiert werden. Er gesteht zu, dass diese Zuordnung nicht Ausdruck einer in sich abgeschlossenen oder auch in ihren Auswirkungen vollständig bedachten angestrebten Konzeption ist. 22 18 So auch C. Wolff, 1Kor, 409; H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief, NEB.NT 7, Würzburg 1984, 119. 19 Demgegenüber hat E. Käsemann vielfach darauf hingewiesen, dass Paulus den Kampf gegen den Enthusiasmus führe, der „im Zeichen der entschlossen christologischen Orientierung der G.lehre“ stehe; vgl. ders., Art. Geist und Geistesgaben im NT, in RGG 3 2 (1959) 1272-1279, 1274. Käsemann hat dies in dem Sinne gemeint, dass die „Gabe, die als solche G. Gottes bleibt […], nicht als unpersönliche Kraft vom Geber ablösbar (sei), sondern gibt diesen selbst“ (ebd.). Es ist jedoch zu fragen, ob Paulus grundsätzlich in eine solche Distanz zu den sog. Schwärmern - in Wahrheit ja Hyperpaulinern - gerückt werden muss, d. h. ob Paulus nicht mit dem christologischen Geistverständnis, das ab der Korintherkorrespondenz in seinen Schriften häufiger belegt ist, auch etwas aufgenommen und ausgebaut hat. 20 Die Arbeit von G. Selllin ist in J. D. G. Dunn, Theology, an keiner Stelle angeführt, ebenso nicht das Buch von B. A. Pearson oder dasjenige von T. H. Tobin, das G. Sellin auf weiten Strecken als Wegweiser benutzt hatte (95 Anm. 61). 21 Neben den Ausführungen in J. D. G. Dunn, Theology, 262 (in § 10.6 The life-giving spirit) ist auf seinen Aufsatz 1 Corinthians 15: 45 - last Adam, life giving spirit, in: Christ and Spirit in the New Testament. FS C. F. D. Moule, hg. von B. Lindars u. S. S. Smalley, Cambridge 1973, 127-141, zu verweisen. 22 Vgl. J. D. G. Dunn, Theology, 264: „Paul’s similarly puzzling conception of the risen Christ’s relationship with the Spirit (closely identified, but not completely), and we can see something at least of the dynamic in conceptuality and worship“. <?page no="68"?> 68 Kyrios und Pneuma bei Paulus 2.3 „Der Herr aber ist der Geist“ (2Kor 3,17a) 2Kor 3,17a ist zu verstehen „als weiterführende Erklärung der vorhergehenden paulinischen Aussage - nicht also als Exegese eines alttestamentlichen Textes.“ 23 Dies bedeutet, dass der Begriff κύριος, aus V. 16 aufgenommen, hier nicht erneut eingeführt und im Sinn einer logischen Identitätsaussage mit πνεῦμα gleichgesetzt werden soll. Vielmehr ist der übergreifende Kontxt in der Auslegung zu bedenken. Die Hinwendung zum Kyrios schenkt Freiheit. Diese besteht nach V. 16 darin, dass das bislang Israel bindende κάλυμμα weggenommen wird. Diese Decke lag auf den Gesichtern (V. 13), auf der Verlesung der Tora (V. 14) und auf den Herzen der Israeliten (V. 15). Die Hinwendung zum Kyrios und ihre Folge, von dieser mehrfachen Decke befreit zu werden, muss nach V. 17 als Ergebnis eines geistgewirkten Geschehens verstanden werden. Da Paulus in 2Kor 3 den Geist als lebenschaffend (V. 6), als zu Herrlichkeit führend (V. 8), und in seiner Funktion, auf menschliche Herzen einzuwirken (V. 3), eingeführt hat, überrascht die Schlussfolgerung seiner befreienden Wirkung in V. 17b nicht. Mit 2Kor 3,17a bekräftigt Paulus somit, dass die Hinwendung zum Kyrios zugleich eine Hinwendung zum Geist Gottes (V. 3) ist, der als lebenschaffender Geist (V. 18) im apostolischen Dienst (V. 8) jetzt auf den Plan tritt. 24 Der Gedanke, dass Paulus an dieser Stelle etwas über eine mögliche Identität von Kyrios (Christus) und Pneuma aussagen will, ist somit abwegig. 25 In V. 16 liegt nicht wirklich ein Zitat aus Ex 34,34a vor, wohl aber eine spezifische Verwendung des alttestamentlichen Textes, auf den sich V. 17 dann 23 I. Hermann, Kyrios, 44; wörtlich übernommen von O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, 75-120, 119 Anm. 259. 24 H. Hübner, Der Heilige Geist in der Heiligen Schrift, in: KuD 36 (1990) 181-207; wieder abgedruckt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze, hg. von A. und M. Labahn, Göttingen 1995, 202-228, 200, betont, dass diese Bekehrungsaussage pikanterweise mit Hilfe der Anspielung auf Ex 34 von Mose selber vorgetragen wird. Die Argumentation in 2Kor 3 insgesamt hat freilich ein Gefälle, welches die pneumatologische Dimension im apostolischen Dienst bekräftigen will. Trefflich Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments 2: Die Theologie des Paulus und ihre neutestamentliche Wirkungsgeschichte, Göttingen 1993, 214, zur Auslegung von 2Kor 3: „Die pneumatologische Dimension gehört zum Wesen des Geistes.“ 25 So auch J. D. G. Dunn, Theology, 422. Im Übrigen scheint Dunn (442 Anm. 51) meine entsprechenden Ausführungen (F. W. Horn, Angeld, 323) missverstanden zu haben. Auch I. Hermann, Kyrios, 50, erkennt „eine existentielle Aussage. Sie redet über das Verhältnis von Kyrios und Pneuma nicht in der Art einer spekulativen Wesensschau, sondern gibt eine Erfahrung wieder“. Daher spricht Hermann von einer existentiellen Aussage, insofern das Wirken des Erhöhten als Wirken des Geistes erfahren wird. <?page no="69"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 69 ja auch mit ὁ δὲ … ἐστιν erklärend bezieht. 26 Die von Paulus eingetragenen Textveränderungen zielen, ohne dies hier näher ausführen zu können, auf den Gedanken einer möglichen Bekehrung Israels zu Christus als dem κύριος. 27 Dies bedeutet notwendig, dass Paulus in V. 16 bei κύριος bereits an Jesus Christus denkt, 28 da er in V. 17 ohne erläuternden Zwischengedanken Kyrios als christologischen Begriff aufnimmt, nun aber pneumatologisch entfaltet. 29 2.4 „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17b) Während bei 2Kor 3,17a gefragt wird, ob Paulus an einer Identifizierung von Kyrios und Pneuma gelegen sei, schießen V.17b.18 diese Möglichkeit sogleich aus, da die Genitivverbindungen das πνεῦμα dem κύριος zubzw. unterordnen. Die Konversion zum Kyrios Christos, von der V. 16 gesprochen hat, stellt in einen neuen Raum (vgl. bereits V. 14: ὅτι ἐν Χριστῷ καταργεῖται). Dieser wird 26 Zum anaphorischen Chrarakter von V. 17a ausführlich: S. J. Hafemann, Paul, Moses, and the History of Israel. The Letter / Spirit Contrast and the Argument from Scripture in 2 Corinthians 3, WUNT 81, Tübingen 1995, 398 f. Die Texte aus Ex 34,34a und 2Kor 3,16 sind in der Forschung oft nebeneinandergestellt und verglichen worden; vgl. zuletzt J. Schröter, Schriftauslegung und Hermeneutik in 2 Korinther 3. Ein Beitrag zur Frage der Schriftbenutzung des Paulus, in NT 40 (1998) 231-275; Hafemann, Paul, 387-407. Es handelt sich im strengen Sinn nicht um ein Zitat (so auch O. Hofius, Gesetz, 119; A. Lindemann, Die biblische Hermeneutik des Paulus. Beobachtungen zu 2Kor 3, in: WuD 23 (1995) 125-151, 142 f; anders etwa D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 114 f; unentschieden H. Hübner, Theologie 2, 213 Anm. 571. Schröter betont im Sinne der Intertextualität die fließenden Übergänge zwischen Zitat und Auslegung (233 Anm. 5 und 273 Anm. 109). Weiterhin ist in der Diskussion strittig, inwieweit Paulus vorgegebenen Mosetraditionen und -auslegungen seiner Zeit folgt (dazu Hafemann, Paul), und in welchem Maße die in seiner Zeit gebräuchlichen exegetischen Methoden ein solches Verfahren wie in 2Kor 3 zulassen (dazu L. L. Belleville, Reflections of Glory. Paul’s Polemical Use of the Moses-Doxa Tradition in 2 Corinthians 3.1-18, JSNT.S 52, Sheffield 1991; dies., Tradition or Creation. Paul’s Use of the Exodus 34 Tradition in 2 Corinthians 3: 7-18, in: C. A. Evans / J. A. Sanders, Paul and the Scriptures of Israel, JSNT.S 83, Sheffield 1993, 165-186. 27 Ausführlich dazu wieder J. Schröter, Schriftauslegung, 267-272 (zuvor bereits ders., Der versöhnte Versöhner. Paulus als Mittler im Heilsvorgang, TANZ 10, Tübingen / Basel 1993, 110-113); A. Lindemann, Hermeneutik, 142-144; O. Hofius, Gesetz, 118-120. Für einen theologischen Gebrauch von κύριος in V. 16 hat sich wiederholt J. D. G. Dunn ausgesprochen; vgl. etwa ders., 2 Corinthians III. 17 - ‚The Lord is the Spirit‘, in : JThS 21 (1970) 309-320. 28 Mit Recht K. Kertelge, Buchstabe und Geist nach 2Kor 3, in: J. D. G. Dunn (Hg.) Paul and the Mosaic Law, WUNT 89, Tübingen 1996, 117-130, 128. 29 Für den christologischen Gebrauch des Begriffs Kyrios in V. 16 vgl. die Ausführungen bei: J. Schröter, Schriftauslegung, 270; A. Lindemann, Hermeneutik, 143; O. Hofius, Gesetz, 119. <?page no="70"?> 70 Kyrios und Pneuma bei Paulus bestimmt als derjenige Raum des Geistes des Kyrios und sodann explikativ als der Raum der Freiheit. Das Stichwort ἐλευθερία ist im bisherigen Duktus der Argumentation zwar noch nicht gefallen, aber es ist durchaus in ihn eingebettet. Dieser ἐλευθερία korrespondiert in V. 12 das Wort παρρησία. Verstehen wir sie als „Offenheit im Reden, d. nichts verschweigt od. verhüllt“, 30 so ist Freiheit die Bedingung solcher Offenheit. 31 Sie findet Verwirklichung durch das πνεῦμα κυρίου und unterscheidet sich im apostolischen Dienst fundamental von dem Verhüllungs- und Täuschungsversuch des Mose, wie Paulus ihn in den vorangehenden Versen beschrieben hat. Was genau mit πνεῦμα κυρίου gemeint ist, ergibt eine Wortfeldanalyse des Begriffs ἐλευθερία. Die Freiheit gehört wesensmäßig zu diesem Raum in Christus (vgl. 1Kor 7,22; Gal 2,4; 4,21-31; 5,1.13; Röm 6,18; 8,2.21), kann von Paulus auf die Freiheit von der Forderung des Gesetzes bezogen werden, 32 ist ursprünglich aber nicht darauf einzugrenzen. Zusätzlich ist zu bedenken, dass Paulus in 1Kor 15,22.45 von der lebenschaffenden Macht des Kyrios, in 2Kor 3,6 von der lebenschaffenden Macht des Geistes gesprochen hat. Vom Motivfeld her lag also eine Nähe hinsichtlich der Wirksamkeit von Kyrios und Pneuma bereit. Der allgemeine Gegensatz von γράμμα und πνεῦμα, von töten und Leben schaffen, wohl angeregt durch die mit Empfehlungsbriefen und betont jüdischem Hintergrund auftretenden Gegner, bestimmt seit 2Kor 3,6 die Argumentation, erfährt aber nach der Digression der V. 7-16 seine christologische und pneumatologische Präzisierung. 2.5 „Wir werden verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit wie vom Geist des Herrn“ (2Kor 3,18) Paulus schließt die Ausführungen ab mit einem Ausblick auf die durch seinen Dienst begründete, ihn den Apostel selbst aber einschließende Verwandlung 33 in die δόξα κυρίου hinein. Diese Christusgemeinschaft ist hier abschließend nicht 30 W. Bauer, Wörterbuch, 1273. 31 Ausführlich S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, FRLANT 147, Göttingen 1989, 282; F. S. Jones, ‚Freiheit‘ in den Briefen des Apostels Paulus. Eine historische, exegetische und religionsgeschichtliche Studie, GTA 34, Göttingen 1987, 61-67. 32 Die Gesetzesfrage wird in 2Kor 3 nicht in den Vordergrund gerückt, obwohl dies von der Vorgabe des Textkomplexes Ex 34 ja möglich gewesen wäre. Nach O. Hofius, Gesetz, 119 f, erwähnt Paulus in 2Kor 3 ausschließlich die verurteilende und tötende Funktion der Tora, nicht aber die in ihr (und auch von Paulus in Gal und Röm anerkannte) Bezeugung des Willens Gottes. 33 J. Schröter, Schriftauslegung, 272, spricht von der „Herstellung der geistgewirkten Gemeinschaft durch das Wirken des διάκονος καινῆς διαθήκης“, was an dieser Stelle doch mit der betonten Zusammenschau mit der Gemeinde (ἡμεῖς δὲ πἀντες) in Spannung gerät. <?page no="71"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 71 von ihrer Begründung im stellvertretenden Tod Jesu Christi her angesprochen, und sie thematisiert auch nicht, was vom vorangehenden Kontext durchaus denkbar gewesen wäre, den Gegensatz zum alten Bund und dem tötenden Buchstaben. Diese Verwandlung ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν geschieht καθάπερ ἀπὸ κυρίου πνεύματος. Die Problematik der Auflösung der beiden den Abschnitt abschließenden Genitive bestimmt die Kommentarliteratur seit jeher. Falls die Übersetzung ‚vom Herrn des Geistes‘ zu rechtfertigen und Herr (= Kyrios) an dieser Stelle auf Jesus Christus zu beziehen ist, dann wäre hier eindeutig ein christologischer Geistbegriff und ein ihm korrespondierendes christologisches Geistverständnis bezeugt. Grundsätzlich werden folgende Möglichkeiten, die beiden Genitive zu interpretieren, diskutiert: 34 1. Es ist πνεῦμα als Gen. obi. von κύριος abhängig (= der Herr, der über den Geist verfügt). 35 2. Das Gen.-Attribut, das dem von einer Präposition abhängigen artikellosen Substantiv folgt, steht gewöhnlich nach (= vom Geist des Herrn). 36 3. Sodann könnte eine Identifizierung in dem Sinne ausgesagt sein, dass πνεύματος eine Apposition im gleichen Kasus (= der Herr, welcher der Geist ist) darstellt, 37 4. oder πνεύματος in Gen. qualitatis ist (= vom Herrn, der seiner Natur nach Geist ist), 38 5. κυρίου ein abhängiger Genitiv von πνεύματος ist (= vom Geist, welcher der Herr ist). 39 6. Schließlich wird erwogen, κυρίου adjektivisch aufzunehmen und an die herrscherliche Stellung des Geistes zu denken. Die Frage, ob κύριος christologisch oder theologisch 40 aufzunehmen ist, entscheidet sich auch an der Gesamtinterpretation der V. 16-18. Da ein Wechsel im Sprachgebrauch nicht anzunehmen ist, ist κύριος durchgehend auf Jesus Christus zu beziehen. 34 Vgl. den Überblick bei V. P. Furnish, 2 Corinthians, AncB 32A, New York 1984, 316. 35 H. Windisch, der zweite Korintherbrief, hg. von G. Strecker, KEK 6, Göttingen 1970, 129: „vom Herrn, der über den Geist verfügt, der ihn sendet, der ihn ausstrahlt“; W. Bauer, Wörterbuch, 1358: „Herr des Geistes“. 36 So F. Blass / A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. Rehkopf, Göttingen 16 1984, § 474.4 Ebenfalls O. Hofius, Gesetz, 116 Anm. 237, der die Figur der Hypallage erkennt. 37 So jetzt wieder A. Lindemann, Hermeneutik, 146. 38 H. Lietzmann, An die Korinther I.II, HNT 9, Tübingen 5 1969, 114 f. 39 Als Hinweis mit Literaturreferenzen bei H. Windisch, 2Kor, 129 f. 40 So zuletzt wieder S. J. Hafemann, Paul, 408. <?page no="72"?> 72 Kyrios und Pneuma bei Paulus Die Frage der Zuordnung der beiden Genitive ist philologisch wohl kaum mit letzter Sicherheit zu entscheiden. Da in V. 17b eindeutig τὸ πνεῦμα κυρίου zu lesen ist, wird Hofius’ Hinweis, dass in V. 18 eine Hypallage vorliegt, die nicht anders als ‚gleichwie vom Geist des Herrn‘ zu verstehen ist, im Recht sein. Der Verwandlungsprozess der Glaubenden auf die δόξα κυρίου hin vollzieht sich in der Macht des Geises Jesu Christi. Der Kyrios ist zwar nicht der Herr des Geistes, aber er wirkt durch den Geist an den Glaubenden. 41 2.6 „Gott sandte den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft Abba, Vater“ (Gal 4,6b) Die Auslegung muss die sematisch und syntaktisch verwandte Aussage in Röm 8,15 mit einbeziehen. Gal 4,6-7a: ὅτι δέ ἐστε υἱοί, ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον, ἀββὰ ὁ πατήρ. ὥστε οὐκέτι εἶ δοῦλος … Röm 8,15: οὐ γὰρ ἐλάβετε πνεῦμα δουλείς πάλιν εἰς φόβον ἀλλὰ ἐλάβετε πνεῦμα υἱοθεσίας ἐν ᾧ κράζομεν· ἀββὰ ὁ πατήρ. Der Kontext bietet weitere Parallelen in einem gemeinsamen Wortfeld (vgl. vor allem Röm 8,17a mit Gal 4,7b). 42 Nach Gal 4,6 ist der Geist des Sohnes Gottes in die Herzen der Glaubenden gesandt worden, und er vollzieht jetzt den Gebetsruf. Nach Röm 8,15 sind die Glaubenden mit dem Geist der Sohnschaft ausgestattet worden, und dieser Geist der Sohnschaft befähigt sie jetzt zum Gebetsruf an den Vater. Beide Verse argumentieren in ihrem Kontext ausgehend von dem rechtlich bedeutsamen Gegensatz Knecht - Sohn in der Relation zum Vater. Nur der Sohn steht in der Erbfolge. Die Argumentation geht allerdings wohl von der Erfahrung und der Faktizität des Rufs ἀββὰ ὁ πατήρ in der christlichen Gemeinde aus. Dieser Gebetsruf verbindet nicht nur unter dem Aspekt seiner Zweisprachigkeit Jesus und die Glaubenden. Er dokumentiert die Gleichstellung von Sohn und Söhnen im Ver- 41 In Phil 3,21 ist Christus das Subjekt der zukünftigen Verwandlung des Niedrigkeitsleibs der Glaubenden in den Herrlichkeitsleib, doch ist auch hier das Handeln Christi mit Hilfe eines Mediums, der ἐνέργεια, gedacht. 42 Vgl. die Ausführungen bei H. Paulsen, Überlieferung und Auslegung in Römer 8, WMANT 43, Neukirchen-Vluyn 1974, 77-106. J. D. G. Dunn, Röm, 452 f, vermutet eine Formel, deren Verbreitung im frühen Christentum weiter reicht und die in Beziehung zum enthusiastischen Gottesdienst steht. <?page no="73"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 73 hältnis zu Gott. Möglich ist dieser Ruf allerdings nur, weil der Geist diesen Ruf erwirkt. Nach Gal 4,6 handelt es sich um den Geist des Sohnes. Hierbei muss es sich nicht notwendig um einen Gebetsruf des historischen Jesus gehandelt haben. Mk 14,36 setzt dies zwar voraus. Allerdings kann dieses Wort und diese Anrede Gottes aus der sich in den Gemeinden verfestigenden Passionstradition auch in den paulinischen Gemeinden bekannt gewesen sein. 43 Die Rückführung des Gebetsrufs auf den Geist des Sohnes lässt hier an der Geist des Erhöhten denken. Denn es ist ja die gemeinsam gesprochene Anrede, die sich im Geist des Sohnes zu den Glaubenden hin Bahn bricht, in der sich ihre Sohnesstellung wiederum dokumentiert. Der Verweis auf den Geist ‚des Sohnes‘ ist in dieser Argumentation allerdings nur ein Hilfsgedanke, um die Verlässlichkeit der Sohnesstellung der Glaubenden nicht allein über die Anrede ἀββὰ ὁ πατήρ, in der sich ja ohnehin schon die Sohnschaft dokumentiert, sondern eben in dem zusätzlichen Verweis auf den diesen Gebetsruf bewirkenden Einfluss des Geistes des Sohnes zu bekräftigen. In Röm 8,15 vernachlässigt Paulus diesen Hilfsgedanken völlig, um von dem Geist der Sohnschaft im Gegensatz zum Geist der Knechtschaft zu sprechen. Insofern aber ist Gal 4,6 kein Beleg für eine von Paulus vorausgesetzte klare Zuordnung von Kyrios und Pneuma. Wohl aber zeigt selbst dieser Hilfsgedanke, dass Paulus die Gemeinschaft von erhöhtem Kyrios und den Glaubenden auf Gott zurückführt, der den Geist seines Sohnes in die Herzen sendet. Es ist nicht der Kyrios Christos, welcher den Gebetsruf pneumatisch aus sich heraussetzt und den Glaubenden übereignet. Der begriffsgeschichtlich benannte theologische Vorbehalt gegenüber einer direkten Zuordnung von Kyrios und Pneuma greift also auch hier. 2.7 „Denn ich weiß, dass dieses mir zum Heil gereichen wird durch euer Gebet und die Unterstüzung des Geistes Jesu Christi“ (Phil 1,19) In der Gefangenschaftssituation weiß sich der Apostel getragen διὰ τῆς ὑμῶν δεήσεως καὶ ἐπιχορηγίας τοῦ πνεύματος Ἰησοῦ Χριστοῦ. In diesem Chiasmus ist also διὰ τῆς ὑμῶν ausschließlich auf δεήσεως zu beziehen, nicht aber auch auf ἐπιχορηγίας. Paulus spricht somit zunächst das Fürbittengebet der Gemeinde an. In der zweiten Hälfte des Chiasmus ist die Zuordnung der einzelnen Glieder strittig. Handelt es sich bei τοῦ πνεύματος Ἰησοῦ Χριστοῦ gleichfalls um einen Gen. subj. zu ἐπιχορηγίας oder ist der Genitiv τοῦ πνεύματος wie in Gal 3,5 (ὁ οὖν ἐπιχορηγῶν ὑμῖν τὸ πνεῦμα) als Gen. obj. aufzunehmen? Der Chiasmus legt 43 Literatur zur Diskussion um den Abba-Ruf und eine Darlegung der wesentlichen exegetischen Diskussion bei G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 458 f. <?page no="74"?> 74 Kyrios und Pneuma bei Paulus den Gen. subj. nahe und lässt bei Ἰησοῦ Χριστοῦ an einen zusätzlichen Genitiv der Zugehörigkeit denken. 44 Neben dem Fürbittengebet der Gemeinde ist, auffälligerweise ihm nachgeordnet, die Ausstattung und Unterstützung durch den Geist angesprochen, und zwar des Geistes Jesu Christi. Der hier angezogene Motivbereich lässt einerseits an die Verbindung von Gemeindegebet, Gabe des heiligen Geistes und Freimut zur Rede in Bedrängnis denken (vgl. Apg 4,29-31), andererseits an die Zusage, dass der heilige Geist stellvertretend für die Bekenner das Zeugnis vor den feindlichen Behörden ablegt (Mk 3,11; Mt 10,20). Handelt es sich bei diesem Motivbereich aber immer um den heiligen Geist bzw. den Geist Gottes, so ist zu fragen, weshalb Paulus hier den Geist Jesu Christi bemüht? Die Hoffnung des Apostels in der Gefangenschaftssituation zielt, was seine persönliche Situation angeht, auf eine Verherrlichung Christi an seinem Leib (1,20-24). Die Christusgemeinschaft im vollen Sinn setzt mit dem Tod, möglicherweise ist hier im Speziellen an den Tod des Märtyrers gedacht, ein. 45 Gegenwärtig erfährt der Apostel die Unterstützung des Geistes als der Kraft, die von dem erhöhten Herrn ausgeht. 46 In dieser pneumatischen Gemeinschaft mit dem erhöhten Kyrios bleibt die Differenz von Kyrios und Pneuma gewahrt, insofern die Vereinigung mit dem Kyrios erst im zukünftigen Tod in einem vollen Umfang geschenkt wird. In Röm 15,30 wird der aus Phil 1,19 bekannte Motivbereich nochmals verwendet. Wiederum in der Situation äußerster Bedrohung ermahnt Paulus durch die Autorität des Kyrios Jesus Christus und durch die Liebe des Geistes zur Fürbitte. Kyrios und Pneuma sind wohl einander zugeordnet, aber es ist ihre Differenz doch gewahrt. 44 So zuletzt auch U. B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11 / I, Leipzig 1993, 57. 45 Zur Auslegung von Phil 1,23 in diesem Sinn und zur Einordnung in die übrigen eschatologischen Aussagen des Paulus: U. B. Müller, Phil, 61-70. 46 Nach J. Gnilka, Der Philipperbrief, HThKNT X / 3, Freiburg u. a. 1968, 66, ist die Unterscheidung von erhöhtem Kyrios und Geist an dieser Stelle nur ein logisches Unternehmen. „Sobald man aber den Kyrios an seinem Handeln an seiner Gemeinde, an seinem Apostel betrachtet, ist die Kraft des Pneumas mit ihm identisch.“ Da Paulus jedoch kaum die Kraft des Pneumas in einem vollen Sinn mit dem erhöhten Kyrios identifiziert hätte, behält die logische Unterscheidung ihren guten Sinn. C. Wolff, 2Kor, 81 Anm. 159, versteht (mit R. Penna, Spirito, 297) den Genitiv possessiv-instrumental: „der Geist Gottes, der in Christus ist und der durch Christus wirkt, bzw. Christus, der lebt und wirkt mittels des Geistes.“ <?page no="75"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 75 3. Ergebnisse und Folgerungen Die wenigen Zuordnungen von Kyrios und Pneuma in den paulinischen Briefen lassen sich nicht von einem spezifischen religionsgeschichtlichen Hintergrund, 47 von einer bestimmten individuellen (Bekehrungserlebnis 48 ) oder gemeindlichen Erfahrung (Kultmystik), einer geprägten alttestamentlich-jüdischen Tradition, auch nicht von einer von Paulus bereits in ihren Umrissen bedachten theologischen Entscheidung erklären. 49 Sie sind auch begrifflich noch nicht fixiert, insofern neben Kyrios auch Sohn, Jesus Christus, Christus und letzter Adam genannt werden. Allerdings bricht Paulus einen ausschließlich theologisch bestimmten Geistbegriff vorsichtig christologisch auf und zeigt eine Tendenz an, in der das Wirken des erhöhten Kyrios mit dem Wirken des Geistes zusammenfallen kann, was konsequenterweise gelegentlich von ‚dem Geist des Herrn‘ sprechen lässt. Hieraus dürfen keine vollständige Identität der Wirkweise, wohl aber spezifische Zuordnungen abgeleitet werden. 50 Möglicherweise sind die heidenchristlichen Gemeinden in dieser Hinsicht Paulus vorangegangen und haben deutlicher im Sinne einer Geist-Christologie gedacht. 51 Mit einem gewissen Recht werden die Scheideformel Röm 8,9c und die Adam-Spekulation hinter 1Kor 15,45b auf den pneumatischen Enthusiasmus in Korinth zurückgeführt. Die Analyse paulinischer Tauftexte macht wahrscheinlich, dass innerhalb des pneumatischen Enthusiasmus die Taufe als der Ort ver- 47 W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth. Eine Untersuchung zu den Korintherbriefen, FRLANT 66, Göttingen 3 1969, 300, betont: „Die Funktionen, die Christus und der Geist ausüben, sind zwar im wesentlichen dieselben, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Christus personhaft grundsätzlich vom Pneuma getrennt ist.“ Demgegenüber sei für die gnostischen Gegner des Paulus in Korinth eine Identifizierung von Christus und Pneuma bestimmend und sie komme in den von ihnen eingetragenen Randglossen 2Kor 3,17 f; 5,16 zum Ausdruck. 48 H. Gunkel, Die Wirkungen des Heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus. Eine biblisch-theologische Studie, Göttingen 3 1909, 91: „Hier in dem Damaskuserlebnis und nur hier allein haben wir den Prototyp jener innigen Verschmelzung von Christologie und Pneumatologie.“ 49 Vgl. zum Folgenden auch F. W. Horn, Angeld, 340-345. 50 So etwa A. Deißmann, Die neutestamentliche Formel ‚in Christo Jesu‘, Marburg 1892, 87: „Alle Arten der Wirkungen des πνεῦμα erscheinen an anderen Stellen als Wirkungen Christi selbst“. Dagegen ist festzuhalten, dass Paulus etwa die Glossolalie und die Heilungsgabe ausschließlich dem Geist zuordnet (1Kor 12,9 f), nicht aber Christus. Auch trennt der Charismenkatalog zwischen Gaben, die Gott, dem Kyrios und dem Pneuma zugeordnet werden. 51 Der älteste paulinische Brief, der 1Thess, kennt ausschließlich einen theologischen Geistbegriff; vgl. F. W. Horn, Angeld, 119-160. Der Befund soll angesichts der Kürze des Schreibens nicht überbewertet werden. Gleichwohl zeigt er an, dass Paulus die pneumatologischen Aussagen dieses Briefes nicht von einer Geist-Christologie her entwirft. <?page no="76"?> 76 Kyrios und Pneuma bei Paulus standen wurde, diesem pneumatischen Christus übereignet zu werden. 52 Paulus hat einerseits diese Aussagen übernommen, wenn auch mit einer gewichtigen Korrektur: nicht der präexistente, auch nicht der irdische Kyrios, sondern der auferweckte und erhöhte Herr ist von Gott in diese Funktion, lebenspendender Geist zu sein, eingesetzt worden. 53 Andererseits aber bietet das Verständnis des Sakraments einen wichtigen Impuls für die positive Zuordnung von Kyrios und Pneuma. 54 Die Taufe übereignet den Geist (2Kor 1,21 f) und überführt die Glaubenden in den Christusleib (1Kor 12,13; Gal 3,27). Der Abendmahlskelch gilt als geistliches Getränk (1Kor 10,4; 12,13) und ist zugleich Blut Christi (11,25). Ab der Korintherkorrespondenz sind Korrespondenzformulierungen belegt. Sie beziehen sich auf Wirkungen, die gleichzeitig vom Pneuma und vom Kyrios ausgesagt werden (vgl. 1Kor 6,11 mit Gal 2,7; 1Kor 12,9 mit Röm 6,23; 1Kor 12,3 mit 2Kor 2,17; 2Kor 3,6 mit 1Kor 15,22 u. ö.) und auf Glaubensaussagen, die sich auf den Kyrios und das Pneuma gleichermaßen beziehen (vgl. Röm 8,26 f mit Röm 8,34; Phil 4,1 mit Phil 1,27; Phil 3,1 mit Röm 14,17; 1Kor 1,9 mit 2Kor 13,13; 1Kor 1,2 mit Röm 15,16; Phil 4,7 mit Röm 14,17 u. ö.). Vor allem sind natürlich die Inexistenz-Aussagen zu bedenken, die ein Sein der Glaubenden im Kyrios (Röm 8,10; 1Kor 1,30) und im Geist (Gal 5,25; Röm 8,10) aussagen. 55 Motiv- 52 Vgl. hierzu die Analyse der vorpaulinischen Tauftraditionen bei U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, GTA 24, Göttingen 2 1986, 33-106. 53 Vgl. die entsprechende Aussage in 2Kor 13,4. In der Kritik der vorgegebenen Position und in der Grundsätzlichkeit der Formulierung stellt 1Kor 15,45 gegenüber 2Kor 3,17 die weitaus bedeutendere Position des Paulus zum Thema dar. Wird der erhöhte Kyrios in die Funktion des lebenschaffenden Geistes eingesetzt und mit ihm identifiziert, dann ist hier doch eine Grundlage gefunden, das Wirken des Erhöhten und das Wirken des Geistes zueinander in Beziehung zu setzen. 54 Mit Recht I. Hermann, Kyrios, 84: „Die paulinische Tauftheologie leistet damit einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses von Kyrios und Pneuma.“ 55 S. Vollenweider hat in seiner Rezension von F. W. Horn, Angeld, in ThLZ 120 (1995) 147-150, gesagt: „Die Rekonstruktion der urchristlichen Theologiegeschichte wird enorm erschwert, wenn man nicht vom Bewußtsein der Glaubenden, bereits jetzt kraft der Taufe vom endzeitlichen Geist Gottes begabt zu sein, und von der Perichorese von Geist und Christus, ausgehen kann“. In ders., Geist Gottes, 173 f, heißt es: „Man wird die Perichorese von Christus und Pneuma zu einem sehr alten Bestand der christlichen Traditionsbildung rechnen können und wird hierfür insbesondere auf die theologische Nötigung verweisen, die Unbestimmtheit des Geistes christologisch zu qualifizieren und umgekehrt die Entzogenheit von Jesus Christus für seine Gegenwart im Geist aufzuschließen.“ Vollenweider geht damit m. E. hinter den Diskussionsstand meiner Arbeit zurück. Ich habe (324-345) versucht, die Perichorese nicht einfach für die Frühzeit des Christentums zu postulieren, sondern aufzuzeigen, aus welchen leitenden Interessen sie sich durchsetzte, habe mich auch der Sicht Käsemanns, Geist, 1274, angeschlossen, dass ab der Auseinandersetzung mit dem Enthusiasmus in Korinth für Paulus eine offenere Zuordnung von Kyrios und Geist zu konstatieren sei. Eine „Evolutionshypothese“ (149) <?page no="77"?> Kyrios und Pneuma bei Paulus 77 geschichtlich kann man diese strukturellen Gemeinsamkeiten und funktionalen Übereinstimmungen zwischen Kyrios und Geist als Varianten der Tätigkeit von Mittelwesen zwischen Gott und Mensch verstehen. 56 Die analysierten Texte haben gezeigt, dass die Explikation des Heilsgeschehens Paulus in 1Kor 15,45b, 2Kor 3,17 f; Gal 4,6 und Phil 1,19 dahin bringt, die Wirkung des Kyrios und diejenige des Pneuma zueinander in Beziehung zu setzen, was auch in dem Begriff ‚der Geist des Herrn‘ zum Ausdruck kommt. Es geht hierbei nie um seinsmäßige Aussagen, 57 sondern jeweils um das Wirken des Geistes bzw. des Kyrios, nämlich um die lebenschaffende Kraft, um die Gewährung der Freiheit, um die Sohnschaft und die Ermöglichung des Gebets, um die Unterstützung in der Notlage. Das Wirken des Geistes wird vom Wirken des Kyrios her verstanden. 58 Paulus ist jedoch nicht den Weg gegangen, Kyrios und Pneuma ineinander aufgehen zu lassen. 59 Dem standen etwa der personale Vorbehalt des christologischen Rekurses auf das Heilsgeschehen am Kreuz und des Ausblicks auf Christus als Richter (1Kor 1,8; 2Kor 5,10) entgegen. 60 Auch die binitarischen (1Kor 6,11; Röm 15,30) und trinitarischen Aussagen (1Kor 12,4-6; 2Kor 13,13) halten an einer Differenz von Kyrios und Pneuma fest. oder einen „Evolutionsprozeß“ (149) habe ich allerdings nicht bieten wollen, wie denn auch diese Wörter in meiner Arbeit nie begegnen. Das Postulat ‚sehr alt‘ und die Kategorie ‚theologische Nötigung‘ führen zu einem unhistorischen Urteil. Nach W. Pannenberg, Art. Christologie II, in: RGG 3 I (1957) 1762, ist noch im nachapostolischen Zeitalter der Gedanke, „daß der göttliche Geist sich in Jesus verkörpert habe“, eine „mehr oder weniger unbestimmte Vorstellung“. 56 K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen u. a. 1994, 51 f. 57 Wichtiger Hinweis von H. Hübner, Theologie 2, 214 Anm. 572, in der Auslegung von 2Kor 3,17. 58 Ähnlich akzentuiert auch J. D. G. Dunn, Jesus and the Spirit. A Study of the Religious and Charismatic Experience of Jesus and the First Christians as Reflected in the New Testament, London 1975, 324. 59 So erkennt J. Weiß, Das Urchristentum, hg. von R. Knopf, Göttingen 1917, 303, eine pantheisierende Auflösung und Entpersönlichung von Christus. 60 Anders H. J. Holtzmann, Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie 2, hg. von A. Jülicher und W. Bauer, Tübingen 1911, 88, der eine zunehmende Entpersönlichung des Christusbegriffs in die Christusmystik hinein erkennt; dagegen mit Recht auch G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments. Bearb., erg. u. hg. v. F. W. Horn, Berlin u. a. 1996, 128 Anm. 8. <?page no="78"?> 78 Die letzte Jerusalemreise des Paulus Die letzte Jerusalemreise des Paulus * 1 Einleitung Die jüngere Paulus-Forschung hat die Interdependenz von Biographie und Theologie betont und über deren möglichst präzise Wahrnehmung einen neuen Zugang zu Paulus gesucht. 1 Hier ist etwa zu erinnern an etliche Arbeiten zum vorchristlichen Paulus, die sich um eine detailreiche Verortung der jüdischen Existenz des Apostels und ihrer bleibenden Bedeutung für die christliche Theologie bemühen. 2 Es ist zu verweisen auf Untersuchungen über die Anfänge der apostolischen Wirksamkeit zwischen der Zeit in Damaskus und dem Wechsel nach Antiochia, in denen der Einfluss der frühchristlichen Theologie auf Paulus erarbeitet wird. 3 Sodann liegen eine Reihe hervorragender Arbeiten zu den 1 H. Hübner, Art. Paulus I, TRE 26 (1996), 133-153, rät, „die weithin übliche Darstellungsweise der Einteilung in einen biographischen und einen theologischen Teil aufzugeben“ (134). Durchgeführt hat Hübner diese Vorgabe in ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2: Die Theologie des Paulus, Göttingen 1993. Die forschungsgeschichtlichen Voraussetzungen dieser Fragestellung sind hier nicht nachzuzeichnen. Freilich ist dieser Ansatz keineswegs Allgemeingut der Paulus-Forschung geworden. J. D. G. Dunn, Prolegomena to a Theology of Paul, NTS 40 (1994), 407-432, bes. 432; ders., The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids / Cambridge 1998, entwirft eine Darstellung, die recht unbeeindruckt von den biographischen Bedingtheiten argumentiert und eine Orientierung an der Vorgabe des Römerbriefs wieder das Wort redet; vgl. die Besprechung von H. Löhr in VuF 44 (1999), 78-83. 2 M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, ThBeitr 21 (1990), 174-195; ders., Der vorchristliche Paulus, in: M. Hengel und U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991, 177-291; K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, WUNT 62, Tübingen 1992; zu beiden Werken: F. W. Horn, Saulus. Neuere Arbeiten zum vorchristlichen Paulus, ZRGG 46 (1994), 65-69. Außerdem jetzt: K. Haacker, Paulus. Der Werdegang eines Apostels, SBS 171, Stuttgart 1997 (Lit.! ); ders., Zum Werdegang des Apostels Paulus. Biographische Daten und ihre theologische Relevanz, ANRW II 26 / 2, Berlin / New York 1995, 815-938 und 1924-1933. Eine erste Skizze findet sich in ders., Die Berufung des Verfolgers und die Rechtfertigung des Gottlosen. Erwägungen zum Zusammenhang zwischen Biographie und Theologie des Apostels Paulus, ThBeitr 6 (1975), 1-19. 3 M. Hengel und A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, mit einem Beitrag von E. A. Knauf, WUNT 108, Tübingen 1998; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71, Tübingen 1994. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Die letzte Jerusalemreise des Paulus“, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York: Walter de Gruyter, 2001, S. 15-35. <?page no="79"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 79 jeweiligen Stätten der paulinischen Missionsarbeit, ihren jeweiligen Bedingungen und Möglichkeiten vor. 4 Schließlich nenne ich die Aufmerksamkeit für alle Fragen zur Chronologie des Paulus als Voraussetzung zum Verständnis der Theologie. 5 Während aber bislang vornehmlich die Anfänge der paulinischen Wirksamkeit dieser Fragestellung, theologische Positionen von ihrem biographischen Hintergrund her zu erhellen, ausgesetzt wurden, werden Arbeiten zum Ende des Paulus auf einem entsprechenden Niveau vermisst. 6 Dieser Sachverhalt ist nicht der Quellenlage anzulasten. Während für die Zeit des vorchristlichen Paulus und für die Zeit seiner Wirksamkeit vor der ersten Missionsreise nur wenige Quellen zur Verfügung stehen, wird das Ende des Paulus - der Tod des Paulus und die auf ihn hinführenden und ihn verursachenden Faktoren - in etlichen neutestamentlichen und frühchristlichen Texten angesprochen, zumindest aber reflektiert. Unter ihnen wiederum befinden sich mehrere Selbstzeugnisse des Paulus. Allerdings kulminieren hier die historischen und theologischen Probleme, die je für sich wohl öfters angesprochen worden sind, einer wirklich gründlichen Zusammenschau aber noch entbehren. Nach Röm 15,22-33 tritt Paulus eine Jerusalemreise an, die der Übergabe der in den heidenchristlichen Gemeinden gesammelten Kollekte an die Jerusalemer Urgemeinde dient, jedoch mit der Befürchtung, diese Kollekte werde von der judenchristlichen Gemeinde nicht angenommen, und der Angst vor 4 Exemplarisch seien genannt die Arbeiten zu Philippi: L. Bormann, Philippi, Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden u. a. 1995; P. Pilhofer, Philippi. I. Die erste christliche Gemeinde Europas, WUNT 87, Tübingen 1995. Ebenso die Arbeiten zu Ephesus: W. Thiessen, Christen in Ephesus. Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe, TANZ 21, Tübingen / Basel 1995; M. Günther, Die Frühgeschichte des Christentums in Ephesus, ARGU 1, Frankfurt a.M. u. a. 1995; R. Strelan, Paul, Artemis and Jews in Ephesus, BZNW 80, Berlin / New York 1996. Es gibt weitere Untersuchungen zum Thema. Sie werden von E. J. Schnabel, Die ersten Christen in Ephesus. Neuerscheinungen zur frühchristlichen Missionsgeschichte, NT 41 (1999), 349-382, besprochen. 5 G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel I: Studien zur Chronologie, FRLANT 123, Göttingen 1980, 6, kündigte eine Darlegung der paulinischen Theologie an, die sich an der Rekonstruktion der Chronologie des Paulus orientiert. U. Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 139, Stuttgart 1989, 91, betont: „Die Wandlungen im paulinischen Denken verdeutlichen, dass die Theologie des Apostels nicht auf einmal ‚da‘ war.“ 6 Der TRE-Artikel von Hübner, Paulus, der der bereits angesprochenen Interdependenz grundsätzlichen Charakter zum Verständnis Pauli zuweist, bedenkt diese Zusammenhänge im Kontext des Endes des Apostels an keiner Stelle. Symptomatisch scheint die Auskunft bei G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 1969, 120: „So verlieren sich die Schicksale seiner letzten Lebensjahre bis zu seinem Ende im Dunkel.“ Eine Ausnahme stellt der die Quellenlage referierende und die historischen Wahrscheinlichkeiten sauber abwägende Abschnitt bei K. H. Schelkle, Paulus. Leben - Briefe - Theologie, EdF 152, Darmstadt 1981, 69-71, dar. <?page no="80"?> 80 Die letzte Jerusalemreise des Paulus der Feindschaft der jüdischen Gemeinde. Der Bericht der Apostelgeschichte benennt wohl die Umstände, die nach der Ankunft in Jerusalem zur Festnahme des Paulus geführt haben, verschweigt dem Leser aber den Ausgang des langwierigen und in allen Sachfragen (Anklagegrund, Zuständigkeit der Behörden, Appellationsrecht) ungenau beschriebenen Prozesses gegen Paulus, obwohl im Handlungsgang der Apostelgeschichte bereits in Act 20,25 ein deutlicher Hinweis auf das Ende des Paulus gegeben worden ist. Dieses relativ offene Ende der Apostelgeschichte lässt Fragen aufkommen: Hat Paulus in Rom noch wirksam sein können? Hat er hier möglicherweise den Philemon- 7 und Philipperbrief 8 oder zumindest Teile dieses letzteren Schreibens und auch den 2. Timotheusbrief 9 diktieren können? Ist 2 Tim 4,16 f., selbst wenn der Brief kein authentisches Schreiben des Paulus sein sollte, „ein uraltes Zeugnis für die Befreiung des P. aus seiner sonst bekannten römischen Gefangenschaft und eine erfolgreiche Wiederaufnahme seiner Missionsthätigkeit im Occident“ 10 ? Wie wäre der Phi- 7 Während fast alle neueren Kommentare (Stuhlmacher, Lohse, Gnilka, Wolter, Binder, Lampe) für eine Abfassung in Ephesus votieren, ordnet U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 3 1999, 159 f. (und Anm. 440), den Philemonbrief dem Philipperbrief nach, aber beide in die römische Gefangenschaft. Es ist im Fall einer Abfassung des Philipperbriefs in römischer Gefangenschaft ein nicht unwichtiger Aspekt für die weitere paulinische Chronologie und also für das Thema Das Ende des Paulus mitzubedenken. Da Paulus in Phil 2,24 die Zuversicht ausspricht, „er werde bald nach Philippi kommen“, wäre folglich ein positiver Ausgang der Haftsituation und ein Freispruch durch kaiserliches Urteil erwartet. Es wäre aber zugleich der noch in Korinth bei der Abfassung des Römerbriefs ausgesprochene Wunsch, über Rom nach Spanien zu reisen (Röm 15,28), aufgegeben, zumindest aber „verschoben“ worden (so Schnelle, Einleitung, 147). 8 Lüdemann, Paulus I, 142 Anm. 180, erwägt die Abfassung in römischer Gefangenschaft, auch weil die Kollekte - sie scheint vor der letzten Jerusalemreise beendet worden zu sein - keine Erwähnung mehr findet. Ausführlich jetzt wieder zur römischen Gefangenschaft als dem Abfassungsort des Phil: Schnelle, Einleitung, 146-148; P. Wick, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefs als Schlüssel zum Verständnis des Inhalts, BWANT 135, Stuttgart 1994, 182-185. Allerdings wird die ephesinische Abfassung des Phil weitaus häufiger vertreten: vgl. nur den Überblick bei H. Balz, Art. Philipperbrief, TRE 26 (1996), 504-513, 508. 9 M. Prior, Paul the Letter-Writer and the Second Letter to Timothy, JSNT.S 23, Sheffield 1989, 61-90, nimmt eine Freilassung aus der römischen Gefangenschaft und Abfassung des 2 Tim in Rom an. 10 So Th. Zahn, Art. Paulus, der Apostel, RE 15 ( 3 1904), 61-88, 86. Ohne die Diskussion hier vorwegnehmen oder gar abschließen zu wollen, sei doch auf folgende Literatur hingewiesen: Die wesentlichen Textbelege und Argumente, die für die Fixierung der Abfassungssituation des 2 Tim heranzuziehen sind, hat M. Dibelius, Die Pastoralbriefe, 4. ergänzte Aufl. von H. Conzelmann, HNT 13, 1966, in zwei Exkursen (94-97) zusammengestellt und hierbei die Wahrscheinlichkeiten einer zweiten römischen Gefangenschaft ausführlich, in der Sache freilich ablehnend, diskutiert; außerdem in entsprechender Zielsetzung P. Trummer, Die Paulustradition der Pastoralbriefe, BET 8, Frankfurt a.M. <?page no="81"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 81 lipperbrief aufzunehmen und auszulegen, wenn man ihn konsequent als Brief eines Gefangenen in Rom versteht, der mit der Möglichkeit des Todesurteils rechnen muss? Hat Paulus die römische Gefangenschaft verlassen können, wie Euseb, hist eccl II 22,2 berichtet, um - mit Bezug auf 2 Tim - nochmals auf Missionsreise in den Osten oder aber nach Actus Vercellenses 1-3 11 und Canon Muratori 38 12 hingegen eben nach Spanien 13 zu gehen und im Anschluss an diese Reise in Rom bei einem zweiten Aufenthalt das Martyrium zu erleiden. Kann die Auskunft, Paulus sei mit seiner Predigt bis an die Grenze des Westens gelangt (1 Clem 5,5-7) 14 , auf Spanien bezogen werden und aus welchem Wissen oder aus welcher Überlieferung leitet sich diese Notiz ab? Weshalb fehlen Berichte über diese Spanienmission? Was soll diesen zweiten Romaufenthalt motiviert haben, will Paulus doch nach Röm 15 Rom nur aufsuchen, um mit der Hilfe der römischen Gemeinde die Spanienmission antreten zu können? Schließlich ist die Frage zu stellen: Hat es neben Act 21-28 einen weiteren Reflex in den neutestamentlichen Schriften über die Überführung des Paulus als Gefangener nach Rom gegeben? Martin Hengel hat vorgeschlagen, den Jakobusbrief als antipaulinische Polemik zu verstehen, genauer „als Rundschreiben an die außerhalb Palästinas liegenden, ganz überwiegend heidenchristlichen Gemeinden einige Zeit nach der Verhaftung des Paulus bzw. seiner Überführung als Angeklagter nach Rom zwischen 58 und 62“ 15 . Die vorgeschlagene Frühu. a. 1978. Nach M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, FRLANT 146, Göttingen 1988, 17, lassen sich die „z. T. äußerst detaillierten ‚auto‘-biographischen Angaben und persönlichen Notizen der Pastoralbriefe ohne Mühe als geläufiges pseudepigraphisches Stilmittel erweisen, das dazu dient, dem Leser den Eindruck der Authentizität der Briefe zu vermitteln.“ In diesem Sinn argumentiert auch M. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York 2001, 239-272. 11 Die Textausgabe findet sich bei R. A. Lipsius und M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha I, Darmstadt 1959 (Nachdruck); eine deutsche Übersetzung bei W. Schneemelcher, Petrusakten, in: ders. (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 5 1989, 258-261. 12 Der Text findet sich bei H. Lietzmann, Das Muratorische Fragment und die monarchianischen Prologe zu den Evangelien, KIT 1, Bonn 1921; eine deutsche Übersetzung bei W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen I, Tübingen 6 1990, 27-29. 13 Vgl. zu den ältesten Zeugnissen für eine Spanienmission: A. Lindemann, Die Clemensbriefe. Die Apostolischen Väter I, HNT 17, Tübingen 1992, 39. Vgl. hierzu den Beitrag von B. Wander, Warum wollte Paulus nach Spanien? Ein forschungs- und motivgeschichtlicher Überblick, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York 2001, 175-195. 14 Vgl. zur Auswertung von 1 Clem 5 den Beitrag von Hermut Löhr, Zur Paulus-Notiz in 1 Clem 5,5-7, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York 2001, 197-213. 15 M. Hengel, Der Jakobusbrief als antipaulinische Polemik, in: G. F. Hawthorne and O. Betz (ed.), Tradition and Interpretation in the New Testament. FS E. Earle Ellis, Grand Ra- <?page no="82"?> 82 Die letzte Jerusalemreise des Paulus datierung des Jakobusbriefs und Zuweisung der Autorschaft an den Herrenbruder Jakobus, der im Jahr 62 n. Chr. hingerichtet wurde ( Jos, ant 20,197-203), erfreut sich gegenwärtig wieder etlicher Zustimmung, teilweise allerdings in Verbindung mit Sekretärshypothesen. Ob der Herrenbruder Jakobus in solch hohem Maße in einen Gegensatz zu Paulus gestellt werden darf, erscheint doch von den Aussagen der Act wie von denjenigen des Jak her problematisch. Nach der Quellenlage der Act einerseits sind es doch Jakobus und die bei ihm versammelten Ältesten, die Paulus vor einer judenchristlichen, deutlich antipaulinisch eingestellten Gruppierung warnen (Act 21,18-26). Für die Auslegung des Jakobusbriefs andererseits ist an das Votum des neuen Kommentars von Christoph Burchard zu erinnern: „die Mindermeinung wächst, daß Jak […] sich weder mit dem Apostel direkt oder in Gestalt von Paulusbriefen […] auseinandersetzt.“ 16 Solange die kritische Zusammenschau der Quellen, die den jeweiligen historischen, theologischen und literaturgeschichtlichen Aspekten Rechnung trägt, unterbleibt, gedeihen Spekulationen, die an den Texten oft einen geringen, gelegentlich aber auch keinen Anhalt haben. Überwiegend wird der Tod des Paulus in der Regierungszeit Neros angesetzt, ohne dies mit der neronischen Verfolgung der Christen und den bei Tacitus, ann XV 44, genannten Strafen zu verbinden. Die Paulusakten; Tertullian, praescr 36,3; Euseb, hist eccl II 25,5; dem ev III 5,65; Hippolyt, comm in Dan II 36 u. a. sprechen recht einmütig von der Enthauptung durch das Schwert als Todesart des Paulus. 17 Hier ist auch die Überlieferung der römischen Gemeinde zu bedenken, in der allerdings eine Angleichung der Martyrien des Petrus und des Paulus aneinander stattgefunden hat. 18 Aus der gegenwärtigen Forschung zähle ich zu den problematischen Mutmaßungen, Paulus sei als freier Mann nach Rom pids / Tübingen 1987, 248-278, 252. 16 Ch. Burchard, Der Jakobusbrief, HNT 15 / I, Tübingen 2000, 18 f. 17 Texte bei W. Bauer, Das Apostelbild in der altchristlichen Überlieferung, in W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 4 1971, 11-41, 39-41. Darüber hinaus sind die Ausführungen von Th. Zahn, Einleitung in das Neue Testament. Mit einer Einführung von R. Riesner, Wuppertal / Zürich 1994 (Nachdruck der dritten Auflage, Leipzig 1906 / 1907, 439-462) in § 36 (Der Lebensausgang des Paulus) hinsichtlich des altkirchlichen Materials unverzichtbar. Gelegentlich wird Hippolyt, comm in Dan III 29 als Beleg für die Todesart „Tierkampf “ herangezogen. Hippolyt bezieht sich hier allerdings auf den in den Paulusakten geschilderten Löwenkampf in Ephesus. 18 Ich verweise hierzu auf die soeben erschienene Studie von H.-G. Thümmel, Die Memorien für Petrus und Paulus in Rom. Die archäologischen Denkmäler und ihre literarische Tradition, AKG 76, Berlin 1999, welche die grundlegende Arbeit von H. Lietzmann, Petrus und Paulus in Rom. Liturgische und archäologische Studien, AKG 1, Berlin / Leipzig 2 1927, ergänzt. Wichtige frühe Belege für die Zusammenstellung von Petrus und Paulus in frühchristlicher Literatur: IgnRöm 4,3; 1 Clem 5; Dionys von Korinth bei Euseb, hist eccl II 25,8; Iren, adv haer III 1,1. <?page no="83"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 83 gereist. 19 Hierfür muss der Apostelgeschichte-Bericht gegen seine Aussagen herhalten. Das Martyrium des Paulus in Rom wird häufig ohne präzise Verknüpfung mit den Konflikten, welche die paulinische Mission begleitet haben, und ohne Berücksichtigung der näheren Umstände, die zur Festnahme in Jerusalem geführt haben, betrachtet. Es wird sodann isoliert von dieser Vorgeschichte im Umkreis der neronischen Christenverfolgung angesiedelt. 20 Häufig werden der „relativ offene Schluß der Apostelgeschichte“ und die Angaben erneuter missionarischer Wirksamkeit des Paulus in den Pastoralbriefen als Hinweise auf die Möglichkeit einer erfolgten Spanienmission nach der Freilassung aus römischer Gefangenschaft betrachtet. 21 Mit dieser Möglichkeit rechnen auch Martin Hen- 19 Diese These ist von W. Schmithals mehrfach vorgelegt worden: ders., Der Römerbrief. Ein Kommentar, Gütersloh 1988, 540; ders., Die Apostelgeschichte des Lukas, ZBK.NT 3 / 2, Zürich 1982, 112 f.219 f.235 u. ö. 20 So etwa bei C. Clemen, Paulus. Sein Leben und Wirken, I. Teil: Untersuchung, Gießen 1904, 410. Zuletzt hat sich O. Böcher, Art. Petrus I, TRE 26 (1996), 263-273, dafür ausgesprochen, mit Blick auf 1 Clem 5,4-7 von einem Märtyrertod des Petrus und des Paulus in Rom unter Nero (um 65 n. Chr.) auszugehen. R. E. Brown, An Introduction to the New Testament. The Anchor Bible Reference Library, New York 1997, 436, hält eine Hinrichtung gleichzeitig mit Petrus im Jahr 64 oder unabhängig davon im Jahr 67 für wahrscheinlich. Diese letztere Spätdatierung findet sich auch bei Zahn, Einleitung, 447. Die über 1 Clem 5 hinausgehenden Nachrichten im Zusammenhang der Neroverfolgung hat P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte, WUNT II / 18, Tübingen 2 1989, 65-67, zusammengestellt. 21 In der älteren Literatur ist diese Sicht häufig und bei Forschern unterschiedlicher Provenienz anzutreffen. Nach Th. Zahn, Die Apostelgeschichte des Lucas, KNT V / 2, Leipzig / Erlangen 1921, 861, hat Lukas schon bei der Abfassung der Apostelgeschichte den Plan gehabt, ein drittes Buch folgen zu lassen, in dem er den abrupt fallen gelassenen Faden des Schlusses der Apostelgeschichte aufnehmen und zu Ende führen wollte. In der Einleitung in das Neue Testament behandelt Zahn in Kap. VI die Briefe aus der ersten römischen Gefangenschaft. Kritisch zu dieser These seinerzeit A. von Harnack, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament III. Die Apostelgeschichte, Leipzig 1908, 47-50, der allerdings gleichfalls die Meinung vertritt, dass zwischen dem Ende der zwei Jahre in Rom und dem Tod des Paulus noch eine längere Wirksamkeit des Apostels gelegen habe, die aber für den Gang der Missionsgeschichte nicht mehr von großer Bedeutung gewesen sei (50). O. Holtzmann, Neutestamentliche Zeitgeschichte, Gießen 1903, 145-147, rekonstruiert aufgrund der Angaben der Pastoralbriefe den möglichen weiteren Missionsverlauf nach der ersten Freilassung in Rom. G. Stählin, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 4 1970, 329, beschließt seinen Kommentar mit der Bemerkung, das Ende des Buches lasse sowohl die Möglichkeit des Martyriums in Rom wie auch diejenige einer Freilassung und erneuten Mission offen. Diese Annahme wird gelegentlich sogar mit einer Frühdatierung der Apostelgeschichte verbunden. Lukas besitze demnach Informationen ausschließlich bis zur Ankunft in Rom. Vgl. zu den unterschiedlichen Erklärungen des offenen Endes der Act den Beitrag von H. Omerzu, Das Schweigen des Lukas. Überlegungen zum offenen Ende der Apostelgeschichte, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York 2001, 127-156. <?page no="84"?> 84 Die letzte Jerusalemreise des Paulus gel und Anna Maria Schwemer, wenn sie in der beigefügten Zeittafel ihres gemeinsamen Werks auf die Romreise im Jahr 59 / 60 n. Chr. die Spanienreise im Jahr 62 n. Chr. (mit Fragezeichen versehen) folgen lassen und das Martyrium nach einer Rückkehr nach Rom im Jahr 64 n. Chr. ansetzen. 22 Deutlicher ist die Einleitung von Donald A. Carson u. a., die auf den ersten Rombesuch eine Mission im Osten und sodann eine erneute Verhaftung und Hinrichtung in der Zeit Neros annehmen. 23 Schließlich bedarf das frühchristliche, außerneutestamentliche Quellenmaterial einer kritischen, aber unvoreingenommenen und gründlichen Sichtung. 24 2 Die Kollektenreise des Paulus nach Jerusalem 2.1 Die Absicht der Reise Um die Ereignisse, die das Ende des Paulus - nämlich seinen Tod und die auf ihn hinführenden und ihn verursachenden Faktoren - bewirken, angemessen aufzunehmen und verstehen zu können, ist mit der letzten Jerusalemreise des Paulus einzusetzen. Sie erfolgt ausschließlich in der Absicht, die in den paulinischen Gemeinden gesammelte Kollekte für die judenchristliche Gemeinde Jerusalems zu überbringen und wird mehrheitlich in das Jahr 56 / 57 n. Chr. datiert. 25 Der letzte veritable Jerusalembesuch Pauli anlässlich des Apostelkonvents (49 n. Chr.) liegt mittlerweile gut sieben Jahre zurück. Über weitere Besuche der Heiligen Stadt in der Zwischenzeit schweigt Paulus sich aus. Nach Act 18,22 hat es einen Kurzaufenthalt in Jerusalem zwischen der zweiten und der dritten Missionsreise gegeben, der allerdings nach der Quellenlage im Zusammenhang mit dem Abschluss des Nasiräats steht und eben nicht einen besonderen Kontakt mit der Urgemeinde erwähnt. 26 Der Einsatzpunkt bei dieser Reise für die Behandlung des Themas ergibt sich sowohl von Act 20,1-21,40 als auch von Röm 15,22-33 her. Steht nach Lukas diese letzte Reise schon vor der 22 Hengel / Schwemer, Paulus, 475. 23 D. A. Carson, D. J. Moo and L. Morris, An Introduction to the New Testament, Gand Rapids 1992, 231. 24 Einen Überblick über das zu berücksichtigende Material bietet Bauer, Apostelbild, 39-41. Grundsätzlich skeptisch begegnet Haacker, Paulus, 16, den apokryphen Quellen: „Mit größter Skepsis sind Paulus-Überlieferungen in apokryphen Apostelakten zu betrachten, zumal wenn sie aus der Ecke einer judenchristlichen Randgruppe der Alten Kirche stammen.“ 25 Vgl. etwa die Angaben bei J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 32; Hengel / Schwemer, Paulus, 475; R. Jewett, A Chronology of Paul’s Life, Philadelphia 1979 (Graph of Dates and Time-Spans). 26 Vgl. zu den näheren Umständen dieser Reise: F. W. Horn, Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer, NT 39 (1997), 117-137; wieder abgedruckt in diesem Band. <?page no="85"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 85 Ankunft in Jerusalem von Seiten der judenchristlichen Gemeinde her unter dem Apostasieverdacht des Apostels (Act 21,21) und führt sie kurz nach der Ankunft zu einem Konflikt im Tempelbereich (Act 21,30), der letztlich zum Prozess des Paulus führt, so äußert Paulus in Röm 15,30 f. Befürchtungen, die den von Lukas geschilderten Ereignissen durchaus zuzuordnen sind. Beide in Röm 15,30 f. vor Beginn der Jerusalemreise angesprochenen Themen - die Angst vor den „Ungläubigen“, d. h. der jüdischen Gemeinde in Judäa, und die Sorge um die Annahme der Kollekte durch die Judenchristen in Jerusalem - werden nach dem Bericht aus Act 20 f. den Untergrund der Ereignisse um die Festnahme in Jerusalem darstellen. Allein die Vorgänge um Trophimus, einen Christen aus der Provinz Asia und nach Act 20,4 ein Mitglied der Kollektendelegation 27 , stellen eine Begebenheit dar, welche nach den Ausführungen des Römerbriefs nicht voraussehbar war. 28 27 Bekanntlich erwähnt Lukas die Kollekte in Act 15 nicht und schweigt auch in Act 20 f. über sie, obwohl nach Röm 15,25-31 die Überbringung der Kollekte der einzige Anlass der letzten Jerusalemreise war. Bedenkenswert ist der Vorschlag von D.-A. Koch, Kollektenbericht, ‚Wir‘-Bericht und Itinerar. Neue (? ) Überlegungen zu einem alten Problem, NTS 45 (1999), 367-390, in Act 20,4-21,18 (mit Ausnahme von 20,18-35 und möglicher weiterer Einschübe) einen Bericht der Kollektendelegation zu finden. Allerdings fehlen in der Liste Act 20,4 Namen von Delegationsmitgliedern aus Korinth und Philippi (dazu Koch, Kollektenbericht, 376 f.). 28 Die Ereignisse um Trophimus sind nicht wirklich durchsichtig. Das Auftreten von Trophimus in Jerusalem ist mit der Aussage aus 2 Tim 4,20, Paulus habe Trophimus in Milet krank zurückgelassen, nicht zu vereinbaren. Oder sollte Trophimus nach der Genesung Paulus gefolgt sein? Weitere Versuche, die Angaben in 2 Tim 4,20 und Act 20,4; 21,29 auszugleichen, erwähnt J. Paulien, Art. Trophimus, ABD 6 (1992), 667-668. Nach Act 21,28 lautet der Vorwurf der asiatischen Juden grundsätzlich: Paulus habe Heiden (Plural! ) in den Tempel geführt und somit die Heiligkeit der Stätte aufgehoben. Dies kann nur bedeuten, dass Paulus, dem als Jude der Zugang zum inneren Vorhof gestattet war, Heiden vom äußeren Vorhof in den Vorhof der Juden im Tempelbereich geführt hat. Da die Grenze zwischen beiden Bereichen im Wissen streng verankert war und sie auch durch Steintafeln in Erinnerung gerufen wurde, wäre ein solcher Akt unverständlich, zumal Paulus nach Röm 15,31 die Reise nach Jerusalem in vollem Bewusstsein um die bestehenden Spannungen zur jüdischen Gemeinde antritt und nach Act 21,15-26 unmittelbar nach der Ankunft in Jerusalem durch die Auslösung der Nasiräer einen Beweis für seine Gesetzestreue liefert. Die Verletzung der Heiligkeit des Tempels stand unter der Ankündigung der Todesstrafe ( Jos, bell 5,193 f.; 6,124-126; ant 15,417; Philo, leg Gai 212; OGIS 598; dazu Ch. K. Barrett und C. J. Thornton, Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 2 1991, 60). Nach Act 21,29 nun erkennen Juden aus der Asia den ephesinischen Christen Trophimus in Begleitung des Paulus in der Stadt Jerusalem. Nach der lukanischen Darstellung meinen die asiatischen Juden, Paulus habe Trophimus auch in den Tempel geführt. Der Ausdruck τὸ ἴερόν muss sich hierbei auf den ausschließlich Juden vorbehaltenen Tempelbereich beziehen. Die lukanische Darstellung lässt offen, ob Paulus Trophimus wirklich in den Tempelbereich geführt hat. Die Meinung der asiatischen Juden wird weder zurückgewiesen noch korrigiert. Hat Paulus, nachdem die <?page no="86"?> 86 Die letzte Jerusalemreise des Paulus 2.1.1 Die Aussagen in Röm 15,22 - 33 Die Absicht der letzten Jerusalemreise Röm 15 zufolge ist es, die Kollekte, die Paulus in Makedonien und Achaia für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem (Röm 15,26) gesammelt hat, zu überbringen. Zu dieser Kollekte unter den heidenchristlichen Gemeinden hat Paulus sich nach Gal 2,10 auf dem Apostelkonvent verpflichtet. Er hat diese Sammlung in Galatien durchgeführt (1 Kor 16,1) und in Korinth angeordnet (1 Kor 16,2). 2 Kor 8 und 9 sind von Hans Dieter Betz, einem Vorschlag Günther Bornkamms folgend 29 , mit gewichtigen Argumenten als zwei ursprünglich selbstständige Schreiben angesehen worden, nämlich 2 Kor 8 als Fragment eines Verwaltungsbriefes an die Korinther, 2 Kor 9 als Fragment eines solchen Schreibens an die Achaier, in denen die Kollektenthematik für diese Gemeinden dargelegt wird. 30 In Röm 15,26 erwähnt Paulus ausschließlich die geplante Übergabe der Kollekten der Gemeinden in Achaia und in Makedonien. Über das Schicksal der in Galatien gesammelten Kollekte erfahren wir in 1 Kor 16, in 2 Kor 8-9 und in Röm 15 nichts. 31 Es verwundert in zweifacher Hinsicht, dass Paulus nach Röm 15,28 selbst die Kollekte überbringen will. Einerseits blickt Paulus von Korinth aus, wo er den Röm diktiert, bereits auf sein nächstes Missionsziel Spanien (Röm 15,24), das er, nachdem er Rom besucht hat, ansteuern möchte. Für diese Planung ist die Jerusalemreise eine langfristige Unterbrechung bzw. ein Umweg. Andererseits hatte Paulus wenige Jahre zuvor in 1 Kor 16,3 f. die Überbringung der Kollekte durch eine von ihm mit Empfehlungsbriefen ausgestattete Delegation vorgesehen, der er nicht unbedingt angehören wollte. Aber bereits nach 2 Kor 8,19 f. spricht er die Absicht aus, die Kollekte gemeinsam mit Titus zu überbringen. Was begründet jetzt, wenige Jahre später, seine Teilnahme an dieser Delegation? Weshalb lohnt die Mühe jetzt und zur Zeit der Abfassung des 1 Kor noch nicht? Schließlich ist zu bedenken, dass die Überbringung der Kollekte unter einem gewissen zeitlichen Druck zu stehen scheint. Nach 2 Kor 9,5 sendet Paulus Boten nach Achaia voraus, deren Aufgabe es ist, die Kollekte bis zur Ankunft des Paulus zum Abschluss zu bringen. Nach Act 20,16 fährt Paulus auf dem Weg nach Jerusalem an Ephesus vorbei, um keine Zeit zu verlieren. Was begründet diese Übergabe der Kollekte möglicherweise gescheitert war, einen letzten demonstrativen Akt gesucht (so dann die Anklage des jüdischen Anwalts Tertullus in Act 24,6a), der durchaus in der Linie seiner frühen tempelkritischen Aussagen lag (1 Kor 3,16; 6,19)? 29 Bornkamm, Paulus, 247 f. 30 H. D. Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus, Gütersloh 1993. 31 Ausführlich zur Auswertung dieses Sachverhalts Lüdemann, Paulus I, 114-119: Die Fortführung der Kollekte sei im Zusammenhang mit der gegnerischen Agitation gegen Paulus zum Erliegen gekommen. <?page no="87"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 87 Hast? Seit dem Apostelkonzil und dem auf ihm gefassten Beschluss über die Kollekte sind gut sieben Jahre vergangen. Wird die Gabe des Paulus, deren Einsammlung nicht nur in Galatien, sondern wohl auch in Korinth zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen ist 32 , noch als das anerkannt werden, als was sie ursprünglich angesehen war? 2.1.2 Die Aussagen in Act 20,1 - 21,14 Die Absicht der letzten Jerusalemreise nach Act 20,1-21,14 bleibt relativ unbestimmt 33 , auf jeden Fall wird die Kollekte nicht erwähnt. 34 Dies verwundert, wenn Lukas wirklich, wie Dietrich-Alex Koch erwogen hat, in diesem Textkomplex einen Bericht der Kollektendelegation verarbeitet hat. 35 Es muss noch mehr verwundern, wenn Lukas wirklich, wie Martin Hengel dargelegt hat, Augenzeuge des letzten Jerusalembesuches des Paulus gewesen wäre. 36 In Act 20,3 wird erstmals die Absicht, in die Provinz Syrien auf dem Seeweg zu reisen, erwähnt. Wegen der feindlichen Einstellung der örtlichen Juden nimmt Paulus, in Begleitung einer Delegation, allerdings zunächst den Landweg und geht erst in Philippi an Bord. Nach Act 20,16 will Paulus in der Provinz Asia keine Zeit verlieren, um am Pfingstfest in Jerusalem zu sein, was ihn jedoch nicht hindert, sich in Milet mit den ephesinischen Presbytern zu treffen. Wer Röm 15 gelesen hat, fragt sich unwillkürlich, weshalb Lukas jegliche Erwähnung der Kollekte im Zusammenhang seiner Schilderung der letzten Jerusalemreise vermeidet, obwohl Act 24,17 eine Kenntnis des Vorgangs andeutet. Gerd Lüdemann hielt, 32 Vgl. hierzu die Ausführungen von Betz, 2. Korinther 8, 251-256, der das zwischenzeitliche Erliegen der Kollekte mit dem in Korinth gegenüber Paulus erhobenen und im Zusammenhang der Kollekte thematisierten Vorwurf der Selbstbereicherung verbindet. 33 Auffällig ist jedoch die literarische Gestaltung, insofern durch vielfache Angleichung an das Geschick Jesu (vgl. etwa Act 19,22 mit Lk 9,52) und durch verdeckte Leidensaussagen (Act 20,23.25; 21,11.13) die Reise als Weg zum Martyrium (vgl. Act 19,21 mit Lk 9,51) erkennbar wird. 34 Haacker hat (in einem mündlichen Hinweis, auf den sich Koch, Kollektenbericht, 380, bezieht) das Verschweigen der Kollekte durch Lukas damit erklären wollen, dass Lukas die politische Problematik der unerlaubten Geldausfuhr aus römischen Provinzen aus apologetischen Erwägungen umgehen wolle. Allerdings sind die von Haacker herangezogenen Texte (vor allem Cic, Flacc 66-69) nicht beweiskräftig. Von dem Senatsbeschluss waren die Zahlungen jüdischer Gemeinden für den Jerusalemer Tempel ausgenommen. Außerdem wäre diese Geldbewegung innerhalb des römischen Reichs verblieben, denn Palästina war eine römische Provinz; vgl. zur Kritik ausführlich: Koch, Kollektenbericht, 380 Anm. 41 und 42. 35 Koch, Kollektenbericht, 376-381. 36 M. Hengel, Jakobus der Herrenbruder - der erste ‚Papst‘? , in: E. Gräßer und O. Merk (Hg.), Glaube und Eschatologie, FS Werner Georg Kümmel, Tübingen 1985, 71-104. Erneut vorgetragen in: Hengel / Schwemer, Paulus, 219 Anm. 886. <?page no="88"?> 88 Die letzte Jerusalemreise des Paulus ebenso wie viele andere Exegeten der Apostelgeschichte, nur eine Schlussfolgerung für möglich: „Lukas meidet in Apg 21 absichtlich das Kollektenthema, weil die von ihm benutzte Quelle von einem Scheitern ihrer Übergabe bzw. von ihrer Ablehnung berichtete.“ 37 Auf jeden Fall wird man, gerade weil die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte ausgeblendet wird, die wenigen Aussagen aus Röm 15,30 f. 38 sehr viel gründlicher lesen müssen, um die Ereignisse in Jerusalem verstehen zu können. Welchen Ausdruck und welche sprachliche Form finden die von Paulus ausgesprochene Sorge um die Annahme der Kollekte und die Angst vor der jüdischen Gemeinde, und wie ist sie begründet? 2.2 Die Aufforderung zur Fürbitte und die Situation des Paulus Übergeordnet ist die Aufforderung an die römischen Christen, zusammen mit Paulus für ihn zu kämpfen vor Gott durch Gebete. Ulrich Wilckens nennt diese Bitte angesichts der Situation, in der Paulus sich befindet, einen kirchenpolitisch-diplomatischen Akt. 39 Der Inhalt der Gebete soll sein, dass Paulus vor den Ungläubigen errettet und dass die Kollekte angenommen werde. 40 Die Aufforderung zum Gebet wird begründet und motiviert διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ διὰ τῆς ἀγάπης τοῦ πνεύματος. Dieser Satzteil hat in der Verbindung 37 G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 245. 38 Es sei nur nebenbei darauf verwiesen, dass sich mit der Betonung von Röm 15,30 f. der sog. kirchenpolitische Ansatz der Auslegung des Römerbriefs verbindet; vgl. etwa die Ausführungen von U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK VI / 1, Zürich u. a. 1978, 43-46. Eine grundsätzliche Würdigung von Röm 15,14-33 für die Auslegung des Römerbriefs insgesamt bietet P. Müller, Grundlinien paulinischer Theologie (Röm 15,14-33), KuD 35 (1989), 212-234. W. Schmithals, Der Römerbrief als historisches Problem, StNT 9, Gütersloh 1975, rechnet Röm 15,14 ff. zu einem zweiten Brief an die Römer. Die literarkritische Scheidung bezieht sich auf Differenzen in Sachaussagen im Römerbrief und ordnet sie unterschiedlichen Situationen zu. Die Abfassungszeit des sogenannten Römerbriefs B wird von Schmithals vor den Aufbruch nach Jerusalem gelegt, wenn auch der präzise Abfassungsort offen bleiben muss (182 f.). 39 U. Wilckens, Über Abfassungszweck und Aufbau des Römerbriefs, in: ders., Rechtfertigung als Freiheit. Paulusstudien, Neukirchen-Vluyn 1974, 110-170, 128. 40 Gelegentlich wird gefragt, ob die Aufforderung zum Gebet sich auf beide Anliegen oder ausschließlich auf die Errettung vor den Ungläubigen bezieht; vgl. O. Michel, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 4 1966, 373. W. Schmithals, Paulus und Jakobus, FRLANT 85, Göttingen 1963, 67, hat darauf aufmerksam gemacht, dass in 15,31 zwischen καί und ἡ διακονία kein ἵνα zu lesen sei (so aber etliche HSS). Daher gelte, dass „Paulus von einer Furcht bewegt wird und die Bedrohung durch die Juden mit der möglichen Ablehnung der Kollekte einen Zusammenhang bildet“. Betrachtet man allerdings die faktische Feindschaft, die Paulus in Jerusalem gemäß Act 21,15 ff. widerfährt, so wird man die in Röm 15,31 ausgesprochene Sorge nicht allein durch die Verweigerung der Kollekte begründet sein lassen können. <?page no="89"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 89 von stellvertretendem Gemeindegebet und Wissen um den Beistand des Geistes bzw. den Beistand Jesu Christi eine gewisse Nähe zu Phil 1,19. Paulus spricht hier die Erwartung aus, dass die Gefangenschaftssituation sich wenden wird zum Heil διὰ τῆς̤ ὑμῶν δεήσεως καὶ ἐπιχορηγίας τοῦ πνεύματος Ἰησοῦ Χριστοῦ. Auch ist an die Verbindung von Gemeindegebet, Gabe des Geistes und Freimut zum Zeugnis in Act 4,29-31 bzw. an den Beistand des Geistes bei den Bekennern vor feindlichen Behörden (Mk 13,11; Mt 10,20) und an die Errettung aus Todesnot durch das Gemeindegebet (2 Kor 1,10 f. 41 ) zu erinnern. Es scheint sich hierbei um einen relativ festen Motivbereich zu handeln, auf den im Angesicht äußerster Bedrängnis zurückgegriffen wird; in Phil 1,19 und 2 Kor 1,11 in Todesbedrängnis. In Phil 1,20-24 wird das erwartete Heil, die Christusgemeinschaft, durch den Tod, speziell wohl erst im Tod des Märtyrers, erreicht. 42 Ob das Bewusstsein, die Jerusalemreise als Märtyrerreise anzutreten, für Paulus in Röm 15,30 f. vorauszusetzen ist, mag einstweilen noch offen bleiben. Der in Röm 15,30 f. verwendete Motivbereich steht hierzu in großer Nähe und hält auf jeden Fall fest, dass diese Reise in die Situation äußerster Bedrohung führen wird. 43 Es ist nun den beiden Gebetsinhalten nachzugehen, in denen die römische Gemeinde sich mit Paulus zusammenschließen soll. Möglicherweise kommt in der zuerst genannten Bitte, vor den Ungläubigen in Judäa gerettet zu werden, auch eine stärkere Gewichtung, d. h. eine deutlichere Sorge gegenüber der zweiten Bitte um die Annahme der Kollekte zum Ausdruck. 44 In ihr thematisiert Paulus ja sein persönliches Schicksal angesichts der Reise nach Jerusalem, von Klaus Haacker mit einem „Himmelfahrtskommando“ 45 verglichen. Das Verb ῥύεσθαι 41 Paulus verwendet in Röm 15,30 (συναγωνίζειν) und in 2 Kor 1,11 (συνυπουργεῖν) für die Unterstützung durch das Gemeindegebet Komposita mit συν. K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 313 Anm. 61, verweist auf den gelegentlich belegten Gebrauch von συναγωνίζειν für die Unterstützung von Gesandten in diplomatischen Verhandlungen. Blickt man noch auf das weitere Kompositum mit συν in Röm 15,32 (συνα ναπαύσωμαι ὑμῖν), gewinnt man den Eindruck, dass Paulus die römische Gemeinde eng in seinen bedrohlichen Weg einbeziehen will. W. Wuellner, Paul’s Rhetoric of Argumentation, in: K. P. Donfried (ed.), The Romans Debate, Peabody 1995, 128-146, verweist auf die rhetorische Gestaltung der „intercessory prayer in epistles“ (138). 42 Dass Paulus in Phil 1,18-26 eine persönliche Heilshoffnung, die sich von dem Sondergeschick jüdischer Märtyrer herleitet, zur Sprache bringt, hat U. B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11 / I, Leipzig 1993, 56-71, wieder ins Gespräch gebracht. 43 Darauf deutet auch die Genitivverbindung διὰ τῆς ἀγάπης τοῦ πνεύματος, die im Angesicht der Feindschaft die Liebe stiftende Funktion des Geistes (Gal 5,22) betont. 44 Hengel / Schwemer, Paulus, 219 Anm. 886: „Die Gefährdung durch die Volksgenossen nennt er immer zuerst: dies ist keine Marotte und Erfindung des Lukas.“ 45 So K. Haacker, Der Römerbrief als Friedensmemorandum, NTS 36 (1990), 25-41, 28. <?page no="90"?> 90 Die letzte Jerusalemreise des Paulus wird von Paulus ausschließlich in solchen Zusammenhängen gebraucht, wo es, wie in Röm 15,31, um Errettung aus Todesgefahr (2 Kor 1,10; Röm 7,24; auch 2 Thess 3,2) oder um eschatologische Rettung (Röm 11,30; 1 Thess 1,10) geht. Dieses ῥύεσθαι ἀπὸ τῶν ἀπειθούντων bezieht sich auf die Juden (vgl. das Verb ἀπειθεῖν exklusiv in Bezug auf die Juden auch in Röm 10,21 [ Jes 65,2LXX], 11,31; in Bezug auf Juden und Heiden in Röm 2,8; vgl. auch 11,32). Die lokale Bestimmung ἐν τῇ Ἰουδαίᾳ lässt zudem an keine andere Gruppe denken. Allerdings ist der Unterschied zu der zweiten lokalen Bestimmung in Röm 15,31 εἰς Ἰερουσαλήμ nicht zu missachten. Die Gegnerschaft in der jüdischen Gemeinde erstreckt sich auf ganz Judäa (solcher Sprachgebrauch in extensivem Sinn auch in Gal 1,22; 2 Kor 1,16; 1 Thess 2,14) und ist nicht auf Jerusalem begrenzt. Was begründet diese Feindschaft? Haacker hat in der jüdischen Nachstellung, die in Act 20,3 erwähnt wird und die sodann zur Umstellung des Reisewegs nach Jerusalem führt, den konkreten Anlass für die Fürbitte in Röm 15,30 f. gesehen. 46 Doch ist nicht sicher, wie hoch der redaktionelle Anteil an der Verursachung der Änderung der Reiseroute durch jüdische Intervention ist. 47 Daher wird man einen weiteren Kontext zu beachten haben. Paulus hat sich und seine Gemeinden mehrfach einer Feindschaft ausgesetzt gesehen, die von örtlichen Synagogen und wohl auch von den Gemeinden in Judäa und Jerusalem ausging: 2 Kor 11,26; Gal 6,12; Phil 3,2; 1 Thess 2,15; von Lukas in der Abschiedsrede Act 20,19 zentral verankert. 48 Nach paulinischem Selbstzeugnis kursieren Gerüchte über seine Person in den christlichen Gemeinden in ganz Judäa: „Der uns früher verfolgte, der predigt jetzt den Glauben“ (Gal 1,23). Die Verbreitung solcher Personaltraditionen kann nicht auf den Kreis christlicher Gemeinden eingegrenzt werden, sondern wird ihn zu den jüdischen Synagogengemeinden hin überschritten haben. Eine Abgrenzung der christlichen zur jüdischen Gemeinde kann vor 70 n. Chr. ohnehin nur schwer vollzogen werden. Nach Act 21,21 bezieht sich der Herrenbruder Jakobus gleichfalls auf Gerüchte über Paulus, die nun etlichen tausend Juden, die zum Glauben gekommen und zugleich Eiferer für das Gesetz geblieben sind, zugetragen wurden: Paulus lehre alle Juden, die unter den Heiden wohnen, den Abfall von Mose und sage, sie sollen ihre Kinder nicht beschneiden und auch nicht nach den Sitten leben. 49 46 Haacker, Römerbrief, 313, der das weitere Umfeld der Auseinandersetzungen mit Juden freilich auch nennt. 47 A. Weiser, Die Apostelgeschichte, ÖTK 5 / 2, Gütersloh 1985, 558, erkennt in dem Topos der Juden als Initiatoren eines Anschlags eine redaktionelle Aussage; ebd. ausführliche Diskussion der Belege. 48 Nach Act 20,22 f.; 21,4.11-14 warnen unterschiedliche Propheten Paulus vor der bevorstehenden Gefahr in Jerusalem. 49 Nach Lüdemann, Christentum, 242 f., spricht für Tradition, dass solche Vorwürfe gegen Paulus nach dem bislang in der Apostelgeschichte vorgetragenen Apostelbild nicht zu <?page no="91"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 91 Hans Conzelmann hat bei der Auslegung von Act 21,21 m. E. mit Recht die jüdischen Vorwürfe wie folgt kommentiert: „[…] Paulus ist sich darüber im klaren: Röm 15 31 .“ 50 In der Interpretation dieser ersten Bitte liegt in dem neuen Kommentar von Haacker eine Verzerrung der Aussagen vor. Paulus bittet die römischen Christen, ihm in Gebeten zu Gott beizustehen, damit er vor den Juden gerettet wird. Des Weiteren legt Paulus in Röm 15,22-33 detaillierte Reisepläne dar. Dies schließt m. E. aus, dass Paulus, wie Haacker erwägt, mit der Reise nach Jerusalem „seine in 9,3 geäußerte Opferbereitschaft für Israel unter Beweis stellen wollte“ 51 . Zudem sei historisch nicht auszuschließen, „daß Paulus mit seiner letzten Reise nach Jerusalem ein dortiges Martyrium bewußt in Kauf genommen, wenn nicht geradezu gesucht hat“ 52 , was Haacker anschließend im Licht von Röm 9,3 als „Martyrium für Israel“ 53 interpretiert. Es ist nicht zu bestreiten, dass Paulus in Röm 9,3 seine Bereitschaft bekundet, in einer dem Sühnetod Christi vergleichbaren Handlung für sein Volk, ihm zugute, hingeopfert zu werden. Doch handelt es sich bei dem einleitenden ηὐχόμην wohl um einen Irrealis 54 , der nicht an eine beabsichtigte wirkliche Selbstopferung denken lässt. 55 Vielmehr wird nach Zeller (Luther zitierend) der Irrealis so aufzunehmen sein: Unter dem Zeichen des höchsten Hasses gegen sich selbst macht Paulus die höchste Liebe zum anderen offenbar. 56 Die zweite Bitte, es möge sein Dienst für Jerusalem von den Heiligen freundlich angenommen werden, lenkt nun den Blick von der jüdischen Gegnerschaft in Judäa hin zur judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem. Mit διακονία spricht Paulus die Kollekte an, deren Einsammlung in den heidenchristlichen Gemeinden für die Urgemeinde, speziell wohl für die Armen (Gal 2,10; Röm 15,26) in ihr, er nach Gal 2,10 auf dem Apostelkonzil übernommen hatte. Ich übergehe hier die präzise Rekonstruktion des Kollektenwerks, wie es sich aus den paulinischen Aussagen und aus dem (relativen Negativ-)befund der Apostelgeschichte ergibt. Über den unmittelbaren Anlass der Kollekte herrscht in der Forschung erwarten gewesen waren. 50 H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen 2 1972, 131. 51 Haacker, Römerbrief, 313. 52 Haacker, Römerbrief, 182. 53 Haacker, Römerbrief, 182. 54 Ausführlich begründet bei D. J. Moo, The Epistle to the Romans, NICNT, Grand Rapids 1996, 558. 55 Ob der Gesamtrahmen paulinischer Theologie dieses von Haacker erwogene „Martyrium für Israel“, welches ja einen weiteren „Sonderweg Israels zum Heil“ an Christus vorbei darstellt, zulässt, scheint mir zweifelhaft zu sein (vgl. allerdings Kol 1,24). 56 D. Zeller, Der Brief an die Römer, RNT, Regensburg 1985, 172. Zeller verweist auch darauf, dass der Gebetswunsch in Röm 9,3 mit Röm 8,35-39 nicht auszugleichen ist. <?page no="92"?> 92 Die letzte Jerusalemreise des Paulus keine Einigkeit. Denkbar ist ein rein wirtschaftlicher Ausgangspunkt, der mit der Verarmung der Jerusalemer Urgemeinde gegeben ist. Ich halte es für wahrscheinlich, dass es in der Frühzeit mehrere Unterstützungsaktionen für Jerusalem gegeben hat, die im Wesentlichen von Antiochia ausgingen. 57 Als unmittelbarer Anlass für die Kollektenvereinbarung auf dem Apostelkonzil wird die Hungersnot in Palästina im Jahr 47 / 48 n. Chr. wie auch allgemeine Fürsorge für die Niedrigstehenden in der Urgemeinde genannt. 58 Allerdings hält die Zeitform des Präsens in der Kollektenverpflichtung μόνον τῶν πτωχῶν ἵνα μνημονεύωμεν (Gal 2,10) fest, dass es sich keinesfalls um eine einmalige, sondern um eine fortwährende Aktion handeln soll. Freilich steht mit dem auf längere Zeit angelegten Werk die Kollekte auch unterschiedlichen Interpretationen offen. Paulus beschreibt sie in Röm 15,26-27 als einen gerechten Ausgleich auf der Basis einer gegenseitigen Schuldigkeit. Die Heidenchristen erhalten Anteil an den geistlichen Gütern der Judenchristen, diese wiederum Anteil an den materiellen Gütern der Heidenchristen. 59 Welche Interpretation sich bei den Judenchristen in Jerusalem einstellte, entzieht sich unserer Kenntnis. 60 Paulus erwähnt in Röm 15,26 ausschließlich die Kollekte aus Makedonien und Achaia, über mögliche Gaben aus Galatien, die er nach 1 Kor 16,1 in einer Kollekte angeordnet hatte, schweigt er. 61 Aber auch die Kollekte aus der Achaia und aus Makedonien scheint nicht reibungslos verlaufen zu sein. Nach einer ersten Anordnung muss Paulus in 1 Kor 16,1-4 die Modalitäten der Kollekte erneut ansprechen und schließlich in 2 Kor 8-9 dringlich den Abschluss an- 57 Vgl. dazu: F. W. Horn, Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde, EvTh 58 (1998), 370-383. 58 Dazu Lüdemann, Paulus I, 108 f. 59 Vgl. die Zusammenstellung weiterer theologischer Interpretationen der Kollekte durch Paulus bei Ch. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 165. 60 Vgl. aber den gedrängten Überblick über Interpretationsmöglichkeiten bei G. Klein, Die Verleugnung des Petrus, in: ders., Rekonstruktion und Interpretation. Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament, München 1969, 49-90, 82. 61 Dieses Schweigen (und auch dasjenige über die Sammlung in der Asia nach Act 20,4) kann kaum zufriedenstellend erklärt werden. J. D. G. Dunn, Romans 9-16, WBC 38B, Dallas 1988, 875, vermutet, dass Paulus nur diejenigen Gemeinden erwähne, die in lokaler Hinsicht Rom am nächsten liegen. Demgegenüber hat E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 4 1980, 384, zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass Paulus mit Makedonia und Achaia die römischen Provinzbezeichnungen wiedergibt und nicht die konkreten Namen der Gemeinden. Stilisiert Paulus sein Wirken im Sinne einer Vermittlungstätigkeit zwischen Kirchenprovinzen (vgl. ähnlich Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer, KNT VI, Leipzig 1910, 602)? Zugleich sei das Schweigen über die Sammlung in Galatien der Versuch, den Charakter der Sammlung als Auflage für das Missionswerk zu verhüllen. Demgegenüber hat Wilckens, Römerbrief 1, 46, die Vermutung ausgesprochen, dass die Gemeinde in Galatien nach dem Auftreten der Judaisten ihre Beteiligung zurückgezogen habe. <?page no="93"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 93 mahnen. Nach Röm 15,25 ist das Kollektenwerk jedoch abgeschlossen worden. Was begründet nun die Sorge, die Kollekte werde in Jerusalem möglicherweise abgelehnt werden? Weshalb scheint Paulus nach 2 Kor 9,3-5 plötzlich unter großem Zeitdruck zu stehen, da er eine Delegation zur Einsammlung vorausschickt? Kann man der Einschätzung von Betz folgen: „[…] es könnte mit der Eskalation der Spannungen in Jerusalem zusammenhängen. In Röm 15,30-31 scheint Paulus die Befürchtung zu äußern, daß es bereits zu spät sei, was tatsächlich der Fall war.“? 62 Oder werden andere, nicht mit dem Kollektenwerk und auch nicht mit möglichen Spannungen im Urchristentum zusammenhängende Aspekte ausschlaggebend für die paulinische Sorge sein? Haacker hat in seinem Kommentar zum Römerbrief, in dem er den kirchenpolitischen Ansatz einer Auslegung des Römerbriefs ins Allgemeinpolitische ausweiten möchte 63 , erneut auf den Beschluss der Aufständischen unter dem Tempelhauptmann Eleazar im Jahr 66 n. Chr. verwiesen, von Fremden keine Gaben oder Opfer mehr für den Jerusalemer Tempel anzunehmen. Haacker vermutet: „[…] diesem Beschluß müssen längere Diskussionen vorausgegangen sein, von denen auch Paulus Kenntnis haben konnte, und er scheint nicht auszuschließen, daß die Gemeinde in Jerusalem die Spenden der Heidenchristen ausschlagen könnte, sei es aus Rücksicht auf die Stimmung in der Bevölkerung oder sogar unter dem Einfluß dieser Abgrenzungsparolen.“ 64 Die von Haacker angesprochene Situation soll kurz beleuchtet werden. 65 Nach Jos, bell 2,408 f. überredet der Tempelhauptmann Eleazar, Sohn des Hohenpriesters Ananias, nachdem die Aufständischen die von den Römern besetzte Burg Masada eingenommen haben, die im Tempel diensttuenden Hohenpriester, sie sollten von Nichtjuden keine Gaben oder Opfer mehr annehmen (μηδενὸς ἀλλοτρίου δῶρον ἢ θυσίαν προσδέχεσθαι). Josephus wertet im Rückblick dieses Ereignis als Auslöser des Kriegs gegen die Römer. Obwohl sich nach 2,411 die einflussreichsten Bürger mit den Hohenpriestern und den bedeutenden Pharisäern für die Beibehaltung der seit Langem überkommenen Praxis, Geld für den Tempelbau und Weihegeschenke von Nichtjuden anzunehmen (2,413), aus- 62 Betz, 2. Korinther 8 und 9, 175. Schmithals, Paulus, 68 Anm. 2, vermutet, dass ἐὰν δὲ ἄξιον ᾖ (1Kor 16,4) bereits anzeige, „daß er wegen der Lage in Jerusalem unschlüssig ist, ob er persönlich nach dort reisen soll.“ 63 Haacker, Römerbrief als Friedensmemorandum, 37; vgl. auch 33: Überlagerung von innerkirchlichen und allgemeinpolitischen Spannungen. 64 Haacker, Römerbrief, 314 f.; vgl. auch ders., Exegetische Probleme des Römerbriefs, NT 20 (1978), 1-21; ders., Römerbrief als Friedensmemorandum, 33 f. 65 Die Vorgänge im Einzelnen und der politische Hintergrund der sogenannten Kaiseropfer- Episode sind bei P. Egger, „Crucifixus sub Pontio Pilato“. Das „crimen“ Jesu von Nazareth im Spannungsfeld römischer und jüdischer Verwaltungs- und Rechtsstrukturen, NTA 32, Münster 1997, 115 f., dargestellt. <?page no="94"?> 94 Die letzte Jerusalemreise des Paulus sprechen, gelingt es den Aufständischen, die neue Ordnung durchzusetzen. Dies muss ein sehr provokativer Akt gewesen sein. 66 Einerseits, weil der sich widersetzende Teil der Jerusalemer je eine Gesandtschaft an Florus und an Agrippa schickt mit der Bitte, den Aufstand niederzuschlagen. Andererseits kann das jüdische Volk auf eine lange Tradition heidnischer Unterstützung zurückblicken: Jos, ant 18,81 f. (jüdische Missionare werben bei Heiden um Spenden für Jerusalem); Esr 1,4; 6,8-10; 7,15-22; 2 Makk 3,2 etc. 67 Die Vermutung Haackers hat in dieser Zuspitzung m. E. wenig Plausibilität. Auch wenn dem Beschluss der Aufständischen möglicherweise längere Diskussionen vorausgingen 68 , würden sie über zehn Jahre, also bis in die Zeit der Abfassung des Römerbriefs, zurückreichen? Weshalb hält Paulus an der Sammlung der Kollekte fest, wenn er, wie Haacker vermutet, Kenntnis von dem Beschluss der Aufständischen hatte? Woher weiß Haacker, dass die Jerusalemer Gemeinde, wenn sie die Spenden ausschlägt, gegebenenfalls schon unter dem Einfluss derjenigen Zeloten steht, die doch erst zehn Jahre später einen klaren Beschluss fassen? Das ganze Kollektenwerk und die Abmachung auf dem Konvent werden unverständlich, wenn die Vorbehalte gegenüber heidnischen Geldern schon Jahrzehnte vor Ausbruch des Aufstandes im allgemeinen Bewusstsein waren. Überhaupt wird deutlicher zu unterscheiden sein zwischen heidnischem Geld für den Jerusalemer Tempel (kultischer Aspekt) und heidnischem Geld für Bedürftige unter den Jerusalemer Judenchristen (sozialer Aspekt). 69 66 Nach M. Hengel, Die Zeloten, AGJU 1, Tübingen 2 1976, 204-211, kann der 15. Punkt der 18 Halachot, die nach jSchab 3c 34 ff Bar im Lehrhaus Rabbi Schammais mit dem Ziel des Abbruchs aller Kontakte zu den Heiden beschlossen worden sind, diesem Ereignis zugeordnet werden. 67 Vgl. hierzu den Appendix bei E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B. C.-A. D. 135). A New English Version Revised and Edited by G. Vermes, F. Millar und M. Black, Vol. II, Edinburgh 1979, 309-313 (Gentile Participation in Worship at Jerusalem). 68 Die Einschätzung bei Haacker, Römerbrief als Friedensmemorandum, 33, der Aufstand sei „jahrzehntelang ideologisch vorbereitet worden“, halte ich für überzogen. Es ist deutlich zu unterscheiden zwischen politischen, sozialen bzw. religiösen Motiven der einzelnen Gruppierungen unter den Aufständischen. Es hat unter ihnen bis in die letzte Zeit der Kämpfe in Jerusalem keine einheitliche Ideologie gegeben. Die These der Anbindung eines Teils der frühen Jesusbewegung an zelotische Strömungen kann aus verschiedenen Überlegungen nachvollzogen werden, sie scheidet m. E. aber für die Urgemeinde im Vorfeld des jüdischen Krieges aus, da in dieser Hinsicht die Quellenlage nichts hergibt. 69 Diese Kritik auch bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK VI / 3, Zürich u. a. 1982, 129 Anm. 625; Becker, Paulus, 483. <?page no="95"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 95 3 Folgerungen Die von Paulus ausgesprochene Angst vor der jüdischen Gemeinde in Judäa ist eine präzise Wahrnehmung der eigenen Situation, für die folgende Faktoren bestimmend sind: - Seit dem antiochenischen Konflikt wird die paulinische Mission in Jerusalem und in den Gemeindegründungen im Westen neben jüdischen Interventionen begleitet von judenchristlichen Missionaren, für die eine stärkere Bindung an die Jerusalemer Gemeinde und an den von Paulus weithin nicht mehr geteilten jüdischen Rahmen christlicher Theologie bestimmend ist (Act 13,50; 14,2.19; 15,2; 17,5.13; 18,12; 20,3; 2 Kor 11,5.22; Gal 6,12 f. u. ö.). 70 Dieser Antipaulinismus hat sich im Lauf der Zeit verstärkt. Er tritt in Philippi präventiv (Phil 3,2) bereits vor Eintreffen des Apostels auf und erwartet ihn ebenso bereits in Jerusalem (Act 21,20). - Oftmals hat Paulus den massiven, gelegentlich sogar für ihn lebensbedrohlichen Gegensatz der jüdischen Synagogalgemeinden erfahren (2 Kor 11,24-26). Diese Verfolgungen in der Diaspora dürften den jüdischen Gemeinden in Judäa nicht unbekannt geblieben sein, möglicherweise sogar ihre Unterstützung gefunden haben. 71 - Im weiteren Vorfeld des jüdischen Kriegs ist in Judäa eine zunehmende Distanzierung gegenüber römischem Einfluss zu beobachten. Man kann annehmen, dass innerhalb der Urgemeinde aufgrund ihrer Scharnierstellung zwischen jüdischer Tempelgemeinde und heidenchristlichen Gemeinden in der Diaspora Kontakte zu Letzteren sehr sorgsam geprüft wurden, um die eigene Stellung nicht zu gefährden. 72 - Die Verpflichtung für das Kollektenwerk liegt mittlerweile sieben Jahre zurück. Zwischenzeitlich hat Paulus allenfalls ein einziges Mal Jerusalem besucht (Act 18,22), allerdings dann nicht, um die Kollekte abzuliefern. Über den Verbleib der Sammlung in Galatien erfahren wir nichts. 73 Die nach Jerusalem 70 Käsemann, Römerbrief, 392: „wenn die Konflikte mit der Muttergemeinde seit dem Zwischenfall in Antiochien sind und die Grenze des Abbruchs der gegenseitigen Beziehungen erreicht haben“. Nach Käsemann „scheinen die getroffenen Vereinbarungen (des Konzils) gegenstandslos geworden zu sein.“ 71 Hier wäre etwa an die von Lukas vorausgesetzten Verbindungen der Tempelgemeinde zu Verfolgungen der Christen in der Diaspora zu erinnern (Act 9,1 f.). 72 Gegenüber Haacker, Römer (s. o.), möchte ich also diese zelotische Stimmung in Jerusalem und den auf sie Bezug nehmenden allgemeinpolitischen Auslegungsansatz nicht überbewerten, als allgemeinen Untergrund der politischen Situation aber auch nicht vernachlässigen; ebenso Dunn, Romans 9-16, 883; Becker, Paulus, 483. 73 Wilckens, Abfassungszweck, 135, vermutet, dass die galatischen Gemeinden das bei ihnen gesammelte Geld nicht in die paulinische Kollekte haben einfließen lassen. <?page no="96"?> 96 Die letzte Jerusalemreise des Paulus mitgeführte Kollekte stammt, wie oben erwähnt, aus den Gemeinden in Makedonien und der Achaia. Sie scheint nicht das Ergebnis einer langjährigen Sammlung zu sein, sondern wurde wohl kurz vor der Abreise in Eile fertiggestellt. 74 - Der Stellenwert von Geldgaben innerhalb der antiken Gesellschaft lässt häufig eine soziale und politische Brisanz erkennen. Paulus spielt in Röm 15,26 f. bewusst auf den mit der Geldgabe verbundenen Aspekt der Anerkennung des Gebers durch den Empfangenden an und genauso umgekehrt 75 . Er stellt aber die Kollekte nicht mehr als Lastenausgleich zwischen Armen und Reichen im Sinne von 2 Kor 8,13 f. dar. Paulus setzt mithin die Kollektenthematik als Mittel für die Anerkennung seiner Mission ein. 76 - Die Darlegung dieser Thematik im Römerbrief kann kaum anders verstanden werden, als dass Paulus darauf baut, dass die römische christliche Gemeinde, möglicherweise auch mit Hilfe der Kontakte zu den römischen Synagogen, sich für ihn in Jerusalem bei der Tempelgemeinde und bei der Urgemeinde einsetzt. 77 Über den Verbleib der Kollekte kann man nur spekulieren. Die häufig aufgemachte Alternative „Annahme oder Ablehnung“ ist möglicherweise zu einfach. 78 Das Schweigen der Apostelgeschichte deutet doch wohl an, dass sich die Übergabe nicht reibungslos, auf jeden Fall aber nicht im Sinne ihrer ursprünglichen Intention vollzog. Ich halte es für möglich, dass die Aktion zur Auslösung der Nasiräer im Kontext der Kollektenabgabe interpretiert werden kann. Es müsste dies zugleich - und so stellt Act 21,24 es ja auch dar - in der Absicht des Paulus ein letzter Versuch gewesen sein, in Jerusalem seinen rechtgläubigen Standort unter Beweis zu stellen. 79 74 Röm 15,26 f. bindet die Kollekte nicht mehr an den Beschluss des Apostelkonvents und eine ihm korrespondierende Aufforderung des Apostels, sondern an einen Beschluss der Gemeinden in Makedonien und in der Achaia. 75 J. A. Fitzmyer, Romans, AncB 33, New York 1993, 721, betont für Röm 15 den Sinn der Kollekte als Zeichen der Anerkennung der Muttergemeinde durch die Heidenchristen. 76 Spekuliert Paulus mit der Kollekte auf eine weitreichende Amnestie seiner Person? E. Lohse, Summa Evangelii - zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefs, NAWG. PH, Göttingen 1993, 102: „Darüber war man sich ohne Zweifel auch in Jerusalem im klaren, daß mit einer Ausnahme (sic! ) des Geldes zugleich auch eine Anerkennung seiner Geber […] verbunden sein würde.“ 77 So etwa auch P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 1989, 215; Fitzmyer, Romans, 726. 78 So jetzt wieder Fitzmyer, Romans, 726, gegen Dunn, Romans 9-16, 881. 79 Ich habe diesen Vorschlag in Horn, Paulus, das Nasiräat, unterbreitet und freue mich jetzt über Zustimmung durch Koch, Kollektenbericht, 380, und Wolter bei Koch ebd., kann aber gegen K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen / Basel 1994, 164, nicht sehen, dass nach „überwiegender Meinung <?page no="97"?> Die letzte Jerusalemreise des Paulus 97 Es ist abschließend die Frage zu stellen: Weshalb entschließt sich Paulus in Abänderung seiner früheren Überlegung (1 Kor 16,1-4), die Kollekte jetzt persönlich nach Jerusalem zu bringen, obwohl er um die Gefahren dieser Reise weiß und obwohl sein Missionsplan ihn nach Spanien führt? Wäre „Paulus nicht besser bei seinem ursprünglichen Plan geblieben […], die Reise nach Jerusalem nicht selbst zu unternehmen“ 80 ? Weshalb kann die Spanienmission nicht angetreten werden, ohne zuvor persönlich nach Jerusalem gegangen zu sein? Es will scheinen, als hinge die Zukunft der paulinischen Mission an dieser Jerusalemreise. Bei der Beantwortung dieser Frage sind vielleicht „mannigfache Auskünfte von gleicher Wahrscheinlichkeit und Unsicherheit“ 81 möglich. Meine Vermutung geht dahin, dass einerseits der Verweis auf die Notwendigkeit der Beendigung der Kollekte 82 und ihrer „versiegelten“ Übergabe 83 in Röm 15,28 anzeigt, dass für Paulus die Einlösung der Kollektenverpflichtung zu diesem Zeitpunkt unabdingbare Voraussetzung jeglicher weiterer Missionsarbeit war. Andererseits aber sucht derjenige Paulus, der den Römerbrief immer mit Blick auf Judäa und Jerusalem geschrieben zu haben scheint 84 , der vor allem in Röm 9-11 eine Antwort auf die für ihn sich als Aporie darstellende Rolle Israels angesichts der Verkündigung des Evangeliums gesucht und gefunden hat, nun auch - nach Jahren - die offene Begegnung mit Israel in Judäa und der Urgemeinde in Jerusalem. Er hat die Hoffnung, dass die Gebete der römischen Gemeinde und die Botschaft des Römerbriefs ihm vorausgehen, dennoch wissend, dass diese letzte Reise unter todesbedrohlichen Vorzeichen steht. der Forschung […] Paulus die Kollektengelder in Jerusalem für die in Act 21,16 berichtete Ausweihung der Nasiräer eingesetzt“ hat. 80 Betz, 2. Korinther 8 und 9, 252. 81 So O. Kuss, Paulus. Die Rolle des Apostels in der theologischen Entwicklung der Urkirche, Regensburg 1971, 204. 82 Ἐπιτελέω wie in 2 Kor 8,6.11 auf das Zu-Ende-Bringen der Kollekte bezogen. 83 Mit Recht vermutet Fitzmyer, Romans, 723, dass Paulus mit dem Bild der versiegelten Frucht, welches zweifelsfrei für die Kollekte und den gleichsam mit dem Namen des Paulus versiegelten vollen Betrag stehen soll, Verdächtigungen in Jerusalem gegenüber seinem Kollektenwerk voraussetzt; zustimmend auch Dunn, Romans 9-16, 877. 84 Diese Einsicht von G. Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, in: ders., Geschichte und Glaube II, BEvTh 53, München 1971, 120-139, ist m. E. fundamental für das Verständnis des Römerbriefs, auch wenn sie nicht einseitig als einziger Abfassungszweck angesehen werden sollte; aufgenommen wurde diese These etwa von Wilckens, Römerbrief I, 46; ders., Abfassungszweck, 150; J. Jervell, The Letter to Jerusalem, in: Donfried, Debate, 53-64. <?page no="98"?> 98 Ist Paulus der Begründer des Christentums? Ist Paulus der Begründer des Christentums? * In der frühchristlichen Apostelgeschichte „Die Taten des Paulus und der Thekla“ aus dem Ende, vielleicht sogar der Mitte des 2. Jahrhunderts findet sich das erste Portrait des Paulus: „ein Mann, klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Angesicht“ (Aa III , 3). 1 Ist dieser Mann der Begründer des Christentums? Ich möchte eine grundsätzliche Frage thematisieren, zu der jeder, seien er oder sie nun Studierende oder Lehrende der Theologie, Christin oder Christ in einer Kirche, gleich welcher Konfession, oder einfach jemand, der sich dem christlichen Kulturraum zugehörig weiß, eine Antwort suchen sollte. Das Christentum hat in einem historischen Sinn keinen eigentlichen Geburtsort, keine Geburtsstunde, kein Gebäude und keinen Offenbarungsgegenstand, die unverwechselbar einen Anfang markieren. Ist Paulus sein Religionsstifter? Diese Frage ist nicht neu, und sie begleitet die Wissenschaft spätestens seit der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart. 2 In einem ersten Teil möchte ich den forschungsgeschichtlichen Hintergrund dieser Frage an drei wesentlichen Positionen der neueren Theologiegeschichte skizzenhaft aufzeigen. Ein zweiter Teil wird den historischen Standort des Paulus umreißen, ein dritter Teil wird meine Antwort auf die Frage „Ist Paulus der Begründer des Christentums? “ geben. Methodisch wird hierbei unterschieden zwischen dem zu rekonstruierenden Selbstverständnis des Apostels Paulus und der Wirkungsgeschichte seiner Briefe. 1 Diese von Wilhelm Schneemelcher verantwortete Übersetzung der „Taten des Paulus und der Thekla“ findet sich in: ders. (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2, 5. Aufl.,Tübingen 1989, 216-224, hier 216. 2 Vgl. etwa das neue Buch von Gerd Lüdemann, Paulus, der Gründer des Christentums, Lüneburg 2001. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Ist Paulus der Begründer des Christentums“, in: Hermann Deuser / Gesche Linde / Sigurd Rink (Hg.), Theologie und Kirchenleitung. Festschrift für Peter Steinacker zum 60. Geburtstag, MThSt 75, Marburg: N. G. Elwert, 2003, S. 31-44. <?page no="99"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 99 I. Begründer oder zweiter Begründer des Christentums? Zur Forschungsgeschichte Ich gehe im Folgenden zunächst auf drei theologiegeschichtlich klassische Positionen ein. Der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel beeinflusste Tübinger Theologe Ferdinand Christian Baur (1792-1860) thematisierte in seinen 1864 posthum herausgegebenen Vorlesungen über neutestamentliche Theologie 3 das Verhältnis von Jesus zu Paulus im Rahmen eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses. Jesus verkündete die kommende Herrschaft Gottes und formulierte Forderungen, wie ihr zu begegnen sei. Jesus machte jedoch nie seine Person zum Gegenstand der Lehre. Anders Paulus: Er, der kein Jünger Jesu war, gibt nicht die Botschaft Jesu weiter, sondern macht die Person Jesu zum unmittelbaren Gegenstand seiner Lehre. Nach Baur ist Paulus an der Verkündigung Jesu geradezu uninteressiert. Er blickt ausschließlich auf die Person Jesus, d. h. auf die im Glauben gedeutete Person. Hierbei steht der Tod Jesu und die Deutung dieses Todes beherrschend im Mittelpunkt. Dies stellt eine historische Diskrepanz zwischen der Verkündigung Jesu und der Lehre des Paulus dar. Nur in einer Hinsicht erkennt Baur eine Übereinstimmung zwischen der Lehre des Paulus und der Verkündigung Jesu. Schon Jesus habe, so Baur, in einem Gegensatz zum Judentum gestanden. Paulus aber habe diesen Gegensatz bewusst zur Geltung gebracht und in einer prinzipiellen Differenzierung zwischen Christentum und Judentum das Christentum zu einer selbstständigen absoluten Größe erhoben. „Ist nun das Christentum das, was es seinem wahren Wesen nach ist, erst im Unterschied vom Judentum, in dem bestimmten Bewusstsein seines vom Judentum verschiedenen Prinzips, so ist es erst durch den Apostel Paulus zu dieser selbstständigen absoluten Bedeutung erhoben worden.“ 4 Zwei Generationen später veröffentlichte der aus der Göttinger Religionsgeschichtlichen Schule stammende William Wrede 5 (1859-1906) im Jahr 1904 in den populärwissenschaftlichen „Religionsgeschichtlichen Volksbüchern für die deutsche christliche Gegenwart“ seinen „Paulus“. Das opusculum umfasst gerade einmal 113 Seiten, kaum Anmerkungen, stellt jedoch die Frucht jahrelanger Beschäftigung mit dem Gegenstand dar. 6 Albert Schweitzer, einer der wahrhaft 3 Ferdinand Christian Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, Bde. 1-2, hg. v. Ferdinand Friedrich Baur, neue Ausg. mit einer Einl. v. Otto Pfleiderer, Gotha 1892 [BThK 45-46]. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung: William Baird, History of New Testament Research, Bd. 1: From Deism to Tübingen, Minneapolis 1992. 4 F. Ch. Baur, Vorlesungen, Bd. 1, 164. 5 Vgl. jetzt William Wrede, Gesammelte theologische Studien, Bde. 1-2, hg. und eingel. v. Werner Zager, Waltrop 2002 [Theologische Studientexte 14 / 1-2]. 6 William Wrede, Paulus, 1-10. Tsd., Halle 1905 [RV / I 5-6]. Die zweite Auflage Tübingen 1907, 3-10, enthält eine von Wilhelm Bousset verfasste lesenswerte Einleitung. Ein <?page no="100"?> 100 Ist Paulus der Begründer des Christentums? innovativen Paulusforscher zu Beginn dieses Jahrhunderts, hat dieses Buch von Wrede nicht allein der Theologie zugerechnet, sondern sogar der Weltliteratur. 7 Auch Wrede betont den großen Abstand des Paulus zu Jesus. „Jesus weiß von dem, was für Paulus das ein und alles ist, - nichts.“ 8 Für Paulus ist das Zentrum der Verkündigung der Zusammenhang von geschichtlich-übergeschichtlichen Taten Gottes: Menschwerdung Jesu, Tod und Auferstehung des präexistenten Christus. Der historische Jesus, so wie er wirklich war, tritt für Paulus demnach ganz in den Hintergrund. Paulus hat, so Wrede, die Erscheinung Jesu mit Ideen von Christus aufgefasst, die ganz unabhängig vom Menschen Jesus entstanden sind. Wie soll das möglich gewesen sein? Nach Wrede glaubte Paulus bereits an ein göttliches Himmelswesen, an einen Christus, ehe er an Jesus glaubte. Er trug das Bild des Messias bereits mit sich und in seiner Bekehrung, in der Begegnung mit dem Auferstandenen, übertrug er dieses Bild auf den Menschen Jesus. Der Mensch Jesus wird hierbei von dem Bild, das Paulus zuvor bereits hatte, völlig subsumiert. Wrede spricht von einem objektiven Abstand der paulinischen Lehre zur Predigt Jesu. Da aber sowohl Jesus als auch Paulus unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Zielsetzungen wirkten, spricht Wrede von Paulus als dem zweiten Stifter des Christentums. „Dieser zweite Stifter der christlichen Religion hat ohne Zweifel gegenüber dem ersten im ganzen sogar den stärkeren - nicht den besseren - Einfluß geübt“ 9 . Was Paulus lehrte, war, so Wrede, im Übrigen nicht mehr eine Form des jüdischen Glaubens, sondern eine „Religion mit eigenem Prinzip dem Judentum gegenüber“ 10 . Ein dritter Hinweis, wieder ein Abstand von zwei Generationen. Der Marburger Theologe Rudolf Bultmann (1884-1976) eröffnet seine 1953 erschienene „Theologie des Neuen Testaments“ mit dem Satz: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst.“ 11 „Christlichen Glauben gibt es erst, seit es ein christliches Kerygma gibt, d. h. ein Kerygma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen.“ 12 War dies der erste Satz, den Bultmann in seinem Werk überhaupt und nun speziell über Jesus sagt, so lautet der erste Satz im Teil über Paulus: „Die geschichtliche Stellung des Paulus ist dadurch bezeichnet, daß er […] die theologischen Nachdruck findet sich in Karl-Heinrich Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, Darmstadt 1969 [WdF 24], 1-97. 7 Vgl. Albert Schweitzer, Geschichte der paulinischen Forschung von der Reformation bis zur Gegenwart, Tübingen 1911. 8 W. Wrede, Paulus, 94. 9 A.a.O., 104. 10 Ebd. 11 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 6., durchges. Aufl., Tübingen 1968, 1. 12 A.a.O., 2. <?page no="101"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 101 Motive, die im Kerygma der hellenistischen Gemeinde wirksam waren, zur Klarheit des theologischen Gedankens erhoben, die im hellenistischen Kerygma sich bergenden Fragen bewußt gemacht und zur Entscheidung geführt hat und so zum Begründer einer christlichen Theologie geworden ist“ 13 . Diese forschungsgeschichtlichen Hinweise können hier genügen. Sie haben im Verweis auf drei bedeutsame Positionen - Baur, Wrede, Bultmann - zunächst auf einen grundsätzlichen Sachverhalt aufmerksam gemacht: Im Zentrum des christlichen Glaubens steht Jesus, aber eben nicht als der Prediger oder Lehrer, sondern sein Geschick in Tod und Auferweckung sowie der Verweis auf die himmlische Herkunft und zukünftige Wiederkunft als Kyrios, und dies wiederum in unterschiedlichen theologischen Deutungen. Dem ist im Kern zuzustimmen. Es hat in der Frühzeit kein Christentum gegeben, das die Schwerpunkte hier deutlich anders gesetzt hätte. Die Rückkehr zu einer einfachen Nachfolge Jesu ohne diesen ganzen „mythologischen“ Überbau ist eine neuzeitliche, moderne, romantisierende Vorstellung. Gemeinsam haben die drei vorgestellten Positionen betont, dass Paulus wohl der erste Theologe im Urchristentum ist, der in großer Konsequenz in seiner Verkündigung und in seinen Briefen versucht hat, die Fragen individueller menschlicher Existenz und überindividueller Heilsgeschichte durchgehend auf das Christusereignis zu beziehen und denkend zu bewältigen. Freilich ist die strikte Gegenüberstellung von Jesus und Paulus in mancherlei Hinsicht revisionsbedürftig. Sie ist historisch simplifizierend, von Wrede und von Bultmann daher als historische Kategorie schon aufgegeben worden. Zwischen Jesus und Paulus steht, so Wilhelm Heitmüller und Wilhelm Bousset in Veröffentlichungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts 14 , die sog. hellenistische 13 A.a.O., 188. 