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Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters

XXIII. Anglo-German Colloquium, Nottingham 2013

0911
2017
978-3-7720-5625-3
978-3-7720-8625-0
A. Francke Verlag 
Henrike Lähnemann
Nicola McLelland
Nine Miedema

Die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten ist ein Kernbereich mittelalterlicher Lebenswirklichkeit. Die deutsche Literatur kann dabei entscheidende Einblicke geben, wie sich das Feld des Lehrens, Lernens und Bildens vom 8. bis 16. Jahrhundert entwickelt. Theoriegeleitetes Wissen und praxisbezogene Handlungsanweisungen werden nicht nur in im engeren Sinne didaktischen Texten vermittelt. Lehrhaftes Sprechen und der Anspruch, lêre und bilde zu bieten, ist ein Grundprinzip auch der erzählenden Texte, der Lyrik und der Spiele. Die hier versammelten Beiträge des XIII. Anglo-German Colloquium in Nottingham (2013) geben somit einen faszinierenden Einblick in das ganze Spektrum mittelalterlicher Wissensvermittlung im Spannungsfeld schriftlicher und mündlicher Traditionen.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8625-0 ISBN 978-3-7720-8625-0 Die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten ist ein Kernbereich mittelalterlicher Lebenswirklichkeit. Die deutsche Literatur kann dabei entscheidende Einblicke geben, wie sich das Feld des Lehrens, Lernens und Bildens vom 8. bis 16. Jahrhundert entwickelt. Theoriegeleitetes Wissen und praxisbezogene Handlungsanweisungen werden nicht nur in im engeren Sinne didaktischen Texten vermittelt. Lehrhaftes Sprechen und der Anspruch, lêre und bilde zu bieten, ist ein Grundprinzip auch der erzählenden Texte, der Lyrik und der Spiele. Die hier versammelten Beiträge des XXIII. Anglo-German Colloquium in Nottingham (2013) geben somit einen faszinierenden Einblick in das ganze Spektrum mittelalterlicher Wissensvermittlung im Spannungsfeld schriftlicher und mündlicher Traditionen. Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters XXIII. Anglo-German Colloquium Nottingham 2013 Henrike Lähnemann · Nicola McLelland Nine Miedema (Hrsg.) Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters XXIII. Anglo-German Colloquium Nottingham 2013 <?page no="2"?> Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters <?page no="4"?> Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema (Hrsg.) Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters XXIII . Anglo-German Colloquium, Nottingham 2013 <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany Satz: pagina GmbH, Tübingen ISBN 978-3-7720-5625-3 <?page no="6"?> Auf Deutsch lehren 5 Inhaltsverzeichnis Einleitung Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Einleitung . 9 Grundlagen der Lehre Christoph Huber Lehre, Bildung und das Fiktionale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp Wie lernt der Mensch? Anthropologische Betrachtungen der Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen in lateinischen und deutschen Texten des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . 37 Stephen Mossman Wie lernte man aus der Predigt? Zur Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter, ausgehend von der Zitatensammlung der Berliner Handschrift Ms. germ. quart. 191 . . . . . . . . . . . . . . . 55 Timothy R. Jackson Nu wil ich schreiban unser heil James Ussher und die Verwendung der altdeutschen Literatur im Dienst der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Bildung und Textaneignung Alderik H. Blom Die Altalemannischen Psalmenfragmente Zur Struktur, Interpunktion und Pragmatik einer althochdeutschen Interlinearversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Nikolaus Henkel Vergil lesen Thomas Murners Aeneis -Übersetzung als Weg zur Lektüre eines lateinischen Klassikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Sarah Bowden Auf Deutsch lehren Deutsch und Latein in ausgewählten frühmittelhochdeutschen Texten . . . . . . . . . 127 <?page no="7"?> 6 Inhaltsverzeichnis Nigel Harris Lehren und Bilden in den Schriften eines spätmittelalterlichen ‚Machtmenschen‘ Bischof Ulrich II . Putsch von Brixen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Meditation und Gebet Annette Gerok-Reiter Gestufte Lehre Thema und Variation bei Mechthild von Magdeburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Stefan Matter Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte im Spannungsfeld von Liturgie und Privatandacht Zu Formen des Laienstundengebetes im deutschsprachigen Mittelalter . . . . . . . . . 171 Anne Simon Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung im spätmittelalterlichen Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Nigel F. Palmer Bildung durch Gebet Meditation und der Aufbau des inneren Menschen im Straßburger Begerin- Gebetbuch um 1480 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Wissenstransfer Sandra Linden Lieben lernen? Lehrhafte Vermittlung und ihre Problematisierung in Minnereden . . . . . . . . . . . . . 217 Franz-Josef Holznagel apenbar sus lere! Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Annette Volfing Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Fachsprache und Dialog Heike Sahm und Stephanie Schott Geschrei oder Gesang Rosenplüts Beitrag zur Debatte um Leitbilder der Nürnberger Handwerkerdichtung im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 7 Christina Lechtermann Fleiß Übung und Genauigkeit in der Messkunst Heinrich Lautensacks . . . . . . . . . . . . . . 283 Simone Schultz-Balluff Anweisung und Lehre Zur Funktionalisierung von St. Anselmi Fragen an Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Frank Fürbeth Lehrdialoge und Sprichwörter als Formen der Wissensvermittlung in Heinrich Wittenwilers Ring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Reflexion über erzählende Literatur Manfred Kern Buch, Trost und Sorge oder die schwierige Versöhnung von Poesie und Wissen . 345 Gert Hübner † Erzähltes Handeln, kulturelles Handlungswissen und ethischer Diskurs Überlegungen zur Lehrhaftigkeit vormoderner Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Ricarda Bauschke Lernen durch Narration Die Bildung des Artusritters als erzählerische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . 379 Gerhard Wolf Historia magistra vitae? Zur didaktischen Funktionalisierung der Geschichte in der volkssprachigen Chronistik zwischen Annolied und Aventin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 <?page no="10"?> Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters Einleitung Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema Das 23. Anglo-German Colloquium, das vom 4. bis 8. September 2013 in Nottingham stattfand, kreiste um die mittelalterlichen Formen der Weitergabe von Wissen und Kompetenzen, einem Kernbereich mittelalterlicher Lebenswirklichkeit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Colloquiums waren dazu aufgefordert zu untersuchen, wie sich das deutschsprachige Schrifttum im Kontext der lateinischen, zunächst zumeist klerikal gebildeten Praxis des Lehrens, Lernens und Bildens profiliert. Es sollte dabei nachdrücklich nicht nur von der pragmatischen Schriftlichkeit ausgegangen werden: Einbezogen werden sollten auch diejenigen Formen der Lehre, die sich aus den erzählenden Texten, aus der Lyrik und aus der Spiele-Tradition herleiten lassen. Theoriegeleitetes Wissen und praxisbezogene Handlungsanweisungen (‚procedural knowledge‘) bewegen sich im Spannungsfeld schriftlicher und mündlicher Traditionen. Damit konnte die Tagung an die Ergebnisse früherer Anglo-German Colloquia anknüpfen, etwa „Humanismus“ (Hofgeismar 2003) und „Text und Normativität“ (Bonn 2007), sowie an die Newcastler Tagung zu „Dichtung und Didaxe“ (2009). Ermöglicht wurde damit eine Synthese literaturwissenschaftlicher wie auch medien- und sozialgeschichtlicher methodischer Ansätze unter neuer Perspektivierung. Das Colloquium hatte sich die Aufgabe gestellt zu untersuchen, welche eigenen Konturen das zunächst stark von der lateinischen Sprache und den klerikalen Bildungstraditionen geprägte Feld des Lehrens, Lernens und Bildens vom 8. bis zum 16. Jahrhundert speziell in deutschsprachigen Schriften entwickelt, welche Funktionen ihm jeweils zugewiesen werden und welche anthropologischen Modelle des Lehrens, Lernens und Bildens im Mittelalter dominant waren. Gegenstand der Tagungsbeiträge sollte nicht nur die ‚Wissensliteratur im Mittelalter‘ bzw. die ‚Pragmatische Schriftlichkeit‘ im engeren Sinne sein: Lehrhaftes Sprechen bzw. der Anspruch, lêre und bilde zu bieten, ist ein Grundprinzip mittelalterlicher Literatur insgesamt, auch der erzählenden Texte, der Lyrik und der Spiele. Neben den in diesen Schriften vermittelten Wissensbeständen müssen mittelalterliche Reflexionen über die richtigen Formen des Lehrens, Lernens und Bildens einbezogen werden, neben Untersuchungen zu den sich entwickelnden Wortfeldern im Deutschen, speziell zu ‚Bilden‘, ‚Begreifen‘, ‚Lehren‘, ‚Lernen‘, ‚Vermitteln‘ und ‚Verstehen‘, und auch zur Entwicklung von Fachvokabular. Vor einem Kurzdurchgang durch die Schwerpunktsetzung innerhalb des Bandes seien zuerst die vier Felder vorgestellt, die im ursprünglichen Konzept angesprochen waren und die den weiteren thematischen Rahmen für die Beiträge bilden. <?page no="11"?> 10 Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema Wissensgebiete Das institutionalisierte Lehren basiert im gesamten Mittelalter auf den artes liberales , zumindest dem trivium . Der Erwerb der Sprache Latein und die rhetorische Ausbildung dienen einerseits dem Verständnis einer der heiligen Sprachen, als Voraussetzung für ein Leben im Kloster und ein Studium der Theologie, andererseits der Befähigung zur Teilnahme an einer exklusiven, gelehrten Sprachgemeinschaft, die seit dem hohen Mittelalter einen deutlich weiteren Kreis umfasst als den der Geistlichen. Erlernt wird damit nicht nur kognitives (Sprach-)Wissen, sondern, umfassender, ein Habitus, der die literati von den illiterati trennt, wie der Beitrag von Alderik Blom dokumentiert. Die lateinische Rhetorik prägt auch das Lehren und Lernen in den Volkssprachen. Seit dem 12. Jahrhundert ist dieser Habitus des literatus , der seine Gelehrsamkeit demonstriert und seine Kenntnisse anderen weitervermitteln möchte, auch in deutschsprachigen Erzähltexten nachweisbar. Bisher wurde kaum systematisch untersucht, auf welche Wissensgebiete sich die prologtypische Demonstration des gelehrten Autors in der deutschsprachigen Erzählliteratur bezieht. Fach- und Sachkenntnisse im Bereich sowohl der artes liberales und artes mechanicae als auch der universitären Fächer wie Theologie, Recht und Medizin bleiben lange denjenigen vorbehalten, die die lateinische Sprache beherrschen. Sarah Bowden zeigt systematisch für frühmittelhochdeutsche Gedichte, wie und seit wann diese Wissensbestände Eingang in die deutsche Sprache finden. Weiterführend fragen mehrere Aufsätze im vorliegenden Band, wie solche Kenntnisse in der erzählenden Literatur aufbereitet werden und welche narrativen wie auch belehrenden Zwecke sie dort erfüllen. Das Augenmerk kann dabei einerseits auf die einzelnen erzählenden Texte gerichtet werden, wie es Ricarda Bauschke macht. Christina Lechtermanns Analyse der Messkunst zeigt dagegen, wie fruchtbar es sein kann, für einzelne Sachgebiete (es wäre auch etwa an Medizin oder Geographie zu denken) textübergreifend auszuarbeiten, welche Schwerpunkte die deutschsprachige Fachliteratur gegenüber den lateinischen Quellen jeweils setzt. Es finden sich zahlreiche Wissensbestände in deutschsprachigen Texten, für die keine Entsprechungen im lateinischen Schrifttum gefunden werden können, wie die Ausführungen etwa von Gerhard Wolf zur deutschsprachigen Historiographie zeigen. Einen eigenen Bereich bilden die deutschsprachigen mystischen Texte, in denen gerade der Status des literatus und damit implizit der Nutzen kognitiven Wissens zugunsten eines intuitiven Erfassens hinterfragt wird. Beiträge wie der von Annette Gerok-Reiter beschreiben, wie sich solche Texte, als eine Art Gegenbewegung gegen die sonst in der deutschsprachigen Literatur zu beobachtende zunehmende Fixierung auf den Erwerb kognitiven ‚Orientierungswissens‘, Freiräume erschaffen, in denen Lernen und Bilden ganz neue Bedeutung erhält. Textsorten und Sprachmodi Im Spannungsfeld zwischen dem Erwerb kognitiven Wissens zum besseren Verständnis der Schöpfung einerseits und dem Vorwurf der curiositas andererseits entwickeln sich im Mittelalter in lateinischer Sprache einzelne Fachtexte und Kommentare, im Hochmittelalter auch Enzyklopädien, die den umfassenden Anspruch einer Beschreibung und Systematisierung aller Wissensbereiche erheben und bald auch ihren Einfluss auf die deutschsprachigen Texte entwickeln. Die Lehrhaftigkeit als Dimension mittelalterlicher Schriftlichkeit beschränkt sich im Deutschen allerdings nicht auf explizit didaktische Texte wie Fürsten- <?page no="12"?> Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters 11 spiegel oder Exempla und Fachliteratur, sondern findet sich auch in erzählenden Texten, die Lehre und Wissensvermittlung auf der inhaltlichen Ebene darstellen (z. B. durch explizite oder implizite Beschreibungen der Erziehung des Protagonisten), sowie im Spiel, insbesondere im geistlichen Spiel. Stephen Mossmans Beitrag zeigt, wie hilfreich es sein kann zu untersuchen, wie Lehre in Kleinformen wie Sprichwort, Gebet oder Brief wirksam wird. Solche Kleinformen sind integrierbar in komplexere Textgebilde wie höfische Romane oder auch Werke wie Wittenwilers Ring , wie Frank Fürbeth zeigt; umgekehrt können Regelwerke auf Wissenssplitter hin ausgewertet werden, die in fiktionale oder allegorische Texte einfügbar sind - ein Wechselspiel zwischen Groß- und Kleinformen von lehrhaftem Schrifttum. Ein besonders wichtiger Ansatz der Tagung war es zu untersuchen, wo unterweisende oder lehrende Modi des Sprechens oder Schreibens in Texten vorkommen, die nicht explizit didaktisch oder sogar explizit nicht didaktisch sind, z. B. in der Entlehnung didaktischer Sprech- oder Schreibweisen in die höfische Epik oder bei Lehrdialogen in Erzähltexten, wie Sandra Linden demonstriert. Ertragreich war auch die Untersuchung des Mehrwertes, der im Mittelalter einer ‚Bildung‘ mittels einer Reflexion über Literatur bzw. über Literarizität zugeschrieben wurde, wie vor allem der einleitende Beitrag von Christoph Huber zeigt. Rezeptionsgeschichtlich stellt sich die Frage, inwieweit Texte, die an sich nicht zur Belehrung konzipiert wurden, in der weiteren Tradition umfunktionalisiert werden, und woran eine solche Umfunktionalisierung festzustellen ist. So können mystische Texte oder Visionen, auch wenn sie ohne belehrende Intention verfasst worden waren, zum Ausgangspunkt von Andachtsanweisungen in geistlichen Texten werden und neue Andachtsformen generieren, die in einer Schulung der Achtsamkeit das Verhalten, aber auch die Kognition neu fokussieren. Medien und Methoden Nicht nur Einzeltexte können Medien des Lehrens, Lernens und Bildens sein; auch die Verkörperung von Wissen insbesondere im Medium des Buchs verdient Aufmerksamkeit. Signifikant wird, wo, wann und wofür Bücher verwendet werden, wie sich deutsch- oder gemischtsprachige Sammelhandschriften, Haus- und Andachtsbücher als komplexe lehrhafte Gebilde verstehen lassen, wie es Stefan Matter für Tagzeitengebete und Anne Simon für Heiligenviten demonstriert - und wie diese vermittelt werden, wie Timothy Jackson an dem erstaunlichen Fall der Vermittlung altdeutscher Literatur im protestantischen Irland des 17. Jahrhunderts zeigt. Darüber hinaus ist danach zu fragen, wie sich das Verhältnis zur Bildlichkeit und zur Vermittlung im mündlichen Diskurs darstellt, etwas in der ars moriendi oder im geistlichen Spiel. Gerade das Bild erlangt im Spätmittelalter eine wachsende Bedeutung für den Erwerb kognitiven Wissens, wie das von Nigel F. Palmer vorgestellte Begerin-Gebetbuch anschaulich vor Augen führt. Lehrhafte Texte verwenden unterschiedliche Mittel, Techniken und Methoden. Beiträge wie derjenige von Annette Volfing zur ‚Jenaer Liederhandschrift‘ stellen fest, dass auch in nicht primär lehrhaften Werken solche unterweisenden Techniken verwendet werden, wie sie z. B. aus der ars memorativa oder aus der Fachprosa bekannt sind. Es treten Unterweisungspraktiken auf, die über das Auge und / oder Ohr laufen (Schriftlichkeit / Mündlichkeit). So berücksichtigen mehrere Beiträge das Zusammenspiel von Wort und Bild als Auslösern des Lehrens, Lernens und Bildens; dabei kommt etwa das <?page no="13"?> 12 Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema Meditieren über Bilder als Andachtspraktik oder der Zusammenhang zwischen Text und Abbildung in der Fachliteratur in den Blick, ebenso wie das Zusammenspiel von Wort und Musik etwa in der Sangspruchdichtung, in Hymnen und im Meistergesang, wie Heike Sahm und Stephanie Schott am Beispiel Rosenplüts demonstrieren. Gleichzeitig ist zu reflektieren, dass mittelalterliche Erzähltexte Formen der Wissensvermittlung darstellen, die weniger auf verbaler Belehrung als vielmehr auf (den Bildern in gewissem Sinn vergleichbarem) demonstrativem Vorführen beruhen, z. B. in Gottfrieds von Straßburg Tristan die furkie . Schließlich thematisierten eine Reihe von Aufsätzen, etwa der von Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp, wie in der Literatur des deutschen Mittelalters über als angemessen erachtete Formen des Bildens, Lehrens und Lernens reflektiert wird. Wird das Lernen als gemeinsames Handeln oder als individueller Erfahrungsweg konzipiert? Setzt es Autoritäten voraus oder konstituiert es sie erst? Werden diachron oder im Vergleich zwischen den Gattungen unterschiedliche Medien bzw. unterschiedliche Methoden und Techniken verwendet? Institutionen und Regionen Der letzte Bereich, den wir skizziert hatten, war der Zusammenhang von Lehren, Lernen und Bilden mit den Institutionen und Regionen. Fast alle Beiträge hatten darauf eine eigene Antwort. Während des Mittelalters treten entscheidende Verschiebungen zwischen den Bildungsinstitutionen Kloster, Hof, Stadt und Universität auf, ebenso zwischen den Sprachen der Vermittlung. Beiträge wie der von Nigel Harris zu Bischof Ulrich II . Putsch von Brixen erkunden, welche konkreten Folgen dies für die Bildung bzw. Ausbildung der Autoren oder Schreiber hat. Die lehrhaften Inhalte überschreiten nationale und sprachliche Grenzen in Überlieferung und Rezeption. Thematisiert wurde auch, welche unterschiedlichen kulturellen Einflussbereiche (Frankreich, Hanse, Italien …) jeweils von besonderer Bedeutung waren und welche Rolle regionale Ungleichzeitigkeiten zwischen Nord- und Süddeutschland bei der Wissensvermittlung spielen. Eine entscheidende Einsicht ist, wie sich Wissensgebiete, Textsorten und Sprachmodi sowie die Medien und Methoden jeweils den neuen örtlichen und institutionellen Gegebenheiten anpassen. In allen angesprochenen Themenbereichen kann auf der Ebene der Konkreta die Weitergabe von Handschriften, Texten und Bildern in den Blick genommen werden sowie, auf einer abstrakteren Ebene, die generelle Verbreitung von Gedankengut (‚transmission of ideas‘) - im Mittelalter, aber auch über das Mittelalter hinaus, wie Nikolaus Henkel mit der Vergil-Übersetzung Thomas Murners zeigt. Die Bereiche des Bandes Das erfreulich breite Echo, das uns auf das Konzeptpapier hin erreichte, ermöglichte es uns, innerhalb der vier angesprochenen großen thematischen Sektionen noch weiter zu differenzieren und Schwerpunkte zu bilden. Entsprechend ist der Band in sechs Bereichen aufgebaut. Es beginnt mit den Grundlagen der Lehre, die das grundlegende Verhältnis von Bildung und Fiktionalem (Christoph Huber), anthropologische Betrachtungen der Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen in deutschen und lateinischen Texten des Mittelalters (Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp), das Wie des Lernens am Beispiel <?page no="14"?> Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters 13 der Predigt (Stephen Mossman) und die Rezeptionsgeschichte altdeutscher Literatur als Bildungsgeschichte (Timothy Jackson) in den Blick nehmen. Als zweiter Bereich spannt Bildung und Textaneignung den Bogen von den frühesten Zeugnissen volkssprachiger Schriftlichkeit in Interlinearübersetzungen von Psalmen (Alderik Blom) bis zur Übersetzungsleistung des 16. Jahrhunderts (Nikolaus Henkel), mit weiteren Fallbeispielen aus dem frühen (Sarah Bowden) und späten (Nigel Harris) Mittelalter. Im dritten Bereich geht es um verschiedene Ausformungen von Meditation und Gebet, bei Mechthild von Magdeburg (Annette Gerok-Reiter), in Tagzeitengebeten (Stefan Matter), im spätmittelalterlichen Nürnberg (Anne Simon) und Straßburg (Nigel F. Palmer). Um grundsätzliche Prozesse, nämlich Wissenstransfer, kreist der vierte Bereich, der Minnereden (Sandra Linden), das ‚Rostocker Liederbuch‘ (Franz-Josef Holznagel) und die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ (Annette Volfing) in den Blick nimmt. Der fünfte Bereich beschäftigte sich an einem weiteren Textcorpus mit Fachsprache und Dialog: Nürnberger Handwerkerdichtung (Heike Sahm und Stephanie Schott), Messkunst (Christina Lechtermann), Andachtsliteratur (Simone Schultz-Balluff) und Heinrich Wittenwilers Ring (Frank Fürbeth). Der sechste Bereich, der sich Reflexionen über erzählende Literatur widmete, setzte noch einmal auf die grundsätzliche Einsicht aus Christoph Hubers Einleitungsvortrag: Dass vormoderne Fiktionalität die lehrhafte Rezeption systematisch einplant und strategisch vorantreibt, ist aus den Texten selbst zu lesen. Das zeigte „die schwierige Versöhnung von Poesie und Wissen“ (Manfred Kern) ebenso wie „erzähltes Handeln, kulturelles Handlungswissen und ethischer Diskurs“ (Gert Hübner), die Bildung des Artusritters (Ricarda Bauschke) und die volkssprachige Chronistik. Gerhard Wolfs Titel von der Historia als magistra vitae lässt sich für den Band mit Fug und Recht abwandeln auf das Schlagwort von Literatur, und zwar auch gerade volkssprachlicher mittelalterlicher Literatur, als magistra vitae . Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten ist ein Kernbereich mittelalterlicher Lebenswirklichkeit. Die deutsche Literatur kann dabei entscheidende Einblicke geben, wie sich das Feld des Lehrens, Lernens und Bildens vom 8. bis zum 16. Jahrhundert entwickelt. Theoriegeleitetes Wissen und praxisbezogene Handlungsanweisungen werden nicht nur in im engeren Sinne didaktischen Texten vermittelt. Lehrhaftes Sprechen und der Anspruch, lêre und bilde zu bieten, ist ein Grundprinzip auch der erzählenden Texte, der Lyrik und der Spiele. Die hier versammelten Beiträge des 23. Anglo-German Colloquium geben somit einen faszinierenden Einblick in das ganze Spektrum mittelalterlicher Wissensvermittlung im Spannungsfeld schriftlicher und mündlicher, literarischer und nicht-literarischer Traditionen. Dank und Rückblick Um Einsendung von Abstracts war damals bis zum 15. Mai 2012 gebeten worden. Es sind damit genau fünf Jahre seit der Konzeption der Tagung und des Sammelbandes vergangen. In dieser Zeit hat sich viel getan; Vorhaben, die damals am Anfang standen, sind inzwischen zu einem guten Abschluss gekommen - verwiesen sei auf die Monographie zur Psalterglossierung von Alderik Blom, auf die substanziell erweiterten Resourcen zu zwei auch online dokumentierten Projekten, dem ‚Rostocker Liederbuch‘ von Franz-Josef Holznagel und den ‚St. Anselmi Fragen an Maria‘ von Simone Schultz-Balluff, vor allem aber auch <?page no="15"?> 14 Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema auf die monumentale Edition des Begerin-Gebetbuchs durch Jeffrey F. Hamburger und Nigel F. Palmer. Wir sind allen Kolleginnen und Kollegen dankbar, dass sie diese und weitere Neuentwicklungen in die ursprünglichen Beiträge eingearbeitet haben und geduldig auf Änderungswünsche eingegangen sind, so dass auch der während der Konferenz sich entwickelnde Dialog in den einzelnen Aufsätzen seinen Niederschlag gefunden hat. In diese Zeit fielen auch einschneidende persönliche Ereignisse; die Endredaktion wurde überschattet von der tragischen Nachricht vom Tod Gert Hübners; bevor er aus dem Leben schied, hatte er noch minutiös und umfassend seinen Beitrag revidiert und eingerichtet; seinem Gedenken ist ausdrücklich der Beitrag von Nikolaus Henkel gewidmet, aber darüber hinaus erinnert der gesamte Band an ihn und an einen weiteren Kollegen, der unerwartet während der Redaktion des Bandes starb, Volker Honemann, der zwar bei dieser Tagung nicht vortrug, aber dem Anglo-German Colloquium fast seit den Anfängen verbunden war und mit seinen substanziellen Beiträgen zur spätmittelalterlichen Lehrdichtung einer der meistzitierten Autoren in diesem Band ist. Zu diesem doppelten Gedenken tritt ein festlicher Anlass: Elizabeth Andersen, die ebenfalls dem Anglo-German Colloquium seit den Anfängen verbunden ist, beging 2016 ihren 65. Geburtstag. Ihr wie dem Anglo-German Colloquium rufen wir zu: Ad multos annos! Wir haben eine große Dankesschuld, die wir gerne leisten: Für die ursprüngliche Förderung der Tagung geht der Dank an die MHRA und die University of Nottingham samt deren Germanistik, wo die Tagung stattfand, die University of Newcastle und vor allem die Universität des Saarlands, die großzügig zur Finanzierung der Reisekosten beitrugen, und jetzt auch den Druck unterstützen, der zum ersten Mal im Francke-Verlag erfolgt. An der Universität des Saarlandes möchten wir herzlich Dr. Christa Jochum-Godglück für vielfache Korrekturarbeiten an den Manuskripten danken, im Verlag Tillmann Bub für die vorzügliche Betreuung, mit der das Anglo-German Colloquium auch in das Zeitalter von eBooks eintritt. Oxford / Nottingham / Saarbrücken, im August 2017 Henrike Lähnemann / Nicola McLelland / Nine Miedema <?page no="16"?> Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters 15 Grundlagen der Lehre <?page no="18"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 17 Lehre, Bildung und das Fiktionale Christoph Huber Wenn man über Lehre und Erziehung in literarischen Texten nachdenkt, sollte man den Begriff der Lehrhaftigkeit nicht zu eng ansetzen. Das betrifft zum einen die Textsorten: Nicht nur pragmatische Schriftlichkeit, Wissensliteratur, religiöse Unterweisung und Lehrdichtung mit ausdrücklicher didaktischer Intention verdienen hier Aufmerksamkeit, sondern auch Gattungen, wo man Lehren eher nicht sucht oder nur unter Vorbehalt. Ferner lässt sich der Prozess der Belehrung nicht auf einen Transfer von Wissensstoff einengen, den man praktisch verpackt, zeitsparend und sicher in das Gehirn von Literaturrezipienten befördern kann, im Stil des sprichwörtlichen Nürnberger Trichters. Die Wendung, die auf die Poetik von Georg Philipp Harsdörffer von 1647 an die Adresse eines des Lateins nicht mächtigen Zielpublikums zurückgeht, hat allerdings eine ältere Vorgeschichte, die uns auf die mittelalterliche Imago-Dei -Lehre und Konzepte geistlicher Eingebung zurücklenken würde. 1 Ein naiver didaktischer Optimismus in einer vormodernen Literatur, die sich neben dem delectare immer auch dem prodesse verschreibt, greift meines Erachtens von vornherein zu kurz. Erinnern wir uns an die skeptische Position, die der mittelalterliche Vordenker Augustinus in seiner Frühschrift De magistro (388 oder später) 2 markiert hat. Dieser Dialog des Augustinus mit seinem Sohn Adeodatus, nach dessen Tod 389 veröffentlicht, führt nach umständlichen Belehrungen über den Zeichencharakter der Sprache, die Verschiedenheit von Wortbedeutungen, die Fallstricke der Grammatik, den Vorrang der Dinge vor den Worten usw. auf die These zu, dass durch Sprache grundsätzlich nichts gelernt werden könne. 3 Schon die Bedeutung eines Wortes (Beispiel: saraballa , Kopfbedeckung oder auch eine Art Pluderhose) setze voraus, dass diese von den Lernenden selbst generiert wird. Das Gleiche gelte für den Zusammenhang von Geschichten, selbst wenn dem Hörer alle Worte bekannt sind. Alles Lehren und Lernen über das Medium der Sprache wird so letztendlich von der Instanz des Rezipienten abhängig. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ein 1 Georg Ph. Harsdörfer, Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen , Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1648-1653, Hildesheim u. a. 1971. - Zur älteren Trichter-Metaphorik vgl. TPMA 11, S. 430, Verweis auf Sebastian Franck, Sprichwörter (1541). 2 Aurelius Augustinus, Der Lehrer. De Magistro , hg. und übertragen von Carl J. Perl, Paderborn 3 1974 (Aurelius Augustinus’ Werke [6]). [Übersetzungen unten leicht modifiziert]. 3 Verissima quippe ratio est et verissime dicitur, cum verba proferuntur, aut scire nos quid significent aut nescire; si scimus, commemorari potius quam discere, si autem nescimus, ne commemorari quidem, sed fortasse ad quaerendum admoneri , 11, 36. Ebd., S. 82. Übersetzung: „Sehr richtig heißt es, dass wir, wenn wir Worte äußern, entweder wissen, was sie bedeuten, oder es nicht wissen; wenn wir es wissen, dass wir uns eher erinnern als lernen; wenn wir es nicht wissen, dass wir uns zwar nicht erinnern, aber womöglich zur Nachforschung angeregt werden“. <?page no="19"?> 18 Christoph Huber innerer Lehrer, der den Schüler unterweist, mit der Autorität Christi kurzgeschaltet wird. 4 Sie tritt für die Wahrheit geistlich verstandener Weltzusammenhänge ein und gibt dem radikal subjektivistischen Ansatz eine transzendent illuministische Pointe. Die philosophische Argumentation des Augustinus gibt mir neben anderen Überlegungen Anlass, im Folgenden auf die Spielräume und eine grundsätzliche Freiheit des Rezipienten im Prozess der literarischen Vermittlung Wert zu legen. Der Dialog des Augustinus führt auch in differenzierter Form Merkmale einer ‚didaktischen Kommunikation‘ vor, wie sie gerade im Mittelalter in zahlreichen Lehrer-Schüler-Gesprächen, auch Vater-Sohn- oder Mutter-Tochter-Dialogen mehr oder weniger differenziert ausgearbeitet begegnet 5 und für die Vermittlung von Lehren allgemein vorauszusetzen ist. Der Sender wird verkörpert durch eine Lehrinstanz mit überlegener Autorität und Wissensvorsprung. 6 Abgesehen von der Voraussetzung einer Lehrabsicht, muss der Lehrende auch stoffliche Souveränität und Flexibilität sowie Einfühlungsvermögen mit dem Empfänger beweisen. Die Botschaft hat die Funktion eines Lehrtextes an die Adresse eines Lernenden oder educandus . Auch wenn die Kommunikationsrichtung hauptsächlich einseitig vom Lehrer zum Schüler verläuft, bleibt diesem doch Raum für Aktivitäten, z. B. in der Möglichkeit, Fragen zu stellen. Aufs Ganze gesehen, muss der Lernende jedoch kooperativ und lernwillig sein, damit die Kommunikation durch den korrekten Transfer von Lehre gelingen kann. So ist Adeodatus kein einfacher Schüler des Vaters; er zeigt sich zwischendurch auch widerspenstig und signalisiert, dass er nicht folgen kann, auch wenn er die väterliche Autorität unbestritten anerkennt. Der Lehrtext muss so strukturiert sein, dass die Lehrintention möglichst gelingen kann. In der Tradition der Rhetorik, später auch der Brieflehre oder der Predigttheorie, werden Anweisungen zusammengestellt, welche die Lehrabsicht möglichst vorteilhaft unterstützen, und zwar nicht nur bezüglich der Inhalte, sondern auch im Hinblick auf die Disposition des Sprechenden wie des (oder der) Rezipierenden. Dem Lehrtext ist so außer einem Arsenal an Informationen in der Regel auch eine Appellstruktur eigen, die nicht nur abstrakte Erkenntnisse, sondern schließlich Handlungen motivieren soll. Damit modifiziert die Lehrsituation alle drei Konstituenten der Kommunikation. Auf welche Weise diese Voraussetzungen konkret werden können, hängt von historischen Vorgaben ab, etwa den pädagogischen Leitlinien und der institutionellen Organisation des Unterrichts. Nachdem jedoch der Vorgang einer Belehrung und deren Erfolg letztendlich vom Rezipienten abhängt, das heißt einer Person, die belehrt werden will und schließlich sich selbst belehrt, kann Lehre und Bildung natürlich auch durch x-beliebige Kommunikation erfolgen, jenseits von allen Lehrautoritäten, Lehrtexten und Lehrinstitutionen. Nun will sich dieser Beitrag nicht mit Schultexten befassen und nicht mit Predigten, er will sich dem Thema von einer Seite nähern, die sich der Vermittlung von Lehre und Bildung am stärksten zu widersetzen scheint, von der Seite fiktionaler Literatur. Kann man 4 Wie Anm. 2, Kap. 11.38: Ille autem qui consulitur, docet, qui in interiore homine habitare dictus est Christus, id est incommutabilis die atque sempiterna sapientia (S. 84). Übersetzung: „Jener aber, der da befragt wird, lehrt, und das ist der, von dem es heißt, daß er im inneren Menschen wohnt (Eph III, 16 f.), nämlich Christus, der da ist die unwandelbare und ewige Weisheit Gottes“ (S. 86). 5 Hannes Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen. Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention , Berlin 1978 (Phil.Stud.u.Qu. 94). 6 Vgl. C. Stephen Jaeger, „Der Magister in der Moralphilosophie des Mittelalters und der Renaissance“, in: Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200 - 1500 , hg. von James F. Poag, Tübingen 1989 (Francke Monographien), S. 119-131 (zum historischen Idealbild vom charismatisch wirkenden Lehrer im 11./ 12. Jahrhundert bzw. in der Renaissance). <?page no="20"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 19 durch fiktionale Rede auch lehren oder lernen? Kann für fiktionale Rede das Modell der didaktischen Kommunikation angesetzt werden, und was sind dafür die Bedingungen? Welche Modifikationen bringt in den Prozess eines Transfers fiktional vermittelte Lehrhaftigkeit ein? In dem kaum überschaubaren Feld der Fiktionalitätsdebatte gibt es auch eine umfangreiche mediävistische literaturwissenschaftliche Diskussion, welche die Anwendung des Konzepts auf mittelalterliche Texte zuspitzt. Sie ist verschiedentlich in der Forschung auch zusammengefasst und perspektiviert worden. 7 Ich rekurriere zu meinen Zwecken auf eine engere sprechaktlich-pragmatische Definition, die weitgehend akzeptiert wird und sich schnell skizzieren lässt. 8 Wesentlich ist hier die Unterscheidung zwischen Fiktivem und Fiktionalem. Während jenes auf einen Referenten abhebt, der erfunden ist und nur als Gedankenkonzept (individuell oder kollektiv) wirklich ist - also eine ontologische Bestimmung -, ist das Fiktionale in der hier angepeilten Begrifflichkeit eine Qualität der Kommunikation. Sie meint die Aufhebung direkter Referenz, wobei die Frage nach der Wirklichkeit des Referenten nicht gestellt wird und die Aussage weder als wahr noch als falsch klassifiziert werden kann. Sprechakttheoretisch bedeutet dies eine Bestimmung sekundärer oder höherer Ordnung, wobei dem fiktionalen Text in weiteren Interpretationsschritten dennoch ein indirekt formulierter Erkenntniswert entnommen werden kann, der meist offen und unbestimmt, auch polyvalent sein kann. Man fasst das Fiktionalitätskriterium häufig als Referenzlosigkeit oder Wahrheitsindifferenz, besser erscheint mir die Rede von einem Suspens, „that willing suspension of disbelief “, wie es Samuel T. Coleridge in seiner poetischen Autobiographie (1817) formuliert hat. 9 Mit dem Ansatz eines Suspens, der die Wahrheitsfrage offen lässt, aber in weiteren Schritten die Referenz auf Inhalte so oder so ermöglicht, ist die verzwickte Debatte entschärft, ob das Fiktionale schließlich nicht doch eine Art von Referentialität erzwinge. 10 Notwendig für eine so definierte fiktionale Rede ist das Zustandekommen eines Kontrakts oder Vertrags zwischen den Kommunikationspartnern. Ein Fiktionalitätskontrakt wird im Text häufig durch Signale angezeigt, die als Verstehenshinweise an den Rezipienten wirken. Das muss aber nicht immer der Fall sein, explizite Hinweise können auch fehlen, der fiktionale Suspens kann bereits in der Gattungstradition oder sonstigen Umständen der Redesituation angelegt sein. Jan-Dirk Müller, der auf diesen Punkt hinweist, ist es denn 7 Einzelne Resümees sind von unterschiedlichen Frageinteressen geprägt. Vgl. etwa Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200 , Berlin 1994 (Phil.Stud.u.Qu. 129), S. 9-20; Jan-Dirk Müller, „Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in der vormodernen Literatur“, in: Poetica 36 (2004), S. 281-311; Mathias Herweg, Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300 , Wiesbaden 2010 (Imagines Medii Aevi 25), S. 184-210. - Die geschichtswissenschaftliche Debatte zum Fiktiven ist für uns nicht direkt von Belang. 