14 Wilhelm Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus, 3. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 2. umgearb. Aufl., Göttingen 1926 [FRLANT 4], 75; Wilhelm Heitmüller, Zum Problem Paulus und Jesus, in: Zeitschrift für die neutestamentiche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 13 (1912), 320-337. - Martin Hengel / Anna Maria Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, Tübingen 1998 [WUNT 108], haben sich jetzt vehement gegen das „fast möchte man sagen: Phantom - einer ‚ heiden christlichen Ur gemeinde‘“ ausgesprochen (424) und die These unterbreitet: „Ein wirklich selbständiges ‚Heidenchristentum‘ begegnet uns erst nach 70“ (426). Es wird selbst für Antiochien die Möglichkeit einer heidenchristlichen Gemeinde in Abrede gestellt. Ohne den prägenden Anteil judenchristlicher Missionare für Antiochien bestreiten zu wollen, werden aber doch die maßgeblichen Konflikte zwischen Jerusalem und Antiochien (Gal 2,11-14; Apg 15,2) kaum anders erklärt werden können, als dass in Antiochia ein wesentlicher Anteil der Gemeinde und ihrer Repräsentanten (etwa Titus: Gal 2,3) aus Heidenchristen bestand, denen jüdische Lebensweise fremd war. <?page no="102"?> 102 Ist Paulus der Begründer des Christentums? Gemeinde. 15 Sie ist der eigentliche Nährboden auch der paulinischen Theologie. Paulus tritt nach seiner Berufung in christliche Gemeinden ein, eben in die hellenistischen, d. h. bereits heidenchristlich geprägten christlichen Gemeinden in den Städten Damaskus, Tarsus und Antiochia, und empfängt hier die primäre Gestalt christlicher Theologie, die ihn langfristig prägt. Die absolute Gegenüberstellung von Jesus und Paulus lässt sich zudem von einer problematischen, gleichfalls historisch simplifizierenden Gegenüberstellung der Größen Judentum - Christentum leiten. Je orientalisch-synkretistischer man die hellenistische Gemeinde und je hellenistischer man Paulus dachte, umso mehr konnten sie beide vom Judentum distanziert werden und diese Ablösung wurde nicht selten mit entwicklungsgeschichtlichen Kategorien wie denjenigen der Ablösung, Befreiung und Vollendung der wahren Religion verbunden. Zweifelsfrei umgibt Jesus in seiner Zeit ein Judentum, das vielfältig ist und unterschiedlichen Richtungen und Gruppierungen Raum gibt. Jedoch lebt auch Paulus im Judentum seiner Zeit. 16 Wir haben die jüdische Matrix seiner Theologie wiederentdeckt, wenn auch noch nicht umfassend bestimmt. Eine definitive Trennung der Kirche von Israel bzw. der Synagoge von der Kirche hat sich in manchen Kirchengebieten erst zum Ende des zweiten Jahrhunderts vollzogen. 17 Das schon klassische, allerdings bis in die Gegenwart hinein von Juden und Christen vertretene Leitbild eines Paulus, der sein Judentum hinter sich ließ, um eine neue Religion zu gründen, kann so nicht nachvollzogen werden. 18 Jedoch habe ich Zweifel, ob eine Repatriierung des Paulus in die jüdische Glaubensgeschichte, 15 Der Ausdruck „Hellenisten“ greift zurück auf die Erwähnung der sog. Hellenisten in Jerusalem (Apg 6,1), die nach der Verfolgung der Jerusalemer Kirche im Anschluss an die Steinigung des Stephanus, von der die Apostel und damit wohl auch die sog. Hebräer (Apg 6,1) ausgenommen sind, Jerusalem verlassen und sich u. a. in Antiochia niederlassen (Apg 11,19). Antiochia wird bald ein maßgebliches Zentrum des frühen Christentums. Barnabas (Apg 11,22), Paulus (Apg 11,26) und Petrus (Gal 2,11) gehören zeitweilig dieser Gemeinde an. Zu Antiochia: Wolfgang Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia, Stuttgart 1999 [SBS 191]. Irreführend ist gewiss, den Ausdruck „die hellenistische Gemeinde“ auf das gesamte heidenchristliche Spektrum des frühen Christentums zu übertragen. Es sind die jeweiligen Prägungen und Besonderheiten der einzelnen Gemeinden nicht in ein vereinheitlichendes Bild zu nivellieren, welches ein Gegenüber zum Judenchristentum darstellen soll. 16 Vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, Tübingen 1992 [WUNT 62]. 17 James D. G. Dunn (Hg.), Jews and Christians. The Parting of the Ways A. D. 70 to 135, Tübingen 1992 [WUNT 66]. 18 Vgl. die knappen forschungsgeschichtlichen Hinweise bei Gerd Lüdemann, Paulus und das Judentum, München 1983 [ThEx 215], 13-19. <?page no="103"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 103 eine Heimholung des Ketzers - so Stefan Meißner in einer gelehrten Doktorarbeit 19 - der anstehenden Problemlage gerecht wird. Die Beantwortung der Frage „Ist Paulus der Begründer des Christentums? “ kann sich nicht mehr von einer einfachen Entgegensetzung Jesus - Paulus oder Judentum - Paulus leiten lassen. Wir müssen weiter ausholen. II. Der historische Standort des Paulus Über Paulus erfahren wir vornehmlich etwas durch seine erhalten gebliebenen sieben Briefe an urchristliche Gemeinden bzw. an eine Privatperson sowie durch die Apostelgeschichte des Lukas, die zwar in einem Abstand von gut zwei Generationen zu Paulus verfasst worden ist, aber doch viele wertvolle Informationen bietet. 20 Paulus hat mehr Briefe als die genannten geschrieben (1 Kor 5,9; Kol 4,16; als Problem auch 2 Thess 2,2). Sie sind wohl früh verlorengegangen, erhalten blieben diejenigen, die in den Gemeinden nicht verdrängt, sondern bald mehrfach kopiert wurden. Die Klassifizierung dieser Briefe als Gelegenheitsschreiben, die auf Anfragen aus den ersten christlichen Gemeinden, auf Nachrichten und Probleme eingehen, ist verkürzend. Diese Briefe sind von Paulus wohl für konkrete Gemeinden geschrieben worden; der theologische Anspruch der Briefe geht jedoch, was bei den Briefen an die Römer, Galater und dem zweiten Brief an die Korinther leicht erwiesen werden kann, erheblich über alle situativen Bedingtheiten hinaus. Mit diesem Medium Brief wird eine Kommunikationsform in Anspruch genommen, welche die bereits im Evangelium und seiner Verkündigung angelegte Kommunikation aufnimmt 19 Stefan Meißner, Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus, Tübingen 1996 [WUNT II / 87]. 20 Der historische Wert der Apostelgeschichte bzw. ihrer einzelnen Traditionen - von der Annahme durchlaufender Quellen ist die Forschung mit guten Gründen abgerückt - wird gegenwärtig völlig gegensätzlich beurteilt. Einerseits wird dem Aufriss der Apostelgeschichte als Basis einer Rekonstruktion der urchristlichen Zeitgeschichte der grundsätzliche Abschied gegeben ( Jürgen Wehnert, Die Reinheit des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Heiden. Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets, Göttingen 1997 [FRLANT 173], 273); andererseits aber zeigen neuere Arbeiten, dass nicht nur in den Einzelüberlieferungen, sondern auch in dem Aufriss eine Grundlage, die als historisch verlässlich nachvollziehbar erscheint, erkannt werden kann (Friedrich Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte. Theologie und Geschichte, Tübingen 2002 [WUNT 139]; Heike Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, Berlin / New York 2002 [BZNW 115]). Da auch die paulinischen Briefe durch rhetorische und situative Disposition gekennzeichnet sind, kann die herkömmliche grundsätzliche Vorordnung der Paulusbriefe als der gegenüber der Apostelgeschichte verlässlicheren Geschichtsquelle nicht mehr nachvollzogen werden. <?page no="104"?> 104 Ist Paulus der Begründer des Christentums? und fortsetzt. 21 Im Vergleich zum antiken Brief sind die Briefe des Paulus in der Regel erheblich länger, sie werden daher in rhetorischer Hinsicht gerne nach Vorgaben antiker Reden analysiert. Wir sind also gezwungen, mit Hilfe dieser sieben Briefe, die etwa in einem Zeitraum von gut sieben Jahren verfasst worden sind und aus dem letzten Lebensabschnitt des Paulus stammen, dessen Theologie zu rekonstruieren. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man bedenkt, wir sollten aus sieben von uns geschriebenen Briefen rekonstruieren, was unser Denken bestimmt hat. Der Vergleich hinkt allerdings: der antike Autor hat für die Abfassung eines Briefes (und der Reden allemal) einen enormen Aufwand an vorhergehender Sammlung der Argumente und ihrer Disposition sowie ihrer sprachlichen Ausformung und rhetorischen Darlegung getrieben, so dass den Briefen des Paulus fraglos die Funktion eines verlässlichen Schlüssels zu seiner Theologie zukommt. 22 Dennoch bleiben sie so etwas wie die Spitze eines Eisbergs. Gewiss kann man mehr über Paulus erfahren, wenn man den prägenden religiösen und kulturellen Hintergrund möglichst präzise erfasst. Nun ließe sich dies darstellen als eine Geschichte eines mehrfachen Paradigmenwechsels. Paulus erscheint wie ein Wanderer zwischen verschiedenen Welten. Gehört er mehr in den palästinisch-jüdischen oder mehr in den griechisch-hellenistischen Kulturraum? Oder ist er vornehmlich ein römischer Bürger, der recht konsequent nur dort Gemeinden gründet, wo sich größere römische Siedlungen befinden? Man hat in Paulus einen Rabbi gesehen, der in Jerusalem eine pharisäische Schulbildung genossen hat. Man hat seine Sakramentstheologie verstehen wollen vor dem prägenden Hintergrund hellenistischer Mysterien und seine Ethik vor demjenigen der Stoa. Steht er selbst im Vorfeld der sich erst im zweiten Jahrhundert deutlich artikulierenden Gnosis? Hat er überhaupt ein geschlossenes Denksystem, oder ist er noch auf dem Weg dorthin? 21 Vgl. Hans-Josef Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Paderborn 1998, 329. Die neue Studie von Eve-Marie Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, Tübingen 2002 [NETh 4], erarbeitet die briefhermeneutische Konzeption des zweiten Korintherbriefs und vertieft grundsätzlich die kommunikationstheoretischen Fragen, die mit dem Medium Brief gegeben sind. 22 Ich verweise hier nur auf die zurückliegenden Jahrzehnte neutestamentlicher Forschung zum Thema „Paulus und die antike Rhetorik“. Die wesentliche Literatur ist etwa bei H.- J. Klauck, Briefliteratur, oder bei Michael Theobald, Der Römerbrief, Darmstadt 2000 [EdF 294], 54 f., zusammengestellt. Auf dem SNTS-Jahreskongress 2002 in Durham hat Peter Lampe einen ausgezeichneten Forschungsüberblick zu „Rhetorische Paulusexegese“ vorgelegt: Peter Lampe, Rhetorische Analyse paulinischer Texte - quo vadit? : Methodologische Überlegungen, in: D. Sänger / M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament, Festschrift C. Burchard, NTOA 57, Göttingen / Fribourg 2006, 170-190. <?page no="105"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 105 Paulus stammt von Geburt her aus der Stadt Tarsus, er ist also ein Diasporajude. 23 Nur zu einem geringen Teil lebten Juden in neutestamentlicher Zeit in Palästina, der weitaus überwiegende Teil siedelte seit den Exilierungen in alttestamentlicher Zeit, sodann aber auch durch Migration, Ökonomie und Kriegsfolgen in hellenistisch-römischer Zeit in der Diaspora, im Mittelmeerraum, im Orient und in Oberägypten. Dieses Diasporajudentum hatte sich zusätzlich zur jüdischen Grundhaltung pagane Grundwerte, religiöse Einstellungen, Organisationsstrukturen etc. zu eigen gemacht. Ich möchte jetzt einen gedrängten Überblick über entscheidende Daten in der Vita des Paulus geben, die uns gleichsam schon erstes Material zur Beantwortung der Frage an die Hand geben, ob „Paulus der Begründer des Christentums“ ist. Zunächst begegnet uns Paulus, so berichtet es Lukas in Apg 8,3; 9,1; 22,4, aber auch Paulus selbst in seinen Briefen (1Kor 15,9; Gal 1,13), als Verfolger von Christen in Judäa und in der Nähe von Damaskus. 24 In welchem Auftrag, in welchem Umfang er die Christen verfolgte, das entzieht sich weithin unserer Kenntnis. Wahrscheinlich hat er versucht, Mitglieder der jüdischen Synagogengemeinschaft, die sich zu Jesus als Messias bekannten, zu einem Verhör vor die jüdische Jurisdiktion zu bringen. Es handelte sich also um eine innerjüdische Angelegenheit. Im Zusammenhang dieser Tätigkeit ereignet sich, was wir die Bekehrung des Paulus nennen. Dieser Begriff ist sicher falsch, da Paulus nicht einen Religionswechsel vollzieht. Er deutet dieses Ereignis im Rückblick als eine Prophetenberufung: „Gott offenbarte seinen Sohn in mir, daß ich ihn verkündige unter den Heiden“ (Gal 1,16). Vor Damaskus hat Paulus also Jesus Christus, den die durch ihn Verfolgten als ihren Kyrios bekannten, als Gottes Sohn erkannt, und er weiß sich jetzt beauftragt, diesen Jesus Christus unter den Heiden zu verkündigen. Es handelt sich also nicht um eine Bekehrung, sondern um eine Berufung zu einem bestimmten Auftrag. Vielleicht darf man allenfalls, wie bereits der jüdische Theologe Alan Franklin Segal, von einer Bekehrung innerhalb des Judentums sprechen. 25 Drei Jahre nach der Berufung besucht Paulus, nach Apg 9,27 durch Vermittlung des Barnabas, für zwei Wochen den Jesusjünger Petrus, der ihm bislang 23 Umfassende Informationen zu Tarsus bietet Martin Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders./ Ulrich Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, Tübingen 1991 [WUNT 58], 177-291, hier vor allem 180-212. Allgemein zur jüdischen Diaspora: Tessa Rajak, Art. Jüdische Diaspora, RGG 4 2, 827-830 (Lit.! ). 24 Es war dies wohl auch das erste Zusammentreffen des Paulus mit Christen. Mit der Notiz, der junge Saulus sei bei dem Martyrium des Stephanus zugegen gewesen (Apg 7,58), verstärkt Lukas das Bild des Verfolgers Saulus, ohne dass die Historizität grundsätzlich bestritten werden soll. 25 Alan Franklin Segal, Paul the Convert. The Apostasy of Saul the Pharisee, New Haven 1990. <?page no="106"?> 106 Ist Paulus der Begründer des Christentums? unbekannt war (Apg 9,27 f.; Gal 1,18). Er lebt in der Folgezeit in der Provinz Syrien-Kilikien, also in dem Gebiet seiner Heimatstadt Tarsus. Ob Paulus in dieser Zeit missionarisch tätig war, entzieht sich unserer Kenntnis. Da weder Lukas in der Apostelgeschichte noch Paulus darüber berichten, wird der Erfolg hier wie zuvor auch derjenige in Damaskus (Apg 9,23-25) allenfalls mäßig ausgefallen sein. Ins Rampenlicht der Geschichte tritt Paulus erst durch die Protektion des Barnabas, einer der höchst bedeutsamen Gestalten an der Wiege des Christentums. Barnabas lebt in Antiochia in Syrien, ist aber bereits als Mäzen der Jerusalemer Urgemeinde aufgetreten (Apg 4,36 f.); er unterhält weiterhin Kontakte zu Jerusalem wie auch zu denjenigen Städten und Landschaften, die Ziel der sog. ersten Missionsreise werden. In Antiochia leben allein ca. 65 000 Diasporajuden. In ihrem Schatten hat sich bald eine christliche Gemeinschaft zusammengefunden (Apg 11,19), faktisch zunächst wohl eine Fraktion dieser jüdischen Synagogengemeinschaften vor Ort, bald aber als eigene Gruppierung erkennbar. Durch Barnabas wird Paulus wohl vier Jahre nach seiner Berufung von Tarsus nach Antiochien geholt; und diese Stadt und ihre christliche Gemeinde wird seine geistige Heimat werden, auch wenn er den Kontakt nach der Trennung von Barnabas im Anschluss an den Apostelkonvent nicht mehr aufrechterhält. 26 Noch eine kleine, aber für unsere Fragestellung nicht unerhebliche Bemerkung zu Antiochia. Lukas berichtet in Apg 11,26, dass diejenigen, die sich zu Jesus Christus bekannten, hier zum ersten Mal überhaupt „christianoi“ genannt wurden, d. h. frei übersetzt „die zu Christus Gehörigen“. Diese Bezeichnung ist den „christianoi“ von außen gegeben worden, sie haben sich nicht selbst so benannt. Das heidnische und jüdische Umfeld dieser Christusgruppen hat also wahrgenommen, dass diese sich möglicherweise noch im Synagogenverband befanden, aber doch schon etwas Eigenes darstellten. In einem historischen Sinn ist Paulus damit keinesfalls der Begründer des Christentums. Die Existenz christlicher Gemeinden lässt Saulus zum Verfolger werden. 27 Zudem gibt er in seinen Briefen oft genug zu erkennen, dass er weitergibt, was er in ihnen, also doch wohl überwiegend in Antiochia, empfangen hat (z. B. explizit 1 Kor 11,23; 15,3). Paulus ist nicht der Begründer des Christentums, sondern ein Tradent christlicher Überzeugungen, die vornehmlich in Antiochia, aber auch in Jerusalem, Damaskus oder in Tarsus ausgebildet worden 26 Vgl. zu Barnabas die Monographie von Bernd Kollmann, Joseph Barnabas. Leben und Wirkungsgeschichte, Stuttgart 1998 [SBS 175]. 27 Apg 11,19 verknüpft die Entstehung der antiochenischen Gemeinde mit der Absetzbewegung der Jerusalemer Hellenisten in der Folge des Stephanusmartyriums, während die Verfolgungstätigkeit des Paulus im Anschluss an das Stephanusmartyrium in Apg 9,1 festgehalten wird. <?page no="107"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 107 sind. Es gibt gleichzeitig ein Christentum neben Paulus, also in Gemeinden, die er nicht gegründet hat und auf die er auch keinen Einfluss hatte (Alexandria, Jerusalem, Bithynien / Pontus, große Teile der kleinasiatischen Westküste, nordöstliches Syrien). Es gibt auch ein Christentum an Paulus vorbei, etwa im strengen Judenchristentum, welches die paulinische Infragestellung der Gültigkeit der jüdischen Tora für die Heiden nicht teilt. 28 Es gibt sogar ein Christentum gegen Paulus, welches seine Mission beständig erschwerte und missbilligte und ab der zweiten Missionsreise bis zur Verhaftung in Jerusalem und selbst noch während des Prozesses gegen ihn agiert. 29 Etwa zehn Jahre später tritt Paulus als Partner des Barnabas seine erste Missionsreise an, autorisiert von der antiochenischen Gemeinde. 30 Über die Zwischenzeit bis zu diesem Ereignis wissen wir fast nichts. Der Weg führt nach Zypern, Pamphylien und Lykaonien. Im Einzelfall mag es zur Konversion von Heiden gekommen sein, zumal in den Gebieten, wo kaum jüdische Bevölkerung wohnte. Überwiegend aber hielten sich die Missionare an die örtlichen Synagogen. In deren Umkreis trafen sie auf eine stattliche Zahl von sog. Gottesfürchtigen, „phoboumenoi, sebómenoi“, also Heiden, die gewisse Sympathien für den jüdischen Glauben hegten, von einer Konversion aber absahen. Man konnte dem jüdischen Monotheismus, der sozial ausgerichteten Ethik und dem Altersvorsprung der jüdischen Religion viel abgewinnen. Zugleich aber wurde die jüdische Alltagsfrömmigkeit, wie sie etwa in klaren Reinheits- und Speisevorschriften oder im Festkalender sowie im Initiationsritual der Beschneidung Ausdruck fand, abgelehnt. Die Antiochener treten in ihrer Mission mit einem revolutionären Programm auf: Wenn jemand zu Christus gehört, dann sind die bislang trennenden Unterschiede Jude und Heide, Mann und Frau, Sklave und Freier irrelevant, aufgehoben (Gal 3,28; 1 Kor 12,13). 31 Man kann in die Christusgemeinschaft ein- 28 Vgl. Bernd Wander, Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jahrhundert n. Chr., Tübingen 1994 [TANZ 16]. 29 Den jüdischen bzw. judenchristlichen Hintergrund des Antipaulinismus hat Gerd Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel, Bd. 2: Antipaulinismus im frühen Christentum, Göttingen 1983 [FRLANT 130], erarbeitet. Zur antipaulinischen Agitation im Vorfeld des Prozesses und im Prozessgeschehen: H. Omerzu, Prozeß. 30 Vgl. hierzu: Cilliers Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelgeschichte 13 f.; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefs, Leiden / New York / Köln 1996 [AGJU 38]. 31 Diese Texte geben eine Tradition innerhalb der paulinischen Briefe wieder, die mit guten Gründen in die antiochenische Gemeinde zurückgeführt werden kann. Weitere Traditionen und Metaphern wie diejenige der „neuen Schöpfung“ oder des „In-Christus-Seins“ wären hier gleichfalls anzusprechen; vgl. zur Sache: Ulrich Mell, Neue Schöpfung. Eine traditionsgeschichtliche und exegetische Studie zu einem soteriologischen Grundsatz paulinischer Theologie, Berlin / New York 1989 [BZNW 56]. <?page no="108"?> 108 Ist Paulus der Begründer des Christentums? treten und muss sich als Mann deswegen nicht mehr beschneiden lassen. Wer als Mann Christ wird, braucht nicht mehr die Beschneidung zu übernehmen. Männer und Frauen sind nicht mehr an die jüdischen Reinheits- und Speisevorschriften gebunden, und auch soziale Schichtungen werden relativiert. Es ist dies zweifelsfrei eine Schaltstelle innerhalb der Geschichte des frühen Christentums. Die Urgemeinde in Jerusalem hat diesen Weg mehrheitlich nicht mitgehen können. Eusebius weiß in seiner Kirchengeschichte zu berichten, dass noch im zweiten Jahrhundert die Bischöfe der Jerusalemer Gemeinde beschnitten waren, d. h. sie sind den Gegebenheiten des Judentums treu geblieben. 32 Die Grundsätze der antiochenischen Gemeinde haben eine Sprengkraft. Paulus ist nicht der Begründer dieser Prinzipien, wohl aber ihr Tradent und derjenige, der sie unbeirrt und mit Kraft durchsetzt. In der Folgezeit wird er so kämpferisch für diesen Weg eintreten (etwa im sog. antiochenischen Konflikt: Gal 2,11-14), dass er in eine zunehmende Isolation zu allen maßgeblichen Gruppierungen des Urchristentums gerät. Ich will diese Konflikte nur kurz ansprechen. Im Anschluss an diese erste Missionsreise verteidigen Barnabas und Paulus vor der Jerusalemer Urgemeinde auf dem sog. Apostelkonvent die Grundsätze der antiochenischen Mission (Gal 2,1-10; Apg 15,1-29). Paulus stellt es so dar, als habe man sich per Handschlag (Gal 2,9) auf einen gemeinsamen Weg geeinigt, der ihm und Barnabas das Recht auf Mission unter den Heiden zugesteht, ohne diese zugleich auf die Tora zu verpflichten. Jedoch wird ab jetzt beständig die Mission des Paulus von Nachstellungen und Behinderungen begleitet, die diese Beschlusslage des Apostelkonvents ignorieren. Paulus trennt sich zu Beginn der zweiten Missionsreise, die erstmals bis nach Europa führen wird, endgültig von Barnabas (Apg 15,36-41). Wohl gleichzeitig hat er sich mit Petrus, der den Grundsatz der Freiheit von der jüdischen Speisegesetzgebung nicht konsequent vertrat, überworfen (Gal 2,11-14). 33 Auf der zweiten und dritten Missionsreise gewinnt Paulus eigene Mitarbeiter. Der Kontakt zur Heimatgemeinde Antiochia wird peripher (allenfalls ein Kurzbesuch: Apg 18,22), die Namen Barnabas und Petrus begegnen nicht mehr. Für die jüdische Gemeinde in Jerusalem und auch für Diasporajuden ist Paulus zu diesem Zeitpunkt ein Apostat, ein Abgefallener (vgl. die über Paulus kursierenden Nachrichten in Apg 21,21 und die Gegnerschaft der asiatischen Juden in Apg 21,27), aber auch große Teile der juden- 32 Vgl. Friedrich Wilhelm Horn, Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum, in: NTS 42 (1996), 479-505; wieder abgedruckt in diesem Band. 33 Dieser sog. antiochenische Konflikt ist eine Wegscheide für die paulinische Mission. Die Literatur zu Gal 2,11-21 ist unüberschaubar. Wichtige Hinweise aus der neueren Forschung gibt Christfried Böttrich, Petrus und Paulus in Antiochien (Gal 2,11-21), in: Berliner Theologische Zeitschrift 19 (2002), 224-239. <?page no="109"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 109 christlichen Gemeinde begegnen ihm mit äußerster Reserviertheit (Apg 21,21 f.; Röm 15,31). Paulus tritt die Reise zu seinem letzten Jerusalembesuch mit Sorge um sein eigenes Leben an und ist gleichfalls besorgt darum, ob die Kollekte (Röm 15,30-32), die er in einigen der von ihm gegründeten Gemeinden für die Armen in der Urgemeinde gesammelt hat, angenommen werden wird. In Jerusalem überschlagen sich die Ereignisse. Nach der Apostelgeschichte wird Paulus unter der von kleinasiatischen Juden erhobenen Anklage „Dies ist der Mensch, der alle Menschen an allen Enden lehrt gegen unser Volk, gegen das Gesetz und gegen diese Stätte“ (Apg 21,28) beinahe gelyncht. Nur das Eingreifen der römischen Soldaten verhindert den Übergriff der Menge. Nach jahrelangen Verzögerungen des Prozesses appelliert Paulus als römischer Bürger in höchst bedrohlicher Lage an den römischen Kaiser und wird nach Rom überführt. Hier verlieren sich seine Spuren. 34 Ich will diesen gedrängten Überblick über entscheidende Daten der Vita des Paulus mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen abschließen. Es wurde bereits mehrfach erwähnt, dass Paulus in einem historischen Sinn nicht der Begründer des Christentums ist. Wir müssen uns freimachen von der Vorstellung, im ersten Jahrhundert Judentum und Christentum klar voneinander abgrenzen zu können. Jüdische Existenz unter Einbeziehung des Bekenntnisses zu Jesus Christus ist grundsätzlich möglich. Christliche Existenz unter Beibehaltung des jüdischen Rahmens ebenso. Klarere Konturen werden in einigen Regionen zum Ende des ersten Jahrhunderts erreicht, indem etwa durch jüdische Jurisdiktion Christusgläubige aus der Synagoge ausgeschlossen werden ( Joh 12,42; 16,2) und indem Christen von der Synagoge abwertend als der Synagoge des Satans sprechen (Apk 2,9; 3,9). Selbst der römische Staat scheint sich erst zu Beginn des zweiten Jahrhunderts deutlicher auf eine Unterscheidung zwischen Juden und Christen einzustellen. Welche Gestalt hat das Selbstverständnis des Apostels? Paulus sagt in Röm 11,1: „Auch ich bin ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamin.“ Unzweideutig reklamiert er sein Jude-Sein und spricht von den Juden als von seinen Brüdern (Röm 9,3). Und doch erscheint er mir wie ein Mann oder eine Frau in einer Trennungsphase, in der zur Wahrung der eigenen Sicherheit und zum eigenen Schutz der alte Zustand demonstrativ behauptet wird, in Wahrheit aber schon längst andere Wege beschritten werden. In dem Galaterbrief, wohl nur wenige Jahre vor dem Römerbrief verfasst, zählt Paulus die Heidenchristen und sich selbst zu den Söhnen der Freien und eben nicht zu 34 Zu Apg 21-28 und überhaupt zum Prozess abermals: Omerzu, Prozeß; außerdem Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, Berlin / New York 2001 [BZNW 106]. <?page no="110"?> 110 Ist Paulus der Begründer des Christentums? den Söhnen der Sklavin, die für das gegenwärtige Jerusalem steht (Gal 4,21-31). Paulus befindet sich in einer polemischen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit (in dieser Hinsicht auch Phil 3,4-8) und mit dem Judentum seiner Zeit. Schärfste Attacken wechseln mit einem Werben um Israel. Einmal steht die Tora ganz auf der Seite der Sünde, des Todes des Fleisches (Röm 5,12 f.; 7,7-9.13), dann aber ist die Tora gerecht, heilig und gut (Röm 7,12). Gottes Zorn ist schon über Israel gekommen (1 Thess 2,16), dann aber hofft Paulus auf eine zukünftige Rettung Israels (Röm 11,26). Auch wenn man die Paulusbriefe in der Chronologie ihrer Entstehung liest, bleiben Ungereimtheiten, kann nicht alles mit in sich folgerichtigen Wandlungen erklärt werden. Freilich ist unverkennbar, dass Paulus in seinem letzten Brief, dem Römerbrief, gerade im Blick auf Israel, die Schrift und die alttestamentlich-jüdische Heilsgeschichte Linien zieht, wo er zu früheren Zeiten Schlussstriche gezogen hätte (Röm 1,2.16; 3,21.31 u. ö.) 35 , andererseits aber auch zu einer Universalisierung des Christusgeschehens auf Juden und Heiden durchdringt (Röm 1,18-3,20; 3,23; 5,12), die den früheren Schreiben noch abgeht. 36 Die Vorstellung, eine neue Religion zu gründen und seinerseits als Religionsstifter aufzutreten, wäre ihm nach meiner Sicht absurd vorgekommen. 37 Christus steht als der Gesandte (Gal 4,4) in der Heilsgeschichte, die alttestamentliche Schrift fungiert als Zeuge des Evangeliums. Gleichzeitig muss er erfahren, dass Israel, dem in erster Linie das Kommen des Messias Jesus Christus gilt (vgl. das „zuerst“ in Röm 1,16), in seiner Mehrheit seine Verkündigung und diejenige anderer Missionare ablehnt. Das Verhältnis des Paulus zu seinem Volk Israel ist daher ausgesprochen ambivalent. Für Pau- 35 M. Theobald, Der Römerbrief, 114, interpretiert den Römerbrief als eine Wiederaufnahme des Galaterbriefs unter veränderten und neuen Bedingungen. 36 Nach Udo Schnelle, Muß ein Heide erst Jude werden, um Christ sein zu können? , in: Martin Karrer / Wolfgang Kraus / Otto Merk (Hg.), Kirche und Volk Gottes. FS Jürgen Roloff, Neukirchen 2000, 93-109, geht die paulinische Interpretation der Rechtfertigungslehre in Gal 2,16 weit über die Beschlusslage von Apostelkonvent und antiochenischem Konflikt hinaus, insofern sie erstmals „den Geltungsbereich der Tora auch für die Judenchristen problematisiert“ (107). Seit dem galatischen Konflikt verneine der Apostel „eine durch das Gesetz vermittelte Sonderstellung der Juden(-christen)“ (108), die er auf dem Konvent durchaus noch anerkannt habe. 37 Hans Dieter Betz, Christianity as Religion: Paul’s Attempt at Definition in Romans, in: ders., Paulinische Studien, Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Tübingen 1994, 206-239, steht m. E. nicht in Widerspruch zu dieser Sicht, insofern der Römerbrief nicht durchgehend einen Gegensatz zum Judentum aufbaut, sondern die Verortung christlichen Glaubens auch im Kontext des Alten Testaments anstrebt: „The letter to the Romans contains indications that at the time he wrote it Paul had reached the conclusion that he needed to explain Christianity’s place in human history“ (239). Zu beachten ist gleichfalls ders., Paul’s Ideas about the Origins of Christianity, in: a. a. O., 272-288. Außerdem: James D. G. Dunn, Who did Paul think he was? A Study of Jewish-Christian Identity, in: New Testament Studies 45 (1999), 174-193. <?page no="111"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 111 lus bleibt grundsätzlich der Rahmen jüdischer Theologie in Bezug auf die Schrift bestimmend, auch wenn er wesentliche Inhalte, wie am Beispiel der Speisegebote und der Beschneidung gezeigt, mit Blick auf die Öffnung des Evangeliums zu den Heiden verlässt. Man kann jedoch nicht sagen, alle Elemente der Theologie des Paulus seien jüdisch und einander nur neu zugeordnet. Nein, diese Elemente haben in dem Zentrum der Christusverkündigung eine neue Mitte gefunden, die sich zu den überkommenen Elementen sowohl affirmativ als auch kritisch, aber auch negierend verhält. An diejenige Stelle im Gesamtsystem, die zuvor die Tora einnahm, ist nun Jesus Christus getreten. 38 Es lag ja in der Konsequenz der Regelungen der Tora, eine Grenze Israels zur paganen Umwelt zu ziehen. Wenn Paulus den Glauben an Jesus Christus den Werken des Gesetzes 39 gegenüberstellt, dann überschreitet er die Grenzen jüdischer Identität. III. Paulus als Begründer des Christentums Paulus ist nicht der Begründer des Christentums, wirkungsgeschichtlich jedoch ist das Christentum, jedenfalls in der Gestalt der großen abendländischen Kirchen, ohne Paulus, und hier vor allem ohne seinen Brief an die Römer, nicht zu denken. 40 Hans Hübner hat es drastischer formuliert: „Ohne Paulus wäre das Christentum zunächst eine jüdische Minisekte geblieben, bald reif für den Kehrricht der Weltgeschichte“. 41 An Paulus haben sich die Geister geschieden. Das Judenchristentum des zweiten Jahrhunderts erkennt in ihm einen Apostaten, einen Abgefallenen. 42 Weil Markion Paulus schätzt, nennt Tertullian Paulus den 38 So die eindringende Untersuchung von Friedrich Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, Tübingen 1966 [TSAJ 55], 596. 39 Ich will die Bemerkung einfügen, dass der Ausdruck „Werke des Gesetzes“ möglicherweise in dem von Michael Bachmann in etlichen Publikationen unterbreiteten Sinn aufzunehmen ist, dass er sich ursprünglich auf die „Regelungen des Gesetzes“ bezieht, keinesfalls aber auf „verdienstliche oder gute Werke“, wie die auslegungsgeschichtliche Tradition nahelegt, wohl auch nicht auf „die Vorschriften und deren Erfüllung“; vgl. zuletzt: Michael Bachmann, Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus, in: Zeitschrift für Neues Testament 5 (2002), Heft 9, 44-52 (und die in den Anm. genannte Lit.). 40 In religionssoziologischer Perspektive erfüllen die paulinischen Briefe, vor allem aber der Römerbrief, die Bedingungen für einen Institutionalisierungsprozess einer religiösen Erfahrung eines Einzelnen und seiner Gruppe, insofern die Gestalt der Lehre, des Kultes, der Verhaltensvorschriften und der organisierten Gemeinschaft festgelegt werden. 41 Hans Hübner, Paulusforschung seit 1945. Ein kritischer Literaturbericht, in: ANRW II 25.4, 2649-2840, hier 2809. 42 Vgl. G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel, Bd. 2, 228-257 zum Antipaulinismus der Pseudoklementinen, 258-260 zum Antipaulinismus der von Irenäus, Adversus haereses I,26,2, referierten Gruppierung der Ebioniten. Sie „verwerfen Paulus, den sie einen Ver- <?page no="112"?> 112 Ist Paulus der Begründer des Christentums? haereticorum apostolus. 43 Doch nicht nur bei Markion, der ausschließlich einen Kanon mit paulinischen Briefen und dem Lukasevangelium gelten ließ 44 , auch in der christlichen Gnosis der Nag Hammadi Codices aus Oberägypten begegnen Autoren in bewusster Paulustradition und mit bewusster Paulusrezeption. 45 Wirkungsgeschichtlich ist nicht zu verkennen, dass die paulinischen Briefe für die sich ausbildende Kirche hinreichend Argumentationshilfen bereithielten, um sich vom Judentum zu distanzieren. Die überragende Bedeutung, die Paulus für die Begründung der christlichen Religion zukommen sollte, ist engstens verknüpft mit der Ausbildung des neutestamentlichen Kanons und hierbei wiederum mit der dominanten Stellung paulinischer Briefe gegenüber allen anderen apostolischen Dokumenten. Ab der zweiten Missionsreise begegnen uns in den Paulusbriefen eine Vielzahl von Namen, die so etwas wie einen engeren und weiteren Mitarbeiterkreis wiedergeben. 46 Gelegentlich zeichnen diese Mitarbeiter, wie etwa Timotheus und Silvanus, bereits im Präskript der Briefe als Mitverfasser. Hans Conzelmann hat von einer Schule des Paulus gesprochen, ohne dies näher auszuführen. 47 Bereits eine Generation nach Paulus schreiben die Mitarbeiter oder Schüler Briefe an urchristliche Gemeinden oder an Privatpersonen im Namen des Paulus. Es sind dies pseudepigraphe Schreiben; aus ihnen spricht zunächst eine formale Bindung an Paulus, da in ihnen nicht einfach paulinische Theologie wiedergegeben wird. Paulus ist die maßgebliche Gestalt, die Autorität, und wer in seinem Namen schreibt, gewinnt Anteil an seiner Autorität. Zur gleichen Zeit verfasst Lukas, der gleichfalls zur weiteren Paulus-Schule gehört (Kol 4,14; 2 Tim 4,11), in weiten Teilen seiner Apostelgeschichte eine erste Paulus-Biographie, wenn auch nicht im streng literaturgeschichtlichen Sinn des Wortes. Die primäre Paulusrezeption scheint zunächst von der Person des Paulus bestimmt zu sein, nicht von seinen Schriften und der in ihnen festgehaltenen Theologie. ächter des Gesetzes nennen“ (Des heiligen Irenäus fünf Bücher gegen die Häresien, übers. v. Ernst Klebba, Bd. 1: Buch I-III, Kempten / München 1912 [BKV], 78). 43 Vgl. Andreas Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, Tübingen 1979 [BHTh 58], 5. 44 Vgl. Gerhard May, Art. Markion / Markioniten, RGG 4 5, 834-836; zum Schriftverständnis: Ulrich Schmid, Marcion und sein Apostolos. Rekonstruktion und historische Einordnung der marcionitischen Paulusbriefausgabe, Berlin 199, [ANTT 25]. 45 Vgl. Elaine Pagels, The Gnostic Paul, Philadelphia 1975. 46 Informativ ist Wolf-Henning Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der Paulinischen Mission, Neukirchen 1979 [WMANT 50]. 47 Vgl. Hans Conzelmann, Paulus und die Weisheit, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, München 1974 [BevTh 65], 177-190. <?page no="113"?> Ist Paulus der Begründer des Christentums? 113 Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist der Befund, dass man in den urchristlichen Gemeinden recht früh begonnen hat, die Briefe des Paulus zu sammeln, auszutauschen und abzuschreiben. Sie ersetzen den Apostel während seiner Abwesenheit und werden in den Gemeindeversammlungen verlesen. Hinzu kommen noch Grußschreiben (Röm 16,1-23), Gemeindebriefe an den Apostel (1 Kor 7,1), Gemeinderundschreiben (Apg 15,23-29), Empfehlungsbriefe (2 Kor 3,1) u. a. Diese Sammlungen bilden den Grundstock dessen, was einmal die Größe „Neues Testament“ werden soll. In den einzelnen Ortsgemeinden wird das Neue des christlichen Glaubens noch vor jeglicher dogmatischen, organisatorischen und institutionellen Verfestigung gesucht und gefunden im Lesen, im Austausch und in der Sammlung frühchristlicher Briefe. Frühe Sammlungen von Paulusbriefen werden für Ephesus und Rom vermutet, zunächst wohl als sog. Kleinsammlungen, in denen die großen Gemeindebriefe dominieren. Die Pastoralbriefe setzen bereits eine frühe Zusammenstellung der Paulusbriefe voraus und ergänzen sie in testamentarischer Absicht. Freilich ist der Prozess dieser Sammlung nur hypothetisch zu erschließen und die gegenwärtige Forschung bewegt sich hier in recht gegensätzlichen Positionen. 48 Der Protestantismus hat ein besonders positives Verhältnis zu dem Römerbrief des Paulus, auch wenn dieses Schreiben nicht mehr das Paradebeispiel für Lehrstreitigkeiten zwischen protestantischer und römisch-katholischer Exegese darstellt. Philipp Melanchthon hat 1521 das erste große systematische Werk der Reformation verfasst, die „Loci communes“, die aus Vorlesungen über den Römerbrief entstanden sind. Die zentrale Botschaft des Römerbriefs, dass der Mensch allein im Glauben ohne Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird (Röm 3,28; auch Gal 2,16), gab der reformatorischen Bewegung den Impetus und wurde zugleich ein Kanon im Kanon für die protestantische Schriftauslegung. Auch in der Folgezeit schärfte die Auslegung des Römerbriefs das kirchliche Selbstverständnis und setzte deutliche Neuakzentuierungen. 49 Dieses Schreiben hat eine von seinem Verfasser nicht zu ahnende Wirkung und prägende Kraft auf christliche Theologie und Kirche gehabt, die noch längst nicht abgeschlossen ist. Sieht man einmal von den Bedingungen der Abfassungssituation dieses Schreibens ab, die man für seine Interpretation nicht überbewerten sollte, dann kommt dieser Brief einer grundsätzlichen Darlegung des christlichen 48 Einen mittleren Konsens bietet wieder Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 4. Aufl., Göttingen 2002, 395-410. Hingewiesen werden soll aber auf die diversen Arbeiten David Trobischs, auch wenn sie mit der These einer von Paulus verantworteten frühen Autorenrezension überwiegend Widerspruch erfahren haben; vor allem ders., Die Entstehung der Paulusbriefsammlung, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1989 [NTOA 10]. 49 Vgl. den gedrängten Forschungsüberblick bei Otto Michel, Der Brief an die Römer, 14. Aufl., 5. bearb. Aufl. dieser Auslegung, Göttingen 1978 [KEK 4], 54-61. <?page no="114"?> 114 Ist Paulus der Begründer des Christentums? Glaubens sehr nahe. 50 Die gegenwärtige exegetische Beschäftigung mit Paulus und seinem Brief an die Römer steht unter den Leitworten „Paul and the new perspective“ oder „new approach“. 51 Angloamerikanische Anfragen begegnen der vorwiegend lutherisch geprägten deutschen Paulus-Exegese und stellen vor allem deren anti-legalistische bzw. hamartiologische Interpretation massiv in Frage. Wenn mit Hermut Löhr abzuwarten bleibt, „wieweit sich in Folge solcher neuen Wahrnehmung eines nur allzu bekannten Textes dieser selbst wieder als ‚ökumenisches‘ Schreiben zu erweisen mag, das die Konfessionen sachlich näher zusammenzuführen vermag“ 52 , dann wird auch die Ausgangsfrage, ob Paulus der Gründer des Christentums ist, zukünftig noch einmal gestellt und möglicherweise auch eindeutiger beantwortet werden können. 50 Grundlegend und insgesamt noch nicht hinreichend rezipiert scheint mir in dieser Hinsicht der bereits zitierte Aufsatz von H. D. Betz, Christianity; aber auch Eduard Lohse, Summa Evangelii - zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefes, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahr 1993, Phil.-hist. Klasse 1993, 91-119. 51 Ich nenne aus der Fülle der Literatur wenige Titel: Krister Stendahl, Paul among Jews and Gentiles. And other essays, Philadelphia 1976; James D. G. Dunn, Romans, Dallas 1988 [WBC 38A], lxiii-lxxii; Ed P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London 1977; Michael Bachmann, Die Botschaft für alle und der Antijudaismus: Nachdenken über Paulus und die Folgen, in: Marco Hofheinz / Georg Plasger (Hg.), Ernstfall Frieden. Biblisch-theologische Perspektiven, Wuppertal 2002, 57-74, bes. 67-74. Vgl. aber auch die kritischen Anmerkungen bei Eduard Lohse, Theologie der Rechtfertigung im kritischen Disput - zu einigen neuen Perspektiven in der Interpretation der Theologie des Apostels Paulus, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 249 (1997), 66-81. 52 Hermut Löhr in einer Besprechung von M. Theobald, Der Römerbrief, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 250 / 2001, 45. <?page no="115"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 115 Zur Literarkritik der Paulusbriefe * „Die Literarkritik der Paulusbriefe ist nach wie vor umstritten, und wenn nicht alles täuscht, tendiert die entsprechende Forschung, die sich seit jeher in einem wellenförmigen Auf und Ab bewegte, nach einem kräftigen Hoch gegenwärtig wieder eher zu einem Tief.“ 1 Doch hat der Jubilar sich durch Trends in der Forschung der zurückliegenden Jahrzehnte nicht beirren lassen, sondern hat beharrlich sowohl die methodischen Fragen, die sich unter dem Stichwort Literarkritik verbergen, als auch seine eigenen Antworten und schließlich die sich aus beidem ergebenden theologischen Perspektiven deutlich benannt und zunehmend präzisiert. 1. Der Weg zur Methode literarkritischen Arbeitens Ich rufe nur in Erinnerung, dass Walter Schmithals bereits in der im Jahr 1954 vor der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität in Marburg eingereichten Dissertation „Die Gnosis in Korinth“ die Einleitung der Korintherbriefe mit einer literarkritischen Analyse eröffnete: „Unverständlich ist jedoch, daß die Notwendigkeit einer literarkritischen Analyse der Korr. überhaupt noch immer weiterhin bestritten wird […] Ihr Erfordernis kann aber nur in Abrede gestellt werden, wenn man darauf verzichtet, die Briefe wirklich als Briefe zu werten.“ 2 In den Nachträgen zu den weiteren Auflagen dieses Werkes hält Walter Schmithals den Kritikern entgegen: „Die beachtlichen Differenzen in den verschiedenen Analysen dürfen nicht zu dem Schluß führen, dadurch widerlegten die Analytiker selbst die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer literarkritischen Analyse der Briefe […]“ 3 Auch die Habilitationsschrift ist der literarkritischen Methode verpflichtet, verbindet sie aber gleichzeitig und für die Folgezeit durchgehend 4 mit der Frage nach der Gestalt der ältesten Sammlung von Paulus-Briefen: „Das Vorhandensein der Briefkompositionen im Korpus Paulinum erklärt 1 Mit diesem Satz eröffnet Walter Schmithals den Beitrag: Methodische Erwägungen zur Literarkritik der Paulusbriefe, ZNW 87 (1996), 51-82. 2 W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth. Eine Untersuchung zu den Korintherbriefen (FRLANT 66), Göttingen 3 1969, 81. 3 Schmithals, Gnosis (s. o. Anm. 2), 321 f. 4 W. Schmithals, Die Sammlung der Paulusbriefe, ThViat 15 (1982), 111-122. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Zur Literarkritik der Paulusbriefe“, in: C. Breytenbach (Hg.), Paulus, die Evangelien und das Urchristentum. Beiträge von und zu Walter Schmithals, AGJU 54, Brill, Leiden / Bosten 2004, pp. 245-263, ©, Koninklijke Brill NV / Leiden, reproduced with permission. <?page no="116"?> 116 Zur Literarkritik der Paulusbriefe sich hinreichend nur, wenn man in dem Redaktor zugleich den Herausgeber der ersten Sammlung sieht, der wesentlich durch die Erfordernisse dieser seiner Sammlung von 7 Briefen zu den Kompositionen insgesamt bestimmt wurde, so daß diese Kompositionen alle von der gleichen Hand stammen.“ 5 Die Situation der einzelnen Briefe und ihr Ursprungsort, die Zeit und die Situation der Hauptsammlung und ihres Redaktors sind also stets im Blick zu behalten. In den folgenden Jahren wurden von Walter Schmithals mehrere Monographien und Aufsätze vorgelegt, in denen literarkritische Entscheidungen zur sachgemäßen Beantwortung theologischer Fragen vor allem zu den Korintherbriefen 6 und zum Römerbrief 7 einen wesentlichen Stellenwert einnahmen, aber auch andere Briefe, wie zuletzt den Kolosserbrief 8 , einbezogen. Jedoch sind literarkritische Entscheidungen auch für die Rekonstruktion des Verhältnisses von Neuem Testament und Gnosis unerlässlich. 9 In dieser Frage scheute sich der Jubilar nicht, an der eigenen zurückliegenden Forschung auch größere Korrekturen anzubringen 10 , ohne jedoch grundsätzlich die literarkritische Methode in Frage zu stellen. Auch ist Walter Schmithals sich in einleitungswissenschaftlichen Entscheidungen, die in Verbindung mit literarkritischen Fragen stehen, treu geblieben. Die paulinische Briefkorrespondenz mit der Gemeinde in Thessalonich ist aus beiden Thessalonicherbriefen zu rekonstruieren, da die apostolische Verfasserschaft für beide Briefe reklamiert und ihre Abfassung für den Zeitraum der sog. 5 W. Schmithals, Zur Abfassung und ältesten Sammlung der paulinischen Hauptbriefe, in: ders., Paulus und die Gnostiker. Untersuchungen zu den kleinen Paulusbriefen (ThF 35), Hamburg 1965, 175-200, 199. Die in diesem Buch vereinigten fünf Aufsätze wurden gemeinsam mit der Untersuchung „Paulus und Jakobus (FRLANT 85), Göttingen 1963“ im Jahr 1962 von der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität in Marburg als Habilitationsschrift angenommen. 6 W. Schmithals, Die Korintherbriefe als Briefsammlung, ZNW 64 (1973), 263-288; ders., Die Briefe des Paulus in ihrer ursprünglichen Form, Zürcher Werkkommentare zur Bibel, Zürich 1984. 7 W. Schmithals, Der Römerbrief als historisches Problem (StNT 9), Gütersloh 1975; ders., Die theologische Anthropologie des Paulus. Auslegung von Röm 7,17-8,39, Stuttgart u. a. 1980; ders., Briefe (s. o. Anm. 6); ders., Der Römerbrief. Ein Kommentar, Gütersloh 1988. 8 W. Schmithals, Literarkritische Analyse des Kolosserbriefs, in: Michael Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi, Festschrift Günter Klein, Tübingen 1998, 149-170. 9 W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis (EdF 208), Darmstadt 1984, 23-94 (zum Corpus Paulinum). 10 In ders., Erwägungen (s. o. Anm. 1), 77 Anm. 92, werden insgesamt sechs Modifizierungen gegenüber ders., Briefe (s. o. Anm. 6), „um der größeren Plausibilität willen angebracht“. Ging ders., Gnosis (s. o. Anm. 2), 94, noch von sechs Briefen des Paulus nach Korinth aus, so lagen nach ders., Briefe (s. o. Anm. 6), 19 f., dem Redaktor der Hauptsammlung insgesamt dreizehn Schreiben nach Korinth vor. <?page no="117"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 117 3. Missionsreise angenommen wird. 11 Diese von der vergangenen und gegenwärtigen Forschung mehrheitlich nicht geteilte These wird in Einzelheiten an späterer Stelle modifiziert, aber gegenüber der einleitungswissenschaftlich dominierenden Annahme einer frühen Abfassung des 1. Thessalonicherbriefs und einer pseudepigraphen Verfasserschaft des 2. Thessalonicherbriefs aufrechterhalten. 12 Schließlich bildet die Irrlehrerfrage von Anfang an einen wesentlichen Maßstab, literarkritische Urteile zu fällen, da eine Darstellung des Ablaufs der Ereignisse in den einzelnen Gemeinden Aktion und Reaktion zwischen dem Apostel und seinen Gegnern nachzeichnet, welche in der Korrespondenz ihren Niederschlag gefunden hat. 13 Literarkritik ist also eine in den Jahrzehnten sich durchhaltende und für die exegetische Arbeit Walter Schmithals’ grundlegende Methode gewesen. Der Begriff Literarkritik ist in der alttestamentlichen Wissenschaft präziser eingeführt und auch forschungsgeschichtlich eindeutiger besetzt als in der neutestamentlichen Wissenschaft. 14 Walter Schmithals ging, wenn ich sein wissenschaftliches Werk recht überschaue, im Rekurs auf Forschungsergebnisse des ausgehenden 19. Jh. und des beginnenden 20. Jh. von dem Tatbestand aus, dass die paulinischen Briefe vielfach mit der Annahme von Teilungshypothesen und Glossen analysiert worden sind. Methodisch argumentierten diese literarkritisch orientierten Forscher mit subjektiven, methodisch gelegentlich kaum nachvollziehbaren oder gar überprüfbaren Argumenten. Da textkritisch keine Originale dieser Briefe mehr vorhanden sind, diese sich vielmehr einer kirchlichen Sammlung verdanken, die jetzt insgesamt sieben Paulusbriefe umfasst, geht Walter Schmithals von dem für ihn sicheren Faktum einer Hauptsammlung aus und fragt von ihr aus zurück nach deren Vorlagen. Auch seine Rückfrage ist keineswegs frei von subjektiven Erwägungen 15 , sie versucht allerdings in 11 W. Schmithals, Die historische Situation der Thessalonicherbriefe, in: ders., Paulus und die Gnostiker (s. o. Anm. 5), 89-157. 12 Schmithals, Briefe (s. o. Anm. 6), 111. 13 Schmithals, Gnosis (s. o. Anm. 2), 82: „Es genügt für den vorliegenden Zweck, eine begründete Neuordnung der Briefe nach ihrer Aufteilung vorzunehmen, die dann grundlegend ist für die Darstellung des Ablaufs der Ereignisse in und um Kor. zur Zeit der erhaltenen Korrespondenz.“ 14 Der Artikel „Literarkritik der Bibel“ wurde in der neuen Auflage der RGG von einem Alttestamentler verfasst und dieser bezieht sich auch überwiegend auf Sachverhalte seiner eigenen Disziplin: M. Arneth, Art. Literarkritik der Bibel, RGG 4 V (2002), 389 f.; vgl. auch R. Smend, Art. Literarkritische Schule, RGG 4 V (2002), 390 f. Für die neutestamentliche Forschung bietet einen unverzichtbaren Überblick mit reichem Literaturverzeichnis: O. Merk, Art. Literarkritik II, TRE 21 (1991), 222-233. 15 Vgl. etwa Schmithals, Gnosis (s. o. Anm. 2), 94: „Daß diese Kompilationsarbeit weder ungeschickt noch mit wissenschaftlicher Pedanterie vollzogen wurde, sondern ganz natürlich wirkt, mag das Vertrauen in die Richtigkeit unserer Analyse stärken.“ <?page no="118"?> 118 Zur Literarkritik der Paulusbriefe grundsätzlicher Anlehnung an die durch Ferdinand Christian Baur vermittelten Geschichtsperspektiven 16 , Literarkritik mit den Ereignissen der urchristlichen Geschichte eng zu verzahnen. In den jüngeren Studien sind die methodischen Fragen der Literarkritik weiter ausgearbeitet worden. Auf diese Beiträge soll im Folgenden ausführlicher eingegangen werden. Zunächst allerdings sei ein kurzer Blick in die gegenwärtige neutestamentliche Forschung geworfen, um versuchsweise zu klären, wie die Literarkritik der neutestamentlichen Briefe behandelt wird. Die Lektüre neuerer Lehrbücher zeigt deutlich, dass die Literarkritik der paulinischen Briefe sowohl hinsichtlich der Briefteilungshypothesen als auch hinsichtlich der Annahme von Glossen gegenwärtig nicht angezeigt erscheint. Udo Schnelle widmet der Literarkritik der paulinischen Briefe einen kurzen Abschnitt, lehnt aber eine Teilungshypothese für jeden Brief ab. 17 Martin Meiser referiert ausführlich Briefteilungshypothesen und bietet eine Kriteriologie ihrer Beurteilung. Mit Helmut Merklein sei zu fragen, ob „der zu teilende Text ohne die Annahme unterschiedlicher Situationen nicht oder nur sehr unzulänglich erklärt werden kann“. 18 Zeichen der veränderten Perspektive ist sicher auch, dass Meiser zu jedem angesprochenen Paulusbrief abschließend etliche Vertreter der Einheitlichkeit nennt. 19 Das Arbeitsbuch von Hans Conzelmann und Andreas Lindemann spricht Teilungshypothesen mit Ausnahme derjenigen zum 2. Korintherbrief nur noch in Petitdruck und sehr knapp als Gegenstand der Forschungsgeschichte an 20 , Thomas Söding reduziert den Sachverhalt insgesamt auf eine einzige knappe Anmerkung. 21 Die führenden Kommentare zum 1. Korintherbrief 22 und zum Römer- 16 Vgl. in dieser Hinsicht nur das Vorwort von Schmithals, Paulus und die Gnostiker (s. o. Anm. 5). 17 U. Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 5 2000, 93 f. Er hält allenfalls beim 2Kor die Frage nach der ursprünglichen Einheitlichkeit für begründet, beantwortet seinerseits aber die Zäsur nach Kap. 9 mit der Annahme einer Unterbrechung des Diktats. 18 M. Meiser / U. Kühneweg u. a., Proseminar II. Neues Testament - Kirchengeschichte. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart u. a. 2000, 61. 19 Meiser / Kühneweg, Proseminar (s. o. Anm. 18), 56-61. Briefteilungshypothesen zu den Thessalonicherbriefen wurden in diesem Abschnitt offensichtlich übersehen. 20 H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 13 2000, 130. 21 Th. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament, unter Mitarbeit von Ch. Münch, Freiburg u. a. 1998, 191 Anm. 72. 22 Vgl. das Referat von A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT9 / I), Tübingen 2000, 3-6. Wegweisend für viele neuere Arbeiten war H. Merklein, Die Einheitlichkeit des ersten Korintherbriefs, ZNW 75 (1984), 153-183; wieder abgedruckt in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 345-375. <?page no="119"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 119 brief 23 gehen von der Integrität der Schreiben aus. Sogar der 2. Korintherbrief 24 gewinnt wieder zunehmend Verfechter seiner Einheitlichkeit. Glossen werden in den paulinischen Briefen in geringem Maße noch anerkannt, wiewohl auch in dieser Hinsicht Meiser den Trend als rückläufig einstuft. 25 Walter Schmithals hat seinen „Briefen des Paulus in ihrer ursprünglichen Form“ zwei Zitate von Johannes Weiß vorangestellt, deren erstes mit Nachdruck einen leicht vergessenen kanongeschichtlichen Sachverhalt in Erinnerung ruft. Ich zitiere es hier aus dem Original, einem kurzen Beitrag in den Theologischen Studien und Kritiken aus dem Jahr 1900: „Wir können uns nicht energisch genug mit dem Gedanken durchdringen, daß wir weit davon entfernt sind, irgendwie das Original Paulinischer Briefe zu besitzen. Wir haben nur ein Buch, welches im 2. Jahrhundert, meinetwegen auch schon früher, ‚herausgegeben‘ ist, ein Buch, in welchem sicher echte Paulinische Briefe, aber vielleicht doch auch wohl Pseudepigraphen aufgenommen sind.“ 26 Michael Theobald hat jüngst dieses Zitat gleichfalls aufgenommen und zugleich darauf hingewiesen, dass innerhalb der gegenwärtigen alttestamentlichen Exegese die Redaktion auf kanonischer Ebene bei der Analyse der einzelnen Teile mitbedacht wird, und Analoges sollte, so Theobald, auch beim Corpus Paulinum gelten. 27 2. Aufsätze zur Literarkritik der Paulusbriefe Im Folgenden sollen zunächst diejenigen Aufsätze, die sich direkt mit der Literarkritik der Paulusbriefe beschäftigen, in der Reihenfolge ihres Erscheinens vorgestellt und kritisch gewürdigt werden. Im Jahr 1982 setzte sich Walter 23 Vgl. den differenzierten Überblick von M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, 16-27. H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Paderborn u. a. 1998, 230, referiert die Infragestellung der literarischen Integrität des Römerbriefs durch Walter Schmithals und die von ihm verzeichneten Interpolationen und Glossen, hält seinerseits aber fest: „Doch hat die Diskussion zu dem konsensfähigen Resultat geführt, daß der Römerbrief im Umfang von 1,1-16,23 als geschlossenes Schreiben aus der Hand des Paulus anzusehen ist.“ 24 U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 4 2002, 97-106 (Lit.! ). 25 Vgl. den Überblick über gegenwärtig diskutierte Glossen bei Meiser / Kühneweg, Proseminar (s. o. Anm. 18), 61 f. 26 J. Weiß, Der Eingang des ersten Korintherbriefs, ThStKr 1 (1900), 125-130, 125 f.; vgl. auch ders., Der erste Korintherbrief (KEK V), Göttingen 9 1910, XL: „Die Exegese und Kritik der paulin. Briefe kann sich nicht stark genug mit dem Bewußtsein durchdringen, daß wir nicht mehr Abschriften von den Originalexemplaren der paulin. Briefe besitzen, sondern nur noch Exemplare einer kirchlichen Sammlung, eines corpus Paulinum, das irgendwo und irgendwann (m. E. ziemlich früh) hergestellt ist“. Dieses Zitat ist zu Beginn von Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 51 f. aufgenommen worden. 27 Theobald, Römerbrief (s. o. Anm. 23), 18. <?page no="120"?> 120 Zur Literarkritik der Paulusbriefe Schmithals in dem Beitrag „Die Sammlung der Paulusbriefe“ scharf mit einem Aufsatz Kurt Alands über „Die Entstehung des Corpus Paulinum“ auseinander. Aland hatte hier die Teilungshypothesen bei Paulusbriefen „ins Reich der, wenn auch geistreichen, Erfindung“ 28 verwiesen und hinsichtlich der Annahme eines frühen Ur-Corpus von sieben Paulusbriefen „Phantasie oder Wunschvorstellung“ 29 bescheinigt. Walter Schmithals antwortet nicht weniger eindeutig, indem er mehrfach den Thesen Alands Haltlosigkeit 30 vorwirft und „Alands Folgerungen […] nur noch als Nachwirkungen jenes Schocks“ 31 begreifen kann, den die Kollationierung von 634 Minuskeln ausgelöst hatte. Walter Schmithals bezieht sich in diesem Beitrag abschließend auf seine bereits an früherer Stelle geäußerte Sicht: „Der Befund der Handschriften und der Handschriften-Listen legt also weder eine Ursammlung von 13 Briefen (Frede; Rechtschreibung korrigiert, F. W. H.) noch eine Entstehung der Ursammlung gegen Ende des 2. Jahrhunderts aus lauter Einzelteilen nahe (Aland), sondern die Annahme einer Ursammlung von sieben Briefen (1 und 2Kor - Gal - Phil - 1 und 2Thess - Röm), noch im 1. Jahrhundert durchgeführt, die durch zwei selbständige kleinere Sammlungen (Eph - Kol - Phlm und 1 und 2 Tim - Tit) sowie durch Hebr sekundär zu dem Corpus Paulinum von zweimal sieben Briefen ergänzt wurde.“ 32 Diese selbstständigen Einzelsammlungen seien geschaffen worden „zum Zwecke der ‚Schulung‘. Sie dienten in den Paulus-Schulen als verbindliche Grundlage bei der Unterweisung der Mitarbeiter aus den Gemeinden […]“ 33 Ohne den Disput zwischen beiden Gelehrten hier im Einzelnen wiederholen zu wollen, möchte ich auf wesentliche Einwände durch Walter Schmithals verweisen. Nach seiner Sicht ist die Voraussetzung, „daß eine Sammlung, einmal herausgegeben bzw. veranstaltet, nur noch als diese Sammlung - und folglich in der Regel mit einheitlichem Textcharakter - weitergegeben worden sein kann“, 28 K. Aland, Die Entstehung des Corpus Paulinum, in: ders., Neutestamentliche Entwürfe, München 1979, 302-350, 349. 29 Aland, Entstehung (s. o. Anm. 28), 334. 30 Schmithals, Sammlung (s. o. Anm. 4), 115.118. 31 Schmithals, Sammlung (s. o. Anm. 4), 111. Aland hatte in dem genannten Beitrag seinerseits von einem „Schock“ (Aland, Entstehung [s. o. Anm. 28], 311) gesprochen, da sich bei einem Viertel der Handschriften „ein ganz uneinheitlicher, manchmal von Brief zu Brief wechselnder Textcharakter“ (Aland, Entstehung [s. o. Anm. 28], 302) ergeben hatte. 32 Schmithals, Sammlung (s. o. Anm. 4), 122, unter Verweis auf ders., Paulus und die Gnostiker (s. o. Anm. 5), 185 ff. Hier wird der Nachweis für folgende Ordnung der sieben Hauptbriefe gesucht: 1Kor - 2Kor - Gal - Phil - 1Thess - 2Thess - Röm. Wesentlich ist neben der kanongeschichtlichen Begründung der Hinweis auf die redaktionellen Einfügungen zu Beginn (1Kor 1,2b) und zum Schluss der Sammlung (Röm 16,25-27), die eben der ganzen Briefsammlung gelten. 33 Schmithals, Sammlung (s. o. Anm. 4), 122. <?page no="121"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 121 undenkbar. 34 Zutreffend ist sicher auch die Bemerkung, dass die Rekonstruktion der frühen Überlieferungsgeschichte des Corpus Paulinum keinesfalls die Unhaltbarkeit der vielfachen Teilungshypothesen erweisen kann, da ja die Einzelbriefe vor einer Briefkomposition stehen, die nach Aland den Ausgangspunkt der Überlieferungsgeschichte darstellt. 35 Walter Schmithals lehnt schließlich die Charakterisierung der Reihenfolge der Handschriften des Corpus Paulinum als „vollständiges Durcheinander“ bzw. „bunte Reihenfolge“ 36 kategorisch ab, um auf eine Grundordnung zu verweisen, die mit der Ursammlung des Corpus Paulinum identisch ist. Das Literaturreferat zu „Eschatologie und Apokalyptik“ aus dem Jahr 1988 trägt zwar nicht die Methode der Literarkritik im Titel, ist aber ohne sie nicht zu verstehen, da Walter Schmithals hier die Gelegenheit wahrnimmt, die aus literarischen Gründen bereits an anderer Stelle behauptete nichtpaulinische Verfasserschaft von 1Thess 4,15-18 und Röm 13,11-12a 37 nun auch inhaltlich zu begründen. Nach Walter Schmithals steht der zuerst genannte Text „in schroffem Widerspruch zu der Tatsache […], daß Paulus in 5,1-11 alle Elemente linearer Zeitlichkeit aus der eschatologischen Erwartung mit Nachdruck zurückdrängt“ 38 , und stellt „einen Fremdkörper im Rahmen von 4,13-14 und 5,1-11“ 39 dar. 1Thess 4,17 f. sei eine sekundär nach 5,10bf. gebildete Dublette, die Einführung des Herrenworts in 1Thess 4,15a sei singulär, die Begrifflichkeit in 1Thess 4,16 f. unpaulinisch. In dem Einschub sei Christus das Subjekt der Endereignisse, im Kontext hingegen Gott selber. Der Sachverhalt sei nicht damit zu erklären, dass Paulus sich hier an apokalyptische Tradition anschließt. Vielmehr handele es sich um einen deuteropaulinischen Einschub, der „seinen Blick […] auf Christen, die beanspruchen oder erwarten, nicht zu sterben, sondern die Parusie zu erleben“ 40 , richtet. „Der Autor von 4,15-18 wendet sich folglich an Vertreter einer Naherwartung der Parusie, und ohne sie prinzipiell zu bekämpfen, relativiert er die Naherwartung unter Einbeziehung apokalyptischen Materials, das sie selbst verwendet.“ 41 Die literarkritische Entscheidung 34 Schmithals, Sammlung (s. o. Anm. 4), 115. 35 Schmithals, Sammlung (s. o. Anm. 4), 114. 36 Aland, Entstehung (s. o. Anm. 28), 333. 37 Schmithals, Briefe (s. o. Anm. 6), 160-162; anders noch ders., Paulus und die Gnostiker (s. o. Anm. 5), 116-119, zu 1Thess 4,13-18. 38 W. Schmithals, Eschatologie und Apokalyptik, VuF 33 (1988), 64-82, 74. 39 Schmithals, Eschatologie (s. o. Anm. 38), 75. 40 Schmithals, Eschatologie (s. o. Anm. 38), 76. Es ist hier anzumerken, dass nach Schmithals in 1Thess 4,17 die Wendung οἱ περιλειπόμενοι (εἰς τὴν παρουσίαν τοῦ κυρίου) nur einen konditionalen Sinn hat im Sinne von: Wir Lebenden, sofern (bzw. soweit) wir übrigbleiben. 41 Schmithals, Eschatologie (s. o. Anm. 38), 77. <?page no="122"?> 122 Zur Literarkritik der Paulusbriefe wird also ausschließlich mit inhaltlichen Erwägungen begründet, die wiederum davon ausgehen, dass Paulus auch in unterschiedlichen Ausgangsthemen und in Verwendung unterschiedlicher Gattungen auf jeden Fall absolut konsistent argumentiert hat und sich auch von der Tradition nicht dahingehend hat leiten lassen, Spannungen in Kauf zu nehmen. Auch der „Abschnitt Röm 13,11-14 steht beziehungslos im Kontext“ 42 , und es will nicht gelingen, „diesen Abschnitt überhaupt im Rahmen des paulinischen Denkens zu erklären.“ 43 Während Paulus das neue Leben den Glaubenden mit dem ‚Schon jetzt‘ des Heils begründe, führe Röm 13,11-12a zurück in das ‚Noch nicht‘ der apokalyptischen Naherwartung. Die literarkritische Lösung, hier nach inhaltlicher Seite ausgeführt, erkennt in Röm 13,11-12a eine redaktionelle Überleitung zu einem paulinischen Fragment in Röm 13,12b-14. Dieses wiederum habe ursprünglich 2Kor 6,1-2 fortgeführt, mehr noch, es stelle die „Schlußparänese eines Schreibens aus der Korrespondenz des Paulus mit Korinth“ 44 dar. Die beiden nachpaulinischen Stücke 1Thess 4,15-18 und Röm 13,11-12a gehen auf den Redaktor der Sammlung der Paulusbriefe zurück. Sie führen in eine Zeit beginnender Verfolgung und sind durch eine mit ihr einhergehende akute Naherwartung begründet. Der Redaktor relativiert diese Naherwartung, ohne sie allerdings aufzugeben. Grundsätzlich ist für die Zeit und den Anlass der Redaktion der Hauptsammlung, die sich etwa auch in den o. g. theologischen Zusätzen niederschlägt, die Situation des Aposynagogos 45 grundlegend. Der Aufsatz „Literarkritik und Theologie“ 46 widerspricht zunächst einer mittlerweile verbreiteten Sicht, der zufolge nur derjenige, der die literarische Integrität der Paulusbriefe bestreitet, sein entsprechendes Urteil auch theologisch begründen muss. Der integralen Interpretation ist also kein methodisches Prä einzuräumen! 47 Die angesprochene theologische Bedeutung literarkritischer Entscheidungen verdeutlicht Walter Schmithals in diesem Beitrag an zwei Beispielen aus dem Römerbrief. Er greift hierbei durchgehend auf an anderer Stelle Gesagtes und auf seine „eigenen Anläufe, das Rätsel des Römerbriefes zu lösen“ 48 , zurück. Röm 1-11 ist eine lehrhafte Epistel an die in Rom verstreut lebenden Heidenchristen, Röm 12-15 hingegen (im Wesentlichen) ein Brief an 42 Schmithals, Eschatologie (s. o. Anm. 38), 77. 43 Schmithals, Eschatologie (s. o. Anm. 38), 78. 44 Schmithals, Eschatologie (s. o. Anm. 38), 79, mit Verweis auf ders., Briefe (s. o. Anm. 6), 68. 45 Vgl. Schmithals, Briefe (s. o. Anm. 6), 160; ders., Eschatologie (s. o. Anm. 38), 79. 46 W. Schmithals, Literarkritik und Theologie, in: Wege zum Einverständnis (FS Ch. Demke), hg. von M. Beintker / E. Jüngel / W. Krötke, Leipzig 1997, 238-248. 47 Schmithals, Literarkritik (s. o. Anm. 46), 239. In Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), wird der Sachverhalt ausführlicher entfaltet (s. u.). 48 Schmithals, Literarkritik (s. o. Anm. 46), 241. Ich nenne die folgenden Arbeiten zum Römerbrief in chronologischer Reihenfolge: W. Schmithals, Römerbrief als historisches <?page no="123"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 123 die neu entstandene heidenchristliche Gemeinde. Walter Schmithals zieht aus diesem literarkritischen Befund ein doppeltes theologisches Urteil: a. „Paulus legt also in Röm 12,1-2 einen selbständigen ‚dogmatischen‘ Grund der folgenden Paränese, knüpft aber in keiner erkennbaren Weise an Röm 1-11 an.“ 49 b. Somit „entfällt die theologische Schwierigkeit, dem Apostel wegen des Römerbriefs entgegen seiner sonstigen Auffassung ein Nebeneinander von Rechtfertigung und Heiligung zuschreiben zu müssen; die beiden Schreiben nach Rom dokumentieren je für sich und je in ihrer Weise die Einheit von neuem Sein und neuem Gehorsam“ 50 . Walter Schmithals schließt mit dem Hinweis, dass der Heidelberger Katechismus sich in Frage 86 mit der Unterscheidung von Erlösung und Dankbarkeit aufgrund des als Einheit interpretierten Römerbriefs von diesem Grundansatz der paulinischen Theologie entfernt habe. Die Frage der literarischen Integrität des Kolosserbriefs war bereits in der Untersuchung zu den Briefen des Paulus in ihrer ursprünglichen Form aus dem Jahr 1984 knapp angesprochen worden. Walter Schmithals hatte hier die These einer Nebensammlung als einer literarischen Einheit vertreten, die sich aus dem Philemonbrief, dem deuteropaulinischen sog. Epheserbrief und dem Kolosserbrief, der zu den Gefangenschaftsbriefen gezählt wird, zusammensetzt. Letzterer sei also „ein deuteropaulinisch bearbeitetes paulinisches Schreiben.“ 51 Der Hauptzweck der Nebensammlung bestehe darin, „den Heidenchristen der paulinischen Gemeinden die Aufnahme der aus dem Synagogenverband kommenden christlichen Glaubensbrüder nahezulegen und ihnen zugleich die diesen vertrauten Regeln der synagogalen Sittlichkeit einzuschärfen.“ 52 In dem Beitrag „Literarkritische Analyse des Kolosserbriefs“, im Jahr 1998 veröffentlicht in der Festschrift für Günter Klein, wird diese zurückliegende These ausführlich begründet, im literarkritischen Detail allerdings auch nicht unerheblich modifiziert. 53 Ein einleitendes ausführliches Eingehen auf die vorwiegend ältere Forschungsgeschichte zeigt, dass im Blick auf das Verhältnis von Rahmen und Problem (s. o. Anm. 7); ders., Anthropologie (s. o. Anm. 7); ders., Briefe (s. o. Anm. 6); ders., Römerbrief Kommentar (s. o. Anm. 7). 49 Schmithals, Literarkritik (s. o. Anm. 46), 244 f. 50 Schmithals, Literarkritik (s. o. Anm. 46), 247. 51 Schmithals, Briefe (s. o. Anm. 6), 165. 52 Schmithals, Briefe (s. o. Anm. 6), 173. 53 Der Umfang des im Kolosserbrief zugrunde liegenden authentischen Paulusbriefs wird 1984 begrenzt auf: Kol 1,1-8.24-29; 2,1. 5. 16-17.20-23; 3,1-15a; 4,2-18; in dem jetzt zu besprechenden Aufsatz hingegen auf: 1,1-5a.7-8.9a.10a.24*.25-27; 2,1-2a.4-5. 16. 20-21. 22b; 3,3-4.12-14a.15a.16-17; 4,2*-18. Zugleich hält Schmithals, Analyse (s. o. Anm. 8), <?page no="124"?> 124 Zur Literarkritik der Paulusbriefe Corpus des Kolosserbriefes wohl häufig von einem Doppelcharakter des Schreibens gesprochen wurde. Die Befunde wurden aber umfänglich und dezidiert allein von Heinrich Julius Holtzmann in dem Sinne erklärt, dass ein von Paulus verfasster Brief an die Kolosser von späterer Hand ergänzt und veröffentlicht worden sei. 54 Die jüngere Einleitungswissenschaft muss sich den Vorwurf „der Bevormundung des Lesers“ 55 gefallen lassen, wenn sie gegenwärtig die unbestrittene literarische Integrität des Kolosserbriefes behauptet. Walter Schmithals geht von dem Befund aus, dass Kol 4,2-18 „in einem unbestrittenen Paulusbrief anstandslos als authentisch gelten würde“, andere Abschnitte aber deutlich sprachlich und auch sachlich in die nachpaulinische Zeit verweisen. 56 Die literarkritische Rekonstruktion des paulinischen Originals sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, dass einerseits die Bearbeitung eigene Ergänzungen und Erläuterungen anbringt, andererseits aber auch bei diesen Ergänzungen durch Rückgriff auf das Original Dubletten bildet. Scharf werden jüngere Ansätze zurückgewiesen, die den Kolosserbrief mit Hilfe einer rhetorischen Analyse interpretieren, ohne literarkritische Scheidungen vorzunehmen. 57 Der wesentliche Ertrag der Literarkritik liegt in der Neubestimmung der sog. Irrlehre, für die einerseits eine Engelverehrung, andererseits aber Einhaltung von Festzeiten und Speisegeboten konstitutiv zu sein scheint. Die metaphysische Begründung der Askese durch θρησκεία τῶν ἀγγέλων in Kol 2,18 ist ein in das ursprüngliche Bild sekundär hineingemalter Zug. Der Bearbeiter des Kolosserbriefes erweiterte die paulinische Warnung, „wobei er die von Paulus monierten Speisetabus als Anknüpfungspunkt nahm und auf die dualistisch-asketischen Tendenzen der späteren Häretiker zu beziehen versuchte.“ 58 Für die Analyse des Kolosserbriefs ergibt sich insgesamt: „Man sollte aber jedenfalls den Rahmen des Kolosserbriefes unmittelbar für das Lebensbild des Paulus und seiner Mitarbeiter auswerten 170, fest: „Im einzelnen kann man natürlich über die vorgeschlagenen Abgrenzungen und Zuordnungen streiten.“ 54 H. J. Holtzmann, Lehrbuch der Historisch-Kritischen Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 2 1886, 291-297. 55 So Schmithals, Analyse (s. o. Anm. 8), 153, gegen U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1994, 339. 56 Schmithals, Analyse (s. o. Anm. 8), 153. Vgl. auch 156: „4,2-18 ist nur unter der Voraussetzung paulinischer Autorschaft verständlich“; sodann 154 f.: „Wir begegneten in 4,2-18 also einem analogielosen Phänomen, wenn dieser Briefabschnitt zum Erweis der Authentizität des Kolosserbriefs fingiert wurde.“ 57 M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh / Würzburg 1993, folge in seinem Kommentar „einer wissenschaftlich unbegründeten Mode und übersehe, daß die antike Rhetorik keineswegs auch den antiken Briefstil bzw. der Aufbau der Rede nicht auch den Aufbau des Briefes bestimmt“ (Schmithals, Analyse [s. o. Anm. 8], 162 Anm. 65). 58 Schmithals, Analyse (s. o. Anm. 8), 164. <?page no="125"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 125 und zugleich das Problem der kolossischen Häresie, wie es sich im ungeteilten Brief darstellt, als gegenstandslos ansehen.“ 59 Der 1996 veröffentlichte Aufsatz „Methodische Erwägungen zur Literarkritik der Paulusbriefe“ ist die grundlegende Darstellung der Sache aus der Feder von Walter Schmithals, weshalb eine etwas ausführlichere Berücksichtigung angebracht ist. Hier verbindet sich wiederum eine scharfe Kritik an der gegenwärtigen, auf Annahme einer literarischen Integrität der paulinischen Briefe bedachten, Position mit der Entfaltung der eigenen Sicht der Dinge, in der manches aus früheren Veröffentlichungen wiederholt, aber etliches doch präziser und auch begründeter dargelegt wird. Walter Schmithals setzt ein mit dem von Johannes Weiß mehrfach betonten Sachverhalt, dass wir nicht mehr die Briefe des Paulus selbst, sondern nur noch eine kirchliche Sammlung paulinischer Briefe haben, bei der die Interessen des Herausgebers bedacht sein wollen. So sei es schon auffällig, dass exakt 21 Briefe in das Neue Testament aufgenommen wurden, 7 katholische Briefe und 2x7 Paulusbriefe. Dass die Pastoralbriefe, „unzweifelhaft eine ursprünglich selbständige Einheit von drei gemeinsam entstandenen Schriften“ 60 , in drei Briefe zerlegt wurden, um (als ursprüngliche Dreiersammlung wie die Johannesbriefe und Kol / Eph / Phlm) jetzt gemeinsam mit den anderen paulinischen Briefen und dem Hebr als 2x7 Paulusbriefe kanonische Bedeutung zu erlangen, weist auf die Bedeutung der Siebenzahl (vgl. aber auch die sieben Sendschreiben der Apk u. a.). Die älteste Sammlung der Paulusbriefe wurde, wie Walter Schmithals mit Blick auf den Kanon Muratori annimmt, durch die Korintherbriefe eingeleitet und fand im Römerbrief ihren Abschluss. Die redaktionelle Erweiterung 1Kor 1,2b und die sekundäre Schlussdoxologie in Röm 16,25-27 geben dieser Sammlung einen Anspruch, der über die angeschriebenen Ortsgemeinden hinausgeht. Weiterhin sucht Walter Schmithals nach einer Erklärung für den Befund, dass sämtliche erhaltenen Briefe des Paulus in den Provinzen um die Ägäis abgefasst wurden und aus dem stark begrenzten Zeitraum der (2. und) 3. Missionsreise stammen. 61 Er lehnt die zur Erklärung von Adolf Deissmann vorgetragene 59 Schmithals, Analyse (s. o. Anm. 8), 170. Ich möchte anmerken, dass die neue Einleitung von I. Broer, Einleitung in das Neue Testament 2 / II, Würzburg 2001, 494 f., recht umfassend auf den von Schmithals vorgelegten Entwurf eingeht. 60 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 54. 61 Schmithals ist immer dafür eingetreten, auch die Thessalonicherbriefe nicht in die Zeit der sog. 2. Missionsreise zu datieren, sondern ihre Abfassungszeit während der sog. 3. Missionsreise anzunehmen. Diese Sicht würde das Argument nochmals verschärfen, dass von dem Heidenmissionar Paulus, dessen Wirkungskreis von Jerusalem bis nach Illyrien reichte (Röm 15,19), ausschließlich Briefe aus räumlich und zeitlich stark begrenztem Raum gegeben seien. <?page no="126"?> 126 Zur Literarkritik der Paulusbriefe These ab, die Hauptsammlung der paulinischen Briefe gehe auf ein Kopialbuch zurück, in das Paulus Abschriften seiner Briefe der Reihe nach habe eintragen lassen. Walter Schmithals erkennt hinter dieser Sammlung nicht einen mechanisch arbeitenden Abschreiber, sondern einen bewussten Redaktor. Er schreibt, „als die Christen gegen Ende des 1. Jahrhunderts die Synagoge verlassen müssen, unter Verfolgungsdruck aus Synagoge und Staat geraten und apokalyptische Stimmungen wach werden.“ 62 Der klarste Hinweis auf die Arbeit eines Redaktors liegt in den Zusammenstellungen und Umstellungen, die exemplarisch bei dem 1Kor erhoben werden. Ein brieflicher Zusammenhang der in sich völlig selbstständigen Passagen wird vermisst. Vielmehr hat ein Redaktor das Material thetisch geordnet und sekundäre Zusätze angebracht, deren Umfang „freilich erheblich größer [ist], als diese ebenso bekannten wie umstrittenen Beispiele zu erkennen geben“. 63 Höchst kritisch setzt Walter Schmithals sich mit neueren Lehrbüchern 64 auseinander, die methodisch von der Integrität der paulinischen Briefe ausgehen und Teilungshypothesen allenfalls dann ein Recht einräumen wollen, wenn ein Verständnis des Textes ohne sie nicht erreicht werden kann. Als Beispiel zitiere ich Udo Schnelle: „Es setzte sich die Einsicht durch, daß nicht allein die Möglichkeit, sondern die unbedingte Notwendigkeit von Teilungshypothesen als methodisches Prinzip gelten muß.“ 65 Walter Schmithals hingegen lehnt ein methodisches Primat für die Annahme der Einheitlichkeit kategorisch ab: „Vielmehr muß die Frage nunmehr sein, ob sich der jeweilige Brief am besten als literarische Einheit oder besser als Kompilation aus mehreren Schreiben verstehen läßt.“ 66 „Die Hypothese der Integrität eines Briefes hat nicht mehr Recht als die Hypothese einer redaktionellen Komposition.“ 67 62 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 65. Diese Zuordnung weicht doch von derjenigen ab, die ders., Gnosis (s. o. Anm. 2), 83 f., vorgelegt hatte. Ihr zufolge sei die Sammlung auf „Auseinandersetzungen zwischen antipaulinischen Gnostikern und Vertretern der paul.orthodoxen Tradition“ bezogen. 63 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 65. 64 An H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 9 1988, und A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (BHTh 58), Tübingen 1979, wird zusätzlich gerügt, dass frühere literarkritische Urteile in jüngeren Veröffentlichungen in methodischer Inkonsequenz preisgegeben werden. Dies mache es schwer, „seinen einzelnen Argumenten zu folgen und in ein Gespräch einzutreten, weil die Prämissen solchen Gesprächs unterschiedlich sind.“ Schnelle, Einleitung (s. o. Anm. 55), wird vorgeworfen, „im Hinblick auf die Literarkritik der Paulusbriefe eine fundamentalistische Position“ zu beziehen (Schmithals, Erwägungen [s. o. Anm. 1], 69). Weitaus schärfere Invektive begegnen auch, sollen hier aber nicht wiedergegeben werden. 65 Schnelle, Einführung (s. o. Anm. 17), 93. 66 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 66. 67 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 68. <?page no="127"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 127 Ein ausgezeichnetes Indiz für literarkritische Operationen bieten Situationsverschiebungen in den Paulusbriefen. Exemplarisch verdeutlicht Walter Schmithals dieses am Römerbrief: „Diese ‚Situationsdifferenz‘ zwischen der Adresse des Röm und der Grußliste in Röm 16,1-20 ist m. E. ein völlig eindeutiger Grund, die Integrität des Röm nicht nur zu bezweifeln, sondern zu bestreiten.“ 68 Ihr Ausbleiben berechtigt andererseits aber nicht, die Integrität des Schreibens zu behaupten. Walter Schmithals stellt mit guten Gründen manch psychologisierend vorgetragene Wertung - etwa die berühmt gewordenen schlaflos durchwachten Nächte - zur Erklärung von Brüchen in den paulinischen Briefen in Frage, um seinerseits festzuhalten: „Die literarischen Brüche, künstlichen Nähte und unerwarteten Einschübe sind angesichts der im übrigen unstrittigen schriftstellerischen Potenz des Paulus als solche ein wesentliches Kriterium jeder literarkritischen Analyse, das durch ein methodisches Prinzip wie das der ‚unbedingten Notwendigkeit von Teilungshypothesen‘ nicht entmachtet werden darf, ohne seinen wissenschaftlichen Rang zu verlieren.“ 69 Methodisch wird die Literarkritik auf „exegetische Überlegungen oder psychologische Einfühlung“ 70 zurückgreifen. Sie muss sich dennoch nicht den Vorwurf willkürlichen Arbeitens gefallen lassen, da es einen objektiven Nachweis zur Erklärung der literarischen Phänomene nicht gibt. 71 Abschließend spricht Walter Schmithals von einem relativ objektiven literarischen Kriterium, das allerdings zu wenig beachtet werde. Es sind die Dubletten und Ausstellungen von Stücken des Briefrahmens, die jetzt nochmals zusammengetragen werden. Sie finden sich im gesamten Corpus Paulinum mit Ausnahme von denjenigen beiden Schreiben, deren literarische Integrität unangefochten ist, dem Galater- und dem Philemonbrief. Antike Originalbriefe, in denen der Autor Stücke des Briefformulars verdoppelt, sind nach Walter Schmithals nicht bekannt. Diese Dubletten verraten also etwas über die Vorgeschichte mancher paulinischer Briefe, insofern sie in Wahrheit aus mehreren Briefen kompiliert worden sind. Man müsste nun in eine Diskussion darüber eintreten, ob es sich bei allen genannten Befunden wirklich um Dubletten handelt oder ob ein gewisser Anteil in den für antike Verhältnisse unüblich langen Briefen nicht erträglich ist. Der doppelte Schlusssegen in Röm 15,33; 16,20 stellt in dieser Hinsicht ein Problem dar, der mehrfache Segenswunsch in 15,5 f.13 und 16,20 weniger, da eine inhaltliche Varianz gegeben ist. Diese Diskussion kann 68 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 74. 69 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 77. 70 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 77. 71 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 77, in Abgrenzung diesbezüglicher Anfragen durch U. Schnelle und H. D. Betz. <?page no="128"?> 128 Zur Literarkritik der Paulusbriefe hier aber nicht geführt werden. Immerhin enthält der Hinweis auf Dubletten auch eine Begrenzung der redaktionellen Tätigkeit, da der Kompilator diese eben in Kauf genommen und nicht wirklich ‚mit Schere und Klebstift‘ gearbeitet hat. Walter Schmithals schließt mit der Bemerkung: „In jedem Fall sind die literarischen Probleme des Briefformulars für die Frage nach der literarischen Integrität der Paulusbriefe mit von entscheidender Bedeutung. Ohne Berücksichtigung dieses Komplexes kann man nicht zu methodisch gesicherten Erkenntnissen kommen.“ 72 3. Kritische Würdigung Ich möchte einsetzen mit einer Würdigung des kanongeschichtlichen Ausgangspunkts. Bis zum heutigen Tag ist der Prozess, der zwischen der Abfassung der paulinischen Briefe und der Zusammenführung von insgesamt 13 Briefen im neutestamentlichen Kanon abgelaufen ist, in vielem dunkel. Ob es ein vielgestaltig verlaufener Weg der Sammlung und Zusammenstellung, zunächst zu lokalen Kleinsammlungen bis hin zu einer Größe eines Corpus Paulinum, oder ob es ein von massiven kirchlichen Interessen gezeichneter Selektionsprozess war, die Forschung stellt sich gegenwärtig in Methoden und Ergebnissen gespalten dar. Innerhalb der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft hält Raymond Brown die Vermutung für plausibel, dass nach der Abfassung der Apostelgeschichte eine systematische Sammlung der Paulusbriefe einsetzte. 73 Peter Trummer hat mit beachtlichen Argumenten die These vorgetragen, dass die Pastoralbriefe im Zusammenhang einer Revision der Paulusbriefe verfasst und der Sammlung der Paulusbriefe zugefügt wurden. 74 Nach Udo Schnelle hingegen war die Sammlung der Paulusbriefe ein bereits „nach dem Tod des Apostels einsetzende[r] natürlicher Prozeß“ und führte zunächst zu lokalen Kleinsammlungen. 75 Träfe diese letztgenannte Sicht zu, dann ist das Arbeitsfeld für Literarkritik klein geworden, da bereits die Originalschreiben Gegenstand der frühen Sammlung waren. Innerhalb der textkritischen und kanongeschichtlichen Forschung steht Bruce M. Metzger in großer Nähe zu den Arbeiten von Walter Schmithals, wenn er die Bildung des Kanons als kirchliche Maßnahme 72 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 82. 73 R. E. Brown, An Introduction to the New Testament (AncB. RL), New York 1977, 12. 74 P. Trummer, Corpus Paulinum - Corpus Pastorale. Zur Ortung der Paulustradition in den Pastoralbriefen, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften (QD 89), Freiburg u. a. 1981, 122-145. 75 Schnelle, Einleitung (s. o. Anm. 24), 398. Diese Einschätzung geht einher mit derjenigen von K. und B. Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben und in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 1982, 57 f.; ebenso Klauck, Briefliteratur (s. o. Anm. 23), 248-250. <?page no="129"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 129 versteht, die auf dem Weg der Zahlensymbolik (Bedeutung der Zahl Sieben) und der Überarbeitung einiger Briefe vollzogen wurde. 76 David Trobisch hat in jüngster Zeit die These einer Autorenrezension in die Diskussion eingeführt. Ihr zufolge ist nicht ein kirchlicher Redaktor oder ein anonymer Sammlungsprozess für die Zusammenstellung der Paulusbriefe verantwortlich, vielmehr habe Paulus selbst die redaktionelle Endgestalt seiner Briefe veranlasst und habe auf der Kollektenreise nach Jerusalem mit einer Übergabe des Römerbriefes und des 2. Korintherbriefes an die ephesinische Gesandtschaft den Grundstock zum Corpus Paulinum gelegt. 77 In der jüngeren Arbeit sieht Trobisch Paulus als denjenigen, der die redigierten Briefe an die Gemeinden in Rom, Galatien und Korinth in Verbindung mit einem Begleitschreiben an die Gemeinde in Ephesus (Röm 16) in der Absicht sendet, den zurückliegenden Konflikt mit dem Judenchristentum zu entschärfen. 78 Da die Wissenschaft weit davon entfernt ist, hier einen Konsens auch nur in Umrissen vorlegen zu können, sollte Walter Schmithals’ Mahnung, nicht nur auf die Füße, sondern auch auf die Straße, also nicht nur auf die Briefe selbst, sondern auch auf deren Sammlung zu achten, stets Gehör finden. 79 Ein Grundsatzproblem stellt die Beantwortung der Frage dar, ob derjenige, der von der Integrität der paulinischen Einzelbriefe 80 , oder derjenige, der von einer kirchlichen, d. h. von einem Redaktor verantworteten Sammlung paulinischer Briefe ausgeht, den methodisch korrekten Ausgangspunkt wählt. Walter Schmithals hat stets den letzteren Weg favorisiert und als Neutestamentler seine Aufgabe u. a. darin gesehen, die ursprünglichen Briefe in dieser Sammlung zu rekonstruieren, ihren historischen Ort zu bestimmen und sie zu exegesieren. Er hat sich seit der Dissertation aus dem Jahr 1954 massiv gegen Versuche gewehrt, die literarkritische Methode durch die „Vielfalt der Teilungshypothesen und die Skurrilität mancher derselben […] in Mißkredit“ 81 bringen zu lassen, hat auch die Diskreditierung unterschiedlicher literarkritischer Zuweisungen, vor allem 76 B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung, Düsseldorf 1993, 249 f. 77 D. Trobisch, Die Entstehung der Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik (NTOA 10), Fribourg / Göttingen 1989, 119.130. Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 58 Anm. 25, hält Trobischs Arbeit für eine „phantasievolle Darstellung“, erkennt aber an, dass Trobisch die paulinische Briefsammlung „methodisch richtig“ in den Kontext antiker Briefsammlungen einstellt. 78 D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Fribourg / Göttingen 1996, 93 f. 79 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 52. 80 Meiser / Kühneweg, Proseminar (s. o. Anm. 18), 61: „Die Beweislast liegt bei den Vertretern der Briefteilungshypothese, nicht bei deren Gegnern.“ 81 Schmithals, Gnosis (s. o. Anm. 2), 81. <?page no="130"?> 130 Zur Literarkritik der Paulusbriefe bei den Korintherbriefen, nicht als grundsätzliche Kritik an der Methode gelten lassen. 82 Das Argument der Situationsdifferenz stellt neben demjenigen der Dubletten einen methodisch überprüfbaren Ausgangspunkt dar. 83 Freilich macht ein Blick auf die Feststellung der Situationsdifferenz auch deutlich, dass verschiedene Forscher zu recht dicht beieinander liegenden Analysen kommen, jedoch unterschiedliche Konsequenzen aus ihnen ziehen. Während Walter Schmithals und viele andere Forscher eine literarkritische Lösung aus der Situationsdifferenz zwischen 2Kor 10-13 und 2Kor 1-9 (oder auch den Teilen dieser Einheit) begründen, der zufolge 2Kor 10-13 entweder als Tränen- oder als Zwischenbrief (bzw. als Fragment eines Briefes) interpretiert wird, unterscheidet Schnelle eine veränderte Gemeindesituation von einem gleichbleibenden Verhältnis von Apostel und Gemeinde, das 2Kor 1-9 und 2Kor 10-13 übergreift. 84 Die Situationsdifferenz liege also nicht auf Seiten des Verfassers, sondern in der Gemeinde. Daher kann Schnelle an der These der literarischen Integrität des 2Kor festhalten, wenn auch zwischen seinen einzelnen Teilen wohl eine kleine zeitliche Spanne liegt. Das Bild des Schriftstellers Paulus und vice versa das des Redaktors bedarf einer Klärung. In welchem Umfang sind Gedankensprünge, Abweichungen, Themenwechsel, Wiederholungen, Spannungen erträglich? Nicht gegenwärtiges Empfinden darf hierfür der Maßstab sein, sondern der Vergleich mit antiken Briefen. Hat Literarkritik „aus Paulus nicht einen Theologen mit glasklarer Logik und systematisch aufgebauter Argumentation“ 85 gemacht? Die zurückliegende Forschung zu Rhetorik und Epistolographie hat deutlich gezeigt, dass scheinbare Abweichungen in der Disposition des ganzen Schreibens eine spezifische Funktion erfüllen können. Versteht man, um ein Beispiel zu nennen, Röm 3,1-8 als eine digressio, in der gegnerische Einwände bereits vorweggenommen, die aber in einer refutatio in Röm 9-11 erst wirklich behan- 82 Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 51. 83 H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK V), Göttingen 1969, 13-15, hat gleichfalls die Frage nach einer Situationsdifferenz zum methodischen Kriterium der Literarkritik erhoben. Merklein, Einheitlichkeit (s. o. Anm. 22), 349, ruft zu einer restriktiven Handhabung dieses Kriteriums auf. 84 Schnelle, Einleitung (s. o. Anm. 24), 105: „Offenbar brachten Titus und ‚der Bruder‘ neue Informationen über die Situation in Korinth, die Paulus zur Abfassung von 2Kor 10-13 veranlaßten.“ Vgl. ebd., 104: „Paulus hielt 2Kor 1-9 noch in den Händen, als ihn durch die Titus-Gruppe neue Nachrichten aus Korinth erreichten.“ So liegt wohl auch ein zeitlicher Abstand zwischen der Fortsetzung des angefangenen Schreibens, aber kein literarkritisch auszuwertender Bruch, da der Briefrahmen beide Briefteile umgreift. 85 W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1Kor 1,1-6,11) (EKK VII / 1), Zürich u. a. 1991, 70. <?page no="131"?> Zur Literarkritik der Paulusbriefe 131 delt und selbst in dem Briefkorpusabschluss (Röm 15,7-13) nochmals bedacht werden, dann ist der Erkenntnisgewinn antiker Epistolographie für die Textkohärenz und damit auch für die Auslegung der paulinischen Briefe keinesfalls gering zu werten. 86 Bislang wurde der abrupte Wechsel des Tonfalls von Phil 3,1 zu Phil 3,2 als sicheres literarkritisches Indiz dafür gewertet, dass im Phil mindestens zwei Briefe vereinigt sind. Gegenwärtig wird argumentiert, dass die sog. probatio des Schreibens von 2,1-3,21 reicht, gleichzeitig plötzliche Invektive nicht notwendig ein literarkritisches Signal darstellen, so dass „die Argumente für die Integrität des Schreibens das größere Gewicht haben.“ 87 Das Beachten der Bedingungen antiker Epistolographie ist als wirksame Kontrolle gegenwärtiger literarkritischer Entscheidungen unverzichtbar, da sie die in subjektivem Empfinden begründeten Urteile des Exegeten gegenüber dem Text willkommen begrenzt. Auch ist innerhalb der vorliegenden Briefe stärker als bisher in der literarkritisch orientierten Forschung in einer Strukturanalyse zu fragen, welche syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimensionen ein Text hat. 88 Die Einordnung der Literarkritik in eine textwissenschaftliche Analyse, die diesen unterschiedlichen Dimensionen des Textes gerecht wird, wäre ein hilfreiches Korrektiv. 89 86 M. Müller, Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses (FRLANT 172), Göttingen 1997; Schmithals, Erwägungen (s. o. Anm. 1), 75, erkennt gleichfalls die Verknüpfung der Argumente in 3,1-8 mit den Kap. 6,1-23; 7,1-16; 9-11, interpretiert diesen Befund jedoch nicht mit Blick auf vorgegebene Argumentationsmuster. Außerdem wird natürlich Röm 15 nicht einbezogen, da der Briefteil ab Röm 12 nicht zu dem ersten Brief des Paulus an die Römer zählt. 87 Klauck, Briefliteratur (s. o. Anm. 23), 241. 88 Vgl. hierzu P. von Gemünden, Linguistik und Textauslegung, in: Meiser / Kühneweg, Proseminar (s. o. Anm. 18), 260-275; Merklein, Einheitlichkeit (s. o. Anm. 22), 348-451; ders., Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1-4 (ÖTK 7 / 1), Gütersloh / Würzburg 1972, 46-48. 89 Hierzu verweise ich auf den weiterführenden Beitrag zur Klärung des Begriffs der Kohärenz und seiner Unterscheidung von demjenigen der Kohäsion bei E.-M. Becker, Was ist ‚Kohärenz‘? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, ZNW 94 (2003), 97-121. <?page no="132"?> 132 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte * Die Kollekte „für die Armen unter den Heiligen Jerusalems“ (Röm 15,26) wird von Paulus in seinen authentischen Briefen im Zusammenhang mit dem Rückblick auf die Vorgänge des Apostelkonvents in Gal 2,10 erwähnt, allerdings nicht eindeutig mit den Abmachungen des Konvents, hier der Aufteilung der Missionsgebiete, verknüpft. In den paulinischen Briefen verweist 1Kor 16,1-4 auf eine wohl mündlich vorgetragene Anordnung zur Kollekte in den galatischen Gemeinden und fordert die dort gemachten Modalitäten der Sammlung auch für Korinth ein. 2Kor 8, Teil eines weiteren Schreibens an die korinthische Gemeinde, empfiehlt das Vorbild der makedonischen Gemeinden und erwartet in der Sammlung der Kollekte einen ihm entsprechenden Abschluss in Korinth. Zuletzt wendet Paulus sich in 2Kor 9 erneut an die Gemeinden in der Achaia, um auf die Vollendung der Kollekte einzuwirken. 1 Durch eine Voraussendung von Boten soll ihr Abschluss in diesen Gemeinden sichergestellt werden. In Röm 15,26 kann Paulus auf einen erfolgreichen Abschluss der Kollekte in Makedonien und Achaia zurückblicken, um nun die Reise zur Übergabe der Kollekte nach Jerusalem anzutreten, deren Annahme ihm zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits höchst fraglich ist (Röm 15,31). Ob die galatische Kollektenaktion nicht zu einem Abschluss gekommen oder ob sie unabhängig von der Kollektenreise des Paulus durch Delegierte der Gemeinden vollendet worden ist, kann auf der Basis der paulinischen Briefe allein nicht beantwortet werden. 2 Demnach hat die Kollektenaktion Paulus mindestens von dem Zeitpunkt des Apostelkonvents bis zu seiner Ankunft in Jerusalem begleitet, nach einer üblichen Berechnung der Chronologie also ungefähr neun Jahre, nämlich von 48 / 49 bis 57 / 58 n. Chr. 3 Genau genommen aber wird man sagen müssen, dass alle paulinischen Aus- 1 Die Argumente für die Annahme von zwei unterschiedlichen Schreiben an die Gemeinde in Korinth und an die Gemeinden in der Achaia sind m. E. gewichtig: vgl. H. D. Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus, Gütersloh 1993. 2 Die Zeitstufe Aorist ἐσπούδασα (Gal 2,10b) zeigt allerdings an, dass in Galatien die Sammlung beendet ist. 3 Vgl. die Chronologie der Lebensdaten des Paulus bei J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 32. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte, in: C. Breytenbach und J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung, Festschrift für Eckhard Plümacher, AGAJ 57, Brill, Leiden / Boston 2004, 135-156, ©, Koninklijke Brill NV / Leiden, reproduced with permission. <?page no="133"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 133 sagen zur Kollekte in diesem Zeitraum in die letzten Jahre vor ihrer Übergabe fallen 4 und hier unter zeitlich höchstem Druck zu stehen scheinen. 5 Doch soll nicht die Analyse dieser hier kurz angesprochenen Belege im Corpus Paulinum im Mittelpunkt des Beitrags stehen, sondern die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte. Bekanntlich wird in ihr weder in dem Bericht über den Apostelkonvent noch in den Darstellungen der Missionsreisen in der Asia, in Makedonien und in Achaia, also in denjenigen Gemeinden, die Paulus mit der Kollekte in einen Zusammenhang bringt, die Kollekte erwähnt. Gleichfalls scheint die letzte Reise des Paulus nach Jerusalem nicht der Übergabe der Kollekte zu dienen, sondern wird in Apg 20,16 als Wallfahrt bezeichnet. Dennoch gibt es etliche Hinweise in diesem Werk, die darauf hindeuten, dass ihr Verfasser von der Übergabe einer Geldsumme gewusst hat, auch wenn er sie nicht eigens thematisiert. Über die Gründe dieses angeblichen Verschweigens ist viel gerätselt worden, der vorliegende Beitrag wird sich an der Entschlüsselung dieses Rätsels partiell beteiligen. Oft diente das Übergehen der Kollekte der Bekräftigung des Urteils, Lukas stehe in einem historischen Abstand zu Paulus und habe keine deutliche Kenntnis der Vorgänge gehabt bzw. seine Quellen und Traditionen hätten hier eben geschwiegen. Er sei darüber hinaus ein relativ freier Schriftsteller, der im Umgang mit seinen Traditionen und Quellen dem eigenen übergeordneten theologischen Darstellungswillen ein grundsätzliches Prä einräume. Methodisch hat diese in der frühen redaktionsgeschichtlichen Betrachtungsweise vorherrschende Sicht dazu geführt, hinsichtlich der Kollektenthematik den paulinischen Berichten einen Vorrang der Apostelgeschichte gegenüber zu geben und die lukanischen Aussagen in das paulinische Gerüst einzupassen, sofern dies überhaupt möglich ist. 4 Der früheste paulinische Brief, der 1Thess, enthält keine Aussage zu einer Kollektenverpflichtung. Dies allein rechtfertigt nicht eine Frühdatierung in die Zeit vor dem Apostelkonvent. Auch der Phil und der Phlm schweigen zur Kollekte, was bei letzterem Schreiben als einem Privatbrief erklärlich ist. In Makedonien (Thessalonich, Philippi, evtl. auch wegen Apg 20,4 Beröa) scheint die Einsammlung der Kollekte problemlos verlaufen zu sein (2Kor 8,1-5; Röm 15,26). Das Schweigen zur Kollekte in Phil und Phlm wird aber auch mit der nach meiner Sicht nicht überzeugenden These verbunden, dass beide Briefe in die Zeit nach Abschluss der Kollektenaktion, also in die Zeit der römischen Gefangenschaft zu datieren seien; so jetzt wieder A. J. M. Wedderburn, Paul’s Collection: Chronology and History, NTS 48 (2002), 95-110, 102. Hingegen wendet J. L. Martyn, Galatians (AncB 33A), New York 1998, 228, den Befund ins Gegenteil: Alle paulinischen Briefe, die keinen Bezug zur Kollekte haben, werden in der Chronologie vor den Beginn der Kollekte, der allerdings nach Martyn nicht mit dem Konvent gegeben ist, gesetzt. 5 2Kor 8,11; 2Kor 9,3. Die Voraussendung der Boten (2Kor 8,6.18 f.23; 9,3.5) dient nicht allein, aber doch auch dem zeitlichen Straffen der Kollekte. Apg 20,16 geht gleichfalls auf das Motiv gebotener Eile ein, begründet es aber mit der erwünschten Ankunft in Jerusalem vor dem bevorstehenden Pfingstfest. <?page no="134"?> 134 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte Jedoch ist auch das Vertrauen in die historische Verlässlichkeit der paulinischen Aussagen durch die Betrachtung einer rhetorischen Dispositionsanalyse der Schreiben und durch die Rezeptionsästhetik in gesunde Grenzen zurückgeführt worden. Denn die paulinischen Briefe sind nicht anders als die Apostelgeschichte auch immer daraufhin zu befragen, wie sie einen leitenden Gesichtspunkt argumentativ inszenieren und wie dieser demzufolge in den Gemeinden aufgenommen werden soll. Und es wird der Stellenwert, den diese Kollekte sowohl für Paulus persönlich als auch im Gegenüber zu seinen Gemeinden und zu der Jerusalemer Urgemeinde hatte, der er das Geld zu überbringen gedenkt (Röm 15,28), mit zu bedenken sein, wenn die Apostelgeschichte vergleichend herangezogen wird. Nach dem Zeugnis seiner Briefe ist die Kollekte, je länger je mehr, nicht mehr nur als eine Aktion der heidenchristlichen Gemeinden für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem, sondern auch als eine Maßnahme des Paulus, die der Rechtfertigung seiner Evangeliumsverkündigung unter den Heiden dient. Erscheint es noch in 1Kor 16,3 f. als eher unwahrscheinlich, dass Paulus persönlich die Kollekte nach Jerusalem bringt, so geht er nach 2Kor 8,19 von einer Übergabe durch sich und den in den Gemeinden dazu bestimmten Bruder aus, thematisiert in Röm 15,28.31 aber ausschließlich allein die Erfüllung dieser Aufgabe und seinen Dienst an Jerusalem, wenngleich er weiß, dass diese Kollekte das Werk der makedonischen und achaischen Gemeinden ist (Röm 15,26). Um den Stellenwert der Kollekte im paulinischen Missionswerk möglichst präzise zu erfassen, scheint mir eine Zurückstellung des Berichts der Apostelgeschichte methodisch nicht gerechtfertigt zu sein. 6 Vielmehr werden einerseits alle Hinweise des Lukas sorgsam aufzunehmen und zu analysieren sein, andererseits aber auch die paulinischen Aussagen nicht unbesehen für eine historische Rekonstruktion verwertet werden dürfen. Die an die Analyse der Kollektenthematik innerhalb der Apg gerichtete Frage lautet, ob es gelingt, die historischen Konturen des paulinischen Kollektenwerks präziser zu erfassen. 1. Die Kollektenthematik im Kontext des Apostelkonvents Der lukanische Bericht über den Apostelkonvent (Apg 15,1-35) erwähnt im Zusammenhang der Beschlüsse eine Kollektenvereinbarung nicht, wohl aber ein den Gemeinden in Antiochia, Syrien und Kilikien in Briefform vorgelegtes Aposteldekret, welches den Heidenchristen die Enthaltung von Götzenopfer, 6 So aber G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel, Band I. Studien zur Chronologie (FRLANT 123), Göttingen 1980, 45, der die „absolute Priorität des paulinischen Selbstzeugnisses für eine Chronologie des Paulus“ zugrunde legt. <?page no="135"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 135 Blut, Ersticktem und Hurerei auferlegt (Apg 15,23-29). Paulus hingegen hält als Beschlusslage die Aufteilung der Missionsgebiete fest und spricht das ihm und Barnabas anempfohlene Gedenken an die Armen an, das nach Gal 2,6 allerdings keinesfalls als Vereinbarung des Konvents verstanden werden darf. Die Differenzen können nicht einseitig entweder Paulus oder Lukas als absichtliches Verschweigen oder als bewusstes Ersetzen des Beschlusses durch einen anderen angelastet werden. Die Sachlage stellt sich weitaus komplizierter dar. Es wird erwogen, ob das Aposteldekret etwa ursprünglich nicht mit dem Apostelkonvent zu verknüpfen ist, sondern in der Folge des antiochenischen Konflikts oder gar als dessen Auslöser 7 von den Jerusalemer Aposteln und Ältesten ausgegeben wurde. Die Nichterwähnung des Dekrets in Gal 2,1-10 wäre dann nachvollziehbar und mit dem emphatischen ἐμοι γάρ οἱ δοκοῦντες οὐδὲν προσανέθεντο (Gal 2,6) in Einklang zu bringen, wiewohl gleichzeitig eine Kenntnis dieses Dekrets, unbeschadet auch weiterer Nicht-Erwähnung in den Briefen, indirekt von einigen Forschern erschlossen wird. 8 Es ist zweifelhaft, ob es jemals einen formalen Beschluss auf dem Apostelkonvent zur Durchführung einer Kollekte in den heidenchristlichen Gemeinden für die Armen in Jerusalem gegeben hat. Dies wird weder in Apg 15,1-35 bzw. in der weiteren Apostelgeschichte gesagt noch in Gal 2,1-10 vorausgesetzt. Keine einzige Erwähnung der Kollekte in den paulinischen Briefen bezieht sich auf einen solchen Beschluss. Röm 15,26 spricht vielmehr von einem Vorsatz der Gemeinden in Makedonien und in der Achaia, eine Sammlung für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem durchgeführt zu haben. Dies sei, so 2Kor 8,3 f., freiwillig geschehen und stelle allenfalls einen Gehorsamsakt gegenüber dem Evangelium Christi dar (2Kor 9,13), nicht aber gegenüber einem zurückliegenden Beschluss. Es ist zudem durchaus fraglich, ob Gal 2,10 die aufgebürdete Beweislast für einen formalen Beschluss tragen kann. Die nach dem paulinischen Bericht getroffene Übereinkunft zwischen einerseits Jakobus, Kephas und Johannes, den Säulen also, und andererseits Paulus und Barnabas sieht eine Trennung der Missionsgebiete „wir zu den Heiden, ihr zu der Beschneidung“ vor und fügt einleitend mit μόνον einen Nachsatz an, demzufolge sich Paulus und Bar- 7 J. Wehnert, Die Reinheit des „christlichen Gottesvolks“ aus Juden und Heiden. Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets (FRLANT 173), Göttingen 1997, 129. 8 So zuletzt ibd., 142: „Es kann daher abschließend die Vermutung geäußert werden, daß Paulus mit der im 1.Kor entwickelten und im Röm gleichsam zur allgemeinen Kenntnis gebrachten Haltung gegenüber den ‚Schwachen‘ auch eine Toleranz gegenüber den Vorschriften des AD signalisiert und folglich - angesichts der übergeordneten Bedeutung des vom Scheitern bedrohten Kollektenwerks - ein spätes Einlenken im antiochenischen Konflikt.“ <?page no="136"?