8 Grünkorn (wie Anm. 7); Sonja Glauch, „ die fabelen sol ich werfen an den wint - der Status der arthurischen Fiktion im Reflex: Thomas, Gotfrit und Wolfram“, in: Poetica 37 (2005), S. 29-64; Mark Chinca, „Der Frauendienst zwischen Fiktivität und Fiktionalität: Probleme und Perspektiven der Forschung“, in: Ulrich von Lichtenstein. Leben - Zeit - Werk - Forschung , hg. von Sandra Linden und Christopher Young, Berlin / New York 2010, S. 305-323, besonders S. 315-319. 9 Samuel T. Coleridge, Biographia Literaria [1817], hg. von John Shawcross, Oxford 1907 und Nachdrucke, Bd. 2, Kapitel 14. Im Zusammenhang mit seinen Lyrical Balads und deren übernatürlichem, zumindest romantischem Personal spricht Coleridge von einer „semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith“ (S. 6). 10 Vgl. Grünkorn (wie Anm. 7), S. 15 f. (Diskussion der Position von Klaus W. Hempfer). <?page no="21"?> 20 Christoph Huber auch um die historisch-kulturellen Vorbedingungen und die prozesshafte und übergängliche Institutionalisierung von Fiktionalität im mittelalterlichen Literatursystem zu tun. 11 Er verwendet in kulturwissenschaftlicher Optik einen weiten Fiktionalitätsbegriff. Tatsächlich muss bei bestimmten Gattungen, ja in einzelnen Texten oder auch Kommunikationsakten, mit Unklarheiten und einem labilen Status der Rezeption gerechnet werden. 12 Zweierlei können wir an dieser Stelle festhalten: Die Entscheidung über die Fiktionalität der Kommunikation im Akt des Hörens oder Lesens liegt in letzter Instanz beim Rezipienten, wobei es wenig sinnvoll ist, auf der Richtigkeit der intendierten Rezeptionsform zu bestehen. Eine solche verschiebt sich mit der Kompetenz des Rezipienten und einem kollektiven Weltbildwandel auf jeden Fall. Zweitens erkennen wir bereits jetzt die Textsortenbzw. Gattungsabhängigkeit fiktionaler Kommunikation, die an der Ausbildung eines Kontrakts beteiligt ist und die Ausdrucksformen des Textverfassers wie die Sinnerwartung des Rezipienten steuert. Wenn wir also im Folgenden einige Überlegungen anstellen, ob und wie in mittelalterlichen Texten lehrhafte Kommunikation im fiktionalen Modus möglich ist, oder anders: Wenn wir das didaktische Potential fiktionaler Rede erkunden wollen, empfiehlt sich die Orientierung an den Gattungen. Wir nehmen zuerst explizite Lehrdichtung ins Visier, deren Fiktionalität zur Diskussion steht. Zwischen einer Indienstnahme literarischer Kommunikation für feste außerliterarische Ziele, einer gezielt propagandistischen Lehrhaftigkeit, und offeneren Formen der Sinnbildung, bei denen die Rezipienten (mit-)entscheiden, ist da ein Spektrum möglich. Einhellig hat sich heute die Einstufung des höfischen Romans, voran des Artusromans, als fiktional durchgesetzt. Seine Lehrhaftigkeit dagegen wird kontrovers beurteilt. Auch ein spezifischer Fiktionscharakter des Minnesangs in der Subgattung ‚Minnelied‘ steht weitgehend außer Frage. Gerade hier haben die Möglichkeiten einer didaktisch-pragmatischen Aussagedimension dieser hochformalisierten Kunstübung die Lyrik-Forschung bewegt. Damit ist schon die Gliederung der folgenden Skizze genannt. I. Eine nicht selbstverständliche und in der älteren Forschung auch nicht vorgesehene Verbindung von der Lehrdichtung zur Fiktionalität hat in einem richtungsweisenden Aufsatz Elke Brüggen 2001 hergestellt. 13 Sie wendet sich gegen „die Auffassung, es handle sich bei der didaktischen Literatur prinzipiell um nicht-fiktionale Literatur“ (S. 548). Dabei grenzt sie Wissensliteratur im Engeren, zu der sie in der Antike das philosophisch-fachwissenschaftliche Lehrgedicht zählt und im Mittelalter die Fachprosa (S. 549-551), gegen eine Lehrdichtung mit ästhetischen Ansprüchen ab. Die Fassung des Fiktionalitäts-Begriffs stellt sich hier als schwierig heraus. Brüggen visiert das moderne Theoriespektrum an, exponiert das damals aktuellste mediävistische Interpretationsparadigma, Walter Haugs Thesen zur 11 Müller (wie Anm. 7), S. 185 (Stichwort: „‚Entblößung‘ von Fiktionalität“); S. 295 („Grade von Fiktionalität“), S. 311 („daß Fiktionalität zu skalieren ist“). - Vgl. Glauch (wie Anm. 8), S. 29 f. u. passim. - Zum Schwanken zwischen Historisierung und Fiktionalisierung grundlegend Fritz P. Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort [Aufsatzsammlung], Heidelberg 1997 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). 12 Chinca (wie Anm. 8), S. 317, äußert Vorbehalte gegen die Vertragsmetapher, da sie zu stark verpflichte. 13 Elke Brüggen, „Fiktionalität und Didaxe. Annäherungen an die Dignität lehrhafter Rede im Mittelalter“, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 - 1450 , DFG-Symposion 2000 , hg. von Ursula Peters, Stuttgart / Weimar 2001 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 33), S. 546-574. <?page no="22"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 21 Fiktionalität des höfischen Romans, und wendet sich den antiken und mittelalterlichen literaturtheoretischen Ansätzen zu, die einer Beschreibung von Fiktionalität versuchen und ganz selbstverständlich das Didaktische einbeziehen. 14 So gerät die von Haug unermüdlich betonte Opposition von Fiktionalität und Didaxe ins Zwielicht, für welche abwertend vor allem exemplarische Denk- und Redeformen reklamiert werden. „Eher wäre doch zu überlegen, ob die Betonung der didaktischen Komponente des arthurischen Romans, die Annahme einer Kompatibilität von fiktionaler Autonomie und didaktischem Anliegen nicht heuristisch fruchtbarer ist als die strikte Polarisierung von fiktionalem Erzählen und exemplarisch-didaktischer Funktion von Literatur“ (S. 559). Theoretisch bringt Mark Chinca (2010, wie Anm. 8) diese Sicht im Zusammenhang mit den wahrlich komplizierten Verhältnissen in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst auf den Punkt. Zur Frage, ob Ulrichs Autobiographie „ein moralisches, didaktisches oder politisches Programm unterstellt werden“ kann, stellt er unabhängig von der Art der Antwort klar, es komme auf die prinzipielle „Vereinbarkeit von lebensweltlicher Relevanz und fiktionalem Sprechen an. Denn eine Äußerung wird nicht in dem Maß weniger fiktional, in dem sie sich lebenspraktisch auslegen und anwenden läßt“. 15 Anders herum kann Fiktionalisierung auch kein grundsätzliches Hindernis für didaktische Literatur sein. Unter dieser Voraussetzung wenden wir uns dem sogenannten Integumentum zu in der Traditionslinie, die durch die Namen Cicero, Macrobius, Bernardus Silvestris u. a. angezeigt wird. Jan-Dirk Müller hat in seinem Fiktionalitäts-Aufsatz das Integumentum der fiktionalen literarischen Als-ob-Rede zugeordnet und dürfte damit einen Forschungs-Konsens spiegeln, der auch bei begrifflichen Abschattierungen zu halten ist. Nun beschreibt Müller das Integumentum in der Kommentar-Tradition, die man mit der Homer-Exegese und dann der Vergil-Auslegung angebahnt sehen kann, als einen Versuch, „fiktionaler Rede einen ihr bestrittenen Wahrheitswert wiederzugewinnen“. 16 Durch geregelte Auslegung würden Referenzen auf Natur, Moral, Glaube hergestellt, das bedeutet eine Einkleidung nicht-fiktiver Sachverhalte und einen abgeleiteten Wahrheitsanspruch poetischer Rede. Das trifft zu, erfasst aber nur die eine Seite dieser Verhüllungs-, Einkleidungs- oder Verpackungs-Poetik. Auf der anderen Seite betreiben literarisch produktive Integumenta eine erstaunlich aktive und offene Sinnbildung auf den genannten weltbildlich verbindlichen Themenfeldern. Das gilt für die Gedichte der platonistischen ‚Schule von Chartres‘, wir könnten aber auch auf die ältere Allegorik, etwas die Psychomachie des Prudentius, zurückgreifen. Als Beispiele mögen hier die Allegorien des Alanus ab Insulis stehen. Der Planctus Naturae (um 1160 / 1170) 17 lässt in einer Traumvision die Göttin Natura auftreten. Die aus- 14 So kommt sie zu einer an den historischen Gegenständen orientierten breiteren und notwendig diffuseren Modellierung des Fiktionalen, die explizit die oben skizzierte kommunikationstheoretische Definition als Richtgröße hintanstellt (ebd., S. 555). 15 Chinca (wie Anm. 8), S. 322. 16 Müller (wie Anm. 7), S. 289. - Vgl. zu einem zwischen Götterhandlung und Naturkunde schillernden, nicht abstrakt extrapolierbaren Aussagestatus der Rede in der frühen altgriechischen Literatur Oliver Primavesi, „Theologische Allegorie: Zur philosophischen Funktion einer poetischen Form bei Parmenides und Empedokles“, in: Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt , hg. von Marietta Horster und Christiane Reitz, Stuttgart 2005 (Palingenesia 85), S. 69-93. Mag hier eine in ihrer Referentialität schwebende Diskursform dem historischen Stand einer noch nicht ausdifferenzierten Wissenschaftssprache geschuldet sein, so können vergleichbare Konstellationen auch später als Verschränkung von Poesie und Philosophie auftreten. 17 Alan of Lille, De planctu Naturae , hg. von Nikolaus M. Häring, in: Studi Medievali , ser. III, 19 (1978), S. 797-879. <?page no="23"?> 22 Christoph Huber ufernde Beschreibung ihrer Person und ihres Kleides mit zahllosen Abbildungen auf dem Stoff scheint hauptsächlich den rhetorischen Rahmen für eine Kosmosdarstellung abzugeben, in die sich jedes Detail stopfen lässt. Die Instanz antwortet nun auf die Fragen des Visionärs in umfangreichen Lehr- und Mahnreden. Sie erklärt den Riss auf ihrem Kleid mit dem Abfall des Menschen von seiner Schöpfungsnatur in abstrakten Anläufen und schließlich in einer mythologischen Fabel vom Ehebruch der Venus, welcher den Abfall verursacht und in einer verhängnisvollen Kette alle anderen Laster in die Welt gebracht habe. Weitere Personifikationen treten auf, teils von der Natur herbeizitiert. Auch sie werden in Beschreibungen vorgestellt. So kommt es schließlich zu einem Rechtsakt, einem Bannfluch über die Gesetzesbrecher aus dem Mund des rätselhaften Genius, der die gestörte Ordnung in der Welt durch seinen Spruch neu zurechtrückt. Diese Ausführungen werden nun auf Schritt und Tritt von autoreflexiven Hinweisen begleitet, die einen semantisch mehrschichtigen, indirekten Status der Aussage in Erinnerung halten. Ich greife einige Belege heraus. Zu den Lebewesen auf dem Kleid heißt es, sie sind dargestellt, als ob sie lebten. Oder: Sie sollen wie in einem Theaterauftritt als Augenschmaus Vergnügen machen. Oder: Die Art der Darstellung muss den profanierenden Zugriff verhindern, und gleich folgt die mythologische Ehebruchsfabel, die sich nur unscharf auf den Sündenfall bezieht. 18 Interessant ist eine Stelle, welche die Beschreibung der paradoxen degenerierten Liebe (personifiziert als Cupido) als etwas literarisch schlechtweg Unbeschreibliches charakterisiert. 19 Diese Einschübe drehen sich um eine ontologische fictio-veritas -Spannung und sprechen nicht den Status der Kommunikation an, wie die Erzählerbemerkungen des Romans das immer wieder tun, aber sie projizieren Bildlichkeitsmetaphorik zwischen Schauspiel, Malerei, Siegelprägung vielfältig aufeinander, betonen die Zeichenhaftigkeit der Sprache in Grammatik und Rhetorik, reflektieren sprachlogische Bezüge und überblenden die Wahrnehmungsformen des körperlichen Sehens und Spiegelns, der inneren Vorstellung, der Vision und der Ekstase. Es wird so keine explizite Referenzlosigkeit oder Wahrheitsindifferenz als Kommunikationsregel aufgebaut, aber es wird praktisch demonstriert, wie Referenz ständig in der Schwebe bleibt. Gleichzeitig besteht aber auch kein Zweifel, dass es letztlich hinter den transparenten Zeichen und am Ende der eingeforderten Leseprozesse um Tatsachen in der Außenwelt geht. 18 Ebd., S. 839, 182-186: Ab altiori etenim sumens inicium excellentiorique stilo mee uolens seriem narrationis contexere, nolo ut prius plana uerborum planicie explanare proposita uel prophanis uerborum nouitatibus prophanare prophana, uerum pudenda aureis pudicorum uerborum faleris inaurare uariisque uenustorum dictorum coloribus inuestire . - ‚Denn ich greife jetzt nach einem höheren und ausgezeichneteren Griffel / Stil, um den Gang meiner Erzählung zusammenzuweben, und möchte nicht wie vorher durch flache Plattheit der Worte mein Vorhaben ausbreiten, sondern Schamvolles mit den goldenen Stirnbändern schamhafter Worte vergolden und mit den verschiedenen Farben schöner Wendungen einkleiden‘ [positives Modell]. 19 Ebd., S. 842, 269-273: Siue certa descriptione describens siue legitima definitione diffiniens, rem indemonstrabilem demonstrabo, inextricabilem extricabo, quamuis ipsa nulli nature obnoxialiter alligata, intellectus indaginem non expectans, nullius descriptionis posset signaculo sigillari . - ‚Ob ich sie [die Natur der pervertierten Cupido / Lust] nun durch eine genaue Beschreibung beschreibe oder eine kunstgerechte Definition definiere, ich werde [jetzt] eine nicht darstellbare Sache darstellen, eine nicht entwickelbare entwickeln; da sie von keinem Naturding verpflichtend abhängt, und es nicht erwarten kann, von irgendeiner Einsicht aufgespürt zu werden, könnte sie in keiner Beschreibung wie mit einem Siegel versiegelt werden‘ [negatives Modell]. <?page no="24"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 23 In seiner didaktischen Methode fährt Alanus auf zwei Gleisen: Zum einen häuft er, in üppigen Beschreibungen ästhetisch verpackt, Wissensstoff aus der äußeren Welt geradezu enzyklopädisch auf. Einschlägig wäre hier ein oben ausgeblendeter ‚funktionaler‘ Fiktionalitätsbegriff. 20 Dagegen bleibt in den erzählten Aktionen eine äußere Referenz letztlich schwierig. Sowohl die Vorgeschichte von der Verletzung der Natur in der mythologischen Fabel wie auch die Wiederherstellung der Ordnung durch einen fiktiven Rechtsakt lassen sich nicht eindeutig auflösen. Das deskriptive Material macht die Referenz unabweisbar, die Narration macht sie ungreifbar. Dieses Bild bietet auch der formal anders angelegte Anticlaudianus , 21 ein Hexameterepos vom Aufstieg der Natura durch den endlichen zum jenseitigen Kosmos, um mit der Beteiligung Gottes bei der Erschaffung der Seele eines neuen und diesmal vollkommenen Menschen ein goldenes Weltzeitalter einzuläuten. Allein der intertextuelle Verweis auf die allegorische Invektive des Claudianus ( In Rufinum , 396 n. Chr.) stellt die literarische Gemachtheit des Epos heraus. Auch hier werden enzyklopädische Beschreibungspartien geboten, die unter einer nur dünnen allegorischen Decke auch literal gelesen werden können, etwa im Abschnitt der Himmelsreise. Sie werden aber zu einem Erzählplot verbunden, der sich eindeutiger Referenz widersetzt. Im Prosavorwort zeichnet Alanus ein mehrschichtiges, an der Bibelexegese orientiertes hermeneutisches Modell, das aber im Gegensatz zu dieser keine in der Tradition sanktionierten referentiellen Festlegungen erlaubt. Diese Experimente mit einer teilweise sinnoffenen Fiktionalität können moderne Rezipienten ästhetisch kaum ansprechen, für eine scharfsinnige, an Mehrdeutigkeiten und rhetorischem Spiel sich delektierende Gelehrtenschicht ist ihre Attraktivität nachvollziehbar. Das beweist für Alanus der mittelalterliche Langzeiterfolg, die handschriftliche Überlieferung und eine aktive Rezeption, die auch die volkssprachliche, gelehrt geprägte Literatur erreichte. Hier allerdings hat die fiktionale Lehrdichtung etwa im Rosenroman oder Dantes Comedia Gestaltungen gefunden, die auch heute noch ‚ankommen‘. Blicken wir auf die deutschsprachige Tradition, so findet sich schon in der frühmittelhochdeutschen geistlichen Literatur Dichtung, die offensichtlich mit erfundenen Handlungen operiert, die keineswegs wörtlich genommen werden können, beispielsweise die Brautwerbung eines Königs aus der Ferne (ein geläufiger Erzählplot des ‚spielmännischen‘ Romans) in dem bemerkenswerten Gedicht Die Hochzeit . Aus dieser Fiktion wird das Drama der Inkarnation und die Vermählung Gottes mit der Seele herausgewickelt, wobei die Allegorese punktuell überraschende Zusammenhänge herstellt und die Erzählfabel den bekannten Glaubenswahrheiten eigentümliche Farben hinzufügt. 22 An den größeren didaktischen Dichtungen mit moralphilosophischer Ausrichtung können wir einen unterschiedlichen Einsatz fiktionaler Verfahren feststellen. Das nur fragmen- 20 Vgl. Herweg (wie Anm. 7), S. 189 f. 21 Alanus ab Insulis, Anticlaudianus , hg. von R[obert] Bossuat, Paris 1955 (Textes philosophiques du moyen-âge 1); deutsche Übersetzung: Der Anticlaudian oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen , übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Rath, Stuttgart 1966 (Aus der Schule von Chartres 2); englische Übersetzung: Alan of Lille, Anticlaudianus of the Good and Perfect Man , Übersetzung und Kommentar von James J. Sheridan, Toronto 1973 (Mediaeval Sources in Translation 14). 22 Die Hochzeit , in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800 - 1150 , hg. von Walter Haug und Benedikt K. Vollmann, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 62; Bibliothek des Mittelalters 1), S. 784-849 (mit neuhochdeutscher Übersetzung und Kommentar; „das erste frei erfundene allegorische Gedicht in deutscher Sprache“ [S. 1515]). <?page no="25"?> 24 Christoph Huber tarisch überlieferte Lehrgedicht eines Werner von Elmendorf (um 1170 / 1180) 23 versifiziert das aus Klassikerzitaten kompilierte Moralium Dogma Philosophorum und strukturiert die abstrakte Gliederung, die den vier Kardinaltugenden samt Untertugenden und einer allgemeinen Güterordnung folgt, nach den Bedürfnissen eines volkssprachlichen Adelspublikums neu. 24 Die erhaltenen Passagen sind wie in der Vorlage abstrakt, zur Illustrierung dienen wie dort exemplarische Namensnennungen. Fiktionales bleibt außen vor. Das erste moraldidaktische Großwerk der deutschen Literatur, Der Wälsche Gast des Thomasin von Zerklaere (1216 / 1217), 25 wählt ebenfalls eine abstrakte, die vier Kardinaltugenden abwandelnde Gliederung, füllt sie aber passagenweise mit narrativen Materialien auf. Hier begegnen wir einer auf den mittelalterlichen Ritter zugeschnittenen Psychomachie mit Lasterreihen, die der spezifischen Auswahl und Anordnung des Alanus ähneln. 26 Neben nur schwach ausgearbeiteten Beispielerzählungen aus der Historie bzw. dem Alten Testament und naturkundlichen Exempeln finden sich auch Tierfabeln, die allegorisch kunstgerecht und, soweit ich sehe, eigenwillig ausgelegt werden. 