> 136 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte nabas verpflichten, der Armen zu gedenken. Diese Übereinkunft ist in allen ihren Teilen undeutlich. Die Aufteilung der Mission in eine reine Heidenmission und eine reine Judenmission ist praktisch unmöglich und ist auch sowohl von Petrus als auch von Paulus als Vertragspartnern des Apostelkonvents nach Auskunft der Quellen nie durchgeführt worden. Der Hinweis auf die Kollekte spricht zunächst eine Erwartung sowohl an Barnabas als auch an Paulus als den antiochenischen Delegaten auf dem Konvent aus, jedoch betont Paulus in einem weiteren Nachsatz, dass er dieser Erwartung nachgekommen sei. Ob auch Barnabas, dessen Mission im Anschluss an den Apostelkonvent getrennt von Paulus verlief, seinerseits im Anschluss an den Konvent eine Kollekte gesammelt hat, bleibt offen. Kann μόνον τῶν πτωχῶν ἵνα μνημονευώμεν dahingehend aufgenommen werden, dass hiermit auf eine auf dem Konvent erstmals beschlossene und von beiden Vertragsparteien per Handschlag (Gal 2,9) besiegelte Aktion zugunsten der Urgemeinde angespielt wird? Paulus leitet mit μόνον einen Satz ein, dessen betontes Glied, die Armen, vor den mit der Konjunktion ἵνα eingeleiteten Wunsch tritt. Dieser Wunsch steht nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem vorausgehend genannten Beschluss und dem angesprochenen Handschlag, sondern stellt eine eigene Aussage dar. 9 Sie bezieht sich auf Paulus und Barnabas als Delegaten der antiochenischen Gemeinde und erwartet in der Zeitform Präsens ein fortwährendes Gedenken Antiochias an die Armen unter den Christen in Jerusalem, wohingegen Paulus in dem angeschlossenen Nebensatz in der Zeitform Aorist ausschließlich für sich auf eine zurückliegende Ausführung verweisen kann. Die Interpretation des Konj. Präs. μνημονευώμεν ist in der Forschung mit Recht in dem Sinne vorgelegt worden, dass in ihr die Fortführung einer bereits begonnenen Handlung auch in der Zukunft angesprochen werde. Das stärkste Argument für diese Auslegung auf der Ebene des Berichts der Apostelgeschichte war zugleich ihr stärkstes Gegenargument. Apg 11,27-30 und 12,25 sprechen zwar von einer von Barnabas und Paulus wiederum als Delegaten der antiochenischen Gemeinde durchgeführten und in Jerusalem abgelieferten Kollekte vor dem Apostelkonvent. Insofern könnte die Abmachung, auch zukünftig für die Jerusalemer Urgemeinde einzutreten, auf diese zurücklie- 9 So mit Recht L. Radermacher, Neutestamentliche Grammatik (HNT 1), Tübingen 2 1925, 178. Von der Sache her überzeugend: J. Becker, Paulus (s. o. Anm. 3), 272 f., und jetzt auch B. Beckheuer, Paulus und Jerusalem. Kollekte und Mission im theologischen Denken des Heidenapostels (EHS XXIII / 611), Frankfurt / M. u. a. 1997, 52-97. Beckheuer referiert ausführlich die Forschungsgeschichte und wägt die einzelnen Interpretationsmöglichkeiten ab. Nach seiner Sicht hebt Paulus die Kollektenverpflichtung von den Beratungen des Konvents ab und stellt sie in Gal 2,10 als etwas Neues vor (64 f.); vgl. im Übrigen die Besprechung dieses Buches durch Ch. Böttrich in: ThLZ 126 (2001), 47-49. <?page no="137"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 137 gende Unterstützung blicken und den Wunsch nach zukünftiger Unterstützung (Gal 2,10a) in diesen Kontext einreihen. Gegen diese Lösung spricht für einen Teil der Forscher allerdings 10 , dass Gal 1,18-2,1 zwischen dem ersten Besuch des Paulus bei Petrus in Jerusalem (vgl. auch Apg 9,26) und dem Apostelkonvent keinen weiteren Jerusalembesuch erwähnt. Es muss also gefragt werden, ob die lukanischen Aussagen die Annahme einer antiochenischen Kollekte zeitlich vor dem Konvent rechtfertigen und wie ggf. das Fehlen der Erwähnung eines diesbezüglichen Jerusalembesuchs in Gal 1 bewertet werden kann. Wenn Gal 2,10 nicht auf einen Beschluss des Konvents rekurriert oder gar, wie Dieter Georgi vorgeschlagen hat, „ein wesentlicher Bestandteil des verfassungsartigen Vertrags zw. der Antiochener Christusgemeinde und ihrer Schwestergemeinde in Jerusalem war (frgm. in Gal 2,9 f. erhalten)“ 11 , sondern sozusagen die Selbstverpflichtung der beiden Apostel als antiochenischer Delegaten erwähnt, auch weiterhin für die Armen unter der Jerusalemer Urgemeinde einzutreten, dann wird die Nicht-Erwähnung einer Kollekte in Apg 15 ein geringeres Problem als etwa die Nicht-Erwähnung des Aposteldekrets in Gal 2. Ein Zweites ist in diesem Zusammenhang anzusprechen. Paulus mag im Rückblick in Gal 2,10a die von ihm und Barnabas übernommene Verpflichtung zu einer Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde ursprünglich noch in einer Linie mit der antiochenischen Kollekte gesehen haben. Faktisch wird der Zeitpunkt der Übergabe der Kollekte nach ca. 9 Jahren nicht mehr mit den Absprachen des Konvents auszugleichen sein. Vor allem aber bewegt sich die paulinische Interpretation der Kollekte in den genannten Briefen in eine völlig andere Richtung, so dass man gut daran tut, zwischen der antiochenischen Kollektenaktion vor dem Konvent, auf die Paulus sich rückblickend in Gal 2,10a noch bezieht, und der paulinischen Kollekte nach dem Konvent einen scharfen Schnitt zu setzen. 12 Würden wir ausschließlich auf Gal 2,10 blicken, so könnte man sich dieses Denken an die Armen auch in einem umfassenderen Sinn, etwa zugleich als spirituelle und ideelle Ausrichtung auf die Urgemeinde, vorstellen. 13 Jedoch wird 10 So zuletzt auch wieder B. Beckheuer, Paulus (s. o. Anm. 9), 79 f. 11 D. Georgi, Art. Kollekte I. Biblisch, RGG 4 IV (2001), 1484. 12 So zu Recht J. I. Martyn, Galatians (s. o. Anm. 4), 225: „Nor is there the slightest hint in Galatians that Paul has commenced his own collection to take place of his earlier participation in that of the Antioch church“; ebenso A. J. M. Wedderburn, Collection (s. o. Anm. 4), 100 f. und 108. 13 In diese Richtung deutete D. Georgi, Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, Neukirchen-Vluyn 2 1994, 29, zu Gal 2,10: „Meiner Meinung nach ist an die ständige Vergegenwärtigung der Lage, Bedeutung und Leistung der Jerusalemer Christen durch die Heidenchristen gedacht, primär also an eine innere Haltung, doch an eine, die sich zugleich äußert in Anerkennung, Dankbarkeit und Fürbitte und dann auch in wirtschaftlicher Hilfe.“ Sowie ibd., 30: „Die Vereinbarung, der Armen zu <?page no="138"?> 138 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte durch den paulinischen Sprachgebrauch in seinen Erwähnungen der Kollekte deutlich (vor allem 2Kor 8,13 f.; 9,12; Röm 15,26), dass die materielle Unterstützung der Ausgangspunkt bleibt, wenngleich andere Interpretationen zunehmend wichtig werden. 14 Diese gipfeln in der Vorstellung einer Schuldnerschaft der Heidenchristen in materiellen Gütern gegenüber der Urgemeinde, an deren geistlichen Gütern die Heidenchristen teilhaben (Röm 15,27; vgl. aber bereits die Vorstufen in 2Kor 8,14; 9,13 f.). 15 Auch die jetzt zu behandelnden Texte in der Apostelgeschichte, die nach meiner Einschätzung in die Vorgeschichte und in die Anfänge der antiochenischen Kollekte gehören, verweisen auf diesen sozialen Ausgangspunkt, der allerdings auch hier nie frei ist von zusätzlichen Aspekten und Interpretationen. 2. Die Anfänge der antiochenischen Kollekte Nach dem Bericht der Apostelgeschichte haben sich im Anschluss an die Verfolgung und Flucht eines Teils der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 8,1 f.) christliche Gemeinden bis hin nach Phönizien, Zypern und Antiochia gebildet (Apg 11,19). Nachdem sie Heidenmission aufgenommen haben, entsendet die Urgemeinde Barnabas aus Jerusalem in die Stadt Antiochia (Apg 11,22). Bis zu diesem Zeitgedenken, das heißt, die eschatologische Demonstration der Jerusalemer Christen als solche zu respektieren und innerlich und äußerlich zu tragen“. 14 Unter allen in der Literatur diskutierten Zwecken der Kollekte scheint mir der von W. Schmithals, Die Kollekten des Paulus für die Christen in Jerusalem, in: E. Axmacher / K. Schwarzwäller (Hg.), Belehrter Glaube (FS J. Wirsching), Frankfurt / M. u. a. 1994, 231-252, unterbreitete Vorschlag an den Texten den geringsten Anhalt zu haben. Nach Schmithals haben sich die Jerusalemer Judenchristen auf dem Apostelkonvent bereit erklärt, „den Wunsch des Paulus nach einer Mission innerhalb der Synagoge auf seinem Missionsgebiet zu erfüllen, erwarten von ihm aber eine entsprechende finanzielle Unterstützung“ (236). Diese habe Paulus am Ende der sog. zweiten Missionsreise (Apg 18,22) im Blick auf die Missionsarbeit in Rom überbracht (238). Die letzte Kollektenreise nach Jerusalem (Röm 15,25-32) diene dem Ziel, „in Jerusalem die weitere gemeinsame Mission mit den Judenchristen abzusprechen, und die Kollekte ermöglicht auch den Judenchristen das kostspielige Unternehmen einer Mission in den Synagogen des fernen Spaniens“ (249); vgl. auch den korrespondierenden Beitrag: idem, Probleme des „Apostelkonzils“ (Gal 2,1-10), HTS 53 (1997), 6-35. 15 An welche geistlichen Güter der Urgemeinde denkt Paulus? Möglicherweise verwischen sich die Grenzen der Urgemeinde zur jüdischen Gemeinde, da Paulus in Röm 9-11 die Judenchristen als Repräsentanz des zukünftigen Israel begreift; dazu M. Theobald, Kirche und Israel nach Römer 11, in: idem, Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 324-349, 346. Beide Gruppen werden auch in Röm 15,31 in einem Atemzug genannt. Denkbar wäre, dass die Vorzüge Israels (Röm 9,4 f.) und das Bild vom Ölbaum (Röm 11,17) den Gedanken prägen. Doch darf man das Bild nicht überstrapazieren, da in Röm 15,27 f. Metaphern des Handels herangezogen werden, die primär auf die materiellen Güter zu beziehen sind. <?page no="139"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 139 punkt gehörte Barnabas also zur Jerusalemer Gemeinde und genauer wohl auch zu demjenigen Teil, der von der Verfolgung verschont worden war (Apg 8,1b). Ohne die Vorgänge hier im Einzelnen zu beleuchten: Barnabas erscheint also als eine von der Urgemeinde eingesetzte Vermittlungsperson zwischen der Jerusalemer Urgemeinde und der antiochenischen Gemeinde. Der von Barnabas erwirkte Anschluss des Paulus an die junge Gemeinde findet in Apg 11,26 mit Blick auf die gemeinsame Verkündigungstätigkeit seine Begründung. Jerusalemer Propheten, unter ihnen als Sprecher Agabus, der in Apg 21,10 ein deutlich judenchristliches und kein jüdisches Profil hat, sagen nach Apg 11,28 eine große Teuerung an, die über die ganze Erde kommen werde. Der Zeitpunkt des Auftretens der Propheten und der des möglichen Einsetzens der Teuerung bleiben unpräzise. Sowohl das einleitende ἐν ταύταις δὲ ταῖς ἡμέραις (Apg 11,27) als auch das abschließende ἥτις ἐγένετο ἐπὶ Κλαυδίου sind offene Angaben und lassen in letzterem Fall einen Zeitraum von 41-54 n. Chr. als denkbar erscheinen. Die Ansage der Hungersnot führt zu einer Sammlung unter den antiochenischen Christen zugunsten der judäischen Christen. Barnabas und Paulus werden entsandt, um diese Gabe den Presbytern zu überbringen. Apg 12,25 hält die Rückkehr der beiden Boten fest, präzisiert aber dahingehend, dass die Gabe auch in Jerusalem und nicht allgemein in Judäa übergeben worden ist. Die Diskussion zu diesem kurzen Textstück stand immer vor dem grundsätzlichen Problem, dass diese Reise des Paulus (gemeinsam mit Barnabas) im Widerspruch zu den Aussagen in Gal 1-2 steht, denen zufolge Paulus vor dem Besuch des Konvents nur ein einziges Mal in Jerusalem war (Gal 1,18), aber eben nicht zu dieser Kollektenreise, und dass er im Übrigen den Gemeinden in Judäa vor der Zeit des Konvents unbekannt war (Gal 1,22). Um diese Spannungen und die Widersprüche hinsichtlich Aposteldekret und Kollektenaktion zu erklären oder aufzuheben, wurde gefragt, ob Lukas hier möglicherweise ein Traditionsstück 16 oder eine Kombination mehrerer Traditionsstücke wiedergebe 17 , aber zeitlich falsch einordne 18 bzw. mit den falschen Namen verbinde 19 , oder ob er 16 Die zurückliegende quellenkritische Auslegung der Apostelgeschichte stand hinsichtlich Apg 11,27-30 lange im Einfluss der von J. Wellhausen, Noten zur Apostelgeschichte (NGWG.PH), Berlin 1907, 7 f., vorgetragenen These, dass Apg 11,27-30 und 15,1-33 Dubletten zu ein und derselben Jerusalemreise seien. 17 H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte (HNT 7), Tübingen 2 1972, 77; E. Haenchen, Die Apostelgeschichte (KEK III), Göttingen 6 1968, 322. 18 G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 144: „Die gemeinsame Reise des Barnabas und Paulus dürfte Lukas aus dem ihm für die Jerusalemer Konferenz zur Verfügung stehenden Traditionskomplex verdoppelt und hierher versetzt haben.“ 19 So J. Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen 1981, 183. <?page no="140"?> 140 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte seinerseits für die getroffene Aussage vollständig verantwortlich sei 20 , was eine sprachlich und stilistische Überprüfung durchaus nahelegen kann. 21 Auch wird erwogen, Apg 11,27-30 als die eigentliche lukanische Anspielung auf den Apostelkonvent zu betrachten 22 , nicht aber Apg 15. Daher sei scharf zwischen den hier getroffenen Abmachungen des Apostelkonvents und dieser älteren Kollektenaktion zu unterscheiden. 23 Jedoch bleiben bei dieser Lösung neben der gewissen Übereinstimmung in der Kollektenfrage solch erhebliche Differenzen zwischen dem lukanischen und dem paulinischen Bericht bestehen, dass man von ihr besser Abstand nimmt. Apg 11,27-30 trifft überhaupt keine Aussage zu etwaigen Verhandlungen bezüglich der Mission und der Aufteilung der Missionsgebiete. Oft wird die Vermutung ausgesprochen, der Redaktor Lukas habe eine einzige Reise zum Konvent in zwei 24 oder gar in drei Reisen zerlegt, wobei Gerd Lüdemann in der Andeutung des dritten Jerusalembesuchs in Apg 18,22 den vermutlich sachgemäßen Ort des Apostelkonvents wiederfindet. 25 Es wäre hier in eine dringend gebotene Methodendiskussion zur Exegese der Apostelgeschichte einzutreten, um sodann diesem Textstück eine verantwortete Analyse zukommen zu lassen. Die gegenwärtige Forschung ist sowohl von Quellentheorien als auch von der Fiktion eines recht frei arbeitenden Redaktors abgerückt und hat der Eigenaussage des Textes wieder größeres Vertrauen entgegengebracht. 26 Ich beschränke mich zunächst ausschließlich auf die Beantwortung der Frage, ob die sog. zweite Jerusalemreise als von Barnabas und Paulus verantwortete Kollektenreise nachvollziehbar ist. 20 S. Joubert, Paul as Benefactor. Reciprocity, Strategy and Theological Reflection in Paul’s Collection (WUNT II / 124), Tübingen 2000, 92 f. 21 Vgl. die Nachweise bei G. Strecker, Die sogenannte Zweite Jerusalemreise des Paulus, in: idem, Eschaton und Historie. Aufsätze, Göttingen 1979, 132-141. 22 So etwa bereits R. Bultmann, Zur Frage nach den Quellen der Apostelgeschichte, in: E. Dinkler (Hg.)., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 412-423, bes. 417 Anm. 7. Gegenwärtig arbeitet A. J. M. Wedderburn, Collection (s. o. Anm. 4), 101 Anm. 15, mit dieser These, und der Kommentar von B. Witherington III, The Acts of the Apostles. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids 1998, 439-449, versucht eine umfassende Begründung beizubringen. 23 A. J. M. Wedderburn, Collection (s. o. Anm. 4), 99. 24 R. Pesch, Die Apostelgeschichte (EKK V / 1), Zürich u. a. 1986, 356. Hierbei habe Lukas die beiden Anlässe des Konvents (beschneidungsfreie Mission und Kollekte) auf zwei Reisen verteilt. 25 G. Lüdemann, Paulus (s. o. Anm. 6), 152-174. 26 Eine Ausnahme stellt der Vorschlag von J. Wehnert, Reinheit (s. o. Anm. 7), 273 f., dar, das redaktionelle Darstellungsprinzip grundsätzlich zu überwinden. Es sei denkbar, „daß ein Teil der in Apg 15,36-21,26 geschilderten pln. Missionsarbeit bereits vor dem Missionskonvent stattgefunden hat“ (274). <?page no="141"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 141 Der Zeitpunkt dieser Kollektenaktion ist nicht präzise zu bestimmen. Rainer Riesner 27 sowie Martin Hengel und Anna Maria Schwemer haben gezeigt, dass die Regierungszeit des Claudius mit einer Vielzahl von Hungersnöten und Teuerungen durchsetzt war. Nach Hengel / Schwemer kann sich Apg 11,28 am wahrscheinlichsten auf das Krisenjahr 40 / 41 (Aussaatverweigerung, darauf folgendes Sabbatjahr mit anschließender Teuerung) oder auf die Zeit nach der Verfolgung unter Agrippa I., also die Jahre 44 / 45 beziehen. 28 Die Teuerung betraf nach Lukas den ganzen Erdkreis, wirkt sich aber im Blick auf die judäischen Gemeinden gravierender aus als auf Antiochia. Die Sammlung der antiochenischen Christen hat nicht die Jerusalemer Urgemeinde primär im Blick, sondern umfassend judäische Gemeinden. Sie wird daher den Ältesten (Apg 11,30), nicht aber den Aposteln, deren Anwesenheit doch wohl noch exklusiv für Jerusalem vorausgesetzt ist, übergeben. Sowohl Hengel / Schwemer als auch Riesner kehren die historische Abfolge gegen die lukanische Darstellung um. Diese antiochenische Kollekte sei nach der Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus (Apg 12,2) und der Flucht des Petrus (Apg 12,17) zu datieren, was sich in ihrer Übergabe an die Ältesten und eben nicht an die Apostel niederschlage. 29 Wenn allerdings die Gemeinden in Judäa und nicht die Jerusalemer Urgemeinde exklusiv im Blick sind, dann verliert dieses Argument an Kraft. Apg 12,25 hält aber fest, dass Jerusalem in diese Kollektenaktion mit einbezogen war. Sowohl in Apg 11,30 als auch in Apg 12,25 ist eine Beteiligung des Saulus an dieser antiochenischen Kollektenaktion vorausgesetzt. Allerdings ist Saulus in der Reihung der Namen immer Barnabas nachgeordnet. 30 Nach der Übergabe der Kollekte nehmen die beiden Apostel Johannes Markus mit nach Antiochia. Dass Barnabas diesen bald als Missionspartner anstelle von Paulus auswählt (Apg 15,37), mag bereits für eine Vorrangstellung des Barnabas gegenüber Paulus auf der antiochenischen Kollektenreise sprechen. Die Bewertung dieser Kollektenaktion wird ganz von den sozialen Nöten in Jerusalem einerseits und von den Verbindungen der antiochenischen Gemeinde zur Jerusalemer Gemeinde andererseits abhängen. Diese sind zunächst privater Natur, ist doch ein Großteil der antiochenischen Christen aus der Gruppe der Hellenisten nach Verfolgungen in Jerusalem bis nach Antiochia 27 R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie (WUNT 71), Tübingen 1994, 111-121. 28 M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, mit einem Beitrag von E. A. Knauf (WUNT 108), Tübingen 1998, 364-369. 29 Ibd., 369; R. Riesner, Frühzeit (s. o. Anm. 27), 120. 30 An diese Beobachtung schließt sich häufig die Vermutung an, dass diese antiochenische Kollekte ursprünglich ausschließlich von Barnabas verantwortet und erst von Lukas mit dem Namen Saulus verbunden worden sei; so jetzt als Erwägung wieder B. Kollmann, Joseph Barnabas. Leben und Wirkungsgeschichte (SBS 175), Stuttgart 1998, 37. <?page no="142"?> 142 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte geflohen. Die Flüchtlinge trafen wiederum auf eine große jüdische Gemeinde und ein Netzwerk sozialer Bindungen. Den Texten ist auch eine Hinordnung der jungen christlichen Gemeinde Antiochias zur Jerusalemer Muttergemeinde und damit verbunden wohl ein gewisser Supremitätsanspruch zu entnehmen. 31 Der wesentliche Unterschied zu der späteren Kollektenaktion des Paulus liegt darin, dass diese antiochenische Kollekte die Hilfe einer überwiegend judenchristlichen Gemeinde 32 für die Urgemeinde darstellt, während für die paulinische Kollekte gerade der gegenseitige Ausgleich von heidenchristlicher Kollekte und judenchristlichen geistlichen Gütern konstitutiv ist (2Kor 8,13 f.; Röm 15,27). Die Beteiligung des Paulus an dieser antiochenischen Kollektenaktion vor dem Apostelkonvent ist allenfalls noch mit Blick auf Apg 11,29, nicht aber für Apg 12,25 im Verhältnis zu Gal 1-2 auszugleichen. Dieser Befund wird in der Literatur teilweise unterschlagen 33 oder in einer Anmerkung thematisiert 34 oder eben als Hinweis für die fehlende Vertrauenswürdigkeit des Lukas oder seiner Vorlagen bewertet. Ich frage jedoch einmal mit Vorsicht: Wäre es vorstellbar, dass derjenige Paulus, der in 1Kor 1,14-16 Gott dafür dankt, in Korinth niemanden außer Krispus und Gaius getauft zu haben, dann aber nachträgt, er habe auch das Haus des Stephanas getauft, und schließlich einräumt, er wisse nicht, ob er noch jemand anderen getauft hat 35 , in Gal 1-2 im Rückblick auf die Zeit vor dem Apostelkonvent möglicherweise die Beteiligung an der antioche- 31 Nach Apg 9,22 wird Barnabas zur Visitation von Jerusalem nach Antiochia gesandt. Der Apostelkonvent wird in Jerusalem abgehalten (Apg 15,2). Auslöser des antiochenischen Konflikts und in seiner Folge der Trennung des Barnabas von Paulus ist das Auftreten Jerusalemer Christen in Antiochia. 32 M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (s. o. Anm. 28), 423-433, kritisieren das Bild einer rein heidenchristlichen Gemeinde in den Jahren vor dem Konvent zu Recht. Allerdings scheint mir die These, ein selbstständiges Heidenchristentum grundsätzlich erst nach 70 anzunehmen, ein zu scharfer Gegenschlag zu sein. Ist Titus nicht Delegat Antiochias und vertritt er nicht heidenchristliche Interessen auf dem Konvent (Gal 2,3)? 33 So R. Riesner, Frühzeit (s. o. Anm. 27), 111. Bereits für Th. Zahn, Die Apostelgeschichte des Lucas (KNT V / 1), Leipzig 1.2 1919, 382, war das Verschweigen dieses 2. Besuchs in Jerusalem in Gal 1-2 nicht befremdlich, da „es diesmal noch nicht zu bedeutsamen Verhandlungen über noch unerledigte Lebensfragen der Gesamtkirche“ gekommen sei. 34 M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (s. o. Anm. 28), 368 Anm. 1519: „Es sagt ja nicht expressis verbis, daß er während der 14 Jahre nicht in Jerusalem war. Der Duktus der Argumentation macht dies freilich wahrscheinlich.“ 35 A. Lindemann, Der erste Korintherbrief (HNT 9 / I), Tübingen 2000, 42, fragt, ob Paulus bewusst mit seiner Gedächtnislücke spielt. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1-4 (ÖTK 7 / 1), Gütersloh / Würzburg 1992, 158 f., verweist in seiner pragmatischen Analyse des Textes 1Kor 1,10-17 auf den ironischen Unterton in den V.13c-16. Jedenfalls sollte die gleiche Vorsicht, 1Kor 1,10-17 als Basistext für das paulinische Taufverständnis heranzuziehen, auch im Blick auf Gal 1-2 und die Rekonstruktion der faktischen Jerusalembesuche des Paulus walten. <?page no="143"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 143 nischen Kollektenreise unterschlagen hat? Der Zielsetzung des Galaterbriefs, möglichst jeden Kontakt zu Jerusalem auszuschließen und den Gang zum Apostelkonvent nicht im Sinne eines durch wen auch immer angeordneten formalen Beschlusses für eine antiochenische Delegation (so Apg 15,2), sondern auf eine persönliche Offenbarung zurückzuführen, kann die Zuordnung der antiochenischen Kollekte für die judäischen Gemeinden nicht willkommen sein. Jedenfalls scheint mir die Beweislast dafür, dass Lukas diese Reise konstruiere oder aber ein Traditionsstück in einen falschen Kontext einordne, genauso gewichtig zu sein wie diejenige, dass Paulus diese Reise vor dem Konvent verschweige. 3. Die Vorgeschichte der antiochenischen Kollekte Barnabas, Delegat der antiochenischen Gemeinde zur Übergabe der Kollekte (Apg 11,30; 12,25) und Delegat dieser Gemeinde auf dem Apostelkonvent (Apg 15,2; Gal 2,1), gehört in die Anfangsgeschichte der christlichen Gemeinde Antiochias, ist seinerseits jedoch wohl erst nach ihrer Entstehung von Jerusalem (Apg 9,27) aus nach Antiochia entsandt worden (Apg 11,22-26). Es ist zu überlegen, ob die von der Gesamtgemeinde Antiochias verantwortete, aber durch Barnabas (und Paulus) überbrachte Kollekte nicht in einer Linie zu sehen ist mit einer älteren, von Barnabas allein durchgeführten Hilfe für die Jerusalemer Gemeinde, von der Apg 4,36 f. berichtet. Gewiss sind eine von einer Gemeinde erhobene Kollekte und ein individuelles Mäzenatentum zu unterscheidende Größen. Das Recht, beide Berichte in eine Linie zu bringen, liegt in dem Vergleichspunkt, dass beide Handlungen intentional der Linderung der Not der Jerusalemer Urgemeinde zugeordnet sind. Möglicherweise handelt es sich bei dem Ackerverkauf des Barnabas und der Übergabe des Verkaufserlöses an die Apostel nicht einmal um eine einmalige Handlung, da das Imperfekt ἔθηκεν (Apg 4,37) an eine sich wiederholende Aktion denken lässt. Lukas ordnet diese kurze Personalnotiz dem Summarium von der urchristlichen Liebesgemeinschaft (Apg 4,32-35) zu und gibt damit eine Richtung an, die Tat des Barnabas angemessen zu interpretieren. Das Verteilen von Gütern und Besitz an Notleidende in der Gemeinde funktioniert, wenn Einzelne wie Barnabas aus ihrem Besitz oder Vermögen der Urgemeinde etwas zur Verfügung stellen. 36 Soziologisch wird man die Tat des Barnabas wie auch diejenige von Ananias und Saphira, möglicherweise auch die Gastfreundschaft der Maria (Apg 12,12), in den Rahmen antiker Wohltäterschaft aufnehmen kön- 36 Die andere Personallegende von Ananias und Saphira (Apg 5,1-11) zeigt zumindest auch an, dass die Urgemeinde zu bestimmten Zeiten auf erhebliche Unterstützungen angewiesen war. <?page no="144"?> 144 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte nen. Strukturell ist nicht unwesentlich, dass sich der Jerusalemer Barnabas nicht nur privat als Mäzen vor Ort auszeichnet, sondern zugleich in der Diaspora für die Urgemeinde eintritt. Da Barnabas wohl zu demjenigen Kreis der Urgemeinde gehörte, der durch die Verfolgung der Hellenisten nicht betroffen war (Apg 8,1 f.; 11,19), ist er in der Kollektenaktion in einer vermittelnden Position zugleich Exponent der antiochenischen Gemeinde als der gebenden wie der Jerusalemer Gemeinde als der empfangenden Seite. 37 4. Die Kollektendelegation der makedonischen und achaischen Gemeinden Röm 15,26 blickt auf den Abschluss der Kollekte in Makedonien und Achaia zurück. Daher ist jetzt (νυνί Röm 15,25) der Zeitpunkt ihrer Übergabe an die Armen unter den Heiligen in Jerusalem gekommen. Nach 1Kor 16,1-4 ist eine Beteiligung des Paulus an der Kollektenreise noch ungewiss. Paulus erwägt, mit Empfehlungsbriefen ausgestattete Vertrauensleute zu entsenden, gegebenenfalls aber selber diese Delegation anzuführen. In 2Kor 8,19 wird ein namentlich nicht genannter Bruder zur Übergabe der Kollekte neben Paulus und Titus erwähnt, der von den Gemeinden dazu bestimmt wurde. Damit kommt an dieser Stelle erstmals der Gedanke einer von den Gemeinden autorisierten Kollekte in den Blick. Die Verantwortlichkeit für die Kollekte ist deutlich von Paulus als dem Vermittler auf die Gemeinden als die Gebenden übergegangen. Dies findet seinen klarsten Ausdruck in der Zusammenstellung einer Kollektendelegation, die aus Apg 20,1-6 erschlossen werden kann, wenngleich auch dieser Text die Kollekte explizit mit keinem Wort erwähnt. Die in beiden Texten vorausgesetzten identischen äußeren Umstände rechtfertigen, Röm 15 und Apg 20 aufeinander zu beziehen. 38 Paulus schreibt den Römerbrief in Korinth (Röm 16,1 f.21-23; Apg 20,3) und steht unmittelbar vor der Abfahrt nach Jerusalem (Röm 15,25 f.; Apg 20,3). Unter den Grüßenden begegnen in Röm 16,21 zwei Namen, die nach Apg 20,4 zu derjenigen Kollektendelegation zählen, die kurz vor der Abreise von Korinth nach Syrien genannt wird. Diese beiden Personen, So(si)pater und Timotheus, sind in Röm 16,21 allerdings nicht explizit als Reisebegleiter ausgewiesen. 37 Die Habilitationsschrift von M. Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, Habilitationsschrift Wien 2001, widmet sich den historischen und literarischen Fragen ausführlich. 38 G. Lüdemann, Christentum (s. o. Anm. 18), 233, hält eine Kombination der Liste in Apg 20,4 mit der Kollektenaktion „für unerlaubt“. Da in Apg 20,4 Vertreter der korinthischen und philippischen Gemeinden nicht erwähnt seien, gehe die Liste allgemein auf Paulusbegleiter zurück, die ihn bei der Mission im Raum von Troas unterstützt haben. <?page no="145"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 145 Dietrich-Alex Koch hat die Vermutung ausgesprochen, dass Lukas in Apg 20,5-21,17 einer Quelle folgt, die sich durch die außergewöhnliche Präzision der in ihr enthaltenen Reisestationen und den in 20,5 einsetzenden Wir-Stil auszeichnet. Als lukanische Einschübe werden u. a. Apg 20,7-12.18-35 bewertet. Koch rechnet jedoch auch 20,4 und 21,18 - wenngleich nicht in der 1. Pers. Plur. verfasst - vermutlich noch der Quelle zu, so dass von der Aufzählung der Gemeindedelegierten über die Reisestationen bis zur Ankunft bei Jakobus ein fester Zusammenhang erkennbar wird. Koch verbindet diese Textbeobachtung mit der „Annahme eines Rechenschaftsberichts der Kollektendelegation“ 39 , der „dazu diente, nach der Rückkehr von den einzelnen Gemeinden Rechenschaft über die Durchführung der Kollektenaktion zu geben.“ 40 Wir stellen zunächst das Problem, weshalb in dieser Quelle und ihrer lukanischen Bearbeitung bzw. Aufnahme der Zweck, Rechenschaft über die Kollekte zu geben, keine Erwähnung findet, zurück. Vielmehr ist zunächst den Indizien nachzugehen, die darauf schließen lassen, dass Lukas bzw. seine Quelle hier wirklich auf eine Kollektendelegation zurückgeht. Apg 20,4 ordnet die Reisegruppe, die Paulus auf dem Weg nach Syrien begleitet, nach lokalen Gesichtspunkten, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation der einzelnen Gemeinden durch Delegaten oder aber auch der Entsendung der Delegaten durch die Gemeinden an. Für Beröa tritt Sopater, der Sohn des Pyrrhus, die Reisebegleitung an. Man wird ihn als den in Röm 16,21 genannten Sosipater identifizieren dürfen. 41 Thessalonich wird vertreten durch Aristarch und Sekundus. Apg 27,2 stellt sicher, dass sich Aristarch über die Kollektenreise hinaus in der Begleitung des Paulus befindet (vgl. auch Kol 4,10). 42 Die Erwähnung eines Γάϊος Δερβαῖος stellt vor textkritische und exegetische Probleme. Paulus hat die Stadt Derbe in Lykaonien sowohl auf der ersten wie auf der zweiten Missionsreise besucht (Apg 14,6.20; 16,1). Haben Barnabas und er bereits vor dem Konvent bzw. Paulus als selbstständiger Missionar im Anschluss an diesen auch hier auf eine Kollekte hingewiesen? Die Beantwortung dieser Fragen bleibt spekulativ. Die nachhinkende Zuordnung des Timotheus zu Γάϊος Δερβαῖος mag an dieser Stelle wohl dadurch veranlasst worden sein, dass Timotheus aus Lystra in Lykaonien stammt. Allerdings kann er wohl kaum 39 D.-A. Koch, Kollektenbericht, „Wir“-Bericht und Itinerar. Neue (? ) Überlegungen zu einem alten Problem, NTS 45 (1999), 367-390, 381. Ich vermerke auch, dass E. Plümacher, Art. Apostelgeschichte, TRE III (1978), 483-528, 500, in 20,1-6.13-17; 21,1-9.16 f. einen „Nachhall authentischer Paulus-Erinnerung“ fand, aber hier wie auch an anderen Stellen der Apostelgeschichte von weitgehenden Quellen-Theorien Abstand nahm. 40 Ibd., 378. 41 F. M. Gillman, Art. Sopater, ABD VI (1992), 159. 42 Vgl. zu den thessalonischen Delegaten die Ausführungen bei A. J. Malherbe, The Letters to the Thessalonians (AncB 32 B), New York 2000, 66 f. <?page no="146"?> 146 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte als Delegat der Gemeinde in Betracht kommen, da er seit seiner Christwerdung beständiger Reisebegleiter des Paulus ist (Apg 16,3; 17,14 f.; 18,5; 19,22). Daher wird gelegentlich vermutet, dass eine Erwähnung des Timotheus nicht in der Vorlage des Kollektenberichts zu lesen war, sondern erst von Lukas zugefügt wurde. Ein Gaius aus Derbe ist im Übrigen nicht bekannt, wohl aber ein Gaius aus Makedonien, der zudem in Apg 19,29 neben Aristarch, dem thessalonischen Delegaten, erwähnt wird. Die von D (gig) bezeugte Herkunftsbezeichnung Δουβ(ε)ριος hat möglicherweise eine Sachkorrektur vorgenommen und an die westnordwestlich von Philippi gelegene Stadt Doberos angeglichen, wenn nicht gar Lukas eine entgegengesetzte, aber fälschliche Korrektur seiner Vorlage vorgenommen hat. 43 Es ist daher denkbar, dass auch Gaius zu den makedonischen Delegaten gehörte. Damit aber ist auch gegeben, dass sehr wohl makedonische, aber keinesfalls achaische Vertreter der Kollektendelegation angehören. 44 Die Liste wird abgeschlossen durch die Erwähnung von Tychikos und Trophimos als Vertretern der Asia. 45 Die Anwesenheit des Letzteren in Jerusalem wird sodann, ausgelöst durch asiatische Juden, einen Vorwand zum Vorgehen gegen Paulus hergeben (Apg 21,29; vgl. aber auch die nachträgliche Korrektur in 2Tim 4,20). Es ist nicht unwichtig, dass die Zusammensetzung dieser Delegation neben eindeutig heidenchristlichen Vertretern (auf jeden Fall Trophimos) auch judenchristliche Mitglieder kennt. Sopater zählt nach Röm 16,21 gemeinsam mit Loukios und Jason zu den Judenchristen 46 , außerdem auch Timotheus (Apg 16,1-3). Paulus hatte unmittelbar vor Antritt der Reise in Röm 15,26 f. die Kollekte der makedonischen und achaischen Gemeinden betont als Gabe der Heidenchristen angesprochen. In dem gleichen Maß, in dem die Gesandtschaft 43 Zu dieser Frage D.-A. Koch, Kollektenbericht (s. o. Anm. 39), 375 Anm. 22. Nach seiner Sicht hat wohl Lukas die Erwähnung von Δουβ(ε)ριος im Kollektenbericht in das ihm bekannte Δερβαῖος korrigiert. 44 Wenig überzeugend erscheint mir die von B. Witherington III, Acts (s. o. Anm. 22), 603, vorgetragene Erwägung, dass Paulus sowohl Korinth als auch Philippi repräsentiere. 45 Röm 15,25 und Apg 20,3-6 belegen, dass Paulus ursprünglich auf dem Seeweg direkt nach Syrien fahren wollte. Nach einem versuchten Anschlag gegen Paulus wählt er den Landweg über Makedonien. Es ist im Text nicht deutlich, wer von der Kollektendelegation bereits nach Troas reist und wer gemeinsam mit Paulus (wir! ) auf dem Landweg folgt. Apg 20,13 setzt hingegen voraus, dass die gesamte Delegation Paulus in Troas erwartet und er alleine hinzustößt. Unklar bleibt auch, ob alle asiatischen Vertreter bei Paulus in Korinth sind oder ob sie in Troas zur Reisegruppe stoßen. 46 W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn 1979, 58, weist auf die Absetzung dieser drei von den grüßenden Mitgliedern der korinthischen Gemeinde hin und erwägt, auch in Loukios und Jason Kollektendelegierte zu erblicken, und zwar Vertreter der Gemeinde Philippis; F. M. Gillman, Art. Jason 2, ABD III (1992), 649 f., zählt Jason ebenfalls zu den thessalonischen Delegierten, schließt aber eine Teilnahme an der eigentlichen Kollektenreise aus. <?page no="147"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 147 des unbeschnittenen Titus zum Apostelkonvent (Gal 2,3) einen demonstrativen Charakter für die Legitimität des Heidenchristentums hat, repräsentiert nach Lukas die Delegation durch ihre Mitglieder die Einheit der Kirche aus Heiden- und Judenchristen. Weder der vermutete Einsatz des Kollektenberichts in Apg 20,4 noch sein Inhalt und Abschluss in Apg 21,18 geben auch nur an einer Stelle etwas zu erkennen über die Funktion dieser Delegation und den Zweck der Reise. Es werden die Reisestationen und auch jeweilige Zeitpunkte durchgehend festgehalten. Auch werden die Gefahren, die mit der Ankunft in Jerusalem verbunden sind, mehrfach betont (außerhalb der redaktionell eingeflochtenen Miletrede in Apg 20,18-35 und ihres Rahmens noch in Apg 21,4. 11. 12-14). Die Stilisierung der Reise zu einem Martyrium ist die lukanische Interpretation, die vom faktischen Ausgang des Geschehens her denkt. Die Leser werden hingegen über den wirklichen Zweck der Reise im Unklaren gelassen. Die Zusammensetzung der Delegation aus makedonischen, asiatischen und lykaonischen Christen lässt eher an eine Begleitung aus den wesentlichen paulinischen Missionsgebieten denken als an eine Kollektendelegation, die letztlich nach Röm 15,26 und nach 2Kor 8-9 ausschließlich auf Achaia und Makedonien hätte zurückgreifen können. Wenn Lukas wirklich einen Kollektenbericht verwendet, dann hat dieser Bericht sich also darauf beschränkt, nicht mehr als eben Stationen, Zeiten und Namen festzuhalten. Über Anlass, Durchführung und Abschluss der Kollekte hat er geschwiegen. Oder Lukas hat jeglichen Hinweis darauf aus diesem Bericht entfernt? Das Missverhältnis zwischen den klaren Angaben zu den Delegationsteilnehmern und ihrer Funktionslosigkeit im Folgenden lässt vermuten, dass Lukas sich von den Aussagen seiner Quelle wegbewegt. Die Vorkommnisse um den asiatischen Delegationsteilnehmer Trophimus (Apg 21,29) deuten katastrophale Umstände für die Kollektenübergabe an. 5. Der Verbleib der Kollekte Der in Apg 20,5-21,17 vorliegende Umfang des Kollektenberichts enthält keine Aussagen zur Kollekte. Ob in einer erweiterten Fassung über 21,17 hinaus etwas zu ihrer Übergabe gesagt war und ob Lukas diese Informationen zugänglich waren, entzieht sich unserer Kenntnis. Auch wenn Lukas bisher beharrlich zur Kollektenthematik im Kontext der paulinischen Mission geschwiegen hat und selbst die Existenz einer sich aus den Gemeinden zusammensetzenden Kollektendelegation zu einer Reisebegleitung des zum Martyrium schreitenden Paulus uminterpretiert hat, so geben doch wenige Hinweise im Kontext der Darstellung des Aufenthalts des Paulus in Jerusalem und Caesarea Anlass für die Vermutung, dass ihm rudimentäre Kenntnisse gegenwärtig waren. Es wird an <?page no="148"?> 148 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte drei Stellen festgehalten oder zumindest vorausgesetzt, dass Paulus in Jerusalem mit einer größeren Geldsumme eingetroffen ist. Ein Bezug zur Kollekte wird allerdings an keiner der Stellen hergestellt. Am klarsten spricht Apg 24,26 diesen Sachverhalt an. Der Statthalter Felix verzögert den Prozess in Caesarea auch, weil er hofft, von Paulus Geld zu erhalten. Hiermit wird einerseits der traditionelle Topos der Bestechlichkeit der Beamten aufgerufen. Andererseits aber liegt es Lukas fern, römische Beamte ohne Not in schlechtem Licht darzustellen. Ganz ohne Anhalt an einer Tradition kann dieser Vers daher schlecht erklärt werden. Nicht auszuschließen ist, dass die langwierige Prozessverschiebung gerade im Blick auf das Vorhandensein der Kollekte einerseits und auf den Topos der Bestechlichkeit andererseits hier eine Erklärung gefunden hat. 47 In der Verteidigungsrede vor dem Statthalter Felix erklärt Paulus in Apg 24,17: δι᾽ ἐτῶν δὲ πλειόνων ἐλεημοσύνας ποιήσων εἰς τὸ ἔθνος μου παρεγενόμην καὶ προσφοράς. Hinsichtlich der korrekten Übersetzung gehen die Vorschläge bezüglich der Zuordnung des εἰς τὸ ἔθνος μου auseinander. Καὶ προσφοράς hinkt zudem merkwürdig nach und scheint an Apg 21,26 erinnern zu wollen. Geläufig ist die Übersetzung: „Nach vielen Jahren bin ich gekommen, um Almosen für mein Volk zu bringen und Opfer“. 48 Daneben wird übersetzt: „Nach vielen Jahren bin ich zu meinem Volk gekommen, um Almosen zu bringen und Opfer.“ 49 Nur wer die paulinischen Briefe und die Selbstverpflichtung des Apostelkonvents (Gal 2,10b) kennt, wird durch die Zeitbestimmung δι᾽ ἐτῶν δὲ πλειόνων an den Sachverhalt erinnert, dass Paulus die Kollekte mit erheblicher Verzögerung überbringt und in der Tat nach einem Zeitraum von etlichen Jahren Jerusalem erstmals wieder aufsucht. 50 Hingegen besitzt die Wendung ἐλεημοσύνας ποιήσων … καὶ προσφοράς sprachlich keine Übereinstimmung mit denjenigen Begriffen, die Paulus für die Kollekte einsetzt (διακονία, λειτουργία, λογεία, κοινωνία, χάρις). Bezieht man hingegen beide Glieder ἐλεημοσύνας ποιήσων … καὶ προσφοράς deutlicher aufeinander, dann dienen sie dazu, Paulus als from- 47 Zu dieser Stelle H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin / New York 2002, 457-464. 48 G. Lüdemann, Christentum (s. o. Anm. 18), 257; H. Conzelmann, Apostelgeschichte (s. o. Anm. 17), 142; E. Haenchen, Apostelgeschichte (s. o. Anm. 17), 579; C. K. Barrett, The Acts of the Apostles II (ICC), Edinburgh 1998, 1107 u. a. Εἰς τό muss dann im Sinne von „zugunsten von“ übersetzt werden. 49 So etwa G. Schneider, Die Apostelgeschichte II. Teil (HThK V / 2), Freiburg / Br. u. a. 1982, 343 und 348; R. Pesch, Die Apostelgeschichte (Apg 13-28) (EKK V / 2), Zürich u. a. 1986, 253 u. a. 50 Nach einer an der Apg orientierten Chronologie hat es wohl nur einen einzigen Besuch zwischen dem Apostelkonvent und der Kollektenreise gegeben (Apg 18,22), die paulinischen Briefe hingegen erwähnen keinen Jerusalembesuch in diesem Zeitraum. <?page no="149"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 149 men jüdischen Wallfahrer zu kennzeichnen. 51 Auch ist die Adressatengruppe εἰς τὸ ἔθνος μου, wenn man der zuerst genannten Übersetzung folgt, nicht mehr identisch mit derjenigen in den paulinischen Briefen, nach denen nämlich die Armen unter den Heiligen in Jerusalem, also Judenchristen Empfänger der Kollekte sind. So bleibt mit Sicherheit allein der Sachverhalt, dass Paulus mit einer größeren Geldsumme nach Jahren nach Jerusalem kommt, der an die Kollekte denken lässt. Von Lukas ist dieser Bezug allerdings nicht hergestellt worden. Schließlich setzt der von Jakobus unterbreitete Vorschlag der Auslösung der vier Nasiräer und seine Akzeptanz durch Paulus (Apg 21,18-26) notwendig voraus, dass Paulus als im Besitz größerer Geldmittel befindlich vorgestellt wird. Die Übernahme der Auslösungskosten für vier Nasiräer sind beträchtlich, da in diesem Fall u. a. vier einjährige Schafe als Brandopfer, vier einjährige Schafe als Sündopfer und vier Widder als Dankopfer hätten dargebracht werden müssen. 52 Daher wird gelegentlich vermutet, Paulus habe die Kollekte oder zumindest einen Teil derselben für die Auslösung dieser Judenchristen verwendet. 53 Unter allen diskutierten Möglichkeiten zur Beantwortung der Frage nach dem Verbleib der Kollekte kann diese Vermutung immerhin für sich beanspruchen, dass sie einen gewissen Anhalt am Quellenbefund der Apostelgeschichte hat und mit der paulinischen Zielsetzung, den Armen unter den Heiligen in Jerusalem zu dienen (Röm 15,31), entspricht. 54 Freilich gilt auch hier festzuhalten, dass Lukas wiederum keinen Hinweis auf die Kollekte bietet, ihm vielmehr daran gelegen ist, Paulus als frommen Wallfahrer zu kennzeichnen, der jüdische Sitten respektiert. Die Beantwortung der Frage, welchen Ausgang die Kollektenreise denn wirklich gehabt hat, hängt nicht unwesentlich von der Überzeugungskraft der Hypothese eines Lukas vorliegenden Rechenschaftsberichts der Kollektendelegation und seines Umfangs ab. Da der Bericht nach Kochs Rekonstruktion mit der Ankunft in Jerusalem schließt, aber in seiner Wiedergabe in der Apostelgeschichte 51 Ausführlich dazu wiederum H. Omerzu, Prozeß (s. o. Anm. 47), 447 f.; zuvor bereits M. Bachmann, Jerusalem und der Tempel. Die geographisch-theologischen Elemente in der lukanischen Sicht des jüdischen Kultzentrums (BWANT 9), Stuttgart 1980, 304-314. 52 Vgl. den Exkurs bei H. Omerzu, Prozeß (s. o. Anm. 47), 299. 53 F. W. Horn, Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer, NT XXXIX (1997), 117-137, 134; wieder abgedruckt in diesem Band; D.-A. Koch, Kollektenbericht (s. o. Anm. 39), 380, erwägt zudem, dass die Nasiräatsauslösung möglicherweise noch zum Kollektenbericht gehört habe. 54 Nicht nachvollziehen kann ich Jürgen Wehnerts Vermutung, dass es in Jerusalem zu einer (inoffiziellen) Übergabe durch die Kollektendelegation und Annahme der Kollekte durch Jakobus nach der Verhaftung des Paulus gekommen sei (idem, Reinheit [s. o. Anm. 7], 101), wodurch wiederum Jakobus einen Teil der antipaulinischen Ressentiments auf sich gezogen habe, die letztlich für seine Ermordung verantwortlich gewesen seien (101.272). <?page no="150"?> 150 Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte nichts zur Übergabe sagt, hat die Vermutung einer lukanischen Kürzung - wohl aufgrund eines negativen Ausgangs der Kollektenaktion 55 - mehr Plausibilität als diejenige, der Kollektenbericht habe wohl die Reisestationen und die Delegationsmitglieder präzise festgehalten, aber sich nicht mehr zum Verbleib des Geldes geäußert. Allein die Auslösung der Nasiräer mag im Kontext der Kollekte bereits in der Quelle erwähnt worden sein und somit wenigstens eine Teilantwort auf die Frage nach dem Verbleib des Geldes geben. 56 Wenn Lukas allerdings nicht auf einen Kollektenbericht zurückgreifen konnte, wohl aber um die Ankunft des Paulus in Jerusalem im Besitz erheblicher Geldmittel wusste (Apg 21,26a; 24,17.26), muss nicht notwendig die Folgerung eines absichtlichen Verschweigens gezogen werden. Zunächst sei in Erinnerung gerufen, dass Lukas grundsätzlich im Kontext des Apostelkonvents, der Missionsreisen, vor allem der Berichte über das Wirken des Paulus in Makedonien und in der Achaia über eine Kollekte nichts sagt. Gewiss war die Kollekte „zur Zeit des Lukas bereits längst Vergangenheit; ihm war an dieser Stelle der Beginn des Martyriums des Paulus wichtiger.“ 57 Deutlich ist auch die Präzisierung der Jerusalemreise als einer frommen Wallfahrt (Apg 20,6.16) in ungebrochener Zuordnung zu Tempel (Apg 21,26) und Volk Israel (Apg 24,17). Um über die Sachgemäßheit dieses Bildes und über die These eines möglichen Verschweigens der Kollekte urteilen zu können, möchte ich festhalten, was aus paulinischen Aussagen zur Kollekte zu erheben und was überhaupt für Lukas vorauszusetzen ist. Der Stellenwert der Kollektenaktion scheint innerhalb der Gemeinden gering gewesen zu sein. Zwar spricht Röm 15,26 abschließend von einem Kollektenbeschluss der makedonischen und achaischen Gemeinden (ohne jegliche Erwähnung einer auf dem Apostelkonvent eingegangenen Verpflichtung), 2Kor 8-9 zeigt jedoch, dass allenfalls die makedonischen Gemeinden freiwillig für die Kollekte eingetreten sind, während die achaischen Gemeinden durch Boten zu einem Abschluss der Sammlung genötigt werden müssen. Die Beschreibung der Kollektendelegation nennt aber keine achaischen Vertreter. Wenn man zugleich deutlich zwischen der Erinnerung an die Vereinbarung in Gal 2,10a, die Barnabas und Paulus als Vertreter der antiochenischen Gemeinde betraf, und der eigenständigen Kollekte des Paulus 58 , deren 55 Diese Vermutung findet sich in der Literatur wohl am häufigsten. Allein W. Schmithals, Kollekten (s. o. Anm. 14), 249, geht von „einem glücklichen Ende“ der Kollektenreise aus. 56 So D.-A. Koch, Kollektenbericht (s. o. Anm. 39), 380; ähnlich C. K. Barrett, Acts (s. o. Anm. 48), 1001 und 1107 f. 57 Ibd., 380. 58 Die paulinische Kollektenreise ist von der antiochenischen Kollekte (Apg 11,27-30; Gal 2,10a) klar zu unterscheiden. Es wird von Paulus auch keinerlei Bezug zur ehemaligen Heimatgemeinde mehr hergestellt, weder innerhalb der Personen der Delegation noch hinsichtlich der Reiseroute. <?page no="151"?> Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte 151 Abschluss in die letzte Phase seines Wirkens fällt, unterscheidet, dann wird das paulinische Anliegen und seine spezifische Interpretation der Kollekte nur derjenige nachvollziehen können, der 2Kor 8-9 und den Römerbrief gelesen hat. In diesen Schreiben tritt Paulus in sehr persönlicher Weise für die Durchführung der Kollekte ein, um durch sie die Verbundenheit der Heidenchristen mit der Jerusalemer Gemeinde zu demonstrieren. Da Lukas keine Kenntnis paulinischer Briefe in der Apostelgeschichte zeigt, wird man folgern dürfen, dass Lukas offensichtlich auch nicht bekannt war, „welche Bedeutung Paulus mit diesem Zeichen der Solidarität der Heidenchristen mit der Mutterkirche in Jerusalem beigemessen hatte.“ 59 59 E. Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 259. <?page no="152"?> 152 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes und die vergänglichen Bilder der Menschen * Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 Nachdem die Theologie sich in den vergangenen Jahrzehnten nacheinander mit der Soziologie, sodann mit der Psychologie und schließlich mit der Literaturwissenschaft befasst und arrangiert hat, ist sie jetzt vom iconic turn erfasst worden. 1 Doch wird die Begegnung vermutlich von einer tief sitzenden Ambivalenz gezeichnet sein. Die theologische Tradition vermittelt auf vielfache Weise, angefangen vom alttestamentlichen Bilderverbot und seiner Rezeption in Judentum und Christentum über Bilder stürmende Reformatoren bis hin zum calvinistisch geprägten Kirchbau, vielfache Vorbehalte. Die Lebenswirklichkeit des evangelischen Christentums jedoch kann ohne Bilder gar nicht sein, sie haben in Didaktik und Literatur, in Kirchbau und christlicher Kunst einen festen Platz. Unverzichtbare Bilder christlichen Glaubens speisen sich aus dem reichen metaphorischen Schatz der biblischen Tradition. 2 In welche Richtung wird die gegenwärtige Diskussion verlaufen, welcher Stellenwert wird in ihr der kirchlichen Tradition, vor allem dem biblischen Zeugnis zukommen? 3 Ich möchte in diesem Vortrag von der ersten Anklage des Apostels Paulus in Röm 1,23 ausgehen, die dem Zorn Gottes über allen Frevel und alle Ungerechtigkeit der Menschen Raum gibt und sagt: … sie haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit dem Abbild der Gestalt eines vergänglichen Menschen und mit Vögeln und mit Vierfüßlern und mit kriechenden Tieren. In einem ersten Abschnitt soll diese Aussage eingeordnet werden in den Duktus 1 Chr. Maar und H. Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004. 2 Aus der neueren Literatur nenne ich: R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004. 3 K. Huizing, Art. Bild III. Religionsphilosophisch, RGG 4 I (1998), 1561 f: „Eine vom im Text inkarnierten Christus praesens ausgehende Religionsphilos. muß die Atmosphäre und den Nachbildungsdruck […], die der porträtierte Christus auf die Leser macht, untersuchen. Das steht heute an“ (1562). * Zuerst erschienen: Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes und die Bilder der vergänglichen Menschen. Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23, in: A. Wagner / V. Hörner / G. Geisthardt (Hg.), Gott im Wort - Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus? , Festschrift für Klaus Bümlein, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft 2005; 2 2008, 43-57. <?page no="153"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 153 der Argumentation des Römerbriefs. Ein zweiter Abschnitt wird fragen, was Paulus zu seiner Zeit konkret vor Augen hatte, wenn er von dem Abbild der Gestalt eines vergänglichen Menschen und mit Vögeln und mit Vierfüßlern und mit kriechenden Tieren spricht. Paulus ist hellenistischer Jude, die ihn prägende Tradition ist das hellenistische Judentum, speziell das Diasporajudentum. An dessen Polemik und Apologetik schließt Paulus sich an, wie in einem dritten Schritt exemplarisch dargelegt werden soll. Schließlich abschließend viertens einige Bemerkungen zum Verhältnis von Gottesverehrung und Ethik im Anschluss an Röm 1,23. 1. Röm 1,23 im Kontext des Römerbriefs Der Brief des Paulus an die ihm bislang unbekannten Christen in Rom ist nach herrschender Sicht das letzte Schreiben des Apostels. Es wurde abgefasst möglicherweise im Jahr 56 n. Chr. in Korinth und es blickt bereits vor auf die anstehende Reise zur Überbringung der Kollekte nach Jerusalem, an die sich der Besuch in Rom als Zwischenstation auf einer Missionsreise nach Spanien anschließen soll. Diese Vorhaben stehen unter der enormen Sorge, ja der Todesangst (Röm 15,22-33), dass bereits die erste Reisestation Jerusalem zu einer feindlichen Begegnung mit der jüdischen Gemeinde führen wird. 4 Zwischenzeitlich ist die Kritik an Paulus und seiner Auslegung des Evangeliums in solch einem Maß gewachsen, dass der Apostel meint, im Osten des Römischen Reiches, also in seinem eigentlichen Missionsgebiet keine Wirkmöglichkeit mehr zu haben (Röm 15,23). Die besondere Situation der Abfassungsverhältnisse lässt mit Recht im Römerbrief ein von den anderen Gemeindebriefen des Apostels unterschiedenes Schreiben erkennen. Ohne die Gattungsfragen hier strapazieren zu wollen, deuten die Kategorien ‚Testament‘ 5 oder ‚Rechenschaft vom Evangelium‘ 6 die Richtung an, in der das Schreiben an die Römer gelesen sein will. 4 Einen einleitungswissenschaftlichen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zum Römerbrief vermitteln: U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 4 2002, 128-151; R. E. Brown, An Introduction to the New Testament (AnchB. RL), New York 1997, 559-584. 5 G. Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, in: ders., Geschichte und Glaube II. Gesammelte Aufsätze IV (BevTh 53), München 1971, 120-139; ders., The Letter to the Romans as Paul’s Last Will and Testament, in: K. P. Donfried (ed.), The Romans Debate. Revised and Expanded Edition, Peabody 1995, 16-28; auch in stark zusammengefasster Form: ders., Paulus, Stuttgart 2 1970, 103-111. 6 So E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 45; noch prononcierter, bereits im Titel: ders., Summa Evangelii - zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefes, NGWG, Phil. Hist. Kl. I,3, Göttingen 1993. <?page no="154"?> 154 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes Im Anschluss an den üblichen Briefeingang, der mit der Propositio und des hier vorgelegten und sodann im Briefganzen durchhaltenden Themas der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium schließt (Röm 1,16 f.), hebt der Brief zunächst zu einer umfangreichen und weit über ähnlich lautende Kritik in früheren Briefen 7 hinausgehenden Anklage der Heiden (Röm 1,18-32) und der Juden (Röm 2,1-3,20) an. Sie endet für beide Gruppen mit dem Urteil, für das zurückliegende Fehlverhalten schuldig zu sein (Röm 1,32) bzw. mit der Feststellung, dass beide Gruppen, also alle gesündigt haben und der Herrlichkeit Gottes ermangeln (Röm 3,9.23), daher unter dem Zorn Gottes stehen (Röm 3,9-20). Für das Verständnis des angekündigten Zorngerichtes Gottes sind einige exegetische Grundentscheidungen, die hier nur kurz angesprochen werden können, unabdingbar. Zunächst ist zu klären, auf welchen Zeitpunkt die Offenbarung des Zorngerichtes blickt und sodann, in welchem Verhältnis die Offenbarung des Zorngerichts zu der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium steht, von der zuvor in der Propositio oder dem Themavers des Römerbriefs (Röm 1,16 f.) die Rede war. In beiden Fällen verwendet Paulus die Zeitform Präsens und liest ἀποκαλύπτεται. Während aber hinsichtlich der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes durch das Evangelium und ihrer Annahme im Glauben die Gegenwart angesprochen ist und im Blick auf die Rettung (εἰς σωτηρίαν) der Zukunftsaspekt nur angedeutet wird, steht dieser bei der Offenbarung des Zornes Gottes eindeutig im Vordergrund. 8 Darauf deutet etwa die adverbiale Bestimmung ἀπ᾽ οὐρανοῦ, die, gemeinsam mit dem Begriff ὀργή, den apokalyptischen Hintergrund des ganzen Komplexes anzeigt (vgl. äthHen 91,7) und ohne den die Gerichtsansage nicht zu verstehen ist. Es geht mithin „… um das In-Erscheinung-Treten einer Wirklichkeit , die bei Gott verborgen ist, aber erst im Vollzug ihrer Offenbarung ankommt, real wird.“ 9 Während also 7 Der früheste Paulusbrief erinnert in 1Thess 1,9 f an die Konversion der thessalischen Christen als Wechsel von einem Dienst gegenüber den εἴδωλα hin zu einem δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ, ohne diese Vergangenheit der Götzenverehrung in irgendeiner Weise mit expliziter Kritik oder Anklage zu behaften, obwohl auch 1Thess 1,10 die ὀργὴ θεοῦ und die Notwendigkeit einer Erlösung aus dem kommenden Zornesgericht anspricht; zur Exegese dieser Stelle: M. Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1Thess und 1Kor (BZNW 117), Berlin / New York 2003, 40-73. 8 Für die futurische Auslegung tritt mit guten Gründen ein: H.-J. Eckstein, ‚Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbar werden‘. Exegetische Erwägungen zu Röm 1,18; in: ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben. Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments (BVB 5), Münster 2003, 19-35. Gegen diese futurische Deutung wendet sich erneut Lohse, Römer, 86. 9 M. Theobald, Zorn Gottes. Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt der Theologie des Römerbriefs [im Inhaltsverzeichnis des Buches findet sich ein anderer Untertitel; fwh], in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 68-100, hier 75. G. Born- <?page no="155"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 155 in der Folge des kommenden zukünftigen Zorngerichts Gottes der Tod und die Verdammnis zu erwarten sind, eröffnet das Evangelium bereits gegenwärtig im Glauben den Zugang zum Leben. Diese unterschiedlichen Bezüge des Wortes ἀποκαλύπτεται, einerseits der zukünftige Zorn, andererseits die Gegenwart des Evangeliums, schließen es aus, die Offenbarung des Zornes entweder in die Vorgeschichte des Evangeliums 10 oder auch in eine Gestalt bzw. Teil des Evangeliums 11 zu verlegen. Beide Auslegungen sind, wie Michael Theobald mit Recht sagt, aus ihren Erkenntnis leitenden theologischen Interessen heraus obsolet geworden. 12 Der erste Teil des Schreibens (Röm 1,18-3,20), der der Ansage der zukünftigen Offenbarung des Zornes Gottes Raum gibt, belegt im Blick auf Heiden und Juden, dass alle Menschen, ausnahmslos, unter der Sünde stehen (Röm 3,9.23). Weil sie Gott zwar erkannt, ihm aber die Ehre, die sich aus der Erkenntnis Gottes ergibt, verweigert haben, haben sie - in einem konsekutiven Sinn - jegliches Anrecht auf Verteidigung verloren (Röm 1,20: εἰς τὸ εἶναι αὐτοὺς ἀναπολογήτους; dann aufgenommen in Röm 2,1). Es kann also das Urteil gesprochen und vollzogen werden. In diesem Abschnitt sind Fehlverhalten - Anklage - Ausschluss einer Verteidigungsmöglichkeit - Strafurteil - Urteilsbegründung und Strafe wie in einem Rechtsverfahren nachzuvollziehen. Bereits gegenwärtig, noch vor der zukünftigen Offenbarung des Zornes Gottes, sprechen in Röm 1,24. 26. 28 drei Auslieferungsformeln 13 eine bereits eingetretene Straffolge an. Daher ist im Folgenden auch nach dem Verhältnis der bereits eingetretenen Strafe zur Ansage des zukünftigen Zornesgerichts (Röm 1,18), also der zukünftigen Strafe zu kamm, Die Offenbarung des Zornes Gottes. Röm 1-3, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien, Ges. Aufs. I (BevTh 16), München 1966, 9-33, hat die Fragen der Zuordnung der beiden präsentischen Verben ausführlich dargestellt und die theologischen Konsequenzen, die sich damit verbinden, benannt. 10 So etwa N. Walter, Gottes Zorn und das ‚Harren der Kreatur‘. Zur Korrespondenz zwischen Röm 1,18-32 und 8,19-22; wieder abgedruckt in: ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. von W. Kraus und F. Wilk (WUNT 98), Tübingen 1997, 293-302. 11 So U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI / 1), Neukirchen 1978, 101-103. Für Wilckens „gehört das 1,18-3,20 Gesagte zum Inhalt des Evangeliums, in dem beides enthüllt wird: der Zorn Gottes, der alle Sünder vernichtet, und seine Gerechtigkeit, die diese Wirkung seines Zornes selbst aufhebt“ (103). Demgegenüber hält Theobald, Zorn, 99, fest: „Die ὀργὴ (θεοῦ) ist also nicht Gegenstand des Evangeliums selbst, sondern gehört zu seinem, von ihm hell ausgeleuchteten Horizont, vor dem seine Kunde vom Heil, seine eigentliche Pointe, erst richtiges Profil gewinnt.“ 12 Theobald, Zorn, 69. 13 Die Bezeichnungen variieren zwischen Übereignungs- und Auslieferungsformel. Die nächste neutestamentliche Parallele bietet Act 7,42. Der Begriff wurde geprägt von W. Richter, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch (BBB 15), Bonn 1963, 21-24 (Exkurs); vgl. auch Theobald, Zorn, 79-81. <?page no="156"?> 156 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes fragen. Die Auslieferungsformeln benennen die Straffolgen durchgehend unter Verwendung der Sequenz διὸ bzw. διὰ παρέδωκεν αὐτοὺς ὁ θεός, und sie beziehen sich in der Beschreibung der Straffolge auf Sachverhalte, welche Aspekte der vorausgehenden Urteilsbegründung aufnehmen und nochmals erweitern. Daher finden sich die Anklagepunkte für die Urteilsbegründung auch in den Teilen, die eigentlich der Beschreibung der Straffolgen vorbehalten sind (Röm 1 ,21-23.24b.25.26b-27.28b). Dieser Befund erklärt sich leicht, wenn man bedenkt, dass Paulus hier dem Grundsatz der adäquaten Vergeltung folgt. Die Strafe steht in einem adäquaten Verhältnis zur sündigen Tat (s. u.). Gemeinsam ist allen drei Schritten innerhalb der Urteilsbegründung, dass auf eine grundlegende Vertauschung im Denken und Handeln der Menschen eingegangen wird (zunächst ἀλλάσσω, sodann zweimal das Kompositum μεταλλάσσω). 14 Röm 1,23 und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit dem Abbild der Gestalt eines vergänglichen Menschen und mit Vögeln und mit Vierfüßlern und mit Kriechtieren. Röm 1,24 Darum hat Gott sie dahingegeben in den Begierden ihrer Herzen an Unreinheit, dass ihre Leiber geschändet würden durch sie selbst. Röm 1,25 Haben sie doch die Wahrheit Gottes vertauscht mit dem Trug und Verehrung und Dienst erwiesen der Schöpfung statt dem Schöpfer - er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen Röm 1,26 Darum hat Gott sie dahingegeben an schändliche Leidenschaften. Denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen. Röm 1,27 Ebenso sind auch die Männer, den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassend, in ihrem Verlangen gegenseitig entbrannt. Männer treiben mit Männern Schande und empfangen den gebührenden Lohn an sich selbst. Röm 1,28 Und weil sie es nicht wert geachtet haben, Gott zu haben in Erkenntnis, hat Gott sie dahingegeben in haltlosen Sinn, zu tun, was sich nicht gehört. 14 Die Fragen des Aufbaus der Einheit sind vielfach diskutiert worden: W. Popkes, Zum Aufbau und Charakter von Römer 1,18-32, NTS 28 (1982), 490-501; S. Schulz, Die Anklage in Römer 1,18-32, ThZ 14 (1958), 161-173. <?page no="157"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 157 Paulus folgt in dieser Einheit dem antiken Grundsatz der adäquaten Vergeltung. Er lässt sich auch in die ihn prägende jüdische Weisheitstheologie zurückverfolgen und lehrt, dass die Strafe in einem adäquaten Verhältnis zur sündigen Tat steht (vgl. SapSal 11,16; TestNaph 3,2 f.). 15 Hier in Röm 1,23-28 steht also der von den Menschen jeweils vorgenommene frevelhafte Tausch in einer Entsprechung zu ihrer endgültigen Auslieferung durch Gott in frevelhaftes Verhalten, in deren Folge sich die Menschen in einer grundlegenden Fehlorientierung wiederfinden. Also: der von den Menschen vorgenommene Tausch rechter Gottesverehrung in Götzendienst hat seine Entsprechung darin, dass Gott sie preisgibt in solche dem Götzendienst entsprechende Unreinheit, in deren Folge die Leiblichkeit jeglicher Ehre (ἀτιμάζεσθαι) beraubt wird (Röm 1,23 f.). Oder: die Vertauschung der Wahrheit mit dem Trug hat den Verlust der Ehre (ἀτιμία) im Bereich der Sexualität (Röm 1,25-27) zur Folge. Die Missachtung der Gotteserkenntnis schließlich führt zu untauglichem Denken und zu Handlungen, die den Bereich der allgemeinen Sitte (τὰ καθήκοντα) verlassen (Röm 1,28). Die Verirrungen der Menschen sind antiklimaktisch ausgehend vom Götzendienst der Bilder, die Strafen eher klimaktisch hin zum Verlust des Anschlusses an die allgemeine Sitte angeordnet. 16 Es soll hier nur nochmals betont werden, dass auf der Textebene die sichtbaren Folgen der Auslieferung, also Götzendienst, sexuelles Fehlverhalten und Verhalten gegen das überkommene Ethos nicht selbst gewählte Optionen der Menschen sind, sondern Strafaktionen Gottes, die allerdings auf die vorhergehenden grundlegenden Vertauschungen der Menschen adäquat antworten. Nun ist dies eine theologische Deutung, welche die Lebenswirklichkeit aufnimmt und von ihr ausgehend eine theologische Erklärung sucht. 17 Der Einsatz der Einheit mit dem Thema des Götzendienstes (Röm 1,23) jedenfalls folgt einer grundlegenden Einsicht jüdischer Theologie, dass Götzendienst sozusagen der Anfang vom Ende ist (SapSal 14,27), alles Weitere folgt dann notwendig. Man wird die Zielrichtung der Auslieferungsformel daher mit Eduard Lohse auch so angemessen wiedergeben können: „Die fortdauernde Wirkung dieses Richterspruchs betrifft die Auslieferung gerade an die Unrechtstaten, deren sich die 15 E. Klostermann, Die adäquate Vergeltung in Röm 1,22-31, ZNW 32 (1933), 1-6; J. Jeremias, Röm 1,22-32, ZNW 45 (1954-55), 119-121; wieder abgedruckt in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 290-292; C. Bussmann, Themen der paulinischen Missionspredigt auf dem Hintergrund der spätjüdisch-hellenistischen Missionsliteratur (EHS.T XXIII / 3), Bern / Frankfurt 1975, 119 f. 16 Gegen O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 14 1978, 103, kann ich nicht erkennen, dass die Zuordnung von religiöser und sexueller Perversion in TestNaph 3,2-4 vorgegeben sei. 17 J. A. Fitzmyer, Romans (AnchB 33), New York 1993, 272: „he is seeking to give a logical explanation of the dire condition of pagan humanity“. <?page no="158"?> 158 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes Menschen schuldig gemacht haben. Nun müssen sie in ihnen verharren und erfahren darin den Zorn Gottes.“ 18 Die Ansage des Zorngerichts (Röm 1,18) und die dreifache Auslieferungsformel (Röm 1,23-28) sind, wiewohl beide Ausdruck göttlichen Gerichts sind, sachlich und zeitlich zu unterscheiden. Die Auslieferungsformeln stellen eine schonungslose Analyse der eigenen Gegenwart dar und begreifen gewisse Erscheinungen wohl als Gericht, aber eben nicht als den vom Himmel herkommenden Zorn Gottes. Theobald spricht vom „Vorgeschmack des zukünftigen Gotteszorns“ 19 . Man darf auch den Einfluss apokalyptischer Orientierung nicht unterbewerten. Vor dem Tag des Zornesgerichts nehmen Verkehrung der Natur und Anwachsen der Lüge und der Torheit zu und führen somit auf das Gericht hin. In der Gesamtkomposition wird durch die Auslieferungsformel der Standort der Heiden, jedenfalls nach Maßgabe jüdischer Theologie, in vollkommen heilloser Weise festgehalten. Sie leben in Götzendienst (Röm 1,23), in sexuell abnormem Verhalten (Röm 1,26 f.) und jenseits überkommener Sitte (Röm 1,28). Sie sind verblendet, nehmen ihr eigentliches Denken und Handeln nicht wahr, halten allerdings subjektiv ihr Tun für weise (Röm 1,21 f.). Überdies wird dieser Standort durch Gottes Urteil festgeschrieben, insofern sie in solches Verhalten ausgeliefert und in ihm festgehalten worden sind und somit ihre Sünde beständig noch anhäufen. 20 Daher sind sie, wiederum nach Maßgabe jüdischer Theologie und nach dem Maßstab der Tora (Röm 4,15), des Todes würdig (Röm 1,32). Paulus bedient mit solcher Analyse zweifelsfrei typische Wahrnehmungen der heidnischen Welt aus jüdischer Sicht. Und doch wird er diese Vorurteile sofort relativieren, insofern er in dem beschriebenen Verhalten kein exklusiv heidnisches erkennt (Röm 2,1). 21 18 Lohse, Römer, 89. Sehr pathetisch, aber in der Sache ähnlich: Bornkamm, Offenbarung, 25: „Die in vermessener Freiheit gewählte Möglichkeit des selbstmächtigen Lebens ist in Wahrheit, da Gott sein Urteil über die Menschen vollstreckt, die ihnen zugemessene Gebundenheit unter die eherne Notwendigkeit ohnmächtigen Sterbens.“ 19 Theobald, Zorn, 83 (in Aufnahme einer Formulierung aus ders., Römerbrief, Bd. 1, (SKK. NT), Stuttgart 2 1998, 64; ebenso K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig 1999, 52: „nicht mit der Enthüllung des Zornes (V.18) gleichzusetzen, sondern nur deren Vorspiel.“ 20 Trefflich Michel, Römer, 104: „Gott benutzt ihre Begierden zum Gericht und gibt den Menschen das, was sie begehren, zu ihrem Verderben.“ 21 Zwar wird in Röm 2,1 noch nicht direkt ein jüdischer Gesprächspartner angesprochen, obwohl die Argumentation nur ihn im Blick hat; gegen R. M. Thorsteinsson, Paul’s Interlocutor in Romans 2. Function and Identity in the Context of Ancient Epistolography (CB.NT 40), Stockholm 2003, der auch in Röm 2,1-3,20 einen paganen Gesprächspartner vermutet. <?page no="159"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 159 2. Der schlechte Tausch: Bilder eines vergänglichen Menschen, von Vögeln, Vierfüßlern und Kriechtieren (Röm 1,23) Es gehört zur Verblendung, dass der Tausch von etwas Unvergänglichem (ἄφθαρτος) in Vergängliches (φθαρτός) hinsichtlich seiner qualitativ unterschiedlichen Wertigkeit nicht erkannt wird. 22 Verehrung und Dienst (ἐσεβάσθησαν καὶ ἐλάτρευσαν Röm 1,25) richten sich jetzt auf das ὁμοίωμα εἰκόνος φθαρτοῦ ἀνθρώπου καὶ πετεινῶν καὶ τετραπόδων καὶ ἑρπετῶν. 23 Es mag sein, dass die Kombination von ὁμοίωμα und εἰκών, also die Dopplung von Abbild und Bild die frevlerische Orientierung der Bilderverehrung verstärkt. 24 Möglicherweise lehnt sich Paulus aber auch an das alttestamentliche Bilderverbot 25 nach Dtn 4,16-18 LXX an 26 , in dem einerseits sowohl ὁμοίωμα als auch εἰκών zu lesen ist und andererseits Mensch (ὁμοίωμα ἀρσενικοῦ ἢ θηλυκοῦ), Vögel (πέταται 22 Sprachlich scheint Paulus sich an Ps 105,20LXX; Jer 2,11 anzulehnen. 23 Es sind alle Genitive in 1,23b von εἰκών abhängig, nicht allein φθαρτοῦ ἀνθρώπου. Die zuletzt wieder von R. H. Bell, No one seeks for God. An Exegetical and Theological Study of Romans 1.18-3.20 (WUNT 106), Tübingen 1998, 55, ausgesprochene Vermutung, hier zugleich eine Anspielung an den Verlust der imago Dei zu sehen, ist schon von daher unwahrscheinlich und sie scheint überhaupt weit hergeholt (überzeugende Kritik dieser These durch Fitzmyer, Romans, 283). 24 Die Übersetzung von ἤλλαξαν ἐν lautet: sie vertauschten mit (so auch BDR § 179.3; W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von K. Aland und B. Aland, Berlin / New York 6 1988, 1035). Ὁμοίωμα εἰκόνος stellt einen Pleonasmus dar, man wird also nicht nochmals scharf zwischen beiden Begriffen differenzieren dürfen; so aber B. Weiss, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 9 1899, 85 f., der zwischen dem heidnischen Wahngebilde der Götter und den konkreten Abbildungen unterscheidet. Richtig H. Lietzmann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 4 1933, 32: „… haben sie die wesenlosen Götzengestalten (ὁμοίωμα) gesetzt, die nach den Formen des Menschen- und Tierleibes (εἰκών) gebildet sind“. So auch bereits H. Grotius, zitiert bei H. A. W. Meyer, Kritisch-exegetisches Handbuch über den Brief des Paulus an die Römer, Göttingen 4 1865, 70: figura, quae apparet in simulacro. 1 Makk 3,48 wird oft als Parallele genannt. Dieser Text deutet jedoch eindeutiger auf pagane Kultgeräte (τὰ ὁμοιώματα τῶν εἰδώλων αὐτῶν) und liest eben εἰδώλων und nicht εἰκόνων. Bauer-Alands Übersetzung lautet: das Abbild der Gestalt eines vergänglichen Menschen (448). 25 Ich nenne wesentliche Literatur zum Thema aus den vergangenen Jahren: A. Berlejung, Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik (OBO 162), Freiburg / Göttingen 1997; S. Schroer, In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament (OBO 74), Freiburg / Göttingen, 1987; Chr. Dohmen, Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament (BBB 62), Königstein / Bonn 2 1987; O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg 5 2001; Chr. Dohmen, Art. Bilderverbot, NBL 1 (1991), 296-298. 26 Michel, Römer, 103; Fitzmyer, Romans, 283. Wilckens, Römer I, 107, erkennt in dieser negativen Verwendung von εἰκών einen beabsichtigten Kontrast zu Gen 1,26 f. <?page no="160"?> 160 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes ὑπὸ τὸν οὐρανόν), Landtiere (κτήνοι) und Kriechtiere (ὁμοίωμα παντὸς ἑρπετοῦ) genannt sind. Nicht übernommen aus Dtn 4 ist ὁμοίωμα παντὸς ἰχθύος. Auch an andere Zusammenstellungen der Tierwelt mag man denken (in Gen 1,20-25 begegnen alle in Röm 1,23 genannten Tiere). 27 Die in Röm 1,23 angesprochenen Tiere kehren mit gleicher Bezeichnung, aber in anderer Reihenfolge in Act 10,12 wieder, hier allerdings in dem unbedingt mit zu bedenkenden Kontext der Unterscheidung von reinen und unreinen Tierspeisen (Act 10,14; 11,8). Was Tiere als rein oder unrein definiert, ist nur teilweise in der Tora und der Halacha enthalten (vgl. etwa für Qumran die Bestimmungen in 11Q19 XLVIII ). Daneben entstehen in jeder Kultur, also auch im Judentum, weitere Speisetabus, also ungeschriebene Gesetze. Die in Röm 1,23 genannten Tiere repräsentieren nicht wirklich die Dreiteilung der Tierwelt in Luft-, Erd- und Wassertiere. 28 Allenfalls kann man fragen, ob die ἑρπετά, die oft mit den Schlangen gleichgesetzt wurden (Theokrit 24,57; Josephus, Ant 17, 109), gelegentlich auch zur Gattung der Wassertiere gezählt wurden. Die polemische Ausrichtung in Röm 1,23 ist unverkennbar. Sie mag sich durchaus an atl. Vorgaben anschließen (vgl. die weitgehende Parallele in Ps 105,20 LXX ). Besteht dennoch daneben für Paulus ein konkreter Anknüpfungspunkt, eine spezifische Erfahrung, die ihn von einer Verehrung von Bildern der Vögel, Vierfüßler und Kriechtiere sprechen lässt? Die Annahme eines konkreten Anknüpfungspunktes erscheint mir unwahrscheinlich, wiewohl anzunehmen ist, dass die Wahrnehmung des Bildes eines vergänglichen Menschen und von Vögeln und Vierfüßlern und Kriechtieren in der hellenistischen Welt unumgänglich war. Paulus folgt einer traditionellen Zusammenstellung der Tiere (s. o.), er verbleibt, wie immer bei usueller Paränese, bewusst im Allgemeinen und umgeht jegliche Präzisierung. Gerade die Nähe der Aussage zur dreigeteilten Tierwelt und zu dem auf sie Bezug nehmenden Bilderverbot intendiert etwas Summarisches. Man kann eine Gegenprobe durchführen. Die Erinnerung der thessalonischen Gemeinde an ihre zurückliegende Verehrung der εἴδωλα (1Thess 1,9 f.) wird in diesem Brief wie auch in 1Kor 12,2 (εἴδωλα τὰ ἄφωνα) im Blick auf die korinthische Gemeinde nicht weiter aufgenommen und ausgeführt. 29 Man hat den 27 Wilckens, Römer I, 108. 28 So aber Michel, Römer, 103. Michel erkennt Gen 2,20; 7,8; Act 10,12; 11,6 als Vorlage für die Dreiteilung. Allerdings fehlt in jedem der genannten Belege ein Wassertier. 29 Chr. vom Brocke, Thessaloniki - Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt (WUNT II / 125), Tübingen 2001, 116: „Erschwerend kommt die enorme Vielfalt der Kulte Thessalonikis hinzu, die es praktisch unmöglich macht, bestimmte Götter mit den von Paulus erwähnten εἴδωλα zu identifizieren.“ <?page no="161"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 161 Eindruck, dass die Präsenz bildhafter und plastischer religiöser Darstellung so selbstverständlich ist, dass die Auseinandersetzung mit ihr nicht en détail geführt wird. Gleichfalls hält Paulus sich im Blick auf bildhafte Darstellung von Menschen im Kontext religiöser Verehrung sehr bedeckt. 3. Die Polemik gegen die Verehrung von Menschen- und Tierbildern im hellenistischen Judentum Nach einer oft vorgetragenen Sicht bezieht sich die Aufzählung in Röm 1,23b konkret auf ägyptische Religiosität, die, wenn auch nicht ausschließlich, bereits in SapSal angegriffen wurde. 30 Paulus würde sich demnach an die jüdische Apologetik und Polemik anschließen, die in der Diaspora ausgearbeitet wurde. 31 Es lohnt, einen Blick in diese zum Neuen Testament zeitgleiche Schrift und in wenige weitere Schriften des hellenistischen Judentums zu werfen, um das bereits gewonnene Bild von anderer Seite her zu komplettieren und um es besser einordnen zu können. Die Verehrung von Menschen hat im Osten des Römischen Reiches, vor allem in Ägypten, eine weit zurückreichende Tradition. Sie und die von jüdischer Seite vorgetragene Kritik an Herrscherkult und seiner bildhaften und kultischen Inszenierung soll hier nicht nochmals bedacht werden. 32 Vielmehr möchte ich vornehmlich der Kritik der bildhaften Darstellung von Tieren nachgehen. Zunächst sind wesentliche Belege aus SapSal vorzustellen 33 : - SapSal 11,15 f.: Entsprechend ihren Gedanken ohne Verstand und voll Ungerechtigkeit, die sie verwirrten und vernunftlose Schlangen und armselige 30 E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 4 1980, 41 f; Michel, Römer, 103, erinnert daran, dass in Ägypten Falke und Ibis, Krokodil und Schlange verehrt wurden; auch Fitzmyer, Romans, 284. Deutlich reservierter D. Georgi, Weisheit Salomos (JSHRZ III / 4), Gütersloh 1980, 396: „Die Kenntnis von ägyptischem Tierkult war schon in klassischgriechischer Zeit verbreitet und wurde in hellenistisch-römischer Zeit zum Allgemeinplatz im ganzen Mittelmeergebiet.“ D. Winston, The Wisdom of Solomon (AnchB 43), New York 1979, 248 f., macht auf die breite apologetische Tradition innerhalb des Judentums aufmerksam, an die Paulus sich anschließen kann. 31 Vgl. hierzu den Exkurs bei Lietzmann, Römer, 33, der die durch stoische Diatribe und jüdische Apologetik vermittelten Vorgaben der Polemik benennt und insbesondere auf die Frage des Verhältnisses des Paulus zur SapSal eingeht. 32 Ich verweise auf Chr. Habicht, Gottmenschentum und griechische Städte, München 2 1970; als Überblick mit reichen Literaturhinweisen: H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie und Gnosis, Stuttgart 1996. 33 Die Übersetzungen folgen Georgi, Weisheit Salomos. Daneben verweise ich auf: Winston, Wisdom; A. Schmitt, Weisheit (NEB 23), Würzburg 1989; Chr. Larcher, Le Livre de la Sagesse où Sagesse de Salomon, 3 vol., Paris 1983-1985; Hans Hübner, Die Weisheit Salomons (ATD.A 4), Göttingen 1999. <?page no="162"?> 162 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes Biester anbeten ließen, schicktest Du ihnen massenweise vernunftlose Tiere zur Strafe, damit sie erkennten (sic! ), daß man mit den Mitteln gestraft wird, mit denen man sündigt. - SapSal 12,24: Sie wurden nämlich sogar durch mehr als nur durch Verwirrung der (Himmels-) Richtungen in die Irre geführt, sie, die die allerschändlichsten unter den Tieren für Götter hielten, getäuscht gleich törichten Säuglingen. - SapSal 13,10: Armselig aber sind sie und mitten unter Toten (existieren) ihre Hoffnungen. Sie, die die Werke von Menschenhänden Götter nennen, Gegenstände (ihrer) Kunstfertigkeit aus Gold und Silber, Abbildungen von Tieren oder unnützen Stein, ein Werk von antiker Herkunft. - SapSal 13,13 f.: Ein Stück Abfall, das dann zu gar nichts mehr nütze ist, ein knorriges Holz mit Astlöchern durchsetzt, das nimmt er und schnitzt es in der Muße seiner Freizeit, formt daran während des Feierabends und gleicht es dem menschlichen Bilde an, oder er macht es dem armseligen Tiere gleich … - SapSal 15,18: Sogar die verhasstesten Tiere verehren sie; denn wenn man sie in Bezug auf den Unverstand vergleicht, so sind sie noch schlimmer als die anderen. - SapSal 16,1: Deshalb wurden sie durch ähnliche (Wesen) in angemessener Weise bestraft, und zwar wurden sie durch eine Menge von wilden Tieren gemartert. Diese Belege finden sich alle in dem Abschnitt 11,2-19,22, der in Form einer Synkrisis über das Verhalten Gottes zu den Gerechten und zu den Gottlosen handelt. SapSal 11,15 f. bedient sich gleichfalls des ius talionis , insofern die ägyptischen Plagen durch Tiere (Ex 7,26-8,28; 10,1-20) als Strafe für den Tierkult der Ägypter aufgefasst werden. Polemisch werden die verehrten Tiere zu vernunftlosen, armseligen, allerschändlichsten, verhassten Wesen degradiert. Eine nähere Auskunft über die Wahrnehmung des ägyptischen, freilich zum Teil längst vergangenen Tierkults aus jüdischer Perspektive enthalten folgende Texte (hier in deutscher Übersetzung): - Aristeasbrief 138 34 : Lohnt es sich da, über die anderen, noch viel dümmeren zu reden, die Ägypter und ähnlichen (Völker), die an Tiere glauben, und dabei noch meistens an Kriech- und Raubtiere, und ihnen opfern, lebendigen, wie auch ihren Kadavern. - Sib III 27-31 35 : Er selbst hat die Gestalt des Bildes der Menschen bestimmt und hat wilde Tiere geschaffen, Kriechtiere und Vögel. Weder verehrt ihr noch scheut ihr Gott, vergeblich irrt ihr umher, indem ihr Schlangen anbetet und 34 Übersetzung nach N. Meisner, Aristeasbrief (JSHRZ II / 1), Gütersloh 1973. 35 Übersetzung nach H. Merkel, Sibyllinen (JSHRZ V 8), Gütersloh 1998. <?page no="163"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 163 Katzen opfert und stummen Götzenbildern, aus Stein gefertigten Menschenbildern. - Philo, Decal 76-78 36 : „Keiner also, der eine Seele besitzt, möge einem unbeseelten Dinge göttliche Verehrung erweisen, denn es ist geradezu widersinnig, wenn die Geschöpfe der Natur sich göttlicher Verehrung der von Menschenhand verfertigten Gegenstände zuwenden. Die Ägypter aber trifft zu dem allgemeinen Vorwurf gegen jedes Land noch ein ganz besonderer: denn außer Schnitzbildern und Bildsäulen haben sie gar noch vernunftlose Tiere in die Götterverehrung eingeführt, Stiere, Widder und Ziegenböcke, und von jedem eine Wunderfabel hinzugedichtet. Indessen, die Verehrung dieser Tiere hat vielleicht noch einen Sinn, denn sie sind doch die zahmsten und für das Leben der Menschen nützlichsten Tiere. Nun aber gehen sie noch weiter und ehren auch ungezähmte Tiere und unter diesen die wildesten und unbändigsten, wie Löwen und Krokodile und von Kriechtieren die giftige Aspis, mit Tempeln und Hainen, mit Opfern, Festversammlungen, Festaufzügen und ähnlichen Dingen […] Und viele andere Tiere, wie Hunde, Katzen, Wölfe, von Geflügeltieren Ibis und Habicht, endlich Fische, entweder ganz oder Teile von ihnen, haben sie vergöttert. Was aber kann lächerlicher sein als dieses? “ - Josephus, Ap I 254 37 : „Was für Götter? Sollen es die gewesen sein, die bei den Ägyptern als solche galten, der Stier, der Bock, Krokodile und Hundsaffen […]“ Die vorgestellten Belege werden natürlich der Religion des alten Ägypten und der Vorstellung, dass Götter in Kultbildern und in Tieren Wohnung nehmen können, nicht gerecht, insofern die Unterscheidung zwischen Gottheit und jeweiliger Wohnstatt der Gottheit nivelliert wird. 38 Sie gehen auch nicht detailliert auf spezifische Tiere oder Tiergattungen und ihre Zuordnung zur Gottheit ein, sondern greifen das heraus, was der polemischen Abzweckung dient. Diese 36 Der griechische Text nach Philo (in ten vol. and two suppl. vol.), vol. VII, translated F. H. Colson (LCL 320), London 1984. Die deutsche Übersetzung von L. Treitel (Cohn, Werke I, 387 f.) ist wieder abgedruckt in: Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, hg. von G. Strecker und U. Schnelle unter Mitarbeit von G. Seelig. Teilband 1, Berlin / New York 1996, 29. 37 Übersetzung nach der Ausgabe von H. Clementz, Flavius Josephus. Kleinere Schriften, Wiesbaden 1993. Zur Stelle auch D. Labow, Flavius Josephus, Contra Apionem Buch I. Einleitung, Text, Textkritischer Apparat, Übersetzung und Kommentar, BWANT 167, Stuttgart 2005. 38 Zur Sache: Th. Hopfner, Der Tierkult der alten Ägypter nach den griechisch-römischen Berichten und den wichtigen Denkmälern (DAWW.PH 57 / 2), Wien 1913; E. Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 5 1993. <?page no="164"?> 164 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes bewegt sich im Übrigen in einer von römischer und griechischer Seite geteilten Kritik, wenngleich die jüdische Verweigerung in ihrer Grundsätzlichkeit von dieser Seite gleichfalls getadelt wird (Tacitus, Hist V 5; Juvenal, Sat 15,1-3). Eine Begründung der Ablehnung der Verehrung von Tier- und Menschendarstellung wird in der Linie zu suchen sein, die Josephus vorgibt. Er geht grundsätzlich von der Unmöglichkeit aus, Gott bildlich darzustellen (Ap II 75.167.190 f.). Er rezitiert sodann in Ant III 91 den Dekalog nicht wörtlich, sondern paraphrasiert und interpretiert Ex 20,4. Zum zweiten Gebot schreibt er: „das zweite schreibt vor, dass man keines Tieres Bild anbeten darf “ (ὁ δὲ δεύτερος κελεύει μηδενὸς εἰκόνα ζῴου ποιήσαντας προσκυνευεῖν). Allerdings muss man sehr bedacht unterscheiden zwischen restriktiven theologischen Grundsätzen und ihrer Anwendung. 39 Die Polemik unterstellt leicht den Heiden in der Diaspora einen undifferenzierten Tierkult. Die Apologetik der eigenen Religion hat jedoch größte Schwierigkeiten, das durchaus vorhandene Bildmaterial innerhalb der jüdischen Frömmigkeit zu interpretieren. 40 Michael Tilly spricht in einem jüngeren Beitrag etliche Beispiele für unterschiedliche Auffassungen gegenüber der bildenden Kunst innerhalb des Judentums an, auch ihrer Verwendung im Synagogenbau 41 , und er fragt, „ob die angebliche grundsätzliche Bildlosigkeit der jüdischen Religion nicht vielmehr eine vorurteilsbehaftete neuzeitliche Vorstellung ist, beeinflusst durch antijüdische Ideen“. 42 Auf jeden Fall wird man also differenzieren müssen und die Funktion der oben besprochenen polemischen Aussagen zum ägyptischen Tierkult bedenken müssen. Dieser dient als hervorragendes Instrument für eine Abgrenzung, da der Superioritätsanspruch der eigenen Religion als der ‚besseren, der vernünftigeren Religion‘ leicht bewiesen werden kann: Tiere gelten als seelenlos, armselig, vernunftlos und unverständig, sie stehen 39 1Makk 13,47 berichtet von einer makkabäischen Reinigungsaktion, die sich auf Götzenbilder in der Stadt Geser bezieht. 40 Vgl. hierzu die Ausführungen von J. Maier, Art. Bilder III, TRE 6 (1980), 521-525. 41 Der archäologische Befund spricht eindeutig gegen das von E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi II, Leipzig 4 1907, 65, vertretene Urteil: „Die bildende Kunst konnte in Palästina wegen der jüdischen Verwerfung aller Menschen- und Tierbilder natürlich keinen Eingang finden.“ Die englische Fassung The history of the Jewish people in the age of Jesus Christ, vol. II, revised and edited by G. Vermes u. a., Edinburgh 1991, 443, hingegen hält für Palästina fest: „In the rich ornamentation of the synagogue ruins in Palestine may be distinguished, in addition to Jewish religious symbols proper […], figures from the animal world, such as lions, lambs and eagles, as well as signs of the zodiac (in the mosaic floors at Beth Alpha and Hammath)“. Vgl. außerdem H.-P. Stähli, Antike Synagogenkunst, Stuttgart 1988; M. Tilly, Art. Synagoge, TBNT 2, Wuppertal / Neukirchen 2 2000, 1029-1034. 42 M. Tilly, Bild und Bildlosigkeit in der synagogalen Architektur, in: B. Bannasch / A. Hammer (Hg.), Verbote der Bilder - Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt / New York 2004, 347-357, hier 348. <?page no="165"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 165 teilweise in Feindschaft zum Menschen. Abbildungen von Tieren sind von Hand gemacht und also vergänglich. Tiere sind Teil der Schöpfung und daher immer vom Schöpfer zu unterscheiden. 4. Gottesverehrung, Bilder und Ethik Der Bezug des bisher Vorgetragenen zu dem Gesamtthema ‚Gott im Wort - Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus? ‘ ist abschließend darzustellen. Ich halte zunächst nochmals fest, dass sowohl in Röm 1 als auch in den vorgestellten Texten des hellenistischen Judentums der Gegensatz ‚Verehrung vergänglicher Bilder von Menschen und Tieren - Verehrung des unvergänglichen Gottes‘ eingespannt ist in die aus jüdischer Sicht vorgetragene Polemik gegen die heidnische Religion und verbunden ist mit der Apologetik der eigenen Religion. 43 Die grundsätzliche Bilderlosigkeit als Bedingung für die Reinheit der eigenen Religion ist hingegen bisher nicht angesprochen worden. Es mag von diesen Texten her so scheinen, als stelle das hellenistische Judentum oder auch das frühe Christentum eine bilderlose Religion dar. Der archäologische Befund und viele Hinweise in den Texten 44 sprechen jedoch eindeutig gegen diese Annahme. Auch wird man überlegen müssen, ob es im Kontext des vorhandenen Bilderkultverbotes nicht Kompensationen gegeben hat, die bildhaften Elementen gleichzeitig einen Raum eröffneten. 45 Anscheinend kann also auf die bildhaften Elemente in der Gottesverehrung nicht gut verzichtet werden. Das alttestamentliche Bilderverbot ist nicht expressis verbis im Neuen Testament aufgenommen und bekräftigt worden. Liegt es daran, dass die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus per se alle bildlichen Darstellungen Gottes erübrigt hat? 46 Ist die Christusikone das einzige legitime Bild innerhalb der christlichen Religion? Ein reduktionistisches Verfahren ist durch die bewusste, apologetische Abgrenzung von der paganen, vor allem von 43 Gegenüber dieser vorgetragenen Sicht vermutet Haacker, Römer, 51, dass Paulus sich in Röm 1,23 auf Ez 8-11 beziehe, um die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Verehrung Gottes und der Bilder zu begründen. Nach Ez verlasse die Herrlichkeit Gottes den Tempel, weil die Stadt und das Heiligtum durch Bilder entweiht worden sind. 44 Vgl. den bereits erwähnten Beitrag von Tilly, Bild und Bildlosigkeit. 2Makk 12,40 etwa hält die bleibende Faszination bildhaft vergegenwärtigter Gottheiten fest: „Da entdeckten sie, dass alle Toten unter ihren Kleidern Amulette der Götter von Jamnia trugen, obwohl das den Juden vom Gesetz her verboten ist. Da wurde allen klar, dass die Männer deswegen gefallen waren.“ 45 Chr. Uehlinger, Art.: Bilderkult III. Bibel, RGG 4 I (1998), 1565-1570, erinnert an die Verwendung der Tora teilweise analog zu einem Kultbild und an die theologische Reflexion über den / die Namen Gottes (1570). 46 So H.-D. Neef, Art.: Bilderverbot, Calwer Bibellexikon Bd. 1 (2003), 194 f. <?page no="166"?> 166 Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes der ägyptischen Umwelt vorangetrieben worden. Es implizierte deutliche Vorbehalte gegen bildliche Darstellungen. Diese standen dem Anspruch, die überlegene und vernünftigere Religion zu sein, im Wege. Man muss allerdings fragen, ob Paulus und die ihn prägende Tradition in ihrer Wahrnehmung der Fremdreligionen nicht einem groben Missverständnis aufgesessen sind oder ob sie in ihrer Polemik dieser Verzeichnung einfach Raum gegeben bzw. sich an eine diesbezügliche Tradition (siehe SapSal) angeschlossen haben. Innerhalb der ägyptischen Religion wollen Bilder die Gottheit repräsentieren. 47 Paulus hingegen spricht von einem absichtlichen, törichten und schlechten Tausch, den die Menschen eingegangen sind, indem sie Bilder von Menschen und Tieren an die Stelle der Gottheit gesetzt haben. Jedoch beobachtet Röm 1,18-32 wohl zutreffend und Philo, Ebr 109 f. 48 beschreibt es geradezu diagnostizierend, dass Bilder eine Macht ausüben und Menschen so sehr in ihren Bann ziehen können, dass die angesprochene Differenz - Bilder repräsentieren die Gottheit und wollen sie nicht ersetzen - hinfällig werden mag. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass die religiöse Verehrung auf der Ebene des Geschöpflichen oder des Materiellen verbleibt und somit die höchsten geistigen Güter , Paulus spricht von der Ehre Gottes (Röm 1,23), von der Wahrheit Gottes (Röm 1,25) und von einer der Ordnung (φύσις) entsprechenden Ethik, verfehlt und nicht mehr an ihnen Orientierung sucht. Der Tausch (ἀλλάσσω, μεταλλάσσω) des Objekts der religiösen Verehrung, von dem Röm 1,22. 25. 26 sprechen, war von Seiten der hellenistischen Herrscher gewollt, denn er wurde ja mit einer Herrschaftsideologie verbunden und er wurde in rituellen Vollzügen geordnet. Mögen die Bilder - Vögel, Vierfüßler und kriechende Tiere - also ursprünglich Gottheiten repräsentiert haben, bei dem Bild eines sterblichen Menschen hingegen, dem Ehre erwiesen wird, ist in hellenistischer Zeit diese Repräsentanz für eine Gottheit allenfalls noch gebrochen gegeben, in späthellenistischer Zeit wird sie hinfällig. Der umgekehrte Tausch nämlich eines Menschen zur Vergöttlichung hin, den diese Herrscher nicht immer betrieben, dem sie aber nicht widerstanden haben, ist in der jüdisch-christlichen Literatur höchst kritisch reflektiert worden. Der grausame Tod göttlich verehrter Herrscher, etwa des Antiochus IV . Epiphanes oder des Herodes Agrippa I. wird in 2Makk 9,1-29 bzw. in Act 12,21-23 und Josephus, Ant 343-352 drastisch als Gottesgericht beschrieben. Insofern benennt Röm 1,23 mit ἀλλάσσω, μεταλλάσσω eine kritische Grenze für den Gebrauch der Bilder. Solche Bilder sind abzuweisen, die nicht auf die Ehre, Wahrheit und Ordnung 47 S. Morenz, Ägyptische Religion (RdW 8), Stuttgart 1960, 20 f., zur Frage der Gestalt der Götter. 48 Text in Übersetzung in Neuer Wettstein II / 1, 26 f. <?page no="167"?> Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23 167 Gottes hingeordnet sind, sondern ihrerseits andere Attribute an sich ziehen, an die dargestellten Geschöpfe binden und somit einen Tausch hinsichtlich der Verehrung einleiten. <?page no="168"?> 168 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen Ein Gespräch mit Krister Stendahl * Die unter dem ihr nicht zugetragenen, sondern von ihr selbst gewählten Motto new perspective on Paul vorgetragene Paulusauslegung 1 empfing zu Beginn der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts ihren entscheidenden Anstoß durch den schwedischen Neutestamentler Krister Stendahl 2 , der von 1954 bis 1984 an der Harvard Divinity School in den USA lehrte und 1984 Bischof der lutherischen Kirche in Stockholm wurde. 3 Ein erstmals 1960 in Schweden veröffentlichter Beitrag, der 1961 in einer englischen Fassung erschien, mehrfach wieder abgedruckt und in den folgenden Jahren in verschiedenen Vortragsreihen ausgebaut wurde, trug einen programmatischen Titel, der der new perspective on Paul bis heute eine geradezu polemische Note eingetragen hat: The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West . 4 Doch nicht diese anregende und 1 J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul, BJRL 65 (1983), 95-122; wieder abgedruckt in: ders., Jesus, Paul and the Law. Studies in Mark and Galatians, London 1990, 183-214. Außerdem ders., Romans 1-8 (World Biblical Commentary XXXVIIIA, Dallas 1988, § 5, The New Perspective on Paul: Paul and the Law, lxiii-lxxii; ders., Die neue Paulus-Perspektive, KuI 11 (1996), 34-45. Gleichzeitig mit der Abgabe meines Beitrags erscheint: M. Wolter, Eine neue paulinische Perspektive, Zeitschrift für Neues Testament 14 (7. Jg., 2004), 2-9. Ohne im Einzelnen auf seine kritische Darstellung jetzt eingehen zu können, möchte ich dennoch auf diesen Beitrag hinweisen. 2 Zur Person und zu Stendahls wissenschaftlichem Werk: B. Brooten, Art. Krister Stendahl, Dictionary of Biblical Interpretation II (1999), 505 f. 3 E. W. Stegemann und W. Stegemann sprechen im Geleitwort zu der deutschen Übersetzung von K. Stendahl, Das Vermächtnis des Paulus. Eine neue Sicht auf den Römerbrief, Zürich 2001 (englische Fassung: ders., Final Account. Paul’s Letter to the Romans, Minneapolis 1995) von diesem als dem „‚Vater‘ der so genannten New Perspective on Paul “ (8). Leider wird dieser Stellenwert in dem Werk von S. Kim, Paul and the New Perspective. Second Thoughts on the Origin of Paul’s Gospel, Grand Rapids (MI)/ Cambridge 2002, an keiner Stelle gewürdigt (vgl. meine Besprechung in: ThLZ 128 [2003], 287-290). 4 K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56 (1963), 199-215; wieder abgedruckt in: ders., Paul among Jews and Gentiles, Philadelphia 1976, 78-96 (als deutsche Übersetzung: Paulus und das introspektive Gewissen des Westens, KuI 11 [1996], 19-33). Im Vorwort dieses Buches geht Stendahl auf die näheren * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Juden und Heiden. Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen. Ein Gespräch mit Krister Stendahl, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive, WUNT 182, Tübingen 2005, 17-39, © Mohr Siebeck Tübingen. <?page no="169"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 169 vielfach diskutierte knappe Skizze soll hier der Ausgangspunkt des eigenen Beitrags sein, sondern die als Essay titulierte Studie Paul among Jews and Gentiles , die den größten aller in dem gleichnamigen Buch versammelten Beiträge darstellt. Zeitlich gehen auch diese Darlegungen zurück in die frühen 60er-Jahre. Es handelt sich um Vorlesungen an verschiedenen Universitäten aus den Jahren 1963 und 1964 (vgl. die Angaben im Klappentext). 5 Krister Stendahl hält der vorwiegend europäischen bzw. deutschen Exegese vor, dass sie seit Martin Luther, ja letztlich sogar seit Augustin über viele Jahrhunderte hindurch am Hauptthema des paulinischen Denkens vorbeigegangen sei: „It will be my contention in these chapters that the main lines of Pauline interpretation … have for many centuries been out of touch with one of the most basic of the questions and concerns that shaped Paul’s thinking in the first place: the relation between Jews and Gentiles.“ 6 Die Rechtfertigungslehre, die innerhalb der protestantischen Theologie im Anschluss an den Römerbrief ins Zentrum gerückt worden sei, sei auf ihren Beitrag zur Anthropologie und individuellen Hamartologie reduziert worden. In Wahrheit aber gilt: die Rechtfertigungslehre „was hammered out by Paul for the very specific and limited purpose of defending the rights of Gentile converts to be full and genuine heirs to the promises of God to Israel“ (2; vgl auch 27). Die Rechtfertigungslehre sei folglich dem Thema der universalen Mission, ihren Bedingungen und Möglichkeiten, unterzuordnen, nicht aber umgekehrt. Rechtfertigungsaussagen erscheinen bei Paulus, so Krister Stendahl, daher fast ausschließlich in solchen Kontexten, die vom Verhältnis Juden - Heiden handeln (26). Selbst im Römerbrief stehe die Verhältnisbestimmung von Juden und Heiden beherrschend im Vordergrund, nicht aber Rechtfertigung, Erwählung oder andere abstrakte theologische Themen (4). Es sei ein Grundfehler der Auslegung Rudolf Bultmanns gewesen, die Anthropologie (und mit ihr die Hamartologie) in das Zentrum gerückt zu haben (24 f). „My simple answer to this problem is that Paul’s doctrine of justification by faith has its theological context in his reflection on the relation between Jews and Gentiles, and not within the problem of how man is to be saved […]“ Umstände der Publikation ein (v-ix). Vgl. auch die deutsche Übersetzung: Der Jude Paulus und die Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum, München 1978. Die Bibliographie in G. W. Nickelsburg / G. W. MacRae (Hg.), Christians among Jews and Gentiles. Essays in Honor of Krister Stendahl, Philadelphia 1986, xi-xxviii, hält auch weitere Wiederabdrucke bzw. Übersetzungen der genannten Titel fest. 5 Um die Gesamtposition K. Stendahls zum angezeigten Thema sachgemäß zu erfassen, lohnt ein Blick in die von ihm verfassten Artikel „Sünde IV.“ und „Sündenvergebung II.“ in RGG 3 VI (1962), 484-489 und 511-513. Bereits der erstgenannte Artikel setzt ein mit einem Blick auf das Christentum des Westens und die Soteriologie der westlichen Theologie in ihrem Gegensatz zum neutestamentlichen Zeugnis. 6 Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), 1. <?page no="170"?> 170 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen (26). Alle anderen Aspekte, die unweigerlich mit diesem Neueinsatz zusammenhängen und etwa die Person des Apostels und sein sog. Sündenbewusstsein ansprechen oder die veränderte Sicht des Judentums thematisieren, werden allenfalls am Rand mitbedacht. Eine Aufarbeitung der Verhältnisbestimmung von Juden und Heiden in den paulinischen Briefen 7 und in der paulinischen Theologie 8 , und dies wiederum im Gespräch mit Krister Stendahl, wird in einem kurzen Aufsatz nicht mehr als einige wenige Aspekte thematisieren können. Im Sinne des übergeordneten Gesamtthemas einer Auseinandersetzung mit der new perspective ist es angezeigt, ausschließlich die von Krister Stendahl formulierte These im Blick zu behalten und zu überprüfen: „I would guess that the doctrine of justification originates in Paul’s theological mind from grappling with the problem of how to defend the place of the Gentiles in the Kingdom - the task with which he was charged in his call“ (27). Weiterführende Überlegungen, etwa im Blick auf die Verhältnisbestimmung von Juden und Heiden im zeitgenössischen Judentum 9 , in der Verkündigung Jesu 10 oder im weiteren frühen Christentum, müssen zurückgestellt werden. 1. Der Widerspruch Ernst Käsemanns Eine nicht nur für die deutsche Exegese wirkungsgeschichtlich bedeutsame Replik auf diese Thesen Krister Stendahls, vor allem auf die Schrift The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West , legte Ernst Käsemann in dem Aufsatz Rechtfertigung und Heilsgeschichte im Römerbrief vor. 11 Es ist dies 7 Vgl. als ‚Klassiker‘: D. Zeller, Juden und Heiden in der Mission des Paulus. Studien zum Römerbrief (fzb 1), Stuttgart 1973. Die neuere Studie von M. D. Nanos, The Mystery of Romans. The Jewish Context of Paul’s Letter, Minneapolis 1996, die sich im Kontext der new perspective verortet (3-20), stellt im Anschluss an Röm 1,16 ein heilsgeschichtliches Zwei-Stufen-Schema dar (239-288), demzufolge ein innerhalb des Judentums stehender Paulus im Römerbrief Israel Priorität vor den Heiden einräumt. 8 F. Watson, Paul, Judaism and the Gentiles. A Sociological Approach (Society for New Testament Studies, Monograph Series 56), Cambridge 1986. Watson stellt in einem einleitenden Teil (2-18) „The Lutheran Approach“ und „Opposition to the Lutheran Approach“ dar. 9 Vielseitige Aspekte vermittelt der von R. Feldmeier und U. Heckel herausgegebene Band: Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden, mit einer Einleitung von M. Hengel (WUNT 70), Tübingen 1994, vor allem 3-208. 10 F. Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker (BZNW 109), Berlin / New York 2001. 11 Auf die Diskussion zwischen E. Käsemann und K. Stendahl gehen ein: P. F. M. Zahl, Die Rechtfertigungslehre Ernst Käsemanns (CThM. B,13), Stuttgart 1996, 188-191; E. Osborn, Art. Käsemann, Ernst, Dictionary of Biblical Interpretation II (1999), 14-16. <?page no="171"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 171 einer von insgesamt sieben Beiträgen, die in dem Buch Paulinische Perspektiven zusammengefasst wurden. 12 Den Grundstock dieser Studien geben überarbeitete Vorträge her, die Ernst Käsemann erstmals in den Jahren 1965 / 66 in den USA gehalten hatte. Es handelt sich hierbei also um eine der ersten westlichen, genauer deutschen Stellungnahmen zu Krister Stendahl, die wiederum aus dem Lager kam - der Bultmann-Schule -, das ein Hauptangriffsziel für Krister Stendahl darstellte. Es ist zu vermuten, dass diese theologisch hoch aufgeladene Entgegnung, die nicht weniger als die Frage des Bekenntnisstandes 13 ausrief, auch für die nur schleppende Aufnahme und Auseinandersetzung mit Krister Stendahl und der sog. new perspective in Deutschland verantwortlich war. 14 Ernst Käsemann setzt mit einer Grundsätzlichen Besinnung (109-116) ein, bevor er sich der Interpretation des Römerbriefs durch Krister Stendahl zuwendet. Drei grundsätzliche Bemerkungen hält er dem Wortführer einer Richtung, welche sich in der neutestamentlichen Theologie immer stärker durchzusetzen beginnt (110), entgegen: 12 E. Käsemann, Rechtfertigung und Heilsgeschichte im Römerbrief, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 108-139. 13 Käsemann, Rechtfertigung, 115, spricht von einer „Alternative von Rechtfertigung und Heilsgeschichte, die von schicksalhafter Bedeutung für die ganze Christenheit werden mag.“ 14 Eine gewisse Ausnahme stellt der Beitrag von H. Hübner, Pauli theologiae proprium, NTS 26 (1980), 445-473, hier vor allem 445-448, dar; wieder abgedruckt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze, hg. von A. Labahn / M. Labahn, Göttingen 1995, 40-68. Ein aktuelles Referat der Position Krister Stendahls bieten: St. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul. The „Lutheran“ Paul and His Critics, Grand Rapids (MI)/ Cambridge 2004, 146-149; Ch. Strecker, Paulus aus einer neuen ‚Perspektive‘. Der Paradigmenwechsel in der jüngeren Paulusforschung, KuI 11 (1996), 3-18. Man kann freilich nicht umhin, kritisch gegenüber K. Stendahl anzumerken, dass er sich nicht wirklich bemüht hat, seine Perspektiven auf breiter wissenschaftlicher Plattform zu vertiefen. Das Vorwort in Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 11-15, ist in dieser Hinsicht erfreulich selbstkritisch und ehrlich und spricht im Blick auf das eigene Werk von ‚Redundanzen‘ (14). - Dunn, Romans I (s. Anm. 1), lxv, gibt als Antwort auf die Frage, weshalb Stendahls Anfragen in Deutschland nicht gehört wurden: „The point is that Protestant exegesis has for too long allowed a typically Lutheran emphasis on justification by faith to impose a hermeneutical grid on the text of Romans.“ Die unterschiedlichen konfessionellen Ausgangspunkte in den USA und in Europa betont gleichfalls im Rückblick E. P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 171 f. V. Stolle, Luther und Paulus. Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 10, Leipzig 2002, 44 Anm. 170, vermutet, dass ein Gespräch mit Krister Stendahl nie in Gang kam, weil die Debatte über das christlich-jüdische Verhältnis eine schwere Hypothek dargestellt habe. Eine weiter ausholende wissenschaftsgeschichtliche Einordnung bietet W. Stegemann, Amerika, du hast es besser! Exegetische Innovationen der neutestamentlichen Wissenschaft in den USA, in: R. Anselm u. a. (Hg.), Die Kunst des Auslegens, Frankfurt / New York 1999, 91-114. <?page no="172"?