27 Man darf Thomasins agierendes Figurenpersonal und die allegorisierten Narrationen in den Rahmen fiktionalitätsbewusster Rede, hier mit erklärtermaßen didaktischer Intention, stellen. Es ist außergewöhnlich und hat die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden, dass und wie Thomasin zwei Rezeptionsformen des höfischen Romans unterscheidet und sie zum lehrhaften Sprechen in Bezug setzt (Buch I , V. 1023-1162). Für die Jugend empfiehlt er ein exemplarisches, über die attraktive Vorbildlichkeit der Romanhelden laufendes Verstehen. Daneben legt er den intellektuell Fortgeschrittenen ( die ze sinne komen sint , V. 1081) ein tieferes Verständnis der ‚nicht wahren‘ Erzähloberfläche nahe, das über die Interpretation von Zeichen auf eine moralphilosophische Lehre zuläuft ( der zuht lêre , V. 1116; bezeichenunge […] der zuht unde der wârheit , V. 1124 f.). Zwar wird hier mit den Kategorien ‚wahr‘ und ‚falsch‘ hantiert ( daz wâr man mit lüge kleit , V. 1126), aber die Uneigentlichkeit der Textaussage nach dem Modell einer zu enthüllenden tieferen Wahrheit, die dem Verstehen des Publikums anheimgestellt ist, lässt hinreichend Ansätze zu einer Fiktionalitätstheorie erkennen. Ob diese von dem gelehrten Modell des Integumentum hergeleitet werden kann, wurde kontrovers diskutiert, ist aber nicht entscheidend. An der Form einer Einkleidungspoetik, die moralphilosophische Wahrheit transportiert, wie immer diese konkret aussieht, ist nicht zu rütteln. Walter Haug und Fritz P. Knapp sind in der Beurteilung dieser Stelle über den Punkt gestolpert, dass eine auch außerliterarisch verankerte moralphilosophische Interpretation dem Sinnangebot des höfischen Romans nicht adäquat sei. 28 Es geht 23 Wernher von Elmendorf , hg. von Joachim Bumke u. a., Tübingen 1974 (ATB 77). 24 Joachim Bumke, „Die Auflösung des Tugendsystems bei Wernher von Elmendorf “, in: ZfdA 88 (1957), S. 39-54; wieder in: Ritterliches Tugendsystem , hg. von Günter Eifler, Darmstadt 1970 (WdF 56), S. 401-421. 25 Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria , hg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg / Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Litteratur 30), Nachdruck mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke). 26 Buch VI, V. 7369-7596; vgl. Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen , Zürich / München 1988 (MTU 89), S. 59-73. 27 Vgl. Gerd Dicke und Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen , München 1987, siehe Autorenregister. 28 Zur Kontroverse um das Integumentum Fritz P. Knapp, „Integumentum und Âventiure. Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris? ) und Thomasin von Zerklaere“ [1987], in: ders. (wie Anm. 11), S. 65-74; 165 f. Im Druck Christoph Schanze, Tugendlehre und Wissensvermittlung. Studien zum ‚Welschen Gast‘ Thomasins von Zerklaere [Diss. Gießen 2015]. <?page no="26"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 25 aber nicht um die Adäquatheit der Interpretation, sondern um die Dokumentation einer didaktischen Rezeptionsform, die als historisches Zeugnis ernst genommen werden muss. Der Renner Hugos von Trimberg (bis 1300 mit späteren Ergänzungen) 29 verlegt die ethische Systematik in den bildhaft-narrativ konzipierten Rahmen des Gedichts. In einer einleitenden Allegorie werden der Sündenfall des Menschen und die daraus folgenden sieben Kardinallaster exponiert, die in den Büchern des Werkes nach dem SALIGIA -Muster (in geänderter Reihenfolge) behandelt werden. In der Ausarbeitung selbst tritt die moralphilosophische Systematik zurück, das Gedicht bewegt sich wie ein wild gewordener Reiter durch den wilden Wald der Welt. Neben Bezügen auf die historische Wirklichkeit und katalogartig gebündeltem Bildungswissen nimmt Narratives und seine mitgelieferte Ausdeutung einen größeren Raum ein. Über das Medium von Beispielerzählungen und Tierfabeln sucht Hugo den Lehrstoff abwechslungsreich und suggestiv zu verpacken. Es liegt auf der Hand, dass die Lehrinhalte wie bei Thomasin von den Vermittlungstechniken unabhängig festgeschrieben sind und medial bedingt nur geringe Modifikationen erfahren, wobei eine Entscheidungsfreiheit der zu Belehrenden immer einkalkuliert wird. Ich verfolge das hier nicht weiter. Der Umgang mit der Narration verschiebt sich aber in Heinrich Wittenwilers Ring (ca. 1410). 30 Während Thomasin und Hugo fiktionale Formen nur für Einsprengsel ihrer Lehrgedichte einsetzen, legt Wittenwiler einen durchgehenden fiktionalen roten Faden durch das Werk. Nach den Vorgaben eines Bauernhochzeits-Schwankes 31 erzählt er die Werbung des Tölpels Bertschi Triefnas um seine Angebetete Mätzli Rüerenzumpf, ihre Hochzeitsfeier und einen dort entfachten, die gesamte Bauernwelt verschlingenden Krieg. Die Charakterisierung dieser Handlung als fiktional findet sich im Prolog: Die Ring betitelte Enzyklopädie referiert auf den Lauf, das meint wohl den Gang, die Gesetzmäßigkeit der äußeren Welt und das rechte Verhalten in dieser. Der Verfasser erklärt, er habe eine Bauernhandlung Gemischet unter diseu ler (V. 37), um sein Publikum bei der Stange zu halten. Das seien aber keine echten Bauern, vor deren Arbeit er Respekt habe, sondern metaphorische: Er ist ein gpaur in meinem muot, / Der unreht lept und läppisch tuot (V. 43 f.). Hier fällt nun eine rätselhafte Charakterisierung dieser Handlung auf (V. 49-52): Secht es aver ichts hie inn, 50 Das weder nutz noch tagalt pring, So mügt їrs haben für ein mär, Sprach Hainreich Wittenweilär. Die Bezeichnung mär hat divergierende Deutungen und entsprechend unterschiedliche Übersetzungen der Stelle hervorgerufen zwischen einer Welt, wie sie ist, und Quatsch, Nonsens, Spinnerei. Am plausibelsten liest man in ihr einen Hinweis auf die Fiktionalität 29 Hugo von Trimberg, Der Renner , hg. von Gustav Ehrismann, 4 Bde., Tübingen 1908-1911, mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke). 30 Heinrich Wittenwiler, Der Ring. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch , nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übersetzt und hg. von Horst Brunner, Stuttgart 1991 (RUB 8749) [zit.]; Heinrich Wittenwiler, Der Ring. Text - Übersetzung - Kommentar , hg. von Werner Röcke, Berlin 2012. 31 Zwei Fassungen, didaktisch unterschiedlich ausgearbeitet; Texte mit neuhochdeutscher Übersetzung in der Ausgabe Brunner (wie Anm. 30), S. 586-645. <?page no="27"?> 26 Christoph Huber der Erzählung. 32 Sie wird ausdrücklich von dem horazischen prodesse und delectare ausgenommen, aber andererseits mit scherzhafter Rede ( schimpf , vgl. V. 34 u. ö.) und dem moraldidaktischen Anliegen des Werkes verknüpft, das von etwas Extensionalem, der welte lauff (V. 11), handelt. All dies zusammengesehen, vor allem der Suspens direkter Wahrheitsreferenz und die Übertragung der Deutungshoheit an das Publikum kennzeichnen diese mär als fiktional. Der hybride Text verflicht also die direkten Lehren mit einer wirkungsästhetisch effektvollen fiktionalen Textebene, die gedeutet werden muss, bzw., wenn man so will, eine Handlung mit Lehren. Auf allegorische Signale etwa bei der Beschreibung Mätzlis hat Eckart C. Lutz hingewiesen. 33 Eine zu lösende Interpretationsaufgabe besteht aber darin, dass die fiktionale Welt als verkehrte Welt inszeniert wird. Wittenwiler kultiviert hier das Verfahren negativer Didaxe, das vor allem in der Frühen Neuzeit attraktiv wird. 34 In der didaktischen Kommunikation wird hier dem Publikum die Eigenaktivität zugemutet, den Sinn der Aussage umzudrehen. Schwierig wird das allerdings dann, wenn die Lehrintention nicht klar ist und wenn in der Erzählung Tabuisiertes (Sexuelles, Skatologisches, brutale Gewalt) überhand nehmen und eine Eigendynamik entwickeln. Allein das Aussprechen und die detaillierte Darstellung des Tabuisierten kann als Lust am Verbotenen die normative Umkehrung behindern und den Erfolg positiver Normen im Rahmen dieser fiktiven Welt untergraben. Dem Rezipienten (gerade auch dem modernen) wird die Rolle des Souveräns zugespielt. Nun hebt aber Wittenwiler von vornherein auf die Diskursmischung ab, die - auch wenn die Verteilung der roten oder grünen Randlinien nicht immer durchschaubar und vielleicht auch in der unikalen Überlieferung gestört ist - doch als ständige Erinnerung daran fungiert, dass die Aussage diskursiv unterschiedlich taxiert werden muss. Als stärkstes Argument gegen eine destruktiv-antididaktische Gesamttendenz des Rings , wie sie teilweise in der Forschung im Schwange ist, sehe ich die Tatsache, dass im Prolog die Fiktion zum Einsprengsel degradiert wird und der Lehrtext als Ganzes gerade keine geschlossen fiktionale Welt aufbaut, vielmehr durchlässig konzipiert ist. Die Referenz auf das außerliterarisch Reale und auf den souveränen Referenten, der auch außerhalb der aktuellen Literaturkommunikation zu handeln hat, verhindert, dass der Zusammenbruch der Ordnungen im besagten mär als Demonstration der Unlehrbarkeit von Tugend und der prinzipiellen Unbelehrbarkeit des Menschen über die Textgrenzen hinaus verlängert werden soll. II. Der höfische Roman steht als systematisch relevante Orientierungs-Größe für verschiedene Gattungen längst im Raum. Befragen wir jetzt die Texte! 35 Swer an rehte güete wendet sîn gemüete, 32 Forschung bei Brunner (wie Anm. 30), S. 562 f.; Röcke (wie Anm. 30), S. 442 f., Rekurs auf Sowinski. 33 Eckart Conrad Lutz, Spiritualis Fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ‚Ring‘ , Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 32), S. 297-305. 34 Erste Ansätze bei Neidhart, später Winsbecke-Parodien , Tischzuchten, Grobianismus. 35 Hartmann von Aue, Iwein , Text der siebenten Ausgabe von Georg F. Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff, Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, Berlin / New York 1981, V. 1-5. <?page no="28"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 27 dem volget saelde und êre. des gît gewisse lêre 5 künec Artûs der guote […]. Meine These, die auf differenzierte Befunde und Forschungsdispute zurückgreifen könnte, 36 lautet kurz: Der höfische Roman ist trotz seines fiktionalen Charakters, über den zumindest für die Klassiker um 1200 Konsens besteht, in der historischen Kommunikation auf ein lehrhaftes Verständnis hin offen. Ja, sein Repertoire literarischer Formen enthält auch solche, die ein lehrhaftes Verständnis befördern wollen. Die verteufelt optimistische Sentenz am Anfang des Iwein -Prologs, dass nämlich die Bemühungen um ein gutes Leben auch Glück und Ehre zur Folge hätten, wird durch das Exempel des Königs Artus zur Lehre erklärt. Ein Beispiel erreicht seinen Zweck aber erst, wenn es Nachfolge findet: ichn wolde dô niht sîn gewesen, / daz ich nû niht enwaere, / dâ uns noch mit ir maere / sô rehte wol wesen sol: / dâ tâten in diu werc vil wol (V. 54-58). Es ist klar, dass das Glück als Folge des Handelns hier umgebogen wird in ein Hör- oder Leseglück, welches das fiktionale maere verbreiten kann. Der Roman spendet eine innere Befriedigung, die den Erfolg durch Taten ersetzt, aber dies immerhin in der Lebensrealität jenseits der Textwelt, in der wirklichen Welt des Rezipienten. Eine Ausstrahlung auf dessen Handeln wird damit nicht behauptet, aber auch nicht ausgeschlossen. Hartmann verschiebt in dieser Bemerkung die exemplarische Rezeption auf das gleichzeitig lebensweltliche und entrückte Erlebnis der literarischen Rezeption. Für das didaktische Potential des Romans ist es aufschlussreich, dass das Thema Lehre in den Prologen so häufig auftaucht, dass man hier geradezu von einem ‚Lehrtopos‘ sprechen kann. Dieser hebt ab auf das exemplarische Prinzip, aber man muss genau hinsehen, um auch die Brechungen wahrzunehmen, in denen dies erscheint. Wolfram von Eschenbach erklärt, nachdem er im Parzival -Prolog mit drastischen Bildern die Unfassbarkeit des Sinns in seinem Roman ausgemalt hat: ouch erkante ich nie sô wîsen man, / ern möhte gerne künde hân, / welher stiure disiu maere gernt / und waz si guoter lêre wernt (V. 2,5-8). 37 Bekanntlich schickt er dann das Publikum mit seinem Helden auf den Weg durch Höhen und Tiefen, wo es nur durch die Rezeptionserfahrung belehrt werden kann. 38 Gottfried von Straßburg erhofft von seiner Geschichte, dass sie Tugenden wecke: liebe, triuwe, staeter muot, / êre und ander manic guot, / daz geliebet niemer anderswa / sô sêre noch sô wol sô dâ, / dâ man von herzeliebe saget […] (V. 181-185). 39 Von dieser im Herzen lebendigen Liebe heißt es, daz nieman âne ir lêre / noch tugende hât noch êre (V. 189 f.). Die herzeliebe des Romans ist aber auch zirkelhaft mit der Welt des idealen Publikums verbunden, einer Gegenwelt zur gesellschaftlichen Normalität, in welcher auch der Dichter lebt. Die paradoxen Freu- 36 Vgl. das Kapitel „Historizität in höfisch-arthurischer Fiktion? “ in dem auf den deutschen Roman um 1300 zusteuernden Buch von Herweg (wie Anm. 7), S. 98-102; vgl. dort auch die folgenden Kapitel. 37 Wolfram von Eschenbach, Parzival , Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin / New York 1998. 38 Walter Haug zur Nachvollzug-These grundsätzlich in dem Aufsatz „Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des ‚Parzival‘-Prologs“ [2001], wieder in: ders., Die Wahrheit der Fiktion , Tübingen 2003, S. 145-159, zusammenfassend S. 158 f.; vgl. dens. in dem gleichen Sammelband S. 173. 39 Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold , hg. von Walter Haug und Manfred G. Scholz, 2 Bde., Berlin 2011 (Bibliothek deutscher Klassiker 192; Bibliothek des Mittelalters 10). <?page no="29"?> 28 Christoph Huber de / Leid-Erfahrungen in dieser Welt sind es, die mir ûf nâhe gêndem leben / lêre unde geleite solten geben (V. 69 f.). Offenbar gibt es da unterschiedliche und widersprüchliche Welten zwischen höfischer Gesellschaft, Literaturgesellschaft und zwischen Historie und Fiktion schwebender Romangesellschaft, über die unter dem Zeichen der herzeliebe das Dach einer Lehre gespannt wird, deren Geschlossenheit nicht selbstverständlich, nicht fraglos sein kann. An zentraler Stelle versetzt der Kommentator die Romanlektüre in einen Freiraum. Sie bietet ‚uns Lesern‘ Erfahrungen durch etwas, daz uns ze nihte bestât (‚Minnebußpredigt‘, V. 12 319). Man mag die romanhafte Erzählung als historisch oder als fiktional einstufen, ‚wir‘ als Publikum können durch sie, obwohl sie uns nicht direkt betrifft, in einer Art Anverwandlung transformiert werden. 40 Diese Kostproben aus den loci classici des höfischen Romans zeigen an, dass der exordiale Lehrtopos, der jedenfalls eine breitere Analyse verdient, weniger dazu auffordert, sich mit Inhalten zu bedienen, als die Modalitäten des Rezeptionsprozesses wahrzunehmen, in dem sich Lehrhaftes erschließen kann. Als grundlegendes didaktisches Textregister ist uns soeben im Iwein -Prolog der gnomische Satz, die Sentenz, begegnet, die im Exordium einen bevorzugten Platz hat. Ihr Auftreten quer durch die Werke wird neuerdings im Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12 . und 13 . Jahrhunderts vorbildlich erschlossen. 41 Entscheidend ist es hier, zu sehen, von welcher Instanz, dem Erzähler oder einer Romanfigur, der Satz vorgetragen wird; wie er sich auf den engeren und den weiteren Kontext bezieht; wie er womöglich zu anderen Aussagen in spannungsvolle Bezüge tritt. Der Einsatz von Sentenzen ist durchaus aufschlussreich für die Erzählweise des Romanautors. Gottfrieds Vorliebe für das Sententiöse ist erst durch die Übersicht im Handbuch in ihrem vollen Umfang zu überblicken. Sentenzen fungieren als gnomisch konzentriertes Sinnangebot an das Publikum, als Lehrpotential, das der Hörer / Leser für Punktuelles oder auch das Ganze des Textes für sich selbst fruchtbar machen kann. 42 Sententiös verallgemeinernd äußern sich zahlreiche Erzählerkommentare, wie sie der höfische Roman seit Hartmann kultiviert. Sie können sich zu Exkursen ausweiten und, so bei Gottfried, den Umfang moraldidaktischer Diatriben annehmen, die von den rhetorischen Techniken der Predigt profitieren. 43 Der Kontakt mit der klerikalen Gedankenwelt schlägt sich auch in der Verwendung von gelehrten Formen mehrschichtigen Sprechens nieder. Neben agierenden Personifikationen findet sich an exponierten Stellen die Allegorie. Mit punktueller impliziter Allegorik ist schon seit Hartmann zu rechnen. 44 Wenn Gottfried in der Minnegrotten-Auslegung eine 40 Zu dieser rezeptionsästhetischen Dimension Christoph Huber, „Empathisches Erzählen und Katharsis in Gottfrieds Tristan “, in: DVjs 88 (2014), S. 273-296. Zu Gottfrieds Exkurs-Poetik und ihrem Rezeptionsmodell Sandra Linden, Der Exkurs im höfischen Roman [Habilitationsschrift Tübingen 2015], im Druck. 41 Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12 . und 13 . Jahrhunderts , bearbeitet von Tomas Tomasek u. a., Berlin / New York, Bd. 1 2012, Bd. 2 2009. 42 Zu bedenken ist aber, was André Jolles zur einfachen Form ‚Spruch‘ (mit variantem typologischem Auftreten) herausstellt: Insofern der Spruch als „Geistesbeschäftigung“ eine Handlung abschließt und eine Erfahrung vergegenwärtigt, sperrt er sich gegen das ‚lehrhafte‘ Resultat; „die Sprache des Sprichwortes ist so, daß alle seine Teile einzeln, in ihrer Bedeutung, in ihren syntaktischen und stilistischen Bindungen, ihrer klanglichen Bewegung in Abwehr gegen jede Verallgemeinerung und Abstraktion stehen“ (A. J., Einfache Formen [1930], Studienausgabe der 4. Auflage [1968], Tübingen 1972, S. 167). 43 Ferdinand Urbanek, „Die drei Minne-Exkurse im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg“, in: ZfdPh 98 (1979), S. 344-371, und nachfolgende Forschung. 44 Diskutiert z. B. für Iweins Löwen oder auf der Kommentarebene für Enites Pferd, welche nicht explizit ausgelegt werden. <?page no="30"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 29 explizite, nach den Regeln der Kunst elaborierte Allegorie in den Roman einführt, bedeutet das einen historischen Schritt. Ausgiebig bedient sich bei der Allegorie der gelehrte Prosalancelot im Rahmen der fiktionalen Textwelt. Als Lancelot aus dem Mutterreich im See in die Rittergesellschaft aufbricht, gibt ihm die Dame vom Lac eine komplexe Ritterlehre mit auf den Weg. 45 Diese äußert sich nicht nur zu den Ursprüngen und den Zielen des Standes, sondern breitet anhand einer Rüstungsauslegung eine umfassende Darstellung der Rittertugenden und ihrer Funktionen aus. Das wird so zwischen den Figuren kommuniziert, ist aber darüber hinaus mit einem generellen programmatischen Anspruch in die Welt des Publikums hinein gesprochen. In seinen verschiedenen Teilen diskutiert der Prosalancelot weltliches und geistliches Rittertum in einer kaum überschaubaren Breite und mit einer normativ nicht auflösbaren Zwiespältigkeit. Intradiegetisch führt ein reiches Erzählmaterial ganze Lern- und Bildungsprozesse in fiktionalen Lebenszusammenhängen von der Motivierung über die Lehrtexte selbst bis zu ihren extremen Folgen vor. Bezeichnenderweise wird immer wieder auserzählt, dass die Figuren in solchen Prozessen nicht lernen, nicht lernen wollen oder nicht das Richtige lernen. Gregorius befolgt die Ratschläge des Abtes, der als hohe Lehrautorität und empathischer Charakter gezeichnet wird, gerade nicht. 