> 172 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen a. Gegenwärtig orientiere sich die Theologie, welche die Schrifttheologie verdrängt habe, an den Bedürfnissen der Gemeinde oder an kirchlichen Traditionen. Die Auslegung der Schrift sei folglich durch Erbaulichkeit oder das jeweils herrschende Selbstverständnis normiert. b. Nicht mehr die Schrift habe den Primat vor der Kirche, sondern die Kirche vor der Schrift. Eine heilsgeschichtliche Betrachtungsweise, die erlaubt, im Schema der Entwicklung zu denken, stärke die kirchliche Autorität. Am radikalsten wage sich Krister Stendahl hervor, bei dem die Heilsgeschichte eine Antithese zur Rechtfertigungslehre darstelle. c. Ernst Käsemann nimmt in einem abschließenden persönlichen Wort für sich in Anspruch, „tiefgreifend gegen eine heilsgeschichtliche Konzeption immunisiert (zu sein), welche mit dem Dritten Reich und seiner Ideologie säkularisiert und politisch über uns hereinbrach“ (114). Die gegenwärtig durch Krister Stendahl initiierte Alternative von Rechtfertigung und Heilsgeschichte könne „von schicksalhafter Bedeutung für die ganze Christenheit werden“ (115). Ein zweiter Abschnitt Zum Stichwort ‚Heilsgeschichte‘ im Römerbrief blickt nur noch gelegentlich auf Krister Stendahl. Ernst Käsemann geht mit der Exegetenzunft allgemein scharf ins Gericht, mit „der Befangenheit aller Exegese in systematischen Vorurteilen“ (116), mit dem sich durchhaltenden Merkmal der deutschen Paulusinterpretation, „daß sie aus einem Extrem ins andere fiel und häufig genug Alternativen postulierte, welche die Sachdialektik des Apostels zerschlugen“ (117). Darum gilt im Sinne Ernst Käsemanns: „So klaffen bei ihm (Paulus) die Dimensionen des Historischen und Eschatologischen nicht derart auseinander, daß sie grundsätzlich und von vornherein geschieden werden könnten“ (121). Ernst Käsemann wirft Krister Stendahl vor, dass er „die paulinischen Aussagen über die Heilsgeschichte nicht einmal ansatzweise analysiert“ (119) und fordert grundsätzlich, dass „der Glaube von einer religiösen Weltanschauung und christlichen Geschichtsspekulation geschieden bleiben“ muss (123). Der letzte Abschnitt bietet Bemerkungen zur Rechtfertigungslehre des Paulus . In scharfer Polemik nimmt Ernst Käsemann für sich wie auch - ironischerweise für die doch als kritisch geltende Bultmann-Schule - in Anspruch, das reformatorische Erbe verteidigen zu müssen „gegenüber einer Geschichtstheologie, welche das revolutionäre Feuer ihrer Vergangenheit verloren hat und konservativ gepflegte Gärten auf der erstarrten Lava anlegt“ (125). Ernst Käsemann stimmt den entfernten, von Krister Stendahl freilich nicht in Anspuch genommenen geistigen Vätern, nämlich Ferdinand Christian Baur, William Wrede und Albert Schweitzer zu, indem er sagt, „die Rechtfertigungsbotschaft des Apostels (sei) eine antijudaistische Kampfeslehre“ (125). Dies allerdings wird von Ernst <?page no="173"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 173 Käsemann sogleich aus dem vergangenen historischen Kontext enthoben. Der jüdische Nomismus „vertritt jene Gemeinschaft frommer Menschen, welche Gottes Verheißungen zu ihrem Privileg und Gottes Gebote zum Mittel ihrer Selbstheiligung machen“ (128). Oder positiv: „Die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus mit der dazugehörigen Gesetzeslehre ist letztlich seine Interpretation der Christologie. Sie verkündigt auf ihre Weise das ‚wahrer Gott und wahrer Mensch‘“ (130). Im Rückblick auf Ernst Käsemanns Auseinandersetzung mit Krister Stendahl ist zu bemerken, dass ausschließlich die beiden einleitenden Seiten (108 f) auf Krister Stendahl wirklich eingehen, dass der weitere Vortrag Krister Stendahl nur noch zweimal eher beiläufig erwähnt. Eine wirkliche Auseinandersetzung, ein exegetischer Disput hat nicht stattgefunden. Die eigentlichen Gesprächspartner, wenn auch nicht in einem dialogischen Sinn, sind Oscar Cullmann, Ulrich Wilckens, Rudolf Bultmann und - vor allem - im petit gedruckten Zusatz (136-139) Hans Conzelmann. Der Begriff der Heilsgeschichte, der den Kontrahenten Oscar Cullmann und Ulrich Wilckens, aber eben auch Krister Stendahl zugewiesen wird, was erstere gewiss, Krister Stendahl mit gewichtigen Einschränkungen 15 auch akzeptiert hätten, wird freilich an keiner Stelle einer Klärung zugeführt. Er bleibt ein Menetekel, vor dem Ernst Käsemann mit schärfstem Einsatz unter Verweis auf die politischen Folgen heilsgeschichtlichen Denkens im Dritten Reich warnt und zu einer Entscheidung von schicksalhafter Bedeutung für die ganze Christenheit aufruft (114 f). 16 Ernst Käsemanns Attacke wird im Zeichen der Rechtfertigungsbotschaft vorgetragen, die allerdings völlig ihrer historischen Situation enthoben ist und als Mittel vollkommener Desillusionierung aufgenommen wird: „Die paulinische Rechtfertigungslehre ist ganz und gar Christologie, freilich eine von Jesu Kreuz her gewonnene und darum anstößige Christologie. In ihr geht es um das ‚ecce homo‘ derart, daß wir, mit dem Nazarener konfrontiert, erfahren, wie wenig unsere Illusionen über uns selbst und die Welt seiner Wirklichkeit standhalten“ (130). Ernst Käsemanns Stellung ist in ihrer Paulusdarstellung einem Bild des Judentums verpflichtet, das nicht zuletzt ebenfalls von der sog. new perspective problematisiert werden sollte, insofern Ernst Käsemann im jüdischen Gesetzesgehorsam exemplarisch und zeitlos den sich selbst rechtfertigenden Menschen erkennt (127 f). Krister Stendahl ist in vornehmer und zurückhaltender Weise auf Ernst Käsemann eingegangen, dessen Kommentierung des Römerbriefs für lange Zeit ein „milestone in the study of Romans“ sein werde (129). Zunächst hat er in Paul 15 Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), 131. 16 Ebd., 131: „His article thus proceeds to deal with all these evils in the church and the world that can and have come from ‚theology of history‘, including naive cultural optimism and abhorrent Nazism“. <?page no="174"?> 174 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen among Jews and Gentiles einen Abschnitt unter dem Titel Sources and Critiques eingefügt (125-133), der auch auf Ernst Käsemanns Aufsatz eingeht (129-133). Sodann kommen die Anmerkungen 10 und 11 des Kommentars Final Account auf Ernst Käsemanns Angriff zu sprechen - es handelt sich um die letzten beiden Anmerkungen des Werks überhaupt und sie wiederum finden sich auf der letzten Seite des Buches. 17 Krister Stendahl attestiert Ernst Käsemann in Paul among Jews and Gentiles eine „passionate conviction about the rightness and urgent actuality of a Protestant view of Paul“ (129). Gegenüber Ernst Käsemann hält Krister Stendahl vehement an der Sicht fest, dass die paulinische Rechtfertigungslehre nicht im Kampf gegen die judaistische Gesetzeslehre geboren wurde, sondern ein apologetisches Instrument ist, mit dem Paulus die Mitgliedschaft der Heidenchristen im Gottesvolk verteidigt (130). Die Rechtfertigungslehre ist „not primarily polemic, but apologetic“ (130). Krister Stendahl betont erneut, dass die Rechtfertigungsaussagen nur in wenigen paulinischen Briefen vorhanden, dass sie nicht direkt gegen das Judentum gewendet sind und dass sie keinesfalls den Schlüssel zur paulinischen Theologie darstellen. Da Ernst Käsemann in seiner Entgegnung nicht über exegetische Fragen diskutiere, sondern Krister Stendahl mitsamt der Heilsgeschichte und dem Holocaust diffamiere (131), falle ein Gespräch schwer. Im Rückblick auf die angesprochenen Schriften beider Forscher muss man zu dem Urteil kommen, dass unterschiedliche Ansätze der Paulusdeutung vorliegen, die gegenseitig nicht vermittelbar waren und einseitig von Ernst Käsemann wohl auch nicht wirklich bedacht werden wollten. In Final Account fügt Krister Stendahl keine neuen oder nicht bereits zuvor diskutierten Aspekte hinzu. Ernst Käsemann ist für ihn „ein theologischer Maximalist, für den die paulinischen Schlüsselworte bereits die ganze Tiefe späterer Tradition enthalten“ (Vermächtnis 98 Anm. 3). Dies findet exemplarisch Ausdruck in der Auslegung von Röm 4,5. In der hier angesprochenen Rechtfertigung des Gottlosen erkennt Ernst Käsemann bereits das Wesen des Glaubens als Rechtfertigung des Gottlosen, während Krister Stendahl an nicht mehr als an dem Nachweis liegt, dass Abraham nicht für die Sünder allgemein, sondern in diesem Fall für die nichtjüdischen Konvertiten steht. 2. Die Rechtfertigungslehre als Apologie der Heidenmission Im Blick auf Paulus gehe ich mit Krister Stendahl davon aus, dass er sich wohl seit seiner Berufung (Gal 1,16; 2,7), deutlich aber erst seit dem Apostelkonvent als Missionar der Heiden verstand (Röm 11,13; 15,16.18) und dass er dieser 17 Stendahl, Account (s. Anm. 3), 76; in der deutschen Übersetzung (Vermächtnis) 97 f. Anm. 2 und 3. <?page no="175"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 175 Berufungsbeauftragung bis zuletzt mit zunehmend deutlicherem Nachdruck nachzukommen suchte (Röm 15,23 f). 18 Die darauf bezogene Missionspraxis wird in der Regel nicht ohne die Existenz jüdischer Synagogen oder zumindest jüdischer Gemeinschaften in der Diaspora zu denken sein, die zunächst Aufnahme und Arbeit vermittelten, aber auch Predigtstätte waren. Röm 15,14-33 gibt allerdings für Rom eine Kontaktaufnahme wieder, die ohne diesen Brückenkopf auszukommen scheint. Religionssoziologisch gehören auch die sog. Gottesfürchtigen zur Gruppe der Heiden, auch wenn sie sich in einer Nähe zur Synagoge bewegten und mit Inhalten des jüdischen Glaubens sympathisierten. Doch nicht nur sie 19 , sondern vor allem abseits des Judentums stehende Menschen, die ἔθνη, stellen nach paulinischem Zeugnis und Selbstanspruch die eigentliche Zielgruppe der Mission dar. Krister Stendahls Hauptthese in allen bisher genannten Veröffentlichungen lautet, dass die paulinische Rechtfertigungslehre eine apologetische Funktion habe und im Kontext des Nachdenkens über die Relation von Juden und Heiden ihren Ort im Denken des Apostels habe. Sie eröffne den Heiden, gleichberechtigte Glieder des Gottesvolks neben den Juden zu sein, da sie den Zugang zum Gottesvolk einzig an den Glauben an Jesus Christus binde und gleichzeitig die Heiden von jeglichem Anspruch des Gesetzes befreie. „This is Paul’s secret revelation and knowledge“. 20 Mit dieser Hauptthese, die vielfach und mit immer neuen Anläufen vorgetragen wird, ergeben sich notwendig etliche Neuorientierungen. Die Rechtfertigungslehre argumentiert folglich nicht polemisch gegenüber Juden und Judenchristen, sondern apologetisch für Heiden. Ihr Gegenstand ist nicht der unter der Anklage des Gesetzes und der Macht der Sünde versklavte Einzelne, sondern die Gemeinschaft aus Juden und Heiden. Folglich wird der Stellenwert von Röm 3 und Röm 7 im Ganzen des Römerbriefs und der paulinischen Theologie begrenzt. „The central chapters of Romans are neither the third nor the seventh, the latter being the one we read most anthro- 18 Streng genommen wird man sagen müssen, dass Paulus im Rückblick in Gal und Röm seinen Missionsauftrag eindeutig mit der Sendung zu den Heiden verbindet. Die Ereignisse im Umfeld des Apostelkonvents lassen diesen Berufungsauftrag freilich erstmals deutlicher hervortreten, sowohl in der Mitnahme des unbeschnittenen Titus zum Konvent (Gal 2,3) als auch in der auf dem Konvent beschlossenen Aufteilung der Missionsgebiete (Gal 2,9), sodann in der Konsequenz der von nun an von Barnabas unabhängigen Mission in Makedonien und in der Achaia. Die Mission gemeinsam mit Barnabas vor dem Konvent stellt sich nach Apg 13-14 nicht als exklusive Heidenmission dar. Ob Paulus vor der antiochenischen Zeit bereits als Heidenmissionar tätig war, ist nicht deutlich zu erkennen. 19 M. Reiser, Hat Paulus Heiden bekehrt? , BZ 39 (1995), 78-91, möchte die faktischen Adressaten der paulinischen Mission ausschließlich in den Gottesfürchtigen erkennen: „Nicht nur das Judenchristentum, auch das Heidenchristentum kommt aus der Synagoge“ (91). 20 Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), 9. <?page no="176"?> 176 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen pologically“. 21 „The real center of gravity in Romans is found in chapters 9-11, in the section about the relation between Jews and Gentiles“. 22 Welche Argumente können diese These stützen? Die wohl wesentlichste Beobachtung bezog sich auf den auffälligen Sachverhalt, dass „wherever such passages concerning justification by faith occur in Paul’s letters they most probably are to be found in the same verse as or at least adjactent to a specific reference to Jews and Gentiles.“ 23 Krister Stendahl hat im Einzelnen nie einen wirklichen Nachweis dieser These geführt, sehen wir einmal von groben Kapitelverweisen ab. Direkte Zuordnungen der Komplexe Juden / Heiden und Rechtfertigung aus Glauben ohne Werke des Gesetzes 24 finden sich ausschließlich in Gal 2,15-21; 3,6-18; 5,2-6 und Röm 1,16 f; 3,21-31; 4,1-25; 9-11. Es ist gewiss auffällig, dass die Thematik der Rechtfertigung aus Glauben ohne Werke des Gesetzes außerhalb der Briefe an die Galater und Römer nicht wirklich begegnet, wohl aber wenige Gerechtigkeitsbzw. Rechtfertigungsaussagen (vor allem 1 Kor 1,30; 2 Kor 5,21; Phil 3,6.9), wenn eben auch ohne die Antithese zur Tora. Dieser Befund ist in der Vergangenheit gelegentlich dahingehend erklärt worden, die Rechtfertigungslehre habe eine antijudaistische Zuspitzung oder sei im Kampf mit dem Judaismus ausgebildet worden. Krister Stendahl lehnt diese Folgerung ab, da für ihn nicht die grundsätzliche Ablehnung der Tora (in ihrem Verbund mit Sünde und Tod) das Wesentliche ist, sondern eben die Zurückstellung der Forderung der Tora, um das Trennende zwischen Juden und Heiden zu beseitigen und den Heiden damit einen Zugang zum Gottesvolk aus Juden und Heiden zu eröffnen. 25 Krister Stendahls Schlussfolgerung verkürzt den exegetischen Befund allerdings erheblich und verzichtet ebenfalls auf eine historische Tiefenschärfe. Es ist zunächst darauf zu verweisen, dass diejenige Mission, welche die Grenzen Israels im Land und in der Diaspora überschritt und sich den Heiden zuwandte, bereits Jahre, wenn nicht gar mehr als ein Jahrzehnt vor der Abfassung des Gal und des Röm eingesetzt hatte und erfolgreich gewesen war. Sowohl die 21 Ebd., 27. 22 Ebd., 28. 23 Ebd., 26. 24 Ich übergehe hier noch die Problematik der angemessenen Übersetzung und Interpretation des Ausdrucks ἔργα νόμου. Stendahl übersetzt in Account (57) mit ‚works of law‘, paraphrasiert allerdings in der Auslegung von Röm 3,28 den Ausdruck bereits im Sinn der partitiven Funktion des Gesetzes (24): „By the law of circumcision or food laws, the laws that set people apart.“ 25 Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), 130: „Paul’s arguments concerning justification by faith have not grown out of his ‚struggle with the Judaistic interpretation of the law‘, and are not ‚a fighting doctrine, directed against Judaism‘.“ <?page no="177"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 177 ‚Hellenisten‘ 26 als auch die antiochenische Gemeinde hatten sich sowohl an Juden als auch an Heiden gewandt und sie hatten dem Bewusstsein, ein Gottesvolk aus Juden und Heiden darzustellen, auch einen theoretischen Ausdruck in Glaubensformeln gegeben (Gal 3,26-28; 5,6; 6,15). Gegenstand der Gespräche auf dem Apostelkonvent ist die zurückliegende Verkündigung unter den Heiden durch die antiochenische Gemeinde (Gal 2,2) und deren Verzicht auf die Forderung der Beschneidung der Heiden (Apg 15,2). Die Heidenmission hat folglich ihre eigene, von Paulus unabhängige Vorgeschichte, auch wenn er im Rückblick auf seine Berufung für sich in gewisser Exklusivität den Titel des Heidenapostels beansprucht (Gal 1,16; 2,7). Die theoretische Begründung der Heidenmission scheint bei ihren Trägern vor der Zeit des Apostelkonvents jedoch nicht mit Bezug auf rechtfertigungstheologische Konzeptionen gegeben worden zu sein. Jedenfalls geben die Texte in dieser Hinsicht nichts her. Auch die Zurückstellung der Forderungen der Tora für die Konvertiten aus den Heiden reicht weiter zurück als in die Anfänge der paulinischen Mission. Zwar ist es im Einzelnen umstritten und nach meiner Sicht eher unwahrscheinlich, ob bzw. dass bereits der Stephanuskreis und die Hellenisten ihre Gesetzes- und Kultkritik mit der These einer vollständigen Gesetzesfreiheit der Heidenchristen verbanden. Der Verzicht auf die Beschneidung 27 und die Freiheit, die Speisegesetzgebung in den eigenen gemischten Gemeinden und in der Heidenmission zu missachten 28 , stehen jedoch auf jeden Fall für die Grundsätze der antiochenischen Mission und geben den Gesprächsgegenstand auf dem Apostelkonvent her. 26 Grundsätzlich zur Sache: W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die ‚Hellenisten‘, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999, hier vor allem 65-81, wo Kraus die Heidenmission der Hellenisten und ihre Begründung auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund behandelt. Gestützt wird seine Sicht in mancherlei Hinsicht durch die Untersuchung von F. Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte. Theologie und Geschichte (WUNT 139), Tübingen 2002. In diesem Buch wird u. a. auch der Nachweis erbracht, dass die Kornelius-Erzählung „als Präzedenzfall der Völkermission eine klare ätiologische Funktion (hat). Ihr historischer Sitz im Leben ist in der Zeit vor dem Apostelkonzil anzunehmen“ (442). 27 Vgl. dazu F. W. Horn, Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum, NTS 42 (1996), 479-505; wieder abgedruckt in diesem Band. 28 Ch. Heil, Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus. Zur Frage nach der Stellung des Apostels zum Gesetz (BBB 96), Weinheim 1994. H. Löhr, Speisenfrage und Tora im Judentum des Zweiten Tempels und im entstehenden Christentum, ZNW 94 (2003), 17-37, 26 Anm. 42: „Wie immer man sich die Speisenpraxis in Antiochien vor dem Konflikt vorstellt, so verbietet es m. E. die Formulierung ἐθνικῶς ζῆν, mit der in V.14 die Partizipation des Petrus an den heidenchristlichen Mahlzeiten bezeichnet wird, die heidenchristliche Praxis in teilweiser Konformität zur Tora zu sehen“. <?page no="178"?> 178 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen Im Blick auf die paulinische Briefliteratur wird man nicht ohne philologische und semantische Differenzierung auskommen können. Paulus verwendet δικαοσύνη, δικαίωμα, δικαίωσις, δίκαιος, δικαίως und das Verb δικαιόω und kann hierbei nochmals das Substantiv δικαοσύνη in dem Syntagma δικαοσύνη θεοῦ in einem prägnanten Sinn gebrauchen. Es empfiehlt sich durchaus, nicht alle Belege sogleich in einem übergreifenden Konzept einer Rechtfertigungslehre interpretieren zu wollen. In der Literatur hat man abstufende Kategorien eingeführt und unterscheidet einerseits zwischen einer Verwendung der Begrifflichkeit im Sinne von Gerechtigkeit oder von Rechtfertigung, andererseits aber zwischen Rechtfertigungs aussagen , Rechtfertigungs theologie und Rechtfertigungs lehre . 29 Zur Rechtfertigungs lehre des Paulus in ihrer abschließenden Gestalt (etwa ausgehend von Gal 2,16; Röm 3,28; 4,5) gehört neben einer auf Gott zurückgeführten Rechtfertigungshandlung (aufgenommen mit δικαιοσύνη, δικαιόω, δίκαιος) einerseits die Betonung der πίστις als Grund der Rechtfertigung und zugleich als unterschiedslose Möglichkeit für Juden und Heiden und andererseits die Entgegensetzung zu den ἔργα νόμου. Dies ist, wie Udo Schnelle zeigt, „ein geschlossener Gedankenkomplex“. 30 Zu diesem Komplex zählen freilich auch solche Zuordnungen, die einseitig die Beziehung zum Glauben (Röm 1,17; 3,22; 4,5. 9. 13; 9,30; 10,4.10) bzw. die Antithese zur Tora betonen (Röm 3,21; 4,6; 9,31; 10,4). Gleichwohl ist die Rechtfertigungs theologie des Paulus insgesamt breiter und zugleich auch offen für Verbindungen mit weiteren theologischen Themen, und sie begegnet in diesen überwiegend ohne diejenigen Elemente, die oben für die Gestalt der Rechtfertigungs lehre in Gal 2,16; Röm 3,28; 4,5 als konstitutiv angesehen wurden. Hier ist zu nennen die Verbindung von Gerechtigkeitsbzw. Rechtfertigungsaussagen zu: a. Taufe (s. u.), b. Sühnetod Jesu (Röm 3,24 f; 2 Kor 5,21), c. Schriftzitaten und -anspielungen (Röm 1,17; 3,11.20; 4,2 f; 2 Kor 9,9; Gal 3,6) bzw. Mose (Röm 10,5), d. endzeitliche Offenbarung (Röm 1,17), e. Ethik (Röm 6,13; 2 Kor 9,10), f. Tora (Phil 3,6.9), g. Apostolat (2 Kor 3,9; 6,7) bzw. Pseudapostolat (2 Kor 11,15), h. endzeitliches Hoffnungsgut (Gal 5,5), i. Verheißung (Röm 4,13), 29 Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen bei U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken (GLB), Berlin / New York 2003, 528 Anm. 223. 30 Schnelle, Paulus, 528 Anm. 223. <?page no="179"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 179 j. Gnade (Röm 5,21), k. Heiligem Geist (Röm 8,10; 14,17). Hilfreich ist ein Zugang zur Rechtfertigungs lehre , der die geschichtliche Entwicklung berücksichtigt. 31 Gerechtigkeitsaussagen begegnen innerhalb der paulinischen Literatur zunächst in Tauftraditionen. Ohne jetzt hier die Nachweise im Einzelnen nochmals führen zu wollen, können nach breiter Übereinstimmung 1 Kor 1,30; 6,11; 2 Kor 1,21 f; Röm 6,3 f, eventuell auch Röm 3,25.26a und 4,25 als Tauftraditionen betrachtet werden, die in die frühpaulinische Verkündigung, wahrscheinlich folglich in seine antiochenische Zeit zurückreichen. 32 Die Taufe vermittelt, so 1 Kor 1,30, nicht nur Heiligung und Erlösung, sondern auch in einem effektiven Sinn Gerechtigkeit, so dass die Glaubenden dem Parusie- Christus im Stand der Heiligkeit begegnen können (1 Thess 5,23). Die Stunde der Rechtfertigungs lehre habe, so Michael Theobald, erst „da geschlagen, wo aufgrund kontroverser Optionen ausdrücklich über die Zulassungsbedingungen z. Taufe nachgedacht u. eine theologisch begründete Antwort gesucht werden mußte.“ 33 Auf die in der antiochenischen Gemeinde getroffene Grundentscheidung rekurriert Paulus in Gal 2,16a 34 , wenn er im antiochenischen Streit und bereits wohl auch zuvor auf dem Apostelkonvent an das gemeinsame Wissen, an die Grundüberzeugung erinnert: εἰδότες δὲ ὅτι οὐ δικαιοῦται ἄνθρωπος ἐξ ἔργων νόμου ἐὰν μὴ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ. Was 31 So mit Recht M. Theobald, Art. Rechtfertigung IV., LThK 3 VIII, 885-889; ebenso Schnelle, Paulus (s. Anm. 29), 529 (‚ein diachrones Modell‘). 32 Einzelne Nachweise finden sich bei U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie (GTA 24), Göttingen 2 1986. Zustimmend äußert sich u. a. U. Luz, Art. Gerechtigkeit, EKL 3 II (1989), 91: „Die pln. Rechtfertigungslehre ist also keine Neuschöpfung, sondern sie wurzelt in der Taufinterpretation der Gemeinde.“ 33 Theobald, Rechtfertigung (s. Anm. 31), 886. Ganz ähnlich ders., Rechtfertigung und Ekklesiologie nach Paulus, in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 226-240, vor allem 235 f; zustimmend natürlich auch J. D. G. Dunn, In Search of Common Ground, in: ders. (Hg.), Paul and the Mosaic Law (WUNT 89), Tübingen 1996, 309-334, vor allem 326: „The question of justification arises as an issue in Paul’s letters within the context of his mission to the Gentiles.“ Demgegenüber insistiert K.-W. Niebuhr, Die paulinische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, in: Th. Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? (QD 180), Freiburg / Basel / Wien 1999, 106-130, erneut auf der These, die Rechtfertigungslehre ursprünglich bereits mit der Damaskuserfahrung zu verbinden. Niebuhr greift hierbei allerdings nicht auf die psychologisierende Variante zurück, die Damaskuserfahrung als eine Befreiung des gebundenen Gewissens zu interpretieren. Stendahl hat in Paul among Jews , hier im Abschnitt Call rather than Conversion (7-23), eine solche Sicht radikal abgelehnt. 34 Zur Exegese dieses Basissatzes: M. Theobald, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28). Eigentum des Paulus oder Gemeingut der Kirche? , in: ders., Studien (s. Anm. 33), 164-225. <?page no="180"?> 180 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen aber bedeutet in dieser Situation οὐ … ἐξ ἔργων νόμου? Von der Gesprächslage der beginnenden Heidenmission her liegt mit Theobald folgende Schlussfolgerung nahe: „Also negiert der ekklesiolog. Basissatz Toragehorsam nicht als solchen (andernfalls wäre kirchl. Gemeinschaft mit Judenchristen nicht mehr möglich gewesen), sondern exakt für den Fall, daß diese ihm soteriolog. Relevanz u. Verbindlichkeit auch für die Heiden beigemessen haben.“ 35 Nun wird man hier jedes Wort auf die Goldwaage legen können und müssen. Die soteriologische Relevanz wird durchgehend greifbar im Widerspruch paulinischer Gegner zur Praxis der beschneidungsfreien Heidenmission (auf dem Apostelkonvent: Apg 15,1; Gal 2,3b, in Galatien: Gal 6,12 f; in Philippi: Phil 3,2 f). 36 Die Position der Jerusalemer Emissäre in Antiochien und auf dem Konvent - ἐὰν μὴ περιτμηθῆτε τῷ ἔθει τῷ Μωϋσέως, οὐ δύνασθε σωθῆναι (Apg 15,1b) - ist wohl nie durch einen Beschluss des Apostelkonvents ad acta gelegt worden. Auch wenn Paulus dies wohl für seine Person mit Gal 2,6b andeuten möchte, zeigen die Ereignisse in Galatien und Philippi das Gegenteil an. Demzufolge ist der Übertritt der Heiden in die Heilsgemeinde der Christen nur im Rahmen eines Judenchristentums zu denken, das die Gemeinschaft mit Israel aufrecht hält. Die Antithese zu den ἔργα νόμου weitet diese soeben angesprochene Frage der Beschneidung nochmals aus im Blick auf die Tora insgesamt und auf ihre Forderungen gegenüber Heidenchristen. Noch der frühesten Zitation der Antithese in Gal 2,16a ist die polemische Ausrichtung zu entnehmen. Die genaue Bestimmung dessen, was unter ἔργα νόμου zu verstehen sei, hat der sog. new perspective ein Thema gegeben, an dem alle Fragestellungen, die sie hervorgebracht hat, auf seltsame Weise konvergieren. 37 Michael Bachmann setzt sich 35 Theobald, Rechtfertigung (s. Anm. 31), 886. 36 Gegen R. M. Thorsteinsson, Paul’s Interlocutor in Romans 2. Function and Identity in the Context of Ancient Epistolography (CB.NT 40), Stockholm 2003, sehe ich nicht, dass auch die römische Gemeinde vor der Entscheidung zur Übernahme der Beschneidung steht. Gegenüber einem exklusiven Verständnis von Zugehörigkeit zur Heilsgemeinde, welches sich auf den äußeren Akt der Beschneidung bezieht, nivelliert Paulus hier in Röm 2,25-29 wie auch bereits zuvor in 1 Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15 den äußeren Akt als identity marker für die Heilsgemeinde absolut. 37 Die Sekundärliteratur bis 1993 hat M. Bachmann, Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus, in: ders., Antijudaismus im Galaterbrief ? Exegetische Studien zu einem polemischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus (NTOA 40), Freiburg, CH / Göttingen 1999, 1-31, hier 4 Anm. 11, zusammengestellt. Knappe erste Informationen zur Diskussion über ἔργα νόμου bieten Schnelle, Paulus (s. Anm. 29), 304 f; E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 15 2003, 126 f. <?page no="181"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 181 vornehmlich mit der Position J. D. G. Dunns auseinander. 38 Die Hauptdifferenz sei in einem längeren Zitat wiedergegeben: „[…] hat vor allem J. D. G. Dunn dafür plädiert, hier nicht mit der abendländischen und besonders der reformatorischen Tradition an ‚jüdische Werkgerechtigkeit‘ und an ‚gute Werke‘ […] zu denken, sondern primär an solche Identitäts- und Grenzmarkierungen des Judentums wie Beschneidung […] und Essensregeln […]. Während dieser Gelehrte dabei sowohl die betreffenden Vorschriften als auch deren Befolgung im Blick hatte, wurde die These von anderen Autoren, so von J. A. Fitzmyer (1993) und mir (1992) […] präzisiert, nämlich eben auf solche Regelungen bezogen, und das nicht zuletzt deshalb, weil die […] Parallele in 4 QMMT C 27 ‚precepts of the torah‘ meinen dürfte.“ 39 Die Diskussion über diese Fragen ist hier nicht zu führen. Es ist auf jeden Fall deutlich, dass Krister Stendahl von der Sache her vorweggenommen hat, was James Dunn in der Analyse des Syntagmas ἔργα νόμου am Text zu untermauern suchte: Paulus spricht mit den ἔργα νόμου jüdische identity markers wie Beschneidung, Speisegebote und Festkalender an, insofern sie die Grenze zur heidnischen Welt und die Vorrechte Israels gegenüber den Heiden markieren. Im Blick auf Krister Stendahls Darlegungen insgesamt scheint mir sein Standort also mit derjenigen Gesprächslage übereinzukommen und zugleich dabei stehen zu bleiben, die nach Theobald die Geburtsstunde der Rechtfertigungs lehre , nicht aber ihre ausgeführte Form beinhaltete. Krister Stendahl erfasst demnach nicht mehr als ein gewisses Segment. Er wiederholt jedoch gebetsmühlenartig in allen Veröffentlichungen seine Hauptthese, unterlässt es aber, ernsthaft in 38 M. Bachmann hat etliche Untersuchungen zur Sache beigesteuert und sich hierbei vor allem mit J. D. G. Dunn auseinandergesetzt; vor allem sind zu bedenken: J. D. G. Dunn, Works of the Law and the Curse of the Law (Gal. 3.10-14), in: ders., Studies in Mark and Galatians, London 1990, 242-264; ders., 4QMMT and Galatians, NTS 43 (1998), 147-153. Bachmanns Studien sind teilweise wieder abgedruckt in: ders., Antijudaismus im Galaterbrief. Im Einzelnen nenne ich: Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus, ebd., 1-31; 4QMMT und Galaterbrief, הרותהישׂעמ und ΕΡΓΑ ΝΟΜΟΥ, ebd., 33-56; außerdem ders., Sünder oder Übertreter. Studien zur Argumentation in Gal 2,15 ff. (WUNT 59), Tübingen 1992; ders., Die Botschaft für alle und der Antijudaismus: Nachdenken über Paulus und die Folgen, in: M. Hofheinz / G. Plasger (Hg.), Ernstfall Frieden. Biblisch-theologische Perspektiven, Wuppertal 2002, 57-74; ders., Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus, Zeitschrift für Neues Testament 10 (5. Jg., 2002), 44-52. Zuletzt wieder: J. D. G. Dunn, Noch einmal ‚Works of the Law‘: The Dialogue Continues, in: Fair Play. Diversity and Conflicts in Early Christianity. Essays in Honour of H. Räisänen, hg. v. I. Dunderberg / Ch. Tuckett / K. Syreeni (NT.S 103), Leiden / Boston / Köln 2002, 273-290. Dunn weist die von Bachmann eingeführte Unterscheidung zwischen „the regulations of the law“ und „doing what the law requires“ u. a. deswegen zurück, da eben diese Unterscheidung in einem analogen Verfahren bei den Christen, denen οἱ ἐκ πίστεως, nicht durchgeführt werden könne (284). 39 Bachmann, Entstehung, 48. <?page no="182"?> 182 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen die wissenschaftliche Diskussion zur angezeigten Thematik einzutreten und die sich anschließende Forschung zu bedenken. Viele weitere und unverzichtbare Aspekte der paulinischen Rechtfertigungslehre in ihrer ausgeführten Gestalt des Galater- und des Römerbriefs werden von Krister Stendahl großzügig und in für mich teilweise nicht nachvollziehbarer Weise übergangen. 40 Hierzu zählen auf jeden Fall die anthropologische bzw. hamartologische Ausrichtung, der zufolge der Mensch unter der Sünde steht und auch mit Hilfe des sich als schwach erweisenden Gesetzes nicht befreit werden kann (Röm 8,2 f) 41 sowie die theologische These, dass im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbar wird (Röm 1,16 f). Signum dieser Rechtfertigungslehre ist auch die zunehmende Verankerung rechtfertigungstheologischer Aussagen im AT (Gal 3,6.11; Röm 1,17; 3,20; 4,2; 10,5.11), die Reflexion des Rechtfertigungsgeschehens im Blick auf die eigene Person (Phil 3,4-11; teilweise auch Röm 7) und auf das Volk Israel (Röm 10,1-13) 42 . 3. Das Modell von zwei Bünden-- Aufnahme und Kritik Krister Stendahl hat im Vorwort zu Final Account rückblickend und selbstkritisch seinen Weg, eine angemessene Interpretation von Röm 9-11, dem „climax of Romans“ 43 zu finden, beschrieben. Zur Zeit der Abfassung von Paul among Jews and Gentiles habe er unter starkem Einfluß Johannes Muncks gestanden 44 , von dessen Auslegung, die ihm heute im Rückblick als ‚tour de force‘ erscheint, er sich nach und nach gelöst habe. 45 Johannes Munck „betrachtete die Sendung 40 In Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), finden sich ‚unglaubliche‘ Sätze, die ich hier zwar ohne ihren Kontext wiedergebe, aber in der Vermischung von Predigtstil und wissenschaftlicher Abhandlung für höchst problematisch halte: „Wenn wir fragen, worum es im Römerbrief geht, dann müssen wir alle anderen Briefe vergessen“ (30). „Pedanterie ist die Hauptsünde von Exegeten“ (36). „Wir sollten etwas Leichtigkeit einfließen lassen in unsere ernste Lektüre des Römerbriefs“ (36). 41 In der Folge dieser Sicht liegt die Ausgestaltung der Rechtfertigungstheologie auch im Blick auf die Judenchristen und auf deren Toraobservanz; vgl. dazu U. Schnelle, Muß ein Heide erst Jude werden, um Christ sein zu können? , in: Kirche und Volk Gottes, Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Karrer / W. Kraus / O. Merk, Neukirchen 2000, 93-109, vor allem 106-109. 42 M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, 214, zu Röm 9,30-10,13: „Dazu hilft ihm die ‚Rechtfertigungslehre‘, die jetzt über ihre ursprüngliche ekklesiologische Matrix und ihre soteriologische Vertiefung hinaus auf Israels Weg Anwendung findet.“ 43 Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), 4. 44 Vor allem bezieht Stendahl sich auf J. Munck, Paul and the Salvation of Mankind, Richmond 1959. Zu Person und Werk: G. F. Snyder, Art. Munck, Johannes, Dictionary of Biblical Interpretation II (1999), 170. 45 Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), vi, gesteht zu, dass seine Darlegungen in der ursprünglichen Form des mündlichen Vortrags Muncks Sicht noch geteilt hätten, sich aber <?page no="183"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 183 zu den Völkern lediglich als Vehikel für die Rettung Israels“. 46 Krister Stendahl blickt selbstkritisch auf seine Absetzbewegung von Munck, seine eigene Auslegung und ihre Rezeption in der Forschung zurück. Die diesbezüglichen Sätze sollen in einem längeren Zitat wiedergegeben werden: „Meine Interpretation von Römer 11 wurde oft verstanden als das Modell des zweifachen Bundes, oder als das Modell zweier Erlösungswege, einen für Juden und einen für Nichtjuden. Wenn ich die Seiten 3-5 in Paul among Jews and Gentiles wieder lese, jene Seiten, auf welche sich die beziehen, die sich mit solchen Details herumschlagen, kann ich verstehen, wie Leser diesen Eindruck gewinnen konnten, besonders auch wegen der Ähnlichkeiten mit den Gedanken Franz Rosenzweigs […] Ich hätte ausführlicher erklären sollen, wie und weshalb ich ahnte - und nun auch deutlicher sehe -, dass das Modell von zwei Bünden ein Ausdruck von ‚verfehlter Konkretion‘ sei. Wie schon 1974 und jetzt in der Vorlesung ‚Paulus und Israel‘ von 1991 geht es um das Mysterium , durch welches ‚das missionarische Drängen, Israel zu bekehren, in Schach gehalten wird‘“. 47 Krister Stendahls Ausführungen in Vermächtnis verorten alle Ausführungen über Israel in Röm 9-11 in einem Kontext, dessen Konturen, teilweise sogar dessen Einzelausführungen bereits in Paul among Jews verzeichnet waren. 48 Eine heilsgeschichtliche Orientierung, die den biblischen Aussagen folgt und auf ihre Weise doch noch sehr an Johannes Munck erinnert, ist nicht zu verkennen. 49 Krister Stendahl betont, dass in Röm 10,18-11,36 die Argumentation des Paulus gänzlich auf den Namen Jesus Christus verzichte, sogar die Schlussdoxologie 11,33-36 lasse jegliches christologische Element vermissen. Röm 11,26 sei, gegen unsere Gewohnheit einer christologischen Interpretation, nicht auf den Parusie-Christus zu beziehen, sondern im Sinn der johanneischen Aussage ‚denn das Heil kommt von den Juden‘ ( Joh 4,22) aufzunehmen. 50 Krister Stendahl paraphrasiert diese Ausführung wie folgt: „Die Juden sind in Gottes Hand und stehen unter seiner Barmherzigkeit, und Gottes Verheißungen sind unumkehrbar. Gott nimmt seine Verheißungen nicht zurück. Gott kann seine Gerichtsin der jetzt vorliegenden schriftlichen Fassung von J. Munck absetzen; vgl. im Übrigen ebd., viii-ix, die Zusammenstellung derjenigen Arbeiten J. Muncks, auf die K. Stendahl sich seinerzeit bezogen hat. 46 Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 13. 47 Ebd., 13; englische Version in ders., Account (s. Anm. 3), x-xi. 48 B. Witherington III, The Paul Quest. The Renewed Search for the Jew of Tarsus, Downers Grove 1998, 57 f, setzt sich kritisch mit dem Modell der zwei Bünde auseinander, das nicht allein von K. Stendahl, sondern gleichfalls von L. Gaston, J. Gager und anderen vertreten wird, nach Witheringtons Sicht aber von den paulinischen Schriften nicht gedeckt ist. 49 Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 69: „Er [ sc . Paulus] erachtet seine Hauptaussage als vorgezeichneten und vorausgesagten biblischen Prozess. So wirkt Gott.“ 50 Ebd., 79 f; ders., Paul among Jews (s. Anm. 4), 4 f. <?page no="184"?> 184 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen pläne bereuen, aber er bereut niemals seine Pläne zur Barmherzigkeit.“ 51 Daraus ergibt sich mit Blick auf die Heiden: „Hört auf, die Juden zu belästigen und überlasst sie Gottes Händen. Gott hat die Macht, ihre Rettung zu realisieren. Und diese Rettung ist definitiv nicht in christologischer Terminologie formuliert.“ 52 Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann haben in dem Geleitwort zur deutschen Ausgabe sowohl auf die Bedeutung des Verbotes christlicher Judenmission im Kontext der Auslegung des Römerbriefs als auch auf den restriktiven Stellenwert in der gegenwärtigen amerikanischen Theologie verwiesen. 53 Was nun für den Römerbrief insgesamt gilt - „that in this letter Paul’s focus really is the relation between Jews and Gentiles, not the notion of justification or predestination and certainly not other proper yet abstract theological topics“ 54 - gilt für Röm 9-11 vice versa. Im Kontext der Auslegung dieser drei Kapitel betont Krister Stendahl: „Von einem hermeneutischen Standpunkt aus betrachtet ist die primäre Ausrichtung des Römerbriefs darauf angelegt, die eigenartigen Wege Gottes und die Aufgabe der Kirche zu verstehen. Es geht um Missiologie, nicht um Soteriologie. Der Römerbrief ist eine Abhandlung über eine Mission“. 55 Damit wird die Auslegung von Röm 9-11, das Bedenken der sich in diesen Kapiteln findenden unterschiedlichen Einstellungen des Apostels zu seinem Volk sowie das Bemühen, klärend auf das Verhältnis der Zuordnung von Juden und Heiden einzugehen, in geradezu bestürzender Weise auf ein ‚missiologisches Anliegen‘ reduziert. Krister Stendahl bleibt sogar noch hinter der von ihm einst vertretenen Auffassung des Modells zweier Bundesschlüsse zurück, als es überhaupt nicht mehr um eine theologische Interpretation geht, sondern um einen Appell an die Heiden, die Judenmission aufzugeben: „mehr zu sagen hieße, zu viel zu sagen; weniger aber, die Einsichten des Paulus zu verfehlen.“ 56 Diese Grundgedanken sind von Ed P. Sanders und James D. G. Dunn modifiziert aufgenommen worden. Eduard Lohse hat beiden Gelehrten gegenüber scharfe Kritik vorgetragen. Bei Sanders sei „aus Paulus […] ein missionarischer Praktiker geworden, der weder ein ‚theoretischer Theologe […] noch ein ‚systematischer Theologe‘ […] gewesen sei.“ 57 Bei James D. G. Dunn erkennt Eduard 51 Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 78. 52 Ebd., 78. Bereits Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), 4: „Paul’s reference to God’s mysterious plan is an affirmation of a God-willed coexistence between Judaism and Christianity in which the missionary urge to convert Israel is held in check.“ 53 In: Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 8. 54 Stendahl, Paul among Jews (s. Anm. 4), 4. 55 Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 79. Die englische Fassung Account (41) liest: „ It is missiology, not soteriology .“ 56 Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 13. 57 E. Lohse, Theologie der Rechtfertigung im kritischen Disput - zu einigen neueren Perspektiven in der Interpretation der Theologie des Apostels Paulus, GGA 249 (1997), <?page no="185"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 185 Lohse eine Reduktion der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung auf „ein neues missionsstrategisches Konzept“. 58 4. Die Rechtfertigung des Gottlosen Bereits in der Auseinandersetzung mit Ernst Käsemann stand die rechte Auslegung von Röm 4,5 zur Diskussion. Ernst Käsemann hatte Gottes Wesen als „Rechtfertigung des Gottlosen“ 59 , die „Rechtfertigung des Sünders“ 60 wiederum als Mitte des Evangeliums angesprochen. Krister Stendahl hat gegen diese Auslegung und ihre Bezugnahme auf Röm 4,5 eingewandt: „Die Sache, um die es im Römerbrief geht, ist die Rechtfertigung der nichtjüdischen Konvertiten des Paulus, nicht der Sünder im Allgemeinen. Hierauf beruht die Argumentation des Paulus.“ 61 Während Ernst Käsemann von einem theologisch klar umrissenen Verständnis der Rechtfertigungslehre als der Mitte der christlichen Botschaft ausgehe, bleibt Krister Stendahl nach eigener Einschätzung dichter an dem konkreten Text Röm 4,1-7 und an der Funktion des strittigen Verses im Textganzen. Eine isolierte Betrachtung des Abrahambeispiels ist auszuschließen, da die Begrifflichkeit von 3,27-31 (καύχησις, ἔργα, λογίζομαι, δικαιόω, πίστις) in 4,1-7 erneut aufgenommen und mit Hilfe eines Schriftarguments abgestützt wird. Der aus Gal 2,16 bekannte und in Röm 3,28 erneut aufgenommene Basissatz der paulinischen Rechtfertigungslehre wird zusammen gesehen mit einem zusätzlichen Thema, der καύχησις 62 (Röm 3,27). An wessen und welches Rühmen ist gedacht? Blickt Paulus allgemein auf die „Haltung des Menschen […], in der er sich seiner eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Taten meint rühmen zu können“ 63 oder hat er in einem spezielleren Sinn ein solches Rühmen des Juden im Blick, „daß die ‚Sünder aus den Heiden‘ (Gal 2,15) aus der Heilssphäre der 66-81. 58 Lohse, Theologie der Rechtfertigung, 76; auch ders., Römer (s. Anm. 37), 140-145. Kritisch auch M. A. Seifrid, Justification by Faith. The Origin and Development of a Central Pauline Theme (NT.S 68), Leiden / New York / Köln 1992, 63: „It is therefore difficult to believe that his efforts to resolve Jew-Gentile relations were merely a matter of church politics without any personal relevance.“ Eine recht positive Würdigung der Rechtfertigungslehre in Dunns Werk bietet hingegen H. Löhr in einer Besprechung in VF 44 (1999), 78-83. 59 Käsemann, Rechtfertigung (s. Anm. 12), 134. 60 Ebd., 131. 61 Stendahl, Vermächtnis (s. Anm. 3), 98 Anm. 3. 62 S. J. Gathercole, Where is Boasting? Soteriology and Pauls’s Response in Romans 1-5, Grand Rapids (MI)/ Cambridge 2002, behandelt die Thematik erstmals wieder monographisch; meine Anfragen an methodisches Vorgehen und Ergebnisse der Untersuchung habe ich in ThLZ 129 (2004), 634-637, dargelegt. 63 Lohse, Römer (s. Anm. 37), 137. <?page no="186"?> 186 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen Erwählung in der Gabe von Gesetz und Beschneidung ausgeschlossen“ sind. 64 Bereits in Gal 2,16, deutlicher noch in Röm 3,28, ist der Basissatz der Rechtfertigungslehre klar in einen Kontext eingebunden, der von der Unterschiedslosigkeit der Juden und Heiden dem Evangelium gegenüber handelt. Demnach bezieht sich die Absage an jegliches Rühmen hier auf eine jüdische Haltung, die in der Zurückstellung der Heiden Ausdruck findet. Die ehemals bestehende Grenze, die mit dem νόμος, und zwar mit dem νόμος τῶν ἔργων gesetzt war, ist aufgehoben mit der neuen Ordnung des νόμος τῆς πίστεως, also mit dem Glauben. Diese Unterschiedslosigkeit von Juden und Heiden dem Evangelium gegenüber ist jedoch in diesem Text nicht einfach eine missionarische These, sondern gewinnt ihre Tiefenschärfe gerade auf dem Hintergrund, dass beide Gruppen Sünder sind (Röm 3,23). Bedenkt man nun die breite Bezugnahme auf Abraham, den anerkannten προπάτωρ innerhalb der jüdischen Theologie, und sieht zugleich, dass Röm 4 im Stil der Diatribe zu einem Diskurs anhebt, so wird man gespannt sein dürfen, in welche Richtung Paulus die Gedanken der Leser lenkt. Zunächst will es scheinen, als „schiebe der Apostel die in der Tradition entwickelte Auslegung der Abrahamsgeschichte beiseite.“ 65 Zwar wird die in der Tradition betonte Treue Gott gegenüber nicht in Frage gestellt oder gar als Ausdruck abzulehnender eigener Gerechtigkeit dargestellt. Im Licht der Schrift, konkret aus Gen 15,6 entnimmt Paulus jedoch die These, dass der Glaube χωρὶς ἔργων νόμου zur Gerechtigkeit angerechnet wird. Es sind zumindest zwei Auffälligkeiten in Röm 4,1-8 zu bedenken, die einer rein ‚missiologischen Interpretation‘ im Sinne Krister Stendahls klar entgegenstehen: einerseits die Bezeichnung Abrahams als ἀσεβής und andererseits die Aufnahme der ἔργα νόμου-Thematik in dem Verb ἐργάζομαι. Innerhalb der alttestamentlichen Abrahamerzählung wird nicht von der ἀσέβεια Abrahams gesprochen, auch wird Abraham nicht als ἀσεβής bezeichnet. Die Wendung δικαιῶν τὸν ἀσεβῆ geht wohl auf die LXX zurück. Hier ist sie allerdings auf menschliche Urteile bezogen: Ex 23,7: καὶ οὐ δικαιώσεις τὸν ἀσεβῆ. Hier geht es um die Gottlosen im eigenen Volk. Jes 5,23: οἱ δικαιοῦντες τὸν ἀσεβῆ. Im eigenen Volk sprechen unrecht lebende Menschen die Gottlosen gerecht. Prov 24,24: ὁ εἰπὼν τὸν ἀσεβῆ Δίκαιός ἐστιν, ἐπικατάρατος λαοῖς ἔσται καὶ μισητὸς εἰς ἔθνη. Durch die Verkehrung von Frevler und Gerechter zieht sich der Mensch ein Gericht und den Fluch der Menschen auf sich. 64 U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI,1), Neukirchen 1978, 244 f. 65 Lohse, Römer (s. Anm. 37), 148. <?page no="187"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 187 Da in der Abrahamerzählung und in der jüdischen Überlieferung Abraham nicht als ἀσεβής bezeichnet wird 66 , kann man mit Joseph Fitzmyer 67 fragen, ob die paulinische Argumentation hier einen gewissen Sprung 68 macht, um eine grundsätzliche Gottesaussage anzubringen. 69 Diese wiederum hat im unmittelbaren Kontext eventuell in der Kombination der Schriftzitate Gen 15,6 und Ps 32,1 f 70 , vor allem aber in Röm 5,6 (κατὰ καιρὸν ὑπὲρ ἀσεβῶν ἀπέθανεν) und 5,8 (ὅτι ἔτι ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν Χριστὸς ὑπὲρ ἡμῶν ἀπέθανεν) eine weitere Abstützung. Das rechtfertigende Handeln Gottes gründet im Tod Christi und kommt dem Frevler bzw. den Sündern zugute. Abraham wird daher in Röm 4,5 eben nicht als Heide, oder - in Entsprechung zur jüdischen Überlieferung - als erster Proselyt angesprochen, sondern als Frevler und Sünder. 71 In Röm 4,1-8 wird die angeschlagene Thematik der ἔργα νόμου aufgenommen, allerdings stets ohne Erwähnung des Bezugspunktes des νόμος. Nun mag dies bei dem gewählten Beispiel des Patriarchen Abraham naheliegen, da er nach Auskunft der Schrift noch vor der mosaischen Gesetzgebung lebte. Jedoch 66 Wilckens, Römer (s. Anm. 64), 263, betont m. E. zu Recht, dass „die jüdische Überlieferung dort, wo sie in Abraham das Urbild des Proselyten erkennt, seine Rechtfertigung als die des ersten bekehrten Heiden“ sieht. „Niemals aber zeichnet sie ihn vor seiner Bekehrung als heidnischen Sünder“. 67 J. A. Fitzmyer, Romans (AncB XXXII), New York 1993, 375: „The phrase is instead a generic Pauline description of God himself: one who justifies the godless, one who acquits the sinner.“ 68 Dunn, Romans (s. Anm. 1), 205, bemüht sich, den Sprung gering zu halten. Er gesteht zu, dass in δικαιῶν τὸν ἀσεβῆ zwei Konzepte zusammengebracht werden, die in jüdischem Denken nicht zusammen passen, nämlich einerseits Gottes rechtfertigendes Handeln und andererseits der Ausschluss der Sünder. Nach Dunn muss allerdings das Abrahambeispiel in jüdischen Ohren nicht vollständig fremd klingen, da Abraham ja den Schritt vom Götzendienst zur wahren Gottesverehrung vollzogen hat. Dennoch meine ich: der Glaube an Gott, τὸν δικαιοῦντα τὸν ἀσεβῆ, liegt nicht einfach in der Linie des Abrahambeispiels, sondern ist einerseits ohne Bezug auf das Christusgeschehen (Röm 5,6-9) und andererseits ohne die Ansage des Zornes Gottes über die ἀσέβεια und ἀδικία der Menschen (Röm 1,18) nicht zu denken. 69 E. Käsemann, An die Römer (HNT VIIIa), Tübingen 1973, 104, erkennt sogar eine formelhafte Nachbildung der liturgischen Gottesprädikation. 70 Da sowohl in Gen 15,6 als auch in Ps 32(31),1 f λογίζομαι zu lesen ist, können nach jüdischem Analogie-Denken innerhalb der Schriftauslegung beide Stellen sich gegenseitig interpretieren. Röm 4,5 nimmt beide Stellen ad vocem λογίζομαι auf, verschärft aber ἁμαρτία zu ἀσεβής. 71 Innerhalb der jüd.-hell. Literatur ist ἀσεβής, ἀσέβεια, ἀσεβέω auch nicht wirklich mit heidnischer Existenz konnotiert; vgl. ThWNT VII (1964), 186-188. E. Käsemanns Auslegung spürt nach meinem Empfinden am entschiedensten die theologischen Tiefenschichten dieser „grundsätzlichen und eindeutig polemischen Formulierung“ (Römer [s. Anm. 69], 104) auf und zeigt nachdrücklich, wie die Aussage weit über eine ausschließlich missiologische Interpretation hinausgeht. Käsemann bringt hier die Rechtfertigungslehre mit der Vorstellung des creator ex nihilo in Verbindung. <?page no="188"?> 188 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen tendierte die Abrahamrezeption, wie bereits vermerkt wurde, auf eine grundsätzliche Aussage und fand in Abraham das Urbild des rechtfertigenden Glaubens. Im Schriftzitat Gen 15,6 ist das Verb λογίζομαι vorgegeben. Paulus nimmt es in Röm 4,3-5 in seinem forensischen Sinn als ‚Buchen, Anrechnen‘ auf und stellt ἐργάζομαι und πιστεύω bzw. πίστις als entgegengesetzte Bezugspunkte für solches Anrechnen dar. Man wird in ἐργάζομαι nicht gleich Werkgerechtigkeit oder gar das Aufrichten der eigenen Gerechtigkeit hineinlesen dürfen. Das Verb wird an anderer Stelle bei Paulus durchaus positiv zur Beschreibung des apostolischen (1 Thess 2,9; 1 Kor 4,12; 9,6; 16,10) bzw. priesterlichen Dienstes (1 Kor 9,13), im Kontext der Nächstenliebe (Röm 13,10; Gal 6,10) und der positiven Arbeitsethik (1 Thess 4,11) verwendet. Als Gegenbegriff zu πιστεύω bzw. πίστις ist ἐργάζομαι in Röm 4,3-5 neutral konnotiert, da der zustehende Lohn außerhalb der Gnadenordnung angesiedelt ist. An welches Wirken ist bei ἐργάζομαι zu denken? Die ἔργα νόμου sind wohl eingeschlossen, doch führt der Begriff über diese Eingrenzung hinaus auf ‚Werke‘ in einem weiteren und offeneren Sinn. 72 Ein ἐργάζομαι darf Lohn erwarten, Lohn κατὰ ὀφείλημα. Dies ist jedoch keine wirkliche Möglichkeit mehr, da Paulus hier wie auch in Gal 3,22 daran liegt, den Weg der πίστις als einzigen Weg aufzuzeigen. So zeigt sich auf jeden Fall auch in Röm 4,1-8, dass Paulus die Thematik ‚Juden und Heiden‘ nicht allein mit Blick auf die ἔργα νόμου (etwa als boundary markers ) als ‚missiologische Praxis‘ anspricht, sondern sie öffnet auf das Verhältnis von ἐργάζομαι und πιστεύω bzw. πίστις in einem weiteren Sinn. 73 5. Ausblick Die Fragen und Anregungen, die Krister Stendahls Beitrag The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West aufgeworfen hat, scheinen in größerer Breite erst gegenwärtig, also mit erheblichem zeitlichem Verzug bedacht zu werden. Für die sog. new perspective on Paul ist Krister Stendahl der ‚Vater‘ der Bewegung. Sein von der Mehrheit in vielem abweichendes Bild des Judentums der neutestamentlichen Zeit, sein Paulus-Bild als das eines Missionars, nicht aber eines Theologen, seine Infragestellung der ‚lutheran spectacles‘ als Verständnishilfe für die paulinischen Briefe sind innerhalb der New Perspective 72 Auch Bachmann, Rechtfertigung (s. Anm. 37), 3 Anm. 9, betont den Kontext mit den zuvor angesprochenen ἔργα νόμου, hält es aber für denkbar, dass „in Kap. 4 ff. wahrscheinlich - wenn nicht an die Tora selbst, so - an Analoga der Gesetzeswerke zu denken“ sei. 73 Diese hier vorgetragene Auslegung folgt weitgehend C. E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans (ICC), Edinburgh / New York 2001, 232 Anm. 2. Er paraphrasiert: „The sense intended by τῷ … μὴ ἐργάζομένῳ here would seem to be ‚to him who does no works which establish a claim on God‘ or ‚to him who has no claim on God on the ground of works‘“. <?page no="189"?> Ein Gespräch mit Krister Stendahl 189 breit rezipiert worden. Ernst Käsemanns frühe Erwiderung auf diese Ansätze wurde dem Anliegen Krister Stendahls in keiner Weise gerecht und muss als schroffer Versuch angesehen werden, Krister Stendahl theologisch und geistesgeschichtlich zu disqualifizieren. Krister Stendahls Beitrag zum engeren Thema des Verhältnisses von Juden und Heiden innerhalb des paulinischen Denkens und Handelns reduziert die paulinische Rechtfertigungslehre auf ein schlichtes missionarisches Grundanliegen: Sie soll den Heiden den Zugang zum Gottesvolk ohne Werke des Gesetzes eröffnen. Wahrscheinlich trifft Krister Stendahl hiermit ein partielles Segment der Rechtfertigungslehre, insofern es um Zulassungsbedingungen in die christliche Gemeinde geht. Diese Reduktion wird der paulinischen Rechtfertigungslehre in ihrer gesamten anthropologischen, hamartologischen und nomologischen Ausarbeitung jedoch in keiner Weise gerecht. Die genauere Bestimmung des Ortes überdies, an dem sich Paulus among Jews and Gentiles befindet, bedarf heute gleichfalls einer äußerst differenzierten Betrachtung. Krister Stendahl ging von einer Aufnahme der Heiden in das Volk Gottes aus, die sich nicht mehr an der Tora orientiert, und fragte vornehmlich nach der Verhältnisbestimmung beider Gruppen zueinander im paulinischen Denken. Die Reduktion des Standortes des Apostels auf denjenigen eines Mittlers, der sich von missionarischen Erwägungen leiten lässt, wird in keinem Fall den Konzeptionen zum Volk Gottes innerhalb der paulinischen Theologie und den hierauf bezogenen sprachlichen Ausdrucksformen gerecht. 74 Summary Krister Stendahl is rightly regarded as the father of the New Perspective on Paul. In his study Paul among Jews and Gentiles Stendahl questioned the common interpretation of the Pauline doctrine of justification by faith which dominated Western Theology since Augustine. Its point of reference is not anthropology, especially the conscience of the sinfulness of the individual, but justification by faith were rather a mental construction of Paul to justify the inclusion of the Gentiles into the Christian people of God without works of the law. According to Stendahl, Paul’s letter to the Romans therefore represents a kind of „missiology“, but no soteriology. 74 Vgl. etwa W. Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85), Tübingen 1996. Zur Terminologie s. die Studien von M. Bachmann, Verus Israel : Ein Vorschlag zu einer ‚mengentheoretischen‘ Neubeschreibung der betreffenden paulinischen Terminologie, NTS 48 (2002), 500-512; ders., Kirche und Israel Gottes. Zur Bedeutung und ekklesiologischen Relevanz des Segenswortes am Schluß des Galaterbriefs; wieder abgedruckt in: ders., Antijudaismus im Galaterbrief (s. Anm. 37) 159-189. <?page no="190"?> 190 Juden und Heiden-- Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen The study in hand first discusses Stendahl’s hypothesis in the broader historical context of research, especially considering the first, completely polemical reply by Ernst Käsemann, which almost withheld any further discussion. Secondly, it has a critical look at three major topics of Stendahl’s work: a. his understanding of the doctrine of justification by faith as an apology of the Gentile mission, b. his concept of two covenants underlying the relationship between Jews and Gentiles, c. his exegesis of Rom 4: 5 where Paul speaks about the justification of the ungodly / sinner with respect to Abraham. Regarding the overall work of Stendahl, it has to be admitted that his point of view captures one aspect of the Pauline doctrine of justification, namely the condition of its origin. At the same time it has to be critically remarked, however, that Stendahl totally ignores important aspects of the Pauline doctrine of justification by faith, e.g. the interpretation of sin and law with their anthropological implications. Therefore, Stendahl’s work may be questioning the classical Lutheran understanding of Paul, yet it is no alternative. <?page no="191"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 191 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments * 1. Theologie und Ethik des Neuen Testaments. Das Verhältnis beider Disziplinen zueinander innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft Die Disziplin ‚Ethik des Neuen Testaments‘ ist innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft noch relativ jung. Wahrscheinlich hat Hermann Jacoby 1899 erstmals eine ‚Neutestamentliche Ethik‘ vorgelegt, jedenfalls im deutschsprachigen Raum. 1 Dieses Werk steht im Kontext der liberalen Theologie. Die christliche Ethik sucht ihren Maßstab in der sittlichen Lehre Jesu. Einige weitere frühe Arbeiten zur neutestamentlichen Éthik orientieren sich an der sog. Lokalmethode und stellen das neutestamentliche Material zu den klassischen ethischen Topoi dar. Dieses Verfahren wird bis in die Gegenwart angewandt, wobei die literaturgeschichtlichen und historischen Voraussetzungen der jeweiligen neutestamentlichen Schriften in diesem Verfahren bisweilen sträflich vernachlässigt werden. Keiner eigentlichen Schule gehörten Ernst Lohmeyer (1890-1946) und Herbert Preisker (1888-1952) an, die beide auf Umwegen zu Professuren der Wissenschaft des Neuen Testaments gelangten und auch aufgrund einer starken religionsgeschichtlichen Orientierung eher am Ethos als an der Ethik Interesse zeigten. 2 Erst durch die formgeschichtliche Schule, vor allem durch die Arbeiten 1 H. Jacoby, Neutestamentliche Ethik, Königsberg 1899. Hermann Jacoby (1836-1917) hat dieses Werk während seiner Tätigkeit als ordentlicher Professor der Praktischen Theologie in Königsberg verfasst; vgl. H. Scheunemann, Jacoby, Hermann, RGG 2 III (1929), 5. 2 E. Lohmeyer, Soziale Fragen im Urchristentum, Wissenschaft und Bildung, Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens, Bd. 172, Leipzig 1921 (Nachdruck Darmstadt 1973); H. Preisker hat etliche Arbeiten zu ethischen Fragen abgefasst: Die Ethik der Evangelien und die jüdische Apokalyptik, Diss. theol. Breslau 1915; ders., Christentum und Ehe in den ersten drei Jahrhunderten, NSGTK 23, Berlin 1927; ders., Das Ethos des Urchristentums, Gütersloh 1933 (Nachdruck von 2 1949 in Darmstadt 3 1968). * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik. Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments, in: C. Breytenbach / J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007, 287-307, © Mohr Siebeck Tübingen. <?page no="192"?> 192 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik des Neutestamentlers Martin Dibelius (1883-1947) 3 und seiner Schüler, wurde in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das Problem der Entstehung einer urchristlichen Ethik überhaupt thematisiert und es wurden wesentliche Grundlagen für ihre Bearbeitung bereitet. Die Herauslösung der Darstellung der neutestamentlichen Ethik aus derjenigen der neutestamentlichen Theologie wurde jedoch erst im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts geradezu programmatisch, ausgehend von Verlegern und Herausgebern, vollzogen. Hierbei waren neben theologiegeschichtlich nachvollziehbaren Neuorientierungen 4 gewiss auch arbeitstechnische Erwägungen, sowohl in der evangelischen als auch in der römisch-katholischen, jedoch ausschließlich in der deutschsprachigen Exegese leitend. 5 Sie haben in der korrespondierenden Abfassung je einer Theologie des Neuen Testaments und einer Ethik des Neuen Testaments in Lehrbuchreihen wie in den Grundrissen zum NT ( GNT ) 6 , der Theologischen Wissenschaft (ThW) 7 oder Herders Theologischem Kommentar. Supplement- 3 Nachdem M. Dibelius zwischen 1911 und 1923 in der Reihe HNT die Briefe an die Thessalonicher und Philipper (1911), Kolosser, Epheser und Philemon (1912), Pastoralbriefe (1913) und Hermas (1923) kommentiert hatte, verfasste er in der Reihe KEK einen Kommentar zu dem Jakobusbrief und schrieb im Vorwort: „Das große Problem, das die Entstehung der urchristlichen Ethik der Forschung stellt, kann in einem Kommentar zum Jakobus-Brief natürlich nicht in seinem vollen Umfang abgehandelt werden. Wohl aber vermag die Lektüre des Jakobus-Briefes dem Studierenden den Blick zu schärfen für dies Problem, das mit wesentlichen Fragen nicht nur unserer Wissenschaft, sondern unseres Lebens in unmittelbarer Beziehung steht“ (M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, KEK XV, Göttingen 1921, 6; 11. Aufl. hg. und erg. von H. Greeven, 1964; 12. Aufl. mit erg. Literaturverzeichnis hg. von F. Hahn, 1984). In der 1926 verfassten Literaturgeschichte findet sich ein Kapitel unter der Überschrift ‚Mahnungen ethischer und kirchenrechtlicher Art‘ (M. Dibelius, Geschichte der urchristlichen Literatur. Neudruck der Erstausgabe von 1926 unter Berücksichtigung der Änderungen der englischen Übersetzung von 1936, hg. von F. Hahn, TB 58, München 1975, 140-152). 4 In den GNT war Heinz-Dietrich Wendland, seinerzeit Professor für christliche Sozialethik, mit der Abfassung der Ethik beauftragt worden. Der Klappentext zur 2. Aufl. von H.-D. Wendland, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 2 1975, lautet: „Eine Ethik des Neuen Testaments ist in dieser Form in der evangelischen Theologie der Gegenwart etwas Neues. Die Bearbeitung gerade dieses Themas trifft in eine sehr aufnahmebereite Situation, denn ethische Unsicherheit einerseits und drängendes Fragen nach Verwirklichung andererseits sind heute für viele kennzeichnend.“ 5 Im angloamerikanischen, aber auch im skandinavischen Bereich haben beide Disziplinen „Theologie und Ethik des Neuen Testament“ so keine direkte Entsprechung. 6 W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, GNT 3, Göttingen 4 1980; Wendland, Ethik (s. Anm. 4); W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 2 1989 (vgl. auch ders., Ethik IV. Neues Testament, TRE 10 [1982], 435-462). 7 E. Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie, ThW 5, Stuttgart 1974; ders., Theologische Ethik des Neuen Testaments, ThW 5,2, Göttingen 1988. Die ursprüngliche Verlagsplanung scheint nicht die Publikation der Neutestamentlichen Ethik vorgesehen <?page no="193"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 193 Reihe ( HT hK.S) 8 u. a. Ausdruck gefunden. 9 Daneben waren es grundsätzliche theologische Erwägungen, die diese Trennung begünstigten. Hierbei denke ich einerseits an die Anlehnung an die überkommenen Schemata von Rechtfertigung und Heiligung, von Indikativ und Imperativ, von Gabe und Aufgabe, von Zuspruch und Anspruch, und andererseits an die Absicht, jegliche Werk- und Gesetzesfrömmigkeit aus der Darstellung des Heilsgeschehens auszuschließen und sie allenfalls im Bereich der Ethik zu diskutieren. Zwar haben fast alle Darstellungen der Theologie des Neuen Testaments in der Vergangenheit die Ethik kurz angesprochen, zumeist allerdings nur hinsichtlich ihres Stellenwerts und ihrer christologischen und pneumatologischsakramentalen Begründung, nicht aber wirklich oder eben nur sehr knapp im Blick auf den materialethischen Gehalt. Rudolf Bultmann widmete in seiner Theologie des Neuen Testaments der Ethik im Paulusteil in § 38 keine zehn Seiten, behandelte aber im dritten Teil, der die Entwicklung zur Alten Kirche darstellt, in den § 59-61 das Problem der christlichen Lebensführung. 10 Hans Conzelmann stellte in seinem Grundriß der Theologie des Neuen Testaments die paulinische Ethik in § 35 unter der Überschrift ‚de libertate Christiana‘ dar und behandelte hier vornehmlich die Freiheit vom Gesetz und vom Tod. 11 Auch zu haben, da erst nach Erscheinen der Ethik (ThW 5,2) die bereits zuvor publizierte Theologie des Neuen Testaments die Bandnummer 5,1 (zuvor einfach 5) erhielt. 8 J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S V, Freiburg 1994; R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, Band 1: Von Jesus zur Urkirche; Band 2: Die urchristlichen Verkündiger, HThK.S I / II Freiburg 1986 / 1988. Dieses zweibändige Werk greift zurück auf das in dem Handbuch der Moraltheologie erschienene Werk: ders., Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, HMT VI, München 2 1962. 9 Die genannten Werke sind vorgestellt und besprochen worden in: F. W. Horn, Ethik des Neuen Testaments 1982-1992, ThR 60 (1995), 32-86; W. Zager, Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung, ZNT 11 (2003), 3-13. Auch die ‚de Gruyter Lehrbücher (GLB)‘ hatten diese Aufteilung in Theologie und Ethik im Blick. Der frühe Tod Georg Streckers im Jahr 1994 verhinderte jedoch den Abschluss der bereits 1972 angekündigten Ethik (G. Strecker, Handlungsorientierter Glaube. Vorstudien zu einer Ethik des Neuen Testaments, Stuttgart 1972, 8); vgl. allerdings G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments. Bearbeitet, ergänzt und herausgegeben von Friedrich Wilhelm Horn, Berlin / New York 1996. Georg Strecker hat seine Sicht in: Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, ZThK 75 (1978), 117-146, und in: Ziele und Ergebnisse einer neutestamentlichen Ethik, NTS 25 (1978 / 79), 1-15, dargelegt. 10 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 6 1968. 11 H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, EETh 2, München 1967; vgl. auch die 5. verbesserte Aufl., seit der 4. Aufl. bearbeitet von A. Lindemann, Tübingen 1992. Deutlich ist der Standort gesetzt: „Die ethische Forderung ist darzustellen auf der Grundlage der Rechtfertigungslehre. Eine Darstellung der paulinischen Ethik kann also nicht von den einzelnen ethischen Forderungen ausgehen“ (325). <?page no="194"?> 194 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik in Werner Georg Kümmels Entwurf sind die Gewichte nicht anders gesetzt. 12 Selbst Klaus Berger, der in den Einzelparagraphen seiner Theologiegeschichte ethische Fragen durchgehend anspricht, benennt die Ethik im einleitenden generellen Teil nicht als Thema seiner Darstellung. 13 Die Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments beschreibt Joachim Gnilka wie folgt: „Neutestamentliche Theologie läßt sich demnach umreißen als Beschreibung des rettenden Handelns Gottes in Jesus Christus“. 14 Auch diese Definition bleibt der Abtrennung der Ethik von der Theologie verpflichtet, insofern die Gestalt des christlichen Lebens in keinem direkten Bezug zu dem rettenden Handeln Gottes in Jesus Christus zu stehen scheint. Es wäre jetzt der Ort, in eine Diskussion einzutreten und die Frage zu beantworten, ob eine solche Aufteilung überhaupt dem neutestamentlichen Befund gerecht wird. Man kann im Blick auf die klassische Gestalt der Theologie des Neuen Testaments erwägen, ob sie nicht einem spezifisch intellektualistischen Glaubensbegriff folgt und ihn an die Texte heranträgt, wenn sie meint, die Darstellung der Ethik aus der Darstellung der Theologie ausgliedern zu können. Auch wird man fragen können, ob die Exegese in der Aufteilung von Theologie und Ethik nicht zu bereitwillig einer möglicherweise zeitlich bedingten kirchlichen oder dogmatischen Vorgabe gefolgt ist. 15 Schließlich ist im Blick auf die Ethik des Neuen Testaments zu fragen, ob die Ausgliederung der Ethik des Neuen Testaments aus derjenigen der Theologie des Neuen Testaments nicht zu unreflektiert den vorgängigen theologischen Rahmen beibehalten hat, insofern die Darstellung der Ethik zumeist einem kerygmatischen Konzept verpflichtet bleibt, das einerseits den ethischen Anspruch, andererseits die ethische Entscheidung thematisiert. Ethische Aussagen werden in dieser Perspektive nur dann wirklich wahrgenommen, wenn sie als Antwort, Folge oder Konsequenz einer vorgängigen theologischen Aussage betrachtet und als Entscheidung innerhalb des Glaubens ausgewiesen werden können. Es sind weitere Fragen zu stellen. Hier soll nur auf den Sachverhalt hingewiesen werden, dass im Blick auf die noch recht junge Trennung der beiden Disziplinen erheblicher Klärungs- 12 W. G. Kümmel, Theologie (s. Anm. 6), 199-203, äußert sich sehr knapp zu ‚Indikativ und Imperativ‘. 13 K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994, spricht im generellen Teil über den Schriftbeweis, das Gottesbild, die Eschatologie, Erfahrungen, Christologie, Soteriologie und Sakramente. 14 J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 8), 9. 15 Es ist bemerkenswert, dass die 3. Auflage der RGG in Band II im Jahr 1958 wohl ein Stichwort Ethik verzeichnet, aber den biblischen Befund ausklammert; vgl. allerdings W. G. Kümmel, Sittlichkeit im Urchristentum, RGG 3 VI (1962), 70-80. <?page no="195"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 195 bedarf darüber besteht, was eigentlich der Gegenstand jeder Disziplin ist 16 , worin jede Disziplin ihr jeweiliges Eigenrecht hat und worin beide wiederum verknüpft sind. Lässt man jedoch die überkommenen Muster beiseite und wählt einen offeneren deskriptiven religionsgeschichtlichen Ansatz, dann entbehrt die Aufteilung von Theologie und Ethik jeglicher Rechtfertigung. Gerd Theißen, der in seiner Darstellung der Religion der ersten Christen eine Theorie des Urchristentums entwirft, behält Mythos, Ethos und Ritus gleichermaßen im Blick und folgt mithin nicht der klassischen Aufteilung. 17 Seine religionswissenschaftliche Darstellung ist, wie sich zeigen wird, mit Ferdinand Hahns bewusst am Kanon orientierter theologischer Zielsetzung (Bd. II , S. VII 18 ; außerdem I, 18) nicht kommensurabel. 19 Auch die sozialgeschichtliche Frage, die das faktische Ethos der frühchristlichen Gemeinden erhebt und darstellt, kann Gestalt und Kontext urchristlicher Lebensäußerungen beschreiben, auch wenn sie nicht in einem expliziten Verhältnis zum Evangelium stehen oder zu stehen scheinen. 20 Doch stellt auch Hahns Werk einen betonten Neueinsatz innerhalb der eigenen Disziplin dar, insofern er, wenn auch von anderen Voraussetzungen her, einer 16 Die Diskussion über Aufgabe und Methode einer Theologie des Neuen Testaments hat seit der Religionsgeschichtlichen Schule diese Disziplin begleitet. Im Blick auf die Disziplin Ethik des Neuen Testaments besteht diesbezüglich erheblicher Nachholbedarf. Die neueren Arbeiten von F. J. Matera, New Testament Ethics. The Legacies of Jesus and Paul, Louisville 1996, und von R. B. Hays, The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, San Francisco 1996, setzen unabhängig voneinander übereinstimmend mit einem Kapitel ‚The Task of New Testament Ethics‘ ein, in dem beide die historische Aufgabe zugunsten eines canonical approach zurückstellen und betont auf die gegenwärtige Applikation des Textes zielen. 17 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 101: „Das Ethos des Urchristentums ist demnach nichts, was erst sekundär zur primären Bedeutung religiöser Mythen (ihrer Rollen und Symbole) hinzutritt, sondern gehört konstitutiv zu dieser Bedeutung. Das Ethos ist die Bedeutung des Mythos in der Sprache des Verhaltens.“ 18 Im Folgenden immer einfach mit römischer Ziffer und Seitenzahl zitiert. 19 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Band I: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums; Band II: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002. F. Hahn, Theologie II, S. VII, möchte seine Theologie bewusst durch konsequente Orientierung am neutestamentlichen Kanon den jüngeren religionsgeschichtlichen Alternativen entgegenstellen. Kritisch zu einem religionsgeschichtlichen Ansatz erneut ders., Rez. U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments I / II, ThLZ 129 (2004), 1305. 20 Vgl. aber den Hinweis von W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993, 19: „Die Religion ist ein wesentlicher Bestandteil dieser kulturellen Strukturen, in denen zudem eine reale, aber komplexe Beziehung zwischen Sozialstruktur und Symbolstruktur festzustellen ist.“ <?page no="196"?> 196 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik rigiden Aufteilung von Theologie und Ethik widerspricht. 21 Die Darstellung dieses grundsätzlichen Aspekts, seine inhaltlich materialethische Füllung und seine Verortung innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft sind Gegenstand dieses Beitrags. 2. Glaubensüberzeugung und Lebensgestaltung, Zuspruch und Anspruch „Eine neutestamentliche Theologie erfüllt ihre Aufgabe erst dann, wenn die Frage beantwortet wird, wie die vielfältigen urchristlichen Zeugnisse inhaltlich zusammengehören“ (Bd. II, S. VII). Damit will Ferdinand Hahn einen fundamentaltheologischen Anspruch formulieren und ihn auf Theologie und Ethik des Neuen Testaments gleichermaßen beziehen. 22 Er räumt der Ethik innerhalb des 2. Bandes seiner Theologie, der die Einheit des Neuen Testaments thematisiert, einen verhältnismäßig breiten Raum ein. § 22 behandelt die Grundlagen für das Leben in christlicher Verantwortung (659-689) und § 23 das Leben in christlicher Verantwortung (690-736). Das überkommene, zwischenzeitlich aber doch problematische und mit Recht umstrittene Schema 23 von Grundlagen und Anwendung, von Indikativ und Imperativ schlägt also auf den S. 659-736 durchaus wieder durch, was auch die korrespondierenden Untertitel Ethik I und Ethik II oder die vielfache Aufnahme des Schemas von Zuspruch und Anspruch (vor allem II , 731) demonstrieren. Dennoch erscheint mir die grundsätzliche Entscheidung, die Ethik in die Darstellung einer neutestamentlichen Theologie - und zwar stärker als die Vorgän- 21 Auch in zurückliegenden Aufsätzen hat sich Ferdinand Hahn häufig mit dem Verhältnis der neutestamentlichen Ethik zur Theologie beschäftigt. Ohne Vollständigkeit erreichen zu wollen, verweise ich auf: F. Hahn, Die christologische Begründung urchristlicher Paränese, ZNW 72 (1981), 88-99; ders., Neutestamentliche Grundlagen einer christlichen Ethik, TThZ 86 (1977), 31-41; ders., Neutestamentliche Ethik als Kriterium menschlicher Rechtsordnung, in: E. L. Behrendt (Hg.), Rechtsstaat und Christentum I, München 1982, 377-399. 22 Vgl. zum theologischen Anspruch der Theologie Ferdinand Hahns die Ausführungen von C. Breytenbach, Zwischen exegetischer und systematischer Theologie. Ferdinand Hahns Auffassung von der Einheit der ‚Theologie des Neuen Testaments‘, in: P. Müller / Chr. Gerber / Th. Knöppler (Hgg.), ‚… was ihr auf dem Weg verhandelt habt‘. Beiträge zur Exegese und Theologie des Neuen Testaments (FS Ferdinand Hahn zum 75. Geburtstag), Neukirchen 2001, 204-214. 23 M. Wolter, Die ethische Identität christlicher Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, MThSt 67, Marburg 2001, 61-90, bezieht den Imperativ auf die Objektivation der neu gewonnenen Identität, versteht ihn aber nicht mehr als dankbare Antwort auf den Indikativ des Heils. Kritik an diesem Schema auch bei K. Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle / Th. Söding / M. Labahn (Hgg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 9-31. <?page no="197"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 197 gerwerke es getan haben - zu integrieren, aus unterschiedlichen Erwägungen heraus sachgemäß zu sein. Einerseits im Blick auf den Gehalt der neutestamentlichen Schriften: bestimmte Konzeptionen wie im Bereich der paulinischen Theologie diejenigen der Heiligung, des Lebens im Geist, der sakramentalen Eingliederung in den Christusleib 24 , wie in den synoptischen Evangelien der Stellenwert des Gebots des Herrn oder der Lebenswirklichkeit der Glaubenden in der Christusnachfolge, schließlich im johanneischen Schrifttum diejenige der Liebe von Gott zum Kosmos und der gegenseitigen Bruderliebe (vgl. auch die sog. Immanenzformeln 25 ), sie alle verklammern das oder denken ineinander, was man klassischerweise mit Indikativ und Imperativ zu differenzieren, vielleicht sogar zu trennen versucht. Die gemeinsame Schnittmenge und die gegenseitige Bezogenheit von Theologie und Ethik sind weitaus größer, als in der älteren Literatur angedeutet worden ist. Andererseits erscheint mir die Beschreibung des rettenden Handelns Gottes ausschließlich in seiner Rezeption im Bereich des Glaubens und nicht auch in derjenigen des Lebens und Handelns ein problematisches reduktionistisches Verfahren darzustellen. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Ethik hierbei in eine relative Beliebigkeit entlassen wird oder ganz der individuellen Verwirklichung überlassen wird. Ferdinand Hahns letzter Satz in dem Teil, der das Leben in christlicher Verantwortung darstellt, lautet, daß es „keine Trennung zwischen der Glaubensüberzeugung und der äußeren Lebensgestaltung und Verantwortung geben kann“ ( II , 736). Ich referiere im Folgenden zunächst die wesentlichen Grundentscheidungen Ferdinand Hahns. Neben der Rekonstruktion der Nachfolgeethik Jesu 26 und der nachösterlichen Gemeindeethik 27 gilt ein besonderes Augenmerk der Verhält- 24 U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin / New York 2003, 631, verabschiedet sich gleichfalls von dem ‚Indikativ-Imperativ-Schema‘, überführt allerdings dessen Wahrheitselemente in das Grundmodell ‚Transformation und Partizipation‘; vgl. auch ders., Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001), 58-75; außerdem ders., Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer / M. Meiser (Hgg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), MThSt 76, Marburg 2003, 109-131. 25 K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg 2000. 26 Unter ‚Nachfolgeethik Jesu‘ bzw. ‚Jüngerethik Jesu‘ versteht Hahn diejenige Ethik, die sich „trotz späterer Überlagerungen in den synoptischen Evangelien“ niedergeschlagen hat (II, 659). Sie sei dadurch charakterisiert, dass in ihr „höchste Anforderungen an die Jünger“ gestellt werden, „ohne daß über deren Realisierbarkeit reflektiert wird“. 27 Die Gemeindeethik der nachösterlichen Zeit habe sich in den ermahnenden Teilen der Briefe niedergeschlagen. Sie bemühe sich im Gegensatz zur Jüngerethik um Praktikabilität, „indem sie Rücksicht auf die jeweilige Situation und auf das Durchführbare nimmt“ (II, 659). <?page no="198"?> 198 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik nisbestimmung beider Komplexe zueinander. 28 Beide Einheiten können in ihren Grundzügen rekonstruiert werden und bilden „einerseits Grundprinzipien für eine Ethik und andererseits zahlreiche Texte und Beispiele für deren Anwendung“ ( II , 659). Die Nachfolgeethik Jesu ist in der urchristlichen Gemeindeethik nicht aufgehoben (659). „Die Gemeindeethik setzt die Jüngerethik voraus und nimmt mehrfach expressis verbis darauf Bezug“ ( II , 659 f.). Beide treffen sich in der gemeinsamen Grundintention, die „Erneuerung des menschlichen Lebens in der Nachfolge Jesu bzw. im Glauben“ ( II , 660) zu beschreiben. Deutlicher im Blick auf Jesu Nachfolgeethik: „Jesu Forderungen beziehen sich auf ein Leben in der verwirklichten Gottesherrschaft“ ( II , 661); bzw. im Blick auf die Gemeindeethik: „[…] geht es um Anweisungen zu einem erneuerten Leben angesichts des Heilsanbruchs“ ( II , 669). Es entspricht dem Charakter der Nachfolgeethik Jesu und der urchristlichen Gemeindeethik als Zielbestimmungen ( II , 661), dass „sie nicht uneingeschränkt erfüllbar sind“ ( II , 661). Dennoch ist „eine möglichst weitgehende Realisierung“ ( II , 661, ähnlich auch II , 685) erwartet, andernfalls nähme man den Forderungen Jesu von vornherein jegliche Relevanz. An anderer Stelle spricht Ferdinand Hahn den Forderungen Jesu den „Charakter von Ermutigungen“ zu ( II , 685), keinesfalls aber geht es bei den Realisierungen um eine „Vergesetzlichung“ ( II , 685) oder „Verrechtlichung“ ( II , 686). Im Gegenteil: „Jesu Nachfolgeethik entzieht sich jedoch jeder Form einer Verrechtlichung“ (II, 686). Auch die Gemeindeethik kenne „keinerlei gesetzliche Bestimmungen […], weder im apodiktischen noch im kasuistischen Sinn“ ( II , 687). 3. Das Doppelgebot der Liebe Das „Doppelgebot der Liebe ist Herzstück der Botschaft Jesu und aller neutestamentlichen Ethik“ ( II , 662; auch 670.685). Diese von Ferdinand Hahn bereits an anderer Stelle vorgetragene These 29 macht stutzig, da dieses Doppelgebot außerhalb der synoptischen Evangelien so nicht mehr erscheint. Formal und inhaltlich sei das Doppelgebot „nichts Neues“ ( II , 662), es habe bereits im Judentum vergleichbare Zusammenfassungen der Hauptaspekte der Tora gegeben. Die Zusammenstellung der beiden in der Tora getrennt überlieferten Gebote der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten sei „als solche für Jesus noch nicht eigentlich charakteristisch“ ( II , 663). Nicht aus dem Textbestand an sich sei die Bedeutung des Doppelgebotes innerhalb der Verkündigung Jesu zu klären. Zwar stelle das Doppelgebot eine Brücke zur Tora dar, doch gehe es Jesus „nicht 28 Hahns Darstellung der Ethik wählt, anders als Schrage und Schnackenburg, in Übereinstimmung jedoch mit Lohse, methodisch einen systematisch und nicht einen theologiegeschichtlich orientierten Aufriss (II, 730). 29 F. Hahn, Begründung, (s. Anm. 21), 95. <?page no="199"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 199 primär um die weiter bestehende Gültigkeit von Geboten der Tora, sondern um die Funktion dieser beiden Gebote im Zusammenhang mit der anbrechenden Gottesherrschaft“ ( II , 664 f.). Da das Doppelgebot der Liebe zum Kriterium aller Einzelbestimmungen gemacht wird, komme der ursprüngliche und endgültige Wille Gottes wieder in Blick. Vom Doppelgebot ausgehend, habe „Jesus sich daher nicht gescheut, auch den Wortlaut der Tora anzutasten“ ( II , 668). Ferdinand Hahn belegt dies an den Antithesen der Bergpredigt, in denen „Gebote wegen der angebrochenen Gottesherrschaft in einer Weise radikal verstanden (werden), wie das die jüdische Gesetzesauslegung so nicht kennt“ (Verbot des Tötens, des Ehebruchs und Gebot der uneingeschränkten Feindesliebe). Gleichzeitig erweisen sich überdies „Gebote aufgrund der konsequent verstandenen Liebe als überflüssig“ (Ehescheidung, Schwur und Wiedervergeltung) ( II , 665). Aber nicht nur innerhalb der Gebote, die das Verhalten zum Mitmenschen betreffen, findet dieses Kriterium Anwendung, sondern auch in Geboten, die das Verhältnis zu Gott betreffen. Da der Sabbat im Licht des Eschaton verstanden wird, kann Jesus sich über die geltende Sabbathalacha hinwegsetzen. 30 Das Liebesgebot wird folglich dem Kontext der Treue zur Tora entnommen und der Unmittelbarkeit zu Gott zugeordnet. Das Gebot der Liebe zum Nächsten ist von Jesus konsequent im Sinn der Feindesliebe verstanden worden“ ( II , 665). Insofern bieten der Abschnitt der lukanischen Feldrede zum Verzicht auf Wiedervergeltung (Lk 6,27-36) und die entsprechende sechste Antithese der matthäischen Bergpredigt die „genuin jesuanische Interpretation des Gebots der Nächstenliebe“ ( II , 666). Das Doppelgebot der Liebe begegnet im Neuen Testament ausschließlich in Mk 12,28-34 und den sich hierauf beziehenden synoptischen Parallelen in Mt 22,34-40 und Lk 10,25-29. Als Einzelgebot ist das einfache Gebot der Nächstenliebe vielfach bezeugt, aber das von Ferdinand Hahn als so zentral betrachtete Doppelgebot der Liebe wird in der Briefliteratur explizit nicht aufgenommen. Gleichwohl sei „das Doppelgebot von entscheidender Bedeutung für die ethische Unterweisung der Gemeinde geblieben“ ( II , 670). Die Rezeption beziehe sich teilweise auf einen Teil des Doppelgebots, etwa auf die Liebe zu Gott im 1. Johannesbrief, oder löse den Ruf zur Liebe Gottes durch den Glauben an Jesus Christus ab oder übertrage das Motiv der Liebe zu Gott auf die Liebe an den Offenbarer Jesus Christus ( II , 671). Alles, was zur Nachfolgeethik Jesu zu sagen ist, wird vom Doppelgebot her entfaltet, aber zugleich so, dass der ursprüngliche Schöpferwille wieder Bedeutung gewinnt ( II , 685). Richtungsweisend sei 30 Der Stellenwert der Infragestellung des Wortlauts der Tora und der Verletzung der Halacha kommt nach Hahn auch darin zum Ausdruck, dass beides „im Prozeß Jesu eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben“ dürfte (II, 668). <?page no="200"?> 200 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik „die von Jesus gedeutete Tora mit dem doppelten Liebesgebot als ihrer Mitte“ ( II , 685). Der Sache nach blicke auch Paulus auf das Doppelgebot, wenn er in Röm 8,4 die Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes unter den Christen erwähnt. Hier gehe es nicht mehr um den Buchstaben des Gesetzes, sondern um das Zentrum der Tora, nämlich um das Liebesgebot ( II , 681). Mehrfach wird betont: die Forderung der Tora ist in der Verkündigung Jesu nicht aufgehoben, sie wird aber vom Doppelgebot her neu verstanden ( II , 683). Meine Rückfrage bezieht sich zunächst auf die beiden Grundthesen: a. Jesus habe das Doppelgebot zum Kriterium aller Einzelbestimmungen gemacht und die urchristliche Gemeindeethik sei darin gefolgt; b. der im Doppelgebot enthaltene ursprüngliche und endgültige Gotteswille führe über die Bestimmungen der Tora hinaus. ad a) Würden wir das in der Jesusforschung erprobte Kriterium der Mehrfachbezeugung auf das Neue Testament insgesamt anwenden, müssten wir wohl eher von einer Randstellung des Doppelgebots sprechen. Das Doppelgebot ist ausschließlich durch Markus an die Seitenreferenten weitergegeben worden, gemeinsame Abweichungen derselben gegen Markus führen nicht auf eine zweite Fassung des Doppelgebots, etwa in der Logienquelle. 31 Nicht unproblematisch scheint mir die Entscheidung, sich nicht an dem faktischen Vorkommen des Wortbestandes des Doppelgebots zu orientieren, sondern an der intendierten Sache. Es fällt daher schwer, von einer Rezeption innerhalb der gesamten urchristlichen Ethik zu sprechen ( II , 670), solange wir uns im strengen Sinn auf das Doppelgebot und nicht auf das Nächstenliebe- oder das Gottesliebegebot beziehen. Die von Ferdinand Hahn angeführten neutestamentlichen Belege für ‚Gott lieben‘ stellen doch oftmals nicht mehr als eine stereotype Bezeichnung für die ‚Glaubenden‘ dar und haben keinen Bezug zum Doppelgebot. Die johanneische Rede von der Gottes- und Bruderliebe steht auch nicht in einer direkten Fluchtlinie zum Doppelgebot, da im johanneischen Schrifttum der Nächste eben nicht ausweitend auf den Feind, sondern eingrenzend auf den Bruder fixiert wird. Auch meine ich, dass die Liebe zum Offenbarer Jesus Christus nicht einfach mit der Gottesliebe zu verrechnen ist ( II , 671). Im Doppelgebot der Liebe ist eben - unbeschadet aller gedanklichen Voraussetzungen im zeitgenössischen Judentum - doch eine erhebliche Zuspitzung erreicht worden, insofern zwei Gebote der Tora als das eine 31 So auch, mit ausführlicher Darlegung des Befunds und vorsichtiger Auswertung: U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18-25), EKK I / 3, Neukirchen 1997, 270 f. <?page no="201"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 201 und in seinen beiden Teilen gleichrangige Doppelgebot ausgegeben und dieses wiederum als erstes bzw. als höchstes Gebot der Tora benannt wird, dem eine Sonderstellung gegenüber Tora und Halacha zukommt, was in den einzelnen Fassungen der Synoptiker in unterschiedlicher Hinsicht festgehalten worden ist. Die Funktion des Doppelgebotes besteht folglich in einer Interpretation des Anspruchs der Tora, zunächst aber nicht darin, eine Plattform für eine positive Ethik zu formulieren. Ferdinand Hahn geht selbstverständlich von der Herkunft des Doppelgebots von Jesus aus, obwohl dies, wie Ulrich Luz durchaus stellvertretend für viele Exegeten sagt, „nach heutiger Erkenntnis mehr als unsicher“ ist. 32 Es ist eher wahrscheinlich, dass die erstmalige Zusammenstellung des Doppelgebots in der Form eines Streitgesprächs sich der Apologetik der judenchristlichen Gemeinde verdankt, wobei sie durchaus eine grundlegende Intention der Verkündigung Jesu aufgenommen haben wird. Wir müssen also ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen, dass der frühen Gemeindeethik, die etwa in der paulinischen Briefliteratur begegnet, die Vorstellung eines Doppelgebots der Liebe noch gar nicht bekannt war. Von Bruder- und Nächstenliebe, auch unter formaler Bezugnahme auf Lev 19,18 (in Gal 5,14; Röm 13,9), spricht Paulus jedenfalls häufig. Es ist nicht ersichtlich, weshalb er die Gottesliebe als altera pars nicht thematisiert haben soll, wenn „das Doppelgebot von entscheidender Bedeutung für die ethische Unterweisung der Gemeinde geblieben“ (II, 670) sein soll. Aber auch dann, wenn man sich nicht auf das Doppelgebot bezieht, sondern das Vorkommen des Nächstenliebegebotes in der frühchristlichen Ethik untersucht, wird man von dem Ansatz einer prägenden Vorgabe innerhalb der Verkündigung Jesu und einer Rezeption innerhalb der Gemeindeethik in dieser Form abrücken müssen. Bereits der früheste Gemeindebrief, der 1 Thess enthält in 1,3; 3,11-13; 4,9-12; 5,8.13 klare Mahnungen zur ἀγάπη. Es ist allerdings an keiner Stelle erkennbar, dass er direkt von der Jesustradition beeinflusst ist. Im Gegenteil, 1 Thess 4,9 führt die Mahnung zur φιλαδελφία auf eine Weisung des Geistes zurück und schließt sich sprachlich nicht an Lev 19,18 als Vorgabe des Liebes- 32 U. Luz, Matthäus (s. Anm. 31), 277. Auch J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27-16,20), EKK II / 2, Neukirchen 1979, 167, erachtet es als „unwahrscheinlich, daß sie [die Perikope; fwh] eine Episode aus dem Leben des irdischen Jesus überliefert.“ T. Söding, Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik, NTA 26, Münster 1995, 37, erkennt im Doppelgebot die ipsissima intentio Jesu, während die gegenwärtige Gestalt der Texte nur als Ergebnis eines längeren Redaktionsprozesses verständlich zu machen sei. <?page no="202"?> 202 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik gebotes Jesu an. 33 Dies alles besagt für eine Darstellung einer urchristlichen Ethik auch, dass die entscheidende Grundlage der Paränese nicht in der Vorgabe des Doppelgebots und folglich auch nicht in einem Gebot Jesu gelegen hat. ad b) In welchem Verhältnis steht das Doppelgebot bzw. das Liebesgebot zur Tora und welche Bedeutung hat diese Verhältnisbestimmung für die Gestalt einer Ethik des Neuen Testaments? Nach Ferdinand Hahn besteht im Blick auf Paulus „ein grundsätzlicher Unterschied, ob die Tora bei der Heilsverwirklichung Bedeutung besitzt oder im Blick auf die Verantwortung der Glaubenden in der Welt“ ( II , 681). Hinsichtlich der Ethik ist die Tora „bleibender Ausgangspunkt, auch wenn sie erheblich modifiziert wird“ ( II , 681). Grundsätzlich gilt, dass die Forderung des Gesetzes auch für die Christen „bleibende Gültigkeit“ hat ( II , 681) und erfüllt werden kann, da die Sünde überwunden ist. Gleichzeitig aber bezieht sich die Erfüllung der Forderung der Tora nicht mehr auf den Buchstaben, sondern auf das Zentrum, auf das Liebesgebot. Paulus bietet also eine Zusammenfassung der Gebote der Tora 34 im Liebesgebot, so dass im Bereich der mit dem Geist begabten christlichen Gemeinde die Forderung der Tora erfüllt wird. 35 Diese Zusammenfassung der Tora auf das eine Gebot der 33 So auch T. Söding, Liebesgebot (s. Anm. 32), 99. 34 F. Hahn spricht von einer Zusammenfassung „alle(r) Einzelgebote des Dekalogs und damit der Tora“ (II, 355), von einer Zusammenfassung der „Gebote des Dekalogs und alle(r) anderen Satzungen“ (II, 682). Welcher Charakter kommt den Kategorien ‚Zusammenfassung‘ und ‚erfüllen/ πεπλήρωκα‘ zu? Ich verstehe seine Ausführungen so, dass im Blick auf die Christen die Tora im Liebesgebot zusammengefasst wird, so dass, wo immer das Liebesgebot erfüllt wird, ein Christ faktisch die Forderung der Tora erfüllt hat, er zugleich aber von weitergehenden Forderungen der Tora (neben dem Liebesgebot) befreit ist; so auch völlig entsprechend etwa U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK VI / 3, Neukirchen 1982, 68. Die christliche Gemeinde erfüllt damit kraft ihrer Geistbegabung die Forderung der Tora, wenn auch in der Gestalt ihrer Zusammenfassung im Liebesgebot. K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 272, wendet sich wohl mit Recht gegen eine gelegentlich vertretene Sicht, der zufolge es zu einer Extrapolation des Liebesgebotes aus der Tora bzw. einer Entgegensetzung beider Größen kommt: „Verbreitet, aber durch den Text nicht gedeckt ist die Auffassung, daß das Liebesgebot nach Paulus die konkreten Einzelgebote ersetzt und überflüssig macht.“ Unverständlich bleibt für mich allerdings sowohl die Vermutung, dass für Paulus „die überlieferten mosaischen Gebote nichts anderes sind als Entfaltungen des Gebotes der Nächstenliebe“ (153), als auch die Röm 8,4b zuwiderlaufende Vermutung, dass „Paulus nicht damit rechne, daß jemand die von ihm aufgestellte Regel tatsächlich erfüllt“. 35 Die von Ferdinand Hahn unterbreitete These einer bleibenden Gültigkeit der Forderungen der Tora für die Christen, wenn auch in Gestalt einer Zusammenfassung dieser Forderungen im Liebesgebot, wird in der exegetischen Diskussion von vielen nicht geteilt. Gegenüber a) einer radikalen Ablehnung eines jeglichen Anspruchs der Tora auf das Verhalten der Christen werden unterschiedliche Modelle diskutiert, die b) von einer un- <?page no="203"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 203 Liebe ist grundsätzlich, wenn auch mit Differenzen im Detail, in Röm 8,4; 13,8-10; Gal 5,14 bezeugt. Diese Verknüpfung wird da vollzogen, wo Paulus insbesondere mit jüdischen oder judenchristlichen Gesprächspartnern argumentiert. Die sprachlichen Formen und sachlichen Vernetzungen des Liebesgebotes sind breiter und können nicht ausschließlich auf eine Rezeption der atl. Vorgabe reduziert werden. Es sollte daher beachtet bleiben, dass Paulus das Liebesgebot nicht ausschließlich (über Lev 19,18) mit der Tora verbindet. In 1 Thess 4,9 orientiert er sich mit φιλαδελφία begrifflich an hellenistischer Bruderliebe und in 1 Kor 13 stellt die Wertepriamel keinen Bezug zum atl. Liebesgebot her. Selbst in Gal 5-6 wird der alttestamentliche Bezugspunkt (5,14) durch Einführung des neuen Begriffs ὁ νόμος τοῦ Χριστοῦ (6,2) substituiert, wiewohl es in beiden Textstellen Gal 5,14 und 6,2 um nichts anderes als das Liebesgebot geht. 4. Besonderheiten der urchristlichen Gemeindeethik Die Gemeindeethik habe sich „vermutlich erst im griechisch-sprachigen Bereich der Urchristenheit ausgebildet“ und sei - eine für mich etwas überraschende Feststellung - „zur Zeit der Abfassung der paulinischen Briefe bereits voll ausgeprägt“ gewesen ( II , 669). 36 Dies würde bedeuten, dass innerhalb weniger Jahre, etwa bis zur Zeit des Apostelkonvents, eine grundlegende Neuorientierung stattgefunden hat, auf die sich Paulus dann in seinen Briefen bereits beziehen kann. Hinsichtlich weniger Grundentscheidungen in den Gemeinden wird man dem zustimmen können. Hierbei denke ich etwa an den unstrittigen Rang des Liebesgebots oder an die wohl im Zusammenhang der Tauftheologie stehende Forderung der Heiligung. Beide Themen sind in großer Breite fast im gesamten gebrochenen Gültigkeit der Tora für Judenchristen, ja c) selbst für Heidenchristen bzw. d) von einer auf das Liebesgebot (und den Dekalog) reduzierten Zusammenfassung im Blick auf Heidenchristen ausgehen. Die unter Punkt c) genannte Position wird etwa von K. Finsterbusch, Die Thora als Lebensweisung für Heidenchristen. Studien zur Bedeutung der Thora für die paulinische Ethik, StUNT 20, Göttingen, 1996, vertreten; vgl. auch auf S. 11-13 die knappen Hinweise aus der Forschungsgeschichte. Ich habe verschiedentlich eine Sicht dargelegt, die derjenigen Ferdinand Hahns weitgehend entspricht: F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, FRLANT 154, Göttingen 1992, 369; ders., Wandel im Geist. Zur pneumatologischen Begründung der Ethik bei Paulus, KuD 38 (1992), 149-170. 36 Es ist eine gewisse Tendenz nicht zu verkennen, den Aspekt des Normativen mit der gegebenen Tradition zu verbinden. Dies betrifft nicht nur die Gemeindeethik (s. o.), sondern auch die Jüngerethik Jesu, deren „bleibende Bedeutung“ (II, 669) in den synoptischen Evangelien zu erkennen sei. Daher betont Hahn den „vorösterlichen Grundstock“ (II, 660). <?page no="204"?> 204 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik neutestamentlichen Schrifttum bezeugt. Eine Durchsicht durch die paulinischen Briefe zeigt aber doch, dass in materialethischer Hinsicht in den hellenistischen, aus Juden- und Heidenchristen bestehenden Gemeinden in wesentlichen Fragen Normen erst gefunden werden mussten, da das die Gemeinden nach wie vor bestimmende pagane und jüdische Ethos in bestimmten Sachfragen unterschiedliche Orientierungen ermöglichte. Die christlichen Gemeinden repräsentierten zudem keine gruppenkonforme Gestalt, sondern setzten sich aus jedem Geschlecht und Alter, aus sozial inhomogenen und religiös uneinheitlich geprägten Gruppen zusammen. Auch wenn die alle verbindende gemeinsame hellenistische Kultur bereits manches ehedem Trennende entschärft hatte, stand vor allem im Bereich der Familien- und Sexualethik eine Normenfindung erst noch an. Etliche Formen ethischer Unterweisung (Haustafeln: Kol 3,18-4,1; Eph 5,22-6,9; Ständeethik: 1 Petr 2,18-3,7; Lk 3,10-14; Zwei-Wege-Lehre: Mt 7,13 f.; 2 Petr 2,15; Did 1,1) oder Themen (Witwenfrage: 1 Tim 5,3-16; Arbeitsethik: 2 Thess 3,6-12; Apg 20,34 f.; Verhältnis zum totalitären römischen Staat: Offb 13 u. a.) begegnen schließlich erstmals in spätneutestamentlichen Schriften. Nach meiner Einschätzung ist das Neue Testament daher eher als ein Dokument zu lesen, in dem zunehmend ethische Konflikte angesprochen und unterschiedliche Lösungen unterbreitet werden, als dass sich die Mehrheit der neutestamentlichen Schriften auf eine Gemeindeethik zurückbeziehen könnte, die im Wesentlichen bereits zeitlich vor der Abfassung dieser Schriften ausgeprägt gewesen sei. Ein zweiter „Grundtext für die neutestamentliche Ethik“ ( II , 679) neben dem Doppelgebot der Liebe sei mit Röm 12,1 f. gegeben. 37 Trefflich spricht Ferdinand Hahn von einer kühnen Aussage ( II , 680), wenn den Glaubenden die Fähigkeit zugesprochen wird, den Willen Gottes erkennen zu können. Hierbei beziehe sich der Apostel nicht auf eine allgemeine Vernunftbegabung, sondern spreche den in der Taufe erneuerten νοῦς an. Die Verwandlung sei unabgeschlossen, sie vollziehe sich „in einem fortdauernden Prozeß“ ( II , 679). Die Kardinalstellung dieses Verses begründet sich somit aus der folgenden sachlichen Verdichtung: „Das Widerfahrnis des Heils, die innere Verwandlung und die Freiheit zur Erfüllung des Willens Gottes sind für Paulus die entscheidenden Merkmale für die konkreten Ermahnungen“ ( II , 680). Die Darstellung des Lebens in christlicher Verantwortung (Ethik II ) thematisiert neben einem einleitenden Abschnitt zur Gestalt der neutestamentlichen 37 Diese Einschätzung wird seit Ernst Käsemanns Beitrag, auf den sich Hahn (II, 679) erneut bezieht, immer wieder vorgetragen. Am intensivsten scheint mir dieser Text im Blick auf die Ethik bei H. D. Betz, Das Problem der Grundlagen der paulinischen Ethik, ZThK 85 (1988), 199-218; wieder abgedruckt in: ders., Paulinische Studien. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 1994, 184-205, ausgewertet worden zu sein. <?page no="205"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 205 Ethik und einem Schlussabschnitt zum Gesamtcharakter der neutestamentlichen Ethik vor allem drei Bereiche: a. das Leben des einzelnen Christen; b. das Leben in Gemeinschaft und c. das Leben in den Ordnungen der Welt. Während im letzten Abschnitt mit Mann und Frau (Ehe und Ehescheidung, Ehelosigkeit, Homosexualität, Unzucht), Stellung der Kinder, Verhältnis von Sklaven und Herren, Verantwortung gegenüber Außenstehenden bzw. dem Staat eher klassische Themen der Ordnungsethik zur Sprache kommen, werden im Bereich der Individualethik mit Gebet, Fasten, Verzicht, Schwören, Sorglosigkeit, Selbstbeherrschung und Geduld sowie im Bereich der Sozialethik mit Schutz des Lebens, Versöhnung und Vergebung, Einheit und Aufbau der Gemeinde, Hilfsbereitschaft und Fürsorge für die Armen Aspekte angesprochen, die in etlichen Darstellungen neutestamentlicher Ethik gar nicht oder nicht hinreichend gewürdigt werden, die aber insbesondere in der kirchlichen Rezeption stets Grundlage einer Lebensordnung waren. Befragt nach der Eigenart neutestamentlicher Ethik, benennt Ferdinand Hahn zunächst als „wesentliches Kennzeichen der ethischen Weisungen Jesu wie der urchristlichen Ermahnungen […] das Fehlen jeder Gesetzlichkeit“ ( II , 731). 38 Es gehe in der Jüngerethik Jesu und in der urchristlichen Gemeindeethik „um eine Ethik der Freiheit“, zugleich um „eine Ethik der Liebe“ ( II , 731; vgl. auch II , 688). Eine christliche Ethik ermutige „zu freien und von echter Liebe getragenen Entscheidungen“ ( II , 731). Gerade weil die Christen aufgefordert werden, den Willen Gottes zu prüfen (Röm 12,2b), ist ihrer verantwortlichen Entscheidung ein Raum der Freiheit eröffnet ( II , 688). Allerdings biete die neutestamentliche Ethik gegenüber einer reinen Situationsethik „eindeutige Grund- und Grenzbestimmungen sowie klare Richtungsangaben für das Handeln“ (II, 736). Grundsätzlich seien alle neutestamentlichen Weisungen, ganz gleich, ob sie sich eines jüdischen, paganen oder bereits spezifisch christlichen Untergrundes verdanken, „Orientierungshilfen“ (II, 736). Wohl auch Grenzen, vornehmlich aber Wegweiser seien im Neuen Testament aufgerichtet ( II , 688). Die Frage der Praktikabilität der neutestamentlichen Weisungen, vor allem im Bereich der Jüngerethik, 38 Man könnte die Gegenfrage stellen, ob etwa die sog. Sätze heiligen Rechts in der Jesusüberlieferung sowie Rechtssätze in der Gemeindeethik (Mt 18,15-20; Apg 5,1-11; 1 Kor 5,7; Judas 20-23 u. a.) nicht doch eine Grenze der Gemeinde ansprechen und somit eine Kasuistik eintragen. Im Blick auf die sog. Radikalismen Jesu urteilt Hahn (II, 731): „Jesu Forderungen sind in diesem Sinn überhaupt nicht rezipierbar; sie stehen gerade in ihrer Radikalität jenseits der Möglichkeit zu einer Verrechtlichung.“ <?page no="206"?> 206 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik wird folglich bewusst von dem Aspekt der absoluten Realisierbarkeit 39 getrennt. Da Jesu Forderungen sich auf das Leben in der verwirklichten Gottesherrschaft beziehen und gegenwärtig als Zielbestimmungen fungieren ( II , 661), wollen sie also weder im Sinne des usus elechthicus der Sündenerkenntnis noch im Sinne des tertius usus legis als gesetzliche Vorgabe für Christen aufgefasst werden. Auffallend sei schließlich, dass kultische Verpflichtungen völlig fehlen, da das Urchristentum dem Opfer eine neue Bedeutung gegeben habe ( II , 732). Ferdinand Hahn schließt den ethischen Teil mit der Bemerkung zum Stellenwert der Liebe, dass sie „in gleicher Weise Zeugnis für den christlichen Glauben wie das Bekenntnis“ ablege (II, 735). Eine Trennung zwischen der Glaubensüberzeugung und der äußeren Lebensgestaltung sei folglich neutestamentlichem Denken und einem sich hierauf gründenden christlichen Leben fremd. 5. Anfragen und Würdigung Die folgenden Überlegungen möchten in großem Respekt vor der exegetischen und theologischen Leistung sowohl Anfragen als auch eine Würdigung abschließend formulieren: a. Der Brückenschlag zwischen Jüngerethik Jesu und urchristlicher Gemeindeethik scheint mir konstruiert zu sein, wenn es heißt, die Gemeindeethik setze die Jüngerethik Jesu voraus und nehme „mehrfach expressis verbis darauf Bezug“ ( II , 660). Ohne die an anderer Stelle bereits breit geführte Diskussion hier nochmals wiederholen zu wollen, möchte ich doch festhalten, dass etwa die paulinische Gemeindeethik fast ganz ohne Worte Jesu bzw. einen expliziten Bezug auf ein Wort Jesu auskommt. Ein Bezug auf die Jüngerethik, ausgewiesen durch gemeinsames Gut mit synoptischen Texten, begegnet höchst selten und kann im Einzelfall zumeist nicht eindeutig als Reflex auf synoptisches Gut verifiziert werden. 40 Erst in spätneutestamentlicher Zeit nimmt die Orientierung an den Worten und der Autorität des Kyrios zu, auch durch die Einführung der Gattung ‚Evangelium‘, ohne sich hierbei allerdings ausschließlich an Worte des Irdischen zu binden (vgl. z. B. Apg 20,35; 2 Thess 3,6 u. a.). Selbst die Logienquelle, deren Verschriftlichung wohl nur wenige Jahre vor den Evangelien stattgefunden hat, bildet in ethi- 39 „Es geht um eine möglichst weitgehende Realisierung, soweit diese unter den irdischen Bedingungen möglich ist“ (II, 661). 40 Einen ausgezeichneten Überblick bietet F. Neirynck, Paul and the Sayings of Jesus, in: ders., Evangelica II, BEThL 99, Leuven 1991, 511-568; N. Walter, Paulus und die urchristliche Jesustradition, NTS 31 (1985), 498-522, zeigt immerhin, dass Paulus, wenn überhaupt, dann ausschließlich in ethischen Argumentationen auf Jesustradition zurückgreift. <?page no="207"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 207 scher Hinsicht keine Brücke zwischen Jüngerethik und früher, durch Paulus repräsentierter Gemeindeethik. 41 Demzufolge will es eher so scheinen, als beziehe sich die Gemeindeethik in einem sekundären Schritt auf die Autorität des Herrn, jedoch selbst dann nicht wirklich auf die aus synoptischen Texten bekannte Jüngerethik Jesu. Überdies seien Jüngerethik und Gemeindeethik, so Ferdinand Hahn, durch die gemeinsame Grundintention verbunden, nämlich „die Erneuerung des menschlichen Lebens in der Nachfolge Jesu bzw. im Glauben“ zu bezeugen ( II , 660). Man wird, um diese Aussage angemessen aufnehmen und würdigen zu können, grundsätzlich die Einschätzung Ferdinand Hahns auf den Schlussseiten der Theologie im Blick behalten müssen, um diese positive Zuordnung verstehen zu können: „Die Divergenzen stehen in einem Gesamtrahmen, bei dem die Konvergenzen eindeutig dominieren“ ( II , 805). 42 Mit dieser Option geht Ferdinand Hahn dem ungelösten Grundproblem der rein redaktionsgeschichtlich orientierten Theologien aus dem Weg, die bei der Darlegung der Einzelstimmen im Neuen Testament stehen bleiben, jedoch eine Mitte oder etwas Verbindendes schwerlich benennen können. Dürfen aber Jüngerethik und Gemeindeethik so bruchlos einander zugeordnet werden? Erkauft erscheint mir die Möglichkeit dieser Lösung, indem die ethische Verkündigung Jesu auf das „Herzstück der Botschaft Jesu und Grundlage aller neutestamentlichen Ethik“ ( II , 662), also auf das Doppelgebot der Liebe reduziert wird. Besteht hier nicht doch die Gefahr, die Verkündigung Jesu konturenlos nachzuzeichnen und sie unter einen übergroßen gemeinsamen Nenner zu subsumieren, um sie anschlussfähig zu halten? Die Radikalismen Jesu etwa sind mehrheitlich nicht in der Gemeindeethik rezipiert worden, wohl aber bei Randgruppen des frühen Christentums. Wie kommt in einer Darstellung der Theologie des Neuen Testaments, die auf Konvergenzen achtet, das zur Sprache, was neben dem sog. Mainstream existierte? 41 Ferdinand Hahn orientiert seine Darstellung in der Regel an den Endfassungen der Evangelien und übergeht deren Vorlagen, zu denen im Blick auf Matthäus und Lukas die Logienquelle gehört; zur historischen und theologiegeschichtlichen Einordnung: M. Frenschkowski, Galiläa oder Jerusalem? Die topographischen und politischen Hintergründe der Logienquelle, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 535-559. 42 Hahn erkennt des Weiteren in der neutestamentlichen Briefliteratur ein paränetisches Grundschema mit den Elementen: Rückbezug auf die Taufe, Liebesgebot und eschatologischer Ausblick (II, 692). Ich weise an dieser Stelle auf eine weitgehende Entsprechung zu W. Schrage, Ethik (s. Anm. 6), 348, hin: „Auffallend ist freilich, daß sich trotz aller Akzentverlagerungen, Verschiebungen und Fehlentwicklungen die Ränder und Grenzen auf dem Felde neutestamentlicher Ethik weniger stark aufdrängen als sonst, der neutestamentliche Konsens also breiter als üblich zu sein scheint.“ <?page no="208"?> 208 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik b. Ein zweites zu diskutierendes, von Ferdinand Hahn durch eine eindeutige Option für die Disziplin ‚Theologie des Neuen Testaments‘ gelöstes Problem erkenne ich in methodischer Hinsicht. Kann eine neutestamentliche Ethik, die sich dezidiert ausschließlich am Kanon orientiert, in ihrem Gehalt verantwortlich rekonstruiert werden, ohne nicht zugleich sozial- und literaturgeschichtlich die historischen Bedingungen aufzuarbeiten? Wir stoßen damit möglicherweise auf ein Grundproblem dieser Theologie des Neuen Testaments, das sich in den direkt theologischen Abschnitten ähnlich stellt. Wie im Vorwort festgehalten worden ist, hat sich der Verfasser dazu entschieden, „auf die Erörterung religionsgeschichtlicher Fragestellungen“ (I, S. VIII ) zu verzichten. Kann eine Theologie rekonstruiert werden, die nicht den allgemeinen Rahmen der antiken Religionsgeschichte im Blick hat, und vice versa eine Ethik, die nicht vornehmlich die sozialgeschichtlichen, aber auch die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen thematisiert, die das weitere frühchristliche Schrifttum (Apostolische Väter, Thomasevangelium etc.) und alle literaturgeschichtlichen Voraussetzungen bedenkt? Es wäre bei einer davon abweichenden Vorgehensweise zu befürchten, dass die historische Tiefenschärfe vernachlässigt wird, vielleicht sogar in der Absicht, den grundsätzlichen Anspruch der ethischen Forderung der historischen Kontingenz zu entziehen. Die Debatte ‚Religionsgeschichte des frühen Christentums versus Theologie des Neuen Testaments‘ (vgl. I, 18) findet somit eine Parallele in der Diskussion ‚Urchristliche Sozialgeschichte versus Ethik des Neuen Testaments‘. Gegenstände des dort ausgetragenen Streits, etwa die Fragen der prinzipiellen Vorordnung des Kanons und seines normativen Gewichts, die Suche nach einer Mitte des Kanons im Gegenüber zu heterodoxen Positionen u. a., all diese kehren hier wieder. 43 Es sollte möglich sein, Einsichten und Argumente, die in der vorgängigen Debatte über das Verhältnis ‚Theologie des Neuen Testaments versus Religionsgeschichte des frühen Christentums‘ gewonnen wurden, auf die jetzt anstehende Diskussion ‚Urchristliche Sozialgeschichte versus Ethik des Neuen Testaments‘ einzubringen. Hierzu zähle ich etwa die Neuorientierung an einem Begriff der Religion als eines kulturellen Zeichensystems. 44 In diesem Kontext geht sozialgeschichtliche Exegese über die historische Beschreibung antiker ökonomischer Vorgänge hinaus und verknüpft ethische und religiöse Aspekte. Gleichwohl erkenne ich keine Möglichkeit, urchristliche Sozialgeschichte und Ethik des Neuen Testaments 43 Vgl. den Überblick über die strittigen Punkte in den jeweiligen Programmen bei G. Theißen, Religion (s. Anm. 17), 17-19. 44 Abermals G. Theißen, Religion (s. Anm. 17), 20-28; beispielhaft durchgeführt ist solch eine Verknüpfung bei G. Guttenberger Ortwein, Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 39, Freiburg, CH / Göttingen 1999. <?page no="209"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 209 zu verbinden oder gegenseitig zu integrieren, aber auch kein Recht, einer der beiden Fragestellungen die Legitimation zu versagen. Während die Darstellung der urchristlichen Sozialgeschichte, zugleich um wesentliche Aspekte der Kultur-, Wirtschafts-, Politikgeschichte, der Gender- Forschung, des archäologischen Befundes u. a. ergänzt, von ihrer Herkunft her einer rein historischen Fragestellung methodisch verpflichtet ist 45 , wird eine Darstellung der Ethik des Neuen Testaments, die sich als theologische Darlegung, ja als integraler Bestandteil einer Theologie des Neuen Testaments begreift, nicht bei einer historischen Rekonstruktion stehen bleiben dürfen, sondern von der normativen Setzung des Kanons ausgehend ( II , 24-26) den in den Texten enthaltenen theologischen Anspruch formulieren müssen. Beide Fragestellungen haben jeweils ihr eigenes Recht, sie sind jedoch methodisch klar zu unterscheiden, wie auch ihre hermeneutischen Voraussetzungen divergieren. Beide benennen auch bewusst voneinander abweichende Bezugspunkte. Ferdinand Hahn hat im Blick auf seine Aufgabe stets deutlich gemacht, dass seine Darstellung der Kirche und ihrer Verkündigung dienen will ( II , 24). Dennoch gibt es eine gemeinsame Schnittmenge, was sich im Blick auf die Theologie vom Charakter des Bezugspunktes des Neuen Testaments her verdeutlichen lässt. Würde die Darstellung der Ethik des Neuen Testaments als theologische Aufgabe den historischen Ausgangspunkt, der eben literaturgeschichtlich mit Texten der Antike gegeben ist, verlieren, dann würde sie möglicherweise ungeschichtlich ein biblizistisches Modell der Ethik befürworten, das die vergangenen Lebensäußerungen über ein normatives Bibelverständnis oder eine je aktuelle Betroffenheitsrezeption als gegenwärtiges Gesetz aufnimmt, dabei aber in Wahrheit in völligem Anachronismus eine gegenwärtige Entsprechung zur vergangenen Lebenswelt des frühen Christentums sucht. Das von Ferdinand Hahn gewählte Vorgehen entspricht der im Vorwort formulierten theologischen Zielsetzung, sich konsequent am neutestamentlichen Kanon zu orientieren und nach dem „maßgebenden Zeugnis und dessen Einheit“ für die christliche Botschaft, den christlichen Glauben und die christliche Kirche zu fragen ( II , S. VII ; außerdem bereits I, 28). Dies bedeutet, dass die Darstellung der Ethik sehr deutlich einem fundamentaltheologischen Konzept zugeordnet wird, das nach der theologischen Relevanz des biblischen 45 Ich spreche hier zunächst nur von der Herkunft der sozialgeschichtlichen Fragestellung; vgl. dazu den Überblick bei R. Hochschild, Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung, NTOA 42, Freiburg, CH / Göttingen 1999. Schon W. A. Meeks, Urchristentum (s. Anm. 20), öffnete den Blick auf die Beziehung zwischen Sozialstruktur und Symbolstruktur und öffnete damit der sozialgeschichtlichen Exegese ein hermeneutisches Feld. <?page no="210"?> 210 Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik Gesamtzeugnisses fragt. Da es „keine Trennung zwischen der Glaubensüberzeugung und der äußeren Lebensgestaltung und Verantwortung“ ( II , 736) geben kann, ist auch die Darstellung der Ethik dem Leitgedanken des maßgebenden Zeugnisses verpflichtet. Das methodische Instrument, eine Gewichtung zwischen den einzelnen Themen, zwischen Konvergenzen und Spannungen herbeizuführen, findet Ferdinand Hahn im Zugriff zum sensus plenior bzw. in dem durch Vaticanum II bekannt gewordenen Prinzip der Hierarchie der Wahrheiten (I, 27). Doch orientiert sich die Suche nach dem sensus plenior nicht an einem Kanon im Kanon, sondern führt als Vorklärung ihrer selbst die Unterscheidung von Grundgeschehen (das Offenbarungshandeln in Jesus Christus), Grundzeugnis (das nachösterliche Christuszeugnis, insbesondere in Form der ältesten Bekenntnisaussagen) und Grundüberlieferung (die im Neuen Testament gebotene Explikation des Grundzeugnisses) ein ( II , 34 f.). Dieser historisch gestufte Blick ermöglicht, sowohl das Bleibende und sich Durchsetzende zu erkennen und festzuhalten als auch die jeweiligen Verästelungen anzusprechen und zu würdigen. 46 Die materialethischen Entscheidungen der einzelnen neutestamentlichen Schriften haben in dieser Perspektive nur noch einen relativ normativen Charakter. 47 Vom Zentrum der Liebe ausgehend, „das von Jesus zum Kriterium für alle Verhaltensweisen erhoben worden ist“ ( II , 735), ist Sachkritik auch da zu üben, wo biblische Weisungen nicht der Freiheit dienen. Die Suche nach dem sensus plenior im Neuen Testament findet im Blick auf die Darstellung der Ethik in theologischer Perspektive eine eindrückliche Antwort im Insistieren auf der Vorrangigkeit der Liebe. c. Die Aufnahme der ethischen Fragen innerhalb einer Theologie des Neuen Testaments wird also mit Recht deren theologischen Stellenwert, die wesentlichen Schwerpunkte und Linien, nicht aber die einzelnen materialethischen Ausformungen primär thematisieren können. Diese werden Gegenstand einer ausgeführten Ethik des Neuen Testaments oder sozialgeschichtlicher Untersuchungen bleiben müssen. Es fällt im Blick auf die vorgestellte Verknüpfung von Theologie und Ethik auf, dass Ferdinand Hahn sehr stark Einordnungen oder Einschätzungen bemüht, die von einer spezifischen, am Freiheitsbegriff orientierten evangelischen und zugleich reformatorischen Option gezeichnet sind. Ich möchte dies verdeutlichen an Aussagen über die Verbindlichkeit 46 Der von Hahn eröffnete gestufte Blick trägt zugleich dem Charakter des Neuen Testaments als einer Urkunde Rechnung, in der sich die Orientierungssuche des entstehenden christlichen Glaubens dokumentiert. 47 Im Blick auf die weitgehenden Entsprechungen und Übereinstimmungen mit paganen und jüdischen Konzeptionen aus hellenistischer Zeit ist die Rekonstruktion einer materialethisch als spezifisch christlich ausgewiesenen Ethik ausgeschlossen. <?page no="211"?> Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments 211 ethischer Weisungen. 48 Ferdinand Hahn betont immer wieder „das Fehlen jeder Gesetzlichkeit“ ( II , 731). Dies bezieht sich nicht einmal vorwiegend auf die Rezeption des Alten Testaments. Es gebe auch im Neuen Testament „an keiner Stelle gesetzliche Weisungen“ ( II , 687). Jesu Forderungen sind „keine gesetzlichen Weisungen, sondern Zielbestimmungen“ (II, 688). In der Gemeindeethik gebe es „keinerlei gesetzliche Bestimmungen, weder im apodiktischen noch im kasuistischen Sinn“ ( II , 687). Freilich sei auch keine Situationsethik zu erkennen: „Es gibt bei aller Freiheit in der neutestamentlichen Ethik eindeutige Grund- und Grenzbestimmungen sowie klare Richtungsangaben für das Handeln“ ( II , 736), um im nächsten Satz wieder einzuschränken, dass alle Weisungen „Orientierungshilfen“ seien. Alles in allem erkenne ich bei Ferdinand Hahn im Blick auf ethische Aussagen im Neuen Testament einerseits die Betonung einer eschatologischen Ausrichtung: Ferdinand Hahn spricht von einer „Ethik des Unterwegsseins“ ( II , 686). Andererseits erkenne ich jedoch ebenso deutlich die Betonung einer parakletischen Dimension: die ethischen Weisungen haben den „Charakter von Ermutigungen“ ( II , 685), christliche Ethik sei eine „Ethik der Freiheit“ ( II , 688). 48 Man könnte ergänzend auch darauf verweisen, dass naturrechtliche Argumente oder ein Bezug auf das Gewissen in der Darstellung nahezu ausfallen. <?page no="212"?> 212 Paulus und der Herodianische Tempel Paulus * und der Herodianische Tempel ** Paulus wird mehrheitlich als weiterer Exponent einer frühchristlichen Tempel- oder Tempelkultkritik neben Jesus und dem Stephanuskreis betrachtet, obwohl er in seinen Briefen niemals eine direkte Kritik formuliert. In der Forschung verbindet sich mit dieser Annahme die These einer Opposition, weitergehend auch die einer Substitution des Herodianischen Tempels durch Christus oder durch die Gemeinde. Demgegenber möchte dieser Beitrag aufzeigen, dass Paulus auch als Apostel, etwa in der Ablegung eines Nasiräats, Möglichkeiten der Tempelfrömmigkeit wahrnimmt und dass er angefangen von der Verwendung der Tempelmetapher in der Korintherkorrespondenz (1Kor 3,16; 6,19; 2Kor 6,16) bis hin zum Missionskonzept des Römberbriefs (Röm 15,16) eine positive Zuordnung auch der Heidenchristen zum Tempel sucht. 1. Einführung Die Trennung von Judentum und Christentum vollzog sich in den ersten beiden Jahrhunderten in einem höchst vielschichtigen Differenzierungsprozess. Erschien es der Forschung des 19. Jh. noch plausibel, dass Paulus der Gründer des Christentums gewesen und dass seine unmittelbare Absetzung vom Judentum gleichsam die Wiege des Christentums gewesen sei, so hat zuletzt im Ausgang des 20. Jh. the new perspective on Paul darauf aufmerksam gemacht, dass sowohl die Wahrnehmung des Judentums als auch die Bestimmung des Verhältnisses des Apostels Paulus zu seiner Mutterreligion einer veränderten, auch einer vorurteilsfreieren Sichtweise bedürfen. Mein Vortrag reiht sich in diese Fragerichtung ein und möchte darstellen, welchen Stellenwert der Herodianische Tempel innerhalb der paulinischen Theologie einnimmt. Die Forschung bewegt sich im Blick auf dieses Thema zwischen Extremen: zu nennen sind im Blick auf die überwiegend ältere Forschung einerseits die Stichworte Opposition, Substituierung oder Spiritualisierung, andererseits im Blick auf jüngere Arbeiten mit Anknüpfung oder Fortführung von Tempeltheologie die zumeist positive Verwendung von Tempelmetaphorik. 1 1 Eine knappe Darstellung der genannten Modelle findet sich bei A. L. A. Hogeterp, Paul’s Judaism Reconsidered. The Issue of Cultic Imagery in the Corinthian Correspondence, * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Paulus und der Herodianische Tempel“, pp. 184-203, New Testament Studies , (2007) ©, Cambridge University Press 2007, reproduced with permission. ** Main Paper auf dem 61 st General Meeting der SNTS vom 25.-29. 7. 2006 in Aberdeen. <?page no="213"?> Paulus und der Herodianische Tempel 213 Bedachter und differenzierter als manche Auskunft der Vergangenheit erscheint mir Michael Bachmanns Urteil, demzufolge es speziell bei Paulus „weniger um polemische Abgrenzung als um positive Charakterisierung“ 2 gehe. 3 Meine eigenen Überlegungen zum Thema beziehen sich auch auf frühjüdische und urchristliche Tempeltheologie und sie werden zugleich die Aussagen der Apg deutlicher als zumeist üblich in die Thematik einbeziehen. Es sind im Folgenden zunächst unterschiedliche Ebenen auseinanderzuhalten. Zunächst frage ich nach der von Paulus getroffenen Verhältnisbestimmung der Heidenchristen zum Jerusalemer Tempel und konzentriere mich hierbei auf Aussagen innerhalb der Korintherkorrespondenz. Sodann ist die Tempelfrömmigkeit des Paulus, soweit sie aus der Quellenlage unter Einschluss der Apg zu erheben ist, darzustellen. Beide Themen sind vor dem Hintergrund der These einer zeitgenössischen Tempelbzw. Tempelkultkritik im Judentum und im frühen Christentum zu bedenken. Abschließend möchte ich aufzeigen, welche tempeltheologischen Erwägungen Paulus im Blick auf die Heidenchristen im Kontext seiner letzten Jerusalemreise, der Kollektenreise, im Röm andeutet. EThL 81 (2005) 87-108, hier 88-91. W. Strack, Kultische Terminologie in ekklesiologischen Kontexten in den Briefen des Paulus, BBB 92, Weinheim 1994, weist den Begriff der Spiritualisierung zwar zurück, kommt aber mit seiner Deutung, das Wohnen Gottes in eschatologischer Erfüllung jetzt exklusiv (! ) auf den Bereich der christlichen Gemeinde als Tempel einzugrenzen, dem Modell der Substituierung sehr nahe. 2 M. Bachmann, Tempel III. Neues Testament, TRE XXXIII (2002) 54-65, hier 61; ganz ähnlich, aber wohl unabhängig von Bachmann, zuvor bereits Chr. Böttrich, „Ihr seid der Tempel Gottes“. Tempelmetaphorik und Gemeinde bei Paulus, in: B. Ego / A. Lange / P. Pilhofer, Gemeinde ohne Tempel. Community without Temple: Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, WUNT 118; Tübingen1999, 411-425, hier 422. Anlässlich eines akademischen Festaktes zu Michael Bachmanns 60. Geburtstag wurden von mir erste Vorüberlegungen zum Thema am 30. 01. 2006 an der Universität Siegen vorgetragen. 3 Das Thema ‚Paulus und der Herodianische Tempel‘ wurde nach meiner Einschätzung lange vernachlässigt. Die Arbeit von H. Wenschkewitz, Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe Tempel, Priester und Opfer im Neuen Testament, Angelos.B 4, Leipzig 1932, verhalf der These der Spiritualisierung zum Durchbruch. G. Klinzing, Die Umdeutung des Kultes in der Qumrangemeinde und im Neuen Testament, StUNT 7, Göttingen 1971, bezog erstmals die Schriftrollen aus Qumran in einen Vergleich ein, blieb aber, wohl auch wegen einer aus heutiger Sicht unzureichenden Rekonstruktion essenischer Theologie, bei der These einer Substituierung des Kultes stehen. <?page no="214"?> 214 Paulus und der Herodianische Tempel 2. Heidenchristliche Gemeinden als Tempel Gottes Der Herodianische Tempel hatte völlig analog zu nichtjüdischen Tempelanlagen seiner Zeit eine Aufteilung in einen für die Allgemeinheit zugänglichen Bereich und einen in sich mehrfach gestaffelten, insgesamt aber nur Juden offenstehenden inneren Teil. Während für Judenchristen der Zugang zum Tempel von jüdischen Voraussetzungen her in jeder Form unproblematisch blieb, konnte dieser Tempel nie zu einem religiösen Zentrum für Heidenchristen werden, da sie nach halachischem Maßstab unrein waren und zu den Heiden zählten. 4 Auch wenn es bis zum Vorabend des Jüdischen Kriegs wenige gewollte Relationen dieses Tempels zur heidnischen Welt gab (in der allgemeinen Zugänglichkeit des äußeren Vorhofs, im Gebet für den römischen Kaiser oder in der Annahme heidnischen Geldes, vgl. Jos, Bell II 409), so ist der Herodianische Tempel in religiöser Hinsicht ein exklusiv jüdischer identity marker geblieben. Und doch spricht Paulus die Christen Korinths, sie werden mehrheitlich Heidenchristen gewesen sein, in 1 Kor 3,16-17 und 2 Kor 6,16 als Tempel Gottes (ναὸς θεοῦ), in 1 Kor 6,19 den Leib, gedanklich aber wohl die Leiber (vgl. die abweichenden Lesarten: τὰ σώματα; in V.20 allerdings auch wieder Sing.) jedes Einzelnen als Tempel (ναός) an, und er verbindet dies in 1 Kor 3,16; 6,19 zugleich mit der Vorstellung der Einwohnung des Geistes Gottes, in 2 Kor 6,16 über das Schriftzitat Lev 26,11 mit der Ansage der Wohnstatt Gottes unter seiner Gemeinde (ἐνοικήσω ἐν αὐτοῖς). 5 Zudem verknüpft er an allen drei Stellen Tempelexistenz und Einwohnung des Geistes bzw. Gottes im direkten oder unmittelbaren Kontext mit Aspekten der Heiligkeit der Gemeinde (1 Kor 3,17; 2 Kor 7,1). Die Einleitung der Aussagen mit οὐκ οἴδατε zwingt einerseits nicht notwendig zu der Schlussfolgerung, dass Paulus hier ein den korinthischen Christen bekanntes älteres Wissen in Erinnerung ruft. 6 Im Blick auf diese Adressaten ist es 4 Über den archäologischen und literarischen Befund zu den Warntafeln des Jerusalemer Tempels und über die neuere Diskussion zum Thema in der Sekundärliteratur informiert recht umfassend H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, BZNW 115, Berlin / New York 2002, 332-346. 5 Die Frage nach Authentizität und Integrität des Abschnitts 2 Kor 6,14-7,1 wird hier ausgeklammert. Die Tendenz der neueren Forschung geht deutlich dahin, sowohl Authentizität als auch Integrität für wahrscheinlich zu halten. J. Woyke, Götter, ‚Götzen‘, Götterbilder. Aspekte einer paulinischen Theologie der Religionen, BZNW 132, Berlin / New York 2005, 288-294, hat die Argumente sorgsam vorgestellt und abgewogen. Seinem Vorschlag, die paulinische Verfasserschaft als Arbeitshypothese zu nehmen und auch die Stellung des Abschnitts im Kontext nicht in Frage zu stellen (288), schließe ich mich an. 6 Diese These findet sich in der Sekundärliteratur häufig, auch unter Berufung auf ein ‚Wissen‘ der Korinther, das ihnen in der Gründungspredigt übermittelt worden sei. Doch bedient sich Paulus vor allem im 1 Kor dieses dialogischen Elements (1 Kor 3,16; 5,6; 6,2.3. 9. 15.16.19; 9,13.24; aber auch Röm 6,16; 11,2 u. ö.). <?page no="215"?> Paulus und der Herodianische Tempel 215 wohl nicht mehr als eine rhetorische, auf Dialog bedachte Floskel. 7 Doch muss andererseits die Tempelmetaphorik hier nicht ad hoc von Paulus ad vocem korinthische Gemeinde geschaffen worden sein. 8 Es ist vielmehr die Verbindung der Motive Gemeinde als Tempel Gottes, Einwohnung des Geistes Gottes in ihr und ihre Heiligkeit sowie die sprachlichen Übereinstimmungen 9 , die daran denken lassen, dass Paulus an diesen Stellen eine ihn leitende, wenngleich in der Substanz ältere Vorstellung im Blick auf die korinthischen Christen aktiviert. Für die These, dass diese Motivverbindung weiter zurückreicht 10 , spricht über das Genannte hinaus auch, dass in jedem der drei Belege nur je ein Element eine wirkliche Verknüpfung zum Kontext hat; in 1 Kor 3,16 der Tempel zur Bauthematik, in 1 Kor 6,19 die Heiligkeit zur Sexualethik und in 2 Kor 6,16 das Tempelmotiv zur Götzenpolemik. Das Leitbild in dieser Motivverbindung ist fraglos der Tempel, der die weiteren Motive der Einwohnung des Geistes bzw. Gottes sowie dasjenige der Heiligkeit, aber auch den Aspekt der Vernichtung desjenigen, der dem Tempel Schaden zufügt (1 Kor 6,17), in völliger Entsprechung zu jüdischer Tempeltheologie nach sich zieht. Neben der genannten Motivverknüpfung von Tempel Gottes, Einwohnung des Geistes und Heiligkeit ist eine weitere Akzentuierung anzusprechen. Die Tempelmetapher wird in 1 Kor 3,16 (2. P. Pl.) und in 2 Kor 6,16 (1. P. Pl.) sowie in 1 Kor 6,19 (2. P. Pl.) stets auf die Gemeinde bezogen, nicht auf ein Individuum. Es ist gelegentlich gefragt worden, ob Paulus wirklich in diesen Aussagen in 1 Kor 3,16; 6,19; 2 Kor 6,16 den Jerusalemer Tempel ansprechen möchte oder ob er nicht in einem allgemeinen Sinn Tempelmetaphorik treibt. Andreas Lindemann etwa erkennt hier eine eher allgemeine Anspielung auf die antike Vor- 7 So W. Wuellner, Paul as Pastor. The Function of Rhetorical Questions in First Corinthians, in: A. Vanhoye (ed.), L’apôtre Paul: personnalité, style et conception du ministère, Leuven 1986, 49-77, vor allem 71. 8 So bereits F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur Paulinischen Pneumatologie, FRLANT 154, Göttingen 1992, 66-67. Die gegenteilige These vertritt J. R. Lanci, A New Temple for Corinth. Rhetorical and Archaeological Approaches to Pauline Imagery, Studies in Biblical Literature 1, Berlin 1997, 18, 125, 134 u. ö. Für ihn ist die ad hoc eingeführte Tempel-Metapher eine Verstärkung der Bau-Metaphorik in 1 Kor 3. Bereits D. R. de Lacey, οἵτινές ἐστε ὑμεῖς: The Function of a Metaphor in St. Paul, in: W. Horbury (ed.), Templum Amicitiae, JSNT.SS 48, Sheffield 1991, 391-409, hatte das Tempelmotiv ganz der Baumetaphorik untergeordnet. Der Vergleichspunkt ist daher für Lanci auch nicht der Jerusalemer Tempel, sondern jeder profane Tempel in Korinth. 9 Die Übereinstimmungen zwischen 1 Kor 3,16; 6,19; 2 Kor 6,16 (und Eph 2,22) sind so auffällig, dass sie bei Klinzing, Umdeutung (s. Anm. 3), 191, und bei Strack, Kultische Terminologie (s. Anm. 1), 270, tabellarisch festgehalten worden sind. 10 Ich meine auch, dass etwa die starke Konzentration auf Heiligkeit und Geistbegabung in 1 Thess 4,7-8 ein weiterer Zeuge für die Vorgegebenheit dieser Motivverbindung ist, auch wenn Paulus in 1 Thess die Tempel-Metapher nicht explizit anspricht. <?page no="216"?> 216 Paulus und der Herodianische Tempel stellung eines ἀχειροποίητος ναός, der in der Gemeinde realisiert wurde. 11 John Lanci und ihm folgend Christfried Böttrich verweisen auf die stattliche Anzahl von Tempelbauten in Korinth, die durchaus dienen konnten als „vehicles for promoting central systems of values which served to hold ancient societies together“. 12 Auch betonen sie, dass den Heidenchristen Korinths der Jerusalemer Tempel wahrscheinlich unbekannt war. Aber diese einseitige Bezugnahme auf einen Teil der Rezipienten in Korinth verzerrt das Kommunikationsgefüge. 13 Die Textaussagen enthalten im Übrigen so eindeutige Verknüpfungen mit dem Jerusalemer Tempel, dass die These einer von Paulus intendierten allgemeinen Tempelmetaphorik recht zweifelhaft ist. 14 Es ist, wie gesagt, Paulus, der hier einen Motivbereich seines Denkens aktiviert, der über frühchristliche Ausprägungen zu jüdischen Vorgaben zurückreicht. 15 Es gehört zur besonderen, ja anstößigen, spezifisch paulinischen Adaption des Motivbereichs, dass in ihr die Tempelmetaphorik gerade auf Heidenchristen übertragen wird und nicht auf eine judenchristliche oder jüdische Gemeinde, was ja durchaus Parallelen hatte, etwa in Qumran. Unter den Exegeten, die in dieser Motivverbindung eine weiter zurückreichende Anschauung erkennen, wird die Verortung derselben sehr unterschiedlich bestimmt. Wolfgang Schrage äußert sich kritisch zur oftmals vertretenen These, hier liege katechetisches, lehrhaftes Gut der paulinischen Theologie vor. 16 Vielmehr vermutet er, „die Identifikation der Gemeinde mit dem Tempel sei traditionsgeschichtlich aus der Urgemeinde übernommen worden“. 17 Die Erwartung eines neuen Tempels in der Endzeit sei in der Apokalyptik lebendig, die Übertragung dieser Verheißung auf die Gemeinde jedoch in Qumran bereits vollzogen. Die Urgemeinde habe sich hier angeschlossen, auch aufgrund der Geistausgießung und des end- 11 A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9 / 1, Tübingen 2000, 89. 12 Lanci, Temple (s. Anm. 8), 104; Böttrich, Tempelmetaphorik (s. Anm. 2), 414. 13 Lanci verbindet den Verweis auf profane Tempel mit der weitergehenden Zielsetzung, die These einer Substituierung des Jerusalemer Tempels durch Paulus zurückzuweisen (18, 134 u. ö.). 14 Hierzu zähle ich die Bestimmung des Tempels durch das Genitivattribut zu ναὸς θεοῦ (1 Kor 3,16; 2 Kor 6,16) bzw. in 1 Kor 6,19 durch τοῦ ἐν ὑμῖν ἁγίου πνεύματός ἐστιν οὗ ἔχετε ἀπὸ θεοῦ. Auch die enge Verbindung mit dem πνεῦμα ἅγιον (1 Kor 3,16; 6,19) wie die Verwendung letzteren Begriffes überhaupt finden sich ausschließlich in christlich-jüdischem Sprachgebrauch. 15 Materialreich im Blick auf jüdische und griechisch-hellenistische Tempelmetaphorik bereits R. J. McKelvey, The New Temple. The Church in the New Testament, OTM 3, Oxford 1969. 16 J. Weiß, Der erste Korintherbrief, KEK V, Göttingen 9 1910, 84: „Es muß ein Gedanke der ersten Verkündigung gewesen sein, an den der Ap. hier erinnert“. 17 W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1 Kor 1,1-6,11, EKK VII / 1, Neukirchen 1991, 288. <?page no="217"?> Paulus und der Herodianische Tempel 217 zeitlichen Bewusstseins. Auf eine christliche Vermittlung der Identifikation von Gemeinde und Tempel scheint hingegen Helmut Merklein verzichten zu wollen, wenn er Paulus direkt an die Vorgaben der jüdischen Apokalyptik anschließt und in ihr eine parallele Entwicklung zu Qumran erkennt. 18 Auf den apokalyptischen Hintergrund jedenfalls wird man kaum verzichten können, auch weil nur hier die Übertragung des Tempelmotivs auf die Gemeinde bezeugt ist, während die gelegentlich angeführten stoischen Parallelen eher am Einzelnen orientiert sind. 19 Ich halte es nicht für gänzlich undenkbar, dass die Übertragung der Tempelmetapher bereits in der Jerusalemer Urgemeinde vollzogen wurde. 20 Jedoch zeigen Parallelen im jüdischen Bereich, vor allem in den Schriftrollen von Qumran, dass mit der räumlichen Distanz vom Jerusalemer Tempel erst wirklich ein Sachgrund gegeben war, die Tempelmetapher und weitere kultische Metaphorik auf die von Jerusalem und vom Tempel getrennte Gemeinde zu übertragen. Ich vermute daher, dass die oben besprochene Motivverbindung von Tempel, Geist und Heiligung für Paulus ein Relikt aus früher antiochenischer Zeit ist, in der Judenchristen getrennt vom Tempel lebten. 21 In der Forschung wird häufig die These vertreten, dass in der Qualifizierung einer heidenchristlichen Gemeinde als Tempel Gottes eine Distanzierung, ja eine Substituierung des Jerusalemer Tempels und des Tempelkultes von Paulus oder sogar von der frühchristlichen Theologie, auf die er sich bezieht, intendiert sei. Anna Maria Schwemer geht sogar soweit zu postulieren, dass seit der ersten Wiederkehr des Osterfestes nach dem Kreuzestod Jesu die Urgemeinde die Teilnahme am Passafest beendet habe und dass „in der metaphorischen Verwendung des ‚Tempels Gottes‘ für die christliche Gemeinde … sich der Beginn 18 Helmut Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1-4, ÖTK 7 / 1, Gütersloh 1992, 270-272. Die Annahme einer parallelen Entwicklung in Qumran und im Urchristentum ist viel plausibler als die These einer direkten Übernahme der Vorstellung der ‚Gemeinde als Tempel‘ aus Qumran; so etwa Klinzing, Umdeutung (s. Anm. 3), 210. 19 Deutlich hierzu M. Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor, BZNW 117, Berlin / New York 2003, 280-281 Anm. 407. Wesentliche Belege für die apokalyptische Erwartung des neuen Tempels sind: Ez 37,26-27; Jes 44,28; Jub 1,17.29; äth Hen 90,28-29; 91,13; Test Benj 9,2; Sib III 290; Tob 14,5; vgl. als Negativzeuge für die Erwartung auch Offb 21,22-23. Im Blick auf Qumran sind zu nennen: 4Q174MidrEschata III 1-7; 1QS V 4-7; VIII 4-10; IX 8; CD III 18-IV 10; 1 QpHab XII 3-4; 11QTemple 29,8-10; 4Q Flor 1,2-3. 20 Ulrich Wilckens, στῦλος, ThWNT VII (1964) 732-736, hat gemeint, bereits in der Urgemeinde, sodann aber auch bei Paulus sei die Vorstellung eines himmlischen Tempels gegeben, der eben in der Kirche besteht und dessen Säulen die Apostel sind. 21 Strack, Kultische Terminologie (s. Anm. 1), 271, betont mit Recht die Funktion, durch Tempelsymbolik das Geschiedensein vom Tempel zu verarbeiten. <?page no="218"?> 218 Paulus und der Herodianische Tempel des Ablösungsprozesses vom Jerusalemer Kult“ 22 erkennen lasse. Im Blick auf Paulus betont Helmut Merklein eine Distanzierung zum Tempel und eine Aufhebung des Tempelkultes 23 , Wolfgang Schrage sieht die christliche Gemeinde an der Stelle des Tempels. 24 Die These der Substituierung, die in vielerlei Varianten, aber doch stets mit der Zuspitzung der Aufhebung des bestehenden Tempels, vor allem des Tempelkultes, und deren Ersetzung durch die christliche Gemeinde oder ihren Kult vorgetragen wird, kann sich nicht auf textimmanente Beobachtungen stützen. Die Motivverbindung von Tempel, Geist und Heiligkeit wird ohne korrespondierende Kritik am Herodianischen Tempel vorgetragen. Daher werden Schlussfolgerungen bemüht, die sich auf textexterne Faktoren beziehen: Der Tod Jesu als Sühnetod (Röm 3,24-25) oder die Benennung Christi als Passalamm (1 Kor 5,7) setze die strikte und umfassende christliche Distanzierung vom Jerusalemer Tempelkult voraus. 25 Ich werde gleich auf die Plausibilität dieser Thesen eingehen, möchte zunächst lediglich überprüfen, ob sich Tempelmetaphorik und das Bestehen des Tempels und des Tempelkultes notwendig gegenseitig ausschließen. Ich beziehe mich hierbei zunächst auf innerjüdische Tempelmetaphorik in der Zeit des zweiten Tempels. Helmut Merkleins Erwägung, dass die Tempelmetaphorik in Qumran eine parallele Erscheinung zu derjenigen innerhalb des Urchristentums, und zwar in einer Opposition zum Jerusalemer Tempel ist, regt zu einer vergleichenden Betrachtung an. Die jüngeren Arbeiten von Lawrence H. Schiffman und Florentino García Martínez 26 sprechen durchaus von einer Tempelsubstituierung in Qumran, da die Gruppe mit dem bestehenden Jerusalemer Tempel und dem an ihm ausgeübten Kult gebrochen hat. Der Op- 22 A. M. Schwemer, Verfolger und Verfolgte bei Paulus. Die Auswirkungen der Verfolgung durch Agrippa I. auf die paulinische Mission, in: E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 169-191, hier 180-181. 23 Merklein, 1 Korintherbrief (s. Anm. 18), 270-271. 24 Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 17), 305. Bereits B. Gärtner, The Temple and the Community in Qumran and the New Testament. A Comparative Study in the Temple Symbolism of the Qumran Texts and the New Testament, SNTS.MS 1, Cambridge 1965, 58: „From the identification of the temple with the members of the Church it follows that the Spirit of God ‚dwells‘ in the congregation, the implication being that God’s Shekinah no longer rests on the Jerusalem temple, but has removed to the Church.“ 25 Merklein, 1 Korintherbrief, 271: „Der tiefere Grund für das eschatologische Tempelverständnis des Paulus ist der Kreuzestod Christi, den Paulus als eschatologischen Sühnevollzug begreift […] Der Sühnekult in Jerusalem ist unter dieser Voraussetzung aufgehoben.“ 26 L. H. Schiffman, Community without Temple: The Qumran Community’s Withdrawal from the Jerusalem Temple, in: B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde (s. Anm. 2), 267-284; F. G. Martínez, Priestly Functions in a Community without Temple, in: B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde (s. Anm. 2), 303-319. <?page no="219"?> Paulus und der Herodianische Tempel 219 ferkult wird von ihr nicht mehr vollzogen, weder in Jerusalem noch in Qumran, sondern wird durch Gebete ersetzt. Die Nähe Gottes, die bislang nach ihrer Sicht im Heiligtum präsent war, ist jetzt innerhalb der Gemeinde, dem heiligen Haus Gottes, erfahrbar; in strenger Einhaltung der Reinheitsregeln, durch priesterliches Handeln, Gebet und Torastudium wird der Ort der Verbindung zu Gott dargestellt. Doch ist diese Substituierung von vorübergehender und vor allem nur von partieller Gestalt, da für den Opferkult keine Entsprechung oder Substituierung gesucht wird. Gleichzeitig werden sowohl die Restauration des halachisch korrekten Tempelkultes als auch der Bau eines Tempelgebäudes in einer gegenüber dem bestehenden Tempel veränderten Gestalt zukünftig erwartet. Die Qumran-Gemeinde bleibt folglich einem tempeltheologischen Denken verpflichtet, ja sie intensiviert es geradezu durch strengere Ausrichtung auf dessen Anforderungen. 27 Demgegenüber stellt die Qualifikation einer überwiegend heidenchristlichen Gemeinde als Tempel Gottes einen Sachverhalt dar, der nicht mehr im Rahmen jüdischer Tempelmetaphorik zu bewerten ist. 28 Denn die Zusage, Tempel Gottes und Wohnstatt des Geistes Gottes zu sein, wird im Blick auf die korinthische Gemeinde nicht vollkommen eingebettet in eine priesterliche Existenz in dem Sinne, dass Reinheitsbestimmungen, Gesetzesstudium und bestimmte Gebete den Alltag der Gemeinde strukturiert hätten. Sie muss wegen der Ausweitung des Gottesvolks auf Heiden für jüdisches Denken als Provokation, innerhalb des paulinischen Missionsverständnisses jedoch als Konsequenz des Heidenapostolats verstanden werden. Ich meine freilich nicht, dass Paulus dies als einen Angriff auf den Jerusalemer Tempel und den Tempelkult verstanden wissen wollte. Im Gegenteil, seine Strategie scheint offensiver zu sein. Während die Tempelmetaphorik in judenchristlicher Theologie gleichfalls eine Bewältigung der Trennung vom Heiligtum intendiert und - parallel zu Qumran - grundsätzlich am tempeltheologischen Denken festhält, weitet Paulus in der Korin- 27 F. Avemarie, Ist die Johannestaufe ein Ausdruck von Tempelkritik? , in: B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde (s. Anm. 2), 395-410, hier 403 zu den Essenern: „Gerade diese Metaphorik lässt erkennen, wie sehr die Idee des Tempels bis in das Selbstverständnis der Gemeinde hinein prägend wirkt. Sie ist pointierter Ausdruck eines Phänomens, dass (sic! ) sich wohl am treffendsten als internalisierte Substitution des Jerusalemer Tempels beschreiben lässt“. 28 Wenn die Tempelmetaphorik nicht erstmalig auf die korinthische Gemeinde appliziert wurde, sondern ursprünglich in judenchristlichem Milieu beheimatet war, dann liegt in der Übertragung dieser Metaphorik auf Heidenchristen eine schwerwiegende Verschiebung. Die von J. Maier, Beobachtungen zum Konfliktpotential in neutestamentlichen Aussagen über den Tempel, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992, 173-213, 173, eingeforderte Rückfrage danach, „welche Reaktionen […] auf Seiten der jeweiligen Zielgruppen im damaligen Judentum“ die frühchristlichen Aussagen auszulösen imstande waren, ist also bewusst aufzunehmen. <?page no="220"?> 220 Paulus und der Herodianische Tempel therkorrespondenz dieses tempeltheologische Denken auf Heidenchristen aus. Dies markiert nicht eine Substitution, sondern öffnet jüdische Tempeltheologie im Blick auf Heidenchristen und bezieht sie ein. Insofern stimme ich William Horbury zu, der in der Spiritualisierung des Tempelbegriffs im frühen Christentum einen bleibenden Einfluss einer tempelorientierten Frömmigkeit erkennt. 29 3. Die Tempelfrömmigkeit des Paulus Im folgenden Abschnitt möchte ich versuchen darzustellen, welche Andeutungen Paulus zu seiner eigenen Haltung zum Herodianischen Tempel macht und welche Informationen die Apg beisteuert. Verlässliche Hinweise auf einen Tempelbesuch vor dem letzten Jerusalemaufenthalt fehlen in den paulinischen Briefen völlig. Ob er als Diasporajude aus Tarsus bereits Mitglied einer Delegation gewesen ist, die jährlich die Halbschekelbzw. Didrachmensteuer zum Tempel brachte, wissen wir nicht. In seinen Briefen erwähnt Paulus nur wenige Besuche der Stadt Jerusalem, ohne diese jedoch explizit mit dem Tempel in Verbindung zu bringen: den vierzehntägigen Besuch bei Petrus Kephas nach der Berufung (Gal 1,18), den Gang zum Apostelkonvent als Delegat der antiochenischen Gemeinde (Gal 2,1), schließlich die Kollektenreise (Röm 15,25). 30 Die Apg verzeichnet zusätzlich eine weitere Jerusalemreise vor dem Apostelkonvent (Apg 11,29-30), sodann einen kurzen Besuch dieser Stadt zwischen der zweiten und der dritten Missionsreise (Apg 18,22). Ausführlich schließlich schildert Lukas in Apg 21-23 die Umstände der letzten Jerusalemreise und den sich auf ihr ereignenden angeblichen Tempelkonflikt, der das Geschick der paulinischen Missionspläne besiegelt. Eine Rückbindung an die Stadt Jerusalem und an den Herodianischen Tempel scheint für den Apostel Paulus, jedenfalls bis zur endgültigen Übergabe der Kollekte ca. acht Jahre nach der Übernahme ihrer Sammlung auf dem Konvent, eher marginal gewesen zu sein. Dem entspricht auch, dass in den paulinischen Briefen die Begrifflichkeit in Bezug auf den bestehenden Tempel bis auf 2 Kor 6,16 durchweg fehlt. 31 29 W. Horbury, Der Tempel bei Vergil und im hellenistischen Judentum, in: B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde (s. Anm. 2), 149-168, hier 166. Auch stimme ich Böttrich, Tempelmetaphorik, 442, darin zu, dass es Paulus nicht um Spiritualisierung oder Substituierung geht, da er keinen Gegensatz zum Jerusalemer Heiligtum aufbaut, sondern im Gegenteil dem tempeltheologischen Denken verpflichtet bleibt. 30 R. Riesner, Jerusalem (in neutestamentlicher Zeit), Calwer Bibellexikon 1 (2003) 650-652, hier 652, interpretiert den aus dem Text zu erhebenden Sachverhalt doch recht irreführend, wenn er behauptet: „[…] selbst der Apostel Paulus suchte immer wieder die Verbindung [zu Jerusalem; fwh] aufrecht zu erhalten“. 31 Neben 1 Kor 3,16-17; 6,19 findet sich ναὸς θεοῦ in 2 Kor 6,16. In 1 Kor 9,13 schreibt Paulus τὰ ἱερά, er bezieht sich auf eine allgemeine Kultregel und hat schon wegen der plura- <?page no="221"?> Paulus und der Herodianische Tempel 221 Können wir für Paulus prägende Faktoren seines Tempelverständnisses, etwa aus der vorchristlichen pharisäischen Vergangenheit (Phil 3,5; vgl. auch Apg 26,5) oder der ihn prägenden Diasporasynagoge oder aus der ersten christlichen Prägung des Apostels, vermittelt durch die antiochenische Gemeinde, erkennen? Eine spezifische, sich von wesentlichen Teilen des Judentums unterscheidende und vor allem sich unverändert durchhaltende Tempeltheologie kann im Blick auf den Pharisäismus nicht erkannt werden. Die wohl wichtigste Quelle, Josephus, verrät kaum etwas über den pharisäischen Anteil am Priester- und Tempeldienst. 32 In der Sekundärliteratur werden Mutmaßungen über die den Tempel bejahenden, ihn spiritualisierenden 33 oder ihn eher kritisierenden Einstellungen vorgetragen, sie bleiben jedoch überwiegend unspezifisch. 34 Rückschlüsse aus späteren rabbinischen Quellen führen zu keinem verlässlichen Bild. 35 Auch findet sich bei Paulus nicht die Erwartung eines neuen Tempels, was ihn von etlichen apokalyptischen Strömungen unterscheidet. Innerhalb des hellenistischen Judentums, dessen Haltung dem Herodianischen Tempel gegenüber höchst vielschichtig, ja uneinheitlich war 36 , wurden durch allegorische Schriftauslegung Wege bereitet, tempeltheologische Aussagen mit Aspekten einer aufgeklärten Religion zu verbinden, ohne dabei jedoch durchgängig das Gebäude und den an ihm praktizierten Kult, selbst den Opferkult, grundsätzlich abzulehnen. 37 Bedeutsamer sind hingegen all diejenigen Überlegungen, die Paulus an eine frühchristliche, zum Teil bis auf Jesus zurückreichende Tempelbzw. Tempelkultkritik anbinden und folglich in Paulus einen weiteren Exponenten frühchristlicher Tempelkritik sehen, obwohl dies von seinen Briefen her so nicht ablen Formulierung nicht exklusiv den Jerusalemer Tempel im Blick. Nie spricht Paulus im Blick auf den Tempel von dem οἶκος θεοῦ. 32 So R. Deines, Pharisäer, ThBLNT 2 (2000) 1455-1468, hier 1458. 33 De Lacey, οἵτινές ἐστε ὑμεῖς (s. Anm. 8), 398-400. 34 J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, Berlin / New York 1972, 76, betont die Loyalität der Pharisäer zum Vollzug des Tempelkultes als Teil des Toragehorsams. A. Baumgarten, Pharisäer, RGG 4 VI (2003) 1263, verweist hingegen auf die Ausbildung von Alternativen zum priesterlichen Tempelkult und Führungsanspruch. 35 P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M. Hengel / U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991, 125-172. 36 Als knapper Überblick J. Maier, Tempel IV, TRE XXXIII (2002) 65-72. C. Werman, God’s House: Temple or Universe, in: R. Deines / K. W. Niebuhr (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen, WUNT 172, Tübingen 2004, 309-320, bespricht philonische Aussagen, die sowohl Zustimmung zum irdischen Tempelgebäude und seinen Funktionen im Rahmen jüdischer Frömmigkeit als auch den eher stoisch anmutenden Gedanken des Universums als Gottes Tempel beinhalten. 37 D. R. Schwartz, Studies in the Jewish Background of Christianity, WUNT 60, Tübingen 1992, 40-41, bindet Paulus m. E. zu eindeutig an eine hellenistische Tempelkritik an („wherever God is is a Temple“), ja spricht von Paulus als einem Exponenten dieser Sicht. <?page no="222"?> 222 Paulus und der Herodianische Tempel gedeckt ist. 38 Tempelkritische Worte, ja eine tempelkritische Zeichenhandlung zählen wohl zum gesicherten Grundbestand des Auftretens Jesu, auch wenn der präzise Wortlaut kaum zu rekonstruieren ist. Sie finden sich in allen Schichten der synoptischen und in der außersynoptischen Überlieferung (Mk 13,1-2; 14,58; Mt 26,61; Lk 13,34-35; Joh 2,19; Apg 6,14; ThEv 71). Hierbei mögen tempelkritische Worte nicht nur unmittelbar vor der Passion (so Mk 11,17-18par; 13,2par) oder zu Beginn der Wirksamkeit Jesu ( Joh 2,9-21) gefallen sein. Sie können durchaus ein sich durchhaltendes Thema der Verkündigung Jesu gewesen sein (vgl. auch die Anklage der Zeugen im Passionsbericht Mk 14,58; 15,29). Die Tempelhandlung (Mk 11,15-16; Joh 2,13-16), eine einmalige Zeichenhandlung, führt zur Zuspitzung der Feindschaft der Tempelaristokratie gegen Jesus und wird im Prozess wohl von dieser Gruppe genutzt, um den Vorwurf der Blasphemie, gegenüber Pilatus aber der Unruhestiftung und Aufwiegelung zu unterstützen. Wenn wir die tempelkritischen Worte Jesu aus Mk 13,2; 14,58 (allerdings im Mund der falschen Zeugen); ThEv 71, die eine baldige Zerstörung des Tempels ansagen, und die Zeichenhandlung zusammen sehen, dann stoßen wir sowohl auf eine massive Kritik an dem Herodianischen Tempel als auch an dem Tempelkult. Sie stellt jedoch nach meiner Sicht nicht die Legitimität dieses Tempels an sich in Frage 39 , sondern dient wohl eher einer Reform oder Korrektur des bestehenden Tempelwesens, wenn auch der konkrete Zielpunkt der Tempelkultkritik nicht eindeutig zu rekonstruieren ist. Doch mag eine letzte Entscheidung in dieser höchst strittigen und mit erheblichen Folgeproblemen belasteten Frage hier offenbleiben. 40 Überdies wird man sich bemühen müssen, die Stellungnahme Jesu innerhalb der sehr unterschiedlichen jüdischen Hal- 38 Oftmals wird hierbei nicht bedacht, dass innerhalb des zeitgenössischen Judentums die Kritik am Herodianischen Tempel wohl eher die Ausnahme war (Horbury, Tempel [s. Anm. 29], 166), während Kultkritik nichts Unmögliches darstellte (Maier, Beobachtungen [s. Anm. 27], 188; D. R. Schwartz, Priesthood, Temple, Sacrifices. Opposition and Spiritualizations in the late Second Temple Period, Diss. Jerusalem I-II, 1979; vgl. auch zu diesem Werk die Zusammenfassung des Autors in: Hebräische Beiträge zur Wissenschaft des Judentums 1, 1985, 2-7). 39 So etwa eindeutig G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus: Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 381: „Die Symbolhandlung der so genannten ‚Tempelreinigung‘ wird durch die Tempelprophetie interpretiert: Es ging hier nicht um eine Reform des Tempels innerhalb der gegenwärtigen Geschichte, sondern um sein Verschwinden mit dieser vergehenden Welt“; zuvor bereits ders., Die Tempelweissagung Jesu, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 3 1989, 142-159. 40 Jede in der Forschung vorgetragene Option hat ihre ntl. Grundlage: die Kritik des Tempelbaus (Mk 13,2), die Kritik eines mit Menschenhand gebauten Tempels (Mk 14,58), die Kritik an Kultvollzügen (Mk 11,16), der Ausschluss der Heiden (Mk 11,17), die Antithese gegen die Finanzverwaltung des Tempels (Mk 11,15). Zur Sache: K. Paesler, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament, FRLANT 184, Göttingen 1999. <?page no="223"?> Paulus und der Herodianische Tempel 223 tungen den Herodianern 41 und dem Herodianischen Tempel gegenüber einzuordnen. 42 Behalten wir einfach beides, Tempelkritik und Tempelkultkritik im Blick und fragen, ob und ggf. durch wen im frühen Christentum der Angriff Jesu aufgenommen und weitergeführt worden ist. Haben zunächst ausschließlich Stephanus und mit ihm die Hellenisten, nicht aber die Hebräer innerhalb der Urgemeinde beständig Tempelkritik vorgetragen, indem sie eine Ansage Jesu, diesen Ort auflösen zu wollen, weitergegeben haben (Apg 6,13-14)? 43 Schon der korrespondierende Vorwurf, Jesus habe die Sitten ändern wollen, die Mose gegeben hat, ist so jedenfalls mit der Verkündigung Jesu nicht kompatibel. Falsche Zeugen erheben zudem den Vorwurf, sie lügen also - dieses Motiv ist offensichtlich aus dem markinischen Passionsbericht (Mk 14,57) hierher übertragen worden. Kann man dennoch die Historizität des Vorwurfs gegen Stephanus retten, indem man das Falschzeugnis auf eine nicht vollkommen korrekte Wiedergabe der Verkündigung des Stephanus bezieht, ohne in der Sache Abstriche zu machen? 44 Die Probleme des Textes sind höchst kompliziert. Viele Exegeten raten grundsätzlich davon ab, ihn als historisch zuverlässigen Beleg über die Theologie des Stephanus heranzuziehen 45 , obwohl 41 Man kann die Tempelkritik wohl auch nicht isolieren von dem Gegensatz Jesu zu den Herodianern; vgl. H. D. Betz, Jesus and the Purity of the Temple (Mark 11: 15-18). A Comparative Religion Approach, in: ders., Antike und Christentum: Gesammelte Aufsätze IV, Tübingen 1998, 57-77, hier 73. 42 G. Faßbeck, „Unermesslicher Aufwand und unübertreffliche Pracht“ (bell 1,401). Von Nutzen und Frommen des Tempelneubaus unter Herodes dem Großen, in: St. Alkier / J. Zangenberg (Hg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments, TANZ 42, Tübingen / Basel 2003, 222-249, notiert das Fehlen jeglicher zeitgenössischer Vorbehalte gegen den Herodianischen Tempelbau in den literarischen Quellen (240), selbst in oppositionell priesterlich ausgerichteten Quellen (238) sowie das Fehlen von Berichten über Tempelopposition zur Zeit des Herodes im Bericht des Josephus (229). Wohl aber hat es gleichzeitig Kritik am bestehenden Tempelkult gegeben. Allerdings scheint die Kritik am Tempelbau im Vorfeld des Jahres 70 n. Chr. doch stärker zu werden: Jos, Bell IV 386-7; VI 288-315; Tacitus, hist V 13,1-2. Vgl. dazu C. A. Evans, Predictions of the Destruction of the Herodian Temple in the Pseudepigrapha, Qumran Scrolls, and Related Texts, JSP 10 (1992) 89-147. 43 Nach Apg 6-7 haben ausschließlich Stephanus und die Hellenisten Tempelkritik geübt und es werden nach Apg 8,1-3 die Apostel aus der Verfolgung ausgeschlossen. G. Theißen, Die Verfolgung unter Agrippa I. und die Autoritätsstruktur der Jerusalemer Gemeinde. Eine Untersuchung zu Act 12,1-4 und Mk 10,35-45, in: U. Mell (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte, FS Jürgen Becker, BZNW 100, Berlin / New York 1999, 263-289, hingegen bezieht die Verfolgung unter Herodes Agrippa I., die u. a. den Zebedaiden Jakobus trifft, auf die tempelkritische Haltung auch der Jerusalemer Christen. Agrippa I. habe nach der Caligula-Krise jede Tempelkritik im Keim ersticken wollen. 44 So etwa R. Pesch, Die Apostelgeschichte, EKK I, Zürich 1986, 238. 45 Zuletzt U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin / New York, 2003, 87: „Der durchgängig redaktionelle Charakter von Apg 6,8-15 und die inhaltlichen Ungereimtheiten <?page no="224"?> 224 Paulus und der Herodianische Tempel teilweise dieselben Exegeten dennoch an einer tempelkritischen Haltung des Stephanuskreises festhalten. 46 Allerdings lässt das Faktum einer Lynchjustiz an Stephanus durch Steinigung an ein solches Vergehen wie etwa Gotteslästerung und Tempelkritik denken, das nach jüdischem Recht mit der Steinigung geahndet wurde. Alexander Wedderburn hat angesichts der Probleme, eine verlässliche historische Grundlage zu gewinnen, daher folgende Hypothese vorgeschlagen: „Stephen’s offence lay in anticipating already, at least to some extent, Paul’s atttitude towards the observance of the law, particularly as it concerned relations with non-Jews.“ 47 Deutlicher an anderer Stelle: Stephanus habe im Blick auf die Heidenchristen propagiert, „that they were entitled to join that of Jews in their worship in the Temple, that is, in the inner courts of the Temple beyond the point to which non-Jews were admitted.“ 48 Dies alles ist für die engere Fragestellung insofern relevant, als Paulus über die antiochenische Gemeinde und die Hellenisten in eine sich durchhaltende Traditionslinie mit jesuanischer 49 bzw. frühchristlicher Tempelkritik gebracht wird, obwohl Paulus in seinen Briefen niemals als Träger der Tempel- oder Tempelkultkritik argumentiert, die auf Jesus oder Stephanus bzw. die Hellenisten zurückgeführt wird. Auch innerhalb der Apg wird der Sachverhalt einer Tempelkritik des Paulus ausschließlich von Gegnern, den asiatischen Juden vorgetragen und vage mit der Vermutung einer bewussten Tempelschändung verknüpft (Apg 21,28-29), im weiteren Text jedoch in der Apologie Apg 25,8 zurückgewiesen. 50 Äußerst problematisch an der Konstruktion dieser Traditides Textes erlauben es nicht, ihn als historisch zuverlässigen Beleg über die Theologie des Stephanus oder der ‚Hellenisten‘ auszuwerten.“ Dennoch hält Schnelle an der These einer tempelkritischen Haltung des Stephanuskreises fest; zum Teil unter expliziter Berufung auf E. Rau, Von Jesus zu Paulus. Entwicklung und Rezeption der antiochenischen Theologie im Urchristentum, Stuttgart 1994, 15-77. Rau betont abschließend (77), dass seine „Überlegungen zu den Vorgängen in Jerusalem an einigen Punkten außerordentlich hypothetisch sind.“ 46 Theißen, Verfolgung (s. Anm. 43), 278: „Die Kritik am Tempel war ferner ein wichtiges Element der Erinnerung an Jesus und lebte in Gestalt der Verkündigung des Stephanus weiter“. 47 A. Wedderburn, A History of the First Christians, London / New York 2005, 49. 48 Wedderburn, History (s. Anm. 47), 55, in Aufnahme ähnlicher Überlegungen von G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 162. 49 Unbeschadet der sprachlichen Übereinstimmungen kann ich 2 Kor 5,1 nicht als Variante des Tempellogions Jesu aus Mk 14,59 deuten; so Paesler, Tempelwort (s. Anm. 40), 93-110. 50 Apg 21,21.28 weisen etliche direkte Entsprechungen zu dem von falschen Zeugen vorgetragenen Vorwurf gegen Stephanus (Apg 6,11-14) auf, so dass nach dem Verhältnis beider Texte und nach dem Verhältnis der ihnen möglicherweise zugrunde liegenden Traditionen zu fragen ist. <?page no="225"?> Paulus und der Herodianische Tempel 225 onslinie ist zudem, dass wir im Blick auf die Hellenisten und erst recht im Blick auf Jesus nicht deutlich sehen, was eigentlich Zielpunkt der Kritik gewesen sein soll. Kann eine implizite Tempel- oder Tempelkultkritik erschlossen werden, etwa aus der Verwendung solcher theologischer Aussagen, aus denen eine Aufhebung des Sühnekults am Tempel erschlossen wird? Ich verweise exemplarisch auf die Untersuchung von Wolfgang Kraus zu Röm 3,25-26a, in der die Sühnevorstellung, hier unlöslich verbunden mit dem Gebrauch des Begriffs ἱλαστήριον, gründlich aufgearbeitet wird. Nach seiner, allerdings durchaus mehrheitlichen Sicht repräsentiert die Formel in Röm 3,25-26 eine eigenständige Tradition, in der sich die Auseinandersetzung um den Tempel, genauer um die Effizienz des Tempelkultes niedergeschlagen hat. Kraus erkennt die Hellenisten als Protagonisten dieser in der Formel sich niederschlagenden Anschauung, die sich nicht ausschließlich auf die Frage des Sühnekults bezieht, sondern gemäß der „die jetzt erfolgte ‚Aufhebung‘ des irdischen Heiligtums angesagt (wird), weil dieses keine wirkliche Vergebung bringen konnte“. 51 Ich stelle alle weiteren exegetischen Probleme, die Röm 3,25-26 in sich birgt, zurück und bleibe ausschließlich bei der Frage, ob dieser Text notwendig tempelkritisch im Sinne einer Polemik oder Substitution zu lesen ist. Wenn, wie es in der Forschung doch wohl überwiegend und mit der Evidenz der LXX geschieht, der Begriff ἱλαστήριον auf die kapporaet bezogen wird, dann blickt der Text nicht auf den Herodianischen, sondern auf den Salomonischen Tempel. Röm 3,25-26 bedient sich sozusagen einer vergangenen, aber das Denken noch prägenden Einrichtung, um ihr gegenüber die Heilswirksamkeit des Todes Christi zu besprechen. Daniel Stökl ben Ezra 52 , der im Übrigen weithin den Thesen Kraus’ folgt, hat sich aus diesen und anderen Gründen deutlich dagegen gewandt, in diesem Text einen Beleg für die Substitutionstheorie zu finden. Man wird diese Einschränkung beachten und gleichzeitig darüber Rechenschaft ablegen müssen, welche Bedeutung man gegebenenfalls einer einzigen Textstelle aufbürden möchte. 53 Es gibt wenige weitere Texte innerhalb der paulinischen Briefe, die gleichfalls im Sinne der Substitutionstheorie des Tempels gelesen und ausgelegt werden, 51 W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung zum Umfeld der Sühnevorstellung in Römer 3,25-26a, WMANT 66, Neukirchen 1991, 233. 52 D. Stökl ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity. The Day of Atonement from Second Temple Judaism to the Fifth Century, WUNT 163, Tübingen 2003, 197-205, 204: „If Paul had wanted to express that this supplement to the temple cult was also a substitution for it, he could have formulated his sentence differently, underscoring the substitutive effect.“ 53 Maier, Beobachtungen (s. Anm. 27), 174, weist die These, die Übertragung der Sühnefunktion des Kultes auf Jesus Christus stelle notwendig den Tempelkult in Frage, scharf zurück. <?page no="226"?> 226 Paulus und der Herodianische Tempel vor allem Röm 12,1 54 . Es geht wohl letztlich um die Frage, ob Paulus in denjenigen Texten, die tempeltheologische Sprache oder tempelkultische Motive verwenden, eine Ebene theologischer Reflexion einschlägt, die sich diese Sprache und diesen Motivbereich zu eigen macht, um ‚das Neue‘ in deren Gewand auszusagen, ohne den Jerusalemer Tempel damit substituieren zu wollen, oder ob solche Argumentationen nur nachvollziehbar sind unter der Prämisse gleichzeitiger radikaler Polemik, Abwertung, ja Substitution des Tempels. Geht Paulus wirklich deutlich einen Schritt weiter hin zur Substitution mit der Konsequenz, den zu seiner Zeit noch bestehenden Tempel nicht mehr als Wohnort Gottes zu betrachten? 55 Der Befund der Apg steht dieser These entgegen. Nach Apg 18,18 hat Paulus in Kenchreae sein Haupthaar scheren lassen und damit das Ende eines übernommenen Nasiräats angezeigt. Er hat sodann, so jedenfalls der unmittelbar anschließende Text, eine keinen Verzug duldende Reise nach Jerusalem angetreten (Apg 18,22), doch wohl auch, um das Auslösen des Nasiräatgelübdes mit Übergabe des geschnittenen Haupthaares im Jerusalemer Tempel zu vollziehen. Gleichfalls berichtet Lukas, dass Paulus bei der letzten Jerusalemreise nach Ankunft in der Heiligen Stadt die Auslösungskosten für vier Nasiräer übernommen habe. Paulus habe im Tempel angezeigt, dass nach Ablauf der vorgeschriebenen siebentägigen Reinigung mit der von ihm möglich gemachten Opferdarbringung das Nasiräat abgeschlossen sein soll (Apg 21,23-26). In beiden Fällen ist Paulus an einem aus der Tora abgeleiteten und am Tempel zu erfüllenden Gelübde (Num 6,1-21) beteiligt. Obwohl die Aussage des erstgenannten Textes (Apg 18,18.21v. l. und 22) bis in die Gegenwart hinein in ihrem historischen Wert bezweifelt worden ist 56 , sprechen gute Gründe doch für ein von Paulus abgelegtes und im Jerusalemer 54 J. D. G. Dunn, Romans II, 9-16, WBC 38B, Dallas 1988, 710, schließt an Röm 12,1 die Substitutionstheorie an. Gedanklich bleibt der Text dem Opferkult verpflichtet, der als angemessener Gottesdienst verstanden wird. Sprachlich lehnt Paulus sich an die hellenistische Opferterminologie an. Gleichwie auch innerhalb des Diasporajudentums in Übereinstimmung mit stoischen Vorgaben die Vollzugsform solchen Opferkultes ethisch interpretiert worden ist (Philo, Spec. Leg. I 271-272; Sen, de beneficiis I 6,3), um eine Gewichtung für die Interpretation, nicht aber um die Berechtigung des faktischen Tempels grundsätzlich in Frage zu stellen, legt Paulus mittels der Opferthematik Wert auf die leibliche, nicht allein geistige Veränderung. Es wird damit von Paulus doch wohl eher eine Analogie zur Tempelfrömmigkeit für die römische Gemeinde hergestellt, als dass er für diese einen Gegensatz zum Tempel eröffnen möchte. 55 So pointiert G.-Ho Cho, Die Vorstellung und Bedeutung von ‚Jerusalem‘ bei Paulus, NET 7, Tübingen / Basel 2004, 66 sowie 77. 56 So zuletzt ohne Angabe von Argumenten K.-H. Bernhardt, Nasiräer, TRE XXIV (1994) 10-12, hier 12. <?page no="227"?> Paulus und der Herodianische Tempel 227 Tempel vollendetes Nasiräatsgelübde. 57 Ob Lukas dieser Jerusalemreise den zutreffenden Ort in seinem Gesamtwerk zugewiesen hat oder ob es sich um einen Traditionssplitter handelt, der vielleicht sogar mit der Kollektenreise zu verknüpfen ist, mag hier offen bleiben. Manches deutet daraufhin, dass innerhalb der jüdischen Praxis im 1. Jh. der Haarschnitt außerhalb der Stadt und des Landes vollzogen werden konnte (mNaz 6,8b) 58 , dass dann aber in der Regel, wenn man etwa als Wallfahrer (vgl. Apg 18,21 v. l.) aus dem Ausland zur Beendigung des Nasiräats anreiste, sich in Jerusalem vor der formalen Auslösung im Tempel eine weitere Enthaltsamkeit von 30 Tagen anschloss (mNaz 3,6), die Lukas nun freilich nicht erwähnt. Von diesem Nasiräat des Paulus ist die Auslösung der Nasiräer, die Paulus einem Rat des Jakobus folgend zu übernehmen angeht (Apg 21,18-26), um den im Raum stehenden Vorwurf der Apostasie zu entkräften, zu unterscheiden. Der in der Forschung oft geäußerte Verdacht, dass Lukas hier Unkenntnis des Brauchs offenbare und das Bild eines tempelfreundlichen Paulus ohne Anhalt an Tradition konstruiere, ist m. E. unzutreffend. 59 Verwirrend ist gewiss, dass sich das Verb ἁγνισθείς in Apg 21,26 auf die rituelle Reinheit bezieht, die Paulus als aus dem Ausland kommender Wallfahrer vor dem Tempelgang erwerben muss, aber gleichzeitig das Substantiv ἁγνισμός im selben Vers auf das Nasiräatsgelübde der vier Judenchristen zu beziehen ist. 60 Nach seiner eigenen Reinigung verkündet Paulus also im Tempel die Auslösung des Nasiräats. Die Erwähnung des Zeitraums der sieben Tage bis zur Auslösung im folgenden V.27 kann sich keinesfalls auf eine sich anschließende rituelle Reinigung des Paulus beziehen, da Lukas stets voraussetzt, dass es im Tempelbereich zum Tumult gekommen ist, nachdem Paulus im Zustand der Reinheit den Tempel 57 Im Folgenden beziehe ich mich auf die neueste Untersuchung von St. Chepey, Nazirites in Late Second Temple Judaism, AJEC 60, Leiden 2005; zuvor bereits B. J. Koet, Why did Paul shave his hair (Acts 18,18)? Nazirite and Temple in the Book of Acts, in: M. Poorthuis / Ch. Safrai (ed.), The Centrality of Jerusalem: Historical Perspectives, Kampen 1996, 128-142: ἡ εὐχή in Verbindung mit κείρω bzw. ἀποκείρω findet sich in griech. Lit ausschließlich bei Philo, Spec. Leg. I 250 im Kontext der Erklärung des Nasiräatsgelübdes. In der LXX steht ἡ εὐχή, in weiterer jüd. Literatur κείρω bzw. ἀποκείρω häufig für das Nasiräatsgelübde (auch 135 Anm. 26). 58 So bereits H. L. Strack und P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II, München 7 1978, 749-750. 59 Kritisch zu dieser These auch Chepey, Nazirites (s. Anm. 57), 165-174. 60 Hilfreich ist der von M. Bachmann, Jerusalem und der Tempel. Die geographisch-theologischen Elemente in der lukanischen Sicht des jüdischen Kultzentrums, BWANT 109, Stuttgart 1980, 319, geäußerte Übersetzungsvorschlag, σὺν αὐτοῖς in Apg 21,24.26 mit „ihnen bei“ wiederzugeben, da Paulus durch seine Reinigung den Zustand erhält, in dem sich die vier Nasiräer bereits befinden. <?page no="228"?> 228 Paulus und der Herodianische Tempel betreten habe (Apg 24,17-18). Der genannte Zeitraum der sieben Tage vor der Vollendung bezieht sich auf das Gelübde der Nasiräer. 61 Ich erkenne, soviel zunächst als Zwischenfazit, nach dem dargelegten Befund nicht, dass Paulus in seinem eigenen Verhalten Träger oder Vermittler einer Tempel- oder Tempelkultkritik ist, da auch diese Nasiräatsauslösung in ihren einzelnen Vollzügen in mehrfacher Hinsicht an den Tempel und an den Tempelkult, etwa durch den Ankauf mehrerer Opfertiere, gebunden ist. 4. Tempeltheologische Aspekte im Kontext der Kollektenreise Bislang konnten keine klaren Argumente für die These einer Substitution des Herodianischen Tempels beigebracht werden. Im Gegenteil deutete sich an, dass Paulus eine bestehende innerjüdische Tempelmetaphorik positiv auf Heidenchristen ausdehnte und im Rahmen seiner Frömmigkeit Möglichkeiten der Tempelorientierung wahrnahm. Der abschließende Abschnitt soll nun die Frage klären, ob denn der reale Tempel in Jerusalem im Denken des Paulus ein positiver Bezugspunkt für Heidenchristen werden konnte? Sagen wir es drastischer: bleiben die Warntafeln im Jerusalemer Tempelbereich, die der strikten Separation der Juden von den Heiden dienten, für Paulus verbindlich? In der autobiographischen Referenz, der Einleitung des Briefschlusses des Römerbriefs (Röm 15,16-21), zeitlich unmittelbar vor Antritt der Kollektenreise nach Jerusalem verfasst, beschreibt Paulus seinen apostolischen Dienst in priesterlichen Kategorien. Er selbst versteht sich als λειτουργὸς Χριστοῦ Ἰησοῦ, im Blick auf die ἔθνη, er verwaltet das Evangelium priesterlich, damit die Opfergabe (προσφορά), die in den Heidenchristen besteht, wohlgefällig, geheiligt im Heiligen Geist sei. Dieser Briefschluss beinhaltet vielfältige Bezüge zum Briefeingang (1,8-17), die mit der Kategorie Parallelisierung nicht hinreichend erfasst werden. Neu gegenüber dem Briefeingang ist die durchgehende kultische Terminologie in Röm 15,16, deren jüdischer Hintergrund für λειτουργός, ἱερουγεῖν, προσφορά, προσφέρειν, εὐπρόσδεκτος, ἁγιάζειν zuletzt von Strack umfassend nachgewiesen worden ist. Die semantische Analyse des von Hans Lietzmann 62 titulierten „kühnen Wortes“ Röm 15,16 lässt eine zweifache Subjekt-Objekt-Struktur zwischen Paulus und den Heidenchristen erkennen. Paulus ist λειτουργὸς Χριστοῦ Ἰησοῦ εἰς τὰ ἔθνη, und zwar indem er ἱερουργοῦντα τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ ἵνα γένηται ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος. Gleichzeitig muss im engeren Kontext Röm 15,19 im Blick behalten werden, in dem die Ausrichtung des Evangeliums 61 Ausführlich zur Analyse von Apg 21,18-26: Omerzu, Prozeß (s. Anm. 4), 289-308. 62 H. Lietzmann, An die Römer, HNT 8, Tübingen 4 1933, 431. <?page no="229"?> Paulus und der Herodianische Tempel 229 an die Heiden in dem avisierten Missionsraum im Perfekt als vollendet angesprochen wird. Beide Aussagen sind verbunden durch eine doppelte lokale Ausrichtung. Die Verkündigung einerseits ging von Jerusalem aus zu den Heiden und beschrieb einen Bogen um Jerusalem als Mitte bis hin nach Illyrien, die Übergabe der Heiden als Opfergabe andererseits führt diese wiederum zurück nach Jerusalem. 63 Diese Opfergabe, die in den Heiden besteht (Gen. obj. oder epexigeticus), erfüllt die an das Tempelopfer gestellten Bedingungen der Heiligkeit (vgl. die Verwendung von δεκτός zur Beschreibung des makellosen Opfers in der LXX : Ex 28,38; Lev 1,3.4; 17,4; 19,5 u. ö.). Das nachgestellte ἡγιασμένη ἐν πνεύματι ἁγίῳ stellt dies aus christlicher Perspektive in Bezugnahme auf tauftheologische Aussagen wie 1 Kor 1,30; 6,11 zusätzlich fest. Der Sinn dieser metaphorischen opfertheologischen Aussage liegt fern von jeder Kritik am eigentlichen, blutigen Opferdienst 64 wohl darin, dass die Heidenchristen ohne Einschränkung auf Gott hin zugeordnet werden (vgl. ebenfalls Röm 12,1). Ich denke nicht, dass damit die Barriere zwischen Juden und Heiden, die ja faktisch im Tempelbereich bestand, gedanklich einfach aufgehoben wird. 65 Sie bleibt ja weiterhin für Heiden bestehen. Wohl aber erfüllen die Heidenchristen in ihrer Heiligkeit die Voraussetzungen des weitergehenden Tempelzugangs und können so, Israel gleich, Gott zugeordnet werden. Es scheint mir eine unsachgemäße Verkürzung zu sein, diese Aussage ausschließlich auf den apostolischen Auftrag zu begrenzen 66 und jeglichen Gedanken an den Status der Heidenchristen auszuschließen. Gemäß einer breiten Forschungsmeinung ist Paulus hier von apokalyptischen Vorstellungen abhängig, möglicherweise im Anschluss an Jes 66, ohne jedoch 63 Die exegetischen Probleme der geographischen Aussagen werden von K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 307-308, besprochen. Ich denke, dass Paulus hier weder etwas über eine zurückliegende Mission in Jerusalem oder in Illyrien noch über faktische Missionswege sagen will, sondern vielmehr seiner Missionsarbeit eine Mitte ( Jerusalem), einen auf sie bezogenen Umkreis (καὶ κύκλῳ) und eine äußerste Grenze (μέχρι τοῠ Ἰλλυρικοῠ) geben will. 64 H. Schlier, Der Römerbrief, ThHK VI, Freiburg 1977, 431, sieht hier eine Ablösung des Opfers durch rituellen Vollzug im Tempel. 65 Dunn, Romans 9-16 (s. Anm. 54), 360: „The (eschatological) transformation of traditional Jewish categories and cultic distinctives is striking. Not only is the priestly ministry of Paul ‚out in the world‘, but the offering breaches the fundamental cultic distinction between Jew and Gentile which prevented Gentiles from even getting near the great altar of sacrifice“. Demgegenüber möchte ich betonen, dass diese sog. Barriere im Denken des Paulus nicht eingerissen wird, da nach seiner Sicht die Heidenchristen ja gerade diejenigen Bedingungen erfüllen, die an das Opfer gestellt werden. 66 E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 4 1980, 378. <?page no="230"?> 230 Paulus und der Herodianische Tempel einen Text zu zitieren oder auch nur eine Anspielung zu vollziehen. 67 Jes 66,19 spricht die Sendung der Entronnenen aus den Heiden zu den fernen Heiden an, um unter ihnen die Herrlichkeit Gottes zu verkünden. Jes 66,20 beschreibt sodann die Sammlung der Diasporajuden aus allen Völkern zum Zion, in der sie als Opfergabe zum Haus des Herrn gebracht werden. Die zentrifugale Mission ausgehend von Jerusalem und die zentripetale Sammlung in Jerusalem haben durchaus ihre Parallelen in Röm 15,19 und 15,16, gleichwie auch die Opfergabe, die zum Tempel gebracht wird, aus Menschen besteht, für Tritojesaja aus den Diasporajuden in der Begleitung der Entronnenen aus den Völkern, für Paulus aus den Heidenchristen. Es käme hier folglich eine heilsgeschichtliche Missionskonzeption zum Ausdruck, in der Jerusalem, genauer der Tempel, Mittelpunkt und zugleich Zielpunkt des apostolischen Wirkens ist und in diese Bewegung bewusst auch die Heidenchristen einbezogen werden. 68 Diese neue axiale Verortung auch der Heidenchristen auf Jerusalem und den Tempel 69 kommt zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs und unmittelbar zuvor bereits in dem Abschluss der Kollektenaktion zum Ausdruck. Es sind zwischenzeitlich wohl acht Jahre seit der Kollektenvereinbarung vergangen, aber erst jetzt scheint Paulus die übernommene Verpflichtung ernsthaft erfüllen zu wollen. Die Bildung einer Kollektendelegation, deren Mitglieder sich nach Apg 20,4 aus einigen, wenn auch nicht aus allen von Paulus gegründeten Gemeinden rekrutieren, orientiert sich eventuell an der Praxis der Übergabe der Tempelsteuer aus der Diaspora, die gleichfalls von landsmannschaftlichen Delegationen überbracht wurde, ohne jedoch faktisch eine Tempelsteuer sein zu 67 Auf Jes 66,20 verweisen Billerbeck, Kommentar III, 315; O. Michel, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 14 1978, 457; J. A. Fitzmyer, Romans, AB 33, New York 1992, 712; M. Theobald, Römerbrief, SKK.NT 6 / 2, Stuttgart 1993, 205; S. Légasse, L’épître de Paul aux Romains, LeDiv; Com. 10, Paris 2002, 920; D. Moo, The Epistle to the Romans, NICNT, Grand Rapids 1996, 890, und Dunn, Romans II (s. Anm. 54), 860, unter Bezugnahme auf R. D. Aus, Paul’s Travel Plans to Spain and the ‚Full Number of the Gentiles‘ of Romans 11: 25, NovTest 21 (1979) 232-262. Während Jes 66,20LXX ἐκ πάντων τῶν ἐθνῶν δῶρον liest, spricht Paulus von der προσφορὰ τῶν ἐθνῶν. 68 Bachmann, Tempel, 61, verweist neben dem Aspekt des Handelns (Nasiräat, Wallfahrt, Kollekte) auch auf diejenigen Argumentationen, die die Zentralität Jerusalems widerspiegeln (Röm 9,4; 11,26; 15,18-19). Haacker, Römer (s. Anm. 63), 185: „[…] spricht Röm. 9,4 gegen die verbreitete Annahme, dass das Urchristentum aus der Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer […] automatisch eine Abwertung des Jerusalemer Opferkultes abgeleitet haben müsse.“ Phil 3,3 steht dieser These nicht entgegen, wenn man den polemischen Kontext betrachtet. 69 Ich möchte diese Aussagen nicht direkt verknüpfen mit der überwiegend in rabbinischer Literatur bezeugten Vorstellung von Jerusalem als Nabel der Welt, da diesbezügliche Spekulationen bei Paulus fehlen; zur Sache: M. Tilly, Jerusalem - Nabel der Welt. Überlieferung und Funktionen von Heiligtumstraditionen im antiken Judentum, Stuttgart 2002. <?page no="231"?> Paulus und der Herodianische Tempel 231 wollen. 70 Interpretiert wird die Kollekte in Röm 15,27 als geschuldeter Dank für den Empfang geistlicher Güter von den Judenchristen Jerusalems. Da von einer Übergabe der Kollekte in der Apg nicht die Rede ist, scheint die Vermutung, Paulus habe Teile der Geldsumme zur Auslösung der Nasiräer, mittelbar also für den Tempel verwendet, nicht unbegründet zu sein. Es ist abschließend die Frage zu stellen, ob Paulus möglicherweise den Grundgedanken, die Heidenchristen als Tempelopfer zu betrachten, in die Tat umgesetzt hat, indem er sie in den ausschließlich Juden vorbehaltenen Bereich geführt hat. Asiatische Juden erheben nach Apg 21,28 exakt diesen Vorwurf, weil sie meinen, Paulus habe das Kollektendelegationsmitglied Trophimus in den inneren Tempelbereich geführt. Nach einer schmalen, aber doch respektablen Forschungssicht bringt Paulus hier zu Ende, was seit Jesus 71 , vor allem aber durch den Stephanuskreis 72 angelegt war: die Öffnung des Tempels für die Heidenchristen. Es ist jedoch nach meiner Sicht höchst unwahrscheinlich, dass der von den asiatischen Juden geäußerte Verdacht einen historischen Anhalt hat. Der Volkszorn hätte sich primär auf den Heidenchristen Trophimus und nicht auf Paulus richten müssen, denn er und nicht Paulus hat, falls er den inneren Tempelbereich betreten hat, die Entweihung zu verantworten. Sodann spielt im gesamten Prozessverlauf gegen Paulus das geschilderte Ereignis um Trophimus keine Rolle mehr. Man kann daher mit Heike Omerzu vermuten, dass entweder das Ursprungsdelikt im Prozess nicht weiter verfolgt werden konnte, da die Indizien fehlten, oder dass eben die Klage letztlich keinen Anhalt am faktischen Verhalten des Paulus im Tempel hatte, sondern eine gezielt vorgetragene, im Kern aber falsche Anklage darstellt, in die allerdings zurückliegende Konflikte einfließen. 73 Die Kläger, Diasporajuden aus der Asia, stellen ja seit Längerem eine massive Gegnerschaft für Paulus dar (Apg 16,6; 20,18-19; 1 Kor 15,32; 16,8-9; 2 Kor 1,8-11; Röm 16,4-7). Ob Paulus wirklich von der Hoffnung bewegt war, dass der Herodianische Tempel für Heidenchristen offenstehe 74 - wohl nicht als Ort des Opferkultes, sondern des Gebetes und der Frömmigkeit (im Sinne von Mk 11,17), und dass er in dieser Annahme eventuell bereits von den Hellenisten abhängig sei, diese Thesen bleiben wohl spekulativ. 70 Gegen diese Annahme spricht etwa, dass die Kollekte des Paulus sich nicht auf feste Steuersätze bezieht, sondern ihre Höhe aus dem freien Willen der Gemeinden gewinnt (1 Kor 16,2), und dass sie, wenn man Apg 20,16 folgt, nicht zu Pfingsten, sondern in der vorgeschriebenen Zeit, nämlich in dem Monat Adar zu überbringen gewesen wäre. 71 Theißen, Religion (s. Anm. 48), 162 und 197-198 Anm. 4, mit Verweis auf Mk 11,17. 72 Theißen, Religion, 162: „Er will in der Tat die Heiden zum Tempel bringen“; Wedderburn, History (s. Anm. 47), 55. 73 Omerzu, Prozeß (s. Anm. 4), 309-384. 74 Abermals Theißen, Religion (s. Anm. 48), 162: „An dem Vorwurf gegen Paulus ist so viel richtig, dass die Öffnung des Tempels den Hoffnungen des Paulus entsprach.“ <?page no="232"?> 232 Paulus und der Herodianische Tempel Vielleicht geben die Vorwürfe in Apg 21,28; 24,8 wieder, was man im Blick auf Paulus für möglich hielt. Wohl aber ist deutlich, dass angefangen von den Tempelmetapher-Aussagen der Korintherkorrespondenz bis hin zu der Vorstellung in Röm 15,16, der zufolge die Heiden als Opfer für Gott verstanden werden, vorsichtig eine Verortung auch der Heidenchristen in Bezug auf den Tempel gesucht wird. Jüdische Tempeltheologie lebt von der Exklusivität des Tempels, die in der faktischen Ausgrenzung der Heiden zum Ausdruck kommt und die gleichzeitig in der polemischen Antithese zu heidnischen Tempeln unter dem Vorwurf der εἰδωλολατρία besteht. Diese glatte Exklusivität wird von Paulus durchbrochen, indem er Heidenchristen dem Tempel Gottes zuordnet. Damit ist der Tempel wohl noch jüdischer boundary marker gegenüber den Heiden, er wächst aber doch zugleich in die Rolle eines identity marker für Juden, Judenchristen und Heidenchristen. <?page no="233"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 233 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde * Ausschließlich angewiesen auf die authentischen Briefe des Paulus, also ohne die Kenntnis der Apostelgeschichte des Lukas, wäre der Wissensstand über die Person des Paulus und seine Mission in den Städten in der Achaia und in Makedonien deutlich begrenzter. Beide Textgruppen, Apostelgeschichte und Paulusbriefe, verhalten sich an etlichen Stellen ergänzend zueinander und oft werden bestimmte Ereignisse der Missionsgeschichte durch korrespondierende Aussagen bestätigt. Diese Übereinstimmungen ergeben die wesentlichen Grundlinien für jede Paulusdarstellung. Daneben verdienen in gleichem Maße diejenigen Textpassagen Aufmerksamkeit, an denen Paulusbriefe und Apostelgeschichte eklatant voneinander abweichen, so etwa im Blick auf den Apostelkonvent, als dessen Gesprächsergebnis Lukas das Aposteldekret (Apg 15,20.29), Paulus hingegen die Kollektenvereinbarung (Gal 2,10) anführt, ohne dass beide Autoren zu erkennen gäben, dass das andere, nicht bei ihnen genannte Thema Gesprächsgegenstand des Konvents gewesen sei. Solche Abweichungen können der Überlieferungssituation geschuldet sein, sie können aber auch auf ein spezifisches Interesse des einzelnen Autors verweisen. Im Blick auf die Anfänge der christlichen Gemeinde in Korinth ist ein weiteres Beispiel für eine solche Abweichung gegeben. In Apg 18,1-17 werden der Synagogenvorsteher Krispus und sein ganzes Haus als Erstbekehrte (Apg 18,8) in Korinth genannt, die durch die Wirksamkeit des Paulus, aber erst nach Eintreffen von dessen Mitarbeitern Silas und Timotheus aus Makedonien zum christlichen Glauben finden. Unmittelbar vor diesem Korinthaufenthalt des Apostels sind durch seine Wirksamkeit in Athen die namentlich genannten Dionysius und Damaris sowie einige andere mit ihnen zum christlichen Glauben gekommen (Apg 17,34). Da Athen zu der im Jahr 27 v. Chr. begründeten römischen Provinz Achaia zählt, müsste ihnen das Attribut für die Erstbekehrten, nämlich ‚Erst- * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Stephanas und sein Haus. Die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia, in: D. C. Bienert / J. Jeska / Th. Witulski (Hg.), Paulus und die antike Welt. Beiträge zur zeit- und religionsgeschichtlichen Erforschung des paulinischen Christentums, Festschrift für Dietrich-Alex Koch, FRLANT 222, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 83-98. <?page no="234"?> 234 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia linge der Achaia‘ zu sein, zustehen und nicht Stephanas und seinem Haus, der in der Apostelgeschichte gar nicht, sondern ausschließlich im 1Kor erwähnt wird (1Kor 16,15). Wird diese Hausgemeinschaft um Stephanas ‚Erstling der Achaia‘ genannt, dann scheint der Übertritt des Synagogenvorstehers Krispus zum christlichen Glaubens nachgeordnet zu sein. Aber auch die von Paulus selbst erwähnte Taufe des Krispus und des Gaius, die noch vor derjenigen des Hauses des Stephanas in 1Kor 1,14-16 berichtet wird, wird nicht verknüpft mit dieser Bezeichnung. Insofern mutet das Prädikat ‚Erstling der Achaia‘ nicht nur gegenüber dem in 1Kor 1,14 und Apg 18,8 genannten Krispus 1 sowie gegenüber Gaius merkwürdig an, sondern auch gegenüber der Erwähnung der beiden Christen Dionysius und Damaris aus der Stadt Athen, die ja auch zum Gebiet der Achaia zählt. Überdies ist zu bedenken, in welchem Verhältnis Aquila und Priskilla zu den genannten Personen stehen, die nach Apg 18,1-2 bereits vor Paulus in Korinth angekommen sind. Da ihre Annahme des christlichen Glaubens weder von Paulus noch von der Apostelgeschichte jemals erwähnt wird, ist davon auszugehen, dass sie bereits als Judenchristen aus Rom nach Korinth gekommen sind. 2 Der ‚Ehrentitel‘ ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας wird, so will es scheinen, zugewanderten Christen oder gar Aposteln nicht verliehen, sondern den ersten Konvertiten einer Region. Der eingangs angesprochene Dissens zwischen dem Bericht der Apg und demjenigen des Paulus über die Anfänge in Korinth verdient im Licht einer vom Autor gesetzten Textpragmatik nochmals eine eigene Betrachtung. Der Synagogenvorsteher Krispus hat in den Anfängen der korinthischen Gemeinde sicher eine besondere Bedeutung, da sowohl Lukas als auch Paulus auf ihn zu sprechen kommen. Lukas thematisiert an seiner Person beispielhaft das Eindringen des Evangeliums in den Bereich der Synagoge und die damit einhergehenden Trennungen. Ob Lukas damit aber wirklich die erste Konversion zum Christentum in Korinth aufgreift, entzieht sich unserer Kenntnis. Für Paulus hingegen scheint Stephanas im Blick auf die Anfänge eine besondere Bedeutung zuzukommen, die sich nicht unbedingt aus seiner vergangenen Position, sondern zumindest aus seiner gegenwärtigen Beauftragung der Gemeinde gegenüber ergibt, da Paulus Stephanas als aktuelle Autoritätsperson, der sich die 1 Die Identität des in beiden Schriften erwähnten Krispus als ein und dieselbe Person ist durchaus nicht gesichert. Schrage, W., Der erste Brief an die Korinther, EKK 7 / 1, Neukirchen 1991, 155, möchte die Identität nicht ausschließen. Noch skeptischer scheint mir Lindemann, A., Der Erste Korintherbrief, HNT 9 / 1, Tübingen 2000, 42, zu sein, der sogar fragt, ob Lukas den Namen aus 1Kor 1,14 übernommen hat. 2 Ausführliche Nachweise bei Lampe, P., Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT II / 18, Tübingen 2 1989, 4-8. <?page no="235"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 235 Gemeinde unterordnen soll, einsetzt. Krispus hingegen wird von Paulus eher beiläufig neben Gaius erwähnt. Krispus und Gaius gehören in die Anfänge der Gemeinde, bleiben jedoch für die Folgezeit eher konturenlos, sehen wir einmal von der in Röm 16,23 erwähnten Gastfreundschaft des Gaius für Paulus ab. Dietrich-Alex Koch hat in den vergangenen Jahren etliche Publikationen zu der christlichen Gemeinde in Korinth 3 , den Bedingungen ihrer äußeren Organisation 4 und den Möglichkeiten einer christlichen Haltung in einem überwiegend römisch-hellenistischen Umfeld 5 erarbeitet. Der vorliegende Aufsatz möchte einen kleinen Beitrag zu Stephanas und seinem Haus bieten, die von Paulus als Erstkonvertiten angesprochenen werden, und gleichzeitig nach der Funktion dieser mit dem Prädikat ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας verbundenen Ausnahmestellung für den Apostel und die Gemeinde fragen. 1. Die Empfehlung des Stephanas und seiner Begleiter im Briefschluss des ersten Korintherbriefs Der Briefschluss des ersten Korintherbriefs, dessen Abgrenzung zum Briefkorpus in der Literatur nicht einheitlich vollzogen wird 6 , folgt formal den üblichen brieflichen, auch von Paulus genutzten Konventionen, wenn etwa Grüße (16,19-21), Grußaufträge (16,20b), ein direkter eigener Gruß (16,21), Gnadenwunsch (16,23), Besuchsankündigungen (16,5-7), Mitarbeiterempfehlung (16,10-11 und 16,15-16) und Paränesen (16,13-16) geboten werden. 7 3 Vgl. zuletzt den Überblick durch Koch, D.-A., Korinth, in: K. Scherberich (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 2, Neukirchen 2005, 159-162; ders., Paulus in Korinth, WUB 20, 2001, 20-23. 4 Koch, D.-A., Die Christen als neue Randgruppe in Makedonien und Achaia im 1. Jahrhundert n. Chr., in: H.-P. Müller / F. Siegert (Hg.), Antike Randgesellschaften und Randgruppen im östlichen Mittelmeerraum. Ringvorlesung an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster, MJSt 5, Münster u. a. 2000, 158-188. 5 Koch, D.-A., „Seid unanstößig für Juden und für Griechen und für die Gemeinde Gottes“ (1Kor 10,32). Christliche Identität im μάκελλον in Korinth und bei Privateinladungen, in: M. Trowitsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), Tübingen 1998, 35-54; ders., „Alles, was ἐν μακέλλῳ verkauft wird, eßt“. Die macella von Pompeji, Gerasa und Korinth und ihre Bedeutung für die Auslegung von 1Kor 10,25, ZNW 90, 1999, 194-219. 6 Schrage, W., Der erste Brief an die Korinther, EKK 7 / 4, Neukirchen 2001, 422, zählt 16,1-24 zum Briefschluss. Die Kollektenthematik (16,1-4) muss dann zur Schlussparänese subsumiert werden, was nicht undenkbar ist. Eine Begrenzung des Briefschlusses auf 16,13-24 (so Klauck, H.-J., Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, Paderborn 1998, 232) missachtet die konventionellen Aussagen in 16,5-12, die unbedingt zur Topik des Briefschlusses gehören. 7 Zu den Elementen des Briefschlusses: Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 6), 23-54; Müller, M., Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses, FRLANT 172, Göttingen 1997, 78-82. <?page no="236"?> 236 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia Gleichwohl bietet dieser Abschnitt dem Autor die letzte Möglichkeit in seinem Schreiben, innerhalb der formalen Konvention präzise Sachaussagen zu treffen, die abschließend dem weiteren Kommunikationsgefüge zwischen Autor und Adressaten dienen sollen. Die literarkritische Beurteilung des Briefschlusses stellte Johannes Weiß vor eine „unüberwindliche Schwierigkeit.“ 8 Ein erster Brief, geschrieben zu einem Zeitpunkt, zu dem die Spaltungen in Korinth noch in einem harmlosen Anfangsstadium gewesen seien, habe auch den Abschnitt 16,15-20 enthalten und sei in Ephesus geschrieben worden. Davon abzuheben sei ein zweiter Brief, kurz vor der verhängnisvollen Zwischenreise geschrieben, aber nicht mehr in Ephesus, sondern bereits in Makedonien. Die unüberwindliche Schwierigkeit besteht für Weiß nun darin, dass die Abfassungsumstände nahelegen, dass der Briefschluss keinesfalls in Ephesus geschrieben worden sein kann. Einerseits blicke der Briefschluss wegen 15,32 bereits auf die Zeit in Ephesus zurück, andererseits sei zu fragen, weshalb Timotheus (16,10) zeitlich erst nach dem Brief eintreffen werde, wenn er doch bereits vor Abfassung des Briefes nach Korinth geschickt wurde. Ich kann demgegenüber jedoch nicht erkennen, dass 15,32 zwingend voraussetzt, dass Paulus zur Zeit der Abfassung des Briefschlusses nicht mehr in Ephesus lebt. Auch meine ich, dass die Entsendung des Timotheus und sein Eintreffen in Korinth zeitlich nach dem Eingang des Briefes erklärlich ist, wenn Timotheus auf dem Landweg (vgl. bereits 4,17) reist, der Brief aber den schnelleren Seeweg nimmt. 9 Zunächst geht Paulus in 16,10-12 erstmals im Rahmen des Briefschlusses auf Mitarbeiter ein, wenn auch mit nötiger Differenzierung. Die Empfehlung der gastfreundlichen Aufnahme des sich gegenwärtig auf der Reise nach Korinth befindlichen Timotheus in der Gemeinde und der sich anschließenden Ausstattung zur Rückreise zu Paulus in Begleitung von Brüdern wird flankiert mit der weiteren Empfehlung, Timotheus stehe in absoluter Übereinstimmung zu Paulus (τὸ γὰρ ἔργον κυρίου ἐργάζεται ὡς κἀγώ). Apollos hingegen wird wohl als ἀδελφός angesprochen, aber doch in deutlicher Distanz zu dem paulinischen Missionswerk beschrieben, da sein mehrfacher Besuchsaufschub der korinthischen Gemeinde durchaus nicht in Übereinstimmung mit dem Willen des Apostels steht. In beiden Fällen werden diese Mitarbeiter also ganz wesentlich über die Intensität ihres Verhältnisses zu Paulus und ihre sachliche Übereinstimmung mit dem Apostel und seinen Entscheidungen vor der Gemeinde qualifiziert. 8 Weiß, J., Der erste Korintherbrief, KEK 5, Göttingen 1910, XLII. 9 Vgl. Lindemann, Korintherbrief (s. Anm. 1), 3-6. Einen guten Überblick über die Diskussionslage vermitteln Betz, H. D./ Mitchell, M. M., Art.: Corinthians, First Letter to the, ABD 1, 1992, 1139-1148, die gleichfalls die literarische Einheitlichkeit des Schreibens favorisieren. <?page no="237"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 237 Nachdem im Anschluss an die Empfehlung des Timotheus und den Bericht über Apollos in 16,13-14 kurze, eher konventionelle paränetische Mahnungen folgen, greift 16,15-18 erneut den Topos der Mitarbeiterempfehlung auf, allerdings in deutlich verschärfter Form. Bereits die Einführung mit παρακαλῶ δὲ ὑμᾶς ἀδελφοί setzt nach den allgemeinen Ausführungen in 16,13 f sehr nachdrücklich ein. Im Blick auf Stephanas begnügt sich Paulus nicht mit wenigen Andeutungen, sondern erinnert (οἴδατα … ὅτι ἐστίν) zunächst in einer Parenthese an die Stellung des Stephanas und seines Hauses in der christlichen Gemeinschaft der Achaia (ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας). Er erwähnt sodann und setzt bei den Adressaten als bekannt voraus, dass Stephanas und sein Haus in der zurückliegenden Zeit eine Selbstverpflichtung gegenüber einer Gruppe von Christen (οἱ ἅγιοι), die scheinbar von der Adressatengruppe zu unterscheiden ist, übernommen haben (εἰς διακονίαν τοῖς ἁγίοις ἑαυτούς). Die korinthische Gemeinde soll, so führt Paulus den mit παρακαλῶ δέ begonnen Satz fort, sich τοιούτοις, das heißt zunächst Stephanas und seinem Haus sowie jedem, der mitarbeitet, unterordnen. 10 Die Verwendung des Verbs ὑποτάσσεσθαι im Kontext der Gemeindeparänese ist bemerkenswert. Sinnvoll ist diese Erweiterung über Stephanas und sein Haus auf die Gruppe καὶ παντὶ συνεργοῦντι καὶ κοπιῶντι nur, wenn es sich nicht um allgemeine Mitarbeit innerhalb der christlichen Gemeinden handelt, sondern auf eine Mitarbeit zielt, die derjenigen des Stephanas und seines Hauses entspricht. Andernfalls bezöge sich die Unterordnungsforderung auf alle Mitarbeitenden in der Gemeinde, was ihr jegliche Ausrichtung nehmen würde und im Angesicht der Spaltungen in der korinthischen Gemeinde fatal wäre. Der Autor gibt schließlich seiner Freude darüber Ausdruck, dass ihn Stephanas in Begleitung von Fortunatus und Achaikus besucht hat und dass diese drei jetzt wohl noch bei ihm sind. Es ist nicht erkennbar, ob die Begleiter Mitglieder des Hauses des Stephanas sind. Sie repräsentieren eventuell die abwesende korinthische Hausgemeinde des Stephanas vor den Augen des Apostels in der Zeit der Trennung, auf jeden Fall aber haben sie einen spezifischen Beitrag als Ersatzleistung für die restliche Gemeinde bzw. anstelle der Gemeinde (τὸ ὑμέτερον ὑστέρημα οὗτοι ἀνεπλήρωσαν) erbracht, dessen spiritueller Ertrag als ein ἀναπαύειν des πνεῦμα des Apostels und des πνεῦμα der Gemeinde beschrieben wird. Abschließend und folgernd (οὖν) fordert der Text nochmals, das ὑποτάσσεσθαι aufnehmend, zu einem besonderen ἐπιγινώσκειν τοὺς τοιούτους, also des Stephanas und seines Hauses auf. 10 Ich meine gegen Lindemann, Korintherbrief (s. Anm. 1), 384, dass die Fortführung des begonnenen παρακαλῶ-Satzes durch ἵνα καὶ ὑμεῖς nicht notwendig impliziert, dass auch die in der Parenthese (16,15) genannten ἅγιοι sich bereits untergeordnet hätten. <?page no="238"?> 238 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia Angesichts dieser abschließenden Mitarbeiterempfehlung 11 des Stephanas und seiner Begleiter an dieser exponierten Stelle des Briefes mutet es äußerst merkwürdig an, dass Paulus die von ihm vollzogene Taufe des Stephanas und seines Hauses im Eingangskapitel zunächst vernachlässigt bzw. nebensächlich erwähnt (1Kor 1,12-14). Will er Stephanas, dem sich die korinthische Gemeinde unterordnen soll, der also in naher Zukunft als der Legat des Apostels nach Korinth zurückkehren wird, einerseits bewusst aus jeglichen mit Taufpraxis verknüpften Parteiungen heraushalten? Andererseits aber ist über das Verhältnis Täufer - Täufling in der Regel eine besondere Zuordnung angezeigt und so wäre Stephanas innerhalb der Fraktionen in Korinth als Pauliner zu erkennen. Da Paulus Stephanas in 1Kor 16,15-18 vor der Gemeinde empfiehlt und sie auffordert, sich Stephanas in bestimmter Hinsicht unterzuordnen, will es scheinen, als wirkten Stephanas und seine Hausgemeinschaft wie ein verlängerter Arm des Apostels in die korinthische Gemeinde hinein. 2. Die οἰκία Στεφανᾶ-- ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας Die οἰκία Στεφανᾶ (1Kor 16,15) bzw. der οἴκος Στεφανᾶ (1Kor 1,16) - die sachgemäße Übersetzung ist höchst umstritten 12 - scheint nicht nur für Paulus, sondern auch für die korinthische Gemeinde als ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας bekannt zu sein. Es geht entweder um das Haus des Stephanas, in dem sich eine oder die christliche Gruppe traf, oder um den Haushalt, dem Stephanas vorstand, der die Personen einschließt, die zu dieser Hausgemeinschaft gehören. 13 Auf 11 Zu dem Motiv der Mitarbeiterempfehlung in der Korintherkorrespondenz: Becker, E.-M., Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen / Basel 2002, 206 f. 12 Die sprachliche Differenz gilt den meisten als bedeutungslos, jedenfalls für den Gebrauch in hellenistischer Zeit (so ausführlich Weigandt, P., Art.: οἴκος, EWNT 2, 2 1992, 1222-1229, vor allem 1223). Hingegen legt Winter, B., After Paul left Corinth. The Influence of Secular Ethics and Social Change, Grand Rapids / Cambridge 2001, 196, größten Wert auf die Unterscheidung von οἰκία als ‚house‘ und οἴκος als ‚household‘ (196); vgl. auch den Appendix ‚The Meaning of οἰκία and οἴκος‘ (206-211). Es liegt Winter an dem Nachweis, dass der soziale Rollentausch zum Dienst an den Gemeindegliedern eben vom pater familias ausging, also von Stephanas als dem Patron des Hauses. In 1Kor 1,16 sei hingegen der ‚household‘ im Blick, die Hausgemeinschaft, die getauft wurde. 13 Die vorangegangene Forschung hat beide Texte zunächst auf ihren Beitrag zur Verfassung frühchristlicher Hausgemeinden analysiert; vgl. dazu Klauck, H.-J., Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, SBS 103, Stuttgart 1981; Stuhlmacher, P., Der Brief an Philemon, EKK, Neukirchen 1975, 70-75; Meeks, W. A., Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993, und Wolter, M., Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, ÖTK 12, Gütersloh 1993, 245-249 (mit einer umfangreichen Literaturliste). Die jüngere Forschungsgeschichte wird referiert durch Lehmeier, K., Oikos und Oikonomia. Antike Konzepte der Haushaltsführung <?page no="239"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 239 deren Bekanntschaft in dem einen oder anderen Sinn deutet der indikativische Gebrauch von οἴδατα … ὅτι ἐστίν hin. 14 Was impliziert dieses Syntagma, in dem ein Name bzw. eine Hausgemeinschaft mit ἀπαρχή und einer römischen Provinz verbunden sind? Die nächste, aber auch einzige direkte Parallele bietet Röm 16,5. Hier wird über Ἐπαίνετος gesagt, er sei ἀπαρχὴ τῆς Ἀσίας εἰς Χριστόν. Es mag sein, dass Paulus den Begriff ἀπαρχή primär aus der LXX , konkret aus der Opferterminologie übernommen hat, da er ihn in Röm 11,16 im Blick auf die Erstlingsfrucht verwendet (vgl. außerdem Ex 23,19; 25,2 f; Lev 2,12; 23,10; Dtn 18,4 LXX u. ö.). Doch auch in der klassisch-griechischen und der hellenistisch-griechischen Literatur wird der Begriff völlig entsprechend innerhalb der Opferterminologie gebraucht. 15 Die weitere Verwendung des Begriffs im Corpus Paulinum neben Röm 16,5 und 1Kor 16,15 markiert stets den Anfang einer spezifischen Folge. Christus ist nach 1Kor 15,20.23 ἀπαρχὴ τῶν κεκοιμημένων, dies verbürgt die zukünftige Auferstehung der Toten. Die ἀπαρχὴ τοῦ πνεύματος in Röm 8,23 verbürgt die Sohnschaft und die Erlösung. Ebenso blickt Röm 11,16 von der ἀπαρχή auf τὸ φύραμα. Wird man im Blick auf Röm 16,5 und 1Kor 16,15 Schrage darin folgen können, dass Paulus „die Erstbekehrten und Erstgetauften als ἀπαρχὴ τῆς Ἀσίας so wie Epainetos in Röm 16,5 als „ἀπαρχή Asiens“ kennzeichnet? 16 Ob Epainetos der Erstgetaufte Asiens war, entzieht sich unserer Kenntnis. 1Kor 1,14-16 lässt eine entsprechende Folgerung im Blick auf Stephanas und die Achaia aus den oben bereits genannten Gründen eher unwahrscheinlich sein, allein das Faktum einer Taufe des Krispus, des Gaius und sodann auch des Stephanas und seines Hauses durch Paulus wird erwähnt. 17 Da hier die Taufe von zwei Einzelpersonen (vgl. zu Krispus aber die Nennung des Hauses und der Bau der Gemeinde bei Paulus, MThSt 92, Marburg 2006, 11-46. Gleichzeitig wird nach dem sozialen Rollentausch in der christlichen Gemeinde gefragt, da Stephanas, also ein Patron eines Hauses, augenscheinlich Dienste versieht, die eigentlich Sklaven und Bedienstete ihm und seiner Familie gegenüber verrichten müssen; dazu Winter, Paul (s. Anm. 12), 184-205. Mit der Tatsache, dass Stephanas Patron ist, verbindet sich bei Winter wie bereits bei Meeks, Urchristentum (s. o.), 125, die Annahme, dass Stephanas zu den relativ wohlhabenden Bürgern der Stadt zählte. 14 Weiß, Korintherbrief (s. Anm. 8), 386. 15 Vgl. die Belege bei Passow, F., Handwörterbuch der Griechischen Sprache 1 / 1, Nachdruck Darmstadt 2004 (= Leipzig 5 1841), 301, sowie PRE 1 / 2, 2666 f. 16 Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 453. 17 Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 453 Anm. 166, lehnt das ‚historische Auspressen der Apostelgeschichte‘, wenn es um einen harmonisierenden Ausgleich mit den Paulusbriefen gehen soll, überzeugend ab. Nach dem gemeinsamen Zeugnis von 1Kor 1,14 und Apg 18,8 gehört Krispus in die Anfangszeit der korinthischen Gemeinde. Ist es denkbar, dass die Bekehrung des Stephanas und seines Hauses zeitlich noch weiter zurückreicht, also in die Zeit, bevor Silas und Timotheus nach Korinth kamen (Apg 18,5), oder in die Zeit, als Aquila und Prisca in Korinth eine erste Anlaufstation für Christen waren? In welchem zeitlichen Verhältnis standen Bekehrung und Taufe? <?page no="240"?> 240 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia in Apg 18,8) und sodann von einer Hausgemeinschaft berichtet wird, sollte zunächst die Schlussfolgerung, dass die Taufe einer Hausgemeinschaft durchaus immer der Regelfall war, ebenfalls nicht gezogen werden. 18 Es ist möglicherweise eine Verkürzung, bei der Verwendung des Namens bzw. einer Hausgemeinschaft mit ἀπαρχή und einer römischen Provinz ausschließlich in einem absoluten Sinn auf den Aspekt der oder des Erstbekehrten einer Provinz zu blicken und hierbei zu missachten, dass ἀπαρχή im paulinischen Sprachgebrauch wie auch innerhalb der Opferterminologie der LXX stets einen Anfang für eine spezifische Folge benennen will. Dies würde bedeuten, dass Stephanas und sein Haus als Erstbekehrte eine gegenwärtige Bedeutung haben für die Achaia gleichwie Epainetos für die Asia und beide wiederum letztlich für Christus. Es geht folglich die Blickrichtung der Wendung nicht ausschließlich und vielleicht nicht einmal primär zurück, um nach den Erstbekehrten zu fragen (so wohl 2Thess 2,13 v. l. ἀπ᾿ ἀρχῆς), und es liegt wohl auch nicht im Interesse des Ausdrucks, die Erstbekehrten an sich zu fixieren. Vielmehr soll von diesen Erstbekehrten, von ihrer im Blick auf die Anfänge in Erinnerung gebliebenen grundlegenden Bedeutung aus in geradezu strategischer Weise nach vorne geblickt werden auf ihre Funktion zunächst für den umgrenzten Raum einer Provinz, letztlich aber für Christus, εἰς Χριστόν (Röm 16,5). 19 Angesichts der oben angesprochenen Unsicherheit, wer eigentlich gemäß der Aussagen der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe als Erstbekehrter der Achaia anzusprechen ist, könnte man etwas überspitzt vielleicht sogar formulieren: Paulus spricht Stephanas als Erstbekehrten an und er verleiht ihm damit eine Würde, deren Wirkung in der Gegenwart zum Ausdruck kommen soll. Er verleiht Stephanas damit diejenige Autorität, der dieser nach seiner Rückkehr nach Korinth bedarf. Bereits Gerhard Delling hat unter Bezugnahme auf das in Paulys Realencyklopädie gesammelte Material auf die religiöse Verwendung von ἀπαρχή in Bezug auf Menschen in der profanen Gräzität aufmerksam gemacht, in der die Darbringung eines Bevölkerungsteils einer Polis in einem religiösen Akt an den delphischen Apoll zum Anlass für Kolonisierungen genommen wurde. 20 In der Wendung Ἐπαίνετος ὅς ἐστιν ἀπαρχὴ τῆς Ἀσίας εἰς Χριστόν (Röm 16,5) ist diese religiöse Zuordnung einer Provinz auf Christus, die von dem Erstbekehrten Epainetos ausgeht, durchaus noch zu greifen. Es ist daher bezeichnend, dass Paulus an nicht wenigen Stellen die Auswirkung seiner Missionsarbeit, 18 So aber Stegemann, E. W./ Stegemann, W., Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995, 240. 19 Diese Verwendung bietet eine dichte Parallele zu Plutarch, Thes. 16, wo eine Auswahl von Menschen (ἀπαρχὴ ἀνθρώπων) als Geschenk für einen Gott genannt wird. 20 Delling, G., Art.: ἀπαρχή, ThWNT 1, 1933, 483; auch PRE 1, 1894, 2667. Belege: Plutarch, Thes. 16; De Pyth. Or. 16 (II 402a); Quaest. Graec. 35 (II 298 f). <?page no="241"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 241 vor allem seine Sammlung der Kollekte, auf die gesamte Provinz reflektiert (zu Achaia: Röm 15,26; 2Kor 1,1; 9,2; 11,10; 1Thess 1,7 f; Makedonien: Röm 15,26; 2Kor 8,1; Phil 4,15; 1Thess 1,7 f; 4,10). Vielleicht macht diese Perspektivverschiebung deutlich, dass Krispus und Gaius, die nach 1Kor 1,14-16 gleichfalls zu den Erstgetauften in Korinth zu zählen sind, nicht als ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας angesprochen werden müssen, wohl aber Stephanas und sein Haus aufgrund ihrer bleibenden übergemeindlichen Bedeutung für die Achaia. 21 Ob Fortunatus 22 und Achaikus, die Reisebegleiter des Stephanas (1Kor 16,17), zu diesem Haus des Stephanas gehört haben oder jetzt noch gehören, kann nicht beantwortet werden. Die Formel ἡ κατ᾿ οἶκον ἐκκλησία kann ja nicht einmal mit Sicherheit auf eine Hausgemeinde eines Patrons bezogen werden. Es kann sich wohl auch um eine Gemeinde handeln, die sich in seinem Haus trifft, aber eben nicht zu den Mitgliedern des Hauses zählt. 23 Dass die Begleiter des Stephanas seine Einstellung und sein Verhältnis zu Paulus teilen und ihn darin unterstützen, sollte jedoch in der Reisebegleitung zum Ausdruck kommen. Auf jeden Fall ist ausgeschlossen, dass in dieser Dreierdelegation die gesamte Gemeinde repräsentiert wird, denn 1Kor 16,17 stellt diese Delegation der übrigen Gesamtgemeinde gegenüber (s. u.). 3. Der Dienst an den Heiligen Unlöslich verbunden mit dem Prädikat ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας ist ein noch näher zu klärender Dienst an den Heiligen (constructio ad sensum in der 3. Pers. Pl.), zu dem Stephanas und sein Haus sich zur Verfügung gestellt, verordnet, ein- 21 Meyer, H. A. W., Handbuch über den ersten Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 7 1888, 510, paraphrasiert ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας zutreffend: „die erste Familie, welche in Achaia das Christentum angenommen hat, somit der heilige Anbruch des Landes, insofern dasselbe christlich zu werden bestimmt und in der Entwickelung war.