46 Parzival scheitert schließlich an den Lehren der Mutter, des Gurnemanz, des Trevrizent und wird dennoch erwählt. 47 Dabei werden in die grundsätzlich integren Autoritäten auch relativierende Züge, Eigeninteressen und Täuschungen hineinverlegt. 48 In der Gral-Queste des Prosalancelot treten auch falsche Lehrer auf, hinter deren Masken Dämonen oder der Teufel agieren. 49 Tristans durch Begabung und Unterricht zu schwindelerregender Brillanz gesteigerte Künste schlagen zu seinem Verhängnis aus. Erfolg oder Misserfolg stehen jeweils auf einem anderen Blatt, von den Inhalten der Belehrungen ein Stück abgekoppelt. Diese fiktionalen Verhandlungen zerstören aber nicht grundlegend ein Lehrpotential, das die Figuren vortragen, sondern stellen es dem Publikum zur Disposition. Wie in einem Lehr- und Bildungsprozess der Lebenswelt bleibt die Umsetzung von Lehrinhalten den Romanfiguren ebenso wie einem Romanpublikum anheimgestellt, Formen der Aufnahme, die anderen Regeln gehorchen als methodisch noch so fundierte literaturwissenschaftliche Analysen. Wir halten kurz inne, um die Konsequenzen dieses Arrangements für die sprechaktliche Fiktionalitätsdefinition zu bedenken. Gegenüber Sprechakten der ersten Stufe sind hier ‚Gelingensbedingungen‘ wie der propositionale Gehalt (‚dass p‘) und das Aufrichtigkeits- 45 Lancelot und Ginover. Prosalancelot I , nach der Heidelberger Handschrift hg. von Reinhold Kluge, übersetzt, kommentiert und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker 123; Bibliothek des Mittelalters 14), Bd. 1, S. 324-355, Kommentar Bd. 2, S. 853-867. 46 Hartmann von Aue, Gregorius , hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Burghart Wachinger, 15. Auflage, Tübingen 1992 (ATB 2). Hier: Gregorius’ Weigerung, den Ratschlägen des Abts zu entsprechen, und die folgende Auseinandersetzung, V. 1385-1640. 47 Vgl. Walter Haug, „Parzival ohne Illusionen“, in: DVjs 64 (1990), S. 199-217, wieder in: ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität , Tübingen 1995, S. 125-139. 48 Zu Trevrizents Widerruf neuerdings Nine Miedema, „Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse“, in: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven , hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin / New York 2010, S. 35-67, hier S. 54-66 (Trevrizents Widerruf als Beispiel für Wolframs hakenschlagendes Erzählen); Cornelia Herberichs, „Eine poetologische Lektüre von Trevrizents Lüge“, in: PBB 134 (2012), S. 39-72 (Verbindung zum Bogengleichnis). 49 Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus. Prosalancelot V , nach der Heidelberger Handschrift hg. von Reinhold Kluge, übersetzt, kommentiert und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek deutscher Klassiker 190; Bibliothek des Mittelalters 18). <?page no="31"?> 30 Christoph Huber postulat, das den Sprecher verpflichtet, suspendiert. Bei einer didaktischen Rezeption des fiktionalen Textes ist es jedoch nötig, dass das Publikum den Suspens, den es akzeptiert hat, auf einer weiteren Stufe revidiert und Referenten anvisiert in seiner Welt, in der es lebt. Ich drücke es etwas vorsichtiger aus: Das Publikum findet in der fiktionalen Textwelt Relevantes und wird dazu motiviert, Referenten in seiner Lebenswelt zu finden. Diese können bereits existieren (etwa Bezüge auf die Umgebung, den Gönner des Werkes usw., auf die nun ein neues Licht fällt) oder sie müssen außerhalb der Textwelt als real erst erschaffen werden (etwa als Normkonzepte, eine so nicht übliche Form der Treue oder der Minne mit ihren Konsequenzen). Da Fiktionalität nicht Referenzlosigkeit oder -indifferenz meint, sondern den Suspens mit seiner Dynamik, ist diese Operation jederzeit möglich. Der Kontrakt ist, wie Chinca betont, nicht unbedingt verpflichtend, sondern revidierbar. 50 Diese Dynamik ist im Formrepertoire des höfischen Romans angelegt. Wir sollten uns vor Augen halten, dass dieser mit seinen diversen literarischen Techniken eine Doppelstrategie verfolgt. Einerseits will er die fiktionale Rezeption etablieren und sicherstellen, z. B. vor der Kritik der Zweifler an bestimmten Stoffbereichen. Anderseits ist es ihm auch um Relevanz zu tun, welche die Aufmerksamkeit bannt und das Publikum verpflichtet. Diese Doppelstrategie ist nicht Unentschiedenheit oder Schwäche, sondern selbstbewusste Stärke und eine Quelle vielfältiger artistischer und performativer Möglichkeiten. Zur Fiktionalisierungsstrategie gehören als Außenansicht die viel berufenen Fiktionalitätssignale, zu denen eine breit gestreute vergleichende Übersicht von Nutzen wäre. Fiktionalisierend wirken im mittelalterlichen Denkhorizont auch Elemente von dubiosem Status, die als fiktiv eingesetzt und womöglich demonstrativ so ausgestellt werden: die Erwähnung antiker Götter, Mythologisches, mehr oder weniger unwahrscheinliches Raum- Zeit-Inventar und Sonderwelten, an die man nur schwer glauben kann. Mythologischmärchenhafte Jenseitswelten aus der keltischen Tradition, wie sie sich etwa im descensus des Helden über den Höllenfluss in Chrétiens Karrenritter abzeichnen, dürften auf Gebildete ‚verdächtig‘ gewirkt haben. Das gibt in diesem Fall die rationalisierende, die Widersprüche heraustreibende Bearbeitung im Prosalancelot zu erkennen. Lancelot müht sich oben mit seinen letzten Kräften auf der Schwertklinge, während seine Begleiter sich unten bequem über den Fluss setzen lassen. 51 Eine märchenhafte Jenseitswelt wie Jorams Reich hinter der Steinwand in Wirnts Wigalois , wo ein gelehrtes Glücksrad aufgestellt ist, oder das Reich des Riesenvaters am Ende von Strickers Daniel , ein schlauchartig schmales und durchaus unbewohnbarer Territorium hinter einem unübersteigbaren Gebirge, dürften als fiktionale Realitäten hinreichend markiert gewesen sein. 52 Auch die Welt hinter der Steinwand im 50 Chinca (wie Anm. 8), S. 317. 51 Prosalancelot II (wie Anm. 45), S. 392 f. 52 Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text - Übersetzung - Stellenkommentar , Text der Ausgabe von Johannes M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Stellenkommentar versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin / New York 2005. - In der Vorgeschichte wird Gaweins über die steinewende (V. 607) in dieses Reich entführt; sein Sohn Wigalois geht den umgekehrten Weg. Vgl. Friedrich M. Dimpel, „Fort mit dem Zaubergürtel! Entzauberte Räume im ‚Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg“, in: Projektion - Reflexion - Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter , hg. von Sonja Glauch u. a., Berlin / Boston 2011, S. 13-37, hier S. 16-21. Der Stricker, Daniel von de blühenden Tal , 3., neubearbeitete Auflage hg. von Michael Resler, Berlin 2015 (ATB 92). - Für das dem Riesenvater zum Schluss von Artus verliehene Land, siehe V. 8365-8405. <?page no="32"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 31 heldenepischen Otnit , auf die man an verschiedenen Orten plötzlich stoßen konnte, legt für ein gebildetes Publikum die fiktionalisierende Rezeptionsform nahe. 53 Kunstvolle Deskriptionen geben Gelegenheit, die Aufmerksamkeit von der Referenz auf die Machart zu verlegen. Als Nährboden für literarische Selbstreflexivität bilden sie auch Sammelpunkte für Fiktionalitätsenthüllungen (Enites Pferd; Tristans Schwertleite; die Minnegrotte; tendenziell auch Veldekes Mausoleen). Überhaupt lenken intertextuelle Verweise die Aufmerksamkeit auf literarisch Vorgefertigtes hin und von Referenzen, unabhängig von ihrem Status, ab und können so fiktionalisierend wirken. Aber wie oben, die Rezipienten haben Spielraum in ihrer Lektüre. Als referenzstiftende Gegenstrategie treffen wir auf offensichtliche Einsprengsel äußerer Realität und historisierende Tendenzen. 54 Historisch dokumentierte Namen, Geographie und Geschichte, ein verblichener Graf Hoijr von Mannesfeld inmitten einer literarischen Rittergesellschaft 55 oder ein aktuelles Personal auf der Bühne, das gleichzeitig im Publikum sitzen kann, wie in Ulrichs von Lichtenstein Autobiographie - kein Roman. Wir haben vom Erzähler eingeschleuste Hinweise auf Abensberg, Wassertrüdingen oder die Wildenburg. 56 Die Hörer des Romanvortrags mussten die Fakten im Hintergrund, womöglich über das name-dropping hinaus, kennen, damit gelacht werden konnte. Kompliziert wird es mit den Normen der feudalen Wertordnung. Sie lassen sich nicht ohne Weiteres von einem Kommunikationsstatus in den anderen versetzen. Auch religiöse Normen sind unter den Bedingungen von Fiktionalität einigermaßen stabil. Übergänge liegen nahe, Abweichungen können eingeplant sein. Um einen unterschiedlich fortgeschrittenen Stand der Institutionalisierung des Fiktionalen im historischen Literatursystem zu benennen, hat Jan-Dirk Müller von Graden des Fiktionalen gesprochen, denen er eine schwankende Akzeptanz von Fiktionalität zuordnet. Wenn wir die literarische Machart der Texte anvisieren, ist es besser, mit Mischungsverhältnissen zu rechnen. Einzelne Textelemente stiften Fiktionalität, andere außertextliche Referenz. Dies läuft auf die skizzierte Doppelstrategie hinaus, die der Einsinnigkeit entgegenarbeitet. Soweit eine didaktische Botschaft gesendet und ernst genommen werden soll, rechnet sie indes mit Hörern bzw. Lesern jenseits der Textwelt und intendiert damit Referenzen ebendort. Für den nachklassischen Roman des 13./ 14. Jahrhunderts hat Mathias Herweg (2010) als Haupttendenz eine neue „Verbindlichkeit“ beschrieben und hierfür den prägnanten Begriff der „Transfiktionalität“ eingeführt. 57 So werden z. B. enzyklopädisches Wissen, Sachkundliches, verstärkt auch Rechtliches und Religiöses eingearbeitet, die als solche nicht unter 53 Vgl. Stephan Fuchs-Jolie, „ stainwant . König Otnits Tod und die heterotope Ordnung der Dinge“, in: Projektion - Reflexion - Ferne (wie Anm. 52), S. 39-59. 54 Vgl. Friedrich Vollhardt, „Die interpretatorische Relevanz nichtfiktionaler Elemente in literarischen Texten der Frühen Neuzeit (Grimmelshausen)“, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65 . Geburtstag , München 2009, S. 243-266. 55 Wirnt von Grafenberg, Wigalois (wie Anm. 52), V. 2861 f., vgl. Kommentar S. 294, Nachwort S. 272 f. 56 Zu den in Wolframs Parzival eingestreuten geographischen Namen aus dem Lebensumkreis des Dichters vgl. Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter , Bd. 2, München 1973, S. 791, Karte S. 792; weit ausgreifend ders., „Wo sind denn da Räume? “, in: Projektion - Reflexion - Ferne (wie Anm. 52), S. 175-192. 57 Herweg (wie Anm. 2), siehe Titel. Vgl. „transfiktionale Sinnstiftung“ (ebd., S. 19) mit der Definition: „Als ‚transfiktional‘ verstehe ich Sinnstiftungsverfahren, die die Fiktion auf eine außerhalb ihrer selbst liegende, höhere Wahrheit transzendieren“ (ebd., S. 19, Anm. 18); Positionierung in der Fiktionalitäts- Diskussion S. 203-206: Einbeziehung des ‚Imaginären‘, S. 207-210. Vgl. Kap. 2.5: „Fiktionalität auf <?page no="33"?> 32 Christoph Huber dem Dach des Fiktionalen wohnen. Damit erhöht sich für das Publikum der Anteil des ‚Relevanten‘, das eine didaktische Rezeption suggeriert. Bei der kostspieligen Aufführungspraxis und der teuren Handschriftenproduktion wird man einer ‚transfiktionalen‘ Rezeption des Romans, die als Repräsentationsform Herrschaft stabilisiert und durch didaktische Exemplarik der Legitimation der Auftraggeber dient, trotz aller Freiheiten und Subversivitäten, die der Text einzelnen Rezipienten oder Gruppen anbieten mag, keine geringe Attraktivität beimessen. 58 III. Dieses Argument gilt auch für die Lyrik. Wir fragen, wie die zwischen Suspens und Verbindlichkeit oszillierende Modalität der Aufnahme die Textstruktur der lyrischen Gattungen prägt. Der in den Sammelhandschriften als Gesamtkorpus überlieferte Minnesang teilt sich in zwei Subsysteme, den Sangspruch und das Minnelied; die formal bestimmte Subgattung des Leichs gesellt sich teils mehr dem Sangspruch zu. Wie weit politische Propaganda, mehr noch die Preis- und Scheltdichtung, die vor allem durch formale Überzeugungskraft gesellschaftliche Wertsetzung betreiben, im engeren Sinne lehrhaft sind, müsste differenziert werden. Jedenfalls greifen diese verschiedenen Spruchtypen auch auf fiktionalisierende Verfahren zurück, z. B. im Einsatz von Rollenspielen oder von narrativen Ansätzen, auch in der Form von agierenden Personifikationen. Das Lehrhafte fehlt lediglich bei den Sangsprüchen, die autoreferentiell Sprachspiele, Scherz und Nonsens zum Thema haben. Das Minnelied dagegen wird in der Mediävistik heute ziemlich einstimmig als fiktionale Darstellung von Liebesbeziehungen verstanden. Dieser Gattung didaktische Absichten zu unterstellen, erscheint fast abwegig. Wenn wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, muss genau dieser Punkt erörtert werden, ob nicht auch das Minnelied Lehren in petto hat und auf didaktische Gleise einlenkt. 59 Ich gehe von einer nicht didaktischen Qualität der fiktionalen Grundkonstellation aus, die sich als Darstellung von Affekten und von Strategien mit dem Ziel der erotischen Erfüllung entfaltet. Insofern hat das Minnelied einen subjektiven Schwerpunkt. Der liebende Mann etwa äußert sich zu Erfahrungen, die gerade nicht generalisierbar sind und mit dem öffentlichen Konsens konfligieren, das wird häufig explizit gesagt. Zwei literarische Verfahren tendieren jedoch in die Richtung der Didaxe. Seit den Anfängen finden sich im Repertoire des Minneliedes Interferenzen zur didaktischen Lyrik; und die Minnesang-Geschichte hat metaphorische Verschiebungen des Minnedienst- Modells entwickelt, die den Boden spezifisch subjektiver Gültigkeit demonstrativ verlassen. Aller werdekeit ein füegerinne, / daz sît ir zewâre, frowe Mâze. / er saelic man, der iuwer lêre hât! 60 Das Thema ‚Lehre‘ steht in diesem Lied Walthers, der als Erneuerer in beiden dem Prüfstand: Indizien ‚transfiktionaler‘ Rezeption der Romane um 1300“, S. 211-219 (vgl. unten zur Lyrik, Anm. 69). 58 Vgl. ebd., S. 211-219. 59 Zum Folgenden ausführlicher und mit weiterem Textmaterial Christoph Huber, „Liebesfiktion und Lehre. Zum didaktischen Potential des Minneliedes (Heinrich von Morungen, MF 127, 34; Reinmar, MF 162, 7; Konrad von Würzburg, 13)“, in: Von Heiligen, Rittern und Narren. Mediävistische Studien für Hans-Joachim Behr zum 65 . Geburtstag , hg. von Ingrid Bennewitz und Wiebke Ohlendorf, Wiesbaden 2014, S. 25-40. 60 Walther von der Vogelweide, Leich. Lieder. Sangsprüche , 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns, hg. von Christoph Cormeau, Berlin / New York 1996, L 46,32-34, Nr. 23a, S. 96. <?page no="34"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 33 Gattungen des Minnesangs ausgewiesen ist, an der Rampe der lyrischen Inszenierung. Manfred Scholz ist diesem Lehrspektakel nachgegangen. 61 Er beobachtet, dass es von Mitspielern „geradezu übervölkert“ ist (S. 130). Da ist ein ganze Schar von Personifikationen, nicht nur Frau Mâze , sondern auch die Unmâze , die Nidere Minne , die Hôhe Minne und die rätselhafte Herzeliebe ; da ist ein Ich-Sprecher, der sich gerne belehren lassen möchte, aber die Personifikationen schweigen. Vertrackt wird es, wenn dieser auch als Ich-Liebender das Wort ergreift und von „einem am Ende des Liedes am Horizont zu erahnenden wîp “ redet (L 47,13-15): mîn ougen hânt ein wîp ersehen, / swie minneclich ir rede sî, / mir mac doch schade von ir geschehen . Scholz rollt einen minnesanggeschichtlichen Kontext auf, der das mâze - Problem traktiert und für unsere Fragestellung einschlägiges Textmaterial zusammenzieht. Bei Walther sind mit dem Thema vor allem zwei weitere Lieder vernetzt. 62 Eine Jugend- Didaxe beginnt so: Junger man, wis hôhes muotes / dur die reinen wol gemuoten wîp […] (91,17 f.). Die affirmative Unterweisung verspricht dem jungen Ritter für eine maßvollrechte Frauenminne (auch als herzeliebe bezeichnet) werdekeit und fröide , wozu wie selbstverständlich auch die sexuelle Erfüllung gehört: Halsen, triuten, bî gelegen, / von sô rehter herzeliebe muost dû fröiden pflegen (92,1 f.) Dann geht es in der letzten Strophe des in C unikal überlieferten Lieds jedoch weiter: Sich, nû hab ich dich gelêret, / des ich selbe leider nie gepflac (92,3 f.). Die fiktionalen Erfahrungen des Sängers unterminieren seine ebenso fiktionale Lehrerrolle. In dem Dialoglied Ich hoere iu sô vil tugende jehen (43,9-44,10) werden zwischen Liebhaber und Dame Argumente zum ethischen Wert der Minne und zu ihrem Glücksanspruch ausgetauscht. Trotz einer abschließenden änigmatischen Entscheidung der Dame kommt es aber zu keiner Klärung. Die Dialogpartner sind gleichermaßen unerfahren und nicht in der Lage, ihren jeweiligen Horizont zu überschreiten. Scholz resümiert: „Dass der Lehrmechanismus in irgend einer Weise defizitär ist, sei es, dass der erhoffte Lernerfolg sich nicht einstellt, sei es, dass die Instanz des Belehrenden versagt, hat sich an allen drei Liedern zeigen lassen“ (S. 104). Dieser Effekt verdankt sich in erster Linie Walthers raffiniertem Rollenspiel, das die Lehrerrolle in ihrer die Lehrkommunikation stabilisierenden Autorität moduliert und unterminiert und meist als Pointe zur Rolle des desorientierten Liebhabers wechselt. Genauso verfährt das als Programm wechselseitig ausgeglichener Liebe gehandelte Lied, Saget mir ieman, waz ist minne ? (69,1-28). In der prominenten Strophenreihung EF wechselt der Sprecher von der inszenierten Ratsuche beim Publikum zum souveränen Lehrer, um bei dem alles widerrufenden, von Minne geblendeten Liebhaber zu landen, eine revozierende Bewegung. Wenn die Reihung in C diesen Schlusspunkt an den Anfang setzt, scheint sich ein affirmativer Lehrgestus herzustellen, der bei wachsamer Lektüre aber von vornherein untergraben ist. A stellt die revocatio -Strophe gar in die Mitte. Neben dieser von Walther auf die Spitze getriebenen Interferenz der Sprecherrollen von Lehrer und Liebhaber haben wir eine breitere Interferenz der gnomischen und der 61 Manfred G. Scholz, „Inkompetente Instanzen, defizitäre Tugenden. Lehren von minne und mâze in der höfischen Lyrik“, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin / New York 2010, S. 93-105. - Vgl. auch Silvia Ranawake, „ der manne muot - der wîbe site . Zur Minnedidaxe Walthers von der Vogelweide und Ulrichs von Lichtenstein“, in: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65 . Geburtstag von Karl-Heinz Borck , hg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock, Stuttgart 1989, S. 177-196. 62 Scholz (wie Anm. 61). <?page no="35"?> 34 Christoph Huber ich-bezogenen, subjektiven Diskursformen zu bedenken. Karin Brem hat umfangreiche Materialien zur Gattungsinterferenz des Minneliedes mit dem didaktischen Sangspruch bereitgestellt. 63 Seit den Anfängen des deutschen Minnesangs im Donauraum spielen Ratgeber-Gesten, gnomische Sätze oder ausführliche Begriffsdefinitionen und -abgrenzungen auch im Minnelied eine große Rolle. Das gilt auch für den klassischen hohen Minnesang. Reinmars Lied XII ( MF 162, 7 ff.) 64 setzt ein: Ein wîser man sol niht ze vil / [] versuochen noch gezîhen, dêst mîn rât [also nicht nachforschen und Vorwürfe machen], / von der er sich niht scheiden wil, / und er der wâren schulde doch keine hât . So geht es in der ganzen Strophe, auch im Abgesang, weiter: Swer wil al der welte lüge an ein ende komen, / der hât im âne nôt ein vil herzelîchez leit genomen. / wan sol boeser rede gedagen. / vrâge ouch nieman lange des, / daz er ungerne hoere sagen (162,7-24). 65 Systematisch schalten so die Klassiker gnomischlehrhafte Aussageformen ein, um gegen sie den irrationalen und paradoxen Charakter hoher Minne abzusetzen. Das heißt nicht, jener soll entkräftet werden, er wird diskutiert. Mit dem Einsatz verbindlicher Aussagen werden argumentativ neue Verbindlichkeiten generiert, die über ein ich-Befinden hinausreichen und der Minnesang-Gesellschaft in einer fiktionalen Situation Wertsetzungen unter den extremen Bedingungen der paradoxen Sehnsuchtsliebe vorlegen. Normierend wirken auch die Strategien des Frauenpreises, der sich an die Einzige oder das ganze weibliche Geschlecht richtet. 66 Klare Lehrsätze sind hier als Angebot nicht zu erwarten; auch ein Lehrtraktat wie De Amore des Kaplans Andreas ist kein Nachschlagewerk zum praktischen Gebrauch. Stattdessen trifft man auf eine gegliederte Ansammlung von Regeln, die provokant und partikulär formuliert sind und sich einem einheitlichen Nenner entziehen. Mit dem impliziten Anspruch auf Geltung hängen Gattungsentwicklungen des Minneliedes zusammen, die das fiktionale Dienst-Modell stärkerer Geltung und Verbindlichkeit zuführen. Aber schon im 12. Jahrhundert wird das Minnelied mit zeitgeschichtlich hochbrisanten Vorgängen konfrontiert. In der Kreuzzugslyrik erhält der Minnedienst in der Konkurrenz zum Gottesdienst eine didaktische Aktualität und Brisanz, die er als literarisch-gesellschaftliche Spielform alleine nicht beanspruchen könnte. Anders kommt ein Zugewinn an faktischer Referentialität zustande, wenn das Dienstmodell vom Frauenauf den Weltdienst metaphorisch übertragen wird. Seit Walther geht ein ganzer Strang der Gattung mit literarisch erstrangigen Texten diesen Weg (Neidhart, Konrad von Würzburg, Frauenlob). 67 Der fiktionale Modellcharakter wird hier beileibe nicht aufgehoben und auch nicht zu einsinniger Belehrung umgemünzt. Das aus theologischer Sicht sündhafte Werben um die Gunst der Frau Welt transportiert, wie Manfred Kern an literarischen und bild- 63 Karin Brem, Gattungsinterferenzen im Bereich von Minnesang und Sangspruchdichtung des 12 . und beginnenden 13 . Jahrhunderts , Berlin 2003 (Studium litterarum 5). Reiche Literaturangaben und Erfassung auch späterer Minnelyrik bei Rüdiger Schnell, „Minnesang und Sangspruch im 13. Jahrhundert. Gattungsdifferenzen und Gattungsinterferenzen“; in: Transformationen der Lyrik im 13 . Jahrhundert. Wildbader Kolloquium 2008 , hg. von Susanne Köbele u. a., Berlin 2013 (Wolfram-Studien 21), S. 287-347. 64 Des Minnesangs Frühling , hg. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, 38., erneut revidierte Auflage, Stuttgart 1988. Interpretation des Liedes bei Huber (wie Anm. 59). 65 Vgl. in dem Lied weitere Argumentationen, die Gnomisches aufgreifen: Si jehent, daz staete sî ein tugent, / der andern vrowe; wol im, der si habe! (162, 25 f.); Ez tuot ein leit nâch liebe wê; / sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol. (162, 34 f.). Analyse des ganzen Liedes XII bei Huber (wie Anm. 59), S. 33-35. 66 Gert Hübner, Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone , 2 Bde., Baden-Baden 1996 (Saecula spiritualia 34). 67 Vgl. Huber (wie Anm. 59), S. 36-39. <?page no="36"?> Lehre, Bildung und das Fiktionale 35 künstlerischen Beispielen herausgestellt hat, über das fiktionale Minnemodell ambivalente Züge in den weltanschaulichen Referenzraum hinein. 68 Dem fiktionalen Modell ist es auch zu verdanken, dass die Entscheidung des Liebhabers grundsätzlich offen bleibt. Neben der Absage an den Weltdienst ist auch ein Verharren im Dilemma möglich oder gar der Entschluss zum Weiterdienen. Konrad von Würzburg wählt die letztere Variante in Lied 13, um den hohen Typus in den allgemeinen Frauenpreis umzubiegen. 69 Ich schließe hier den Bogen dieses etwas waghalsigen tour d’horizon , ohne auf die spezifischen Bedingungen fiktionaler Rede in weiteren Gattungen einzugehen. Die Philosophie der Literatur kennt Positionen, die im Sinne des ‚Ethical Criticism‘ einen moralisierenden, belehrenden Charakter jeder Literatur herausarbeiten, auch in der Negation. 70 Dagegen behauptet der Ästhetizismus, es komme auf die Literarizität, die literarische Qualität der Literatur an, und zu lernen sei da nichts. Gewiss neigen bei den hier besprochenen Texten die Forschenden auch mehr der einen oder der anderen Seite zu, das hat mit Vorlieben und einer Art geistiger Physiognomie zu tun. Dass die vormoderne Fiktionalität allerdings die lehrhafte Rezeption systematisch einplant und strategisch vorantreibt, ist - so die These dieses Beitrags - aus den Texten selbst zu lesen. Während mehr schriftgebundene lehrhafte Gedichte wie die didaktischen Großwerke besonders mit Formen indirekten Sprechens spielen, aus denen Lehren gewonnen werden können (anders Wittenwilers an den Mären- Typus angelehnter Ring ), machen sich die vortragsorientieren Gattungen Roman und Lyrik die sprechaktlichen Fiktionalitätskriterien zunutze. In jedem Fall wird die Aktivität der Rezipienten herausgefordert, vor allem wenn eine ‚transfiktikonale‘ Lektüre Spielräume des Verstehens und der Referentialität zur Disposition stellt. Dass ein Literaturpublikum sich bei der Aufnahme von Kunstwelten letztendlich nur selbst bilden kann, hat man also nicht erst in der Moderne entdeckt. 68 Manfred Kern, Weltflucht. Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12 . bis 15 . Jahrhunderts , Berlin / New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 54 [288]); ders., „Theater der Eitelkeit in Text und Bild. Frau Welt und Herr Mundus“, in: Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potentiale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie , hg. von dems., Heidelberg 2013, S. 367-386. 69 Interpretation bei Huber (wie Anm. 59), S. 37-39. - In der Forschung zum Minnesang des 13. Jahrhunderts ist auch die Rede von „Defiktionalisierung“, vgl. prominent Franz Josef Worstbrock, „Lied VI des Wilden Alexander“ [1996], wieder in: ders., Ausgewählte Schriften , Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters , Stuttgart 2004, S. 119-136, hier S. 132: „Die Schematisierung des fiktiven Ich bedeutet je länger je mehr eine Atrophie der Ich-Rolle und die Suspension vorgangshafter Rollenentfaltung zugunsten vielfältiger formaler Vorgänge Defiktion alisierung des Minnelieds“. - Die Autonomisierung des Formalen beschreibt Manuel Braun, „Aufmerksamkeitsverschiebung. Zum Minnesang des 13. Jahrhunderts als Form- und Klangkunst“, in: Transformationen der Lyrik (wie Anm. 63), S. 203-230, hier S. 224-226. Die Umlenkung auf die Form wirkt mit ihrer Blockierung direkter Referentialität in die gleiche Richtung wie die Fiktionalisierung des Beziehungs-Modells. Anstelle von ‚Defiktionalisierung‘ bevorzuge ich im Minnesang wie im Roman (vgl. Herweg [wie Anm. 7 und 58]) ein Konzept der ‚Transfiktionalisierung‘, da der Durchgang durch die Fiktionalität des Beziehungsmodells, den die Gattungstradition vorgibt, nicht annulliert werden kann. 70 Zum ‚Lehrgehalt‘ von Literatur aus der Sicht der modernen Lehramts-Didaktik siehe die anregenden Aufsätze: Ulf Abraham und Thorsten Greiner, „Die Lehre der Literatur oder Was Literaturlehrende von ihrem Gegenstand lernen können“, in: Sprache und Literatur 33 (2002), H. 1, S. 55-68 (Theoretische Orientierung am ‚Ethical Criticism‘); Ulf Abraham, „Die Wahrheit schweigt grundsätzlich. Reden über Literatur im Unterricht“, in: Reden über Kunst . Fachdidaktisches Forschungssymposion über Literatur, Kunst und Musik , hg. von Johannes Kirschenmann u. a., München 2011 (Kontext Kunstpädagogik 28), S. 47-62. <?page no="38"?> Wie lernt der Mensch? 37 Wie lernt der Mensch? Anthropologische Betrachtungen der Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen in lateinischen und deutschen Texten des Mittelalters Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp I. Serenissime ac reuerentissime domine sue, francorum dei gracia regine Margarete, frater vincencius de ordine predicatorum, qualiscumque lector in monasterio suo de regali monte, perpetuam in domino salutem et paratam in omnibus ad eius obsequia voluntatem. Nuper si bene recolitis, vestra sublimitas meam parvitatem rogare dignata est, ut de scripturis diuinis flosculos conpetentes excerperem, ex quibus conpendiosum aliquid ad liberorum erudicionem salutarem conficerem, quo uidelicet eorum tenera infancia salubriter imbui posset et quasi vas nouum recenter infusum odorem sapientie suauissimum eorum memoria perpetuo retineret. Nam quod noua testa capit, inueterata sapit. 1 Um die Mitte des 13. Jahrhunderts - zwischen 1247 und 1249 - ist es Vinzenz von Beauvais, gelehrter Ratgeber am Hof Ludwigs des Heiligen, der die alte Metapher vom Gefäß, das nach seinem ersten Inhalt riecht, gleich zu Beginn seiner Schrift Über die Erziehung adliger Söhne verwendet. Mit der seit der Antike bekannten Metapher fasst er das Anliegen des Werkes in ein ebenso traditionsreiches wie im Bildungsdiskurs seiner Zeit virulentes Bild. Dessen Sinn erschließt sich aus der Zueignung des Werkes an Margarete von Frankreich: Sie habe ihn gebeten, so sagt Vinzenz, ein zur Erziehung junger Edelleute nützliches Kompendium zu erstellen, ‚wodurch ihr Kindesalter wirklich heilsam benetzt werden und ihr Gedächtnis den eingeströmten Duft süßester Weisheit wie ein neues Gefäß bewahren könnte‘. Zunächst erwartet man vielleicht das übliche Befüllen eines Gefäßes. Gemeint ist das aber nicht, es geht darum, dass das Gefäß selbst das Erlernte speichert, mit ihm untrennbar verschmilzt und es dauerhaft im Gedächtnis konserviert. In übertragener Bedeu- 1 Vinzent of Beauvais, De eruditione filiorum nobilium , hg. von Arpad Steiner, Cambridge / MA 1938 (Mediaeval Academy of America Publication 32), Nachdruck New York 1970, S. 3. Übersetzung (M. E.): ‚Wenn Ihr es Euch in Gedächtnis rufen mögt, hat Eure Erhabenheit es unlängst für würdig gehalten, meine Wenigkeit zu bitten, ob ich aus den heiligen Schriften passende Sentenzen auswähle, aus welchen ich ein zur Erziehung von Söhnen nützliches Kompendium erstelle, wodurch ihr zartes Kindesalter wirklich heilsam benetzt werden und ihr Gedächtnis den eben eingeströmten Duft süßester Weisheit wie ein neues Gefäß bewahren könnte. Denn was ein neuer Krug aufnimmt, das weiß er im Alter‘. Vgl. daneben Friedrich Christoph Schlosser, Vincent von Beauvais, Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen und ihre Lehrer als vollständiger Beleg zu drei Abhandlungen über Gang und Zustand der sittlichen und gelehrten Bildung in Frankreich bis zum dreizehnten Jahrhundert im Laufe desselben. Erster Theil , Frankfurt a. M. 1819, S. 1. <?page no="39"?> 38 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp tung ist daher gesagt, dass jeder Mensch durch das bestimmt ist, was er in frühen Lebensphasen zuerst erfährt und lernt. 2 Was bei Vinzenz damit zum Ausdruck kommt, ist die im mittelalterlichen Erziehungsdenken immer wieder begegnende „Sorge um die frühen Lebensjahre, die Aufmerksamkeit auf deren Chancen und Risiken für das ganze Leben“. 3 Diese pädagogisch motivierte Sorge um die frühen Lebensjahre legitimiert sein Werk und macht es für zeitgenössische Diskussionen relevant. Denn so vielgestaltig die Gefäß-Metapher seit dem frühen Mittelalter im lateinischen wie im volkssprachlichen Bildungs- und Erziehungsdiskurs auch erscheint: Immer steht sie in Zusammenhang mit Überlegungen zur frühen sozialen und intellektuellen Entwicklung des Menschen sowie den ganz konkreten Folgerungen, die sich daraus für die Erziehungspraxis ergeben. 4 Die Vorstellung, dass in Kindheit und Jugend auch moralisch die Weichen für das gesamte Leben gestellt werden, ist dabei oftmals das zentrale Argument für die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung. Hinter dieser allgemeinen Vorstellung steht aber auch die anthropologische Frage danach, was den Menschen ausmacht, wenn man nicht nur seine natürlichen und ererbten Anlagen sieht, sondern ihn als unfertiges, unbestimmtes und entwicklungsfähiges Mängelwesen betrachtet. 5 Wie man 2 Sprachgestalt und Gebrauch der Gefäß-Metapher verlangen eine nähere Untersuchung, die ihrer im Lateinischen und in den volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters unterschiedlichen Verwendung nachgeht. Lohnend wäre dabei bereits die Frage nach den jeweiligen Gefäß-Bezeichnungen und den damit verbundenen sensorischen Erfahrungen des Duftens, Schmeckens und Riechens. 3 Peter von Moos, „Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung“, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft , hg. von dems., Köln / Weimar / Wien 2004 (Norm und Struktur 23), S. 1-42, hier S. 5. Eine Auseinandersetzung mit dem - bei von Moos eingehend erörterten - wissenssoziologischen Konzept der Primär- und Sekundärsozialisation können wir im Rahmen unseres Beitrags nicht leisten; verwiesen sei dafür nur auf Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie , Frankfurt a. M. 1977, S. 139-157. 4 Ein Überblick zur Verwendungsgeschichte der Metapher seit der Antike fehlt sowohl für das Lateinische als auch für die volkssprachlichen Literaturen. Ausgewählte Belegstellen interpretiert von Moos (wie Anm. 3), S. 5-8; für einen ersten materialorientierten Überblick eignen sich am ehesten die allerdings ergänzungsbedürftigen Verzeichnisse in den modernen Sammlungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Proverbien; vgl. insbesondere Hans Walther, Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Anordnung , Teil 1-6, hg. von dems., Teil 7-8, hg. von Paul Gerhard Schmidt, Göttingen 1963-1983, Nr. 25 711, 25 948; Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, begründet von Samuel Singer, hg. von Ricarda Liver, Bd. 4, Berlin / New York 1997, s. v. „Gefäss“ 5.2 und 5.5. 5 Im Unterschied zum adlig-höfischen Menschenbild des Mittelalters, für das der adlige Mensch von Geburt durch Herkommen und ererbte Vorzüge ausgezeichnet ist, gehen klerikale christliche Erziehungslehren davon aus, dass dem Menschen bei der Geburt alles zum Leben Nötige fehlt, so dass der Erziehung bereits im frühen Kindesalter sehr hohe Bedeutung zukommt. Die Vorstellung vom Menschen als physischem Mängelwesen erläutert im größeren Kontext der christlichen Anthropologie Udo Friedrich, Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009 (Historische Semantik 5), Kap. II und S. 249-255. In der germanistischen Mediävistik setzt die Diskussion um das prekäre Verhältnis von ererbten Anlagen und Erziehung (lat. natura / nutritura , mhd. natûre / gewonheit ), doch eben auch christlichem und adlig-höfischem Wissen über den Menschen gerade erst wieder neu ein. Dass eine Diskussion fehlt, machen jüngste Beiträge zu Wolframs von Eschenbach Parzival deutlich; vgl. dafür exemplarisch: Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach , Tübingen 2001 (Hermaea N. F. 94), S. 78-85; Jan-Dirk Müller, „Percevals Fragen - oder ein ‚Parzival‘ ohne Mitleidsfrage? “, in: Wolfram-Studien 23 (2014), S. 9-49, hier S. 42. Nach unserem Verständnis ist es ein <?page no="40"?> Wie lernt der Mensch? 39 dabei betonen muss, ist auch diese Frage stets in konkrete diskursive Zusammenhänge eingebunden: In der Erziehungsschrift des Vinzenz von Beauvais etwa erscheint sie im Kontext jener Debatten, in denen seit dem 12. Jahrhundert „Bildung als Norm adliger Lebensführung“ 6 ausgehandelt wird. Die Aufschlusskraft der Gefäß-Metapher für das Thema dieses Tagungsbandes soll mit diesem Beispiel nur in einem ersten Zugang angedeutet sein. Dies gilt zum einen etwa für das Verhältnis von primärer Sozialisation und ererbten Anlagen des Menschen, das hier in eine prägnante Bildlichkeit gefasst ist: das Gefäß, das sich mit dem Erlernten fest verbindet. Zum anderen gilt es aber auch für die weitergehende Frage, wie anhand einer solchen Vorstellung das in lateinisch-gelehrten und volkssprachlichen Kontexten verfügbare Wissen über Lernen, Lehren und Bilden erzeugt und verhandelt wird. 7 Im Folgenden geht es weniger um schon gesicherte Antworten und Ergebnisse, vielmehr ist unser Ziel, die Gefäß-Metapher vergleichend in den lateinischen wie volkssprachlichen Diskursen über Bildung und Erziehung zu analysieren. Um einen Überblick zu ermöglichen, beginnen wir mit Hinweisen zu Herkunft und diskursivem Profil der Metapher. II. Dass irdene Gefäße lange den Geruch oder den Geschmack des ersten Inhalts konservieren, ist zunächst nur eine alltagspraktische Erfahrung. Bei antiken Autoren hat man sich Geschirr aus rauem Ton - die testa rudis - vorzustellen, weil ein Gefäß nur dann, wenn es porös ist, das Aroma seines ersten Inhalts dauerhaft bewahrt. Schon insofern ist das Verständnis der Metapher abhängig von der jeweiligen materiellen Kultur, und gar nicht sicher ist, ob ihr ursprünglicher Sinn beim Übergang in neue kulturelle Kontexte erhalten bleibt. Bereits in der römischen Antike der klassischen Zeit und der Spätantike - zuerst bei Horaz und Quintilian, danach bei Augustin und Hieronymus - ist das so zu verstehende Gefäß Metapher für den Menschen, der in seiner Entwicklung durch äußere Faktoren, zentrales Forschungsdesiderat, neben dem Stellenwert des christlichen Menschenbildes die Bedeutung der klerikalen Diskurse für die volkssprachliche höfische Literatur genauer als bisher zu bestimmen. Das gilt insbesondere für die Frage, welche Diskurse etwa bei Wolframs Erörterung des Verhältnisses von natürlicher Disposition und Erziehung aufgerufen werden. Geht es um spezielle Themen wie die ritterlich-militärische Ausbildung, oder grundlegender um das Problem der Erziehung, insofern es das Spanungsfeld von natura und consuetudo betrifft? 