“ 22 Vgl. Gillman, J., Art.: Fortunatus, ABD 2, 1992, 852 f. Fortunatus zählt nach Solin, H., Die stadtrömischen Sklavennamen. Ein Namenbuch, FASk.Beiheft 2, Stuttgart 1996, 95-97, zu den am häufigsten bezeugten Sklavennamen. Dass es sich um einen lateinischen Namen tragenden Sklaven oder einen mittlerweile Freigelassenen der römisch geprägten Stadt Korinth handelt, sollte wahrscheinlich sein. Hingegen notiert Solin, Sklavennamen, 362, nur zwei Einträge für Achaicus in auf die Stadt Rom bezogenen Quellen, beide aus dem 1. und 2. Jh. n.Chr. Die Zuordnung zum Sklaven- oder Freigelassenenstand ist also weit weniger wahrscheinlich, als es in der Literatur zumeist dargestellt wird (so auch Gillman, J., Art.: Achaicus, ABD 1, 1992, 53 f). Achaikus oder seine Familie werden ursprünglich kaum aus der Achaia stammen. Der Name ist ihnen in der Fremde als geographischer Name zugewiesen worden (dazu Meeks, Urchristentum [s. Anm. 13],122 f). 23 Gielen, M., Zur Interpretation der paulinischen Formel ἡ κατ᾿ οἶκον ἐκκλησία, ZNW 77, 1986, 109-125; ebenfalls Merklein, H., Der erste Brief an die Korinther, ÖTK 7 / 1, Gütersloh 1992, 165; so auch Weigandt, Art.: οἴκος (s. Anm. 12), 1228. <?page no="242"?> 242 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia gesetzt haben. Gleichfalls ist zu klären, ob die in 16,17b-18 angesprochenen Sachverhalte mit diesem Dienst an den Heiligen in einem Zusammenhang stehen. „Worin die διακονία konkret besteht, lässt sich allerdings nicht sagen, auch wenn manche Vermutungen angestellt worden sind.“ 24 Dieses Urteil Wolfgang Schrages bleibt zu vage und wird den Textaussagen nicht gerecht. Nicht nachvollziehbar ist vor allem die Sicherheit, mit der Schrage wie bereits etliche Ausleger vor ihm 25 jeden Bezug zur Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde ausschließen will. 26 Immerhin bestehen zur Kollekte die nächsten sprachlichen Parallelen und die Ausdrucksweise des Paulus entspricht mehrfach der der Kollektenausführungen in 16,1-4. 27 Zu εἰς διακονίαν τοῖς ἁγίοις vergleiche man die entsprechenden Aussagen in den Kollektenpassagen in Röm 15,25 (διακονῶν τοῖς ἁγίοις), in 2Kor 8,4 (καὶ τὴν κοινωνίαν τῆς διακονίας τῆς εἰς τοὺς ἁγίους), in 2Kor 9,1 (τῆς διακονίας τῆς εἰς τοὺς ἁγίους). Das Verb ἔταξαν (16,15) ist bereits im Zusammenhang der Sammlung der Kollekte in Korinth im unmittelbaren Kontext in 16,1 in dem Kompositum διέταξα vorgegeben. Auch der Begriff ἅγιοι (16,15) begegnet in 16,1 klar definiert als ἅγιοι in Jerusalem, da Paulus sich anschickt, diese Sammlung entweder durch Gemeindeabgesandte oder gemeinsam mit ihnen zu überbringen (16,3 f; außerdem 2Kor 9,12). Es ist doch abwegig, diesen Kontext zu vernachlässigen und in den ἅγιοι unter Verweis auf 1Kor 1,1 alle Christen Korinths zu sehen, denen Stephanas und sein Haus diakonische Dienste erbracht hätte. 28 Kommt Paulus nun im Zusammenhang mit der Vorstellung, Stephanas und sein Haus sei ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας, in einem Atemzug auf den Sachverhalt zu 24 Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 455, der in Anm. 175 etliche dieser Vermutungen referiert. 25 Vgl. etwa das schroffe Zurückweisen einer Beziehung zur Kollekte bei Heinrici, G., Handbuch über den ersten Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 7 1888, 510. 26 Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 455 Anm. 175: „Sicher ist, daß [ …] nicht an die Kollekte für Jerusalem zu denken ist.“ Als Begründung führt Schrage, Korinther, 454 Anm. 171, an: „denn die Kollektenfrage ist mit V.1-4 erledigt“. Ebenso ablehnend Fee, G. D., The First Epistle to the Corinthians, NICNT, Michigan 1987, 829: „But the aorist of the verb, the content of v.16, and the context of the paragraph as a whole are against it“. Breite Zustimmung zu Fee durch Gillman, J., Art.: Stephanas, ABD 6 (1992), 206-208. 27 Collins, R. F., First Corinthians, Sacra Pagina Series 7, Collegeville 1999, 588 und 605, möchte einen Bezug zur Jerusalemer Kollekte nicht ausschließen. Auch Schnelle, U., Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 5 2005, 75, fragt, ob die erste Kollektenaktion in der korinthischen Gemeinde, auf die sich 1Kor 16,1 beziehen muss, mit Stephanas in Verbindung zu bringen ist. 28 Hierbei wird das kontextuell und sprachlich eindeutig auf die Kollekte bezogene διακονίαν τοῖς ἁγίοις recht beliebig ausgeweitet und seit Generationen, wie bei Meyer, Korinther (s. Anm. 21), 415, Heinrici, Korinther (s. Anm. 25), 511, und zuletzt Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 455, nachzulesen, sogar auf die in 17 f angesprochene Reise bezogen. <?page no="243"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 243 sprechen, dass diese sich selbst zu einem Dienst an den Heiligen verpflichtet haben, dann wird damit auch Folgendes angedeutet: a. Die Sammlung hat in der Anfangszeit der korinthischen Gemeinde begonnen. Diese διακονία ist unlöslich mit dem Namen Stephanas verbunden. b. Mit der Vorstellung, Stephanas und sein Haus sei ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας ist notwendig gegeben, dass die gesamte Achaia seinem Handeln nachfolgen muss und soll. c. Diese einzelne Hausgemeinde hat sich selbst zu einem Dienst an den Heiligen verordnet. Sie hat folglich den vorausliegenden Impuls des Apostels Paulus zu einer Sammlung aufgenommen. 29 Es liegt völlig fern, von dieser Selbstverpflichtung der Hausgemeinde her auf Fragen frühchristlicher Amtsstrukturen zu schließen. d. Wenn eine einzelne Hausgemeinde im Briefschluss für ihren Einsatz bezüglich der Heiligen vor der Gesamtgemeinde gelobt wird und die Gesamtgemeinde anschließend aufgefordert wird, sich solchen Menschen unterzuordnen, dann liegt als Konsequenz nahe, dass Stephanas und sein Haus etwas getan haben, was die anderen Christen in Korinth nicht eingelöst haben. 4. Die stellvertretende Leistung der Hausgemeinde des Stephanas Die Ankunft oder auch die Anwesenheit des Stephanas und seiner Begleiter Fortunatus und Achaikus in Ephesus ist für Paulus Anlass zur Freude. Jedoch wird man den sich unmittelbar anschließenden ὅτι-Satz in 1Kor 16,17b unbedingt in diesen Gedankengang mit aufnehmen müssen, da er inhaltlich anzeigt, worauf sich die Freude des Apostels bezieht. Denn nicht die Ankunft oder Anwesenheit an sich, sondern der von ihnen im Zusammenhang dieses Besuches berichtete oder vollendete Ertrag ihres zurückliegenden Einsatzes ist Gegenstand der Freude. Gewiss kann man Paulus vorwerfen, dass er mit ὅτι τὸ ὑστέρημα οὗτοι ἀνεπλήρωσαν (1Kor 16,17b) eine „etwas blumige Ausdrucksweise“ 30 wählt. Oftmals wird diese Wendung dahingehend paraphrasiert, dass diese Delegation sozusagen die korinthische Gemeinde vor Paulus in Ephesus repräsentiert und für den Apostel das Empfinden ihrer Abwesenheit reduziert. 31 Hierbei wird im 29 Gal 2,10 gibt zu erkennen, dass Paulus in den von ihm gegründeten Gemeinden stets für die Kollekte eingetreten ist. 1Kor 16,1 setzt das Wissen um die Kollekte in der korinthischen Gemeinde voraus, regelt jedoch die Modalitäten für die wohl aus mehreren Hausgemeinden bestehende Gesamtgemeinde. 30 Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 457. 31 So Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 457. <?page no="244"?> 244 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia Blick auf τὸ ὑμέτερον ὑστέρημα die objektive Fassung favorisiert: der Mangel besteht in der Nichtanwesenheit der Korinther, die durch die Delegation partiell aufgehoben wird. Es wird gelegentlich Phil 2,30 als Parallele zu 1Kor 16,17 und als weiterer Beleg für die objektive Fassung herangezogen. 32 Allerdings spricht Phil 2,30 eindeutiger von einem Dienst, den Epaphroditus stellvertretend für die Gemeinde an dem Apostel versehen hat: ἵνα ἀναπληρώση τὸ ὑμῶν ὑστέρημα τῆς πρὸς με λειτουργίας. Doch wird man die Untertöne des ὅτι-Satzes nicht überhören dürfen. Andreas Lindemann führt zu recht aus: „Das betonte οὗτοι […] könnte tatsächlich zumindest einen Gegensatz zwischen der Gemeinde und der Stephanas-Gruppe implizieren: Ihr habt es mangeln lassen, diese haben den Mangel beseitigt.“ 33 Diese Lesart folgt daher einer subjektiven Fassung 34 von τὸ ὑμέτερον ὑστέρημα: die Korinther haben eine bestimmte Leistung unterlassen, dies stellt sich für den Apostel als Mangel dar. Philologisch sind beide Lesarten möglich, allein der Kontext und wiederum das gewählte Vokabular einer recht festen Wortverbindung spricht meines Erachtens für die subjektive Fassung und macht es wahrscheinlich, dass Paulus auch in diesem Vers das in 16,15 begonnene Thema der Kollekte fortsetzt. Ὑστέρημα ist neben 1Kor 16,17 dreimal in Kollektenaussagen in 2Kor 8,14 und 9,12 bezeugt, stets im Blick auf den objektiven Mangel der Urgemeinde oder der Korinther. In 2Kor 9,12 begegnet zudem wie in 1Kor 16,17 ein Kompositum zu πληροῦν: in 1Kor 16,17 ἀναπληροῦν, in 2Kor 9,12 προσαναπληροῦν. Worin besteht nun konkret τὸ ὑμέτερον ὑστέρημα der korinthischen Gemeinde? Auszuschließen ist der Gedanke einer fehlenden Gabe oder Unterstützung an Paulus, da dieser in 1Kor 9,15 den Unterhaltsverzicht für seine Person begründet hat. 35 Die Stephanas-Gruppe hat nach 1Kor 16,15 die Verpflichtung für den Dienst an der Urgemeinde übernommen. Obwohl diese 32 Müller, U. B., Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11 / I, Leipzig 1993, 132. 33 Lindemann, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 385. Allerdings meine ich gegen Lindemann nicht, dass bereits 1Kor 16,18 anzeigt, wie die Stephanas-Gruppe das gemacht hat. Ganz ähnlich wie Lindemann argumentiert auch Ollrog, W.-H., Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission, WMANT 50, Neukirchen 1979, 97 f. 34 Strikt gegen eine subjektive Lesart wendet sich Fee, Corinthians (s. Anm. 26), 832 Anm. 37, mit Verweis auf Phil 2,30. 35 Theißen, G., Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 3 1989, 231-271, betont die Nähe zu Phil 2,30 (ἵνα ἀναπληρώση τὸ ὑμῶν ὑστέρημα τῆς πρός με λειτουργίας). Hier wird von einer materiellen Unterstützung des Paulus durch Epaphroditus gesprochen. Theißen erkennt gleichzeitig auch die sprachlichen Parallelen zu den Kollektenaussagen und deutet daher auf eine materielle Unterstützung, die Paulus in Ephesus durch Stephanas erhielt. 2Kor 11,9 schließe nach Theißen nicht aus, dass Paulus sich außerhalb Korinths habe unterstützen lassen (249). <?page no="245"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 245 Sammlung allen heidenchristlichen Gemeinden auferlegt war, hat in Korinth nur diese Hausgemeinde die Kollekte durchgeführt. Durch die Ankunft oder die Anwesenheit des Stephanas, des Fortunatus und des Achaikus ist Paulus zumindest über diesen Sachverhalt informiert worden. Er interpretiert diese Sammlung der Hausgemeinde des Stephanas so, dass sowohl sein Geist, dann aber auch das πνεῦμα der Gesamtgemeinde beruhigt 36 worden ist. Damit wird die Kollektenforderung gegenüber der Gesamtgemeinde nicht hinfällig, wie 1Kor 16,1-4 und die Unterordnungsforderung unter Stephanas und seine Hausgemeinde sowie unter alle, die so arbeiten wie er (1Kor 16,16) zeigen. Die merkwürdig anmutende Vorstellung eines ἀναπαύειν τὸ πνεῦμα ὑμῶν mag andeuten wollen, dass durch das Verhalten des Stephanas auf den in und über der Gemeinde waltenden Geist Einfluss genommen worden ist. Kann der Rückblick in dem späteren Kollektenbrief in 2Kor 9,2 („Achaia ist schon seit Jahrfrist gerüstet, und euer Eifer hat bereits die Mehrzahl angespornt“) auf diesen Einsatz der Hausgemeinde des Stephanas bezogen werden? Diese Aussage befindet sich in demjenigen Teil des Briefes, der dem Exordium zugerechnet wird und der hier in einer Captatio benevolentiae die Aufmerksamkeit und die Zuneigung der Leserschaft zu erreichen sucht. Dennoch entbehren die Aussagen nicht einer Grundlage. Hans Dieter Betz hat größten Wert darauf gelegt zu betonen, dass Paulus in 2Kor 9,2 von Achaia spricht und dass daher Korinth nicht eingeschlossen sei. Paulus beziehe sich exklusiv auf eine Kollektenaktion bei den achäischen Christen. Das in 9,2 verwendete Verb παρασκευάζειν, welches einen militärischen Ausdruck aufnehme, bedeute, dass man in der Achaia bereit gewesen sei, die Durchführung aber unterlassen habe und daher jetzt der Hilfe der von Paulus entsandten Boten bedürfe. 37 Doch ist dieser Ausschluss Korinths aus der Achaia in keiner Weise nachvollziehbar. Betz führt als Begründung an, dass bislang keine Kollekte in Korinth erhoben worden sei. Dies ist aus meiner Sicht zweifelhaft. Vor allem aber ist die Abhebung Korinths von der Achaia willkürlich und dem üblichen Sprachgebrauch nicht entsprechend. Auch werden korinthische Christen bei der Lektüre gewiss nicht empfunden haben, hier als Nichtbeteiligte an der Kollekte im Visier des Apostels zu sein. Wenn man fragt, auf welches Ereignis in der um Jahresfrist zurückliegenden Zeit sich die in 2Kor 9,2 genannte Bereitschaft der Achaia beziehen kann, dann sollte die Sammlung der Hausgemeinde des Stephanas, die ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας ist, auf jeden Fall berücksichtigt werden. Sie soll als eine 36 Conzelmann, H., Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 1969, 358 Anm. 14, in Aufnahme einer Auslegung von Paul Schmiedel: „Die Bedeutung ‚erquickt‘ würde nicht zu τὸ ὑμῶν passen, also: ‚beruhigt‘, indem sie den Rückstand auffüllten.“ 37 Betz, H. D., 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus, Gütersloh 1993, 169 f. <?page no="246"?> 246 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia Partikularaktion innerhalb der korinthischen Gemeinde signalisieren, dass die Bereitschaft innerhalb der Achaia besteht. 5. Stephanas und Paulus Ob Stephanas und seine Begleiter erst kürzlich angekommen oder bereits seit einiger Zeit bei Paulus sind, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären. In 2Kor 7,6 f; Phil 1,26 bezieht sich παρουσία auf die Ankunft, in 2Kor 10,10; Phil 2,12 auf die Anwesenheit des Apostels oder eines seiner Mitarbeiter. Wer bei der Übersetzung von τὸ ὑμέτερον ὑστέρημα die objektive Fassung favorisiert, wird den Aspekt der Anwesenheit der Dreierdelegation betonen: der Mangel besteht in der Nichtanwesenheit der Korinther, die durch die Anwesenheit der Delegation partiell aufgehoben wird. Wer hingegen die subjektive Lesart bevorzugt, denkt an das Unterlassen einer bestimmten Leistung der korinthischen Gemeinde. Mit der Ankunft der Dreierdelegation jedoch ist etwas geschehen, das diesen subjektiven Mangel ausgefüllt und zum Guten gewendet hat. Diese haben etwas getan, was die Gemeinde unterlassen hat. Aus dem gesamten Kontext erscheint diese letzte Version als die wahrscheinlichere: die Ankunft der Boten hat etwas verändert. Conzelmann erwägt sogar, dass diese Boten erst jetzt, also während des Diktats oder des Schreibens des Briefes, der nicht an einem einzigen Tag verfasst wurde, angekommen sind. 38 Dies würde dann freilich die häufig ausgesprochene Vermutung ausschließen, dass Stephanas möglicherweise den Fragenbrief (1Kor 7,1) aus der korinthischen Gemeinde mitgebracht habe. 39 Die in ihm gestellten Fragen sind ja, die literarische Einheitlichkeit des Schreibens vorausgesetzt, bereits beantwortet zu dem Zeitpunkt, als die Delegation eintrifft. Wenn Paulus nun den Einsatz des Stephanas für die Kollekte erwähnt und die Gemeinde auffordert, sich ihm und allen, die wie Stephanas für die Kollekte eintreten, unterzuordnen, und wenn er das Verhalten dieser Hausgemeinde dem mangelhaften Verhalten der Gesamtgemeinde gegenüberstellt, dann liegt der Schluss nahe, dass die Freude des Apostels nicht nur der Ankunft des Stephanas und seiner Begleiter an sich geschuldet ist, sondern direkt mit dem zusammenhängt, was Paulus über Stephanas anspricht, also die Kollektensammlung. Weshalb haben Stephanas, Fortunatus und Achaikus Paulus in Ephesus besucht? Es ist nicht zu erkennen, dass sie sozusagen als offizielle Delegierte der 38 Conzelmann, Erste Brief an die Korinther (s. Anm. 36), 358 Anm. 9; so bereits Bachmann, P., Der erste Brief des Paulus an die Korinther, KNT 7, Leipzig 1910, 472. 39 Diese Vermutung bei Wolff, C., Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig 1996, 436; Schrage, Korinther (s. Anm. 6), 457; vgl. aber ebd. Anm. 188 auch die Erwähnung gegenteiliger Positionen. <?page no="247"?> Ihre Stellung in der Kommunikation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde 247 korinthischen Gemeinde kommen. 40 Die Gegenüberstellung dieser Boten zum Verhalten der Gemeinde in 1Kor 16,17 schließt die Stellung eines ‚offiziellen Vertreters‘ aus und lässt es ebenso unwahrscheinlich sein, in diesen Boten gar die Gemeindeleiter 41 der korinthischen Gemeinde zu sehen. Es liegt nicht einmal nahe, dass diese Delegation einen von der Gesamtgemeinde verantworteten Brief überbringt. 42 Deutlich ist wohl nur, dass Stephanas seit seiner Bekehrung, vor allem seit seiner von Paulus empfangenen Taufe zu denjenigen Christen in Korinth gehört, die auf besondere Weise den Kontakt zu Paulus gehalten haben, was durch diesen Besuch in Ephesus zum Ausdruck kommt. Freilich reiht sich sein Besuch in denjenigen anderer korinthischer Christen wie der Leute der Chloe ein (1,11). Ich halte es also für wahrscheinlich, dass die Hausgemeinde des Stephanas eine Sammlung durchgeführt hat, allerdings noch nicht nach den in 1Kor 16,1 angesprochenen Modalitäten. Ob Paulus allerdings erst durch die Ankunft der Stephanas-Gruppe über die von ihnen durchgeführte Sammlung unterrichtet worden ist oder ob die Gruppe sogar zu Paulus gereist ist, um den Betrag zu überbringen, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedoch wird Stephanas den Rückweg mit einer klaren, in 1Kor 16,15-18 enthaltenen Empfehlung antreten, der zufolge sich die Gemeinde in Korinth an seinem Beispiel orientieren soll. Die Vermutung, dass Stephanas also zugleich der Überbringer des ersten Korintherbriefs ist, hat demnach gute Gründe für sich. 43 Die von Paulus geforderte Unterordnung der Gemeinde unter Stephanas und alle, die so arbeiten wie er, stellt eine Paränese dar, die unlöslich verbunden ist mit dem Einsatz des Stephanas und seiner Hausgemeinde für die Heiligen in 40 Deutlich und klar bereits Bachmann, Korinther (s. Anm. 38), 472, der seinerseits als Besuchsgrund „nicht offizielle Pflichten, sondern persönliche Motive, sei es christlicher oder rein menschlicher Art“ annimmt. 41 Trebilco, P., The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius, WUNT 166, Tübingen 2004, 199, verknüpft den Status des Erstbekehrten mit der Möglichkeit, in ihm den Gemeindeleiter zu sehen. 42 Fee, Corinthians (s. Anm. 26), 832, macht Stephanas und die Begleiter zu einer ‚official delegation‘ der korinthischen Gemeinde, was gerade in dem Faktum, dass sie einen Brief überbringen, zum Ausdruck komme. Venetz, H.-J., Stephanas, Fortunatus, Achaicus, Epaphroditus, Epaphras, Onesimus & Co. Die Frage nach den Gemeindevertretern und Gemeindegesandten in den paulinischen Gemeinden, in: A. Kessler u. a. (Hg.), Peregrina Curiositas. Eine Reise durch den orbis antiquus, NTOA 27, Freiburg / Ch-Göttingen 1994, 13-28, erkennt in den drei Gesandten „Mitglieder der Gemeindeleitung in Korinth“ (27). Lang, F., Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen 1986, 248, spricht von einer Gemeindedelegation, die auch den Fragenbrief überbracht habe. Demgegenüber hat Bachmann, Korinther (s. Anm. 38), 471 f, bereits zu Recht darauf hingewiesen, dass die Unterordnungsmahnung überflüssig wäre, wenn es sich um Gemeindedelegaten handele. 43 Die Angabe der Subscriptio (vgl. zu 1Kor 16,24), die Stephanas, Fortunatus, Achaikus und Timotheus zu den Überbringern des Briefes macht, ist wohl aus 1Kor 16,10.17 erschlossen worden. <?page no="248"?> 248 Stephanas und sein Haus-- die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia Jerusalem. Es ist deutlich, dass Paulus Stephanas und seine Begleiter mit dieser abschließenden Empfehlung im ersten Korintherbrief zu seinen ausgewiesenen Delegaten neben Timotheus (1Kor 4,17) macht. Über Stephanas versucht Paulus Einfluss auf eine Gemeinde zu nehmen, die gegenwärtig in Fraktionen zu zersplittern droht. Diese vorbehaltlose Empfehlung zeigt auch an, dass Stephanas die Sache des Paulus vertrat und in Korinth als Pauliner wiedererkannt werden sollte. Die betonte Erinnerung der korinthischen Gemeinde, Stephanas und sein Haus sei ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας, bindet die Gemeinde in ihren relativ undurchsichtigen Fraktionierungen an eine Ursprungsgestalt des christlichen Glaubens in Korinth und an den mit dieser Person und seiner Hausgemeinde verbundenen Apostel zurück. Paulus verleiht der Person des Stephanas überdies mit ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας ein Prädikat, dessen Funktion hier sowohl als Altersbeweis als auch als Verpflichtung für die Zukunft erkannt wurde. <?page no="249"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 249 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 * Das apostolische Selbstverständnis des Paulus findet literarisch seinen ersten Ausdruck in den Präskripten aller seiner Briefe, in denen er mit auf die Abfassungssituation bezogenen Variationen gegenüber den Adressaten auf sein apostolisches Amt verweist: Paulus stellt sich vor als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ κλητὸς ἀπόστολος (Röm 1,1), κλητὸς ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ (1 Kor 1,1), ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ κλητός (2 Kor 1,1), ἀπόστολος … διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ (Gal 1,1), δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ (Röm 1,1; Phil 1,1), δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ (Phlm 1). Im Römerbrief wiederum - und nur in diesem Brief - ist diese apostolische Selbstvorstellung innerhalb des Präskripts (Röm 1,1-7) weit über das formal Übliche hinaus ausgeweitet und inhaltlich sowohl auf das Apostolat als auch das mit diesem unlöslich zusammenhängende Evangelium ausgestaltet worden, so dass bereits dieses Präskript von Eduard Lohse als theologisches Programm qualifiziert worden ist 1 . Überdies tritt Paulus in dem Präskript dieses Briefes alleine auf, also ohne weitere Mitabsender, was ungewöhnlich ist und wohl auf die bemerkenswerte Stellung des Apostelamts in diesem Schreiben hinweist 2 . Der Verweis auf das Amt des κλητὸς ἀπόστολος alleine erscheint einer Hohlform vergleichbar, die durch weitere Teile des Briefes ihre spezifische Form gewinnt. Wenn nun aber hier in einem engeren Sinn nach dem apostolischen Selbstverständnis des Paulus in Röm 15 gefragt werden soll, dann stellt sich im Anschluss die Frage, was denn in diesem Text - und eben an dieser Stelle - gesagt wird, das über das im Briefganzen und im Präskript zum Ausdruck Kommende hinausgeht. Es sind, so viel sei jetzt bereits vorweggenommen, einerseits Textsignale, die klärungsbedürftig sind, andererseits prononcierte Forschungsthesen, die 1 E. Lohse, Das Präskript des Römerbriefs als theologisches Programm, in: idem, Das Neue Testament als Urkunde des Evangeliums. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments III, FRLANT 192, Göttingen 2000, 104-116. 2 K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II 25.2, Berlin / New York 1984, 1034-1432, hat im Blick auf Röm 1,1-5 (und andere Texte) vorgeschlagen, von der Untergattung eines Apostolikon zu reden. Dieses diene der „Selbsteinführung des Apostels zu Beginn eines Briefes, wozu auch […] die Begründung seiner Funktion im Gegenüber zu den Angesprochenen, eine kurze Darstellung seiner Botschaft und eventuell auch die Abweisung gegenteiliger Meinungen“ gehöre (1353). * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15, in: U. Schnelle (Hg.), The Letter to the Romans, BETL 226, Leuven 2009, 225-246, © Peeters, Leuven. <?page no="250"?> 250 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 sich auf das Apostolatsverständnis und die Interpretation des Briefs insgesamt beziehen 3 . Die Frage nach dem apostolischen Selbstverständnis des Paulus im Römerbrief spielt in fast allen Thesen zum Abfassungszweck des Römerbriefs eine herausragende Rolle. Sei es, dass man das Schreiben als pastorales oder als missionsstrategisches Schreiben, als Apologie des Paulus oder als Eröffnung einer apostolischen Partnerschaft begreift, stets ist die besondere individuelle Ausrichtung des Apostels im Blick 4 . Freilich bewegt man sich dabei in einem hermeneutischen Zirkel. Je nachdem, wie die Fragen der Veranlassung und des Abfassungszwecks dieses Schreibens beantwortet werden, treten spezifische, aber insgesamt eben doch divergierende Leitbilder für seinen Verfasser unweigerlich in den Vordergrund. Wer umgekehrt zunächst die Orientierung an einem bestimmten Modell apostolischen Selbstverständnisses wählt, ist damit in der Bestimmung des Abfassungszwecks in hohem Maße festgelegt. Man kann aus diesem Zirkel nicht ausbrechen, sollte also die gegenseitige Bedingtheit von Abfassungszweck und der im Brief zum Ausdruck kommenden Selbstvorstellung des Verfassers im Blick behalten. Wohl aber meine ich, dass die Frage nach dem Selbstverständnis des Paulus im Verhältnis zu dem vermuteten Abfassungszweck bislang zu wenig beachtet worden ist. Dies alles mag als selbstverständlich erscheinen, so lange man überhaupt noch bereit ist, die Suche nach der intentio auctoris als statthaftes Unternehmen gelten zu lassen, was gegenwärtig auch im Blick auf den Römerbrief fraglich zu werden scheint. Mich hat zunächst verwundert, dass hinsichtlich dieses Zusammenhangs von Autorselbstinszenierung und Abfassungszweck seines Schreibens im Blick auf Röm 15 die Forschungsmeinungen weit auseinandergehen und zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dies setzt schon ein bei der Frage, welchen Stellenwert die Abschnitte Röm 15,7-13 und 15,14-33 im Briefganzen haben. In etlichen Abhandlungen wird der zuletzt genannte Abschnitt zu einem Briefschluss abgewertet, der kein besonderes Gewicht trage 5 oder eine Bezugnahme auf den Briefhauptteil gar als irreführender Weg be- 3 E. J. Schnabel, Urchristliche Mission, Wuppertal 2002, 907-941, bietet einen umfangreichen Abschnitt zum missionarischen Selbstverständnis des Paulus und er behandelt hier auch Röm 15,15-21. 4 Ich folge in diesen vier Bestimmungen M. Theobald, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 35-42. 5 Für T. H. Tobin, Paul’s Rhetoric in Its Contexts. The Argument of Romans, Peabody 2004, spielt der Abschnitt 15,8-16,27 keine tragende Rolle im Römerbrief. Die am Duktus des Römerbriefs orientierte Auslegung bricht nach 15,7 ab. Allerdings geht Tobin in der Einleitung gelegentlich auf diesen Schlussabschnitt ein (vgl. auch den Appendix 425-430). <?page no="251"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 251 schrieben 6 . In dem neuen Römerbrief-Kommentar Robert Jewetts hingegen wie in etlichen diesem Kommentar vorangehenden Studien dieses Forschers 7 wird er zum Ziel- und Höhepunkt des ganzen Briefes aufgewertet, so dass Jewett von Paulus als von einem Autor spricht, „who created a sixteen-chapter letter with the climax at the end“ 8 . Ebenso urteilt Martin Vahrenhorst: „Dieser Abschnitt hat für die Frage nach der Abfassungsabsicht des Römerbriefs eine kaum zu überschätzende Bedeutung“ 9 . Man sollte sich aber zur Beantwortung der Frage des Briefaufbaus zunächst nicht durch eine Suche nach einem rhetorischen Dispositionsschema und einem ihm korrespondierenden Brieftypus den Blick verstellen lassen, sondern die Textaussagen wahrnehmen. I. Autobiographisches Reden in Röm 15,7 - 33 Der Abschnitt Röm 15,7-13 ist durch den mit διό eingeleiteten Übergangsvers Röm 15,7 eng auf den vorhergehenden Abschnitt Röm 14,1-15,6 bezogen. Paulus lenkt den Leser unter Verweis auf seine Meinung (λέγω γάρ) dann über einen christologischen Fundamentalsatz im Blick auf Israel und einen mehrfach gestuften Schriftbeweis im Blick auf die Heiden zu dem in Röm 1,16 genannten Thema zurück, dem Evangelium für den Juden und den Heiden, dessen er sich nicht schämt. Da dieses Thema im gesamten Brief nie aus dem Blick geraten ist, ist Theobalds Einschätzung zutreffend, es werde „die übergreifende Heilsperspektive des ersten großen Briefteils Röm 1-11 noch einmal in Erinnerung“ gerufen 10 . Der Abschnitt schließt mit einem konduktiven Gotteszuspruch in Röm 15,13, der etliche zentrale Begriffe, Wortfelder und Motivkreise des Brie- 6 So jetzt V. Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom. Zu Herkunft und Funktion der Antithese in 1 Kor 8,1-11,1 und in Röm 14,1-15,13, WUNT II / 200, Tübingen 2004, 336. 7 R. Jewett, Following the Argument of Romans; wieder abgedruckt in: K. P. Donfried (ed.), The Romans Debate. Revised and Expanded Edition, Peabody 1995, 265-277. „If one were to pose the traditional question of the ‚high point‘ or ‚climax‘ of Romans, it is surely to be found in the peroration in chapters 15-16 rather than in the abstract, doctrinal themes of the earlier part of the letter.“ Donfried hat in der 1991 geschriebenen Introduction dieses Sammelbandes eine emphatische Zustimmung zu Jewetts Ansatz abgegeben (LVII-LVIII). 8 R. Jewett, Romans. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2007, 18, und ibd., „And as the rhetorical analysis will show, the material in 15: 14-16: 16+21-24 constitutes the peroration and thus the highpoint of the letter.“ 9 M. Vahrenhorst, Heiligung. Studien zur kultischen Begrifflichkeit in den paulinischen Briefen und ihren religionsgeschichtlichen Kontexten, Habil. Kirchliche Hochschule Wuppertal 2006, 298. 10 M. Theobald, Römerbrief, Kapitel 12-16, SKK 6 / 2, Stuttgart 1993, 185. Ebenso M. Müller, Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses, FRLANT 172, Göttingen 1997, 234, der im Briefkorpusabschluss die Summe des Römer- <?page no="252"?> 252 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 fes aufnimmt, aber doch unter der Etikette „Summe dieses Briefes“ missverständlich wirkt 11 . Durch Markus Müller hat sich für diesen Teil die Bezeichnung ‚Briefkorpusabschluss‘ durchgesetzt, den es von dem erst jetzt folgenden Briefschluss zu unterscheiden gilt. Während in dem Briefkorpusabschluss - sofern man dieser Funktionsbestimmung des Abschnitts Röm 15,7-13 durch Markus Müller folgen mag - der Autor Paulus nur am Rande in Röm 15,8a auf seine Person verweist, thematisiert er sich in Röm 15,14-32 durchgehend selbst, und dies fast in jedem Vers. Der Übergang zur 1. Pers. Sing., so zuletzt in Röm 12,1.3, erschien manchen Auslegern als stilgemäßer Wechsel zum konventionellen Formular des Briefschlusses, weshalb der Gehalt dieses Abschnitts oftmals gering geachtet wurde. Von ‚Schreiben und Reisen‘ sei hier in Röm 15,14-32 die Rede oder einfach von Reiseplänen und Mitteilungen. Doch wird hierbei die vielfältige und theologisch bedeutsame Weise, wie Paulus erneut auf sein apostolisches Selbstverständnis zu sprechen kommt und es planvoll inszeniert, nicht gewürdigt. Es geht eben nicht nur um ‚Schreiben und Reisen‘. Gewiss tritt Paulus im Anschluss an den Briefkorpusabschluss mit Röm 15,14 in den eigentlichen Briefschluss ein. Dennoch überraschte etwa Michael Theobald in seinem Forschungsbericht die relative Einmütigkeit der Forschung damit, Röm 15,14 ff. und nicht den vorangehenden Briefkorpusabschluss als Peroratio des Schreibens zu betrachten 12 . Diejenigen Exegeten allerdings, die in Röm 15,14-16,24 die Peroratio des Schreibens erkennen, sind entweder genötigt, Etliches, was üblicherweise wirklich zu konventionellen Aussagen eines Briefschlusses gehört, theologisch aufzuwerten oder aber gleich das ganze Schreiben unter eine Zielsetzung zu subsumieren, die sich erst aus diesem Schlussteil ergibt. Ich denke, dass man in jedem Fall innerhalb des Großabschnitts Röm 15,14-16,23 nochmals differenzieren sollte. Zumindest der Abschnitt Röm 15,14-21 kann nicht einfach unter die Rubrik Briefschluss eingeordnet und allem anderen in diesem Textteil Gesagten gleichgestellt werden. Wegen der hier gebotenen Ausführungen zum apostolischen Amt schaut der Text wohl auf die Reisepläne voraus, setzt aber hierbei solch grundsätzliche Akzentuierungen, dass ihm eine Sonderstellung zwischen Briefkorpusabschluss und Reiseplänen zuzuweisen ist. Es finden sich in diesem Abschnitt zahlreiche Bezüge motivischer Art zur Brieferöffnung. Sie stellen eine Klammer zwischen Anfang und Ende des Schreibens her und befördern somit alle textpragmatischen Intentionen des Autors. Es werden aber auch Verbindungslinien zu anderen Teilen des Römerbriefs gezogen. Wiederum Theobald biefs erkennt und von hier aus konsequenterweise die Frage nach Zweck und Anlass des Römerbriefs beantworten möchte. 11 So aber Müller, Vom Schluß (s. Anm. 10), 231. 12 Theobald, Der Römerbrief, EdF (s. Anm. 4), 62. <?page no="253"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 253 spricht den dargelegten Reiseplänen die Stellung eines praktischen Kommentars zu Röm 9-11 zu 13 . Erkannt worden ist diese Sonderstellung des genannten Textes etwa von Lukas Bormann, der sich dem Textkomplex aus einer literaturgeschichtlich orientierten Perspektive nähert. Er konstatiert im Blick auf Röm 15,18-22 die „höchste Intensität des autobiographischen Schreibens“ 14 und möchte daher grundsätzlich an die autobiographischen Fragmente des Paulus die Frage richten, „wie in ihnen das Ringen zwischen rhetorischer Funktionalisierung der eigenen Biographie und subversiver Authentizität des Ich zur Sprache gebracht wird“ 15 . Bormann schreibt etwa im Blick auf den Peristasenkatalog in 2 Kor 11: „Er (Paulus) kündigt an, die Erzählinhalte perspektivisch darzustellen, ja zu verzerren, um so eine vertiefte Bedeutung und einen höheren Grad an Allgemeinheit der Aussagen zu erreichen“ 16 . Hierbei führt Paulus Faktualitäts- und Fiktionalitätssignale so zusammen, dass ihre Unterscheidung unmöglich und damit aufgehoben wird. Auch in Röm 15,19 findet sich nach Bormann ein prägnantes Beispiel solchen Vorgehens, wenn Paulus erwähnt, er habe das Evangelium von Jerusalem bis Illyrien getragen. Ich meine, dass dieses Beispiel aus dem uns interessierenden Textkomplex um weitere ergänzt werden kann und muss und dass zumindest Röm 15,14-21 geradezu ein Paradebeispiel dafür ist, Fiktionalität und Faktionalität zu unterscheiden. Eigentlich müsste an diesem Punkt die Debatte um Fiktionalität und Faktionalität ausführlicher geführt werden, doch ich belasse es zunächst bei diesen Andeutungen 17 . Bormann folgert grundsätzlich: „Erst durch diese offensive, durch Fiktionalitätsindices angezeigte Perspektivität kann Paulus seine eigene Biographie als exemplarische apostolische Existenz darstellen. Er öffnet damit einen Bedeutungs- und Deutungsraum, der zahlreiche Dimensionen christlicher Existenz aufzunehmen vermag“ 18 . Ich möchte einleitend zunächst einfach bestimmte Textaussagen benennen, die im Vergleich mit anderen paulinischen Briefen höchst auffällig sind und 13 Theobald, Der Römerbrief, EdF (s. Anm. 4), 46. 14 L. Bormann, Autobiographische Fiktionalität bei Paulus, in: E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hgg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 106-124, hier 111. Hingegen bewertet O. Wischmeyer, Paulus als Ich-Erzähler. Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie, in: Becker / Pilhofer, Biographie, 88-105, den Beitrag von Röm 15,17-22 zum Thema gering, wenn sie ihn ausschließlich einem apologetischen Kontext zuordnet (102). 15 Bormann, Fiktionalität (s. Anm. 14), 107. 16 Bormann, Fiktionalität (s. Anm. 14), 122. 17 Ich verweise auf die Ausführungen bei O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen / Basel 2004, 160-171; K. Backhaus / G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, BTS 86, Neukirchen 2007. 18 Bormann, Fiktionalität (s. Anm. 14), 122 f. <?page no="254"?> 254 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 die ganz wesentlich zu dem spezifischen apostolischen Profil dieses Briefes beitragen: - Das priesterliche Motiv. Paulus spricht von seinem Ausrichten des Evangeliums unter den Heiden als von einem priesterlichen Dienst, in dessen Folge die Heiden als Opfer für Gott angesprochen werden (Röm 15,16). - Das christologische Motiv. In Wort und Tat realisiert Christus durch den Apostel das Evangelium an die Heiden bzw. der Apostel bindet seine Wirksamkeit in vollkommener und absoluter Weise an Christus (Röm 15,18). - Das missionarische Motiv. Das Evangelium wurde durch Paulus von Jerusalem ausgehend in einem Umkreis bis Illyrien gebracht (Röm 15,19). - Das Motiv absoluter Exklusivität. Paulus hat stets darauf geachtet, sich nicht in fremde Missionsgebiete einzumischen (Röm 15,20). - Das Motiv der Schrifterfüllung. Die Mission des Apostels wird als Erfüllung der Schrift ( Jes 52,15) dargestellt (Röm 15,21). II. Forschungspositionen Ich setze mit der Darstellung von drei ausgewählten neueren Forschungspositionen ein, in denen von Röm 15,14-21 her ein spezifisches apostolisches Selbstverständnis erschlossen wird, welches wiederum von grundlegender Bedeutung für die Interpretation des ganzen Briefs ist. In ihnen erhält die Selbstinszenierung des Autors im Übergang von Briefkorpusabschluss zum eigentlichen Briefschluss eine für das Briefganze kategoriale Funktion. 1. Paulus als Diplomat Robert Jewett hat in einem Aufsatz in der Zeitschrift ‚Interpretation‘ im Jahr 1982 den Römerbrief als ‚Ambassadorial Letter‘ vorgestellt und konsequenterweise die These vertreten, Paulus habe sich in diesem Schreiben als Ambassador, als Botschafter oder Diplomat verstanden. Jewett bezieht sich in diesem Aufsatz vornehmlich auf den Abschnitt Röm 15,14-16,23, in dem die Themen der Brieferöffnung wieder aufgenommen worden seien. Diese gegenseitige Bezugnahme von Eingangs- und Schlussteil ist allgemein anerkannt 19 , wird von Jewett jedoch mit einer unüblichen rhetorischen Zuweisung des Abschnitts Röm 1,13-15 verbunden. Er erkennt hier bereits die Narratio, in der Paulus den Hintergrund seiner Mission darlegt. Der Höhepunkt oder Klimax des ganzen Schreibens sei dieser Schlussteil, der jetzt alle Züge einer klassischen Peroratio 19 Theobald, Römerbrief, EdF (s. Anm. 4), 45 f.; ausführlich S. Byrskog, Epistolography, Rhetoric and Letter Prescript: Romans 1.1-7 as a Test Case, in JSNT 65 (1997) 27-46. <?page no="255"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 255 trage 20 . Insofern werden Briefeingang und Briefschluss über wort- oder motivstatistische Beobachtungen hinausgehend auch rhetorisch enger verknüpft. Jewett hat das 1982 Gesagte in seinen neuen Kommentar zum Römerbrief aus dem Jahr 2007 größtenteils und inklusive der Anmerkungen wortwörtlich übernommen. Er nimmt die von Wilhelm Wuellner 21 im Anschluss an Röm 1,9 f. gewonnene These auf, der Zweck des Römerbriefs bestehe darin, den in diesen beiden Versen in Aussicht gestellten Besuch des Apostels in Rom weiter vorzubereiten und auszuarbeiten. Jewett präzisiert nun in Bezug auf die Gattung eines Ambassadorial Letter: Its purpose is to advocate in behalf of the ‚power of God‘ a cooperative mission to evangelize Spain so that the theological argumentation reiterates the gospel to be therein proclaimed and the ethical admonitions show how that gospel is to be lived out in a manner that would ensure the success of this mission” 22 . Mit dieser Gattungsbestimmung des Römerbriefs geht folgende Fixierung des apostolischen Selbstverständnisses einher: „Paul’s understanding of himself as ‚apostle‘ is closely related to the Greco-Roman world’s understanding of ‚ambassador‘“ 23 . Jewett suchte zu Beginn seiner Forschungen zum Römerbrief, angeregt durch Wuellner, nach einem Subtypus innerhalb der epideiktischen Literatur und Rhetorik, um auf diesem Hintergrund den Brief angemessen auslegen zu können. Bisherige Versuche, ein Mischverfahren zwischen einem genus iudicale und einem genus deliberativum nachzuweisen, hatten ihn nicht überzeugt. Die Studie von Theodore Chalon Burgess 24 zu Epideictic Literature hatte insgesamt 27 Subtypen vorgestellt. Unter diesen wiederum erkannte Jewett zu der Ambassador’s Speech (Typus 19) „intriguing possibilities to comprehend the opening and closing chapters“ 25 . Jewett verwies sodann auf die Arbeiten von Wilhelm Schubart, Charles Bradford Welles und Eckart Olshausen zu den Königsbriefen, erachtete sie als nahes Vergleichsmaterial zum Römerbrief und behauptete, neben den im Briefrahmen anzutreffenden Parallelen auch weitere 20 R. Jewett, Romans as an Ambassadorial Letter, in Interpretation 36 (1982) 5-20. 21 W. Wuellner, Paul’s Rhetoric of Argumentation in Romans, in CBQ 38 (1976) 330-351; wieder abgedruckt in Donfried, Romans Debate (s. Anm. 7), 128-146. 22 Jewett, Romans (s. Anm. 8), 44. In idem, Romans, in: J. D. G. Dunn (ed.), The Cambridge Companion to St. Paul, Cambridge 2003, 91-104, findet sich Jewetts Position knapp zusammengefasst. Allerdings spricht er hier von „Romans […] as an ‚ambassadorial‘ message in the demonstrative genre“ (91). 23 Jewett, Romans (s. Anm. 8), 44. 24 T. C. Burgess, Epideictic Literature, in Studies in Classical Philology 3 (1902) 89-261, bes.110-113. 25 Jewett, Romans (s. Anm. 8), 43; wörtlich identisch mit idem, Romans as Ambassadorial Letter (s. Anm. 20), 8. <?page no="256"?> 256 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 im Briefkorpus des Römerbriefs vorzufinden 26 . Er hatte sodann in dem Aufsatz aus dem Jahr 1982 und auch in dem Einleitungsteil seines Kommentars aus dem Jahr 2007 nur wenige und teilweise nicht einmal auf den Römerbrief Bezug nehmende weitere grundsätzliche Argumente zur Stützung seiner These angeführt. Im Wesentlichen aber bezog er sich in beiden Publikationen auf den Textabschnitt Röm 14,14-16,23 und fand hier hinreichende Beweise für die ambassadorial hypothesis. Ich fasse zunächst die wichtigsten, zuletzt im Kommentar festgehaltenen Argumente Jewetts zum Gebrauch der Gattung Ambassadorial Letter durch Paulus zusammen und gehe dann zu Röm 15 über. Jewett bezieht sich auf Rengstorfs Artikel ἀπόστολος in TWNT I, m. E. aber zu Unrecht 27 . Rengstorf machte darauf aumerksam, dass ἀπόστολος „nicht zum gewöhnlichen Ausdruck für den Gesandten im technischen Sinne auf griech Boden (hat) werden können“ 28 , da der Aspekt einer Bevollmächtigung völlig hinter denjenigen des passiven Gesandtseins zurücktritt. Rengstorf wandte sich gerade gegen die These, den neutestamentlichen Sprachgebrauch bereits in der griech.-hell. Verwendung vorbereitet zu sehen. Sodann verweist Jewett auf die Verwendung des Verbs πρεσβεύω in 2 Kor 5,20 und erkennt eine Parallele in der Verwendung des Substantivs πρεσβευτής in Dokumenten römischer Amtssprache 29 . Freilich begegne das Verb nur einmal bei Paulus und zudem noch außerhalb des Römerbriefs. Schließlich verweise der Gebrauch der ‚Formel‘ παρακαλῶ auf diplomatische 26 W. Schubart, Bemerkungen zum Stil hellenistischer Königsbriefe, in APF 6 (1920) 324-347; C. B. Welles, Royal Correspondence in the Hellenistic Period. A Study in Greek Epigraphy, Chicago 1974 (repr. London 1934); E. Olshausen, Prosopographie der hellenistischen Königsgesandten, StHell 19, Louvain 1974. Jewett, Romans (s. Anm. 8), 44, bezieht sich darüber hinaus auf A. J. Malherbe, Ancient Epistolary Theorists, SBibSt 19, Atlanta 1988, der Auszüge aus Pseudo-Libanius (4.-6. Jh. n.Chr.) zu diplomatischem Stil (§ 29) und zum diplomatischen Brief (§ 76) bietet. 27 Jewett, Romans (s. Anm. 8), 44, verweist für diesen politischen bzw. diplomatischen Sprachgebrauch ohne nähere Angabe auf W. Bauer, Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von K. Aland und B. Aland, Berlin / New York 1988, 200. Jedoch schreibt Bauer: „Dagegen gewinnt es nur vereinzelt d. Sinn Abgesandter, Bote.“ Die wenigen angeführten und zeitlich extrem gestreuten Belege rechtfertigen keinesfalls die Annahme eines technischen Sprachgebrauchs. 28 K.-H. Rengstorf, Art.: ἀπόστολος, in TWNT I (1933) 406 f. 29 Jewett bezieht sich auf G. Bornkamm, Art.: πρεσβεύω, in TWNT VI (1959) 680-682. Bornkamm, 681 Anm. 10, fand es im Zusammenhang der Analyse dieses Verbs jedoch „aufs Ganze gesehen […] bezeichnend, daß Pls sich nicht nach Art der hell Gottesboten versteht u den Stil der apodiktischen Offenbarungsrede (auch 2 K 5! ) vermeidet“; vgl. aber auch den Exkurs zum Hintergrund von πρεσβεύειν bei J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14-7,4, TANZ 10, Tübingen / Basel 1993, 295-299. <?page no="257"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 257 Sprache. Die Veröffentlichung von Bjerkelund habe nachgewiesen, dass „the parallels come almost exclusively from diplomatic and epistolary materials rather than from traditional ethics“ 30 . Innerhalb der ‚Recapitulation of Paul’s missionary calling and strategy‘ setzt Jewett bei der „highly unusual terminology“ in Röm 15,16 ein, insofern Paulus sich als λειτουργὸς Χριστοῦ Ἰησοῦ εἰς τὰ ἔθνη bezeichnet. Jewett weist jegliche priesterliche Interpretation zurück und bezieht sich auf die auch in Röm 13,6 zum Ausdruck kommende Terminologie eines öffentlichen Funktionärs (906). Das sich in Röm 15,17 anschließende Motiv der Betonung des Ruhmes des Botschafters nehme ein stehendes Motiv diplomatischer Rhetorik auf, verkehre es jedoch mittels des Ruhmverzichtes ins Gegenteil (909). Die Beschreibung der Mission in Röm 15,19 lehne sich durch die Art der Beschreibung der Missionsgebiete in Analogie zu antiken Landkarten und den Gebrauch des Verbs πεπληρωκέναι (Röm 15,19) abermals an amtlichen Sprachgebrauch an und gebe der Aussage „a bureaucratic sense of executing a mission“ (914) 31 . Ich meine und werde dies auch im Folgenden darlegen, dass die von Jewett vorgetragenen Einzelbeobachtungen nicht notwendig zu der These führen müssen, den Römerbrief insgesamt als Ambassadorial Letter zu verstehen und Paulus die Rolle eines Diplomaten zuzuweisen. Vor allem scheinen mir doch etliche der von Welles und Schubart minutiös zusammengetragenen Beobachtungen zu den hellenistischen Königsbriefen Jewetts These eher zu schwächen als zu unterstützen. Schubart hatte in den Briefen einen typischen Kanzleistil gefunden. Nur selten konnte er einen persönlichen Stil erkennen, der sich dann aber der 30 Jewett, Romans (s. Anm. 8), 45; C. J. Bjerkelund, PARAKALÔ. Form, Funktion und Sinn der parakalô-Sätze in den paulinischen Briefen, BTN 1, Oslo 1967. Diese These in dieser Zuspitzung auf einen diplomatischen Sprachgebrauch ist m. E. weder korrekt wiedergegeben noch in dieser Ausschließlichkeit zu halten. Bjerkelund hatte betont, dass das Verb überwiegend in Briefen privater und offizieller Art begegne. Bjerkelund hielt fest, dass mit παρακαλῶ eingeführte Sätze in Röm und 1 Thess den Übergang zu einem paränetischen Abschnitt bilden, jedoch nicht einen formelhaften Bestandteil einer paränetischen Gattung darstellen; vgl. gegenüber der einseitigen Darstellung des philologischen Befundes bei Jewett auch J. Thomas, Art.: παρακαλέω, in EWNT III (1992) 54-64; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII / 1, Neukirchen 1991, 137, sowie W. Popkes, Paränese und Neues Testament, SBS 168, Stuttgart 1996, 9-52. T. Engberg-Pedersen, The Concept of Paraenesis, in J. Starr / T. Engberg-Pedersen (eds.), Early Christian Paraenesis in Context, BZNW 125, Berlin / New York 2004, 47-72, hier 68-70, beleuchtet die Differenz von παραινέω und παρακαλῶ in der Verwendung bei Paulus. Während παραινέω eindeutig auf Handlungen und Verhalten bezogen sei, können mit παρακαλῶ eingeführte Aussagen ein breiteres Spektrum abdecken und etwa auch psychagogische Momente bedenken. 31 Jewett, Romans (s. Anm. 8), 914, verweist auf CIG II 2336.1-3. Der Rat und die Stadt Satyr Phileinos haben jede Herrschaft und Dienst erfüllt ἡ βουλὴ καὶ ὁ δῆμος Σάτυρον Φιλεί[ν] ου [π]ληρώσαντα πᾶσαν καὶ λ[ε]τουργίαν. <?page no="258"?> 258 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 gesprochenen Sprache annähere. In diesen Briefen werde in großer Knappheit der Briefanlass, die Entscheidung des Königs und gegebenenfalls noch eine Erläuterung mitgeteilt. Welles bekräftigt, dass die hellenistischen Königsbriefe unbeeinflusst von Rhetorikschulen sind. Ihr Aufbau gleicht eher einem Dekret und kann aus einem einzigen langen Satz bestehen. Welles konnte auch keine Theorie oder Regel ausfindig machen, die solchen Briefen eine bestimmte Struktur vorgegeben hätte. Insgesamt fällt wiederum auf, dass sich die von Welles untersuchten 57 hellenistischen Königsbriefe durch relative Kürze, Knappheit und Konzentration auf das Wichtigste hervorheben. Dies hängt wohl auch mit der Praxis zusammen, solche Briefe öffentlich auszustellen. Jewett muss, um die These des Römerbriefs als Ambassadorial Letter bekräftigen zu können, den Vergleich nahezu ausschließlich auf den Briefeingang des Römerbriefs und den Schlussteil ab Röm 15,13 ff. beziehen, das Briefkorpus hingegen als Wiederholung des Evangeliums charakterisieren. Ich meine daher, dass seine These höchst problematisch ist 32 . Sie hilft nicht, die Gattung des Römerbriefs und den Briefinhalt insgesamt zu erklären und führt gleichfalls nicht zum Selbstverständnis des Apostels. 2. Paulus als Ausleger und Erfüller der Schrift Auch Florian Wilk, der die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus darstellt, kommt mehrfach auf Röm 15,14-33 zu sprechen und er zählt diesen Text zur Redegattung der ‚persönlichen Berichte‘ (385). Eine eher grundsätzliche These des Buches lautet: „ Insgesamt findet Paulus also sein apostolisches Wirken im Jesajabuch von Anfang bis Ende niedergelegt; von herausragender Bedeutung ist dabei die Verflechtung seines Dienstes mit dem Geschick Israels“ 33 . Der einzige explizite Schriftbezug in dem Briefschluss in Röm 15,21 (als Zitat aus Jes 52,15) trägt „besondere Bedeutung“ bzw. einen „hohe(n) Stellenwert“ (392). Es handelt sich um „eine Heilsprophetie, die sich in seinem Wirken εἰς ὑπακοὴν ἐθνῶν (V.18) erfüllt“ (175). Das Schriftzitat dient Paulus dazu, „seine geplante Spanienmission (zu) legitimieren und sein Verhältnis zur Gemeinde in Rom (zu) definieren“ (392). „Insgesamt liest er Jes 51,15b damit als prophetischen Hinweis auf die ‚Besonderheit seiner missionarischen Aufgabe‘“ (176). Auch die Rezeption von Jes 52,10 in Röm 10,16-19 ist dem zuzuordnen. „Er versteht also Jes 52,10 hier - wie in Röm 15,19-24 - als Weissagung auf die Heidenmission“ (257). 32 Kritisch äußern sich zu Jewetts These: A. J. M. Wedderburn, The Reasons for Romans, Edinburgh 1988, 9 f.; deutlich J. A. Fitzmyer, Romans, AncB 33, New York 1993, 69: „Jewett’s description of Romans as an ‚ambassadorial letter‘ is of little help, as Wedderburn has noted.“ 33 F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus, FRLANT 179, Göttingen 1998, 369. <?page no="259"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 259 Detailfragen der Rekonstruktion Wilks sind hier nicht zu wiederholen. Wilk versucht zu erweisen, dass Paulus in Röm 15,19-24 mehrfach auf Jes 52,7-12 LXX zurückgreift und „den ganzen Passus 52,7-12 als Prophetie auffaßt, die sich in der von Jerusalem ausgehenden Verkündigung Christi erfüllt, und dabei zumal V.10 ff. auf die eigene, bis nach Spanien […] reichende Heiden mission bezieht“ 34 . Das apostolische Selbstverständnis des Paulus gewinnt nach Wilk seine Gestalt aus der Schrift, die „sowohl die Norm als auch das Ziel der Missionstätigkeit des Paulus“ angibt (81). Da Jes 52,15 exklusiv Menschen im Blick hat, denen das Evangelium noch nicht gesagt wurde, kann Rom für Paulus nur Durchreisestation sein. Mit dem Zitat kommt ein Raum in Blick, der bisher von der christlichen Botschaft noch nicht berührt wurde, also Spanien. Ich frage nach dem apostolischen Selbstverständnis des Paulus und zitiere nochmals Wilk: „Demnach ist die Auslegung des Apostels primär durch die Verknüpfung von christologischer Deutung des Jesajaworts und subjektiver Anwendung auf seine Verkündigungstätigkeit unter den Heiden gekennzeichnet“ (176). Wilk ordnet diese Beobachtungen in einen größeren Zusammenhang ein. Er betont eine beträchtliche Ausweitung der Verwendung und damit eine Zunahme der Bedeutung des Jesajabuches im Römerbrief im Vergleich zu den älteren Briefen. Sämtliche Anführungen des Jesajabuches stehen im Kontext der Themen Berufung der Gemeinde aus Juden und Heiden sowie der Rettung ganz Israels. Überdies formuliert Paulus sein apostolisches Selbstverständnis als Heidenmissionar im Anschluss an Jesaja in Röm 10,15 und 15,21. Wilk ordnet daher das Zitat aus Jes 52,15 einer ‚situativen Relevanz‘ unter, die von einer kompositorischen, argumentativen oder hermeneutischen Relevanz zu unterscheiden ist (400). Er verknüpft die situative Relevanz direkt mit dem Selbstverständnis des Apostels. Wenn ich Wilks Ausführungen richtig aufnehme, dann eröffnet der in Röm 15,21 hergestellte Bezug zu Jes 52,15 für Paulus, und zwar exklusiv für ihn, eine neue Perspektive, die direkt mit seinem Selbstverständnis als Heidenmissionar zusammenhängt 35 . Man wird ja nicht sagen können, dass die in Röm 15,21 erstmals vorgetragene Rezeption von Jes 52,15 überhaupt erst den 34 Ibd. 234, und insgesamt zur Textrezeption Jes 52,15 auch 233-235. 35 Auch D.-A. Koch stellt in seiner Rezension der Arbeit Wilks diese Verbindung von apostolischem Selbstverständnis und Jesaja-Rezeption als die interessante These des Buches heraus (TLZ 124 [1999] 1129-1131). Wilks Ausführungen werden von J. R. Wagner, Heralds of the Good News. Isaiah and Paul „In Concert“ in the Letter to the Romans, SupplNT 101, Leiden / Boston / Köln 2002, 329-340, weithin unterstützt: „The consonance of Isaiah 52: 15 with this larger theme of Romans suggests that Paul has found his own ministry inextricably linked with mysterious outworking of God’s redemptive purpose for Israel as well as for the Gentiles“ (336). <?page no="260"?> 260 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 Blick auf die Heidenmission gerichtet hat. Paulus kann zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs auf Jahre missionarischer Tätigkeit unter Heiden zurückblicken, wenn auch nicht in einem ausschließlichen Sinn. Er hat sowohl an Synagogen anknüpfen können als auch zeitweise in Gemeinden oder Städten wie Ephesus gelebt, die nicht Frucht seiner Mission waren. Da Wilk jedoch betont, dass für Paulus eine zunehmende Beschäftigung mit dem Buch Jesaja zu konstatieren sei und dass diese vor allem im Römerbrief zum Ausdruck komme, muss also in Wilks Logik die Rezeption von Jes 52,15 einen innovativen Impuls zur paulinischen Mission und zum Selbstverständnis des Apostels liefern, der über das bisher Bekannte hinausgeht. Die Kategorie der situativen Relevanz deutet auf einen spezifischen Beitrag zur anstehenden Mission in Spanien. Dieses Gebiet stellt sich für Paulus exklusiv als heidnischer, vom Evangelium gänzlich unberührter Raum dar, weshalb etwa Rom als Verkündigungsgebiet für Paulus kategorial ausscheidet (Röm 15,20). Insofern steht die Rezeption von Jes 52,15 in einem Kontext, der auffordert, das apostolische Selbstverständnis als Heidenmissionar nochmals zu präzisieren und zu verschärfen. Der Gedanke einer Mission in Spanien ist nach Wilk Frucht der Schriftlektüre, genauer der Prophetie in Jes 52,7-12, und das apostolische Selbstverständnis des Paulus ist im Blick auf seine Missionsstrategie schriftgebunden. Damit aber erfüllt der Apostel in aller Exklusivität ausschließlich und allein er die Prophetie der Schrift. Florian Wilk hat wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Dissertation aus dem Jahr 1998 einen weiteren Aufsatz zum Thema beigesteuert, der noch deutlicher die These formuliert: Es zähle zum Kern des paulinischen Selbstverständnisses nach Röm 15, dass einerseits „Jesaja ihn (Paulus) als den Apostel für die Weltvölker angekündigt hat“ und dass andererseits „ihm dieses Buch bei der Klärung seines Selbstverständnisses als ‚Heiden‘-Apostel geholfen hat“ 36 . 3. Paulus als Hermeneut existentieller Theologie Die Habilitationsschrift von Dierk Starnitzke will eine linguistisch-logische Untersuchung zum Römerbrief sein. Ihre Spitzenthese lautet: Paulus selbst „gibt in Röm 15,17 f einen Interpretationsschlüssel für das Verständnis des ganzen Briefes an die Hand, indem er dort das Prinzip seiner theologischen Kommunikation 36 F. Wilk, Paulus als Nutzer, Interpret und Leser des Jesajabuches, in: S. Alkier / R. B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, NET 10, Tübingen / Basel 2005, 93-116, hier 113; zuvor bereits auch F. Wilk, Paulus als Interpret der prophetischen Schriften, in KuD 45 (1999) 284-306, hier bes. der Abschnitt 298-300 (Der Apostolat des Paulus im Licht prophetischer Texte): „Der Kern des paulinischen Selbstverständnisses liegt demnach […] darin, dass der Prophet Jesaja ihn als den Apostel für die Heiden angekündigt hat“ (300). <?page no="261"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 261 erläutert“ 37 . Es gehe, so Starnitzke, um eine doppelte Realitätswahrnehmung, nämlich einerseits der gewöhnlichen immanenten Welt, andererseits der transzendenten, theologisch bestimmten Welt. Damit sei der Römerbrief eine persönliche Rede des Paulus, gleichzeitig aber sei durch Paulus Christus oder auch durch Christus Paulus wirksam. Starnitzke führt dieses als hermeneutisches Programm angesprochene Denken nun dahingehend aus, dass er Paulus im Römerbrief formal durchgehend in einer Doppelstruktur argumentieren sieht. Es sei zu erkennen - und Starnitzke möchte dies durch beigefügte Tabellen in der fortlaufenden Kommentierung des Römerbriefs belegen -, dass Paulus „eine geläufige menschliche und andererseits eine zusätzlich theologisch bzw. christologisch geprägte Sicht wiedergibt. Diese beiden Sichtweisen werden im Text kontinuierlich einander gegenübergestellt“ (7). Paulus versteht sich in dieser Darstellungsweise „nicht als passives Medium, sondern es ist sein ganz persönliches Reden und Tun, durch das zugleich Christus wirken kann (vgl. V. 18 f.). Dies schließt durchaus auch ein gewisses Selbstbewusstsein mit ein“ (447). Starnitzke stellt nun die These in den Raum: „Dieses Prinzip entfaltet Paulus nicht zufällig zu Beginn des Briefschlusses […] Erst am Ende der Argumentation wird explizit gesagt, auf welcher Basis paulinische Kommunikation und damit auch Kommunikation des Röm geschieht. Der Brief muss in diesem Sinne gewissermaßen von hinten gelesen werden“ (5). Nach Starnitzke legt Röm 15,14-21 das Selbstverständnis des Paulus insofern frei, als exklusiv in und durch den Apostel die christusbezogene Sicht auf die Wirklichkeit offengelegt und von einer weltbezogenen Sicht abgehoben wird. Die kategoriale Funktion von Röm 15,17 f. wird mehrfach und sich wiederholend ohne methodische und textbezogene Absicherung behauptet, ohne in eine Diskussion mit der aktuellen Literatur zu Paulus einzutreten. In unverständlicher Weise schwächt Starnitzke die Validität seiner These bereits ab, wenn er schreibt: „Es ist in diesem Zusammenhang schwer zu sagen, warum Paulus dieses Kommunikationsprinzip erst am Ende des Briefes formuliert. Vielleicht ist es ihm erst im Laufe der Entwicklung des Textes deutlich geworden“ (5 Anm. 28). Darf man angesichts solcher Unsicherheiten und Verlegenheiten von einem „hermeneutischen Schlüssel des Röm“ und „vielleicht auch anderer 37 D. Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens im Römerbrief. Eine linguistisch-logische Untersuchung, BWANT 163, Stuttgart 2004, 5; daneben ist zu beachten: idem, Die Bedeutung des Individualitätskonzeptes für das Verständnis des Römerbriefes. Individualitätstheorie und Exegese, in: S. Alkier / R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, Tübingen 1998, 33-56; idem, ‚Griechen und Barbaren … bin ich verpflichtet‘ (Röm 1,14). Die Selbstdefinition der Gesellschaft und die Individualität und Universalität der paulinischen Botschaft, in WuD 24 (1997) 187-207. <?page no="262"?> 262 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 paulinischer Texte“ (447) sprechen? Völlig unbeantwortet bleibt die Frage, wie denn die in Röm 15,18 angesprochene Rede, die Christus im Apostel bewirkt hat, von der gewöhnlichen Rede des Apostels unterschieden werden kann. Der Verweis auf gelegentliche Antithesen im Text reicht als Unterscheidungskriterium keinesfalls aus. Wie stellt sich die Aufgabe der Doppelperspektive für die Produktion des Autors dar und wie sollen die Rezipienten damit umgehen? Verweise auf analoge antike rhetorische Selbstinszenierungen fehlen. Selbst der Begriff der Kommunikation, den Starnitzke einleitend aufgenommen und als grundlegend für den Römerbrief eingeführt hatte, wird abschließend wieder abgewertet, ja zurückgewiesen, wenn es heißt: „So eröffnen die beiden einleitenden Verse des Briefschlusses entgegen dem Anschein nicht primär eine persönliche Kommunikation mit den Adressaten, sondern sie haben vor allem die Funktion, das Selbstverständnis des Paulus vor einem imaginären Adressatenkreis zu verdeutlichen. Die selbstreflexive Grundintention des Briefes wird dadurch erneut deutlich“ 38 . Entgegen allen Versuchen, die schwierige Kommunikationssituation, die sich durch die Beziehung zu Städten wie Korinth, Jerusalem und Rom bzw. Spanien ergibt, aufzunehmen und für die Analyse des Schreibens fruchtbar zu machen, führt Starnitzkes Arbeit wieder zurück in ein Verständnis des Römerbriefs als eines zeitlosen theologischen Traktates. Starnitzke zielt letztlich auf die These, Paulus wolle mit seiner eigenen Person ein anschauliches Beispiel für die Verifikation der These der doppelten Realitätswahrnehmung bieten (448). Denn: „Die spezielle Frage nach der eigenen Person und dem Selbstverständnis des Paulus wird von ihm ausgeweitet und bildet als allgemeine Frage nach dem Menschen und seinem Selbstverhältnis eine wesentliche Grundlage seiner Theologie“ 39 . Starnitzke stimmt daher einer existentiellen Auslegung des Römerbriefs zu: „Der Röm soll im Folgenden […] als eine theologische Beschäftigung mit dem einzelnen Menschen und seinem Selbstverhältnis im Allgemeinen bzw. als theologische Selbstreflexion des Paulus im Besonderen verstanden werden“ 40 . 38 Starnitzke, Struktur (s. Anm. 37), 445. 39 Starnitzke, Struktur (s. Anm. 37), 15. Es gehört zur anachronen Wahrnehmung der Forschungssituation, dass Starnitzke seine existentielle Theologie immer noch nährt mit einem verzeichneten Bild des Judentums und dass seine Darstellung wohl nur möglich ist, indem er auf die durch die New Perspective angeregte Diskussion nicht eingeht; vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen in einer von Stefan Schreiber vorgelegten Rezension in ThRev 102 (2006) 222 f. 40 Starnitzke, Struktur (s. Anm. 37), 16. <?page no="263"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 263 III. Die priesterliche Selbstvorstellung Meine eigene Behandlung des Themas nimmt manche Einsicht aus den vorgetragenen Forschungspositionen auf, möchte aber in der Ausrichtung insgesamt einen anderen Akzent setzen. Dass Paulus vor allem in Röm 15,16 in einer Terminologie über sein Apostolat spricht, die dem kultischen und priesterlichen Vokabular und Vorstellungsbereich entnommen ist, wurde vielfach vermerkt 41 . Ernst Käsemann etwa bemerkte, Paulus verstehe sich in diesem Text als „Priester des Messias Jesus gegenüber der gesamten Heidenwelt“ 42 . Zunächst muss versucht werden, Sprache und Motivbereich möglichst präzise zu erschließen. Dabei lässt sich zeigen, dass beide überwiegend auf kultische Sprache zurückgreifen, speziell aber einem jüdisch-kultischen Hintergrund verpflichtet sind. Der Verweis auf τὴν χάριν τὴν δοθεῖσάν μοι ὑπὸ τοῦ θεοῦ (Röm 15,15b) nimmt die Aussage des Präskripts erneut auf: δι᾿ οὗ ἐλάβομεν χάριν καὶ ἀποστολήν (Röm 1,5a). Auch wird die hier getroffene Zielsetzung des Apostolats εἰς ὑπακοὴν πίστεως ἐν πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν (Röm 1,5b; vgl. auch 1,13) bedacht, wenn Röm 15,16a zur Zielbestimmung kommt: εἰς τὸ εἶναί με λειτουργὸν Χριστοῦ Ἰησοῦ εἰς τὰ ἔθνη. Die Aufnahme weiterer Aussagen aus dem Präskript verklammert Röm 15,14-33 eng mit dem Beginn des Briefes. Die Themen Gnade und Apostolat werden erneut in Erinnerung gerufen und leiten dazu an, das Briefkorpus unter dem Vorzeichen des hier Gesagten zu lesen. Allerdings gibt Paulus seinem Apostolatsverständnis in Röm 15 eine im Vergleich mit dem Präskript etwas andere Färbung, indem er die priesterliche Motivik betont, die im Präskript noch vermisst wird 43 . Dieses priesterliche Amt wird nun sogar als das eigentliche Ziel der ihm verliehenen χάρις angesprochen: χάριν τὴν δοθεῖσάν μοι ὑπὸ τοῦ θεοῦ … εἰς τὸ εἶναί με λειτουργὸν Χριστοῦ Ἰησοῦ (Röm 15,15b-16a). Ich möchte zunächst die insgesamt vier Aussagen, in denen ein kultisches oder priesterliches Selbstverständnis zum Ausdruck kommt, ansprechen: 41 Vgl. etwa die umfangreiche Arbeit von W. Strack, Kultische Terminologie in ekklesiologischen Kontexten in den Briefen des Paulus, BBB 92, Weinheim 1994, 19-95; aber auch J. Ponthot, L’expression cultuelle du ministère paulinien selon Rm 15,16, in: A. Vanhoye (ed.), L’Apôtre Paul. Personalité, style et conception du ministère, BETL 73, Leuven 1986, 254-262; J. Zmijewski, Paulus - Knecht und Apostel Christi. Amt und Amtsträger in paulinischer Sicht, Stuttgart 1986, 129-138; H.-J. Klauck, Paulus als „Priester“ der Völker. Anmerkungen zur neutestamentlichen Amtsterminologie, in: idem, Vom Zauber des Anfangs. Biblische Besinnungen, Werl 1999, 68-74. 42 E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 4 1980, 378. 43 Einzig die Verwendung des Verbs λατρεύω in Röm 1,9 könnte einer priesterlichen Sprache zugeordnet werden. <?page no="264"?> 264 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 1. εἰς τὸ εἶναί με λειτουργὸν Χριστοῦ Ἰησοῦ εἰς τὰ ἔθνη (Röm 15,16a) Der Begriff λειτουργός begegnet bei Paulus neben Röm 15,16 noch in Phil 2,25 mit Blick auf eine Dienstleistung des Epaphroditus und in profan-politischem Sinn in Röm 13,6. Gerade aufgrund dieser Verwendung hat Jewett einem priesterlichen Gebrauch in Röm 15,16 widersprochen, um auch hier einen Hinweis für diplomatischen Sprachgebrauch zu erkennen 44 . Die Semantik des Substantivs und des Verbs λειτουργεῖν ist jedoch nicht eindeutig festgelegt. Es finden sich in der griech.-hell. und in der jüd.-hell. Literatur sowohl Belege für eine Verwendung im Kontext öffentlicher Dienstleistungen als auch für sakrale, kultische Aufgaben 45 . Wenn man diese Breite der möglichen Verwendung ignoriert und sich im Wesentlichen von dem Sprachgebrauch in Röm 13,6 leiten lässt, dann wird man die kultische Konnotation ausblenden 46 . In Verbindung mit den weiteren Aussagen in Röm 15,16 muss man jedoch die kultische Sprache auf jeden Fall im Blick behalten 47 . Die Genitivverbindung λειτουργὸς Ἰησοῦ Χριστοῦ wird in Analogie zu der Selbstvorstellung in den Präskripten der Paulusbriefe als Genitivus subiectivus aufzunehmen sein. Das Amt ist exklusiv bezogen auf einen Dienst an den ἔθνη (vgl. Gal 1,16; 2,7; Röm 1,13). Gewiss wäre es stimmiger, hier von einem Botschafter an die Heiden und nicht von einem Priester an die Heiden zu sprechen 48 . Überdies untersteht Paulus als Priester dem Dienstherrn Jesus Christus und nicht Gott 49 , obwohl er das Evangelium Gottes ausrichtet und obwohl es die priesterliche Aufgabe ist, Gott das Opfer zu übereignen. Allerdings wird bereits der folgende Halbsatz diese Ungenauigkeiten innerhalb der priesterlichen Metaphorik ausgleichen und von einer προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος (Röm 15,16c) sprechen. Diese Wendung wiederum ist nur mit priesterlichem, nicht aber mit diplomatischem Sprachgebrauch zu verknüpfen. 44 Jewett, Romans (s. Anm. 8), 906 f. 45 Die Belege sind bei Strack, Terminologie (s. Anm. 41), 44-47, aufgeführt. 46 So in klarer Entschiedenheit T. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer, KNT 6, Leipzig 1910, 597: „Auch hier erinnert λειτουργός vielmehr an die Liberalität, welche der Grieche von dem Inhaber der so benannten Ehrenämter erwartete.“ 47 Eindeutig in diesem Sinn auch E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 2003, 394; Fitzmyer, Romans (s. Anm. 32), 711; D. J. Moo, The Epistle to the Romans, NIC, Grand Rapids 1996, 889-891; J. D. G. Dunn, Romans 9-16, WBC 38B, Dallas 1988, 859. 48 So Jewett, Romans (s. Anm. 8), 907. 49 C. E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans, ICC 2, Edinburgh 1979, 755, bevorzugt, λειτουργὸς Ἰησοῦ Χριστοῦ nicht auf einen priesterlichen, sondern auf den levitischen, also auf einen subordinierten Dienst zu beziehen. Ein priesterlicher Dienst müsse im strengen Sinn Gott zugeordnet sein und ihm und nicht Christus die Opfer darbieten. Cranfield möchte hingegen das priesterliche Amt exklusiv für Christus reservieren. <?page no="265"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 265 2. ἱερουργοῦντα τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ (Röm 15,16b) Das ntl. Hapaxlegomenon ἱερουργεῖν, das im klassischen Griechisch und in der LXX nicht belegt ist, wird ausschließlich als kultischer Terminus verwendet, und zwar in paganer und in jüd.-hell. Literatur 50 . Bedeutsam für diesen Gebrauch sind gewiss 11 Belege bei Josephus und 31 Belege bei Philo, in der Regel im Kontext von Opfervorgängen. Beachtenswert ist zugleich, dass das Verb als kultischer Begriff benutzt werden kann, ohne mit einem Priester als Subjekt verbunden zu sein. Stracks Schlussfolgerung ist zuzustimmen: „Da das Verb sich in allen Belegstellen als ein ausschließlich in kultischem Sprachgebrauch verwendeter Terminus erwiesen hat, muß dies für die anderen Begriffe im Kontext von Röm 15,16 Konsequenzen haben. Paulus benutzt mit Absicht das eindeutig kultisch bestimmte Verb ἱερουργεῖν und ordnet so die anderen Begriffe, die nur bedingt kultische Konnotation haben, dieser Bestimmung im Kontext zu“ 51 . 3. ἵνα γένηται ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος (Röm 15,16c) Der priesterliche Dienst in der Verrichtung des Evangeliums 52 hat den Zweck 53 , weniger wohl das Ziel 54 , eine Gott wohlgefällige Gabe bereitzustellen. In der LXX dominiert für προσφορά eindeutig ein kultisches Verständnis, zum Teil beziehen sich die Texte auch auf die rechte Opfereinstellung. Bei Josephus und Philo ist die Verwendung nicht ausschließlich kultisch konnotiert 55 . Εὐπρόσδεκτος hingegen steht wiederum eindeutiger in kultischer Tradition, wie auch 1 Petr 2,5 erweist. Die Interpretation des Genitivs τῶν ἐθνῶν als Genitivus appositionis oder obiectivus (das Opfer, das in den Heiden besteht und am Tempel dargebracht wird) ist m. E. zwingend, sie wird aber nicht allgemein geteilt. Erkennt man einen Genitivus subiectivus, wäre deutlicher zu bestimmen, worin denn die von den Heiden erbrachte Gabe liegen soll. In der Literatur werden etwa 50 Die Belege werden bei Strack, Terminologie (s. Anm. 41), 47-49, aufgeführt. 51 Ibd., 49; ebenso Vahrenhorst, Heiligung (s. Anm. 9), 302. Nicht zu akzeptieren ist die Paraphrase bei Jewett, Romans (s. Anm. 8), 907: „characterizes Paul’s ambassadorship as a ‚verbalized‘ form of priesthood.“ 52 D. Zeller, Juden und Heiden in der Mission des Paulus. Studien zum Römerbrief, fzb 1, Stuttgart 1973, 222 f. Anm. 75, notiert, dass die Darbringung des Evangeliums als Opfer mit der Vorstellung, in den Heiden das Opfer zu sehen, unausgeglichen sei. Zeller möchte daher eine priesterliche Interpretation von Röm 15,16 zurückdrängen: „Deshalb nimmt man besser einen verwaschenen Gebrauch wie 4 Makk 7,8 an.“ 53 So Vahrenhorst, Heiligung (s. Anm. 9), 302; Moo, Romans (s. Anm. 47), 890. 54 So Fitzmyer, Romans (s. Anm. 32), 712, mit Verweis auf das Opferverständnis allgemein. Das Opfer habe das Ziel, die sündige Welt zu Gott zurückzuführen. 55 Wieder Strack, Terminologie (s. Anm. 41), 49-56; Vahrenhorst, Heiligung (s. Anm. 9), 302 f., der im Übrigen Jewetts Auskunft (Romans [s. Anm. 8], 907) widerlegt, dass in der profanen Gräzität kein Beleg für προσφορά als Opfer gegeben sei. <?page no="266"?> 266 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 der Lobpreis, der Gehorsam oder auch der Kultus der Heiden genannt 56 . Gelegentlich ist hier auch ein Hinweis auf die Kollekte erkannt worden, die Paulus allerdings explizit erstmals im Römerbrief in 15,26 ff. ansprechen wird. Demnach wäre die Sammlung seitens der Heiden für die Armen in Jerusalem das von ihnen erbrachte Gott wohlgefällige Opfer. In der Kollekte käme der von Paulus verrichtete Priesterdienst zum Ziel 57 . 4. ἡγιασμένη ἐν πνεύματι ἁγίῳ (Röm 15,16d) Folgt man der oben genannten Interpretation von τῶν ἐθνῶν im Sinne eines Genitivus obiectivus, dann trägt dieser Satzteil den Sachgrund nach, der in den Heiden ein Gott gefälliges Opfer erkennen lässt. Durch Heiligung werden die Heiden in den Status überführt, in dem sich Israel bereits befindet. Solche Heiligung als Werk des Geistes (1 Thess 4,8; 1 Kor 1,30; 6,11) ist sakramental in der Taufe übereignet worden. Die Folge dieser Heiligung ist es, dass durch den priesterlichen Dienst des Paulus Heiden in ein Eigentumsverhältnis zu Gott getreten sind, da sie ihm als Opfergabe zugeeignet wurden. IV. Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Röm 15 Abschließend ist die Funktion solcher priesterlichen Rede zu bestimmen. Kultische Symbolsprache begegnet gelegentlich in den paulinischen Briefen. Sie ist zum Teil mit der Tradition vorgegeben und wird nur selten betont von Paulus eingesetzt 58 . Die Aussagen zum priesterlichen Dienst sind in Röm 15 ein Teil eines insgesamt breiter angelegten apostolischen Selbstverständnisses. Aus dem engeren Kontext wären auf jeden Fall noch der Verweis auf das Reden Christi durch Paulus (Röm 15,18), die Ausführungen zu dem Missionsradius (Röm 15,19) oder das sog. Nicht-Einmischungsprinzip (Röm 15,20) zu bedenken. Die Aussagen zum priesterlichen Selbstverständnis scheinen mir allerdings in engstem Bezug zur Gesamtthematik des Römerbriefs zu stehen, insofern es um das Verhältnis von Juden und Heiden in dem einen Gottesvolk geht 59 . Von daher 56 Vgl. die Verweise bei Moo, Romans (s. Anm. 47), 890; Fitzmyer, Romans (s. Anm. 32), 712. Pointiert in dieser Hinsicht: D. W. B. Robinson, The Priesthood of Paul in the Gospel of Hope, in: R. Banks (ed.), Reconciliation and Hope (FS Leon L. Morris), Grand Rapids 1974, 231-245. 57 Erneut dargestellt und abgewiesen wird diese Position durch Vahrenhorst, Heiligung (s. Anm. 9), 302 f. 58 H.-J. Klauck, Kultische Symbolsprache bei Paulus, in: idem, Gemeinde - Amt - Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 348-358. 59 Ibd., 355: „Paulus kommt an dieser Stelle des Römerbriefs auf die Motive zurück, die ihn zur Abfassung des Schreibens an die ihm fremde Gemeinde bewogen haben“. <?page no="267"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 267 verdienen sie besondere Beachtung und tragen wohl auch besonders zum apostolischen Selbstverständnis bei. Die eingangs angesprochene Differenzierung zwischen Fiktionalität und Faktionalität ist aufzunehmen, da Paulus in einer Übertragung für sich und zur Beschreibung seines Apostolats Kategorien in Anspruch nimmt, die ihm von Hause aus nicht zukommen. Paulus ist kein Priester und entstammt auch nicht einer priesterlichen Familie. Allerdings waren im hellenistischen Diasporajudentum Übertragungen kultischer Vorstellungen vielfältig vorgebildet, an die sich Paulus anschließen konnte. Ist seine Rede daher nur uneigentliche Rede, ein Sprachspiel? Wählt er die kultische Sprache primär, um für sein eigenes Selbstverständnis einen adäquaten Ausdruck zu finden oder schreibt er adressatenorientiert? Es sollte zunächst versucht werden, das Sachanliegen solch kultischer Sprache zu erheben 60 . Der priesterliche Dienst des Paulus gilt den Heiden. Durch seinen Dienst und durch die im Geist bewirkte Heiligkeit sind die Heiden gleich einem Opfertier, das sich durch Heiligkeit auszuzeichnen hat (vgl. Lev 22,19 f.), in die Lage versetzt worden, Gott im Tempel dargebracht zu werden. Der Text reflektiert an dieser Stelle das Problem, unter welchen Umständen Heiden überhaupt in die Nähe Gottes gelangen dürfen, und beantwortet die hierin gestellte Frage, indem er priesterliche und opfertheologische Vorstellungen aufnimmt, mittels derer die Zueignung zu Gott vollzogen wird 61 . Die Grenze der Adaption dieses Motivbereichs liegt darin, dass die eigentliche Opferhandlung nicht beschrieben wird. Sie wird auch nicht in allegorischer Weise aufgenommen, so dass auf bestimmte Handlungen wie die Kollekte oder Lobpreisungen abgehoben würde, die nun als adäquate Substitution des Opfers gelten könnten. Das Selbstverständnis des Apostels findet seinen Ausdruck in kultischer Terminologie, weil das Sachanliegen, Apostel der Heiden sein zu wollen, hier eine Legitimation gegenüber der Erwählungsgeschichte Israels auf der Ebene kultischen Denkens erfährt. Paulus bringt als Priester die Heiden (als Opfer) zu Gott. Gleichwie Paulus im Römerbrief ausführlich die Aporien zwischen Israels Erwählung und gleichzeitiger Ablehnung des Evangeliums im Blick auf das eine Gottesvolk aus Juden und Heiden thematisiert hat, so erscheint auch hier 60 Der Röm 15 instruktiv aufarbeitende Aufsatz von P. Müller, Grundlinien paulinischer Theologie (Röm 15,14-33), in KuD 35 (1989) 212-235, wird nach meiner Einschätzung der kultischen Terminologie nicht gerecht, wenn er folgert, „daß die kultische Terminologie in Röm 15,16 eingeordnet ist in Umschreibungen der christlichen Existenz überhaupt, wie sie sich in Berufung, Gehorsam und Heiligung auswirkt“ (227). 61 Überzeugend ist in dieser Hinsicht Strack, Terminologie (s. Anm. 41), 95; K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, THK 6, Leipzig 1999, 304; Vahrenhorst, Heiligung (s. Anm. 9), 304 f. <?page no="268"?> 268 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 gedanklich die kultische Geschiedenheit der Heiden vom Gottesvolk, die erst durch den priesterlichen Dienst des Paulus aufgehoben wird. Damit ist auch betont, dass dieser priesterliche Dienst streng sachbezogen auf die Heidenmission angewandt wird und dass Paulus weit davon entfernt ist, für sich in einem allgemeinen auf das Priesteramt bezogenen Sinn Kompetenz zu erwerben 62 . Die Adressierung solch eines Selbstverständnisses scheint mir nicht notwendig eine jüdische oder judenchristliche Leserschaft voraussetzen zu müssen. Zwar setzen die gewählte Sprache und der Motivbereich überwiegend einen jüdischen Hintergrund voraus, beide sind aber auch von profanem Sprachgebrauch her problemlos einzuordnen. Da ein solches priesterliches Profil innerhalb der paulinischen Briefe in dieser Deutlichkeit keine Parallele hat, wird sich sein Vorkommen hier in Röm 15 von der besonderen Abfassungs- und Kommunikationssituation des Briefes her erklären. Daneben verweisen viele Forscher auf eine besondere eschatologische Prägung der kultischen Bildsprache 63 , die wiederum „einiges über das Selbstverständnis dessen, der nach eigenem Bekunden als ‚Heidenapostel‘ eine wichtige Rolle in diesem Prozeß“ 64 der Darbringung der Völker zu spielen hat, aussagt. Paulus sei in Röm 15,16 gedanklich geleitet von der Vision der Sammlungsbewegung aus Jes 66,20 65 , auch wenn seine Mission zentrifugal (Röm 15,19) und eben nicht zentripetal auf Jerusalem hin verläuft 66 . Jes 66 mag im Hintergrund der Gedankenführung in Röm 15 stehen, jedoch sind die Differenzen zu diesem Text nicht zu übersehen. Paulus nehme, schreibt Michael Theobald nun in Übernahme einer Aussage Ernst Käsemanns, „das singuläre Mandat und die weltweite Funktion des Hei- 62 H. Schlier, Die ‚Liturgie‘ des apostolischen Evangeliums (Römer 15,14-21), in: idem, Das Ende der Zeit. Exegetische Aufsätze und Vorträge III, Freiburg / Basel / Wien 2 1972, 169-183, nimmt den behandelten Abschnitt mit Recht als Quelle für das apostolische Selbstverständnis des Paulus auf, bezieht ihn aber nicht auf die konkrete Abfassungssituation; auch Zmijewski, Paulus (s. Anm. 41), verklammert die Beobachtungen zur kultischen Terminologie nicht mit der Heidenmission, sondern verortet den ‚Priesterdienst‘ des Paulus im Kontext einer apostolischen Grundlegung der Kirche. 63 So mit Nachdruck Dunn, Romans 9-16 (s. Anm. 47), 860. 64 Theobald, Römerbrief, SKK, (s. Anm. 10), 206. 65 Ibd., 205. Die hier gebotene Übersetzung von Jes 66,18-20 setzt Opfergabe in kursive Schrift, obwohl die LXX δῶρον und nicht προσφορά liest. Auf Jes 66,20 verweisen auch Klauck, Symbolsprache (s. Anm. 58), 355; Moo, Romans (s. Anm. 47), 890 Anm. 35. Wilk, Bedeutung (s. Anm. 33), sowie Wagner, Heralds (s. Anm. 35), gehen auf diese vermutete Jesajarezeption nicht ein; ebenso nicht D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHT 69, Tübingen 1986. 66 Jes blickt überdies auf die Sammlung der Diasporajuden und eben nicht der Heiden zum Zion. <?page no="269"?> Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 269 denapostels“ in Anspruch, diesen Prozess durchzusetzen 67 . So bindet Paulus in Röm 15 die Durchsetzung der Heidenmission (in Spanien), möglicherweise im Wissen um eine ihr zeitlich eingeräumte Frist (Röm 11,25b), exklusiv an seine Person. Obwohl von anderen Textbeobachtungen ausgehend, entspricht diese Beschreibung des apostolischen Selbstverständnisses in ihrer Exklusivität den Ausführungen Wilks zu Röm 15,21. Man kann in diesem Zusammenhang auch auf die Selbstdarstellung in Röm 15,19 verweisen: Paulus versteht sich im Rückblick als derjenige, der - nach Auskunft des Textes - alleine das Evangelium von Jerusalem ausgehend bis Illyrien zur Erfüllung gebracht hat. Solche Zuspitzungen des Apostolats der Heidenmission in exklusiver Zuschreibung an die Person des Paulus entsprechen den Ausführungen des Präskripts (Röm 1,5), und sie werden in Röm 15,15 f. wiederholt 68 . Ich meine nun allerdings nicht, dass Paulus in Röm 15,14-21 daran gelegen sei, die Unterscheidung zwischen kultisch und profan aufzuheben, indem er sie durch die Hinzuführung der Heiden unterläuft 69 . Demgegenüber zeigen die Ausführungen doch, dass er kultisches, priesterliches Denken in Anspruch nimmt und ihm sogar gedanklich verpflichtet ist, insofern er seinen eigenen apostolischen Auftrag innerhalb dieses Rahmens klärt. Ich meine darüber hinaus in Anbetracht weiteren paulinischen Schrifttums erkennen zu können, dass Paulus eben nicht an einer Substituierung des Jerusalemer Tempels gelegen ist, sondern dass er letztlich sogar eine Verortung auch der Heidenchristen zum Tempel anstrebt 70 . Innerhalb dieses Denkens begreift Paulus sich als Priester Jesu Christi im Blick auf die Heiden. Seine Aufgabe ist es, die Heiden durch priesterliches Handeln Gott zuzuordnen. Die Frage, wie konsequent Paulus mit dieser Vorstellung umgegangen ist, stellt sich für mich seit Jahren 71 . Der nach 67 Theobald, Römerbrief, SKK (s. Anm. 10), 206. 68 Zum apostolischen Selbstverständnis des Präskripts: U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin / New York 2003, 338-340. 69 So nachdrücklich Theobald, Römerbrief, SKK (s. Anm. 10), 204; Dunn, Romans (s. Anm. 47), 867; Schnabel, Mission (s. Anm. 3), 935 u. a. 70 So deutlich G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 162: „An dem Vorwurf gegen Paulus ist so viel richtig, dass die Öffnung des Tempels den Hoffnungen des Paulus entsprach.“ L. E. Keck, Romans, ANTC, Abingdon 2005, 360, spricht die Differenzen von Röm 15,14-21 zu Jes 66,20 klar an und erkennt zugleich, dass die Vorstellung der Darbringung der Heiden in den Jerusalemer Tempel eine neue, in den bisherigen Briefen des Apostels bislang nicht begegnende Vorstellung sei. 71 Ich habe meine Überlegungen dazu ausführlich dargelegt in F. W. Horn, Paulus und der Herodianische Tempel, in NTS 53 (2007) 184-203; außerdem: idem, Die letzte Jerusalemreise des Paulus, in: idem (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York 2001, 15-35; beide Aufsätze wieder abgedruckt in diesem Band. Ich verweise auch auf die Analyse von Apg 21 <?page no="270"?> 270 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15 Apg 21,28b erhobene Vorwurf, Paulus habe einen Heidenchristen in den inneren Tempelbereich geführt, reflektiert - ganz unabhängig davon, ob er zutrifft oder nicht - wohl Handlungen, die man von Paulus befürchtete. Befürchtungen, die nicht zuletzt durch eine Aussage wie in Röm 15,16, untermauert wurden 72 . und die sich anschließenden rechtsgeschichtlichen Überlegungen von H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtsgeschichtliche Untersuchung der Apostelgeschichte, BZNW 115, Berlin / New York 2002, 332-358. 72 So auch G. Theißen, Paulus - der Unglücksstifter. Paulus und die Verfolgung der Gemeinden in Jerusalem und Rom, in: Becker, Biographie (s. Anm. 14), 228-244, hier 232 f. <?page no="271"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 271 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective * Die new perspective on Paul hat von Beginn an die sog. ‚Lutheran spectacles‘ moniert, die in der von deutschsprachiger Exegese 1 beherrschten Paulus-Forschung im gesamten 20. Jahrhundert bestimmend waren. 2 Speziell blickt sie auf die von Rudolf Bultmann vorgetragene Paulus-Deutung, die hinsichtlich der Bewertung des Judentums in der Tradition von Emil Schürer, Wilhelm Bousset und Paul Billerbeck steht und deren Einfluss über eine Reihe ihr sich verpflichtet wissender führender Exegeten in Deutschland rezipiert und weitergegeben wurde. 3 Die new perspective on Paul stellte zunächst die Reduktion theologischer Themen in den Briefen des Paulus auf einen individualisierenden Ansatz in Frage, etwa durch die Zentrierung auf das Gewissen und die Sündenlehre sowie auf die dem Individuum zugesprochene oder zugeeignete Rechtfertigung. Des Weiteren verstand sie Paulus nicht mehr in einem Gegensatz zum Judentum, das bislang nach ihrer Sicht in undifferenzierter und verfälschter Weise als Religion der Werkgerechtigkeit beschrieben worden war, sondern verstand den Apostel gerade aus seiner jüdischen Matrix heraus. Schließlich eröffnete sie eine Wahrnehmung des Apostels in einer an Bedürfnissen der Mission, genauer an einer Kirche aus Juden und Heiden orientierten Theologie und wandte sich vom Bild eines um Rechtfertigungslehre kreisenden Theologen dezidiert ab. Die Diskussion der angesprochenen lutherisch ausgerichteten deutschen Exegese mit der new perspective setzte erst in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts verhalten ein. 4 Sie bezog sich etwa auf das Verständnis der Recht- 1 E. P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 171, erklärt die ‚Lutheran spectacles‘ zu einem Phänomen vornehmlich der deutschsprachigen Exegese. 2 Vgl. die Angaben bei W. Härle, Paulus und Luther. Ein kritischer Blick auf die ‚New Perspective‘, ZThK 103 (2006), 362-393, hier 362 f. Anm. 3. 3 Vgl. nur die kurzen Hinweise bei Sanders, Paulus (s. Anm. 1), 170 f. 4 Das Gespräch, das Eduard Lohse mit der new perspective immer wieder geführt hat, thematisiert die zentralen theologischen Aspekte: E. Lohse, Theologie der Rechtfertigung im kritischen Disput - zu einigen neuen Perspektiven in der Interpretation der Theologie des Apostels Paulus, GGA 249 (1997), 66-81; zuletzt Ders., Christus, des Gesetzes Ende? Die Theologie des Apostels Paulus in kritischer Perspektive, ZNW 99 (2008), 18-32. Einen Überblick über die Auseinandersetzung verschafft St. Westerholm, Perspectives Old * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective , in: F. W. Horn / R. Zimmermann (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik Bd. I, WUNT I / 238, Tübingen 2009, 213-231, © Mohr Siebeck Tübingen. <?page no="272"?> 272 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective fertigungslehre, die in der new perspective im Kontext der Heidenmission als Ermöglichung der Aufnahme von Nicht-Juden in das Gottesvolk ohne Beachtung der jüdischen Halacha interpretiert wurde. In diesem Zusammenhang wurde auch wiederholt über die Bedeutung des bei Paulus mehrfach begegnenden Syntagmas ἔργα νόμου gesprochen, das in der Vergangenheit geradezu den Widerpart zur Rechtfertigungslehre bildete und auf verdienstliche Werke des Menschen bezogen wurde. Gegenwärtig hat im deutschsprachigen Raum zuletzt Gerd Theißen in großer Klarheit eine Fundamentalkritik der new perspective vorgetragen. 5 Der Komplex neutestamentliche Ethik stellt einen Themenbereich dar, der aus verschiedenen Gründen im Kontext der new perspective angesprochen werden muss und der weder von ihr selbst noch von ihren Kritikern hinreichend wahrgenommen, geschweige denn diskutiert worden ist. 6 Es scheint mir zugleich wissenschaftsgeschichtlich geboten, dieses Thema zu bedenken, da die new perspective im angloamerikanischen Raum einen von deutscher Exegese kaum wahrgenommenen und kommentierten Siegeszug in der Paulusexegese and New on Paul. The ‚Lutheran‘ Paul and his Critics, Grand Rapids / Cambridge 2004; außerdem auch D. A. Carson / P. T. O’Brien / M. A. Seifried (Hgg.), Justification and Variegated Nomism II: The Paradoxes of Paul, Grand Rapids 2004 (zu diesem Werk: D. Sänger, ThLZ 132 [2007], 313-316). Wenig hilfreich erschien mir S. Kim, Paul and the New Perspective. Second Thoughts on the Origin of Paul’s Gospel, Grand Rapids / Cambridge 2002 (vgl. dazu meine Rezension in ThLZ 128 [2003], 287-290). 5 Es handelt sich um die Alexander Thompson Lecture, Princeton Theological Seminary, 26. Februar 2007. Hier sagt Theißen u. a.: „My own interpretation of Paul is in line with the reformation perspective from Luther to Bultmann - with two modifications“ (Vortragsmanuskript S. 5). 6 Eine Ausnahme bildet M. Wolter, Eine neue paulinische Perspektive, ZNT 14 (2004), 2-9. „Aufgrund ihrer Inklusivität korreliert die paulinische Paränese insofern ganz unmittelbar mit der paulinischen Soteriologie, denn sie zielt auf eine Lebensführung ab, die zum Ausdruck bringt, dass es zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen keinen Unterschied gibt. So wie die Rechtfertigungslehre die Theorie der paulinischen Ekklesiologie ist, so macht es die ‚New Pespective‘ möglich, die paulinische Ethik als angewandte Rechtfertigungslehre zu interpretieren.“ Vgl. auch Ders., Die ethische Identität christlicher Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: W. Härle / R. Preul (Hgg.), Woran orientiert sich Ethik? , MJTh XIII (MThSt 67), Marburg 2001, 61-90; Ders., Ethisches Subjekt und ethisches Gegenüber. Aspekte aus neutestamentlicher Perspektive, in: H. Schmidt / R. Zitt (Hgg.), Diakonie in der Stadt. Reflexionen - Modelle - Konkretionen, Stuttgart 2003, 44-50; Ders., ‚Wandelt nur würdig des Evangeliums Christi‘ (Phil 1,27). Die ethische Identität christlicher Gemeinden nach dem Neuen Testament, EpdD 50 (2001), 12-20; Ders., „Zeremonialgesetz“ vs. „Sittengesetz“. Eine Spurensuche, in: St. Beyerle (Hg.), Recht und Ethos im Alten Testament. Gestalt und Wirkung (FS H. Seebass), Neukirchen-Vluyn 1999, 339-356; Ders., Ethos und Identität in paulinischen Gemeinden, NTS 43 (1997), 430-444. <?page no="273"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 273 angetreten hat. 7 Es wäre für die theologische Forschung fatal, wenn der wissenschaftliche Austausch unterbliebe. Ich übergehe an dieser Stelle die Frage, wer oder was gegenwärtig für die new perspective steht. Ich verweise auf die Internet-Seite http: / / www.thepaulpage. com/ , die ein weites Forum darstellt und zugleich deutlich macht, dass die new perspective bereits ein Sammelbecken für etwas geworden ist, das sich von den Anfängen bereits erheblich entfernt hat. Zugleich muss einschränkend gesagt werden, dass diese Seite zwar ausgezeichnet gepflegt wird und einen differenzierten Eindruck verschafft, gleichzeitig aber auch durch ihre Fülle leicht den Überblick über die Sache verlieren lässt. Daher nenne ich zusätzlich den kurzen, aber klaren Überblick, den Jörg Frey kürzlich vorgelegt hat und der sich auf die wesentlichen Punkte beschränkt. 8 Mein eigener Beitrag möchte ansprechen, welche Impulse die new perspective der Rückfrage nach der Eigenart und der Begründung der paulinischen Ethik zu geben vermag und wo gleichzeitig ihre Grenzen zu sehen wären. Hierbei gehe ich vor allem auf die verschiedenen Arbeiten James D. G. Dunns zu Paulus ein. Das Anliegen dieses Beitrags kann dahingehend beschrieben werden, dass im Bedenken der Begründungszusammenhänge paulinischer Ethik die jeweilige Prägung der Exegeten und ihr theologisches Interesse im Blick bleiben. 1. ‚Lutheran spectacles‘ Der vor allem den deutschen Exegeten entgegengebrachte Vorwurf, Paulus durch die lutherische Brille exegesiert zu haben, begegnet seit den frühen Arbeiten Krister Stendahls, des Vaters der new perspective . 9 Nun wird, wer den 7 M. Theobald, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 318: „Die ‚Entlutherisierung‘ der pln. Theologie […] ist in vollem Gang, vor allem in der amerikanischen Exegese […]. Davon betroffen ist vor allem das Bild vom Gesetz, das als die heilige Gabe Gottes an sein Volk Israel nicht mit dem Frömmigkeitsleistungen fordernden Kirchengesetz verwechselt werden darf, gegen das Luther opponierte. Der größte Fortschritt der Röm-Exegese in den letzten Jahrzehnten dürfte deshalb darin bestehen, dass man jetzt die Gesetzeskritik des Paulus nicht mehr als Kritik an einem angeblichen religiösen Leistungssystem zur Selbsterlösung karikiert, sondern sie als Funktion seiner Christologie begreift: Paulus hat das Gesetz im Dienst seines solus Christus soteriologisch entlastet! “ 8 J. Frey, Zur ‚neueren Paulusperspektive‘, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe, UTB 2767, Tübingen / Basel 2006, 35-43. 9 Einen guten Eindruck vermittelt die Studie: K. Stendahl, Paul among Jews and Gentiles and other essays, Philadelphia 1976. Dieses Buch basiert teilweise auf älteren Arbeiten, etwa auf dem berühmt gewordenen Vortrag ‚The Apostle Paul and the introspective conscience of the West‘ (hier: 78-96), der zu Beginn der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts an verschiedenen Orten in unterschiedlichen Fassungen gehalten wurde und in dem der Gegensatz Paulus - Luther klar markiert wird. Ich verweise hier bereits auf <?page no="274"?> 274 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective Vorwurf erhebt, die Interpretation der Paulusbriefe sei von einer durch Martin Luther wirksam gewordenen Position angeleitet, sich seinerseits gleichfalls die Frage gefallen lassen müssen, woher seine eigene Kritik ihre Kraft bezieht. Die drei Wissenschaftler, ohne die die new perspective nicht zu denken ist, entstammen völlig unterschiedlichen Kontexten. Krister Stendahl (1921-2008), ein schwedischer Theologe, war bis 1984 Neutestamentler an der Harvard Divinity School und anschließend bis zu seiner Emeritierung 1989 Bischof der lutherischen Kirche in Stockholm. Die von ihm angewandte soziologische, auf Gruppenprozesse achtende und eben nicht mehr individualisierende Betrachtungsweise der paulinischen Theologie wurzelt nach Darstellung B. Brootens in frühen pastoralen Erfahrungen in Uppsala, deren Ertrag für die Paulus-Exegese fruchtbar gemacht wurde. 10 Ed Parish Sanders (* 1937 in Texas), dessen großes Werk ‚Paul and Palestinian Judaism‘ 1977 die Kategorie des Bundesnomismus zur Beschreibung des antiken Judentums einführte, 11 suchte vom Studium der jüdischen Quellen ausgehend einen neuen und eigenen Zugang zu Paulus. 12 Er arbeitete ursprünglich als Exeget, versteht sich jedoch als Religionswissenschaftler, bekleidete zuletzt auch eine religionswissenschaftliche Professur an der Duke University. Sein kirchlicher Hintergrund liegt vermutlich im Methodismus amerikanischer Südstaaten. Beide Wissenschaftler gaben einen wichtigen Anstoß für die new perspective , ja Sanders’ Werk wird sogar als ‚Wasserscheide‘ zwischen alter und neuer Paulusauslegung betrachtet. 13 Aufgenommen und in einer Vielzahl von Publikationen in klare Gestalt überführt wurden deren Anregungen jedoch erst durch den schottischen Neutestamentler James D. G. Dunn (* 1939), zuletzt Lightfoot Professor of Divinity in the Departmeine Auseinandersetzung mit Krister Stendahl: F. W. Horn, Juden und Heiden. Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen. Ein Gespräch mit Krister Stendahl, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005, 17-39; wieder abgedruckt in diesem Band. 10 B. Brooten, Art. Stendahl, Krister, DBI II (1999), 505 f. 11 Sanders erkennt eine Grundstruktur innerhalb des Judentums (‚common Judaism‘). Die Erwählung ist konstitutiv für den Bund und nicht die Tora. Diese beschreibt ausschließlich den Aspekt des ‚ staying in ‘, ist aber keinesfalls ein Heilsweg. Eine Darstellung seiner Position und eine äußerst kritische Besprechung bieten M. Hengel / R. Deines, E. P. Sanders’ „Common Judaism“, Jesus und die Pharisäer, in: M. Hengel, Kleine Schriften I: Judaica et Hellenistica, WUNT 90, Tübingen 1996, 392-479; H.-M. Rieger, Eine Religion der Gnade. Zur ‚Bundesnomismus‘-Theorie von E. P. Sanders, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hgg.), Bund und Tora, WUNT 92, Tübingen 1996, 129-161. 12 Vgl. hierzu das ausführliche Vorwort in E. P. Sanders, Paul and the Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977, XI-XVI; vgl. auch die von Jürgen Wehnert erstellte deutsche Übersetzung: E. P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, StUNT 17, Göttingen 1985, IX-XIV. 13 Frey, Paulusperspektive (s. Anm. 8), 37. <?page no="275"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 275 ment of Theology at the University of Durham. 14 Er ist ein Presbyterian und gehört der Church of Scotland an. Unlängst hat er deutlich formuliert, dass die ihn prägende Kraft Calvin, die Westminster Confession und überhaupt die Reformierte Tradition gewesen sei und er von daher stets einer scharfen Trennung zweier Bünde kritisch gegenübergestanden habe. 15 In angenehm offener Weise macht er gleichzeitig deutlich, kein Experte lutherischer Theologie zu sein, so dass er auch nicht als Protagonist des Vorwurfs der ‚Lutheran spectacles‘ geführt werden möchte und sollte. Auch ohne meinerseits konfessionskundlicher Experte zu sein, meine ich nun erkennen zu können, dass diese von ihm angesprochene und ihn prägende kirchliche Tradition innerhalb der Darstellung der paulinischen Ethik bei James D. G. Dunn klare Konturen hinterlassen hat. Bereits jetzt verweise ich etwa auf den hohen Stellenwert prozesstheologischen oder auch föderaltheologischen Denkens in seinen Arbeiten, in dem die Ethik in Relation zum Heilsereignis in Christus einen von lutherischer Interpretation kategorial unterschiedenen Stellenwert einnimmt. 16 Jegliches Verständnis einer rein forensischen, zugesprochenen extrinsischen Rechtfertigung wird zurückgewiesen. Explizit spricht sich Dunn dafür aus, dass nach paulinischem Denken das Endgericht am Maßstab ethischen Verhaltens erfolge und sich daran orientiere, in welchem Maße der Prozess der Transformation des Glaubenden erfolgt sei (84). Der ‚tertius usus legis‘ 17 wird daher selbstverständlich gelehrt, da die Orientierung am alttestamentlichen Gesetz gleichfalls wesentlicher Bestandteil paulinischer Theologie und Ethik sei. Ich bin weit davon entfernt, nun einfach den Spieß umzudrehen und den Vorwurf der ‚Lutheran spectacles‘ jetzt in einen Vorwurf der ‚Calvinistic spectacles‘ umwandeln zu wollen. Immerhin sollte die These Nicholas Thomas Wrights, des Neutestamentlers und Bischofs der englischen Universitätsstadt Durham, eher eines evangelikalen und zugleich reformierten Vertreters der new perspective , dem James D. G. Dunn seinen Aufsatzband gewidmet hat, aufhorchen lassen: „Had the Reformed reading of Paul, with its positive role for Israel and the Law, been in the ascendancy rather than the Lutheran one, the New Perspective might not have been necessary, or 14 Vgl. dazu Westerholm, Perspectives (s. Anm. 4), 178-200. 15 J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul. Collected Essays, WUNT 185, Tübingen 2005, 18; vgl. auch 17-19 im Blick auf die recht persönlichen Hinweise auf die Kenntnis der Schriften Luthers; vgl. zu diesem Werk meine Rezension in ZRGG 59 (2007), 277-279. 16 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 84: „The point, then, is that Paul envisaged salvation as a process of transformation of the believer, not simply of the believer’s status , but of the believer as such.“ Ders., The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids / Cambridge 1998, 728: „Probably most profound of all was Paul’s concept of the process of salvation as a growing conformity to Christ“. 17 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 50 Anm. 209, sowie 69 Anm. 292. <?page no="276"?> 276 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective not in that form.“ 18 Dass in der Auslegungswissenschaft immer mit ‚spectacles‘ gearbeitet wird, ist unvermeidlich, ja selbstverständlich. Es scheint mir nur dringlich geboten zu sein, auch innerhalb der exegetischen Arbeit den jeweiligen Standort der Interpreten wahrzunehmen und kritisch mit zu bedenken, nicht nur in ihren theologischen, sondern gerade auch in ihren ethischen Ausführungen. Im Blick auf die genannten, aber auch auf andere konfessionelle Standorte muss die Fachdiskussion klären, ob die jeweiligen Positionen in ihrer exegetischen Ausrichtung noch mit Recht beanspruchen dürfen, den Schriften des Paulus und ihrem Aussagewillen Raum zu geben oder ob ‚spectacles‘ den Zugang verstellen. 2. Indikativ und Imperativ Der Versuch, die paulinische Ethik mittels der Zuordnung von Indikativ und Imperativ zu erfassen, hat nahezu das gesamte ausgehende 19. und sodann das 20. Jahrhundert über die Diskussion bestimmt. Hierbei war das Schema an sich mehrheitlich nicht strittig, wohl aber der präzise Gehalt des Indikativs und sodann die konkrete Zuordnung von Indikativ und Imperativ. In den vergangenen zehn Jahren allerdings haben etliche Arbeiten die Problematik dieses Modells aufgezeigt und deutlich gemacht, dass mit diesem Schema eine theologische und literarische Simplifizierung des exegetischen Befundes einhergeht. 19 Viele raten daher zu einer grundsätzlichen Abkehr von einer an diesem Schema orientierten Darstellung. 20 Es ist ein Kennzeichen der new perspective , dass sie 18 N. T. Wright, New Perspectives on Paul, 10 th Edinburgh Dogmatics Conference: 25-28 August 2003 (http: / / www.ntwrightpage.com/ Wright_New_Perspectives.htm [06. 06. 08]). 19 Zuletzt R. Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259-284; vgl. aber auch meine Überlegungen: F. W. Horn, Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik. Ihre Darstellung innerhalb Ferdinand Hahns Theologie des Neuen Testaments, in: C. Breytenbach / J. Frey (Hgg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007, 287-307, vor allem 287-292; wieder abgedruckt in diesem Band. Eine kritische, wenngleich nicht auf das Schema verzichtende Rezeption bietet W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 2 1989, 170-175. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch immer wieder recht bruchlose Anschlüsse an dieses Schema gesucht werden, um die paulinische Ethik zu erfassen. So etwa durch R. A. Burridge, Imitating Jesus. An Inclusive Approach to the New Testament Ethics, Cambridge 2007, 105-107. 20 U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin / New York 2003, 629-631; S. Vollenweider, Art. Paulus, RGG 4 VI (2003), 1036-1065, hier 1052: „Gegenüber der klassischen Verhältnisbestimmung von Indikativ und Imperativ, die R. Bultmann inauguriert hat, bestimmt man den Ansatz der pln. Ethik besser in der Transparenz der Glaubenden für die Liebe.