6 Klaus Schreiner, „Bildung als Norm adliger Lebensführung. Zur Wirkungsgeschichte eines Zivilisationsprozesses, untersucht am Beispiel von ‚De eruditione filiorum nobilium‘ des Vinzenz von Beauvais“, in: Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften der Vormoderne , hg. von Rüdiger Schnell, Köln / Weimar / Wien 2004, S. 199-237, hier S. 237. 7 Wegen dieser Fokussierung auf das mittelalterliche und frühneuzeitliche Diskursprofil der Metapher klammern wir im Folgenden die sonst eigentlich naheliegende Frage aus, inwiefern die Gefäß-Metapher mit heutigen Vorstellungen des wechselseitigen Einflusses von ererbten Anlagen und Umweltfaktoren konvergiert. Wie dafür erst noch konkreter auszufalten wäre, geht es bei dem Gefäß, das nach seinem ersten Inhalt riecht, nicht eigentlich um Prägung durch äußere Faktoren, wie sie vorzugsweise in der Wachs-, Siegel-, Stempelmetaphorik zum Ausdruck kommt, sondern darum, dass Gefäß und Inhalt eine untrennbare Verbindung eingehen, die nicht rückgängig zu machen oder erneut zu ändern ist. Die in der Metapher artikulierte Überzeugung, wonach von außen herangetragene Bildungsinhalte und Werte leichter angenommen und dauerhaft bewahrt werden, markiert damit eine Position der bis in die moderne Pädagogik und Psychologie fortbestehenden Kontroverse über die Gewichtung von Erziehung und äußeren Einflüssen gegenüber der Bedeutung naturgegebener Anlagen für die Ausbildung geistiger charakterlicher Eigenschaften. <?page no="41"?> 40 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp gemeint sind vorrangig Bildungsinhalte und moralische Werte, beeinflusst ist. Dabei geht es anfänglich nicht nur um das primäre Hineinwachsen in die Gesellschaft mit seiner Wechselwirkung von angeborener Disposition und soziogenen Einflüssen. Während die Gefäß-Metapher später im Mittelalter fest mit den frühen Phasen kindheitlichen Lernens - dem Erwerb der Muttersprache und Grammatik oder dem ersten Lesen - verknüpft ist, bezieht ein klassischer Autor wie Horaz sie nämlich noch auf Lerninhalte, die eine bereits spezialisierte Bildung mit dem Zugang zu Literatur und philosophischen Fragen voraussetzen: 8 fingit equuum tenera docilem cervice magister ire, viam qua monstret eques; venaticus, ex quo tempore cervinam pellem latravit in aula, militat in silvis catulus. nunc adbibe puro pectore verba, puer, nunc te melioribus offer. quo semel est inbuta recens servabit odorem testa diu. […] In der Epistel an Lollius Maximus ist der Kontext dafür eine an den Briefpartner adressierte Mahnrede, in der Horaz seinen jungen Freund zur Umkehr und Neuorientierung im Leben drängt. Man könnte fragen, ob die Dynamik der Umkehr und des Neuanfangs, die damit ins Spiel kommt, bereits mit der christlichen conversio vergleichbar ist. Doch das Thema der Epistel ist nicht ein radikaler Wechsel der gesamten Lebensform, sondern es geht um eine veränderte Einstellung zum Studium ethisch relevanten Wissens, mit dem man schon als junger Mensch beginnen müsse: ‚Einmal neugefüllt‘, so appelliert Horaz an Maximus, ‚wird der frische Tonkrug das Aroma lange bewahren‘. Gegenüber Horaz, der sie in einer als privat stilisierten Briefkommunikation einsetzt, ist der kontextuelle Rahmen der Metapher bei Quintilian grundlegend verändert. 9 Ante omnia ne sit vitiosus sermo nutricibus: quas, si fieri posset, sapientes Chrysippus optavit, certe quantum res pateretur, optimas eligi voluit. et morum quidem in his haud dubie prior ratio est, recte tamen etiam loquantur. Has primum audiet puer, harum verba effingere imitandi conabitur. et natura tenacissimi sumus eorum, quae rudibus animis percepimus: ut sapor quo nova imbuas 8 Horaz, Epistulae - Briefe. De Arte Poetica - Von der Dichtkunst. Lateinisch - deutsch, übersetzt von Gerd Herrmann, hg. von Gerhard Fink, Düsseldorf / Zürich 2003, I,2,70. Übersetzung (ebd., S. 19): ‚Junge Pferde lassen sich willig dressieren, zu gehen, / Wohin der Reiter sie lenkt; / der junge Jagdhund nicht anders, / Der in der Halle das Hirschfell tüchtig verbellte: ihn kannst du / Brauchen im Walde. - Jetzt, mein Freund, nimm auf diese Worte / Reinen und lauteren Herzens, jetzt suche den Umgang mit Bess’ren! / Ist der Tonkrug einmal gefüllt - den Duft wird er lange / Speichern! ‘ 9 Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher , Bd. 1, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 2 1988, S. 14-17. Übersetzung (ebd., S. 15 und 17): ‚Vor allem darf die Sprache der Ammen nicht fehlerhaft sein, hat doch für diese Chrysipp, wenn möglich, philosophische Bildung gefordert, jedenfalls aber gewünscht, man sollte hierfür, soweit es die Verhältnisse erlaubten, die allerbesten Frauen auswählen. Und zweifellos hat auch hier die Rücksicht auf ihre guten Sitten den Vorrang; jedoch sollen sie auch einwandfrei sprechen! Ihr Sprechen wird ja der Knabe zuerst hören, ihre Worte nachzusprechen versuchen. Und von Natur halten wir am beharrlichsten fest, was unser Geist im frühsten Entwicklungsstadium in sich aufgenommen hat: wie ja auch Gefäße dauernd nach dem schmecken, womit sie zuerst in Berührung gekommen sind, und man auch die Farben, mit denen man das ursprüngliche Weiß der Wolle gefärbt hat, nicht mehr herausspülen kann. Und je schlechter etwas ist, um so hartnäckiger haftet es fest‘. <?page no="42"?> Wie lernt der Mensch? 41 durat, nec lanarum colores, quibus simplex ille candor mutatus est, elui possunt. Et haec ipsa magis pertinaciter haerent quae deteriora sunt. In der Vorrede zu seiner Rhetorik entwickelt Quintilian sein Konzept von Bildung und reflektiert die Voraussetzungen für richtiges Lehren und Lernen. Im Zentrum seiner Argumentation begründet er ausführlich, warum Ausbildung und Erziehung für die kognitive Entwicklung von Kindern ungleich wichtiger sind als natürliche Begabung. Erstaunlich ist, wie detailliert er dabei der Frage nachgeht, was zu einem förderlichen sozialen Umfeld aus seiner Sicht gehört - sprachlich versierte Ammen und Spielkameraden, gebildete Eltern und Betreuer. Kaum weniger detailreich erörtert er, mit welchen Lerninhalten Kinder zuerst in Kontakt kommen sollten und ab welchem Alter eine gezielte Schulung überhaupt beginnen kann. Was bei einem Text- und Diskursvergleich mit der Epistel des Horaz ganz klar hervortritt, ist der aus dem veränderten institutionellen Kontext erklärbare allgemeine Geltungsanspruch, mit dem Quintilian nach den intellektuellen und moralischen Bedingungen für die rhetorische Ausbildung fragt. Auch die anthropologische Reflexion über das Verhältnis von natürlichen Anlagen und Sozialisation ist darauf ausgerichtet, die Notwendigkeit von Ausbildung und Erziehung zunächst prinzipiell zu erweisen und dann in systematischer Form detailliert zu demonstrieren. Das im Einzelnen zu zeigen, fehlt hier der Raum. Doch kommt es noch auf zwei Punkte an, die für das diskursive Profil der Gefäß-Metapher entscheidend sind: 1. In solchen Zusammenhängen wie bei Quintilian dient das Gefäß-Bild als argumentative Keimzelle, aus der die Fülle der einzelnen Überlegungen entwickelt und zugleich entlang metaphorisch vertrauter Argumentationswege organisiert werden kann. Geht man mit der neueren Metaphern-Theorie davon aus, dass menschliches Wahrnehmen und Denken selbst immer schon metaphorisch ist, dann wird man behaupten können, dass die Gefäß-Metapher ein kognitives Modell repräsentiert, das von Fall zu Fall neu Überlegungen und Argumentationen anregt und strukturiert. 10 Die Verwendung der Gefäß-Metapher setzt daher auch nicht ein irgend vollständig definiertes oder endgültig festes Wissen über die menschliche Natur oder Erziehung und Bildung voraus. Vielmehr verweist sie auf ein Denkmodell, das, abhängig vom jeweiligen Kontext, stets neu begründet, aufgebaut und entfaltet werden muss. Beobachten lässt sich dies nicht nur im Lateinischen, sondern auch in volkssprachlicher Literatur. So zum Beispiel, wenn - wie bei Berthold von Regensburg 11 - das christliche Sündenverständnis über die Gefäß- Metapher argumentativ mit der Entwicklungsfähigkeit des Menschen verbunden ist. 10 Insofern lässt sich das Gefäß-Bild als konventionalisierte Konzept-Metapher verstehen, die nach dem Muster ‚Gefäß‘ für ‚Mensch‘ (Artefakt für Belebtes) versprachlicht ist. Lakoff/ Johnson zählen Gefäß- Metaphern zu den ‚ontologischen Metaphern‘ und ordnen sie damit den epistemisch unverzichtbaren Grundlagen für ein durch die Erfahrung von Dingen, Stoffen und Qualitäten vermitteltes Verstehen konzeptueller Zusammenhänge zu (George Lakoff und Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern , Heidelberg 7 2011, S. 35-43). Darüber hinaus geht es uns um die Leistung der Metapher als Denk- und Wissensmodell im Sinne der Topik; vgl. dazu die Explikation des Topos-Begriffs bei Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft , Frankfurt a. M. 1976, S. 26-90; weiterhin Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ‚Policraticus‘ Johanns von Salisbury , Hildesheim 2 1996 (Ordo 2), insbesondere S. IX und 422-426. 11 Vgl. Berthold von Regensburg, Predigten , hg. von Franz Pfeiffer, Bd. 1, Wien 1862, Nachdruck Berlin 1965, S. 29-47, hier 34 und 35 ( Von drîn lâgen ). <?page no="43"?> 42 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp 2. Bereits Quintilian markiert mit der Gefäß-Metapher das Prinzipielle und Idiosynkratische seiner Konzeption von Bildung. Vorausgesetzt ist dabei die keineswegs unumstrittene Überzeugung, dass der Mensch weniger durch ererbte Anlagen als vielmehr durch seine frühkindlichen Erfahrungen bestimmt ist - aufgrund seiner Natur ist der Mensch daher kulturell formbar, er bedarf der Bildung und Erziehung. Auch mittelalterlichen Autoren dient diese Grundeinsicht als kritisches Argument, um die eigene Position meist gegen andere Erziehungsvorstellungen zu behaupten. Ein Beispiel aus der spätantiken Literatur sind die Erziehungsratschläge, die der Kirchenvater Hieronymus der römischen Patrizierin Laeta, der Mutter der kleinen Paula, gibt. Zu verstehen sind diese Ratschläge nur, wenn man sieht, dass Hieronymus sich mit ihnen gegen die Beeinflussung Paulas durch ihren nicht christlichen Vater wendet. 12 So wie in diesem Fall wird das Argument der Überlegenheit der primären Sozialisation auch sonst redestrategisch und agonal eingesetzt. Es lohnt daher die Frage, in welchen Konflikt-Szenarien die Gefäß-Metapher erscheint. Neben den Aspekt der Wissensgenerierung tritt also der Aspekt der Agonalität. III. Fragt man vor diesem Hintergrund nach dem topischen und argumentativen Arsenal für das mittelalterliche Wissensfeld von Lehren, Lernen und Bilden, so sind - schematisch gesagt - zwei diametral entgegengesetzte Positionen erkennbar: Der einen Position gilt der Mensch nur bedingt als entwicklungsfähig, weil er durch seine natürliche Disposition und ererbten Anlagen determiniert ist. Zu erinnern ist etwa an das genealogische Denken des mittelalterlichen Adels, doch auch daran, dass in den Kindheits- und Jugend-Erzählungen der höfischen Romane die Prägung durch den art oftmals wichtiger als Erziehung ist. 13 Im Unterschied dazu betont die zweite Position gerade die Entwicklungsfähigkeit des Menschen, das heißt: Erziehung und Bildung verstärken nicht einfach nur, was ohnehin durch Natur und Geblüt angelegt ist, sondern sie sind es, die im Zusammenspiel von sozialer Prägung und individuellem Feedback dominieren, und zwar so, dass die durch Erziehung vermittelten Eigenschaften und Verhaltensweisen zur ‚Gewohnheit‘ und ‚zweiten Natur‘ werden. Dieser letzteren Position, das hat sich ja schon gezeigt, ordnet sich die Gefäß- Metapher zu, wobei beachtet sein will, dass sie, alles andere als plakativ, im Lateinischen wie in der Volkssprache mit einem differenzierten Diskurs über Bildung und Erziehung einhergeht. Unter diachroner Perspektive ist die Relevanz dieses Diskurses daran ablesbar, dass die Gefäß-Metapher - von Augustin und Hieronymus bis Petrarca und Erasmus - gleichsam als Klammer für eine Bildungsdebatte dient, in der es um die enorme Bedeutung der früh- 12 In ihrem soziokulturellen Kontext ist die polemisierende Schreibweise des Hieronymus dargestellt bei Stefan Rebenich, Hieronymus und sein Kreis. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1992 (Historia 72), S. 170-180. 13 Ein zentrales Beispiel sind die Kindheits- und Jugenderzählungen von Paris und Achill in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg . Vgl. Udo Friedrich, „Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘“, in: Text und Kontext , hg. von Jan-Dirk Müller, München 2007, S. 99-120, hier S. 110-120; Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik , Tübingen 2007, S. 59-65. Exemplarisch ist daneben die Erzählung von der kerzentragenden Katze in der Salomon und Markolf-Tradition; vgl. dazu Sabine Griese, „Natur ist stärker als Erziehung. Markolf beweist ein Prinzip“, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Alan Robertshaw und Gerhard Wolf, Tübingen 1999, S. 215-229. <?page no="44"?> Wie lernt der Mensch? 43 kindlichen Erziehung und zugleich die Voraussetzungen für eine hochwertige rhetorische, theologische und philosophische Bildung geht. Bevorzugt an expositorische Textgenres wie Brief und Traktat, Dialog und Spiegel gebunden, sind die kulturellen Konfliktfelder, in denen das mit der Metapher verknüpfte Denkmodell aufgerufen wird, zwar höchst unterschiedlich. Durchweg bezeichnend ist jedoch der immer neue Rekurs auf die von Horaz geprägte und später durch Augustin und Hieronymus christlich nobilitierte Gefäß- Metaphorik. Zudem bilden sich früh verschiedene Themenstränge heraus, die entlang zu beobachten ist, wie differenziert Bildungs- und Erziehungsfragen erörtert werden: 14 ipse elementorum sonus et prima institutio praeceptoris aliter de erudito, aliter de rustico ore profertur. unde et tibi est prouidendum, ne ineptis blanditiis feminarum dimidiata dicere filiam uerba consuescas et in auro atque purpura ludere, quorum alterum linguae, alterum moribus officit, ne discat in tenero, quod ei postea dediscendum est. Graccorum eloquentiae multum ab infantia sermo matris scribitur contulisse, Hortensiae oratio in paterno sinu coaluit. difficulter eraditur, quod rudes animi perbiberunt. lanarum conchylia quis in pristinum candorem reuocet? rudis testa diu et saporem retinet et odorem, quo primum imbuta est. So geht Hieronymus in dem um 401 verfassten Brief Über die Mädchenerziehung von dem zeitgeschichtlich zentralen Thema der Etablierung des frühen Christentums aus, um in dem damit aufgerufenen religiösen Spannungsfeld Leitlinien für eine christliche Erziehung und Bildung zu entwerfen. Der Brief geht zwar auch auf Aspekte der Kleidung und Ernährung ein, doch stehen - keinesfalls weniger detailliert als bei Quintilian - die Voraussetzungen für das Studium christlicher Schriften und damit die intellektuelle Erziehung im Vordergrund. Die Sorge um die frühen Lebensjahre ist ganz auf die Risiken negativer sozialer Einflüsse im Kindesalter bezogen, da man einmal Erworbenes nur schwer wieder abgewöhnen kann. In seiner gegen die Vorwürfe des Rufin gerichteten ‚Apologie‘ steht dagegen die Frage nach dem Wert literarischer Bildung und speziell dem Nutzen im Zentrum, den der einmal erworbene Umgang mit den ‚paganen‘ Werken der Antike hat. Hieronymus führt das anhand des Horaz-Zitats nicht nur inhaltlich, sondern auch argumentativ und performativ vor, indem er Rufin auf die Defizite seiner Bildung aufmerksam macht. 15 Bei Petrus Abaelard - er kann auch für unser Thema als „eine Schlüsselfigur des 12. Jahrhunderts“ 16 gelten - ist die Verwendung der Gefäß-Metapher in zweierlei Hinsicht beispiel- 14 Sancti Eusebii Hieronymi Epistulae , Pars II, hg. von Isidor Hilberg, Wien / Leipzig 1910 (CSEL 55), Ep. 107, S. 295. Übersetzung ( Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Briefe , aus dem Lateinischen übersetzt von Ludwig Schade, München 1936, S. 390 f.): ‚Selbst die Aussprache der Buchstaben und der erste Unterricht fließen ganz anders aus dem Munde eines gelehrten als eines ungebildeten Lehrers. Trage daher auch Sorge, daß Deine Tochter sich nicht der törichten Manier gewisser Frauen anpaßt, indem Du sie etwa gewöhnst, die Worte nur halb auszusprechen und mit Gold und Purpur zu spielen. Das eine schadet der Aussprache, das andere dem Charakter. Sie könnte sonst in zartem Alter lernen, was man ihr später wieder abgewöhnen muß. Man erzählt, daß die Aussprache der Mutter schon von Jugend an den Grund der Beredsamkeit der Gracchen gelegt hat, während Hortensia bereits auf den Knien des Vaters ihre erste Ausbildung in der Redekunst erhielt. Es ist schwierig, später auszumerzen, was der jugendliche Geist in sich aufgenommen hat. Wer kann der Purpurwolle ihren ursprünglichen Glanz wiedergeben? Ein ungebrauchtes Gefäß behält lange den Geschmack und den Geruch seines ersten Inhaltes‘. 15 Vgl. Hieronymus, Apologia contra Rufinum , hg. von Pierre Lardet, Turnhout 1982 (CCSL 79), I,30, 422B; vgl. dazu die Hinweise bei Rebenich (wie Anm. 12), S. 138 f. 16 Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin bis Machiavelli , Stuttgart 1986 (RUB 8342), S. 211. <?page no="45"?