“ Im Weiteren spricht Vollenweider dann von der Ethik als einem Resonanzphänomen auf die Alleinwirksamkeit Gottes. An dem Sprachgebrauch festhalten möchte Chr. Landmes- <?page no="277"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 277 einen dezidiert theologischen Zugang zur paulinischen Ethik sucht und etwa sprachlichen oder auch soziologischen Interpretationsmodellen höchst reserviert gegenübersteht. Innerhalb der new perspective gilt das überkommene Schema noch recht ungebrochen, ja ein Paragraph zu Indikativ und Imperativ wurde von James D. G. Dunn in seinem voluminösen Paulus-Buch der Darstellung der Ethik vorangestellt 21 und das Schema liegt sogar grundsätzlich der Einteilung seiner Paulus-Darstellung zugrunde (629). Zwar lehnt Dunn jeglichen Gedanken an das Modell ‚theology followed by application‘ (626) ab, da für Paulus gerade das ‚Ineinander‘ (627) von Theologie und Ethik bestimmend sei. Um beides jedoch angemessen zu erfassen, verweist Dunn auf strukturierende Momente. Dies seien für den Indikativ das Christusereignis und der Beginn der Erlösung, für den Imperativ die Heiligung und die menschliche Verantwortung. Die nun folgende von Dunn getroffene Zuordnung klingt für lutherische Ohren wahrscheinlich höchst problematisch: „[…] that the indicative is the necessary presupposition and starting point for the imperative. What Christ has done is the basis for what the believer must do. The beginning of salvation is the beginning of a new way of living“ (630). Und: „The imperative must be the outworking of the indicative“ (630). Dunn betont folgerichtig mehrfach, dass die Grundstruktur der paulinischen Ethik völlig entsprechend zur jüdischen Ethik synergistisch sei. 22 Auch Simon Gathercole, der sich kritisch mit der new perspective auseinandersetzt, aber einen Rückzug zur lutherischen Position a limine ablehnt, unterscheidet klar eine anfängliche Rechtfertigung des Gottlosen von der ihr notwendig folgenden endgültigen Rechtfertigung im Gericht aufgrund von Gesetzesgehorsam. Strukturell stehe Paulus mit dieser ‚doppelten Rechtfertigung‘ völlig in einem jüdischen Denkrahmen. 23 Auch wenn das Indikativ-Imperativ-Schema verwendet wird, ist es bei Dunn doch in einen von lutherischer Exegese fundamental unterschiedenen Rahmen eingespannt. Stellte sich für diese immer das Problem, wie etwa die bei Paulus begegnenden Vergeltungs- und Gerichtsgedanken in eine Zuordnung zum Inser, Der paulinische Imperativ als christologisches Performativ. Eine begründete These zur Einheit von Glaube und Leben im Anschluß an Phil 1,27-2,18, in: ders./ H.-J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hgg.), Jesus Christus als Mitte der Schrift, BZNW 86, Berlin / New York 1997, 543-577, aber eben doch in einer Anwendung, die die klassische Zuordnung aufhebt. Außerdem Ders., Was der Mensch ist und was er tun soll. Neutestamentliche Impulse für eine lutherische Ethik heute, in: T. Unger (Hg.), Was tun? Lutherische Ethik heute, SThKAB 38, Hannover 2006, 35-61. 21 Dunn, Theology (s. Anm. 16), 626-631. 22 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 71.88. 23 S. J. Gathercole, Where is Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1-5, Grand Rapids / Cambridge 2002; vgl. dazu meine Rezension in ThLZ 129 (2004), 634-637. <?page no="278"?> 278 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective dikativ gebracht werden können, so umgreift bei Dunn der Indikativ eben einen Prozess des Heilsgeschehens bis zum Endgericht und ist keinesfalls auf eine einmalige, zurückliegende soteriologische Interpretation des Werkes Christi zu beschränken. Allenfalls die individualistische Engführung der Ethik, die der lutherischen Paulus-Exegese stets zum Vorwurf gemacht wurde, kann auch bei Dunn im ‚salvation process‘ wiedererkannt werden. Demgegenüber ist geltend zu machen, dass die paulinische Ethik überwiegend als ekklesiale Ethik entworfen und auf die Heiligung der Gemeinde im Angesicht der Parusie Christi bezogen worden ist. 24 Exemplarisch kann dies an 1Kor 5,1-13 nachvollzogen werden. Das Fehlverhalten desjenigen, das als γυναῖκά τινα τοῦ πατρὸς ἔχειν (V. 1) beschrieben wird, bleibt unerörtert. Die Reaktion der Gemeinde allerdings auf dieses Fehlverhalten und der Schaden, der ihr als geheiligte Größe zugefügt wurde, werden in diesem Text ausführlich thematisiert. 25 3. Rechtfertigung und Heiligung Die Neufassung der paulinischen Rechtfertigungslehre durch die new perspective stellt wahrscheinlich bis heute die nachhaltigste These im wissenschaftlichen Gespräch dar, das noch keineswegs abgeschlossen ist. Waren bisher die Darstellungen der neutestamentlichen Ethik im Wesentlichen von der Frage bestimmt, wie sich das Leben der Christen hinsichtlich Begründung, Durchführung, Motivation und Endgericht zur im Glauben angenommenen Rechtfertigung verhält, so wird in der new perspective der soteriologische Gehalt der Rechtfertigung deutlich reduziert. Sie stellt nicht mehr die Achse der paulinischen Theologie dar und wird überdies von der Soteriologie in den Bereich der Missiologie verlegt. 26 Freilich kann auch für die gegenwärtige deutsche, lutherisch geprägte Paulus-Exegese nicht von einer einheitlichen, das Ganze der paulinischen Theologie bestimmenden Rechtfertigungslehre ausgegangen werden, wenngleich in den Neufassungen ihres Gehalts die Nähe zu soteriologischen Konzeptionen 24 G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments, bearb., ergänzt u. hg. von F. W. Horn, Berlin / New York 1996, 206-208, hat daher von ‚Indikativ und Imperativ im ekklesiologischen Zusammenhang‘ gesprochen, um dem berechtigten Vorwurf, die Individualethik an die Stelle der ekklesialen Ethik im paulinischen Denken zu setzen, zu begegnen. Ebenso beschreibt er an anderer Stelle die Funktion des Imperativs als Darstellung der Einheit des Leibes (198). 25 Vgl. zu diesem Text die Ausführungen von M. Wolter, Der Brief des so genannten Unzuchtsünders, in: M. Gielen (Hg.), Liebe, Macht und Religion. Interdisziplinäre Studien zu Grunddimensionen menschlicher Existenz. Gedenkschrift für Helmut Merklein, Stuttgart 2003, 323-337. 26 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 27: „The issue of whether and how Gentiles can be accepted by God is at the heart of Paul’s theology“. <?page no="279"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 279 (Tauftheologie, Pneumatologie, Hamartiologie) deutlicher betont wird als in den Entwürfen der new perspective . 27 Dunn legt größten Wert auf die Feststellung, dass die Rechtfertigung den Anfangs- und den Endpunkt eines Prozesses beschreibt, dass aber im Zentrum des paulinischen Denkens der Weg zwischen beiden Eckpunkten stehe, der nun als Heiligung, als Transformation, als Prozess, als Erneuerung, eben als ‚salvation process‘ 28 beschrieben wird. 29 In seinem Paulus-Buch stellt die Rechtfertigung aus Glauben den Einstieg (§ 14) zweier aufeinander folgender großer Kapitel dar, die unter der Überschrift ‚The Beginning of Salvation‘ (chapter 5) und ‚The Process of Salvation‘ (chapter 6) erscheinen. Die Rechtfertigung bildet also keineswegs gleich einer archimedischen Achse Zentrum oder Mitte des paulinischen Denkens, sondern sie stellt eher den äußeren Rahmen dar. Den wesentlichen Inhalt der genannten Kapitel und Gegenstand des Heiligungsprozesses bieten die Ausführungen zur Christusgemeinschaft 30 , zur Pneumatologie und zur Eschatologie. Die Christusgemeinschaft bezieht sich nicht allein auf eine sakramentale Grundlage oder eine mystische Wirklichkeit, sie findet vielmehr ihren täglichen Ausdruck im Heiligungs- oder Verwandlungsprozess. 31 Indem Dunn diese Themen in den Vordergrund rückt, folgt er durchaus einer Neuorientierung innerhalb der deutschen, auch lutherisch geprägten Exegese. 32 Aber er verbindet sie viel deutlicher als diese mit teleologischen, wachstumsorientierten Gedanken und mit einer positiven Gewichtung des Schlussgerichtes. Ich erkenne hier einen fundamentalen Gegensatz zur sog. klassischen Paulusauslegung. Während nach ihrer Sicht die auf die Tora bezogenen Werke im Zusammenhang der Rechtfertigung ohne jede Wirksamkeit sind, werden sie bei 27 Vgl. etwa die Ausführungen bei U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 233-244, der die Rechtfertigungslehre und ihre Genese im Rahmen der Christologie darstellt; zuvor bereits Ders., Paulus (s. Anm. 20), 516-537. 28 Dunn, Theology (s. Anm. 16), 461 f.468.487-490.493-497.728 f. u. ö. 29 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 79: „Paul’s theology of justification by faith alone has to be qualified as final justification by faith and by works accomplished by the believer in the power of the Spirit.“ 30 Dunn, Theology (s. Anm. 16), 658: „In this phrase ‚the law of Christ,‘ then, we have further confirmation that the law continued to have paraenetic force for the first Christians. But it was the law as taught and as lived out by Jesus, as known to each church through its founding traditions.“ 31 Dunn, Theology (s. Anm. 16), 411: „Here we may say that Paul’s sense of the mythical Christ functioned in his ethical life as resource and inspiration.“ 32 U. Schnelle, Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer / M. Meiser (Hgg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), MThSt 76, Marburg 2003, 109-131; aber auch von katholischer Seite: K. Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle / Th. Söding unter Mitarbeit von M. Labahn (Hgg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 9-31. <?page no="280"?> 280 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective Dunn im Blick auf das Schlussgericht aufgewertet, und sie stellen einen Maßstab dar, an dem sich das Gericht orientiert. Die paulinische Ethik erscheint im Gegensatz zu lutherisch geprägten Ansätzen daher nicht mehr primär auf das zurückliegende Heilsgeschehen bezogen, sondern sie gewinnt gerade im Blick auf das zukünftige Gericht eine wesentliche Motivation und Begründung. Demgegenüber ist zu betonen, dass gerade am Beispiel des 1. Thessalonicherbriefes gut zu erkennen ist, wie stark Paulus das ethische Leben in Beziehung setzt zur zurückliegenden Heilsgabe. 33 Der christlichen Gemeinde wurde die Heiligkeit mit der Gabe des Geistes übereignet (1Thess 3,13; 4,8). Sie soll diese Heiligkeit bewahren bis zur Parusie und Gott selbst wird dafür Sorge tragen, dass die Gemeinde in einem solchen Stand von Heiligkeit bei der Parusie des Kyrios ist (1Thess 5,23 f.), dass sie ihm begegnen kann (1Thess 3,13). Freilich begegnen im weiteren paulinischen Schrifttum gelegentlich Gerichtsaussagen auch im Blick auf die Gemeinde, obwohl diese streng genommen bereits gegenwärtig im Raum des Heils steht (1Thess 1,10; 5,9 f.; Röm 5,8-10; 8,31-34). Diese Gerichtsaussagen haben wohl die Funktion, die ethische Forderung zu motivieren (Röm 14,10; 1Kor 8,11; 2Kor 5,9 f.; 1Thess 4,6), sie benennen aber auch eine Grenze, die ein letztes Gericht über Christen einschließt. Beide Aussagereihen, der übereignete Stand der Heiligkeit und die Gerichtsvorstellung, sind nicht wirklich in eine klare Verhältnisbestimmung zu überführen. Die Zueignung des Heils vollzieht sich eben nicht magisch, sondern innerhalb des Glaubens und sie behält damit eine geschichtliche Struktur. Vielleicht darf man Samuel Vollenweiders Vorschlag folgen und die Unterscheidung von ‚Person und Werk‘ in 1Kor 3,13-17 anwenden, um die Zuordnung von Christsein und Gericht zu verstehen. Die Gerichtsvorstellung ist eine Grenzaussage, deren Funktion innerhalb der Ethik wohl vorhanden ist, die aber nicht in den Bereich deren theologischer Grundlegung gehört. 34 33 Vgl. F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, FRLANT 154, Göttingen 1992, 131 f. 34 Ich verweise an dieser Stelle auf die differenzierte Studie von M. Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor, BZNW 117, Berlin / New York 2003. <?page no="281"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 281 4. Die jüdische Grundstruktur der paulinischen Ethik Grundlegend für die new perspective war der Paradigmenwechsel im Verständnis des Judentums. Nach Henri Blocher gilt: „The new perspective on Paul was born of a new perspective on Second Temple Judaism“ 35 . Nach Dunn steht die paulinische Ethik strukturell völlig in einem jüdischen Kontext, 36 strukturell insofern, als es um die Zuordnung von Rechtfertigung und Gericht, Glaube und Gehorsam geht. Das Gesetz als Orientierungsrahmen des Gehorsams spielt hierbei eine wichtige Funktion, aber auch die Worte und das Vorbild Jesu. Die new perspective hatte zunächst das Bild des Judentums des zweiten Tempels auf eine ‚common basic structure‘ reduziert und hierbei fraglos die Vielfalt des Judentums unterbewertet. Das gesamte Judentum fand sich bei Sanders unter der Rubrik eines ‚covenantal nomism‘ oder auch unter der Rubrik einer ‚religion of grace‘ wieder. 37 Gegenwärtig hat nach dem von D. Carson u. a. 38 herausgegebenen ersten Band zu Justification und Variegated Nomism zuletzt Gerd Theißen die new perspective erneut daran erinnert, dass das Judentum des zweiten Tempels ausgesprochen vielfältig gewesen sei. 39 Theißen findet im vorchristlichen Paulus einen Vertreter eines pharisäischen Judentums wieder, für das der Eifer für das Gesetz und das Sich-Rühmen über andere kennzeichnend gewesen sei. 40 Dieses Rühmen sei also nicht allein das Rühmen des Juden angesichts der Vorzüge über die Heiden. 41 Wenn Paulus jetzt in seinen Briefen auf solche jüdischen Ausrichtungen eingehe, dann befasse er sich in 35 H. Blocher, Justification of the Ungodly ( Sola Fide ). Theological Reflections, in: Carson / O’Brien / Seifried (Hgg.), Justification II (s. Anm. 4), 465-500, hier 469. 36 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 67, spricht von der „inter-relationship between (initial) justification und final judgment, and between faith and obedience“, die jüdisches und christliches Denken so sehr verbinde, dass „ the same or at least a very similar interrelationship “ bestehe. 37 Sanders, Paul (s. Anm. 12), 419-428; vgl. auch die deutsche Übersetzung: Sanders, Paulus und das palästinische Judentum (s. Anm. 12), 397-406. 38 D. A. Carson / P. T. O’Brien / M. A. Seifried (Hgg.), Justification and Variegated Nomism I: The Complexities of Second Temple Judaism, Tübingen / Grand Rapids 2001. 39 Vgl. aber auch die Kritik durch P. T. O’Brien, Was Paul a Covenantal Nomist? , in: Carson / O’Brien / Seifried (Hgg.), Justification II (s. Anm. 4), 249-296. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum (s. Anm. 12), 401, suchte die Vielfalt innerhalb des Judentums deutlich herunterzuspielen, um auf die Gemeinsamkeiten zu verweisen. 40 Die Thematik des Sich-Rühmens wurde im kritischen Gespräch mit der new perspective bereits von Gathercole, Boasting (s. Anm. 23), behandelt. 41 J. D. G. Dunn, The New Perspective: whence, what and whither? , in: Ders., New Perspective (s. Anm. 15), 9: „A ‚boasting‘ of self-confidence and self-reliance, ‚boasting‘ in self-achieved righteousness […] is remote from the context. Likewise, in 3.27-30 the sequence clearly implies that to boast on the ground of, or as encouraged by the law of works is equivalent to affirming that God is God of Jews only“. <?page no="282"?> 282 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective Wahrheit mit seiner eigenen jüdischen Vergangenheit. Diese sei von einer synergistischen Grundstruktur geprägt. Der Christ Paulus weise nun die Vorstellung, dass irgendeine menschliche Handlung Grundlage des Heilsvorgangs sein könne, entschieden zurück und er distanziere sich damit auch gleichzeitig von einer wesentlichen Grundlage jüdischer Ethik. Die Anbindung der paulinischen Ethik an eine Ethik des Judentums sei bei der new perspective erkauft durch eine fragwürdige Darstellung des Judentums. Theißen betont gerade den Bruch zur jüdischen Ethik, und dieser Bruch findet in der Haltung des Paulus zu seiner eigenen Vergangenheit einen kräftigen Ausdruck. Diese Kritik, die sich auf die grobe Simplifizierung des Judentums seit Sanders bezieht, um Paulus an eine jüdische Grundstruktur anbinden zu können, müsste erweitert werden im Blick auf andere, hier wirksam werdende theologische Grundentscheidungen. Hierzu zähle ich etwa auch das Bedenken der in den ethischen Systemen vorausgesetzten anthropologischen Grundstruktur. Inwieweit wird der Mensch als autonom in seiner Entscheidung betrachtet? Kann er ‚das Gute‘ frei wählen und ‚den bösen Trieb‘ überwinden, oder ist er in seinem freien Willen behindert? Paulus begreift den Menschen in einer ausweglosen Situation, da er das Gute, das vor Augen steht, zwar tun möchte und auch die innere Zustimmung gibt, jedoch mit dem Ergebnis konfrontiert wird, genau die entgegengesetzte, die falsche Entscheidung zu treffen (Röm 7,23 f.; Gal 5,17). 42 Hingegen bestehen innerhalb der jüdischen Anthropologie durchaus ‚optimistische‘ Modelle, die der eigenen Entscheidung und der Willensfreiheit zum Guten hin ein großes Vertrauen entgegenbringen und daher vom Ansatz her synergistisch angelegt sind. 43 Innerhalb der paulinischen Ethik muss auf die Funktion der Gabe des Geistes hingewiesen werden, da es nur unter dieser Voraussetzung zu einer veränderten Einstellung zur Forderung der Tora kommen kann. Paulus ist zwar weit davon entfernt, eine vollkommene Gesetzeserfüllung auch der Heidenchristen mittels der Gabe des Geistes anzusprechen oder auch nur zu erwarten. Wohl aber deuten Aussagen wie Röm 8,4 und Gal 5,16 eine Denkrichtung an, der zufolge Heidenchristen unter der Führung des Geistes 42 Schnelle, Theologie (s. Anm. 27), 261-265, stellt die paulinische Anthropologie im Anschluss an Röm 7 dar und zitiert in diesem Zusammenhang auch die Auslegung durch Sanders, Paulus (s. Anm. 1), 128: „Mit anderen Worten, Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt niemanden - ausgenommen vielleicht den Neurotiker.“ 43 G. Maier, Mensch und freier Wille. Nach den jüdischen Religionsparteien zwischen Ben Sira und Paulus, WUNT 12, Tübingen 1971; L. Wächter, Die unterschiedliche Haltung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener zur Heimarmene nach dem Bericht des Josephus, ZRGG 21 (1969), 97-114. <?page no="283"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 283 in Übereinstimmung mit der δικαίωμα τοῦ νόμου leben, ohne dass dieses nun wiederum irgendwie quantitativ oder qualitativ präzisiert würde. 44 5. ἔργα νόμου Die Diskussion zu diesem Syntagma wurde 1983 durch James D. G. Dunn 45 angestoßen und die eigene Sicht 1985 in einem größeren Aufsatz 46 präsentiert. Nach Dunn blickt Paulus, wenn er von ἔργα νόμου spricht, vor allem auf Beschneidung, Speise- und Sabbatgebote, also auf die Kennzeichen des Judentums, die es von der heidnischen Welt unterscheiden. Dunn sprach daher von den ‚boundary markers‘ oder den ‚identity markers‘. Auf jeden Fall habe Paulus die soziale Funktion des Gesetzes als Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Heiden im Blick, was im Übrigen nicht nur durch das Syntagma allein, sondern vor allem auch durch seine Verwendung im Galater- und Römerbrief deutlich werde. Michael Bachmann befindet sich seit Jahren in einer Diskussion mit Dunn 47 um die sachgemäße Interpretation dieses Syntagmas. In einer jüngeren Studie hat er die eigene Position abermals präzisierend festgehalten, dass Paulus, wo immer er das Syntagma ἔργα νόμου verwendet, nicht Handlungen des Gesetzes im Blick hat, sondern Regelungen . Das, was Dunn ‚boundary markers‘ nennt, sind für Bachmann so etwas wie ‚test cases‘ (132). Insgesamt aber gehe es Paulus darum zu sagen, dass die Rechtfertigung nicht aufgrund von Regelungen des Gesetzes erfolge, sondern aufgrund des Christusereignisses (132). Im Jahr 2008 hat Bachmann auf dem SNTS -Kongress in Sibiu einen Beitrag präsentiert und als Schlussergebnis festgehalten: Der Ausdruck ἔργα νόμου meint bei Paulus so etwas wie Halakhot. „Diese wären dann freilich eindeutig von den ‚guten Werken‘ der abendländischen Tradition zu unterscheiden.“ 48 Bachmann schließt an diese philologische Analyse an, dass bei diesem Verständnis bestimmte Gefahren gemieden werden, die sich im Protestantismus leicht einstellen (Anti- 44 F. W. Horn, Wandel im Geist. Zur pneumatologischen Begründung der Ethik bei Paulus, KuD 38 (1992), 149-170. 45 J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul, wieder abgedruckt in: Ders., New Perspective (s. Anm. 15), 89-110, hier vor allem 95 f. 46 J. D. G. Dunn, Works of the Law and the Curse of the Law, wieder abgedruckt in: Ders., New Perspective (s. Anm. 15), 111-141. 47 Zuletzt M. Bachmann, J. D. G. Dunn und die Neue Paulusperspektive, ThZ 63 (2007), 25-43. 48 Bachmann, J. D. G. Dunn (s. Anm. 47), 43. Ich erwähne in diesem Zusammenhang auch, dass es um die Publikation des von Bachmann ausgearbeiteten Beitrags sodann erhebliche Kontroversen gab und etliche Zeitschriften, die Bachmanns Position nicht teilten, einen Abdruck verweigerten. <?page no="284"?> 284 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective nomismus; ethische Indifferenz; bloßer Individualismus). Deutlicher noch belegt seine Position das folgende Zitat in dem genannten Aufsatz: „und zugleich ist hierbei der Bereich der Ethik nicht negativ tangiert; insofern passen ethische Ermahnung und Ermutigung bei Paulus recht problemlos mit den Rechtfertigungsaussagen zusammen.“ 49 Zuletzt hat Otfried Hofius nun in diese Debatte eingegriffen und die Positionen von Dunn und Bachmann scharf zurückgewiesen. Er möchte sowohl im Blick auf die sprachliche Bedeutung des Ausdrucks ἔργα νόμου als auch in Hinsicht auf dessen sachliche Bedeutung im Kontext erweisen, dass sie auf das Tun des Gesetzes, die Befolgung des Gesetzes oder einfach den Toragehorsam zu beziehen sind. 50 Die Diskussion zu diesem Syntagma ist sicher noch nicht abgeschlossen, sie ist allerdings in ihren einzelnen Verästelungen nur noch mit Mühe zu überblicken. 51 Wichtig ist wohl, dass sowohl Dunn als auch Bachmann ἔργα νόμου als Strukturelement der christlichen Gemeinde (Aufhebung der ἔργα νόμου als unterscheidende ‚identity markers‘ zwischen Juden und Heiden) oder als Bestandteil des Rechtfertigungsgeschehens (Rechtfertigung durch Einhaltung der Halakhot) ausschließen wollen, damit aber die ethische Forderung der Tora außerhalb dieser Kontexte freilegen. Allerdings wird man mit Frey 52 fragen müssen, ob sich letztlich Vorschriften und Befolgung voneinander trennen lassen. Vorschriften sind auf Befolgung angelegt und dürfen eine Anerkennung erwarten lassen. Der soteriologische Grundsatz des Paulus, demzufolge aus den ἔργα νόμου kein Fleisch gerecht wird, schließt es geradezu aus, die Befolgung der ἔργα νόμου ohne jeglichen Nebengedanken durchzuführen. Eine Reduktion der ἔργα νόμου ausschließlich auf ethische Sätze führe, so Frey, zu einem neuen Zerrbild der Halacha. 49 M. Bachmann, Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck „‚Werke‘ des Gesetzes“, in: Ders. (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005, 69-134. 50 O. Hofius, „Werke des Gesetzes“. Untersuchungen zu der paulinischen Rede von den ἔργα νόμου, in: D. Sänger / U. Mell (Hgg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 362-393. Ähnlich argumentierte zuvor gleichfalls S. J. Gathercole, Justified by Faith, Justified by his Blood: The Evidence of Romans 3: 21-4: 25, in: Carson / O’Brien / Seifried (Hgg.), Justification II (s. Anm. 4), 147-184, vor allem 154 f. 51 Vgl. die klärende Übersicht bei Frey, Paulusperspektive (s. Anm. 8), 40-42. 52 Frey, Paulusperspektive (s. Anm. 8), 41. <?page no="285"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 285 6. Das Verhältnis zur Tora Dunn wendet sich folglich gegen eine Interpretation der paulinischen Ethik, die von einem Bruch mit der Tora ausgeht. „In the light of these investigations I cannot accept that talk of a ‚break‘ with the law, as a summary of Paul’s overall attitude to the law, is justified.“ 53 Dunn zeigt auf, dass für Paulus die Distanz zur Tora immer da angesprochen wird, wo mittels der Tora die Grenze zwischen Juden und Heiden aufgerichtet wird. Es geht also um die Tora in ihrer Funktion als Element des Bundesnomismus oder der Abgrenzung zum paganen Raum. Wenn aber diese Funktion hinfällig werde, etwa durch die Begründung des einen Gottesvolks aus Juden und Heiden, dann habe die Tora unter Absehung ihrer auf ‚boundary markers‘ bezogenen Weisungen sehr wohl eine klare normative Bedeutung auch für die Heidenchristen. Keine Aussage könne dies besser belegen als 1Kor 7,19. Einerseits erkläre Paulus die Frage des Beschnitten- oder Unbeschnittenseins zu einem Adiaphoron, andererseits aber erhebe er die Beachtung der Gebote Gottes auch für die Heidenchristen zu einer Pflicht. 54 Da aber in 1Kor 7,19 das Beschneidungsgebot zum Adiaphoron erklärt wird, muss man ernsthaft die Frage stellen, welche ἐντωλαὶ θεοῦ denn überhaupt gemeint sein sollen, da das Beschneidungsgebot ja Bestandteil der Tora ist. Daher kann etwa Lindemann bei der Beantwortung dieser Frage der zuletzt von Will Deming vertretenen These viel abgewinnen, dass Paulus hier den stoischen Gedanken aufgreift, demzufolge der wahre Philosoph nicht auf menschliche Gebote, sondern auf die ihm unmittelbar zugänglichen Gebote Gottes hört. 55 Was aber unterscheidet den jüdischen Weg oder Versuch der Gesetzeserfüllung von dem christlichen? Dunn schreibt: „and that so far as ethics is concerned the difference can only be found in the gift of the eschatological Spirit, and that Spirit must have made a difference, otherwise the distinction / antithesis between Christianity and Judaism cannot be sustained“ 56 . Der Geist befähigt zur Erfüllung des Gesetzes (Röm 8,4), des ganzen Gesetzes (Gal 5,6.14). Dunn würde hier nicht einmal der reduktionistischen Sicht zustimmen, dass allein das Liebesgebot in Verbindung mit dem Dekalog den für Christen verbindlichen Teil der Tora ausmacht. Er spricht allein davon, dass einige Gebote wie das der Beschneidung an Bedeutung verloren haben, dass aber grundsätzlich auch den 53 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 47 f. 54 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 50. 55 A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9 / I, Tübingen 2000, 171. 56 Dunn, New Perspective (s. Anm. 15), 78. <?page no="286"?> 286 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective Heidenchristen die Erfüllung der Gebote der Tora auferlegt ist und dass dies jetzt auch mittels der Geistesgabe möglich ist. 57 Ich denke, dass wenige Aussagen in den paulinischen Briefen eine Gesetzeserfüllung, speziell diejenige des Liebesgebots, auch durch die Heidenchristen ansprechen (Röm 13,8; Gal 5,14), an beiden Stellen jedoch die Erfüllung des Liebesgebotes mit der Erfüllung der Forderungen des ganzen Gesetzes gleichsetzen. In der Forschung herrscht freilich nach wie vor eine Diskussion, ob diese Relation von ὁ πᾶς νόμος (Gal 5,14) bzw. νόμος (Röm 13,8.10) auf der einen Seite zu ἀγάπη bzw. ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν (Gal 5,14; Röm 13,9) auf der anderen Seite, und dies mittels des Verbs ἀνακεφαλαιοῦται (Röm 13,9) bzw. πεπλήρωται (Gal 5,14) eine solche Reduktion darstellt, die faktisch die Heidenchristen von dem Anspruch der übrigen Forderungen der Tora freispricht. Besteht hier noch eine schmale und positive Brücke zur Tora oder ist mit der Reduktion nicht bereits die Vorstellung der Weisung der Tora an die Heidenchristen aufgehoben? Es ist nun auffällig, dass die Erfüllung des Liebesgebotes überhaupt erst mittels der Geistesgabe (Röm 8,4) möglich geworden ist und dass derjenige, der dieses Liebesgebot und die anderen im Tugendkatalog genannten Eigenschaften mittels des Geistes erfüllt, nicht mehr unter dem Anspruch der Tora steht (Gal 5,18). Das Liebesgebot ist folglich in einer wohl bereits im hellenistischen Judentum vorbereiteten universellen Ausweitung vom Volksgenossen auf alle Menschen geblieben, jedoch in einen anderen Kontext gewandert, von der Tora zur Pneumatologie. Gegen Dunns Sicht der Dinge spricht meines Erachtens, was bereits an anderer Stelle mehrfach vermerkt wurde, der exegetische Befund des 1. Korintherbriefes. 58 Angesichts der dort verhandelten ethischen Themen wäre es zu erwarten gewesen, dass Paulus sich auf die Tora bezieht und ihre Forderungen den korinthischen Christen auferlegt. Aber auch in den weiteren Briefen 57 Dunn, Theology (s. Anm. 16), 642-649, ist höchst instruktiv: „But nothing that Paul says indicates that for him Christ had brought emancipation from the law as God’s rule of right and wrong, as God’s guidelines for conduct.“ (645). Hier spricht Dunn auch von „the law understood as guidelines for Spirit-directed conduct“ (647). „For Paul, the objective of God’s saving action in Christ was to make possible the keeping of the law! “ (646). Wegweisend sind für Dunn die drei Formulierungen, die vom Gesetz des Geistes (Röm 8,2), dem Gesetz Christi (Gal 6,2) und dem Gesetz des Glaubens (Röm 3,27) sprechen: „As we shall see, the value of the three matching ‚law of ‘ phrases is that they indicate in a particularly striking way the fact that Paul saw these three emphases […] as equally the key to the righteousness of ethics as to the righteousness offered in the gospel.“ (634). 58 A. Lindemann, Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik, in: W. Schrage (Hg.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments (FS H. Greeven), BZNW 47, Berlin / New York 1986, 242-265. <?page no="287"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 287 argumentiert Paulus in ethischen Abschnitten nicht von der Tora her. 59 Von daher bin ich höchst skeptisch im Blick auf Dunns Darlegungen, die mittels der Pneumatologie eine weitgehende Aufrichtung der Tora unter den Heidenchristen nachweisen wollen. 7. Heiligung-- ein ethischer Begriff? Die Heiligungsthematik spielt in der new perspective im Kontext der Ethik eine bedeutende Rolle, wie bereits mehrfach angedeutet worden ist. Der Begriff Heiligung und das zugehörige Wortfeld haben in der zurückliegenden Exegese seit Jahrzehnten nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen für die Rekonstruktion der paulinischen Theologie zukämen. Wenige neuere Arbeiten deuten hier jetzt neben der breiten Aufnahme der Thematik im Werk Dunns eine Wende an. 60 Es ist nicht zu bestreiten, dass der Begriff der Heiligung innerhalb der Dogmatik geradezu ein Synonym für ethische Konzeptionen geworden ist, vor allem im calvinistisch geprägten Flügel der reformatorischen und nachreformatorischen Theologie. Innerhalb der paulinischen Briefe kommt dem Wortstamm ἅγιος, ἁγιασμός (Röm 6,19.22; 1Kor 1,30; 1Thess 4,3.4.7), ἁγιωσύνη (Röm 1,4; 2Kor 7,1; 1Thess 3,13), ἁγιότης (2Kor 1,12v. l.) und ἁγιάζειν (Röm 15,16; 1Kor 1,2; 6,11; 7,14; 1Thess 5,23) nicht die Rolle zu, die ihr die Dogmatik gelegentlich aufbür- 59 Die gegenteilige Sicht der Dinge hat etwa P. J. Tomson, Paul and the Jewish Law. Halakha in the Letters of the Apostle to the Gentiles, CRI III / I, Assen / Minneapolis 1990, vertreten. Tomson verweist im Vorwort auf die Anstöße, die ihm durch Stendahl und Sanders vermittelt worden sind. Allerdings ist neben diesen von Tomson Genannten auch der prägende Einfluss der niederländischen Judaistik auf ihn zu benennen. Es will scheinen, als habe es in den Niederlanden nie eine dem deutschen Raum vergleichbare Entgegensetzung von paulinischer Theologie und Judentum gegeben. Neben Tomson hat auch K. Finsterbusch, Die Thora als Lebensweisung für Heidenchristen. Studien zur Bedeutung der Thora für die Paulinische Ethik, StUNT 20, Göttingen 1996, einen ähnlichen exegetischen Nachweis zu erbringen versucht: „Die These der vorliegenden Studie ist, daß die Thora (auch) für die überwiegend heidenchristlichen Briefadressaten des Apostels lebensweisende Funktion haben soll“ (12). Der Schlusssatz der Studie lautet: „Damit wird auch wahrscheinlich, daß Paulus seine ethischen Ausführungen als Auslegungen von Weisungen der Thora verstanden wissen wollte“ (187). 60 M. Vahrenhorst, Heiligung. Studien zur kultischen Begrifflichkeit in den paulinischen Briefen und ihren religionsgeschichtlichen Kontexten, Habilitationsschrift Kirchliche Hochschule Wuppertal 2006; jetzt ders., Kultische Sprache in den Paulusbriefen, WUNT 230, Tübingen 2008; H. Stettler, Heiligung bei Paulus, Habil. masch. Tübingen 2006, jetzt dies., Heiligung bei Paulus: Ein Beitrag aus biblisch-theologischer Sicht, WUNT 368, Tübingen 2014; E. D. Schmidt, Heilig ins Eschaton. Heiligung, heiligen und heilig als Begriffe frühpaulinischer Eschatologie im 1. Thessalonicherbrief, Diss. theol. Mainz 2008; jetzt ders., Heilig ins Eschaton. Heiligung und Heiligkeit als eschatologische Konzeption im 1. Thessalonicherbrief, BZNW 167, Berlin / New York 2010. <?page no="288"?> 288 Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective det, vor allem ist ihre Zuordnung zur Ethik problematisch. Sehen wir zunächst von dem häufig belegten Sprachgebrauch der ekklesiologischen Bezeichnung ἅγιοι ab. Es verbleiben wenige Belege, die im Kontext folgender Sachaussagen genannt werden: a. Konversion (Röm 6,19.22; 1Thess 4,7); b. Taufe (1Kor 1,30; 6,11; evtl. auch noch Röm 6,19.22); c. Differenz zu heidnischer Welt (Gegenbegriffe ἀκαθαρσία und πορνεία (Röm 6,19; 1Kor 7,14; 2Kor 7,1; 1Thess 4,7; aber auch Röm 15,16); d. Eschatologie bzw. Parusie (Röm 6,22; 1Thess 3,13; 5,23). Natürlich bedienen sich diese Sachaussagen des typischen Inventars etwa der Lasterkataloge, um den gegenwärtigen Stand des Getauften oder des Konvertiten vom vorgläubigen Stand abzuheben. Dies geschieht jedoch nicht, auf jeden Fall nicht in erster Linie, um eine ethische Belehrung vorzutragen. Wesentlich erscheint mir vielmehr das Grundanliegen, das sich hinter diesen Aussagen verbirgt. Die von Paulus angeschriebenen heidenchristlichen Gemeinden haben den nach alttestamentlich-jüdischem Denken erforderlichen Status der Heiligkeit übereignet bekommen und somit die unabdingbare Voraussetzung erhalten, Gott und dem Kyrios Christus in der Parusie überhaupt begegnen zu können. Ich möchte darüber hinaus in diesem Zusammenhang zumindest anfragen, ob die zweifelsfrei vorhandenen Wachstums- oder Entwicklungsaussagen bei Paulus wirklich in dem Maße der Ethik zuzuordnen sind. Dunn schreibt: „The character of the process of salvation also provides a theological foundation for a system of ethics […] For one thing, this would mean that the Christian life for Paul was a process which involved a continually renewed commitment“. 61 8. Schluss Ein streng theologischer Zugang zur paulinischen Ethik, wie er auch von der new perspective gesucht wird, neigt dazu, einen Teil des ethischen Materials auszublenden oder es einer übergeordneten theologischen Zielsetzung subsumieren zu müssen. Die Missachtung der etwa zuletzt von Ruben Zimmermann und Hermut Löhr aufgezeigten Vielfalt ethischer Argumentationen und Begründungen ist forschungsgeschichtlich seitens der new perspective ein Rückschritt. 62 Die new perspective steht in der Gefahr, das konfessionell lutherisch 61 Dunn, Theology (s. Anm. 16), 496. 62 Der von Zimmermann, Indikativ (s. Anm. 19), und von H. Löhr, Ethik und Tugendlehre, NTAK 3, Neukirchen-Vluyn 2005, 151-187; Ders., Gottesdienst im Alltag dieser Welt. Ein Beitrag zu einer künftigen „Ethik des Neuen Testaments“, BThZ 24 (2007), 241-261, erreichte Differenzierungsgrad in allen Darstellungen der paulinischen Ethik, die einen strikt theologischen Zugang suchen, wird in der new perspective nicht erreicht; vgl. <?page no="289"?> Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective 289 geprägte Paulusbild durch ein konfessionell calvinistisch geprägtes, zumindest bundestheologisch ausgerichtetes Paulusbild ersetzen zu wollen. 63 Der latent stets mitschwingende Vorwurf der ‚Lutheran spectacles‘ trägt in die eigene Rekonstruktion der paulinischen Ethik betont Sichtweisen aus der Tradition der reformatorischen, nicht aber der lutherischen Kirchen ein. Die Übernahme des überkommenen Indikativ-Imperativ-Schemas verleitet auch die new perspective dazu, eine grobe Vereinfachung der Inhalte, der Formen und der Begründung der paulinischen Ethik vorzunehmen. Die in neueren exegetischen Arbeiten thematisierten literaturgeschichtlichen und vor allem religionsgeschichtlichen Verbindungen mit der griechisch-hellenistischen Ethik werden weitgehend ausgeblendet, da die new perspective vornehmlich ein Interesse daran zeigt, Paulus an die alttestamentlich-jüdische Tradition anzubinden. auch die knappen, aber instruktiven Bemerkungen durch Vollenweider, Art. Paulus (s. Anm. 20), 1052. 63 Ich meine also nicht, jedenfalls nicht im Blick auf die Ethik, dass die new perspective „einer Ent-Theologisierung der Paulusexegese Vorschub“ leiste (D. Sänger in: ThLZ 132 [2007], 315), sondern dass sie einfach von einem anderen konfessionellen Standpunkt aus argumentiert. Vgl. aber auch die Bewertung durch Vollenweider, Art. Paulus (s. Anm. 20), 1043: „Die Konversion von genuin theol. zu soziologischen Themen ist darauf hin zu befragen, ob nicht das einzigartige hermeneutische Potential des pln. Denkens verspielt wird.“ <?page no="290"?> 290 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen * Ich möchte in meinem Beitrag von einem oftmals angesprochenen und durchaus bekannten Problem der Paulus-Forschung ausgehen, welches in einem Nebeneinander sich widersprechender oder vielleicht auch sich scheinbar widersprechender Aussagen besteht. Rudolf Bultmann hat den Sachverhalt zu Beginn eines bedeutenden Aufsatzes im Jahr 1924 klar angesprochen: „Neben Aussagen, nach denen der Gerechtfertigte von der Sünde frei, der Sünde gestorben ist, nicht mehr im Fleisch, sondern im Geiste lebt, finden sich solche, in denen zum Kampf gegen die Sünde gemahnt wird, der auch für den Gerechtfertigten gilt […] Die Eigenart des Problems wird dadurch deutlich, daß sich die verschiedenen Aussagen - die Indikative und die Imperative - nicht nur an auseinander liegenden Stellen der Briefe finden, sondern aufs engste miteinander verbunden sind und eine Antinomie bilden …“ 1 Es handelt sich hierbei keinesfalls um ein Randproblem der Paulus-Exegese, vielmehr muss der Textbefund als eine zentrale theologische Interpretationsaufgabe erkannt werden. Als ein Nebenaspekt mochte er noch bewertet worden sein, als alle Fragen der 1 Rudolf Bultmann, Das Problem der Ethik bei Paulus, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von Erich Dinkler, Tübingen 1967, 36-54, hier 36. Bultmann kommt auf die ältere Publikation von Paul Wernle, Der Christ und die Sünde bei Paulus, Freiburg 1897, zurück. Hier auf S. 89 ist eine Konzeption zu Indikativ und Imperativ zu finden, tatsächlich im Sinne einer grammatischen Bestimmung. Weiterhin bezieht sich Bultmann auf Hans Windisch, Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes. Ein Beitag zur altkirchlichen Dogmengeschichte, Tübingen 1908: siehe Bultmann, Problem. Dieses letztgenannte Buch gehörte ursprünglich auch zum Bestand der privaten Bibliothek Rudolf Bultmanns und ging beim Ankauf seines Nachlasses in den Besitz der Bibliothek der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz über. Ich konnte unterstrichene Textpassagen und Notizen von Bultmann in diesem Exemplar in Augenschein nehmen. Bultmanns Aufsatz wurde zeitgleich mit dem Aufsatz von Hans Windisch, Das Problem des paulinischen Indikativs, in derselben Ausgabe der ZNW 23 (1924), 265-281, veröffentlicht. * Zuerst erschienen in englischer Sprache: Friedrich Wilhelm Horn, Putting on Christ. On the Relation of Sacramental and Ethical Language in the Pauline Epistles, in: Ruben Zimmermann / Jan G. van der Watt in Cooperation with Susanne Luther (Hg.), Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings. Contexts and Norms of New Testament Ethics, Vol. II, WUNT II / 296, Tübingen 2010, 232-244, © Mohr Siebeck Tübingen. <?page no="291"?> Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen 291 Ethik innerhalb der Paulus-Exegese relativ bedeutungslos waren. 2 Dies allerdings hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend geändert. Der so genannte Imperativ, der die ethischen Aussagen innerhalb der Paulusbriefe in vielfältiger Form zur Darstellung bringt, hat eine völlig neue und aufmerksame Betrachtung gefunden, in der neben dem ethischen Gehalt der Aussagen etwa auch die religionsgeschichtlichen Verknüpfungen mit jüdischer und paganer Ethik oder mit allgemein anthropologischen Erwägungen zum Ausdruck kommen. Insofern stellt sich heute die Aufgabe einer Zuordnung von Indikativ und Imperativ anders als noch zu Rudolf Bultmanns Zeit. Er ging im Wesentlichen von der theologischen Frage aus, wie sich Heilsaussagen überhaupt mit Imperativen vertragen. Das Problem in dieser Betrachtungsweise waren für Rudolf Bultmann und seine Zeit die Imperative, nicht der Indikativ. Dieser theologische Einsatzpunkt ließ von vornherein die Imperative als etwas Nachgeordnetes, Sekundäres in Blick kommen, deren ethischer Gehalt und sprachliche Gestalt nicht wirklich von Interesse waren. Heute wird mit Recht moniert, dass der Versuch, alle diesbezüglichen Aussagen in den Paulusbriefen mittels der einfachen Kategorie von Indikativ und Imperativ einzufangen, nicht hilfreich war und dass die Forschung sich von dem Indikativ-Imperativ-Model als leitendem Begründungsmuster der paulinischen Ethik verabschieden sollte. 3 Die Kritik an dem Modell bezieht sich auf unterschiedliche Aspekte, unter anderem auch auf sprachphilosophische Überlegungen. Diese wiederum sind Gegenstand dieses Humboldt-Kollegs, das sich mit ‚Sprache und Ethik im Neuen Testament‘ auseinandersetzt. Hierbei verstehe ich meine Aufgabe so, dass ich mich mit der sprachlichen Form und dem sprachlichen Gehalt ethischer Aussagen befasse und bewusst nicht einen Zugang von übergreifenden Konzepten wie Indikativ und Imperativ suche. Ich möchte in meinem Beitrag auf eine zweimal in den Paulusbriefen begegnende Metapher eingehen, die von dem ‚Anziehen des Herrn Jesus Christus‘ 2 Vgl. hierzu den knappen Forschungsüberblick: Friedrich Wilhelm Horn, Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik, in: Cilliers Breytenbach und Jörg Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007, 287-307, vor allem 287-292; wieder abgedruckt in diesem Band; ders., Ethik des Neuen Testaments 1982-1992, ThR 60, 1995, 32-86. 3 Knut Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge. Festschrift Hans Hübner, hg. von Udo Schnelle und Thomas Söding, Göttingen 2000, 9-31. Backhaus, Evangelium, 10, hat sowohl grundlegende Literatur als auch Forschungsüberblicke zum Indikativ-Imperativ- Modell zusammengetragen. Weiterhin Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, 629-631; zuletzt Ruben Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132, 2007, 259-284, vor allem 265. <?page no="292"?> 292 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen (Röm 13,14) bzw. vom ‚Anziehen Christi‘ (Gal 3,27) spricht. In Röm 13,14 ist diese Aussage eindeutig in einem ethischen Kontext verankert, in Gal 3,27 hingegen in einem sakramentalen Kontext. 4 Beide Aussagen sind in der Literatur gerne auf Imperativ bzw. Indikativ verteilt worden und es ist gelegentlich problematisiert worden, in welchem Verhältnis eine seinshafte oder ontische Metapher zu einer ethischen Metapher stehen kann. 5 Die ethische Argumentation bedient sich einer Metapher in einer nahezu identischen sprachlichen Gestalt, die an anderer Stelle in einem rein sakramentalen Kontext Verwendung findet. In der altkirchlichen Auslegung beider Aussagen dominiert geradezu ausschließlich die ethische Perspektive, die das ‚Christus anziehen‘ mit christlichen Tugenden oder Eigenschaften verknüpft. Eine eindeutig das ontische Verständnis enthaltende Erklärung sei, so der grundlegende Artikel von Alois Kehl, in der altkirchlichen Auslegung jedoch schwer zu finden. 6 Kehren wir zu Paulus zurück. Was bedeutet dieser Befund für die Frage der sprachlichen Gestalt der ethischen Argumentation und welche theologischen Schlüsse können daraus gezogen werden? 1. Sprachliche Voraussetzungen Im Folgenden stehen relativ wenige Aussagen der paulinischen Briefe im Mittelpunkt der Betrachtung, die mittels der Verben ἐνδύομαι τι (alle Aussagen im Medium, sich bekleiden mit etwas: Röm 13,12.14; 1 Kor 15,53 f; 2 Kor 5,3; Gal 3,27; 1 Thess 5,8; vgl. aber auch Kol 3,10.12; Eph 4,24; 6,11.14), ἐπενδύομαι (Medium, überkleiden: 2 Kor 5,2.4), ἐκδύομαι (Medium, sich ausziehen: 2 Kor 5,4), ἀπεκδύομαι (Kol 2,15: entwaffnen; 3,9: etwas ausziehen) und des Substantivs ἀπέκδυσις (das Ablegen eines Gewandes: Kol 2,11) eine Gewandmetaphorik betreiben. 7 Außerhalb der paulinischen Briefe ist im NT die Gewandmetaphorik 4 Ich erinnere daran, dass Röm 13,13 f von Augustin, Confessiones VIII 12,28 f, mit seinem ‚Bekehrungserlebnis‘ verbunden wird. 5 Martin Hengel / Anna Maria Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, mit einem Beitrag von Ernst Axel Knauf, WUNT 108, Tübingen 1998, 443 (hier auch der Exkurs VII: Zur Gewand-Metaphorik, 443-446). Für Hengel / Schwemer stellt das Gegeneinander von ontisch und ethisch eine „irreführende Alternative“ dar, die unseren modernen Kategorien entspringt. Die übernommene Einteilung in ontische und ethische Metaphern an diesem Punkt scheint tatsächlich ein Problem zu sein, da die Metapher nicht zu einem Bereich zugehörig definiert ist. 6 Alois Kehl, Art.: Gewand (der Seele), RAC 10, 1978, 1014. 7 Jung Hoon Kim, The Significance of Clothing Imagery in the Pauline Corpus, JSNT.S 268, London / New York 2004, informiert ausführlich über Gewandmetaphorik in den paulinischen Briefen und in der Religionsgeschichte. In dieser Monographie bespricht er auch Gal 3,28 und Röm 13,14 detailliert (108-151). Teil I der Studie analysiert ‚Clothing Imagery in Its History-of-Religions Background‘, in Teil II ‚The Clothing Imagery <?page no="293"?> Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen 293 mittels dieses Wortstamms nur noch in Apk 1,13; 15,6 und 19,14 aufgenommen worden. Die Apostolischen Väter verwenden ἐνδύω häufig in metaphorischer Redeweise. 8 2. Die Verwendung der Belege im Corpus Paulinum Der früheste Beleg im Corpus Paulinum in 1 Thess 5,8 ordnet ein klar umrissenes und traditionelles Metaphernpaar in seinen beiden Elementen einander zu. Auf der einen Seite stehen Licht, Tag, wachen und nüchtern sein als Attribute, und zwar hier für die christliche Gemeinde. Auf der anderen Seite stehen Nacht, Finsternis, schlafen und betrunken sein für die ihr gegenüberstehende pagane Welt. Das Zornesgericht Gottes kommt über die zuletzt genannte Lebensausrichtung, aber die christliche Gemeinde ist durch ihre Verbindung mit Jesus Christus vor seinen Folgen bewahrt. Bis zu diesem Zeitpunkt kleidet (ἐνδύω τι) sich die Gemeinde mit einer geistlichen Waffenrüstung, die in Glaube und Liebe als Brustpanzer (θώραξ) und in der Hoffnung als Helm (περικεφαλαία) besteht und die das zukünftige Heil geradezu verbürgt. Paulus lehnt sich hierbei an Vorgaben der Rüstungs- und Kleidungsmetaphorik der LXX an, vornehmlich an Jes 59,17 und Sap 5,18. 9 In Röm 13,11-13 wird diese Metaphorik erneut aktiviert (Tag, Nacht, Licht, Finsternis, Waffen anziehen, schlafen, Heil), aber auch der Ausblick auf den kommenden Gerichtstag. Wir können diese Aussagen als ein geradezu klassisches Beispiel der traditionellen jüdischen, oft auch eschatologisch ausgerichteten Gewandmetaphorik betrachten, insofern Tugenden oder Eigenschaften ein neues Gewand darstellen. Dieses Gewand ist zugleich die in the Pauline Corpus‘. Von Kims Überblick über die Forschungsgeschichte muss eine Verbindung besonders zu Michael B. Thompson, Clothed with Christ: The Example and Teaching of Jesus in Romans 12.1-15.13, JSNT.S 59, Sheffield 1991, hergestellt werden. Jedoch scheint Kim mit Recht zu beklagen, dass „we do not find a sufficient treatment of the significance of the Pauline clothing imagery from these writings, though they do contain highly valuable insights“ (4). 8 Innerhalb der linguistischen Anforderungen ist es notwendig, auf Metaphern als Textphänomen anzuspielen. Ich möchte hinweisen auf Ruben Zimmermann, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis. Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt, WUNT II / 122, Tübingen 2001, 40: „Die Metapher bezeichnet in diesem Sinn ein Textphänomen, bei dem zwei üblicherweise nicht aufeinander bezogene Sinneinheiten prädikativ in Beziehung gesetzt werden, so dass eine neue semantische Kohärenz entsteht, die konventionellen Bedeutungsinhalte innerhalb dieses Sinngeschehens aber transparent bleiben.“ Vgl. Oda Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen 2004, 145-146, unter Bezugnahme auf Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 2 2001, 301. 9 Thomas Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus. Eine exegetische Studie, SBS 150, Stuttgart 1992, 77-78; Abraham J. Malherbe, The Letters to the Thessalonians, AncB 32B, New York 2000, 297-298. <?page no="294"?> 294 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen veränderte, die neue Identität der Person, und dieses Gewand hilft in einem endzeitlichen Kampf zu einem Sieg über die Mächte des Bösen. 1 Kor 15,53 f und 2 Kor 5,3 f verwenden die Gewandmetaphorik, um den Übergang des sterblichen Leibes in den unsterblichen Leib zu beschreiben (1 Kor 15,53 f: φθαρτὸν τοῦτο ἐνδύσασθαι ἀφθαρσίν καὶ τὸ θνητὸν τοῦτο ἐνδύσασθαι ἀθανασίαν). 10 Auch hier geht es um die Frage der neuen Identität nach dem individuellen Tod, der in 2 Kor 5,3 f als ἐκδύειν angesprochen wird. Innerhalb der paulinischen Briefe stellt die übertragene Verwendung der Gewandmetaphorik in Röm 13,14 und Gal 3,27, die nun vom Anziehen einer Person, nämlich des Herrn Jesus Christus, und nicht nur vom Anziehen bestimmter Eigenschaften bzw. Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) oder auch eines Wesens (Unsterblichkeit) spricht, ein auffälliges, ja gerade „kühn“ anmutendes Bild dar. 11 In Gal 3,27 verwendet Paulus den Indikativ Aorist Medium: Χριστὸν ἐνεδύσασθε, in Röm 13,14 den Imperativ: ἀλλὰ ἐνδύσασθε τὸν κύριον Ἰησοῦν Χριστόν. Es sollen zunächst diese beiden Belege in ihrem Kontext vorgestellt werden. Schließlich muss aber auch Kol 3,10 f (sowie Eph 4,24) mitbedacht werden, da die in diesem wohl deuteropaulinischen Brief begegnende Tauftradition den gleichen Hintergrund wie Gal 3,26-28 (und 1 Kor 12,13) hat und da in ihr gleichfalls die Gewandmetaphorik begegnet. 3. Gal 3,27 Der Taufzusammenhang ist durch den Vordersatz gesichert: ὅσοι γὰρ εἰς Χριστὸν ἐβαπτίσθητε, Χριστὸν ἐνεδύσασθε. Aber auch der direkte Kontext Gal 3,26.28 stellt diesen sakramentalen Hintergrund sicher. Wahrscheinlich referiert Paulus in Gal 3,26.28 eine Tauftradition, wie die Parallelen in 1 Kor 12,13 und Kol 3,11, wie aber auch der stringente Aufbau, der an eine relativ feste Formel denken lässt, nahelegen. Allein die Formel διὰ τῆς πίστεως (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) 12 (Gal 3,26) und der gesamte Vers Gal 3,27 mögen eine paulinische Erweiterung 10 Vgl. zu der Verwendung der Gewandmetaphorik in diesen Texten: Manuel Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi, FRLANT 214, Göttingen 2006, 223-378; zuvor Egon Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit, WMANT 29, Neukirchen 1968, 175-177. 11 Bauer-Aland, 533: „Kühn ist d. Bild τὸν κύριον Ἰησοῦν Χριστόν ἐ. d. Herrn Jesus Chr. anziehen .“. Zu beiden Textstellen auch: Jost Eckert, Zieht den Herrn Jesus Christus an …! (Röm 13,14). Zu einer enthusiastischen Metapher der neutestamentlichen Verkündigung, TThZ 105, 1996, 39-60. 12 Die präpositionale Bestimmung ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ist wahrscheinlich nicht zu διὰ τῆς πίστεως zu ziehen, sondern zu πάντες γὰρ υἰοὶ θεοῦ ἐστε. Die präpositionale Verbindung von διὰ τῆς πίστεως und ἐν wäre ungewöhnlich; vgl. ausführlich dazu Franz Mußner, Der Galaterbrief, ThHK IX, Freiburg 4 1981, 261. <?page no="295"?> Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen 295 der Formel sein, die sich auch aus der Gesprächslage des Galaterbriefs ergibt. 13 Es wird jedoch auch die Annahme vertreten, dass auch Gal 3,27 Teil dieser Tauftradition ist. 14 Die beiden mit πάντες γὰρ beginnenden Sätze stellen einen Rahmen dar: Denn alle sind Söhne Gottes (Gal 3,26a) - denn ihr seid alle einer in Christus Jesus (Gal 3,28b). Diese Einheit findet Gestalt in der Aufhebung getrennter Gruppen in Christus (Gal 3,28a), nämlich des Juden und des Heiden, des Sklaven und des Freien, des Mannes und der Frau. Diese Einheit besteht insofern unter denen, die getauft sind (Gal 3,27a). Nun führt aber Gal 3,27b diese Gedankenreihe um ein weiteres und neues Argument fort: ihr alle, die ihr auf Christus getauft wurdet, ihr habt Christus angezogen 15 . Der Aorist ἐνεδύσασθε blickt hierbei auf den zurückliegenden einmaligen Vorgang der Taufe, bei dem dieses Anziehen des neuen Gewandes stattfand. Die Aufhebung der getrennten Gruppen ergibt sich folglich durch das neue Gewand (= Christus), das alle verbindet und abschließend in Gal 3,28b von der Einheit der Getauften in Christus sprechen lässt. Die religionsgeschichtliche Frage, unter welchen Voraussetzungen Paulus vom ‚Christus anziehen‘ spricht, ist hier noch nicht aufzunehmen oder gar zu beantworten. Festzustellen ist jedoch, dass die in Gal 3,27b erstmals im Corpus Paulinum begegnende Metapher des ‚Christus anziehen‘ innerhalb der Argumentation von Gal 3,26-28 keinen Fremdkörper darstellt. Geht es Gal 3,26 (πάντες υἱοὶ θεοῦ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) und 3,28a (πάντες … εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) darum, die Getauften unbeschadet ihrer religiösen, sozialen und geschlechtlichen Differenz als eine Einheit in Christus anzusprechen, so benennt Gal 3,27 die Taufe als denjenigen Ort, an dem sich diese Einheit realisiert und zwar so, dass Christus gleich einem Gewand die Vielzahl der Getauften umgreift. 13 Ich verweise hier auf die Einzelnachweise bei Hans Dieter Betz, Galatians. A Commentary on Paul’s letter to the churches in Galatia, Hermeneia, Philadelphia 1979, 181-185. 14 Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, GTA 24, Göttingen 1983, 58 f. Der deuteropaulinische Kolosserbrief bezeugt gleichfalls die Gewandmetapher, auch wenn er sie auf den neuen Menschen bezieht. Dies ist ganz sicher eine sekundäre Abwandlung. Gleichwohl kann das Vorkommen der Gewandmetapher in Kol 3,10 f Zeuge für deren Zugehörigkeit zur Tradition sein. 15 Das Medium ἐνεδύσασθε wird zumeist aktivisch übersetzt: ihr habt angezogen. Doch sprechen sich einige Exegeten für eine passivische Übersetzung aus: ihr habt euch anziehen lassen (Ulrich Mell, Neue Schöpfung. Eine traditionsgeschichtliche und exegetische Studie zu einem soteriologischen Grundsatz paulinischer Theologie, BZNW 56, Berlin 1989, 308). <?page no="296"?> 296 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen 4. Röm 13,14 In der von Röm 13,11-14 reichenden Sequenz thematisiert Paulus die Einstellung der römischen Christen auf den καιρός, die Zeit bzw. die Endzeit mittels der Metaphernpaare Nacht und Tag, Licht und Finsternis. 16 Die Gewandmetaphorik wird sodann in Röm 13,12 nach beiden Seiten hin in Anspruch genommen, als ein Ablegen der Werke der Finsternis und ein Anziehen der Waffen des Lichtes (vgl. hierzu auch Eph 6,10-17). Röm 13,13 illustriert nach beiden Seiten hin, erwähnt jedoch nur eine einzige Tugend, insgesamt aber sechs Laster, von denen sich die römische Gemeinde distanzieren soll. Diesen dreimal mit μή eingeleiteten negativen Verhaltensweisen wird in Röm 13,14 mit ἀλλά abschließend, hierbei das Verb ἐνδύω aus Röm 13,12 aufnehmend, das Anziehen des Herrn Jesus Christus kontrastierend entgegengesetzt. Der Kontext ist durchgehend ethisch-eschatologisch. Gerade die Schlussbemerkung, dass wer den Herrn Jesus Christus angezogen hat, das Fleisch nicht so umsorgt, dass Begierden entstehen, ist in dieser Hinsicht eindeutig. In Röm 13,14 steht diese Gewandmetapher des Anziehens des Herrn Jesus Christus ein wenig isoliert im Kontext. Sie wirkt ein wenig nachgetragen, indem das Verb ἐνδύω nochmals eingesetzt wird, jetzt aber wie in Gal 3,27 in Bezug auf eine Person. Diese Person freilich ist nicht der irdische Jesus, an dessen Verhalten die Gemeinde Orientierung finden könnte. 17 Da über Gal 3,27b hinausgehend von dem κύριος Ἰησοῦς Χριστός gesprochen wird, denkt Paulus an der erhöhten Herrn. Anders als in Gal 3,27 vollzieht sich das Anziehen Christi nicht einmalig, sondern soll sich beständig vollziehen, gerade etwa auch im Verzicht auf die angesprochenen Laster. 5. Kol 3,10 f Der wohl deuteropaulinische Kolosserbrief greift auf die durch Gal 3,27 f; 6,5; 1 Kor 12,13; 7,19-21 vermittelte vorpaulinische Tauftradition zurück, indem er etwa die Paare Heide - Jude, Beschnittener - Unbeschnittener, Sklave - Freier anspricht. Aber er verändert gleichzeitig den vermuteten Wortlaut und vor 16 Für die Interpretation von Röm 13,14 in einem direkten Zusammenhang Michael Theobald, Concupiscentia im Römerbrief. Exegetische Beobachtungen anlässlich der lutherischen Formel ‚simul iustus et peccator‘, in: ders. (Hg.), Studien zum Römerbrief, WUNT 136, Tübingen 2001, 250-276, hier 267-269 und 273-274. Klaus Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 3 2006, 293-295, stellt eine breite Sammlung der neuesten Literatur zu diesem Text zusammen. 17 Charles E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans, vol. II, ICC, Edinburgh 1998, 688-689: „It means to follow Him in the way of discipleship and to strive to let our lives be moulded according to the pattern of the humanity of His earthly life.“ <?page no="297"?> Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen 297 allem den Kontext dieser Tradition. 18 Kol 3,9 f sprechen vom Ausziehen des alten Menschen und seiner Taten und vom Anziehen des neuen Menschen. Dieser neue Mensch ist nach Kol 2,12 der in der Taufe gestorbene, aber durch Gottes Macht bereits auferweckte Mensch im Glauben. Kol 3,11 ruft diese Taufwirklichkeit in Erinnerung. Das Ausziehen des alten bzw. Anziehen des neuen Menschen, hier in Partizipia Aorist angesprochen, ist daher Erinnerung an die zurückliegende Taufe und nicht ein Imperativ. 19 Der Kolosserbrief geht davon aus, dass die Christen gegenwärtig mit Christus auferstanden sind und sich ihre Identität bereits jetzt, wenn auch noch in verborgener Weise, mit Christus verknüpft hat (Kol 3,1-4). Sprach also Gal 3,27 im Kontext der Taufe vom Anziehen des Christus, ohne dieses an die Auferstehungswirklichkeit zu binden, so deutet Kol 3,11 dieses Bild weiter aus: das Anziehen des neuen Menschen ist das Anziehen des auferweckten Menschen, der seit der Taufe mit Christus verbunden ist. Die Kleidermetaphorik blickt in Kol 3,10 f also auf ein zurückliegendes Geschehen, auf die Taufe zurück und der Verfasser verknüpft es mit einer den Text fast schon überladenden schöpfungstheologischen Ausdeutung: in Christus, dem Ebenbild Gottes (Kol 1,15), der εἰκῶν θεοῦ, gewinnt der Mensch in einer Neu-Schöpfung seine eigentliche Bestimmung zurück. Kol 3,10-12 ist damit wohl eine erste Interpretation der älteren Metapher vom Anziehen des Christus. In Kol 3,12 hingegen leitet das Schreiben, das Verb ἐνδύω abermals aufnehmend, einen kleinen Tugendkatalog ein, und hier ist ἐνδύω eindeutig imperativisch. 6. Zum religionsgeschichtlichen Kontext der Metapher Die Gewandmetaphorik, gerade auch mittels des Verbs ἐνδύω κτλ, findet sich sehr häufig in der antiken Literatur. 20 Martin Hengel erkennt in diesem Zusammenhang „… eine gemeinantike religiöse Koine und Vorstellungswelt, an der alle antiken Religionen und Kulte, einschließlich des Alten Testaments und Judentums, partizipieren und die die religiöse Verkündigung und Propa- 18 Ausführliche Nachweise bei Michael Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, ÖTK 12, Gütersloh 1993, 181. Jürgen Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 110-113, stellt diese und weitere Texte als Teile der vorpaulinischen antiochenischen Theologie vor und betont ihren Bezug zur Taufe. 19 Ausführlich dazu Joachim Gnilka, Der Kolosserbrief, HThK X / 1, Freiburg 1980, 185-186. 20 Vgl. die Überblicke bei Albrecht Oepke, Art.: δύω κτλ., ThWNT II (1990), 318-321; Pieter W. van der Horst, Observations on a Pauline Expression, NTS 19, 1972 / 73, 181-187; Kehl, Gewand (s. Anm. 6), 945-1025; Hengel / Schwemer, Paulus (s. Anm. 5), 443-446; Kim, Significance (s. Anm. 7), 8-103, untersucht the Gewandmetaphorik in ausgewählten jüdischen, christlichen und paganen Schriften und in religiösen Kontexten der Antike. <?page no="298"?> 298 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen ganda überhaupt erst möglich macht.“ 21 Diese Vorstellungswelt war ja nicht nur literarisch greifbar, indem bestimmte Eigenschaften oder Tugenden mit Kleidern, ja Waffen in Beziehung gesetzt wurden und so eine Gewandmetaphorik darstellten. Hierfür finden sich in der LXX , bei Philo und Josephus viele Beispiele aus dem jüdischen Bereich, sie können leicht ergänzt werden durch Parallelen aus der griechisch-hellenistischen und lateinischen Literatur. Diese Vorstellungswelt hatte aber auch gleichzeitig ihren sinnfälligen Bezugspunkt in der öffentlichen und religiösen Alltagswelt, indem die Kleider der Gottheiten im Kult von Priestern öffentlich getragen wurden. In der exegetischen Literatur ist die von Paulus verwendete Gewandmetaphorik häufig in einen sehr direkten Bezug zu Initiationshandlungen in den Mysterienreligionen gebracht worden. Eduard Lohse hat im Zusammenhang der Auslegung von Kol 3,9 daran erinnert, „daß der Myste in der Weihehandlung zwölfmal bekleidet wird und ein Gewand empfängt, das mit Tierbildern geschmückt ist. Durch das Anlegen der Kleider wird er geheiligt, das bedeutet: Er wird mit den Kräften des Kosmos erfüllt und erfährt eine physisch-substantielle Veränderung an sich, durch die er göttlicher Lebenskraft teilhaftig wird. In gnostischen Texten wird das Bild vom Anlegen bzw. Empfangen des Gewandes als Ausdruck für die Verwirklichung der Erlösung verstanden, die sich vollzieht, indem der Mensch in die göttliche Welt aufgehoben und mit deren Licht und Kraft durchströmt wird.“ 22 Ist aber ein eher allgemeiner Verweis auf das Vorkommen der Gewandmetaphorik in der Antike hilfreich? Henning Paulsen hat erwogen, „ob nicht die religionsgeschichtliche Erklärung stärker die differenzierte Verwendung von ε. innerhalb des NT zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen sollte.“ 23 Nun unterscheidet sich die Verwendung der Gewandmetaphorik in Gal 3,27 und Röm 13,14 ja grundlegend von einem allgemeinen Gebrauch dadurch, dass sie von einem Bekleiden mit einer Person spricht und nicht mit Eigenschaften oder Tugenden. Pieter W. van der Horst kam nach der Durchsicht der Parallelen aus der antiken Literatur zu dem Ergebnis: „The verbs ‚putting off‘ and ‚putting on‘ appear nowhere with man as their object, except in Paul’s letters.“ 24 Er vermutete, dass Paulus, angeregt durch allgemeine Aussagen der Gewandmetaphorik, zu seinen beiden Aussagen in Gal 3,27 und Röm 13,14 gekommen sei, 21 Hengel / Schwemer, Paulus (s. Anm. 5), 445. Astrid Böhme-Schönberger, Kleidung und Schmuck, in: Neues Testament und Antike Kultur: Familie, Gesellschaft, Wirtschaft Bd. 2, hg. v. Klaus Scherberich, Neukirchen 2005, 42-47, behandelt die Gewandmetaphorik, aber nicht hinreichend und viel zu kurz in dem fraglichen Kapitel. Der Artikel „Kleidung“ in DNP 6 (1999), 505-513, bleibt nur auf der Ebene der realen Kleidung und missachtet die Gewandmetaphorik. 22 Eduard Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK IX, Göttingen 1968, 204. 23 Henning Paulsen, Art.: ἐνδύω (ἐνδύνω), ἐπενδύομαι, EWNT 1 ( 2 1980), 1103-1105, 1104. 24 Van der Horst, Observations (s. Anm. 20), 182. <?page no="299"?> Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen 299 allenfalls durch einen Brauch aus dem Theaterwesen (s. u.) zusätzliche Anregung erfahren habe. Auch Günter Wagner fragte, „ob die alttestamentlichen Parallelen und die sinnfällige, nicht unbekannte Metapher nicht doch genügen, um den Ausdruck dem Apostel als selbständige Formulierung belassen zu können.“ 25 Wagner wollte aber einen Einfluss aus den Mysterienreligionen, vor allem aber aus der Gnosis auch nicht grundsätzlich ausschließen. Ganz anders hingegen Hans Dieter Betz: „[…] but the ‚putting on‘ of a redeemer figure has parallels only in the mystery religions and in gnosticism. 26 Hans Dieter Betz reklamiert mit der überwiegend älteren religionsgeschichtlichen Forschung die Übernahme dieser Metapher im Kontext einer gnostischen 27 oder mysterientheologischen 28 Erlöservorstellung. 29 Die Kritik an dieser Ableitung ist vielfältig und macht u. a. darauf aufmerksam, dass die angeführten Belege in der Regel ausnahmslos nachchristlich sind und völlig anderen Kontexten entstammen. 30 Als nächste und wohl auch einzige Parallele für eine Verwendung von ἐνδύω mit persönlichem Objekt hatte bereits Oepke auf das Theaterwesen hingewiesen, und van der Horst ist ihm in dieser These gefolgt (Dionysios von Halikarnassos, Ant. Rom XI 5: τὸν Ταρκύνιον ἐκεῖνον ἐνδυόμενοι / die Rolle des Tarquinius spielen 31 ; außerdem Libanius, epist 1048,2: ῥίψας στρατιώτην ἐνέδυ τὸν σοφιστήν). 32 Auch Martin Hengel hat dieser These teilweise zugestimmt. Er erinnert an das 25 Günter Wagner, Das religionsgeschichtliche Problem von Röm 6,1-11, AThANT 39, Zürich 1962, 286. 26 Betz, Galatians (s. Anm. 13), 188. 27 Betz verweist auf das Perlenlied aus den Thomasakten 108-113; Thomasevangelium 36-37 (NHC II.2); Philippusevangelium 24 (NHC II.57,19-24); Evangelium Veritatis 20,30-43 (NHC I.3 / 12,2); Thom Cont. P 143,37 (NHC II.7). In diesen Belegen wird zwar auf Bekleidungsmetaphorik rekurriert, aber doch nicht auf einen Gal 3,27; Röm 13,14 entsprechenden Vorgang, demzufolge der Erlöser angezogen wird. 28 Betz zitiert u. a. Ephippus in Athen. 12,53, p. 537 E 126 fgm. 5 Jac (hier in der von Bauer- Aland benutzten Ausgabe, 533): „Alex. d. Gr. legte gern die ἱερὰς ἐσθητᾶς der Götter an und wurde so Ammon, Artemis, Hermes, Herakles“ (dazu auch Hengel / Schwemer, Paulus [s. Anm. 5], 445 Anm. 1828); daneben verweist Betz auf Plutarch, Is. Os. 352B (kritisch zu dieser Inanspruchnahme Alexander Wedderburn, Baptism and Resurrection. Studies in Pauline Theology against Its Graeco-Roman Background, WUNT 44, Tübingen 1987, 338 f); Apuleius, Metam. 11,24 (kritisch dazu Wedderburn, Baptism, 333-335) Philo, Fug. 110. 29 So jetzt auch Robert Jewett, Romans. A Commentary, Hermeneia, Fortress 2007, 827. 30 Vgl. van der Horst, Observations (s. Anm. 20), 181 f; Wagner, Problem (s. Anm. 25), 286; Hengel / Schwemer, Paulus (s. Anm. 5), 444. 31 Siehe Neuer Wetttein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, hg. v. Georg Strecker und Udo Schnelle; Bd. 2 / 1, Berlin 1996, 210, wo ein weiterer Hinweis zu Lucianus, Gall. 16-17,19 zu finden ist. Ein Hahn berichtet über eine Reihe von Auferstehungen. Die Wörter ἐνδύω und ἀποδύω werden verwendet. 32 Oepke, ThWNT II (s. Anm 20), 319 f; aufgenommen bei van der Horst, Observations (s. Anm. 20), 182 f; kritisch dazu Mußner, Galaterbrief (s. Anm. 12), 263 Anm. 89. <?page no="300"?> 300 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen öffentliche Tragen der Gewänder der Gottheit vor allem in Prozessionen und stellt eine indirekte Beziehung zum paulinischen Sprachgebrauch her: „Weil diese Gewänder von Menschen im Kult (aber auch im Triumphzug, im Theater oder von den Kaisern) verwendet wurden, konnte die Metapher ‚mit Christus bekleidet werden‘ von ehemaligen Heiden analog verstanden werden.“ 33 Demnach hätte Paulus mit dieser Metapher ‚Christus anziehen‘ den Rezeptionshorizont seiner Gemeinde bedacht. Allerdings sollte man einschränkend zunächst doch sehen, dass die erste Verwendung der Metapher ‚Christus anziehen‘ in Gal 3,27b in einem Kontext begegnet, der sie mit parallelen Metaphern stützt. Einerseits ist an εἷς Χριστὸν ἐβαπτίσθητε (Gal 3,27a) zu erinnern. Ein räumliches Verständnis dieser Taufformel ist naheliegend, der Täufling wird in Christus hinein getauft. Andererseits ist eine Folge der Taufe, dass den Getauften zugesagt wird: εἰς ἐste ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (Gal 3,28c). Dies besagt doch, dass Paulus die Metapher ‚Christus anziehen‘ in einem Taufzusammenhang erstmals zur Sprache bringt und dass hier wohl auch der Boden ist, auf dem sie vielleicht nicht ihre sprachliche Form, aber doch ihren Interpretationshorizont hat. 34 Auch Kol 3,9 f setzt diesen Taufzusammenhang eindeutig voraus. Ich meine daher gegen Robert Jewett, dass es nur ein Postulat ist, eine mystische Verwendung im frühen Christentum zeitlich noch vor der Taufverwendung zu fordern, ein problematisches Postulat, da es sich auf religionsgeschichtliche gnostische Belege stützt, die zugegebenermaßen alle deutlich nachchristlich sind. 35 Udo Schnelle hat das Anliegen dieser Taufaussagen, aber auch weiterer paulinischer Texte, meines Erachtens zutreffend als 33 Hengel / Schwemer, Paulus (s. Anm. 5), 445; ganz ähnlich zuvor bereits Wedderburn, Baptism (s. Anm. 28), 338 f. 34 Nochmals Paulsen, Art.: ἐνδύω (ἐνδύνω), ἐπενδύομαι (s. Anm. 23), hier 1104. Hermann- Josef Venetz, ‚Christus anziehen‘. Eine Exegese zu Gal 3,26-27 als Beitrag zum paulinischen Taufverständnis, FZPhTh 20, 1973, 3-36, betont daher mit Recht, dass das Anziehen Christi mit dem Empfang der Taufe zusammenfällt. Ebenso Hans Dieter Betz, Geist, Freiheit und Gesetz. Die Botschaft des Paulus an die Gemeinden in Galatien, in: ders. (Hg.), Paulinische Studien. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 1994, 46-62: „Diejenigen, die zum Glauben an Christus kamen und getauft wurden, wurden Teilhaber am gegenwärtigen Christus selbst: sie ‚zogen Christus an‘ (3,27), Christus ‚nahm unter ihnen Gestalt an‘ (4,19), sie waren nun ‚in Jesus Christus‘ (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ).“ Einige weitere parallele Metaphern, die ebenfalls im Kontext der Taufe erscheinen und ein klares Verhältnis zur Christusgemeinschaft durch die Präposition σύν anzeigen, sind in Röm 6,4-6 enthalten: mit ihm begraben sein (συνετάφημεν), mit ihm verbunden sein (σύμφυτοι), mit ihm gekreuzigt sein (συνεσταυρώθη); Hans Dieter Betz, Transferring a Ritual: Paul’s Interpretation of Baptism in Romans, in: ders. (Hg.), Paulinische Studien, Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 1994, 240-271, bes. 267-270. 35 Gegen Jewett, Romans (s. Anm. 29), 827. <?page no="301"?> Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen 301 ‚partizipatorische Christologie‘ beschrieben. Die Glaubenden partizipieren seit der Taufe an dem erhöhten Christus bzw. an den Kräften seiner Auferstehung. 36 7. Die ethische Verwendung der Metapher Die ethische Verwendung der Metapher ‚den Herrn Jesus Christus anziehen‘ kann nicht mit dem Indikativ-Imperativ-Schema erklärt werden, obwohl die Sekundärliteratur diese Auslegung immer wieder heranträgt. 37 Innerhalb der Argumentation von Röm 13,11-14 fehlt eine Bezugnahme auf einen Indikativ, der Gal 3,27 vergleichbar wäre. Es ist vielmehr bezeichnend, dass Paulus die Metapher ‚den Herrn Jesus Christus anziehen‘ einsetzt, ohne sie durch einen vorgängigen Indikativ abzustützen. Man wird auch nicht voraussetzen können, dass die römische Gemeinde, anders als der heutige Leser, den Galaterbrief und also die Verwendung der Metapher in Gal 3,27 sofort vor Augen hatte. 38 Was aber beinhaltet die Forderung in Röm 13,14? Der nähere Kontext ist zunächst zu berücksichtigen. Die Metapher vom Anziehen der Waffen des Lichts (Röm 13,12b) wird über ἐνδύω aufgenommen, so dass beide Metaphern sich gegenseitig stützen. Ebenso flankiert die Forderung ἐν ἡμέρᾳ εὐσχημόνως περιπατεῖν (Röm 13,13a) diese Aussage, da Licht und Tag positiv einander zugeordnet sind. Im engeren Kontext stehen die dreimal mit μή eingeleiteten, insgesamt sechs Laster dem auf sie folgenden ἀλλά-Satz antithetisch gegenüber. So ergibt sich vom engeren Kontext: ‚den Herrn Jesus Christus anziehen‘ ist ein Leben im Licht und am Tag und eine Absage an die Laster μὴ κώμοις καὶ μέθαις, μὴ κοίταις καὶ ἀσελγείαις, μὴ ἔριδι καὶ ζήλῳ. Zusätzlich ist es eine Absage an einen Lebensstil, der an den ἐπιθυμίαι seine Orientierung sucht (Röm 13,14b). Wenn die Verwendung dieser Metapher ‚den Herrn Jesus Christus anziehen‘ in Gal 3,27 im Sinne einer partizipatorischen Christologie erklärt wurde, der 36 Udo Schnelle, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47, 2001, 58-75; ders., Paulus. Leben und Denken (s. Anm. 3), 463-465; ders., Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 200 f. Schnelle verbindet die Transformation von Jesus Christus, d. h. seinen Statuswechsel vom Gekreuzigten zum Gottgleichen mit der Teilhabe der Gläubigen an diesem Prozess, insofern er als Ziel der Christustransformation die Teilhabe der Gläubigen an diesem Prozess beschreibt. 37 Haacker, Römer (s. Anm. 16), 308: „Der Ruf zum ‚Anziehen‘ des Herrn Jesus Christus verwandelt den Indikativ von Gal 3,27 in einen Imperativ“; auch James D. G. Dunn, Romans 9-16, WBC 38B, Dallas 1988, 791. Ebenso mit Nachdruck Cranfield, Romans (s. Anm. 17), 688-689. Folker Blischke, Die Begründung und die Durchsetzung der Ethik bei Paulus, ABG 25, Leipzig 2007, 361, versucht eine Orientierung am Indikativ-Imperativ-Modell zu überwinden und er erkennt in Röm 13,11-14a eine „Vergegenwärtigung der Taufentscheidung“. 38 Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK 6 / 3, Neukirchen-Vluyn 1982, 75, identifiziert die antithetische Paränese in Röm 13,13-14 als Topos einer Taufkatechese. <?page no="302"?> 302 Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen zufolge Christus wie ein Raum die Glaubenden aufnimmt und bestimmt, dann ist diese Erklärung auch in Röm 13,14 anzuwenden. Paulus denkt demnach an einen Eintritt in die Christuswirklichkeit, an ein Anziehen des Kyrios, an ein Leben in dem Raum des erhöhten Christus, in dem nicht nur das Heilsereignis übereignet wird, sondern der zugleich Lebensgrundlage der Ethik ist. 39 Ein Auseinanderreißen von Indikativ und Imperativ wäre hier völlig unangemessen, da das christliche Leben eben in der Einheit des ‚Christus anziehen‘ besteht. Der ethische Gehalt dieses ‚Christus anziehen‘ unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem, was Paulus an anderer Stelle etwa im Blick auf die Laster μὴ κώμοις καὶ μέθαις, μὴ κοίταις καὶ ἀσελγείαις, μὴ ἔριδι καὶ ζήλῳ sagen kann. Und doch ist es ein Unterschied, ob man weiß, im Verzicht auf diese Laster etwa den ‚Werken des Fleisches‘ (Gal 5,19) nicht nachzugeben, oder im Bewusstsein lebt, auf diese Weise Christus anzuziehen. Klaus Haacker hat daher im Anschluss an Röm 13,14a von einer christlichen Ethik als Christus-Ästhetik gesprochen, deren Ziel die Darstellung des Herrn Jesus Christus sei. 40 Im Blick auf die Frage nach Ethik und Sprache scheint es mir wichtig, die Vielfalt der ethischen Argumentation im Neuen Testament zu erkennen und sie nicht vorschnell in ein übergeordnetes Schema zu pressen. Die Metapher vom Anziehen des Herrn Jesus Christus begegnet in ethischem Kontext nur ein einziges Mal in den paulinischen Briefen. Sie ist ein Baustein innerhalb der ethischen Argumentation des Römerbriefs, die wesentlich von anderen Texteinheiten, etwa Röm 6,1-23 oder 12,1-2 bestimmt ist. Die Besonderheit dieser Metapher und ihrer Verwendung durch Paulus liegt darin, dass hier die Gewandmetaphorik vorausgesetzt, aber auf eine Person bezogen wird und im Sinn einer partizipatorischen Christologie, die das gesamte christliche Leben umgreift, eingesetzt wird. 39 Backhaus, Evangelium (s. Anm. 3), 22: „Ursprungsort dieser Lebens- und Handlungseinheit ist die Taufe, in der sich der Glaubende mit Christus bekleidet (ἐνδύω), um so zu seiner neuen, Christus-konformen Existenzgestalt zu finden (Gal 3,27; vgl. 1Thess 5,8-10; Röm 13,14).“ Simon Légasse, L’épître de Paul aux Romains, LeDiv. Comm. 10, Paris 2002, 847-848, weist zusätzlich auf den Heiligen Geist hin, durch den die Verbindung mit Christus stattfindet. 40 Haacker, Römer (s. Anm. 16), 308. Ich denke auch, dass Jewett, Romans (s. Anm. 29), 827, zuzustimmen ist, wenn er eine Form frühchristlicher Mystik erkennt, die auf ein Leben in der Christusgemeinschaft zielt, obwohl er den Schwerpunkt auf etwas andere Details legt. <?page no="303"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 303 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief * 1. Polemik im Römerbrief-- Einführung „In der klassisch-antiken Rhetorik existiert keine eigene Gattung P., wohl aber bestimmte Systemstellen, an denen sich Anweisungen für polemische Texte finden: so im Kontext der Lob- und Tadelrede oder im Zusammenhang der Gerichtsrede; schließlich innerhalb der Lehre von den Redeteilen, zu denen auch die Widerlegung der Gegenmeinung gehört.“ 1 Solche polemischen Texte werden üblicherweise und verallgemeinernd auch als eine Invektive angesprochen, obwohl der lateinische Begriff invectiva in der Antike erst seit dem 4. Jh. n. Chr. belegt ist. Im eigentlichen Sinn handelt es sich bei dieser um eine Schmähung einer Person, die sowohl als Teil eines größeren Werkes als auch selbstständig, etwa als Gedicht, erscheinen kann. Wolf-Lüder Liebermann hat hierzu den Forschungsstand jüngst dargestellt und ihr Vorkommen in der klassischen Literatur verfolgt. Wesentlich sind der Bezug zu Lob und Tadel und die mittels der Kontrastbildung gegebene Zuordnung zu einem Wertekodex. Für Liebermann bleibt allerdings unbefriedigend, „daß weder die konkrete Intentionalität der I. erfaßt wird, noch die spezielle Form der Identifikation Berücksichtigung findet, welche für das Publikum angestrebt wird. Im Fall der I. übernimmt der Hörer / Leser zugleich die Funktion des Richters.“ 2 Als eine spezielle Ausdrucksform innerhalb der Invektive spricht Severin Koster die Polemik an, in der die Auseinandersetzung in erster Linie der Sache und nicht der Person gilt. Gehe die Polemik allerdings zur ausfälligen Anklage gegen die individuellen Vertreter der Sache vor, dann gerate sie leicht in eine bedenkliche Nähe zur Verbalinjurie. 3 Im Blick auf 1 G. Braungart, Art. Polemik I. Philosophisch, RGG 4 6 (2003), 1440. 2 W.-L. Liebermann, Art. Invektive, DNP 5 (1998), 1049-1051, hier 1050. Außerdem: S. Koster, Die Invektive in der griechischen und römischen Literatur (Beiträge zur klassischen Philologie 99), Meisenheim am Glan 1980. Einen Forschungsüberblick bietet Koster, Invektive, 1-6. 3 Koster, Invektive (s. Anm. 2), 30 f. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger. Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief “, in: Oda Wischmeyer / Lorenzo Scornaienchi (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte, BZNW 170, Berlin / New York: Walter de Gruyter, 2011, S. 209-232. <?page no="304"?> 304 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger die Verwendung der Invektive in christlicher Literatur betont Liebermann wiederum die Verknüpfung von ideologisch-gruppenspezifischer und persönlicher Schmähung. Freilich geht Liebermann in seinem Beitrag nicht ausführlich auf frühchristliches Schrifttum ein, das seit Justins κατὰ πασῶν αἱρέσεων, vor allem aber seit Irenäus’ ἔλεγχος καὶ ἀνατροπὴ τῆς ψευδωμένου γνώσεως ausgeprägt polemische Literatur produziert. 4 In der Exegese der neutestamentlichen Texte spielen Polemik und - in Verbindung mit ihr - vermeintliche Gegnerrekonstruktionen eine grundlegende Rolle, was bislang keinesfalls hinreichend gewürdigt wurde. Ob es immer die neutestamentlichen Autoren sind, die den Gemeinden mit Polemik begegnen, oder ob es die Exegeten sind, die in der vermeintlichen Gegnerpolemik ein probates Mittel zur Profilierung der Autorenintention erkannt haben, sei einstweilen dahingestellt. Leicht ließe sich ein Überblick erstellen, der für jeden Brief des Neuen Testaments eine oder bisweilen auch mehrere Gegnerschaften benennt, denen sich die jeweiligen Verfasser gegenübergestellt sahen. Aber auch die Evangelien und die Sendschreiben der Offenbarung des Johannes wären in dieser Hinsicht auszuwerten. Die spezifische Intention der Briefe wird zumeist gerade durch die Verarbeitung und Abweisung der gegnerischen Position gefunden, die damit zur Profilierung der apostolischen Botschaft erst beitrugen. Man wird zugleich vermuten dürfen, dass die Verfasser der Briefe auch ihrerseits dazu beitragen, solche Gegnerentwürfe bewusst zu profilieren, und sei es durch absichtsvolle Verzeichnung, um der eigenen Position somit Eindringlichkeit zu verleihen und eine Entscheidungssituation zwischen den jeweiligen Entwürfen zu provozieren. Wer in dieser Gesprächslage eine Mehrheits- oder Minderheitenposition vertritt, wer als Exponent einer Gemeinde auftritt oder wer ihr gegenübersteht, wer, um es in klassischer Weise zu formulieren, Häresie und wer Orthodoxie vertritt, das ist für den unmittelbaren Abfassungszeitraum der Briefe gelegentlich schwer zu entscheiden. 5 Der Verfasser der Johannesoffenbarung scheint den in den Sendschreiben angesprochenen Gemeinden eher mit 4 Einen knappen Überblick bietet P. Tschackert, Art. Polemik II. Geschichte und Litteratur (sic! ), RE 3 15 (1904), 510-513. Außerdem: A.-C. Jacobsen, J. Ulrich, D. Brakke (Hgg.), Critique and Apologetics. Jews, Christians and Pagans in Antiquity (Early Christianity in the Context of Antiquity), Frankfurt 2009. 5 Vgl. die forschungsgeschichtlich knappen, aber interessanten Bemerkungen bei J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 4. Ausführlich: K. Berger, Die impliziten Gegner. Zur Methode des Erschließens von Gegnern in neutestamentlichen Texten, in: Kirche. FS Günther Bornkamm, Tübingen 1980, 373-400; J. L. Sumney, Identifying Paul’s Opponents. The Question of Method in 2 Corinthians (JSNT.S 40), Sheffield 1990; zuletzt zum Thema: G. Theißen, Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und Korinth: Versuch einer Einheitsdeutung, in: Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte, hg. v. W. Kraus (BZNW 163), Berlin / New York 2009, 277-306. <?page no="305"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 305 einer Einzelstimme gegenüberzustehen. Seine Polemik, stereotyp mit ἀλλὰ ἔχω κατὰ σοῦ eingeleitet, belegt die Theologie der Gemeinden mit häresiologischem Inventar und verknüpft die eigenen Aussagen mit Droh- und Gerichtsworten. Ich möchte im Folgenden Braungarts Hinweis aufnehmen und fragen, ob auch im Römerbrief die zweifelsfrei vorhandenen polemischen Aussagen an solchen Schaltstellen des Briefs begegnen und welche Funktion sie gegebenenfalls dort einnehmen. Dabei soll am Begriff Polemik an sich zunächst nicht viel liegen, da er keine gattungsspezifische Prägung impliziert. Als polemischer Text soll, im Sinne eines Sammelbegriffs, angesehen werden, was als ausfällige Schmährede gegen eine Sache oder eine Person oder mehrere Personen bzw. eine Gruppe vorgetragen wird. Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf der Wahrnehmung der formalen Gestalt und des verwendeten Vokabulars der Polemik liegen. Es ist etwa zu fragen, ob die konkrete Polemik gattungsmäßige Anleihen in der alttestamentlich-jüdischen Gerichtsrede oder in griechisch-römischen Vorgaben macht oder ob sie wesentlich von aktuellen Erfahrungen geprägt ist. Insbesondere ist auf die breit bezeugte Polemik gegenüber paganer Lebensweise in jüdischen Quellen der hellenistisch-römischen Zeit zu achten, in deren Bahnen sich die urchristliche Verkündigung bewegte. 6 Ein Vergleich mit der Abfassungssituation des Briefs an die galatischen Gemeinden soll zunächst die völlig andere Ausgangssituation des Briefs an die römischen Christen verdeutlichen. Die Kommunikationssituation im Galaterbrief ist dadurch bestimmt, dass Paulus Gründer der Gemeinden ist, zwischenzeitlich über deren Situation nach seiner Abreise durch Informanten Kenntnis erhalten hat und jetzt in seinem Brief an die Gemeinden auf die strittigen Punkte eingeht, die mittlerweile zwischen ihm als dem Gemeindegründer, der Gemeinde und den anderen Missionaren, die wiederum gegen Paulus vorgehen, bestehen. Die oftmals mit Recht angesprochene polemische Argumentation des Galaterbriefs verdankt sich dieser Ausgangssituation. 7 Mit dem Römerbrief hingegen tritt Paulus einer Gemeinde gegenüber, die er nicht gegründet hat und die er bislang auch nicht besucht hat (Röm 1,13). Die sog. Nicht-Einmischungsformel, an die Paulus sich grundsätzlich gebunden weiß, nämlich das Evangelium nur dort zu predigen, wo der Name Christi noch 6 Informationsreich ist in dieser Hinsicht die Arbeit von J. Woyke, Götter, ‚Götzen‘, Götterbilder. Aspekte einer paulinischen ‚Theologie der Religionen‘ (BZNW 132), Berlin / New York 2005. 7 J. Frey, Galaterbrief, in: Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe, hg. v. O. Wischmeyer (UTB 2767), Tübingen / Basel 2006, 192-216, hier 207 f. O. Wischmeyer, Die paulinische Mission als religiöse und literarische Kommunikation, in: Die Anfänge des Christentums, hg. v. F. W. Graf und K. Wiegandt, Frankfurt 2009, 90-121, spricht vom Galaterbrief als von einem Kampfbrief, in dem die Polemik vorherrsche (117). <?page no="306"?> 306 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger nicht bekannt ist (Röm 15,20b), hat den Apostel in der Vergangenheit davon abgehalten, nach Rom zu kommen. Diese Formel begrenzt überdies die Möglichkeiten seiner gegenwärtigen Einflussnahme auf die Gemeinden erheblich. Es ist eine wesentliche Nebenabsicht des Römerbriefs, sich als Apostel und seine Theologie vorzustellen, auch gegenüber möglichen Verzerrungen, die Rom bereits erreicht haben. Diese Selbstvorstellung soll auch der erhofften Beteiligung der römischen Christen an der geplanten Spanienmission dienen (Röm 15,24), aber sie kann nicht auf diesen Zweck begrenzt werden. Dem Römerbrief ist über weite Strecken, wenn auch nicht durchgehend, der Charakter einer grundlegenden theologischen Abhandlung eigen. Die Charakterisierungen seines Inhalts als Testament, theologischer Traktat oder als Summe des Evangeliums haben dies zum Ausdruck gebracht. Der Römerbrief ist, so Michael Theobald im Blick auf den Galaterbrief, „eine Wiederaufnahme jener Kampfepistel unter neuen Bedingungen“. 8 Die polemische Situation des Galaterbriefs, die direkte Konfrontation mit Gegnern und Gemeinde liegt bereits zurück. Auch dies will bedacht sein, um nicht die polemische Kommunikationssituation des Galaterbriefs in den Römerbrief zu übertragen. Polemische Ausfälle gegen konkrete, möglicherweise innerhalb der Gemeinde auftretende oder sie doch bald bedrohende Personen bietet der Römerbrief ausschließlich in Röm 16,17-20a. Die Stellung und die Aussage dieses Textes im Postskript des Briefes (Röm 16,1-23) gibt allerdings mehrfach Interpretationsprobleme auf. Literarkritisch ist die Positionierung dieser „Ketzerpolemik“ 9 zwischen den Schlussgrüßen (Röm 16,3-16.21 f.) und dem Gnadenwunsch (Röm 16,20b) umstritten. Die Sachaussage des Textes steht auf den ersten Blick in keiner Relation zur Botschaft des Römerbriefs. Daneben begegnen polemische Aussagen in der einleitenden, argumentativen Entfaltung des Briefthemas (Röm 1,16 f.) in Röm 1,18-3,20 zunächst im Kontext einer Gerichtsrede gegen die Heiden (Röm 1,18-32), sodann darauf Bezug nehmend und diese Rede fortschreibend, innerhalb der Gerichtsrede gegen die Juden (Röm 2,17-24) sowie abschließend in einem Schlussplädoyer (Röm 3,9-20), in dem die vorangegangenen Anklagen aufgenommen und nochmals gegenüber beiden Gruppen, Juden und Heiden, verschärft und in ein Urteil gefasst werden. Diese genannten Texte sind mehrfach Gegenstand ausführlicher und gründlicher Untersuchungen gewesen und vor allem in den neueren Kommentaren zum Römerbrief 10 ausführlich besprochen worden. Daher kann im Folgenden 8 M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, 114. 9 Theobald, Römerbrief EdF (s. Anm. 8), spricht im Blick auf Röm 16,17-20a vom ‚Ketzerschluss‘ (19). 10 R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007; E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 2003; K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig <?page no="307"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 307 auf vieles verwiesen werden. Diese Texte sollen in diesem Beitrag hier recht ausschließlich auf ihr direkt polemisches Inventar untersucht werden. 2. Die Polemik gegen pagane Lebensweise in Röm 1,18 - 32 Der Text 11 hat eine klare Disposition 12 : 1,18 These Offenbarung des Zornes Gottes 1,19-20 Begründung Verweigerung der Gottesverehrung 1,21-23 1. Beleg Götzendienst 1,24 Reaktion Gottes Auslieferung in Unreinheit in Form sexueller Fehlorientierung 1,25 2. Beleg Götzendienst 1,26-27 Reaktion Gottes Auslieferung in Leidenschaften in Form sexueller Fehlorientierung 1,28a 3. Beleg Ablehnung der Gotteserkenntnis 1,28b-31 Reaktion Gottes Auslieferung in einen verkehrten Sinn in Form zahlreicher Laster 1,32 Urteil und Urteilsspruch 3 2006; J. A. Fitzmyer, Romans (AncB 33), New York 1993; U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI / 1-3), Zürich u. a. 1978-1982; S. Légasse, L’épître de Paul aux Romains (LeDiv. Comm. 10), Paris 2002; D. J. Moo, The Epistle to the Romans (NIC), Grand Rapids 1996; J. D. G. Dunn, Romans (WBC 38A.B), Dallas 1988; M. Theobald, Römerbrief (SKK 6 / 1+2), Stuttgart 1992; C. E. B. Cranfield, Romans (ICC, 2 vol.), Edinburgh 2001 (repr.). 11 Aus der neueren Literatur verweise ich auf Woyke, Götter (s. Anm. 6), 370-444; G. Holtz, Damit Gott sei alles in allem. Studien zum paulinischen und frühjüdischen Universalismus (BZNW 149), Berlin / New York 2007, 18-25; R. H. Bell, No one seeks for God. An Exegetical and Theological Study of Romans 1.18-3.20 (WUNT 106), Tübingen 1998; F. W. Horn, Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes und die Bilder der vergänglichen Menschen. Überlegungen im Anschluss an Röm 1,23, in: A. Wagner / V. Hörner / G. Geisthardt (Hg.), Gott im Wort - Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus? FS Klaus Bümlein, Neukirchen 2 2008, 43-57; wieder abgedruckt in diesem Band. 12 W. Popkes, Zum Aufbau und Charakter von Römer 1.18-32, NTS 28 (1982) 490-501. <?page no="308"?> 308 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger Die rhetorische Kunst dieser Einheit, einer Gerichtsrede 13 , ist eindrücklich. 14 Der Argumentation werden zwei Hauptvorwürfe vorangestellt, das Vorhandensein von ἀσέβεια und ἀδικία. Beide werden im Text aufgenommen und expliziert. Der dreifach vorgetragenen Begründung des Vorwurfs, die angemessene Gottesverehrung verweigert zu haben, wird eine jeweils mit παρέδωκεν αὐτοὺς ὁ θεός eingeleitete Reaktion Gottes beschrieben, in der im Sinne einer adäquaten Vergeltung die Menschen in ihrer Grundverfehlung festgehalten und bestraft werden. Diese Ansagen des strafenden Handelns Gottes beschreiben und reflektieren freilich das gegenwärtige Verhalten der Menschen, das in seiner verfehlten Ausrichtung bereits als vorweggenommene Strafe verstanden wird. Unbenommen davon endet die Gerichtsrede mit dem Urteil, den Tod verdient zu haben (1,32). Die Grundverfehlung wiederum, in V.19-23 ausführlich als Vertauschung von ewigem Gott und Abbildern vergänglicher Menschen und Tiere beschrieben, wird im Text aufgenommen und in dem Verb ἀλλάσσω (1,23) bzw. μεταλλάσσω (1,25.26) verdichtet. Polemisch ist dieser Text bereits in seiner Einseitigkeit. Scheint er zunächst ausschließlich diejenigen Menschen im Blick zu haben, die durch Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Wahrheit entgegenstehen (1,18), so werden im Schlussurteil nicht nur die faktisch Schuldigen, also die Täter, sondern auch diejenigen, die deren Verhalten widerspruchslos akzeptieren und gutheißen, des Todes verurteilt (1,32). Die Aufnahme und Fortführung dieser Gerichtsrede in 2,1 und 3,9 wird sodann dahin führen, dass die gesamte Menschheit ausnahmslos unter dem Vorwurf der Verweigerung der Gottesverehrung und somit unter dem Urteilsspruch steht, ohne Verteidigung zu sein (2,1). Dieser Text ist polemisch, da ihm jegliche Differenzierung in der Wahrnehmung und Beschreibung fehlt und da er das Verhalten der Menschen grobflächig als eine sexuelle Verwirrung und ein Abgleiten in die Fülle jeder Ungerechtigkeit (πεπληρωμένους πάσῃ ἀδικίᾳ 1,29a) beschreibt. 13 Anklage, Begründung und Strafurteil sind dem Text klar zu entnehmen. Auch die Fortführung in 2,1 bleibt der forensischen Sprache verpflichtet. O. Wischmeyer, Römer 2,1-24 als Teil der Gerichtsrede des Paulus gegen die Menschheit, NTS 52 (2006) 356-376, erkennt die Elemente der klassischen prophetischen Gerichtsrede wieder (263). Deutlicher noch Popkes, Aufbau (s. Anm. 12), 499, der darauf hinweist, dass auch in der alttestamentlichen Prophetie die Fremdvölkerpolemik vorgeschaltet ist und dann plötzlich auf Israel zielt. 14 Die rhetorische Kunst wird dargestellt und gewürdigt bei Wilckens, Römer VI / 1 (s. Anm. 10), 96; T. H. Tobin, Paul’s Rhetoric in Its Contexts. The Argument of Romans, Peabody 2004, 104-123; Jewett, Romans (s. Anm. 10), 150.166 und 148: „The first proof in Paul’s argument opens with a rhetorical tour de force, a beautifully balanced thesis statement about the revelation of wrath in 1: 18, which is followed by a rationale expressed in four periods with balanced lines.“ <?page no="309"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 309 Aber auch die Einzelargumente der Gerichtsrede treiben Polemik und bewegen sich in den ersten beiden Vertauschungsaussagen in vorgezeichneten Bahnen hellenistisch-jüdischer Heidenpolemik. Zunächst stellt Paulus das Vertauschen des unvergänglichen Gottes und des vergänglichen Menschen einander gegenüber, wobei die zusätzlich genannten drei Tierarten πετεινά, τετράποδα, ἑρπετά (1,23b), den Vorwurf, Geschöpfliches zu verehren, ausdehnen und zugleich illustrieren. Die Auflösung der präpositionalen Wendung ἐν ὁμοιώματι εἰκόνος ist unsicher. Woyke hat eine ausführliche Diskussion vorgetragen und ist zu folgendem Urteil gekommen: „Unter Beachtung aller Befunde muss in Röm 1,23 εἰκόνος als genitivus materiae zu ὁμοιώματι und φθαρτοῦ ἀνθρώπου als genitivus possesoris zu εἰκόνος […] interpretiert werden […]: ‚Sie tauschten die dem unvergänglichen Gott eigene Herrlichkeit ein in eine Nachahmung in Gestalt eines vergänglichen Menschen.‘“ 15 „Die Verwendung sowohl von ὁμοίωμα als auch von εἰκών zeigt, dass nicht das Material von Kultbildern im Zentrum des Interesses steht, sondern die völlige Inadäquatheit des in ihnen Dargestellten bzw. des durch sie göttlich Verehrten in Bezug auf die Majestät Gottes.“ 16 Die zusätzliche Nennung der theriomorphen Götterdarstellung nach der anthropomorphen verstärkt den Grundgedanken der Inadäquatheit nur, wird aber sicher auch auf konkrete, im Judentum bekannte Tierverehrung vor allem in Ägypten anspielen. Bereits im Aristeasbrief war die Tierverehrung der Ägypter und anderer Völker mit Polemik bedacht worden: „Lohnt es sich da, über die anderen, noch viel dümmeren zu reden, die Ägypter und ähnlichen (Völker), die an Tiere glauben, und dabei noch meistens an Kriech- und Raubtiere, und ihnen opfern, lebendigen wie auch ihren Kadavern? “ (Aristeasbrief 138). 17 Die zweite Aussage, die einen Tausch anspricht (1,25), folgt in der ersten Satzhälfte partiell 1,23, bietet aber mit dem Gegensatz von Wahrheit Gottes und Lüge einen weiteren Vorwurf an die Adressaten der Gerichtsrede. Die Verkehrung der ἀλήθεια τοῦ θεοῦ in ψεῦδος, also der Wahrheit über Gott 18 in eine Lüge über Gott, besteht darin, dass die Differenz von Gott und seiner Schöpfung aufgehoben wird und die Schöpfungswerke zum Gegenstand der Verehrung werden. Diese Verehrung des Geschaffenen anstelle des Schöpfers, der κτίσις 15 Woyke, Götter (s. Anm. 6), 379. 16 Woyke, Götter (s. Anm. 6), 379. 17 Zur theriomorphen Repräsentation Gottes: Woyke, Götter (s. Anm. 6), 381-384. 18 Es handelt sich also um einen genitivus materiae , der kognitiv an der Erkenntnis Gottes als des Weltenschöpfers interessiert ist; ausführlich dazu und zu denkbaren Alternativen der Auflösung des Genitivs: Woyke, Götter (s. Anm. 6), 384. <?page no="310"?> 310 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger anstelle τὸν κτίσαντα, ist als eine geradezu stehende Formel jüdischer Heidenpolemik im Werk Philos von Alexandrien zu bewerten. 19 Die Polemik findet neben dieser Beurteilung des Grundfehlers heidnischer Religiosität in den Bahnen jüdischer Heidenpolemik auf einer zweiten Ebene statt, die den moralischen Verfall der Heiden beschreibt. Zwar handelt es sich in den mit παρέδωκεν αὐτοὺς ὁ θεός eingeleiteten Sätzen um bereits zurückliegende und bis in die Gegenwart reichende Auslieferungen oder Preisgaben Gottes, die sich in adäquater Weise am Fehlverhalten orientieren und die Menschen in ihrer Fehlorientierung behaften. Gerade aber wegen dieser engen Bezogenheit von Fehlverhalten und Preisgabe sind auch diese drei Textteile (1,24.26 f.28b-31) Gegenstände der Polemik. Angesprochen werden zunächst sexuelle Fehlorientierungen, die Folgen der Auslieferung an die ἐπιθυμίαι (1,24) bzw. an die πάθη ἀτιμίας sind. Im frühjüdischen und frühchristlichen Schrifttum besteht eine durchweg negative Konnotation für ἐπιθυμία. Das Gebot οὐκ ἐπιθυμήσεις fasst in Röm 7,7 geradezu die gesamte zweite Tafel des Dekalogs zusammen, sodass εἰδωλολατρία und ἐπιθυμίαι die Verfehlungen schlechthin aus jüdischer Sicht darstellen. Paulus tritt hiermit in vorgezeichnete Bahnen jüdischer Heidenpolemik ein, die auf den stehenden Vorwurf des Götzendienstes und der vorwiegend sexuellen Begierden abzielten, mit denen sich wiederum sexuelle und kultische Unreinheit verband. Sie sind in 1,24 mit dem Stichwort ἀκαθαρσία aufgenommen. Unter der Hellenisierung Israels in der Seleukidenzeit wurde diese Polemik entworfen, um unter anderem normative Grundlagen für das eigene Leben unter der Halacha zu finden. 20 Polemisch ist diese Beschreibung paganer Sexualität, weil sie undifferenziert und allumfassend nichts anderes erkennt als Aufgabe der eigenen Ehre (ἀτιμάζειν 1,24, ἀτιμία 1,26) und widernatürliches Verhalten (παρὰ φύσιν 1,26, ἀφέντες τὴν φυσκὴν ψρῆσιν 1,27). Man muss natürlich die Frage stellen, was Paulus hier konkret mit ‚gegen die Natur‘ im Blick hat. Der von Theobald geführte Nachweis ist hierbei zu beachten, dass die Kritik sich vordergründig natürlich gegen die Homosexualität und den willentlichen Verstoß gegen das Verbot homosexueller Praktiken durch den Schöpfer richtet, 19 De opificio mundi 7; de Abrahamo 70; de virtutibus 218; de specialibus legibus 2,255 u. ö. Ausführlich zur ‚Verehrung des Erschaffenen anstelle des Schöpfers‘ als Formel der Heidenpolemik Woyke, Götter (s. Anm. 6), 386-392 und 441, der seinerseits im Blick auf Philo vermutet, dass „hinter der fast formelhaften paulinischen Formulierung ähnliche Assoziationen stehen“ (392). 20 Wilckens, Römer VI / 1 (s. Anm. 10), 110: „Er (Paulus) ist darin einfach abhängig von der religiös begründeten jüdischen Tradition spontanen Abscheus gegenüber der Lebensweise hellenistischer Kultur, der seinen geschichtlichen Ursprung hat in den innerjüdischen Auseinandersetzungen seit der Diadochen-Herrschaft zwischen der hellenophil- ‚progressiven‘ Oberschicht und der schroff antihellenistischen, exklusiv auf die Tradition der Väter sich festlegenden Mittel- und Unterschicht.“ <?page no="311"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 311 mit dem Verweis auf ‚gegen die Natur‘ aber speziell auf die Verweigerung abzielt, Nachkommenschaft zu zeugen. 21 Als Adressat dieser Gerichtsrede gerät durch das in Anspruch genommene Inventar der jüdischen Heidenpolemik zunächst und vordergründig der heidnische Mensch in den Fokus. Allerdings wird man sehr bald zu der Erkenntnis geführt, dass bereits diese erste Gerichtsverkündigung gedanklich auf den folgenden Abschnitt zielt. Die Themen, ihre Begrifflichkeit und Motivik werden in 2,1 ff. erneut aufgegriffen. 22 Wischmeyer spricht im Blick auf 2,1-10 von einer Folgerede zu 1,18-32. Aber neben dem Formalen sind es Sachüberlegungen, die Woyke präzise erfasst hat: „Allerdings scheint Röm 1,18-32 nur vorbereitenden Charakter auf 2,1 ff. hin zu haben. Damit konterkariert Paulus das hellenistischjüdische Argumentationsmuster, welches nach der Beschreibung von Polytheismus und Idolatrie der Völker bzw. der Menschheit die wahre Gotteserkenntnis und -verehrung des jüdischen Volkes herausstellt […]“. 23 3. Die Polemik gegen Juden in Röm 2,17 - 24 In einer rhetorisch eindringlichen Gestalt konfrontiert Paulus in Röm 2,17-20 das Selbstverständnis eines Juden mit einer Infragestellung dieses Selbstverständnisses in Röm 2,21-24. 24 Die Einheit führt gegenüber dem fiktiven Gesprächspartner den Nachweis, dass sein Anspruch und seine Wirklichkeit empfindlich auseinanderklaffen. Das Selbstverständnis des jüdischen Gesprächspartners wird zunächst mit solchen Aussagen aufgenommen, die das heilsgeschichtliche Privileg reflektieren, sodann aber auch durch Attribute, die 21 M. Theobald, Röm 1,26 f.: Eine paulinische Weisung zur Homosexualität? Plädoyer für einen vernünftigen Umgang mit der Schrift, in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 511-518. Ähnlich argumentiert auch H. Debel, ‚Unnatural Intercourse‘ in Rom 1,26-27, in: The Letter to the Romans, hg. v. U. Schnelle (BETL 226), 2009, 631-640. 22 Holtz, Gott (s. Anm. 11), 18-25. 23 Woyke, Götter (s. Anm. 6), 444. Ganz ähnlich bereits Popkes, Aufbau (s. Anm. 12), 499: „So läßt sich auch Röm 1.18-32 als juridische Rede im Rahmen eines taktisch-psychologischen Vorhabens prophetischer Art bezeichnen.“ Der Abschnitt sei nur „Vorspann zu dem eigentlichen Anliegen des Paulus, nämlich den Torafrommen der Heillosigkeit zu überführen“ (499). 24 Aus der neueren Literatur zu diesem Text verweise ich auf C. Forbes, Comparison, Self-Praise and Irony: Paul’s Boasting and the Conventions of Hellenistic Rhetoric, NTS 32 (1986) 1-30; S. J. Gathercole, Where is Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1-5, Grand Rapids / Cambridge 2005; vgl. dazu meine Besprechung in ThLZ 129 (2004) 634-637; R. M. Thorsteinsson, Paul’s Interlocutor in Romans 2. Function and Identity in the Context of Ancient Epistolography (CB.NT 40), Stockholm 2003; vgl. dazu meine Besprechung in ThLZ 130 (2005) 786-789. <?page no="312"?> 312 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger eine Vorrangstellung gegenüber den Heiden implizieren. Der Ruhm, den der jüdische Gesprächspartner bei Gott (2,17) und im Gesetz (2,23) zu haben meint, dieser Ruhm wird ihm durch den schrittweise Einzelargumente aneinanderreihenden Nachweis, dass Anspruch und Wirklichkeit sich bei ihm eben nicht decken, entzogen. Mag der Gesprächspartner auch in der Vorstellung leben, den Heiden gegenüber einen Vorrang zu haben (2,19 f.), so entwindet ihm das abschließende Schriftzitat dieses Selbsturteil, indem es ihm vorwirft, dass durch sein Verhalten der Name Gottes unter den Heiden verlästert werde (2,24). Freilich zielt die Polemik nicht auf jeden Juden oder auf das Judentum allgemein, sondern wendet sich an denjenigen jüdischen Gesprächspartner, der im Wissen um den Torabesitz eine Sonderstellung gegenüber den Heiden reklamiert. 25 Dass dieser Text von Polemik durchsetzt ist und wohl auch vorgegebenen innerjüdischen, vielleicht sogar paganen Mustern der Polemik und frühchristlichen Argumentationen gegenüber Juden folgt, ist in der exegetischen Literatur mehrfach angesprochen und festgehalten worden. Auch hat dieser Text, vor allem Röm 2,24, in der Geschichte der Kirche vielfach Anlass zu antijüdischer Polemik gegeben. 26 Aus den Vorwürfen, wenngleich in sie eingebunden, ragt die Aussage heraus, der jüdische Gesprächspartner verabscheue zwar Götzen, begehe aber gleichzeitig Tempelraub (2,22). Diese Polemik, in Frageform vorgetragen, „eine grobe, antijüdische Verleumdung, auf die man vereinzelt auch bei heidnischen Schriftstellern trifft“ 27 , soll im Folgenden ausführlich behandelt werden. 28 Dieser an den jüdischen Gesprächspartner gerichtete Vorwurf ist der vierte in einer Folge von Vorwürfen, die sich allesamt auf unterschiedliche Lebensbereiche beziehen, in denen Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Eingangs wird stets dem jüdischen Selbstverständnis Ausdruck gegeben, und zwar im Blick auf das eigene Volk, auf die Stellung zur Tora und abschließend mit Blick auf die pagane Welt. Nur in den ersten drei Bereichen stellt Paulus einen sprachlich vermittelten Selbstanspruch (διδάσκων, κηρύσσων, λέγων) der Wirklichkeit des faktischen Lebens gegenüber, im vierten Anklagepunkt ist das auch 25 Ausführlich in diesem Sinn Dunn, Romans, WBC 38A, (s. Anm. 10), 114. Thorsteinsson, Interlocutor (s. Anm. 24), hat mich mit seinem Versuch nachzuweisen, dass der Gesprächspartner in Röm 2 ein Heide sei, nicht überzeugt. 26 H. Merkel, Art. Gotteslästerung, RAC XI (1981), 1186-1201, 1193.1197. 27 Theobald, Römerbrief SKK 6 / 1 (s. Anm. 10), 79. 28 Zum Text: L. Goppelt, Der Missionar des Gesetzes. Zu Röm. 2,21 f., in: ders., Christologie und Ethik. Aufsätze zum Neuen Testament, Göttingen 1968, 137-146; D. B. Garlington, ΙΕΡΟΣΥΛΕΙΝ and the Idolatry of Israel (Romans 2.22), NTS 36 (1990), 142.151; E. Krentz, The Name of God in Disrepute: Romans 2: 17-29 (CTM 17), 1990, 429-439; Bell, No one seeks (s. Anm. 11), 189-191. Goppelts Beitrag ist stark auslegungsgeschichtlich orientiert und führt zurück bis in die altkirchliche Exegese des Wortes. <?page no="313"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 313 denkbar, aber nicht explizit gesagt. Der Gesprächspartner erscheint zunächst als Lehrer Israels, der die Tora verkündet. Im zweiten und dritten Gesprächsgang nimmt Paulus mit dem Verbot des Diebstahls und des Ehebruchs (7. und 6. Gebot des Dekalogs) Teile der Tora auf, sodass das Verhalten des jüdischen Gesprächspartners nicht nur durch das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit gezeichnet ist, sondern sich darüber hinaus dezidiert gegen die Tora wendet. Abschließend kommt Paulus auf die Verabscheuung von Götzenbildern bei gleichzeitigem Tempelraub zu sprechen. Hinter βδελυσσόμενος ist gedanklich τὰ εἴδωλα zu ergänzen. Hier ist der Selbstwiderspruch des Gesprächspartners nicht eindeutig zu fassen, da sich der in diesem Vorwurf vorgetragene Selbstwiderspruch in der Lebenswirklichkeit so nicht direkt wiederfindet oder nur undeutlich eine Abbildung hat. Aber es gehört ja zur Polemik, eine unverhältnismäßige, die Lebenswirklichkeit wohl aufnehmende, aber doch nicht spiegelnde, sondern bisweilen maßlos ausweitende Anklage vorzutragen. Im Anschluss daran konstatiert Paulus den Widerspruch, dass der Gesprächspartner sich des Gesetzes rühmt, gleichzeitig aber das Gesetz übertritt und damit Gott schändet. In dem Vordersatz des Vorwurfs wird die jüdische Verabscheuung der Götzen vorausgesetzt. Diese folgt Ex 20,4-6; Dtn 5,8-10 und ist in der jüdischen Heidenpolemik in hellenistisch-römischer Zeit zum stehenden Inventar geworden (vgl. im vorangehenden Kontext: Röm 1,23). Schwieriger ist die Interpretation des Nachsatzes, sowohl einerseits hinsichtlich der Frage, auf welchen Sachverhalt die dem jüdischen Gesprächspartner vorgehaltene Frage, ob er nicht gleichzeitig Tempelraub vollziehe, zu beziehen ist, und andererseits wie sodann der in diesem vierten und abschließenden Vorwurf zum Ausdruck kommende Widerspruch zwischen Theorie und Praxis aufzunehmen ist. Das ntl. Hapaxlegomenon ἱεροσυλέω bezieht sich auf das Delikt des Tempelraubs, gelegentlich auch auf das der Tempelschändung (sacrilegium 29 ), vgl. auch den Gebrauch des Adjektivs ἱεροσυλος in Apg 19,37. 30 Gedacht ist an Tempeldiebstahl bzw. Tempelraub, an Entwendung heiligen Eigentums von heiliger Stätte (furtum rei sacrae e loco sacro). Dieser Rechtsbruch wird häufig, aber nicht immer, unter Verwendung dieser beiden Begriffe angesprochen 29 I. Pfaff, Art. Sacrilegium, PRE II 2 / 1 (1920), 1678-1681, hier 1678: „Man verstand unter s. ursprünglich bloß den Tempeldiebstahl, bezw. den Tempelraub, und entsprach dies Delikt in wesentlichen Punkten der griechischen ἱεροσυλία. In dieser Hinsicht ist zu bemerken, daß es sich hier wie dort um Entwendung heiligen Eigentums, und zwar beweglicher Sachen, aus heiliger Stätte handelte.“ 30 Belege bei H. G. Liddell / R. Scott, Greek-English Lexicon with a Revised Supplement, Oxford 1996, 822 f.; G. Schrenk, Art. ἱερός κτλ, ThWNT III (1938), 254-256; J. Linderski, Art. Sacrilegium, DNP 10 (2001), 1202. <?page no="314"?> 314 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger (ἱεροσυλέω und ἱεροσυλος) und er hat in ἱεροσυλία einen Terminus technicus gefunden. Dieser Sprachgebrauch ist im hellenistischen Judentum aufgenommen worden, sowohl im eigentlichen als auch im übertragenen Sinn, und er hat Eingang in Lasterkataloge gefunden. 31 Das Delikt gilt im griechischen, römischen und ägyptischen Recht als eines der schwersten Verbrechen überhaupt und es wurde mit drastischen Strafen geahndet (vgl. Platons Darlegung des Gesetzes über den Tempelraub in Leges IX 854-855). Im römischen Recht ahndete man den Tempelraub ursprünglich mit der Todesstrafe (Ulpian., Jul. Dig. 48,13,7), in der Kaiserzeit auch mit der aqua et igni interdictio, gelegentlich ist von Verbrennungen und Deportationen die Rede. 32 Um den geschichtlichen Ort des von Paulus gegenüber Juden vorgetragenen Vorwurfs, Tempelraub zu begehen, genauer zu erfassen, möchte ich zunächst die Bewertung dieses Rechtsbruchs innerhalb des Judentums darstellen, und zwar zunächst im Blick auf heidnische Tempel. Innerhalb der Tora ist das Verbot, pagane Kultgegenstände in Besitz zu nehmen, vorgegeben. Diese sollen nicht entwendet, sondern verbrannt werden, keinesfalls aber dem eigenen Kultgebäude zugeführt werden (Dtn 7,25 f.). Bereits Schrenk notierte, dass die Rezeption dieses Gebotes im hellenistischen Judentum und sodann auch im rabbinischen Judentum merkwürdig mild sei. Josephus, Antiquitates 4,207 (= 4,8,10) erweitert das Verbot der Beraubung fremder Heiligtümer und die Entwendung von Weihegeschenken irgendeines Götzenbildes um den einleitenden Satz: ‚Niemand soll die Götter schmähen, an die fremde Völker glauben‘. Diese milde Haltung des Josephus ist vielleicht auf dem Hintergrund der Tatsache verständlich, dass er sich an anderer Stelle von dem Vorwurf des Manetho (Contra Apionem 1,249) und des Lysimachos (Contra Apionem 1,310) absetzen muss, Jerusalem sei - wie auch die Etymologie des Namens Jerusalem Ἱερόσυλα) zeige (Contra Apionem 1,311) - in der Folge des wiederholten Tempelraubs der Juden außerhalb Judäas zu seinem Status gekommen. Josephus schreibt in Contra Apionem 1,249: „Denn sie zündeten nicht nur die Städte und Dörfer an und begnügten sich auch nicht damit, Tempel auszurauben (ἱεροσυλοῦντες) und Götterbilder zu vernichten, sondern sie gebrauchten auch die Heiligtümer als Orte zum Braten der (von den Ägyptern) verehrten heiligen Tiere, zwangen die Priester und Propheten, diese (Tiere) zu opfern und zu schlachten, und warfen sie (dann) nackt hinaus.“ Labow geht diesem Vorwurf nach und zeigt, dass in der paganen Welt die Ausraubung 31 Schrenk, Art. ἱερός κτλ (s. Anm. 30), 255 f. 32 Ausführlich Pfaff, Sacrilegium (s. Anm. 29); T. Mommsen, Der Religionsfrevel nach römischem Recht, in: ders., Gesammelte Schriften 3, Berlin 1907, 389-422. <?page no="315"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 315 heidnischer Tempel durch Juden durchaus vorstellbar war, da diese ohnehin in diesen Tempeln den Ort von Götzendienst sahen. 33 Daneben existiert auch innerhalb jüdischer Gruppierungen der gegeneinander erhobene Vorwurf, den eigenen jüdischen Tempel beraubt zu haben. Testamentum Levi 14,1 nennt in einer Priesterpolemik den Raub der für den Herrn bestimmten Opfergaben und stellt dieser Anklage die weiteren des Diebstahls und der sexuellen Unzucht an die Seite (14,1-6). Ein konkreter Hintergrund dieser Polemik ist nicht auszumachen. 34 Ganz ähnlich argumentiert die Damaskusschrift, die von drei Netzen Belials spricht, mit denen er in Israel auf Fang ging und die er ihnen vor Augen gestellt hat als drei Arten der Gerechtigkeit: ‚Die erste ist die Unzucht, die zweite der Reichtum, die dritte ist die Verunreinigung des Heiligtums.‘ Weitere Belege für ähnlich argumentierende innerjüdische Polemik bieten PsSal 1,8; 2,3; 8,12; 0Q CD IV 15-18; VI 15 f. Der Vorwurf, Tempelräuber zu sein, begegnet in einem Kontext, der auf den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit abzielt. Insofern ist die oft gestellte Frage, ob die Abscheu paganer Götzenbilder nicht durch das Verhalten im Blick auf den eigenen, jüdischen Tempel konterkariert wird, nur dann eindeutig zu beantworten, wenn es sich beim Tempelraub um heidnische Tempel handelt. 35 Nur dann würden Abscheu der Götzenbilder und Raub derselben in vollem Sinn auf einen eklatanten Selbstwiderspruch hindeuten, da der Jerusalemer Tempel frei von Götzenbildern war. Der Text arbeitet mit geprägt polemischem Material und er ist eingebettet in polemische Anwürfe. Insofern liegt eine zeitgeschichtlich präzise Verortung des Vorwurfs auf konkret begangenen Tempelraub fern, auch wenn die Forschungsgeschichte in dieser Hinsicht etliche Haftpunkte gesucht und gefunden hat. 36 Da aber der Vorwurf, heidnische 33 Ausführlich dazu D. Labow, Flavius Josephus. Contra Apionem Buch I. Einleitung, Text, textkritischer Apparat, Übersetzung und Kommentar (BWANT 167), Stuttgart 2005, 314-331. Die Übersetzung in I 249 folgt der von Labow vorgeschlagenen Übersetzung. Apg 19,37 ist vielleicht ein entferntes Zeugnis für diese Sicht, da der Jude Paulus in Ephesus von dem Verdacht, Tempelräuber und Gotteslästerer zu sein, entlastet werden muss. 34 J. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen (JSHRZ III 1), Gütersloh 1980, 57 Anm. 8. 35 So auch Goppelt, Missionar (s. Anm. 28), 144; Lohse, Römer (s. Anm. 10), 111; ebenso zuvor H. L. Strack und P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III, München 7 1979, 113, die im Übrigen auf eine eklatante Differenz zwischen Theorie (Dtn 7,25 f.) und Praxis in rabbinischer Zeit verweisen und Belege für die erlaubte Nutznießung paganer Kultgegenstände anführen. 36 Fitzmyer, Romans (s. Anm. 9), 318: „Thus Paul uses the vb. hierosylein in a figurative sense“. Haacker, Römer (s. Anm. 10), 75, erwägt hingegen, dass der fiktive Gesprächspartner ein „Vertreter jener Radikalisierung des Bilderverbotes [gewesen sei], die zu seinen Lebzeiten in zelotischen Kreisen propagiert wurde.“ Anders noch ders., Art. ἱερόσυλος, TBLNT I (1997), 897: „Vielleicht spielt Paulus auf den Fall einer Veruntreuung von Spen- <?page no="316"?> 316 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger Tempel auszurauben, eine Vorgeschichte innerhalb der paganen, antijüdischen Polemik hat, wendet Paulus hier also einen paganen Vorwurf gegen den jüdischen Gesprächspartner und stellt diesen vor das Tribunal des Heiden. 37 Innerhalb des römischen Rechts wiederum wird der jüdische Gesprächspartner durch diese Frage, ob er nicht Tempel ausraube, in den Verdacht gestellt, ein Staatsverbrecher zu sein, und des möglichen Hochverrates bezichtigt. 38 Die Bewertung eines sacrilegium als eines Religionsverbrechens hingegen entsteht erst unter christlichem Einfluss in der späten Kaiserzeit. Der Tempelraub wäre vor einem staatlichen Gericht zu behandeln, wenn auch im Einzelnen undeutlich ist, vor welches Gericht genau ein sacrilegium gehörte. 39 Vor diesem juridisch klar definierten Kontext gewinnt die Frage, ob der Gesprächspartner nicht Tempelräuber sei, eine extrem polemische Schärfe, ja muss als Verleumdung angesehen werden. Der polemische Gehalt reicht jedoch über diese Zuspitzung hinaus. Röm 2,22 schließt sich an polemisches Katalogmaterial an, das durch die Zusammenstellung der drei Laster Diebstahl, Ehebruch, Tempelraub bzw. Götzendienst geprägt ist. Paulus hat seinerseits in 1Kor 5,11 in einem Katalog u. a. πόρνος, πλεονέκτης und εἰδωλολάτρης zusammengestellt. Philo, de confusione linguarum 163, kombiniert κλέπτειν, μοιχεύειν,ἀνδροφονεῖν und ἱεροσυλεῖν, und auf Testamentum Levi 14,1-6 als weitere Parallele für diese Kombination wurde bereits hingewiesen. Im Corpus Hermeticum XII 5 werden Ehebruch, Tempelraub und Schlechtigkeit zusammengestellt. Ehebruch und Diebstahl, Diebstahl und Götzendienst oder Unzucht und Götzendienst sind darüber hinaus häufig als Paare oder in einem Katalog neben anderen Lastern bezeugt (1Kor 6,10; den für den Tempel von Jerusalem an, der unter Tiberius in Rom öffentliches Aufsehen erregt und antijüdische Maßnahmen nach sich gezogen hatte.“ Einzelfälle jüdischen Tempelraubs hatte bereits H. Lietzmann, An die Römer (HNT 8), Tübingen 4 1933, 43, zusammengestellt. 37 Garlington, ΙΕΡΟΣΥΛΕΙΝ (s. Anm. 28), interpretiert hingegen völlig abweichend von meiner Exegese folgendermaßen: Paulus stelle die Frage, ob seine jüdischen Landsleute, die die Götzenbilder verabscheuen, nicht selbst der Abgötterei schuldig sind, nämlich der Vergötterung des Gesetzes, indem sie es mit ungerechtfertigter Verehrung versehen und ihm eine Dauer verleihen, die in Gottes Plan nie beabsichtigt war. Im Gegensatz zu Israel, das sich selbst als Hüter der Traditionen sah und demzufolge an einer unveränderten Tora festhielt, sah Paulus Christus sowohl als das Ziel als auch als das Ende des Gesetzes. Für ihn war demnach Israels Festhalten am Gesetz unter Ausschluss von Christus nichts weniger als ein ἱεροσυλεῖν, ein Akt des Sakrilegs. Es wäre für Paulus unmöglich gewesen, sich etwas Abscheulicheres vorzustellen. 38 T. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer (KNT VI), Leipzig 1910, 139, betont die Anklagesituation sowohl vor dem römischen Staatsgesetz als auch vor der Tora (Dtn 7,25 f.). 39 Pfaff, Sacrilegium (s. Anm.29). <?page no="317"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 317 Offb 2,14; 9,21). 40 Dies bedeutet, dass Paulus relativ verfestigtes, durchweg negativ besetztes Katalogmaterial aufnimmt und dem jüdischen Gesprächspartner als Beweis dafür entgegenhält, dass bei ihm Anspruch und Wirklichkeit, konkret Ruhm des Gesetzes und Übertreten des Gesetzes, auseinanderklaffen. 4. Die conclusio in Röm 3,9 - 20 Die polemischen Spitzensätze der bisherigen Ausführungen in Röm 1,19-3,8 haben der Anklage, dass alle Menschen aufgrund ihres Verhaltens des Todes schuldig sind (Röm 1,32) und keine Verteidigung haben (Röm 1,20), zugearbeitet. Denn die polemische Überhöhung der Beschreibung menschlichen Lebens in undifferenzierte, pauschale Vorwürfe - die ausnahmslose Hinwendung aller zu Götzendienst, Unreinheit, Lüge, Unzucht, ja zur Verrichtung des Tempelraubs - dient der Anklage: ‚Denn wir haben soeben bewiesen, dass alle, Juden wie Heiden, unter der Sünde sind, wie geschrieben steht: Da ist keiner der gerecht ist, auch nicht einer‘ (Röm 3,9b.10a). Die Polemik ist ein rhetorisch mächtiger Baustein innerhalb der theologischen Argumentation, da sie dazu beiträgt, die Unausweichlichkeit des Urteils über die Verfallenheit der Juden und der Heiden zu belegen. 41 Röm 3,9-20 bemüht im Anschluss daran das Zeugnis der Schrift, um die Anklage der Schuldverfallenheit aller Menschen nicht nur aus der Wahrnehmung und Erfahrung, sondern eben auch aus der Schrift zu belegen. 42 Diese Zitatenkette in Röm 3,10-18 folgt nicht einer bereits vorhandenen schriftlichen Vorlage, ist aber wohl auch nicht im Zusammenhang der Abfassung des Römerbriefs hier erstmals formuliert worden. Eduard Lohse vermutet eine Vorgeschichte dieser Zitatenkombination in der mündlichen Unterweisung des Paulus. 43 Die Abfolge orientiert sich möglicherweise an den Gliedern des menschlichen Körpers, da Rachen, Zunge, Lippen, Mund, Füße und Augen nacheinander mittels der Zitate bedacht werden. Das Ziel der Zitatenkombination 40 M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh 1993, 175, zu Kol 3,5: „Ihre besondere Bedeutung an unserer Stelle erhält die Habsucht aber vor allem durch ihre Verbindung mit den sexuellen Lastern und durch ihre Gleichsetzung mit dem Götzendienst.“ Auf den Zusammenhang mit Lasterkatalogen wies bereits Goppelt, Missionar (s. Anm. 28), 144 f., hin. 41 R. B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven / London 1989, 46-51, handelt über die theologische Verwendung der Schriftzitate im Kontext von Röm 1-3. 42 Dem Abschnitt Röm 3,9-20 eignet somit der Charakter einer conclusio ; so Theobald, Römerbrief EdF (s. Anm. 8), 61. 43 Lohse, Römer (s. Anm. 10), 123; Jewett, Romans (s. Anm. 10), 254, hingegen: „The catena probably originated in a Jewish milieu“. <?page no="318"?> 318 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger liegt in dem Urteilsspruch οὺκ ἔστιν οὐδὲ εἷς, der fünfmal wiederholt wird und der die allgemeine Verfallenheit festhält. Dass hier die Schrift im Dienst der Polemik gebraucht wird, ist angesichts der Themen der Zitate eindeutig. Es werden Betrug, Fluch, Gewalt, evtl. Mord, fehlende Friedensbereitschaft und fehlende Gottesfurcht unterstellt. Gerade die beiden letztgenannten Attribute werden auf dem Hintergrund ihrer Rezeption im römischen Christentum Aufmerksamkeit beanspruchen, da sie den Idealen der pax Romana und der religio Romana zuwiderlaufen. 5. Die ‚Ketzerpolemik‘ in Röm 16,17 - 20a Einige Bemerkungen zu textkritischen und literarkritischen Problemen des Briefabschlusses sind voranzustellen. 44 Nach den Grußaufträgen mit abschließendem Zeichen des Heiligen Kusses (16,3-16a) und dem ökumenischen Gruß (16,16b) folgt eine maßlose Polemik gegen ‚Ketzer‘, deren Lehre sich von derjenigen unterscheidet, die in der römischen Gemeinde Geltung besitzt (16,17-20a). Im Anschluss daran ist der Gnadenwunsch zu lesen (16,20b) sowie Grüße einzelner Personen (16,21-23). Ein weiterer Gnadenwunsch in 16,24 fehlt bei wesentlichen alten Textzeugen. 45 Hieran schließt sich eine Doxologie mit abschließendem Amen an (16,25-27). Sowohl die textliche Bezeugung der einzelnen Teile, damit verbunden die Frage nach dem ursprünglichen Schluss des Römerbriefs, als auch die Absicht der Polemik innerhalb des Schlussteils werden seit jeher intensiv diskutiert. Hinsichtlich der sog. Ketzerpolemik in 16,17-20a gibt zu denken, dass diese Verse in der handschriftlichen Überlieferung völlig eindeutig Teil des Römerbriefs sind, hinsichtlich des Inhalts und seiner sprachlichen Gestalt jedoch, an dieser Stelle im Briefganzen zumal, für etliche Exegeten einen unpaulinischen Eindruck machen. Ob also dieser Abschnitt eine sekundäre Erweiterung des Römerbriefs, eine Interpolation oder Glosse von späterer Hand, darstellt 46 oder ob es sich um einen integralen Bestandteil des 44 Ausführlich dazu Theobald, Römerbrief EdF (s. Anm. 8), 10-27; M. Müller, Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses (FRLANT 172), Göttingen 1997. 45 Vgl. das Schaubild bei O. Wischmeyer, Römerbrief, in: dies., Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe (UTB 2767), Tübingen / Basel 2006, 241-274, hier 242-244; ausführlich zur epistolographischen Gestalt des Briefschlusses: Müller, Schluß (s. Anm. 44), 212. 46 So Theobald, Römerbrief EdF (s. Anm. 8), 19; sehr ausführlich bereits zuvor ders., Römerbrief SKK 6 / 2 (s. Anm. 10), 249-253; Jewett, Romans (s. Anm. 10), 985-996, vor allem auch 986 Anm. 5; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 6 2007, 139 f. <?page no="319"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 319 Schreibens handelt 47 , wird bis in die jüngste Gegenwart unterschiedlich beantwortet. Zuletzt hat Jewett in seinem Kommentar ausführlich die Argumente für die These einer Interpolation zusammengetragen. Sie sollen hier kurz benannt, gleichzeitig aber doch mit kritischen Einwänden versehen werden: a. Röm 16,17b-20 unterbreche die Schlussgrüße empfindlich und der Wechsel im Tonfall sei unerklärlich. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass Paulus zwischen 16,3-16 und 16,21-23 einen Perspektivwechsel von den zu Grüßenden zu denen, die grüßen, vornimmt. Die Ketzerpolemik bleibt gedanklich ein letztes Mal bei der römischen Gemeinde und ihrem Wohlergehen, setzt möglicherweise wegen des Hinweises auf den Heiligen Kuss sogar die gottesdienstliche Versammlung der Gemeinde voraus, bevor Paulus die Grüße des Abfassungsortes nennt. Auch in Gal 6,11-17 wechselt Paulus vor dem Schlussvers des Briefes unvermittelt über in eine schroffe Polemik. Verhaltensanweisungen gegenüber Abweichlern begegnen nahezu stereotyp am Ende etlicher, zugestanden überwiegend jüngerer neutestamentlicher Briefe, jedoch nicht ohne Vorstufen in den paulinischen Briefen. 48 Denkbar ist auch, dass die Polemik an dieser Stelle formgeschichtlich als Parallele zu der Anathema-Formel zu verstehen ist (vgl. 1Kor 16,22) 49 . b. Röm 6,17 habe der römischen Gemeinde einen Gehorsam gegenüber der empfangenen Lehre attestiert, während Röm 16,17 plötzlich vor einer oppositionellen Gruppe innerhalb der römischen Gemeinde warne. Dagegen ist mit Lampe 50 einzuwenden, dass aus Röm 16,17 keinesfalls hervorgeht, dass die Abweichler Mitglieder der römischen Gemeinde sind. 47 Lohse, Römer (s. Anm. 10), 411 f.; Müller, Schluß (s. Anm. 44), 217-219; P. Lampe, The Roman Christians of Romans 16, in: The Romans Debate. Revised and Expanded Edition, hg. v. K. P. Donfried, Minneapolis 1995, 216-230, hier 221; S. Schreiber, Der Römerbrief, in: Einleitung in das Neue Testament (KSTh 6), hg. v. M. Ebner / S. Schreiber, Stuttgart 2008, 285 f. 48 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 142-144 (§ 43 Der paränetische Ketzerschluß in Briefen). 49 O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 5 1978, 479; Wilckens, Römer VI / 3 (s. Anm. 10), 139. 50 Lampe, Christians (s. Anm. 47), 221: „The harsh tone is not directed against the Roman church […] The sharp polemic is directed against third persons: against possible heretics not belonging to the Roman church but maybe planning to infiltrate it.“ Ebenso Wilckens, Römer VI / 3 (s. Anm. 10), 143. Auch Haacker, Römer (s. Anm. 10), 362, spricht von einer prophylaktischen Warnung. U. Schnelle erkennt in seiner Presidential Address, vorgetragen auf dem Colloquium Biblicum Lovaniense 2007 mit Blick auf Röm 16,17-20 eine „militante Gegenmission“ , die sich auch in Rom breitmache (ders., Der Römerbrief und die Aporien des paulinischen Denkens, in: Letter to the Romans (s. Anm. 21), 2-23, hier 6. <?page no="320"?> 320 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger c. Rhetorik und Vokabular des Abschnitts entspreche nicht dem üblichen paulinischen Stil, verrate hingegen eine erhebliche Nähe zur Gegnerpolemik der Pastoralbriefe und der Ignatiusbriefe. 51 Allerdings zeigt Röm 16,19 eine große Nähe zu Röm 1,8 und muss nicht notwendig als gezielte sekundär eingefügte Anspielung interpretiert werden. 52 Zur Vorsicht im Urteil mahnt der Sachverhalt, dass Paulus in Röm 16,18 dem Inventar der Gegnerpolemik (vgl. Phil 3,19) gleichwie in Röm 16,19b.20 apokalyptischen, also traditionellen Vorstellungen folgt und dass er sich eventuell sprachlich durch diese Vorgaben leiten lässt. d. Es sei undenkbar, dass nach dem Austausch des heiligen Kusses in der Gemeindeversammlung (Röm 16,16a) zu solcher Polemik gegen Gemeindeglieder ausgeholt werde. Allerdings kann dieses Argument auch ins Gegenteil gesetzt werden, wenn man bedenkt, dass die Gegner ja nicht zwangsläufig Glieder der Gemeinde sind. Dann nämlich erhält die in der Gemeindeversammlung vorgetragene Warnung vor möglichen Spaltern eigentlich erst rechten Sinn und trägt zum Zusammenhalt der Gemeinde bei. Theobald verweist überdies, meines Erachtens in einer Überinterpretation des schmalen Befundes, auf die Differenz in der Verwendung des Begriffs διδαχή, der in Röm 6,17 als Taufkatechese und in Röm 16,19 allgemein als Glaubensnorm belegt sei. 53 Wenn man diesen Gegenargumenten folgt und den sog. Ketzerschluss als integralen Bestandteil des Römerbriefs aufnimmt sowie die ohnehin problematische These einer Glosse verwirft, dann muss der Text auch im Kontext der Abfassungssituation dieses Briefes interpretiert werden. 54 Keinesfalls aber stellt dieser Teil dann eine nachträglich eingeschobene Interpolation in sachlicher Nähe zu den Pastoralbriefen dar, noch ist er Appendix eines Schreibens an die Gemeinde zu Ephesus, da Röm 16 nicht, wie in Zeiten ausgeprägter Literar- 51 Hapaxlegomena sind: ἐκκλίνειν (aber in 3,12 im Zitat), χρηστολογία, ἄκακος, ἀφικνεῖσθαι, συντρίβειν, ἐν τάχει, εὐλογία. Unpaulinisch (nach Jewett, Romans [s. Anm. 10], 987) sei δουλεύειν τῷ κυρίῳ ἡμῶν Χριστῷ sowie der Gebrauch des Futurs συντρίψει anstelle des Optativs. 52 Theobald, Römerbrief SKK 6 / 2 (s. Anm. 10), 253. 53 Theobald, Römerbrief SKK 6 / 2 (s. Anm. 10), 251. 54 Schreiber, Römerbrief (s. Anm. 47), 286: „Die exegetische Herausforderung besteht in der Frage, welche Personen Paulus bei dieser Polemik vor Augen standen, was auf die geschichtlich-konkrete Seite der Kommunikationssituation aufmerksam macht.“ <?page no="321"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 321 kritik gerne angenommen wurde 55 , als eigenständiger Brief betrachtet werden kann. 56 Aus der Mahnung in Röm 16,17 f. geht keineswegs hervor, dass sich die Falschlehrer bereits jetzt, zur Abfassungszeit des Briefes, in der römischen Gemeinde befinden. Der Artikel τοὺς vor τὰ διχοστασίας … ποιοῦντας deutet wohl auf eine klar definierte Gruppe hin, aber doch wohl eher am Horizont der Gemeinde. Vor ihnen soll sie sich in Acht nehmen (σκοπεῖν in diesem Sinn auch in Phil 3,17; Gal 6,1; vgl. auch in entsprechender Funktion βλέπετε in Phil 3,2). Spekulationen über das exakte Profil dieser Gruppe sind vom Text her müßig: Es wird nicht mehr angezeigt, als dass diese Gegner in einem Gegensatz zu derjenigen Lehre stehen, die in der römischen Gemeinde in Geltung ist, und dass sie durch ihr Auftreten Spaltungen herbeiführen werden. Dass Paulus sich auch von seinen jüngst zurückliegenden Erfahrungen mit judenchristlichen Gegnerschaften in Galatien und Korinth leiten lässt und überdies die in Röm 15,30 f. angesprochene, ihn in Jerusalem erwartende Feindschaft im Blick hat, sollte wahrscheinlich sein. 57 Eine Nähe zur Gegnerbeschreibung in Phil 3,19 besteht durchaus. Um diesen gewünschten Gegensatz zu den möglicherweise auftretenden Gegnern zu verstärken und um die Verbindung zur Gemeinde zu festigen, fügt Paulus eine polemische Beschreibung an, die die Gegner als selbstbezogen darstellt und sie als Verführer inkriminiert. Es mögen durchaus christliche Missionare gewesen sein, da sie auf der Ebene des δουλεύειν (vgl. Paulus als δοῦλος Χριστοῦ in Röm 1,1) beurteilt werden. Ihr Dienst wird allerdings nicht als christusbezogen bewertet, sondern als selbstbezogen. Mit τῇ ἑαυτῶν κοιλίᾳ δουλεύειν nimmt Paulus eine stehende Abqualifizierung auf (vgl. schon 3Makk 7,11 über jüdische Apostaten). Bereits in Phil 3,19 hatte er die avisierten Gegner mit diesem polemischen Inventar belegt (ὁ θεὸς ἡ κοιλία). Gedacht ist wohl daran, dass diese Menschen auf ihren Gewinn aus sind (vgl. dazu wieder innerhalb der 55 W. Schmithals, Die Irrlehrer von Röm 16,17-20, in: ders., Paulus und die Gnostiker. Untersuchungen zu den kleinen Paulusbriefen (ThF 35), Hamburg-Bergstedt 1965, kommt zu völlig anderen Ergebnissen, da er sowohl in der Literarkritik des Römerbriefs als auch in der Bestimmung des Antipaulinismus andere Wege beschreitet. 56 Gegen diese Sicht etwa K. P. Donfried, A Short Note on Romans 16, in: Donfried, Debate (s. Anm. 47), 44-52. 57 Überzeugend Wilckens, Römer VI / 3 (s. Anm. 10), 143-145. Daher sprach Zahn, Römer (s. Anm. 38), 611, bereits von einer durch den Blick auf die anderen, auf alle Gemeinden (Röm 16,16b) gelenkten Digression. Demgegenüber betont E. Lohse, Apostolische Ermahnung in Röm 16,17-20, in: ders. Rechenschaft vom Evangelium. Exegetische Studien zum Römerbrief (BZNW 150), Berlin / New York 2007, 88-96, die Gestaltung des Briefschlusses mit traditionellen Elementen, zu denen auch die Ermahnung in Röm 16,17-20 zähle. Die Mahnung sei im Bedarfsfall sowohl auf Judaisten als auch auf Libertinisten zu beziehen (95). <?page no="322"?> 322 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger Gegnerpolemik: 2Kor 2,17 f.; 11,20; Tit 1,10 f.), möglicherweise wird aber auch - grob abqualifizierend - in Analogie zu Phil 3,19 ein triebhaft 58 gesteuertes Verhalten unterstellt. Es ist Teil der Polemik, das mögliche zukünftige Auftreten dieser Gegner bereits jetzt vollständig zu desavouieren. Paulus unterstellt ihnen List und Betrug, die mittels schöner, prächtiger Rede vorgetragen werden und, darin besteht die Gefahr, unkritisch von den römischen Christen als arglos Denkenden aufgenommen werden. Die Wortgruppe ἐξαπατάω (Röm 16,18; 2Thess 2,3; sowie im Blick auf die Paradiesesschlange Röm 7,11; 2Kor 11,3; 2Tim 2,14), ἀπατάω (Eph 5,6), ἀπάτη (Eph 4,22; Kol 2,8; 2Thess 2,10; 2Petr 2,13) gehört zum häresiologischen Inventar des Neuen Testaments. Der Bezug zur Täuschung durch die Schlange im Paradies wird im genannten Wortstamm immer mitgehört, was der List und dem Betrug dämonische Züge verleiht. Blickt man bereits voraus auf Röm 16,20 und die Erwähnung des Satans als endzeitlichen Gegenspieler der Gemeinde, dann werden die Gegner „als Funktionäre des Teufels zu gelten haben.“ 59 Die Attribute der Täuschung (ἐξαπατᾶν in Röm 16,18) und des Bösen (τὸ κακόν in Röm 16,19) stellen sozusagen die Brücke zwischen Gegnern und Satan her, da diese Attribute häufig auch für den Satan bzw. die Paradiesesschlange belegt sind. Es gehört unbedingt zum verführerischen, ja teuflischen Charakter des Auftretens dieser Missionare, dass deren Gestalt unter falscher Etikette erscheint. Dies wird weniger im Hapaxlegomenon χρηστολογία erkennbar 60 , dem das Attribut der Scheinheiligkeit und der Schmeichelrede anhaftet, als an εὐλογία, welches ja im Übrigen durchweg positiv besetzt ist, sogar das Auftreten des Apostels charakterisieren kann und allgemein den Segen benennt (Röm 15,19; 2Kor 9,6 u. ö.). 61 Mit dem Römerbrief unternimmt Paulus den Versuch, die ihm bislang unbekannte Gemeinde für sich, seine Theologie und seine Missionspläne zu gewinnen. Da die zurückliegenden Jahre missionarischer 58 So Michel, Römer (s. Anm. 49), 480 f.; Jewett, Romans (s. Anm. 10), 991, mit Verweis auf Philo, legum allegoriae 3,115, und der hier zum Ausdruck kommenden dualistischen Anthropologie und ihrer Abwertung der κοιλία. Es geht freilich gegen Schmithals, Irrlehrer (s. Anm. 55), 168, nicht an, von dem Gebrauch der Metapher κοιλία auf eine libertinistische, gnostische Bewegung zu schließen und zu folgern: „Nur sie kann also in Röm 16,18 bekämpft sein.“ 59 Wilckens, Römer VI / 3 (s. Anm. 10), 143. 60 Dieses Wort begegnet hier erstmals in der antiken Literatur: Jewett, Romans (s. Anm. 10), 992; ThWNT IX (1973), 481; EWNT III (1983), 1137 f.; dazu auch J. L. North, ‚Good Wordes and Faire Speeches‘ (Rom 16.18 AV): More Materials and a Pauline Pun, NTS 42 (1996) 600-614 (zu seiner Erklärung von χρηστολογία wiederum Haacker, Römer [s. Anm. 10], 364, und Jewett, Romans [s. Anm. 10], 992). 61 Jewett, Romans (s. Anm. 10), 992: „Taken together, the expression ‚sweet talk and well-chosen words‘ is a rhetorical hendiadys that reinforces the idea of misusing rhetorical gifts to mislead and corrupt others.“ <?page no="323"?> Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief 323 Arbeit durchweg auch von einem Antipaulinismus begleitet waren, muss die scharfe Polemik in Röm 16,17-20a auch als Versuch verstanden werden, die römische Gemeinde möglichst weitgehend von diesem bereits sie erreicht habenden oder ihr drohenden Antipaulinismus fernzuhalten. Paulus seinerseits bekräftigt zwar die vollständige Akzeptanz der in Rom vorherrschenden Theologie (Röm 6,17; 16,17b), gibt ihr mit seinem Brief allerdings eine deutliche, von seinem Denken her geprägte Färbung. 6. Auswertung Polemisch werden die Ausführungen des Römerbriefs an drei Stellen und dies gegenüber unterschiedlichen Gesprächspartnern. Während die Beschreibung paganen Lebens in Röm 1,18-32 im Wesentlichen noch in vorgezeichneten Bahnen jüdischer Polemik verläuft, gipfelt die Anklage des jüdischen Gesprächspartners in Röm 2,17-24 in der polemischen Frage, ob er nicht nur die Tora missachte, sondern sich überdies als jemand, der ἱεροσυλία (sacrilegium) begeht, des Hochverrats schuldig mache. Da dieses Delikt im griechischen und römischen Recht als eines der schwersten Verbrechen überhaupt galt, muss schon die Frage, ob der jüdische Gesprächspartner ein Tempelräuber sei, als schwere Verleumdung betrachtet werden. Möglicherweise aktiviert Paulus hier bewusst einen paganen antijüdischen Vorwurf. Die sog. Ketzerpolemik in Röm 16,17-20a, die hier als integraler Bestandteil des Römerbriefs gelesen wird, beschreibt die von der in der römischen Gemeinde und der Sicht des Paulus verbindlichen Lehre abweichenden judenchristlichen Missionare in polemischer Abwertung als triebgesteuerte, betrügerische Agenten des Satans. Man darf die Polemik des Paulus im Römerbrief nicht ausschließlich in historischer Perspektive nachzeichnen, ohne sich gegenwärtig theologisch dazu zu verhalten. Diese Verleumdungen und Verbalinjurien stellen unakzeptable Grenzüberschreitungen dar, die keinesfalls damit zu rechtfertigen sind, dass sie letztlich der Wahrheit des Evangeliums dienen oder dass sie nur bereits bestehende, akzeptierte antike Muster aufnehmen und fortschreiben. Abgrenzungen gegenüber anders denkenden Menschen sind oftmals in der Sache geboten. Hierbei wird es dann darum gehen müssen, die strittigen Sachfragen zu besprechen, ohne die jeweiligen von der eigenen Position abweichenden Menschen polemisch in der Erwartung anzugreifen, über eine personenbezogene Polemik eine Sachentscheidung herbeiführen zu können. Was die judenchristlichen Missionare, die Paulus in Röm 16,17-20a attackiert, gelehrt haben, wird im Römerbrief nicht gesagt. Die Polemik bezieht sich ausschließlich auf die Personen und umgeht jegliche Sachauseinandersetzung. Sie ignoriert überdies, dass auch diese christlichen Missionare zur Kirche zählen, und sie missachtet den Grundsatz des <?page no="324"?> 324 Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger in der Kirche gebotenen geschwisterlichen Umgangs. Die Polemik gegenüber Juden, zwar in Frageform vorgetragen, in der Sache aber denunzierend, erhebt einen schweren Vorwurf und kriminalisiert den Gesprächspartner. Dass solche Vorwürfe in der Geschichte rezipiert, antijudaistisch ausgebaut und somit eine Grundlage für weitere Angriffe wurden, gehört zur bedenklichen Nachgeschichte der Polemik des Römerbriefs. <?page no="325"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 325 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis Kennt Paulus auch Werke im Glauben? * 1 Einleitung Das Stichwort ‚Werke‘, mehr noch ‚gute Werke‘ führt uns mitten hinein in die reformatorischen und nachreformatorischen Auseinandersetzungen um die Lehre von der Rechtfertigung. In der Confessio Augustana lautet der 6. Artikel: „Auch wird gelehrt, daß solcher Glaube gute Früchte und gute Werke bringen soll, und daß man müsse gute Werke tun, alles, was Gott geboten hat, um Gottes willen, doch nicht auf solche Werke zu vertrauen, um dadurch Gnade vor Gott zu verdienen. Denn wir empfangen Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus, wie Christus selbst spricht Luk. 17: ‚So ihr dies alles getan habt, sollt ihr sprechen: wir sind untüchtige Knechte.‘ Also lehren auch die Väter. Denn Ambrosius spricht: Also ist es beschlossen bei Gott, dass, wer an Christus glaubt, selig sei und nicht durch Werke, sondern allein durch den Glauben, ohne Verdienst, Vergebung der Sünden habe.“ 1 Die Paulus-Forschung des vergangenen Jahrhunderts ging weithin davon aus, dass zwischen diesem reformatorischen Bekenntnis und den Lehraussagen des Paulus in Fragen der Rechtfertigung kein wesentlicher Unterschied besteht, lautet doch der sog. Basissatz der paulinischen Rechtfertigungslehre in Gal 2,16: ‚Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus […]‘; vgl. außerdem Röm 3,28: ‚So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch Glauben […]‘. Hierbei interpretierte man die Werke des Gesetzes, von denen Paulus spricht, oftmals als eigene, verdienstliche Werke des Gesetzes bzw. noch abgeflachter einfach als Werke im Sinne 1 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, Band 1, Göttingen 1930, 58 f. Zur Einordnung: Wolf Krötke, Art.: Gute Werke II. Dogmatisch, RGG 4 3, Berlin / New York 2000, 1344 f. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis. Kennt Paulus auch Werke im Glauben? in: R. Dziewas (Hg.), Gerechtigkeit und gute Werke, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft 2010, 31-51. <?page no="326"?> 326 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis von Leistungen vor Gott. Diese Werke des Gesetzes wurden daneben gleichsam unter der Hand zu einem grundsätzlichen Kennzeichen des Judentums, das als eine nach Verdiensten vor Gott Ausschau haltende Religion dargestellt wurde. Und indem Paulus sich von diesem Leistungsprinzip der guten Werke verabschiedet, überwindet er, so die vergangene Forschung, nicht nur seinen eigenen jüdischen Hintergrund, sondern er stellt zugleich das gesamte Lohn- und Leistungsdenken des Judentums in Frage. Sekundiert wurde diese Sicht durch das seinerzeit maßgebliche Werk zum Judentum der neutestamentlichen und nachneutestamentlichen Zeit, dem Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Hermann L. Strack und Paul Billerbeck. Diese schreiben: „Die alte Synagoge hat die Idee des Gnadenlohnes nicht festgehalten. Das hatte seinen Grund darin, dass ihre Lohnlehre in völlige Abhängigkeit von ihrer Rechtfertigungslehre geriet […] Ein Hauptsatz der letzteren lautet: Die Tora ist Israel nur gegeben worden, damit sie durch sie Verdienst erwerben […]“. Oder an anderer Stelle: „Die Tora ist Israel nur gegeben worden, damit sie durch sie Lohn erwerben […]“. 2 Die jüngere Forschung, vor allem die unter der Etikette ‚new perspective on Paul‘ auftretende angloamerikanische Richtung, hat beide Sichtweisen, die lutherische Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre und die korrespondierende Sicht des Judentums als einer Leistungs- und Verdienstreligion kräftig in Frage gestellt. Auf die zurückliegende Diskussion kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. 3 Auf die problematische Sicht des Judentums in Strack / Billerbeck war zuvor bereits auch in Deutschland mehrfach aufmerksam gemacht worden. Wenn wir jetzt fragen, ob Paulus Werke im Glauben kennt, dann muss in dieser theologisch brisanten Thematik Klarheit darüber herrschen, wie wir uns methodisch dem ganzen Komplex nähern und wonach wir eigentlich fragen. Sind Werke (ἔργα), Taten, Handlungen im Glauben und als Ausdruck des Glau- 2 Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch IV / 1, München, 7 1978, 490. Ulrich Oelschläger, Judentum und evangelische Theologie 1909-1965. Das Bild des Judentums im Spiegel der ersten drei Auflagen des Handwörterbuchs ‚Die Religion in Geschichte und Gegenwart‘, Judentum und Christentum Bd. 17, Stuttgart 2005, 288-320, hat die Behandlung des jüdischen Verdienstgedankens in den einzelnen Auflagen der RGG informativ dargestellt. 3 Instruktiv sind folgende Werke: Michael Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusauslegung. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005; James D. G. Dunn, The New Perspective on Paul. Collected Essays, WUNT 185, Tübingen 2005 (dazu meine Rezension in ZRGG 59, 2007, 277-279); Friedrich Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, WUNT 55, Tübingen 1996; ders., Art.: ἔργον, TBNT 1, Wuppertal / Neukirchen-Vluyn 1997, 57-59. Ed P. Sanders, Paul and the Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977. <?page no="327"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 327 bens geboten, aber im Blick auf den Erwerb der Gnade ausgeschlossen? Das Thema ist mit konfessionell ausgeprägten und bisweilen verfestigten Einstellungen behaftet. Es berührt eine Reihe weiterer theologischer Themen. Es wäre vermessen, die Frage in einem Vortrag in ihrer exegetischen und dogmatischen Breite ausloten zu wollen. Dieser Beitrag möchte daher nicht mehr versuchen, als einige Aspekte im Licht der neueren Forschung anzusprechen, die bei einer ausführlicheren Behandlung des Themas keinesfalls fehlen sollten. Es wäre, um damit zu beginnen, völlig unangemessen, biblizistisch oder begriffsgeschichtlich einzelne Aussagen mittels einer Konkordanz aus den Paulusbriefen heranzuziehen, ohne ihren Kontext und ihren präzisen philologischen Gehalt zu bedenken. In meinem Studium der Briefe und der Theologie des Paulus hat es sich als hilfreich erweisen, die Briefe des Paulus immer in der Abfolge ihrer Abfassung im Blick zu behalten, also von dem frühesten Brief, dem 1. Thessalonicherbrief ausgehend zum letzten Brief, dem Römerbrief hin denkend. 4 Wandlungen im Denken des Paulus sind hierbei durchaus erkennbar. 5 Sodann sind alle Aussagen vor jeder theologischen Auswertung immer exakt auf ihren literarischen Gehalt zu befragen. In welcher literarischen Gattung begegnen Aussagen, sind sie Teil einer polemischen, einer lobenden, einer argumentierenden oder einfach nur einer konventionellen Struktur? Es sind die Kommunikationsbedingungen zu klären, immerhin handelt es sich um Briefe, die als Ersatz für die Abwesenheit des Apostels und seine mündliche Rede fungieren. Paulus geht, das sei abschließend gesagt, nach meinem Ermessen auch nicht von einer in sich geschlossenen theologischen Position aus, die ihm etwa im Damaskuserlebnis übermittelt wurde und zu Beginn seiner eigenständigen Mission im Anschluss an den Apostelkonvent vorlag. 6 Vielmehr geben seine Briefe Ausdruck von dem Werden der Theologie des Paulus, der den Grundsatz, dass das Handeln Gottes in Jesus Christus das Evangelium und das umstürzende Heilsereignis überhaupt ist, in alle Bereiche theologischen Fragens hineindenkt und hierbei vor allem das Verhältnis zu seinem jüdischen Untergrund klärt. Vollends schließlich müssen wir uns freimachen von der Vorstellung, in der Frage nach den Werken im Glauben eine einheitliche gesamtneutestamentliche Sicht 4 Deutlich Jürgen Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, 1989, 3: „Der Respekt vor der geschichtlichen Ereignisfolge sollte m. E. einer Darstellung das Wort reden, die die geschichtliche Ordnung zur Geltung kommen läßt. D. h. konkret: Paulus soll konsequent entwicklungsgeschichtlich dargestellt werden, soweit das nur die Quellen irgendwie zulassen.“ 5 Vgl. Udo Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 137, Stuttgart 1989. 6 Anders Eduard Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 245: „Als Paulus den 1. Thessalonicherbrief schrieb, war auf Grund reicher Erfahrungen sein theologisches Denken klar ausgebildet, so daß er gegenüber allen Herausforderungen, die an ihn herangebracht wurden, Rede und Antwort zu stehen wußte.“ <?page no="328"?> 328 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis zu diesem Thema finden zu können. Dass neben der Stimme des Paulus auch Aussagen zum Thema wie in Mt 7,23 und Offb 22,12, um nur einmal die erste und die letzte Schrift des Neuen Testaments zu nennen, zu finden sind, sollte zumindest immer mit im Blick bleiben. 2 Begriffsgeschichtliche Klärungen Ich beginne mit wenigen notwendigen begriffsgeschichtlichen Klärungen. Das deutsche Wort Werk ist die übliche Übersetzung des griechischen Wortes ἔργον, deren gemeinsame Wurzel noch leicht erkennbar ist. 7 Bis auf den Philemonbrief verwendet Paulus das Wort ἔργον in jedem Brief, aber nicht signifikant häufiger oder geringer als die anderen neutestamentlichen Briefe dies tun. Gerne setzt Paulus Syntagmata ein, z. B. ἔργον ἀγαθόν (Röm 2,6; 13,3; 1 Kor 9,8; Phil 1,6). Er schafft negativ besetzte Genitivverbindungen wie ἔργα τοῦ σκότους (Röm 13,12), ἔργα τῆς σαρκός (Gal 5,19), aber auch positiv besetzte Genitivverbindungen wie ἔργον θεοῦ (Röm 14,20), ἔργον κυρίου (1 Kor 15,58; 16,10; Phil 2,30), ἔργον πίστεως (1 Thess 1,3), ἔργον τοῦ νόμου (1 Kor 2,15) oder auch positive Zuordnungen wie ὑπακοὴ ἐθνῶν, λόγῳ καὶ ἔργῳ (Röm 15,18) oder καρπὸς ἔργου (Phil 1,22). Bei positiven Aussagen fällt die häufige Verwendung des Singulars ἔργον auf, bei negativen Aussagen überwiegt der Plural ἔργα. In Verbindung mit einem Pronomen beschreiben ἔργα αὐτοῦ die Handlungen eines Menschen (1 Kor 2,6; 2 Kor 11,15; 1 Thess 5,13). Insbesondere fällt natürlich wegen seines Bezugs zur paulinischen Rechtfertigungslehre das Syntagma ἔργα νόμου auf, das Paulus erstmals in Gal 2,16; 3,2. 5. 10 und in Röm 3,20.27 f. einsetzt, in Röm 4,2.6; 9,12.32; 11,6 verkürzt zu ἐξ ἔργων und das er in eine Antithese zur πίστις setzt (Röm 9,32). 8 Gegenüber allen negativen Konnotationen jedoch, die das Wort ἔργον/ Werk in der Auslegungsgeschichte auf sich gezogen hat, ist schon von dem dargelegten vielseitigen Befund her jede Einseitigkeit abzuweisen. Es ist daher vielleicht im Blick auf die Interpretation, aber auch auf 7 Georg Bertram, Art.: ἔργον κτλ, ThWNT II, Stuttgart 1935, 631-653; Roman Heiligenthal, Art.: ἔργάζομαι κτλ, EWNT II, Stuttgart 1981, 120-127; Michael Bachmann, Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus, in: ders., Antijudaismus im Galaterbrief. Exegetische Studien zu einem polemischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus, NTOA 40, Freiburg / Göttingen 1999, 1-31, vor allem 14-30. Zur neutestamentlichen Verwendung des Begriffs ἔργον jetzt auch Hermut Löhr, Kennt das Neue Testament die Unterscheidung von ‚Person‘ und ‚Werk‘? , in: Stefan Beyerle / Michael Roth / Jochen Schmidt (Hg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen, Theologie - Kultur - Hermeneutik Bd. 11, Leipzig 2009, 213-229, hier 216 f. 8 Ausführlich bespricht dieses Syntagma: Michael Bachmann, Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck „‚Werke‘ des Gesetzes“, in: ders., Paulusperspektive (wie Anm. 3), 69-134, vor allem 92-112. <?page no="329"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 329 das in den Texten Gemeinte hilfreich, das Wort ἔργον im Einzelfall nicht mit Werk, sondern mit ‚Tat‘ oder ‚Tun‘ zu übersetzen. 9 Auch das Verb ἔργάζομαι (wirken) wird von Paulus verwendet (Röm 2,10; 4,4 f.; 13,10; 1 Kor 4,12; 9,6.13; 16,10; 2 Kor 7,10; Gal 6,10; 1 Thess 2,9; 4,11) und es ist ein höchst bedenkenswerter Befund, dass ἔργάζομαι allenfalls an einer einzigen Stelle in einem abwertenden oder negativen Sinn eingesetzt wird (Röm 4,4 f.); ähnlich ist der Befund für das Kompositum κατεργάζομαι. Daneben beschreiben ἔργάζομαι / κατεργάζομαι in positiver Weise die apostolische Arbeit (1 Kor 4,12; 9,6.13; 2 Kor 4,17; 9,11; 12,12; 1 Thess 2,9) oder das Wirken oder Verhalten der Gemeinde (Röm 13,10; Gal 6,10; 1 Thess 4,11) wie auch das Handeln Gottes und Christi (Röm 15,18; 2 Kor 5,5). Mit dem Kompositum κατεργάζομαι formuliert Paulus schließlich in höchst paradoxer Weise: ‚Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen‘ (Phil 2,12 f.). Ich blicke an dieser Stelle bereits einmal vor auf die Pastoralbriefe, die wahrscheinlich von einem Paulusschüler oder einem in paulinischer Tradition stehenden Theologen im Ausgang des 1. Jh. geschrieben wurden. Hier spielt die bei Paulus selten auftretende Rede von ‚guten Werken‘ oder ‚schönen Werken‘ (Röm 2,7; 13,3; 2 Kor 9,8; Phil 1,6) eine ganz zentrale Rolle innerhalb der Ethik dieser drei Briefe (1 Tim 2,10; 3,1; 5,10.25; 6,13; 2 Tim 2,21; 3,17; Tit 1,16; 2,7.14; 3,1. 8. 14). 10 Die Aufforderung zu guten oder schönen Werken wird in den Pastoralbriefen ganz selbstverständlich ausgesprochen, und dies auch ohne jeden Skrupel gegenüber vermeintlichen rechtfertigungstheologischen Überlegungen. 11 Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach seinem rechtfertigenden Handeln spielt in den Pastoralbriefen fast keine Rolle mehr. Allein Tit 3,5 hat einen paulinischen Nachklang, wenn es heißt: ‚er hat uns gerettet, nicht weil wir Werke vollbracht hätten, die uns gerecht machen können, sondern aufgrund seines Erbarmens - durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im heiligen Geist‘ (Übersetzung nach der Einheitsübersetzung). Allerdings schließt sich der Titusbrief hier an traditionelle Aussagen an (vgl. das Druckbild in NTG ) und ist also so etwas wie eine Replik auf Aussagen des Paulus und andere frühchristliche Texte, die aber im Titusbrief nicht in einen 9 Löhr, Neue Testament (wie Anm. 7), 217. 10 Vgl. Ulrike Wagener, Die Ordnung des ‚Hauses Gottes‘. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe, WUNT 65, Tübingen 1994, 86-88. 11 Jürgen Roloff, Der erste Brief an Timotheus, EKK XV, Zürich 1988, 134: „Weil die paulinische Frontstellung […] für die Past ihre Aktualität verloren hat, ist für sie der Begriff ‚gute Werke‘ nicht mehr vorbelastet. Sie integrieren ihn in den Horizont ihrer Grundtendenz zu aktiver Weltzuwendung der Christen und gebrauchen ihn unbefangen“. <?page no="330"?> 330 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis polemischen Kontext eingebunden sind. Das Gegenüber zur Gesetzesobservanz, zu Forderungen der Tora im Blick auf die Heidenchristen ist für den Titusbrief kein Thema mehr. 12 In der Auslegungsgeschichte hat das Syntagma ‚Werke des Gesetzes‘ stets eine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Rudolf Bultmann hatte diesen Terminus „auf das Bemühen des Menschen, durch Erfüllung des Gesetzes sein Heil zu gewinnen“ bezogen und festgehalten, „daß sich Rechtfertigung aus Gesetzeswerken und aus göttlicher, im Glauben des Menschen ergriffener Gnade ausschließen“. 13 Die gegenwärtige Paulusforschung hat sich vor etwa 30 Jahren erneut diesem Syntagma intensiv zugewandt und es kam auch dadurch zu einer ‚new perspective on Paul‘, die fundamental von dieser Auslegung abrückte, weil sie das Syntagma nicht mehr im Kontext der Hamartiologie und des Endgerichts behandelte, sondern als soziologisches Problem im Kontext von Missionserfahrungen. Sie verstand daher in den Werken des Gesetzes so etwas wie die Grenzziehungen des Judentums zum Heidentum (Beschneidung, Speisegebote, Sabbat), die im Zusammenhang der Frage des Zutritts von Heidenchristen zum Gottesvolk relevant werden. Ich werde gleich darauf ausführlich zurückkommen, möchte aber zunächst kurz auf ‚Werke des Fleisches‘ (Gal 5,19) und ‚Werke der Finsternis‘ (Röm 13,12) eingehen. In Röm 13,11-14 verwendet Paulus die Metaphorik von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, schlafen und aufstehen. Diese Metaphorik wird nochmals überlagert mit der Kleider- und Waffen-Metaphorik. Christen sollen die Waffen des Lichts anziehen und Werke der Finsternis ablegen. Der Gegensatz von Licht und Finsternis wird in jüdischen und christlichen Texten vielfach benutzt, um einen ethischen Dualismus zu profilieren. 14 Innerhalb der jüdischen Literatur wird Dunkelheit häufig mit Bezug auf eine pagane Lebensweise exemplifiziert. In 1 QS III 1- IV 26 dienen Licht und Finsternis als Zuordnungsbegriffe für Gruppenbezeichnungen, die Gemeinde spricht daher von sich als von den Söhnen des Lichts (1 QS III 13). Die Finsternis tritt in dem Verhalten des Einzelnen ans Licht (1 QS IV 9), aber sie hat darüber hinaus einen Bezug zur satanischen Macht des Engels der Finsternis (1 QS III 20 f.). Sachlich reicht diese Symbolik wohl über das Judentum hinaus weiter zurück in iranische Traditionen. 15 Was diese Werke der Finsternis für Paulus in Röm 13,11-14 sind oder sein können, nämlich Verhaltensweisen, die dem Bereich Nacht, Dunkelheit und schlafen 12 So auch Heiligenthal, Werke (wie Anm. 7), 71. 13 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 6 1968, 264. 14 Religionsgeschichtlich informativ ist: Hans Conzelmann, Art.: σκότος, ThWNT VII, Stuttgart 1964, 424-446. 15 Carsten Colpe, Zarathustra und der frühe Zoroastrismus, in: Jes Peter Asmussen u. a. (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte Bd. 2, Göttingen 1972, 319-357, hier 350 f. <?page no="331"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 331 entsprechen 16 , das benennt er durch Beispiele: maßloses Essen und Trinken, Unzucht und Ausschweifung, Streit und Eifersucht. 17 Auch 1 QS IV 9-11 bietet völlig entsprechend einen langen Lasterkatalog. Ablegen der Werke der Finsternis und Anziehen der Waffen des Lichts sind innerhalb der Kleidermetaphorik korrespondierende Handlungen. Sie haben wegen des bestimmenden Bildmaterials von Licht und Finsternis durchaus eine Nähe zur Konversionsthematik (vgl. auch 1 Thess 5,4; Eph 5,8; 1 Petr 2,9), bleiben aber innerhalb der Ethik der christlichen Gemeinde gerade wegen ihres eschatologischen Bezugs aktuell (so auch 2 Kor 6,14; Eph 5,11; 1 Joh 1,6). Das Anziehen der Waffen des Lichts wird materialethisch nicht ausgeführt (anders etwa Eph 6,10-20), es überwiegt die Absetzung von den Werken der Finsternis. Allerdings wird der Aspekt des Anziehens (Röm 13,12) in Röm 13,14 erneut aufgenommen und als ‚Anziehen des Herrn Jesus Christus‘ angesprochen. Dies macht deutlich, dass Paulus die Verhaltensweisen der christlichen Gemeinde letztlich nicht von einem katalogmäßig erfassbaren ethischen Dualismus angeht, sondern als auf Christus ausgerichtetes Wachstum, als Darstellung der Christusgemeinschaft begreift. 18 In Gal 5,19-23 stellt Paulus zwei Kataloge einander gegenüber. Im Lasterkatalog sind insgesamt 15 Laster genannt, die zum großen Teil nicht spezifisch christlich deklarierte Laster sind, sondern im hellenistischen Judentum oder in der Stoa ebenfalls als Hauptlaster genannt sind. Diese werden als ἔργα τῆς σαρκός, als ‚Werke des Fleisches‘ angesprochen, also als Werke, Verhaltensweisen oder Taten, die dem Fleisch entsprechen. 19 An der Spitze der Laster stehen die Kardinallaster der hellenistischen Welt aus jüdischer Perspektive: Unzucht, 16 Der Genitiv τὰ ἔργα τοῦ σκότους impliziert wohl beide Aspekte, dass die Handlungen des Menschen von der Finsternis gesteuert sind und dass sie dieser damit entsprechen und sie folglich auch ausbreiten. Keinesfalls aber sind es nur Handlungen, die in der Finsternis geschehen ( Jes 29,15). 17 Es ist m. E. gegen Klaus Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 3 2006, 307, abwegig, die Licht-Finsternis-Metaphorik auf „etwas Spezielleres“ zu beziehen. Haacker denkt an Mysterienkulte, die bei Nacht unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgeübt wurden. 18 Friedrich Wilhelm Horn, Putting on Christ. On the Relation of Sacramental and Ethical Language in the Pauline Epistles, in: Ruben Zimmermann / Jan G. van der Watt in Cooperation with Susanne Luther (eds.), Moral Language in the New Testament. Contexts and Norms of New Testament Ethics II, WUNT II / 296, Tübingen 2010, 232-244. 19 Von ἔργα τῆς σαρκός spricht Paulus nur hier in Gal 5,19, jedoch ist σάρξ im direkten Kontext vielfach genannt (Gal 5,13. 16. 17.19.24). Dies mag die Bildung des Syntagmas angeregt und erleichtert haben. Die Verweise auf 1 QS II 5; IV 23; Test Levi 19,1 beleuchten den religionsgeschichtlichen Kontext und zeigen, dass diese Werke an sich verfehlt sind, sich aber auch gleichzeitig in ihnen ein frevelhafter, ja widergöttlicher Einfluss Bahn bricht. Zum Gegensatz von Fleisch und Geist bei Paulus: Jörg Frey, Die paulinische Antithese von Fleisch und Geist und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90, 1999, 45-77. <?page no="332"?> 332 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst. Im Tugendkatalog nennt Paulus nur noch neun Eigenschaften und natürlich hat die Liebe die Kopfstellung. Diese Tugenden gelten als ‚Frucht des Geistes‘, wobei καρπός (Frucht) ganz sicher nicht in dem Sinn verstanden werden darf, als würden die angesprochenen Tugenden gleichsam ohne Zutun des Menschen als Folge der Geistbegabung wachsen. Mit Gal 5,25 könnten wir vielmehr sagen, wer sich so verhält, der realisiert den Satz: ‚wenn wir im Geist leben, dann lasst uns auch im Geist wandeln‘. ‚Werke des Fleisches‘ und ‚Frucht des Geistes‘ - Paulus lässt sich leiten von dem Gegensatz von Fleisch und Geist, der ihn oftmals in seinem Denken bestimmt. ‚Fleisch‘ ist für Paulus nicht immer ein negativer Begriff. 20 Hier aber, in dem Gegensatz zum Geist, zielt es auf die Beschreibung eines Menschen, der ganz in seiner - aus jüdischer Perspektive - paganen Verhaltensweise und in seiner gefallenen Geschöpflichkeit verbleibt und eben nicht vom Geist Gottes bestimmt ist. Das Syntagma ‚Werke des Fleisches‘ ist nicht synonym mit ‚Werke der Finsternis‘. In letzterem Ausdruck kommt mittels σκότος der verhängnisvolle, mit der widergöttlichen Welt in Verbindung stehende Machtaspekt noch deutlicher zum Ausdruck (vgl. dazu auch Kol 1,13). 3 Werke des Gesetzes Das Syntagma ‚Werke des Gesetzes‘ begegnet ausschließlich im Galater- und im Römerbrief. Schon dieser Befund macht nachdenklich. Das, was zum Kernbestand der Rechtfertigungslehre und was nach gemeiner Sicht zum Zentrum der paulinischen Theologie gehört, durchzieht nicht alle paulinischen Briefe und hatte auch keine breite Nachwirkung in der nachpaulinischen Literatur (siehe Pastoralbriefe). Gewöhnlich verstehen wir Werke des Gesetzes undifferenziert als eigene oder verdienstliche Werke des Gesetzes. Schnell verknüpfen wir diesen Ausdruck mit dem Bild des vorreformatorischen Luther, der sich am Ablass abarbeitete, klösterliche Entbehrungen und Kasteiungen auf sich nahm, den gnädigen Gott suchte, aber diesen in Bußleistungen nicht fand. Diese geradezu vulgär reduktionistische reformatorische Sicht hat sich in der Auslegungsgeschichte auf die Exegese der Paulusbriefe gelegt und die exegetische Arbeit bestimmt. Hinzu kommt, dass die maßgeblichen deutschen Exegeten des 20. Jh. lutherischen Bekenntnisses waren und in dieser Tradition theologisch dachten. Die nicht aus dieser Tradition stammenden amerikanischen und englischen Exegeten des ausgehenden 20. Jh. haben daher von ‚Lutheran spectacles‘ gesprochen, die in der Paulus-Auslegung bestimmend waren, und sie haben 20 Vgl. zur differenzierten Verwendung von σάρξ innerhalb der paulinischen Anthropologie: Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 259-261. <?page no="333"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 333 in den vergangenen drei Jahrzehnten diese deutsche lutherische Auslegung scharf angegriffen. 21 Sie gehe, so werfen sie ihr vor, von einem individuellen, am Sündenbegriff orientierten Menschenbild aus, arbeite mit einer Verzerrung des Judentums als einer Leistungsreligion und verkenne die bleibenden Bindungen paulinischer Theologie zum Bund Gottes mit seinem Volk. Ich möchte daher zunächst und etwas ausführlicher auf dieses Syntagma ‚Werke des Gesetzes‘ bei Paulus eingehen und vor allem die neuere Forschung einbeziehen. Die ganz selbstverständliche Übersetzung von ἔργα νόμου mit ‚Werke des Gesetzes‘ im Sinne von ‚eigene oder verdienstliche Werke des Gesetzes‘ wurde spätestens brüchig, als die Forschung sich einem frühessenischen halachischen Brief aus Qumran zuwandte (wohl 2. Jh. v.Chr.), den möglicherweise der Lehrer der Gerechtigkeit, also der Sprecher der Gruppe, an die gegnerische Seite, vielleicht den Jerusalemer Hohenpriester, im Text mit ‚für dich und dein Volk‘ angesprochen, geschrieben hat. Im Text werden etwa 20 halachische Streitpunkte aufgenommen, die zwischen dem amtierenden Jerusalemer Hohenpriester und dem zadokidischen Prätendenten für das Hohepriesteramt, also wohl dem Lehrer der Gerechtigkeit, bestehen. In diesem Brief wird mit maaseh ha-Torah in 4 QMMT (=4Q394-399) ein hebräischer Ausdruck verwendet, der als die bislang einzige exakte, wenn auch fremdsprachige Parallele für das griechische ἔργα νόμου zu bewerten ist. Ich zitiere zunächst die entscheidende Textpassage: Wir haben dir einige ‚Werke‘ (= ‚Vorschriften‘/ ‚Praktiken‘) der Tora geschrieben, die wir als gut befunden haben für dich und dein Volk. Denn wir haben gesehen, dass bei dir Klugheit und Wissen um die Tora vorhanden ist. Betrachte dies alles und bitte von seinem Angesicht, dass er deinen Rat lenke und von dir entferne böse Absichten und den Plan Belials, damit du Freude erfährst am Ende der Zeit, wenn du feststellst, dass etwas von unseren Worten richtig ist. Und es wird dir zu Gerechtigkeit angerechnet werden, wenn du tust, was aufrecht und gut in seinen Augen ist, zum Wohl für dich und Israel. 22 21 Ich habe in den vergangenen Jahren in etlichen Veröffentlichungen das Gespräch mit der new perspective gesucht und möchte an dieser Stelle auf folgende Publikationen verweisen: Friedrich Wilhelm Horn, Juden und Heiden. Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen. Ein Gespräch mit Krister Stendahl, in: Bachmann, Paulusperspektive (wie Anm. 3), 17-39; wieder abgedruckt in diesem Band; ders., Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective , in: Friedrich W. Horn / Ruben Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik I, WUNT 238, Tübingen 2009, 213-231; wieder abgedruckt in diesem Band; ders., Rezension zu James D. G. Dunn, The New Perspective on Paul, in: ZRGG 59, 2007, 277-279. 22 Diese deutsche Übersetzung nach Jörg Frey, Das Judentum des Paulus, in: Oda Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe, Tübingen 2006, 5-43, hier <?page no="334"?> 334 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis Im Kontext dieser Textpassage spricht der Lehrer der Gerechtigkeit etliche halachische Einzelbestimmungen kultischer, rechtlicher und ritueller Art an, die einerseits für die Gemeinde und ihr Selbstverständnis und andererseits für die Abgrenzung zur Jerusalemer Muttergemeinde wohl eine fundamentale Rolle spielten. Es geht um Schlachtopfer, Reinheitsgebote, um Fettstücke des Opferfleisches und die Zubereitung der Opfersuppe, um die Asche der geschlachteten Kuh, um den Umgang mit kultischen Gefäßen, Erstlingsabgaben etc. Dieser Text zitiert allerdings nie Textpassagen aus dem Pentateuch, sondern er bezieht sich mit Hilfe der Zitationsformel ‚Es steht geschrieben‘ auf nichtbiblische Rechtssammlungen, die zu der Zeit für die rechtlich-rituelle Praxis offensichtlich strittig waren und möglicherweise eine noch größere Bedeutung hatten als die Vorschriften des Pentateuchs. Es ist für das Verständnis dieser Bestimmungen wohl wesentlich, dass mit diesen Einzelbestimmungen die Abgrenzung der essenischen Gemeinde zur Jerusalemer Muttergemeinde festgehalten wird, das heißt: an den ‚Werken der Tora‘ (= ‚Vorschriften‘/ ‚Praktiken‘) wird die Differenz zweier Gruppen festgeschrieben. Von diesem Text her wurde in der zurückliegenden Paulus-Forschung zunächst Gal 2,16 neu und anders gelesen. In Gal 2,16 resümiert Paulus im Nachklang zum antiochenischen Konflikt: „Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Jesus Christus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes“. Wenn man nun diesen Text nicht isoliert betrachtet, sondern ihn auf die zurückliegenden Diskussionen auf dem Apostelkonvent und in dem antiochenischen Konflikt betrachtet, dann gewinnt auch der Ausdruck ‚Werke des Gesetzes‘ eine andere Färbung. Zur Disposition steht ja eine Grundentscheidung in der Geschichte des frühen Christentums: können Heiden, die sich der christlichen Gemeinde anschließen, in diese aufgenommen werden, ohne dass sie die Inhalte des jüdischen Glaubens, der Tora und der Halacha übernehmen? In den ersten Jahren der Urgemeinde hat sich diese Frage nicht gestellt, da alle Mitglieder der entstehenden Kirche Juden waren und sich wohl selbstverständlich an die Vorgaben der Tora und der Halacha weiterhin gehalten haben. Mit dem Übertritt von Heiden zu den christlichen Gemeinden entsteht die Frage, wie man konkret zusammenleben soll in einer Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen. Die Antworten, die in dieser Hinsicht gesucht werden, 41. Zum Text und seiner Einordnung auch Johann Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer. Band II, München 1994, 361 f. Es handelt sich um einen ‚composite text‘ in drei Teilen, der aus den insgesamt sechs Fragmenten von Elisha Qimron / John Strugnell, Discoveries in the Judean Desert X. Qumran Cave 4.V, Oxford 1994, 44-63, rekonstruiert wurde. <?page no="335"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 335 beziehen sich primär auf Speisefragen, da ja in der alltäglichen und in der sakralen Mahlgemeinschaft Heiden- und Judenchristen zusammenkommen, aber auch auf den Sabbat, auf Reinheitsvorschriften und natürlich auf die Frage der Beschneidung der neu hinzutretenden Heidenchristen. In dem antiochenischen Konflikt (Gal 2,11-14) brechen diese Fragen massiv auf und es kommt zu einer Separation des Paulus von Petrus und Barnabas und weiten Teilen der Urgemeinde. 23 Der zurückliegende Apostelkonvent (Gal 2,1-10) hatte also nicht wirklich zu einer Klärung beitragen können. Die Argumentation des Paulus besagt: Heidenchristen können der christlichen Gemeinde angehören ohne Beachtung der Vorschriften der Tora und der Halacha (vgl. auch 1 Kor 7,19a; 8,4; Röm 14,20). Petrus hat dieser Position wohl anfänglich zugestimmt, ihr dann aber durch sein Verhalten widersprochen. Er pflegte ursprünglich Speise- und Mahlgemeinschaft mit Heidenchristen, hat sich dann aber in Beachtung der rituellen Vorschriften davon wieder zurückgezogen. Paulus formuliert aus dieser Diskussionslage nun den Basissatz: „wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus“ (Gal 2,16). 24 Aber was hat er im Sinn? Die eigenen verdienstlichen Werke? Oder nicht vielmehr die halachischen Bestimmungen? Auch Paulus hat den Gegensatz und die Abgrenzung zweier Positionen im Blick, hier die antiochenische Gemeinde und ihre freiheitlich, nicht halachisch geprägte Haltung, dort die Jerusalemer Urgemeinde. Die Werke des Gesetzes, die Paulus im Blick hat, wären dann Grenzmarkierungen, boundary markers oder identity markers ( James D. G. Dunn), halachische Einzelbestimmungen, die Juden(christen) und Heidenchristen voneinander unterscheiden, nicht aber verdienstliche Werke des Einzelnen im Blick auf sein individuelles Heil. 25 Die Diskussion über diese Frage hat sich in der Folgezeit etlichen anschließenden Fragen gewidmet, die wir hier nicht weiter besprechen müssen. So erkennt Dunn in den ἔργα νόμου halachische Formulierungen, die sich auf ein bestimmtes Verhalten beziehen. Hingegen legt Michael Bachmann, der mehrere Ver- 23 Vgl. Christfried Böttrich, Petrus und Paulus in Antiochien (Gal 2,11-21), BThZ 19, 2002, 224-239. 24 Vgl. Michael Theobald, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28). Eigentum des Paulus oder Gemeingut der Kirche? , in: ders., Studien zum Römerbrief, WUNT 136, Tübingen 2001, 164-225. Theobald entfaltet hier einleitend (164 f.) sein Verständnis von Gal 2,16 und Röm 3,28 als Basissatz der paulinischen Rechtfertigungslehre. 25 James D. G. Dunn, Works of the Law and the Curse of the Law (Gal. 3.10-14), NTS 31, 1985, 523-542; wieder abgedruckt in: ders., Perspective (wie Anm. 3), 111-130, sagt: „And in terms of the preceeding analysis, ‚works of the law‘ are Paul’s way of describing in particular the identity and boundary markers which Paul’s Jewish (-Christian) opponents thought, and rightly thought, were put under threat by Paul’s understanding of the gospel.“ <?page no="336"?> 336 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis öffentlichungen zu diesem Komplex vorgelegt hat, zunehmend Wert auf den Nachweis, dass es überhaupt nicht um menschliche Handlungen geht. „Der Apostel denkt beim Ausdruck ἔργα νόμου an ‚Torah-Praktiken‘, unmissverständlicherweise gesagt: an so etwas wie Halakhot.“ 26 Mit dieser Neuinterpretation werden die Werke des Gesetzes, von denen Paulus in Gal 2,16 spricht, in einen völlig anderen Kontext als bisher gestellt. Es geht demnach nicht mehr um Fragen des Heils des Einzelnen, um verdienstliche Werke und die Not des Gewissens, um die Sündenlehre und die Frage, wie ein gerechter Gott gefunden werden kann, sondern um ein soziologisches oder missionarisches Thema, um die Frage, wie Heiden- und Judenchristen gemeinsam in einer Kirche leben können. Es geht um die Frage, ob dies nur unter Beachtung der Halacha möglich ist oder ob auf diese Vorgabe verzichtet werden darf. Wenn man dieser Interpretation folgt, die zweifelsfrei ein hohes Maß an Plausibilität hat, dann wäre die klassische, am Individuum orientierte lutherische Paulusinterpretation an entscheidender Stelle in Frage gestellt. Ausgangspunkt wäre nicht, wie Krister Stendahl einmal beschrieb, die Gewissensnot des pharisäischen Juden Paulus, der trotz Einhaltung der Forderungen der Tora und der Halacha nicht zur Gerechtigkeit Gottes vordrang, sondern die Not des Missionars Paulus, der einen Weg zur Integration der Heidenchristen ins Gottesvolk suchte. 27 Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass die new perspective m. E. nur die missionarische Ausgangsfrage für Paulus im Blick auf die Heiden angemessen beschreibt, dass Paulus sich in seinen Briefen allerdings zunehmend auf die Beantwortung der Frage hin bewegt, unter welchen anthropologischen und christologischen Voraussetzungen Juden und Heiden die Zusage der Gerechtigkeit empfangen können. Im Römerbrief liegt ihm an dem umfänglich erbrachten Nachweis, dass der als Geschenk gegebenen und im Glauben angenommenen Gnade eine umfassende Sünde aller Menschen korrespondiert. 28 26 Michael Bachmann, Was für Praktiken? Zur jüngsten Diskussion um die ἔργα νόμου, NTS 55, 2009, 35-54. Auch Löhr, Neue Testament (wie Anm. 7), 228, sagt zu Recht, dass die Wendung Werke des Gesetzes „so sehr durch den Begriff des Gesetzes, des νόμος, der Tora, geprägt (ist), dass es nicht möglich ist, statt der ‚Werke des Gesetzes‘ einfach vom Handeln des Menschen zu sprechen.“ 27 Krister Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, in: ders., Paul among Jews and Gentiles and other essays, Philadelphia 1976, 78-96. Der Beitrag geht zurück in das Jahr 1960 und wurde 1960 und 1963 an verschiedenen Orten publiziert (exakte Angaben auf S. 78 Fußnote). 28 Mit Schnelle, Theologie (wie Anm. 20), 236-239, meine auch ich, dass eine Genese der paulinischen Rechtfertigungslehre nachgezeichnet werden kann. Die von der new perspective angesprochenen Fragen gehören zu den Konstitutionsbedingungen. <?page no="337"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 337 4 Werke im Glauben Unbeschadet dieser Entscheidung zu den ἔργα νόμου bleibt natürlich dennoch die Frage, wie Paulus die Werke, oder sagen wir neutraler das Verhalten, die Taten, die ethischen Entscheidungen, die im Glauben vollzogen werden, beurteilt. Hierbei blicken wir auf die vielen Abschnitte in den paulinischen Briefen, in denen Paränese, Paraklese 29 , Ermahnung und Ethik dargelegt wird. Wie ist deren theologischer Stellenwert zu beurteilen? Die Unterteilung dieses ganzen Komplexes in Indikativ und Imperativ, also Textteile, in denen Paulus vom Heil spricht und Textteile, in denen er von einem auf das Heil bezogenen Leben der Christen spricht, hat ungefähr einhundert Jahre lang die Exegese bestimmt. Sie wird allerdings zunehmend in Frage gestellt, weil sie noch ganz im Geist der liberalen Theologie ein theologisches Schema ‚Gabe und Antwort‘, ‚Geschenk und Verpflichtung‘, ‚Indikativ und Imperativ‘ an die Texte heranträgt und diese dabei in ihrer Eigenaussage nicht hinreichend würdigt. 30 Es ist zunächst wichtig, immer die literarischen Kontexte zu beachten, in denen Paulus über das Verhalten der Christen spricht. Eine Aussage über verwerfliche Lebensweisen in einem Lasterkatalog im Galaterbrief (Gal 5,19-21) hat einen anderen literarischen Ort als ein Dank vor Gott über das Werk des Glaubens und die Arbeit in der Liebe und die Geduld in der Hoffnung der Gemeinde im Proömium des 1. Thessalonicherbriefs (1 Thess 1,2-10). In einem Proömium werden die ‚Werke‘ schon von der Gattung her nur gelobt, im Lasterkatalog wird das Verhalten nur angeklagt. Daneben ist die Funktion des Verweises auf die Werke innerhalb der Argumentation zu erkennen. Sie stehen nicht immer in soteriologischen Kontexten. Oftmals haben Werke einfach eine Zeichenfunktion gegenüber der nichtchristlichen Umwelt (so etwa 1 Petr 2,12), sie haben geradezu einen missionarischen Untergrund und sind völlig gelöst von Fragen des Heils des Einzelnen oder der Gemeinde. 31 Schließlich sind theologische Zuordnungen zu beachten, Begründungen und Bezugsgrößen der geforderten Werke, ihr Stellenwert im Glauben und in der geistbegabten Ge- 29 Schnelle, Theologie (wie Anm. 20), 301 Anm. 397, bevorzugt gegenüber Paränese den Begriff Paraklese, da er häufig bei Paulus belegt sei und den Grundansatz der Ethik bei Paulus besser erfasse. 30 Zur Kritik am Indikativ-Imperativ-Schema: Ruben Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132, 2007, 259-284; Horn / Zimmermann, Einführung, in: dies., Jenseits (wie Anm. 21), 1-15; Horn, Darstellung (wie Anm. 21), 218-220. 31 Roman Heiligenthal, Werke als Zeichen. Untersuchungen zu den menschlichen Taten im Frühjudentum, Neuen Testament und Frühchristentum, WUNT II / 9, Tübingen 1983; ders., Soziologische Implikationen der paulinischen Rechtfertigungslehre im Galaterbrief am Beispiel der ‚Werke des Gesetzes‘. Beobachtungen zur Identitätsfindung einer frühchristlichen Gemeinde, Kairos 26, 1984, 38-53. <?page no="338"?> 338 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis meinde, ihr eschatologischer Wert im Gericht, ihr Lohn, ihre Vergeltung. Paulus argumentiert fast durchgehend im Blick auf die gesamte Gemeinde und ist also nicht am Einzelnen orientiert. Allenfalls geht sein Blick auch auf sein eigenes Tun und er fragt, ob sein missionarisches Werk im Gericht Gottes bestehen kann (1 Kor 3,13 f.; 4,5; Phil 2,16 u. a.)? Wir können also nicht in biblizistischer Weise Einzelaussagen zu Werken zusammenstellen, auswerten und dabei vergessen, dass alle Aussagen mehrfach kontextgebunden sind. Daher frage ich: in welchen Kontexten spricht Paulus überhaupt von Werken des Glaubens, von Taten der Christen? 4.1 Der juridische Kontext Zuerst möchte ich den juridischen Hintergrund ansprechen. 32 Er ist fest verbunden mit der Gerichtsvorstellung, die Paulus selbstverständlich mit der ihn prägenden jüdischen Tradition voraussetzt, die aber bereits ‚verchristlicht‘ worden ist, da neben dem Gericht Gottes auch vom Gericht Christi (1 Kor 4,4 f.; 2 Kor 1,14; 5,10; Phil 1,6.10; 2,16) gesprochen wird. 33 Paulus setzt die Gerichtsvorstellung vor allem in fünf Kontexten 34 ein: a. er spricht in den Präskripten und Postskripten seiner Briefe mehrfach vom Tag des Herrn, von dem Gericht an diesem Tag, davon, dass Gott das gute Werk, das er in den Glaubenden angefangen hat, an diesem Tag auch vollenden wird (1 Thess 2,19; 3,13; 1 Kor 1,7-9; Phil 1,6.10 f. u. ö.); b. das Endgericht ist ein fester Bestandteil immer dann, wenn Paulus Polemik gegen seine Gegner betreibt (1 Thess 2,16; 1 Kor 3,17; Gal 1,6-9; Röm 16,20 u. ö.; c. Gerichtsaussagen flankieren die Ethik, oftmals als Motivation, zur Bekräftigung des Ernstes der Mahnung, aber auch im Sinne eines Lohnes (1 Kor 3,12-15; 6,2 f.; Röm 12,19 f. u. ö.; 32 Das Folgende in enger Anlehnung an Schnelle, Theologie (wie Anm. 20), 324-326. 33 Dazu Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK VI / 1, Neukirchen-Vluyn 1978, 127-131, hier der Exkurs: Das Gericht nach den Werken I (Traditionsgeschichtliche Voraussetzungen); Matthias Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor, BZNW 117, Berlin / New York 2003; Löhr, Neue Testament (wie Anm. 7), 223-225. 34 Ernst Synofzik, Art.: κρίμα, TBNT 1, Wuppertal / Neukirchen-Vluyn 1997, 743-753, hier 750: „Doch Paulus verwendet die Gerichtsaussagen in sehr unterschiedlichen formgeschichtlichen und inhaltlichen Zusammenhängen. Sie sind zweifellos integraler Bestandteil seiner Verkündigung.“ Zuvor bereits ders., Die Gerichts- und Vergeltungsaussagen bei Paulus, GTA 8, Göttingen 1977. <?page no="339"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 339 d. Paulus bezieht den Ertrag seines apostolischen Dienstes (ἔργον) auf eine endzeitliche Überprüfung (1 Kor 3,14 f.; 9,24 f.); e. schließlich spricht Paulus in Röm 1,18-3,20 von einem Zorngericht über alle Menschen, Juden und Heiden, dem niemand wegen der faktisch vorhandenen universellen Sünde und des darauf bezogenen Zornes Gottes entrinnen kann. In diesem Zorngericht kommt dann auch der Vorstellung des Gerichts nach den Werken eine besondere Bedeutung zu. Hier finden wir die Schlussfolgerung, Gott werde einem jeden Menschen entsprechend seiner Werke vergelten. Gott werde nicht die Hörer, sondern ausschließlich die Täter des Gesetzes rechtfertigen (Röm 2,13). Bereits in dem etwas älteren 2. Korintherbrief hatte Paulus ähnlich gesprochen: ‚Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi (! ), damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, sei es gut oder böse‘ (2 Kor 5,10; vgl. auch Röm 14,10). Wie aber verhält sich diese Aussage zu der ihr scheinbar entgegenlaufenden Aussage in Röm 3,24: ‚und werden ohne Verdienst (δωρεάν) gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist‘? Paulus hält beide Aussagen zusammen. 35 Das Gericht nach den Werken ist eine für ihn selbstverständlich vorgegebene Anschauung, da Gott eben auch als Richter gedacht wird. Die im Tod Jesu Christi erwirkte Rechtfertigung, die im Glauben angenommen wird, ist jedoch die Grundlage seines ganzen Denkens. Weil es ein Gericht nach den Taten, nach dem Verhalten gibt, ist der Mensch angewiesen auf die durch Christi Tod geschenkte und im Glauben angenommene Rechtfertigung. Ohne diese Rechtfertigung wäre jeder Mensch des Todes schuldig, da alle Menschen in Sünde sind (Röm 3,9). Diese Rechtfertigung schenkt den richterlichen Freispruch, gerade auch angesichts des Wissens darum, was ein jeder während seines Lebens getan hat. Die Werke, die verdammungswürdig waren, die den Zorn Gottes hervorrufen müssen, aber auch die Werke, die im Glauben getan wurden, Taten der Liebe und der Gerechtigkeit, die Lob nach sich ziehen, diese alle können wohl konstatiert werden, sie begründen allerdings nicht das Urteil Gottes. Im Glauben wird das Urteil der Gnade angenommen. Die Werke, seien sie gut oder böse, spielen daher im Gericht keine Rolle, sie sind damit aber nicht abgewertet. Ulrich Wilckens hat ein weit verbreitetes Missverständnis des christlichen Glaubens angesprochen, das einer falschen Auslegung der paulinischen Rechtfertigungslehre als grundsätzlicher Kritik von Tat und Leistung in schändlicher Weise Vorschub leiste: „Das paulinische Evangelium ist in seinem Kern keineswegs Werk-feindlich. Der Glaube, den Paulus verkündet und zu dem er ruft, enthält keineswegs eine ursprüngliche, tiefwirksame Ver- 35 Vgl. Wilckens, Römer (wie Anm. 33), 142-146, hier der Exkurs: Das Gericht nach den Werken II (Theologische Interpretation). <?page no="340"?> 340 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis neinung aller Aktivität des Menschen, dem Guten in der Welt Bahn zu brechen und dem Bösen zu wehren.“ 36 4.2 Der sakramentale Kontext Ein zweiter Komplex, den ich hier ansprechen möchte, betrifft Missverständnisse, die Paulus möglicherweise selbst verursacht hat, die teilweise bewusst in verzerrender Weise an ihn herangetragen worden sind. Sie beziehen sich auf sein Taufverständnis, auf die sakramentale Grundlage seiner Theologie. ‚Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde‘? (Röm 6,1). Das ist eine rhetorische Frage, die sich auf einen handfesten Vorwurf bezieht, den man Paulus gemacht hat und den er im Römerbrief zu Beginn seiner Ausführungen in Kap. 6 aufnimmt. 37 Wir wissen nicht exakt, wer für diesen Vorwurf verantwortlich ist. Wahrscheinlich handelt es sich um Paulus-Gegner mit einem judenchristlichen Hintergrund, die ihn ab dem Apostelkonvent auf seinen Missionsreisen begleiten und in seinen Gemeinden gegen Paulus auftreten. Sie begegnen uns in Korinth (2 Kor 11,22 f. u. ö.), in Galatien (Gal 6,12 f. u. ö.), in Philippi (Phil 3,2 u. ö.), werden in Rom erwartet (Röm 16,17-20) und sie werden zuletzt in Jerusalem gegen Paulus aktiv (Apg 21,28), als er die Kollekte für die Urgemeinde übergeben möchte. Paulus hatte ein Taufverständnis gelehrt, demzufolge der Täufling in und durch die Taufe abgewaschen, gerechtfertigt und geheiligt ist (1 Kor 1,30; 6,11) und in die Christusgemeinschaft, den Christus-Leib überführt wird (Gal 3,27). Der Täufling hat also einen Status- Wechsel und einen Ortswechsel vollzogen. Paulus spricht zudem von der Taufe als von einem Tod, den der Täufling der Sünde gegenüber stirbt (Röm 6,1-11). Im Hintergrund steht nicht nur die Parallelisierung, dass der Täufling in der Taufe mit Christus stirbt und zum Leben kommt, sondern möglicherweise auch 36 Wilckens, Römer (wie Anm. 33), 145. Löhr, Neue Testament (wie Anm. 7), 219, weist überzeugend darauf hin, dass auch Röm 4,5 nicht als Beleg für die „prinzipielle Passivität des Menschen gegenüber Gott und in Bezug auf sein Heil“ bewertet werden kann. Paulus hat bei μὴ ἔργαζομένῳ denjenigen im Blick, der die ἔργα νόμου nicht tut, der deshalb ἀσεβής ist. 37 Die Kommunikationssituation ist durch dialogische Elemente gestaltet, in die ein oder mehrere fiktive Gesprächspartner einbezogen werden. Die Unterscheidung zwischen der Kommunikation ersten Grades (mit den Adressaten des Briefs) und der Kommunikation zweiten Grades (mit jüdischen oder judenchristlichen Gegnern) ist zu beachten. Michael Theobald, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 70-74, exemplifiziert diese Gesprächssituation explizit auf Röm 6,1 ff. und stellt fest: „Erstens zeigt ein Großteil der von Paulus formulierten Einwände und Fragen, dass sie inhaltlich alle aus einer ‚Ecke‘ stammen, also wirklich eine Position umreißen, mit der Paulus im Blick auf Jerusalem konkret rechnen musste […]; zweitens dürften seine Adressaten um die mit jener Position verbundene Kritik der paulinischen Theologie gewusst haben“ (72). <?page no="341"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 341 der jüdische Grundsatz, dass die Sünde über einen Menschen nur solange Macht hat, wie er lebt. Ist der Täufling jedoch mit Christus gestorben, wie soll die Sünde Macht über ihn haben? Aus dieser Vorgabe erwächst nun möglicherweise der Vorwurf: dann können wir in der Sünde bleiben, damit die Gnade noch größer werde (Röm 6,1). Oder: wir können Einzelverfehlungen begehen, die Gnade ist immer größer. Wenn der Christ gestorben ist, dann ist sein alter Leib völlig indifferent. Dieser an Paulus gerichtete Vorwurf unterliegt einem grundsätzlichen Missverständnis. Der Mensch würde gespalten in den getauften, gerechtfertigten und geheiligten neuen Menschen einerseits und in einen alten Menschen andererseits, der in seinen Sünden bleibt, dessen eigentliches Ich jedoch ausschließlich der neue Mensch ist. Paulus hat seinerseits mit solchen Gegensatzpaaren gearbeitet: alt und neu, leben und sterben, einst und jetzt, innen und außen etc. Wie sind sie zu interpretieren? Gegenüber allen Missverständnissen beschreibt Paulus in Röm 6 ausführlich und unter Verwendung unterschiedlicher Bildbereiche und Metaphernfelder das neue Leben der Getauften als ein solches, das dadurch gekennzeichnet ist, die Glieder des eigenen Körpers nicht der Sünde zur Verfügung zu stellen. 38 Da begegnet einerseits das Bild der Kriegs- und Kampfesmetaphorik: Waffen werden in Röm 6,13 genannt (auch Röm 13,12). Sodann das Bild der Sklaven und der Knechte: befreit von, in Knechtschaft für, beherrscht werden von. Der Text Röm 6,12-23 ist von dem Gegensatz Ungerechtigkeit - Gerechtigkeit durchzogen. Allein fünf Mal begegnet das Wort Gerechtigkeit, mit dem Paulus auf eine oftmals vergessene Seite der Rechtfertigungslehre, nämlich das gerechte Verhalten der Getauften aufmerksam macht. Diese richten ihr Leben zur Gerechtigkeit hin aus oder, wie Paulus sagt, werden Knechte für die Gerechtigkeit, sind ihr gegenüber gehorsam, stellen die Glieder ihres Körpers, Hände, Füße, Zunge, Augen, der Gerechtigkeit zur Verfügung. Selbstverständlich würde Paulus diese Taten der Gerechtigkeit auch als Werke im Glauben ansprechen. Freilich sind diese Werke im Glauben völlig abgelöst von den Fragen, ob sie im Endgericht nochmals angesprochen werden, ob sie einen Lohn erwarten dürfen oder ob sie beurteilt werden. Worin diese Werke im Glauben vornehmlich bestehen, das würde jetzt ein Durchgang durch die Paulusbriefe erweisen. Als Zentrum aller Mahnungen scheint mir die Liebe als Nächstenliebe unangefochten. Dies zeigt etwa ihre Stellung am Kopf eines Tugendkatalogs (Gal 5,22), ihre Gleichsetzung mit dem Gesetz Christi (Gal 5,14; 6,2), ihre Bewertung als Zusammenfassung des Gesetzes 38 Theobald, Römerbrief (wie Anm. 37), 78, warnt davor, die reiche Metaphorik im Römerbrief „unterschiedslos dem ornatus zuzuweisen, also dem Schmuck der Rede. Vielmehr besitzen sie des öfteren […] sinnstiftende und sprachschöpferische Funktionen; sie geben zu denken auf, was sich nicht anders sagen lässt“. <?page no="342"?> 342 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis (Röm 13,9; Gal 5,14), ihre Rückführung auf Gottes Unterweisung (1 Thess 4,9) oder ihre literarische Verdichtung in dem Enkomion in 1 Kor 13. Aber auch all das, was Paulus in Gal 5,22 f. als Frucht des Geistes anspricht, nämlich Liebe, Freude, Friede, Langmut, Milde, Güte etc., all das zählt auch zu diesen Früchten oder Werken des Glaubens. Werk ist immer gedacht als Lebensäußerung des getauften Christen, der im Geist Christi lebt, nicht aber als verdienstvolle Tat, die dieser Mensch aus seinen Möglichkeiten heraus vollbringt. Es fällt natürlich auf, dass Paulus diese Werke, also Lebensäußerungen der Christen, weitgehend abkoppelt von den Forderungen der Tora. Selbst im 1 Kor, in dem er aufgrund der anstehenden sexualethischen Fragen hinreichend Orientierung in der Tora hätte finden können, bezieht er sich nicht darauf. Gleichzeitig erscheint es mir nicht angebracht, alle ethischen Aussagen des Paulus in seinen Briefen als Werke im Glauben, als Frucht des Geistes zu interpretieren. Es gibt einen weiten Bereich von Mahnungen, die Paulus selbstverständlich mit seiner jüdischen und paganen Umwelt teilt und die er auch als Apostel weitergibt, ohne sie direkt mit Jesus Christus in Verbindung zu bringen. Dazu gehört etwa die Mahnung, dem heidnischen Staat untergeordnet zu sein, da dieser Staat von Gott eingesetzt ist (Röm 13,1-7). Diese Sicht war bereits im Judentum des zweiten Tempels selbstverständlich und bedurfte keiner wirklichen Begründung mehr. 4.3 Die Heiligung der Gemeinde Abschließend möchte ich auf einen dritten Komplex zugehen, der in der Frage der Werke des Glaubens unbedingt zu beachten ist, nämlich auf den Kontext der Heiligungsthematik. Hierbei nehme ich auf jüngere Forschungen zu Paulus Bezug, die eine völlig veränderte Perspektive von diesem Komplex her auf die Frage der ‚Werke‘ aufgezeigt haben. Traditionell sind wir auch in der protestantischen Theologiegeschichte durch einen ethisierten Heiligungsbegriff geprägt und verstehen Heiligung als die Art und Weise, wie getaufte Christen leben, was ihren Alltag prägt, was ihre Ethik bestimmt. Wir verbinden die Heiligungsthematik vorwiegend mit Fragen der Sexualethik, der innerweltlichen Askese von Besitz und Reichtum, auch mit Formen der individuellen Frömmigkeit, die sich graduell, aber doch signifikant vom Verhalten anderer Christen und der paganen Umwelt unterscheiden mag. Heiligung erscheint uns als ein Weg, ein Prozess, auf dem sich Christen befinden. Heiligung ist, so die traditionelle und gegenwärtig immer noch weithin bestimmende Lesart, die Folge der Rechtfertigung. Von einem solchen Verständnis unterscheidet sich Paulus grundlegend. Heiligung ist für ihn keinesfalls primär mit Fragen der Ethik verknüpft. Heiligung <?page no="343"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 343 ist vielmehr, wie es die neuere Arbeit von Eckart Schmidt eindrücklich zeigt, ein vorethischer Begriff. 39 Wir haben bereits gesehen, dass nach 1 Kor 1,30; 6,11 die Taufe den Stand der Heiligkeit vermittelt. Beide Aussagen wirken traditionell und gehören in die frühpaulinische Theologie, liegen also hinsichtlich ihrer Genese noch vor dem 1. Korintherbrief. 40 Sodann fällt auf, dass in den meisten Präskripten der paulinischen Briefe die Gemeinden als Heilige angesprochen werden (Röm 1,7; 1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1; Phil 1,1). Dies ist geradezu ein Prädikat der urchristlichen Gemeinden. Die christliche Gemeinde wird mehrfach parallelisiert mit dem heiligen Bauwerk überhaupt, mit dem Tempel (1 Kor 3,16; 6,19). 41 Sie ist der Tempel des Heiligen Geistes. Vor allem aber muss hier ein Blick in den frühesten Brief des Paulus, den 1. Thessalonicherbrief geworfen werden, der wie kein anderer Brief von der Heiligkeitsthematik geprägt ist. Der Wortstamm ἅγιος κτλ begegnet vielfach und im Verhältnis zu den übrigen Paulusbriefen und zum übrigen Neuen Testament überdurchschnittlich gehäuft: ἁγιάζω (1 Thess 5,23), ἁγιασμός (1 Thess 4,3.4.7), ἅγιος (1 Thess 1,5.6; 3,13; 4,8; 5,26.27), ἁγιωσύνη (1 Thess 3,13). Nicht alle Belege sind jetzt zu analysieren. Daher greife ich einige wenige Stellen heraus, um das Heiligkeitskonzept des 1 Thess zu verdeutlichen. Dieser früheste Brief des Paulus, das älteste Schriftstück mithin im Neuen Testament überhaupt, geschrieben um 50 n. Chr. in Korinth, steht unter einer noch drängenden Naherwartung der Parusie des Herrn Jesus (1 Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23). In dieser Parusie wird Christus als auf den Wolken kommend, in Begleitung der Engel (ἅγιοι genannt) geschildert (1 Thess 3,13; 4,16). Wie kann, wie darf man dem Kyrios begegnen? Wie darf man ihm - oder allgemeiner gesagt - der himmlischen Welt begegnen? Dies ist eine Grundfrage jüdischer, ja antiker Theologie. 42 In jüdischer Theologie tragen die vielfältigen Vorschriften und Verhaltensanweisungen der Besonderheit jeder Begegnung mit dem Heiligen Rechnung. Wer den Tempel in Jerusalem betreten will und aus dem Ausland kommt, muss zuvor Waschungen übernehmen. Innerhalb des Tempels gibt es ein abgestuftes 39 Eckart David Schmidt, Heilig ins Eschaton. Heiligung und Heiligkeit als eschatologische Konzeption im 1. Thessalonicherbrief, BZNW 167, Berlin / New York 2010. 40 Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, GTA 24, Göttingen 1983, 34-53. 41 Vgl. zu den tempeltheologischen Aussagen: Friedrich Wilhelm Horn, Paulus und der Herodianische Tempel, NTS 53, 2007, 184-203, vor allem 186-192; wieder abgedruckt in diesem Band; Albert L. A. Hogeterp, Paul and God’s Temple. A Historical Interpretation of Cultic Imagery in the Corinthian Correspondence (Biblical Tools and Studies 2), Leuven 2006. 42 Martin Vahrenhorst, Kultische Sprache in den Paulusbriefen, WUNT 230, Tübingen 2008. <?page no="344"?> 344 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis System der Heiligkeit, dem eine Zulassungsberechtigung für ausgewählte Gruppen korrespondiert. Allein dem Hohenpriester ist der Zutritt ins Allerheiligste an einem Tag im Jahr erlaubt. Wie in konzentrischen Kreisen nimmt der Grad der Heiligkeit vom Allerheiligsten über die Bereiche des Tempels, die Stadt Jerusalem, das Land Israel ab. Gott ist heilig, der himmlische Hofstaat ist heilig, wie darf man sich ihm nahen? Wie darf man dem Kyrios in seiner Parusie in Begleitung der Engel begegnen? Zur Frage, wie man dem Kyrios begegnen soll, sagt 1 Thess 3,13, dass ‚eure Herzen gestärkt werden und untadelig seien in Heiligkeit vor Gott […], wenn unser Herr Jesus Christus kommt mit allen seinen Heiligen‘. Das Kriterium für die Begegnung lautet ἄμεμπτος εἴναι (1 Thess 2,10; 3,13; 5,23; vgl. auch Phil 2,15), ein Kriterium, das auch im Judentum seinen religiösen Stellenwert hatte (Lk 1,6; Phil 3,6). Die Berufung hat die Gemeinde in den Stand der Heiligkeit versetzt (1 Thess 4,7 f.) 43 , den sie bewahren soll bis zu dem unmittelbar bevorstehenden Zeitpunkt der Parusie (1 Thess 5,23). In 1 Thess 4,13-18 wird die Parusie des Christus nicht mit einem Gericht an den verstorbenen und lebenden Glaubenden verknüpft. Sie werden dem Kyrios als Heilige begegnen. Alle ethischen Weisungen sind in diesem Denken dem Stand der Heiligkeit nachgeordnet, also dazu angetan, in diesem zuvor geschenkten Stand der Heiligkeit zu verbleiben, nicht aber Aufforderungen, in diesen Stand einzutreten. Die Ethik ist der geschenkten, mit der Gabe des Geistes verbundenen Heiligkeit streng nachgeordnet. Wie aber wird, so möchte man fragen, jeder Christ diese Heiligkeit in der verbleibenden kurzen Zeit bis zur Parusie bewahren können? Auffällig ist der parakletische Aspekt, dass Gott selbst die Geheiligten leitet und ihnen gegenwärtig den Geist gibt. 44 Daher spielt die Unmittelbarkeit der Belehrung durch Gott zur Bruderliebe in 1 Thess 4,9 eine wesentliche Rolle (θεοδίδακτοί ἐστε). Im Schlussgruß schreibt Paulus: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“ (1 Thess 5,23). Da Gott selber das Verhalten der Christen bis zur Parusie leitet und steuert, ist die Gerichtsvorstellung im 1 Thess im Blick auf Christen weitgehend reduziert, im Blick auf die nichtchristlichen Menschen allerdings aufrechterhalten. 45 Dieser Ansatz ist freilich nicht auf den frühesten Paulusbrief beschränkt, sondern begegnet ebenfalls im späteren Philipperbrief, der zwar gleichfalls noch 43 Zur Auslegung von 1 Thess 4,7: Friedrich Wilhelm Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, FRLANT 154, Göttingen 1992, 123-127. 44 In der Regel spricht Paulus von der zurückliegenden, wohl mit der Taufe oder der Konversion erfolgten Geistübermittlung. In 1 Thess 4,8 hingegen verweist das Partizip Präsens διδόντα auf eine gegenwärtige, wohl auch sich wiederholende Gabe hin. 45 Konradt, Gericht (wie Anm. 33), 187-196. <?page no="345"?> Kennt Paulus auch Werke im Glauben? 345 von der Parusieerwartung bestimmt ist, diese aber doch in ein anderes Koordinatensystem integriert. Die Aufforderung, untadelig und rein zu sein im Blick auf den kommenden ‚Tag Christi‘ (Phil 1,10; 2,14-16), kehrt wieder und sie wird auch hier begleitet von der parakletischen Zusage, dass Gott selber für die Vollendung des Status der Heiligkeit bis zum Gerichtstag eintreten wird (Phil 1,6; vgl. aber auch 1 Kor 1,8; 2 Kor 1,21 f.). Daher darf auch das auslegungsgeschichtlich und kontroverstheologisch brisante Wort Phil 2,12 f. nicht außerhalb dieses Kontextes interpretiert werden. 46 5 Fazit Es ist deutlich geworden, dass Paulus die Worte ἔργον bzw. ἔργα und ἐργάζεσθαι in einem breiten Spektrum verwendet. Dieses darf keinesfalls auf die Bedeutung guter oder gar verdienstlicher Werke eingeengt werden. Nicht einmal das Syntagma ἔργα νόμου deckt dieses Verständnis zweifelsfrei ab, auch wenn die Auslegungsgeschichte dies mehrheitlich so gesehen hat. Spricht Paulus über Werke, die im Glauben geschehen oder die Ausdruck des Glaubens sind, so sind die jeweiligen Kontexte solcher Rede zu beachten, wenn man den theologischen Stellenwert dieser Werke erkennen will. Mit der hermeneutisch bestimmend gewordenen Zuordnung von Indikativ und Imperativ ist die Vielfalt der Motive und der Begründungsstrukturen solcher Werke in ihrer Komplexität nicht hinreichend zu erfassen. Der in diesem Beitrag gebotene Hinweis auf drei maßgebliche Kontexte, den des Gerichts, des Sakraments und der Heiligung, soll helfen, einen Zugang zu einem differenzierten Verständnis der Werke im Glauben zu finden. 46 Ausführlich diskutiert Ulrich B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11 / I, Leipzig 1993, 114-117, diesen Text und geht dabei auch auf die kontroverstheologischen Probleme ein. Auch das im Anschluss an diesen Text argumentierende moderne Paradox-Christentum findet in seiner Auslegung eine kritische Berücksichtigung. Ohne seine eigene Auslegung hier vollständig wiedergeben zu wollen, sei sein Fazit zitiert: „Wie Gott das Wollen bewirkt, so auch das Wirksamsein des Christseins der Gemeindeglieder, d. h. die Bewährung in der Vollendung (1,6). Dies hat einen sehr tröstlichen Aspekt, da die Christen davon entlastet sind, ihr Heil selbst zu erarbeiten.“ <?page no="346"?> 346 Wollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken? Wollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken? * Paulus ist in der Literatur oftmals der Gründer oder Stifter des Christentums genannt worden. 1 Wäre diese Einschätzung richtig, dann müsste die Frage, ob Paulus wissentlich ‚kanonisch‘ wirken wollte, ob er also die einzige Norm christlicher Theologie setzen wollte, selbstverständlich mit Ja beantwortet werden. Meiner Meinung nach aber ist diese Etikettierung im Blick auf eine Religionsstiftung unzutreffend, sowohl was die historischen Umstände angeht als auch, was den Selbstanspruch des Apostels betrifft. Es war nicht die Absicht des Paulus, eine sich vom Judentum separierende und in der Folge getrennte neue Religion zu stiften. Wirkungsgeschichtlich allerdings ist aus heutiger Sicht die Entstehung einer heidenchristlichen Kirche, die in ihrem Selbstverständnis durch grundlegende Brüche mit dem Judentum des zweiten Tempels gezeichnet ist, ohne Paulus nicht denkbar. Seine Briefe, die in den Gemeinden gelesen, aufbewahrt und zu ersten Sammlungen verbunden wurden, hatten eine Identität stiftende Wirkung für das entstehende Christentum und stellten den Grundstock und maßgeblichen Teil des neutestamentlichen Kanons dar. 2 Überdies gilt zu bedenken, dass die angeführte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich etablierende Etikettierung als Religionsstifter wissenschaftsgeschichtlich in einem Kontext steht und ihm verhaftet ist, der in hohem Maße von der Idee des religiö- 1 Diese These wird in der Literatur seit dem 19. Jh. beständig diskutiert; vgl. dazu F. W. Horn, Ist Paulus der Begründer des Christentums? , in: H. Deuser / G. Linde / S. Rink (Hgg.), Theologie und Kirchenleitung, Festschrift Peter Steinacker, MThSt 75, Marburg 2003, 31-44; wieder abgedruckt in diesem Band. Zuletzt hat G. Lüdemann, Paulus, der Gründer des Christentums, Lüneburg 2001, vor allem 199-216, diese Sicht, in Paulus den Gründer des Christentums zu sehen, aufgenommen, allerdings ohne Bezug auf den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der Entstehung dieses Attributs (s. u. Anm. 3). U. Schnelle, Die theologische und literarische Formierung des Urchristentums, in: F. W. Graf / K. Wiegandt, Die Anfänge des Christentums, Frankfurt 2009, 181, formuliert: „Paulus ist nicht der Begründer, wohl aber der maßgebliche Former des Christentums.“ Hierbei bezieht Schnelle sich darauf, dass Paulus „ als Erster jene unausweichlichen Aporien im Verhältnis zum Judentum zur Kenntnis nehmen [musste], mit denen sich das formierende Christentum immer stärker konfrontiert sah.“ (182) 2 P. L. Schmidt, Art.: Brief 2. Griechenland und Rom, DNP 2 (1997), 774 f., 774, spricht im Blick auf die paulinischen und deuteropaulinischen Briefe von einem tragfähigen und gattungsprägenden Instrument des jungen Christentums für die Homogenisierung der Ökumene in Verkündigung und Lehre, Erbauung und kirchlicher Disziplin. * Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Wollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken? “, in: Eve-Marie Becker / Stefan Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch. Berlin / Boston: Walter de Gruyter, 2012, S. 400-422. <?page no="347"?> Wollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken? 347 sen Genies und folglich des Religionsstifters abhängig ist, der die überkommene alte Religion vollständig überwindet und Neues schafft. 3 Die problematischen Auswirkungen dieser Einschätzung im Blick auf den jüdischen Kontext des Paulus sind heute deutlich. Gleichwohl erkennen wir in den Briefen des Paulus fraglos kanonische, d. h. Norm setzen wollende Ansprüche. Bereits eine eher flüchtige Lektüre der Paulus-Briefe offenbart einen extremen Dominanzanspruch des Apostels, sowohl seiner Person als auch seiner Theologie. „Ich wollte zwar lieber“, sagt er, „alle Menschen wären, wie ich bin, aber jeder hat seine eigene Gabe von Gott, der eine so, der andere so“ (1 Kor 7,7). Er bindet die von ihm gegründeten christlichen Gemeinden exklusiv an seine Person und fordert sie auf, ihn nachzuahmen (1 Kor 11,1; 1 Thess 1,6) bzw. ihn und alle, die so leben wie er (Phil 3,17). Und er fragt, ob er mit dem Stock nach Korinth kommen soll oder mit Liebe und sanftmütigem Geist (1 Kor 4,21). Die von seiner Theologie abweichenden Interpretationen des Evangeliums werden bisweilen scharf attackiert und als anderes Evangelium, das jedoch keines sei, angegriffen. Diejenigen Apostel, die diese Lehre vertreten, werden im Exordium des Galaterbriefs verflucht, also mit dem Anathema belegt, wer immer sie auch seien, selbst wenn es sich um seine eigene Person oder um einen Engel im Himmel handle (Gal 1,6-8). Um seine Gegner innerhalb der christlichen Gemeinde und innerhalb der jüdischen Gemeinde herabzusetzen, sich ihrer zu entledigen und seine eigene Botschaft als verbindlich zu erweisen, spart Paulus nicht mit Polemik, mit Invektiven, mit ausfallenden Bemerkungen: Hunde, böse Arbeiter, Verschnittene, Pseudoapostel, Feinde aller Menschen. Man könnte diese Liste leicht fortsetzen. Natürlich hat solche Polemik einen Stellenwert im rhetorischen Arsenal. Sie zielt darauf, die vermeintlichen Gegner zu überführen und sie bloßzustellen und gleichzeitig die eigene Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Von einer Kanonbildung im eigentlichen Sinn, also einer Zusammenstellung von normativen Texten, die geeignet sind, das Zeichensystem einer Religion immer wieder zu rekonstruieren und durch Auslegung für eine Gemeinschaft bewohnbar zu machen, sind wir im Blick auf Paulus noch einige Generationen entfernt. 4 Ich bin nicht der Meinung, dass Paulus seine Briefe bereits bewusst 3 Vieles von dem, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Persönlichkeitsideal als Kategorie für das Verständnis Jesu zusammengetragen wurde (Held, Genie, Persönlichkeit, Überlegenheit, Geschichtsmächtigkeit), lässt sich problemlos auch auf das seinerzeit entworfene Paulusbild übertragen; vgl. hierzu die Ausführungen von G. Theißen / D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg (CH)/ Göttingen 1997, 42-68. 4 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 339-384; O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen / Basel 2004, 65-80. <?page no="348"?> 348 Wollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken? gesammelt und als von ihm autorisierten Kanon den Gemeinden hinterlassen hat. Oda Wischmeyer hat in ihrer Hermeneutik des Neuen Testaments die sich ausbildenden Kriterien der altkirchlichen Kanonizität besprochen, nämlich Apostolizität, die Übereinstimmung mit der regula fidei und den Gebrauch bestimmter Schriften in den Gemeinden. Ich möchte in diesem Beitrag zeigen, dass bereits bei Paulus ein deutliches Insistieren auf bestimmte Sachentscheidungen vorliegt, in denen leitende Aspekte desjenigen Prozesses angelegt sind, der zur altkirchlichen Kanonizität führte. Dies möchte ich an wenigen, aber durchaus wegweisenden Einzelbeobachtungen nachweisen. Zunächst werde ich auf die begriffsgeschichtliche Verwendung des Wortes κανών in den Paulusbriefen eingehen. Zweitens möchte ich kurz und eher referierend auf die Diskussion der These einer Autorenrezension der paulinischen Briefe zu sprechen kommen. Drittens soll das Anathema über die von der paulinischen Verkündigung abweichende Position eines anderen Evangeliums im Exordium des Galaterbriefs besprochen und abschließend der Stellenwert der sog. Nicht-Einmischungsklausel in fremdes Missionsgebiet im Römerbrief betrachtet werden. Dass im Kontext der Fragestellung auch ein ausführlicher Blick auf die Person des Paulus 5 und ihre Relation zum Auftrag der Evangeliumsverkündigung, also dem Apostolat 6 , auf das Verhältnis zu anderen Aposteln wie Petrus 7 , auf die engeren Mitarbeiter 8 , die Gemeinden 9 und vor allem auf die Gegner des 5 Dieses Thema der Person des Paulus und seiner Persönlichkeit in ihrer kulturgeschichtlichen Wirkung wurde lange im übermächtigen Schatten der Theologie des Paulus vernachlässigt; vgl. jetzt aber E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005; E.-M. Becker, Die Person des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe, Tübingen / Basel 2006, 107-119; O. Wischmeyer, Paulus als Ich-Erzähler. Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus, WUNT 173, Tübingen 2004, 289-307.; B. J. Malina / J. H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville 1996. 6 Y. S. Choi, „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ Die paulinischen Peristasenkataloge und ihre Apostolatstheologie, NET 16, Tübingen 2010. 7 C. Böttrich, Petrus und Paulus in Antiochien (Gal 2,11-21), in: BThZ 19 (2002), 224-239; ders., Petrus. Fischer, Fels und Funktionär, BG 2, Leipzig 2001;