> 44 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp haft: Wenn er in Brief 9 über das Schriftstudium ( De studio litterarum ) handelt, schließt er ausdrücklich an den Brief des Hieronymus über die Mädchenerziehung an, und die vorhin angesprochene Textpassage mit dem Horaz-Zitat wiederholt er dabei zu Beginn sogar über weite Strecken wörtlich. 17 Allerdings, so Regina Heyder: Die „Hieronymusrezeption Abaelards ist selektiv und tendenziös“. 18 Die hochgebildeten Frauen um Hieronymus und Hieronymus selbst sind für ihn zwar Vorbilder, doch geht es bei ihm vorrangig um eine Diskussion der Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Bibelexegese, die sich auf alle biblischen Sprachen erstreckt. Diese ‚mönchshumanistische‘ Orientierung zielt dabei auf ein weitreichendes gelehrtes Studienprogramm für die Nonnen des von ihm selbst gestifteten Klosters Paraklet. 19 An anderer Stelle - das ist exemplarisch für das 12. Jahrhundert - hinterfragt er kritisch das mit der Gefäß-Metapher verbundene Denkmodell. Denn das wohl schon um 1120 entstandene Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen wendet sich explizit gegen den unreflektierten Umgang mit früh erworbenen Gewohnheiten und Wissen. Genauer gesagt richtet es sich: gegen den „negative[n] Aspekt der schlechten, durch selbstbestimmte Vernunft zu überwindenden Gewohnheit “. 20 Um diese kritische Haltung zur Geltung zu bringen, lässt Abaelard zuerst den Juden in der Auseinandersetzung mit dem Philosophen die ‚aufgeklärte‘ Position vertreten. Er habe, so sagt jener, wie andere auch in der Kindheit 17 Vgl. Edmé Renno Smets, Peter Abelard. Letters IX-XIV. An Edition with an Introduction, Groningen 1983, S. 113-120; Regina Heyder, Auctoritas scripturae. Schriftauslegung und Theologieverständnis Peter Abaelards unter besonderer Berücksichtigung der ‚Expositio in hexaemeron‘, Münster 2010 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F. 74), S. 126-129; The Letter Collection of Peter Abelard and Heloise , hg. von David Luscombe nach der Übersetzung von Betty Radice, Oxford 2014, S. XXIVf. (für den Hinweis auf diese neue Ausgabe danken wir herzlich Nigel F. Palmer). 18 Heyder (wie Anm. 17), S. 104. 19 Vgl. zum Entstehungs- und Diskurskontext der gesamten Briefsammlung David Luscombes instruktive Einführung in The Letter Collection of Peter Abelard and Heloise (wie Anm. 17), S. XVII-XXXVIII; weiterhin den Forschungsaufriss bei Peter von Moos, „Abaelard, Heloise und ihr Paraklet: ein Kloster nach Maß. Zugleich eine Streitschrift gegen die ewige Wiederkehr hermeneutischer Naivität“, in: ders., Abaelard und Heloise. Gesammelte Studien zu Mittelalter , Bd. 1, hg. von Gert Melville, Münster 2005, S. 233-301. 20 Von Moos (wie Anm. 3), S. 6; vgl. Peter Abailard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen . Lateinisch und deutsch , hg. und übertragen von Hans-Wolfgang Krautz, Frankfurt a. M./ Leipzig 1995, S. 16: Ita namque singulis hominibus proprii generis et eorum, cum quibus educantur, insitus est amor, ut contra eorum fidem quidquid dicatur, abhorreant; et consuetudinem in naturam vertentes, quidquid didicerunt pueri, obnixe tenent adulti, et antequam ea, quae dicuntur, capere valeant, credere se affirmant, ut enim et poeta meminit: / ‚Quo semel est imbuta recens, servabit odorem testa diu.‘ / Quales quidem philosophorum quidam arguit dicens: ‚Neve, si quid in puerilibus disciplinis acceperint, id sacrosanctum iudicent, quoniam quidem res teneris auribus accomodatas saepe philosophiae senior tractatus eliminat.‘ Übersetzung (ebd., S. 17): ‚Denn so ist einzelnen Menschen die Liebe zu ihrer eigenen Herkunft und zu denen, mit denen sie erzogen werden, eingepflanzt worden, daß sie vor allem, was gegen deren Glauben gesagt werden mag, zurückschrecken. Und indem sie „Gewohnheit in Anlage umwandeln“, halten sie an dem, was immer sie als Kinder gelernt haben, als Erwachsene beharrlich fest; und bevor sie das, was man sagt, zu begreifen vermögen, behaupten sie, daß sie es glauben, wie nämlich auch der Dichter uns erinnert: „Womit es einmal frisch getränkt ward, davon wird das Tongefäß lange den Geruch behalten.“ In gleicher Weise argumentiert ein Philosoph, wenn er sagt: „Man soll nicht, wenn man etwas in Anfängerdisziplinen angenommen hat, dies für sakrosankt halten, da ja die reifere Behandlung der Philosophie häufig Zusammenhänge, wenn sie an jugendliche Ohren angepasst worden sind, wieder zurechtrückt.“‘ Vgl. zur Bedeutung dieses Dialogs für die im Mittelalter „wachsende Pluralität von christlichen Glaubensüberzeugungen“ (S. 96) die Analyse bei Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs , Frankfurt a. M. 2003 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1682), S. 96-100. <?page no="46"?> Wie lernt der Mensch? 45 übernommen, was ihm die Umwelt beigebracht hat. Als Erwachsener aber bediene er sich seines eigenen Verstandes und prüfe jede überkommene Meinung. Spätestens bei Johann von Salisbury - in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts - gewinnt das Diskursprofil der Gefäß-Metapher die sich bereits bei Abaelard abzeichnenden kultur- und bildungskritischen Qualitäten. Ein in der Forschung einschlägiges Beispiel ist dafür Johanns Polemik gegen die ‚Windbeutel‘ der Dialektik, denen man das eingebildete Wissen austreiben müsse. 21 Doch bleibt selbst noch bei Erasmus von Rotterdam - im zuerst 1515 publizierten Handbüchlein eines christlichen Streiters - die im Rekurs auf Quintilian formulierte Sorge um die frühen Lebensjahre ein zentrales Argument, das bei ihm der Tendenz nach jedoch nicht mehr auf die Ausbildung für „den Bereich des Institutionellen (Kirche, kirchliches Amt, Liturgie, Sakramente, Brauchtum usw.)“ zielt, 22 sondern diesen zugunsten einer „individuellen, rein innerlichen Frömmigkeit“ 23 abwertet: 24 Eoque praecipua Christianorum cura huc intendi deberet, ut pueri iam inde ab incunabulis inter ipsas blanditias nutricum et parentum oscula, inter litteratorum manus persuasiones imbibant Christo dignas, propterea quod nihil vel altius insidit animo vel haeret tenacius quam quod rudibus (ut inquit Fabius [Quintilian, Über die Ausbildung des Redners , I,8,4]) annis inditur. Procul procul ab auriculis infantilibus amatoriae cantiunculae, quas domi forisque cantillant Christiani spurciores, quam unquam ethnicorum vulgus receperit. Ein Zwischenfazit: Im lateinisch-gelehrten Erziehungs- und Bildungsdiskurs ist die Gefäß- Metapher keinesfalls marginal. Evident ist das dann, wenn man auf traditionsbestimmende Akteure wie Hieronymus, Abaelard oder Erasmus blickt. Der mit der Metapher verbundene Diskurs ist zudem inhaltlich diversifiziert und gliedert sich, soweit zu sehen, in drei große Themenlinien: 1. die Sorge um die frühe kognitive Entwicklung des Menschen, 2. seine in Kindheit und Jugend angelegte moralische Entwicklung, 3. den Wert literarischer Bildung, speziell klassischer Bildungsinhalte. Die Stärke dieses Diskurses liegt darin, dass er, christlich geprägt, den Menschen als von Natur aus unfertiges Mängelwesen betrachtet und immer neu fragt, warum Erziehung und 21 Vgl. Joannis Saresberiensis, Metalogicon , hg. von John B. Hall, Turnhout 1991 (CCCM 98), 2,7 (865a); John of Salisbury, Metalogicon , übersetzt von John B. Hall, Turnhout 2013, S. 192-194; weiterhin: Policraticus sive de nugis curalium et vestigiis philosophorum Libri VIII , hg. von Clemens C. I. Webb, Bd. 2, Oxford 1909, 6,4 (595c, 4-5) und 7,9 (655b, 8-10); Vita Sancti Anselmi , in: PL 199, Paris 1855, Sp. 1009-1040, hier 1014b-c. 22 Peter Walter, „Erasmus von Rotterdam, Theologische Schriften“, in: Deutscher Humanismus. 1480 - 1520 . Verfasserlexikon , hg. von Franz Josef Worstbrock, Bd. 1, Berlin / New York 2008, Sp. 742-763, hier Sp. 743. 23 Ebd. 24 Erasmus von Rotterdam, Enchiridion militis christiani. Handbüchlein des christlichen Streiters , übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig, in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften , Bd. 1, hg. von Werner Welzig, Darmstadt 1995, S. 55-375, hier S. 242. Übersetzung (ebd., S. 243): ‚Daher sollte die vordringlichste Sorge der Christen darauf gerichtet sein, daß die Kinder schon von der Wiege auf, unter den Zärtlichkeiten der Amme und den Küssen der Eltern, in der Hand gebildeter Menschen Meinungen in sich aufnehmen, die Christi würdig sind, denn nichts wurzelt tiefer oder fester im Herzen, als was schon in den Kinderjahren (wie Fabius sagt) aufgenommen wird. Fern von den Ohren der Kinder sollen die Liebesgesänge sein, welche die Christen zu Hause und draußen trillern und die schmutziger sind als jemals bei den Heiden‘. <?page no="47"?> 46 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp Bildung speziell für seine intellektuelle Entwicklung notwendig sind. Wer sagt, dass mit diesen Themenlinien und Fragen anthropologisches Wissen zur Debatte steht, muss aber auch präzisieren: Es geht in diesem Diskurs nicht generell um die Einsicht, dass der Mensch zu allen Zeiten Kultur schaffen und gesellschaftliche Institutionen einrichten muss, sondern viel spezieller um geistige Kultur, Bildung und Erziehung und deren Voraussetzungen. Dies hat zur Folge, dass die Überlegungen sowohl für die Erziehungspraxis als auch durch ihre Nähe zu Theologie und Philosophie von Bedeutung sind - sie sind in mehrere Richtungen anschlussfähig. Weil die Gefäß-Metapher eng mit anthropologischen Fragen verknüpft ist, wundert es vielleicht nicht so sehr, dass sie im Mittelalter über gelehrte Autoren wie Vinzenz von Beauvais Eingang in das adlig-höfische Erziehungsdenken findet, obwohl man auch sehen muss, wie wenig selbstverständlich der bei Vinzenz formulierte Bildungsanspruch ist. Erstaunlich ist auch ihre schon in den Materialien bisher kaum erschlossene Wirkung in der Frühneuzeit, wie sie nicht nur in Erziehungslehren und pädagogischen Reflexionen, sondern auch in der Emblematik des 16. Jahrhunderts begegnet. Emblematisch versinnbildlicht das Befüllen neuer Tonkrüge die Erziehung durch frühe Gewöhnung 25 oder - wie im Beispiel 26 - die Wissensvermittlung vom Lehrer an den Schüler in der Phase der ersten Erziehung: 25 Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts , hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne, Stuttgart 1967, Sp. 1388 f. 26 Jean-Jacques Boissard, Emblematum Liber , Frankfurt a. M.: Theodore de Bry 1593, S. 3, Nr. 1; Subscriptio: Utile virtuti est annos assuescere primos, / Et tenerum sanctis moribus ingenium. / Frangitur incurvanda arbos: virgulta plicantur: / Testaque, quo imbuta est, fragrat odore diu. Übersetzung (M. E.): ‚Es ist nützlich, die ersten Jahre an die Tugend zu gewöhnen, und einen jungen Verstand an frommes Verhalten. Der Baum, der gebogen werden muss, wird gebrochen; doch Sträucher sind biegsam; und das Gefäß duftet lange nach dem Geruch, den es zuerst angenommen hat‘. Vgl. zu Boissards emblematischem Werk Wolfgang Harms, „ Mundus imago Dei est. Zum Entstehungsprozeß zweier Emblem- Bücher Jean Jacques Boissards“, in: DVjs 47 (1973), S. 223-244. <?page no="48"?> Wie lernt der Mensch? 47 IV. In der Volkssprache fehlen weitgehend die Orte für einen so hochgradig differenzierten Bildungsdiskurs, wie er in der lateinischen Gelehrtenkultur mit der Gefäß-Metapher verbunden ist. Deswegen erscheint es alles andere als selbstverständlich, wenn die Metapher und das dahinter stehende anthropologische Modell spätestens seit dem 13. Jahrhundert auch in deutscher Sprache rezipiert werden und sukzessive Eingang in nahezu alle Gattungen der volkssprachigen Literatur finden. Belege bieten neben der didaktischen Dichtung, der Predigt und der Spruchdichtung auch der höfische Roman, die Karlsepik und die Mystik. Wie im Lateinischen wird das Bild für die irreversible Determination des Menschen durch frühkindliche Erfahrung dabei an durchaus prominenten Stellen, z. B. in Prologen, Handlungsexpositionen oder poetologischen Exkursen herangezogen, um einen Verständnisrahmen für größere Erzähl- oder Argumentationszusammenhänge bereitzustellen. Im Prolog zu Morant und Galie etwa eröffnet die Metapher einen Diskussionsraum für die basale Frage, wie das Böse, in Gestalt von Verrat, Falschheit und Untreue, überhaupt in die Welt kommt, und bietet damit den entscheidenden Bezugspunkt für die anschließende Betrugshandlung, bei der die ehemals heidnische Frau Karls des Großen und sein treuester Vasall in verräterischer Absicht des Ehebruchs beschuldigt werden und insistierend vorgeführt wird, welche Schwierigkeiten es dem Herrscher und der Hofgemeinschaft bereitet, mit Aggressionen umzugehen, die nicht von außen auf sie zukommen, sondern aus dem eigenen Inneren hervorgehen. 27 In Konrads von Ammenhausen Schachzabelbuch steht die Gefäß-Metapher im Zusammenhang mit der das Werk einleitenden Geschichte von der Erfindung des Schachspiels, das den für Rat und Belehrung völlig unzugänglichen Tyrannen Evilmoradach dazu bringen soll, sich ganz neu in die Rolle des Lernenden einzufinden und darüber seine despotische Gewaltherrschaft aufzugeben. An seinem Beispiel werden die fatalen gesellschaftlichen Konsequenzen vorgeführt, die es hat, wenn Kinder - zumal des Hochadels - in jungen Jahren nicht dazu gebracht werden, die demütige Haltung des auf Unterstützung und Hilfe angewiesenen Lernenden einzunehmen. 28 Im zweiten Kapitel der Vita Heinrich Seuses verdeutlicht die Gefäß-Metapher die Dauerhaftigkeit der erstmals erfahrenen religiösen Gnade in der unio mystica , die als Ausgangspunkt eines neu begin- 27 Vgl. Morant und Galie , hg. von Theodor Frings und Elisabeth Linke, Berlin 1976 (DTM 69), V. 1-96. Zur Betrugshandlung in Morant und Galie vgl. Nadine Krolla, Erzählen in der Bewährungsprobe. Studien zur Interpretation und Kontextualisierung der Karlsdichtung ‚Morant und Galie‘ , Berlin 2012 (Phil. Stud.u.Qu. 239), S. 116-150. 28 Das ‚Schachzabelbuch‘ Kunrats von Ammenhausen, nebst den Schachbüchern des Jakob von Cessole und des Jakob Mennel , hg. von Ferdinand Vetter, Frauenfeld 1892, V. 1098-1589. Vgl. insbesondere V. 1330-1361: Dô nu der küng künde gewan / des spils, dô nam er tugend an sich / und lie sich strâfen. sus wölt ich, / das alle herren waͤ rn gemuot, / das si strâfen heten vür guot / und miten, das in übel stât. / swelch herre sich niht strâfen lât / und im nieman tar gesagen / sîn missetât in sînen jungen tagen; / und sol der in sîn alter komen, / ich waͤ ne, das sîn prîs muos lomen, / und wirt er niht gesterket / in der jugend, er wirt erwerket / an dem alter vil kûme. / dâvon sich nieman sûme / an bescheidenheit und an tugende / in sîner blüejenden jugende; / wan swas worts man in der jugende vât, / lîht ers ouch an dem alter hât. / des haben wir ein bîschaft wol, / der ich ůch hie bewîsen sol. / swas smakes ein nůwes vas gevât, / vil kûm ald niemer es verlât / den smak, er sî boͤ s oder guot; / swer in der jugende rehte tuot / und er ein guotes wort gevât, / vil kûme ald niemer es in lât; / er müeste gar unrehte tuon / oder er behüeb den alten ruon / an sînem alter, wissent das. / es stüende herren michels bas / denn es tüege armen luͤ ten. <?page no="49"?> 48 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp nenden ( erst anvang dez dieners ; anvahender mensch ; In sinem anvang ), 29 selbst gewählten und planvoll angelegten Lebensweges inszeniert wird. 30 Wie nicht anders zu erwarten ist, verläuft der Weg von der Metaphern-Verwendung im Lateinischen zu solchen volkssprachlichen Adaptationen mit ihren ganz variablen Anwendungsbereichen über eine Reihe von Umdeutungsprozessen, die neben mehr oder minder abweichenden Verwendungsweisen auch Sonderformen hervorbringen. 31 Grundsätzlich lässt sich aber beobachten, dass die volkssprachigen Autoren die Gefäß-Metapher sowie eng mit ihr verbundene Argumentationsmuster in einen - verglichen mit dem Lateinischen - allgemeineren Erziehungsdiskurs moraldidaktischer Ausrichtung einbinden. Gefragt wird nicht mehr an erster Stelle nach den Bedingungen einer möglichst hochwertigen rhetorischen, theologischen oder philosophischen Ausbildung, sondern nach der Praxis einer auf christliche Tugenden ausgerichteten Kindererziehung. In der didaktischen Literatur und der Predigt geraten dabei besonders die Gefahren eines zu nachsichtigen Umgangs gerade mit kleinen Kindern, sei es aus Nachlässigkeit, Geiz oder falsch verstandener Fürsorglichkeit, in den Blick und werden mit eindringlichen Mahnungen, den pädagogischen Auftrag ernst zu nehmen, ausführlichen Illustrationen von Erziehungsfehlern und konkreten Erziehungsratschlägen verbunden. Hinter all dem steht ganz offensichtlich die Überzeugung, dass der Mensch nicht in der Lage ist, sich aus sich selbst und seinen angeborenen Eigenschaften heraus zum Guten zu entwickeln und allein Erziehung einen positiven Lebensweg ermöglicht. Im 6. Kapitel des Narrenschiffs etwa wird Erziehung nicht nur als einziger Garant für die Erlangung gesellschaftlichen Ansehens ausgewiesen: Dann anfang / mittel / end / der ere / Entspringt allein vß gůter lere , 32 sondern gleichzeitig auch die Relevanz anderer Faktoren wie adeliger Herkunft, Reichtum, Schönheit oder Stärke, denen vor allem in der höfischen Kultur einige Bedeutung beigemessen wird, nachhaltig destruiert: 33 Ein loͤblich ding ist edel syn Es ist aber froͤmbd / vnd nit din 29 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften , im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, Nachdruck Frankfurt a. M. 1961, S. 8,4; 8,20; 10,11. 30 Ebd., S. 10,11-11,18. Vgl. insbesondere S. 11,10-11,18: Er gie da mit dem libe und ensah noch enmarkte uswendig nieman nút an ime; aber sin sele und můt waren inwendig vol himelsches wunders; die himelschen blike giengen und widergiengen in siner innigosten inrkeit, und waz im neiswi als ob er in dem lufte swebti. Die kreft siner sele waren erfúllet dez suͤ ssen himelsmakes, als so man ein gůt latwergen usser einer búhsen schútet und dú búhs dennoch dur na den gůten smak behaltet. Diser himelscher smak bleib im dur na vil zites und gab im ein himelsch senung nah got. 31 Eine in diesem Sinne ungewöhnliche - gleichwohl aber nicht vom üblichen Gebrauch loszulösende - Aktualisierung findet sich z. B. in den Offenbarungen Davids von Augsburg. Hier dient die Gefäß- Metapher jenseits pädagogischer Erörterungen dazu, das Mysterium der Menschwerdung Jesu und der jungfräulichen Geburt über eine Kontrastierung zur Alltagserfahrung zu erläutern. Jesus kann nur deswegen Mensch werden, ohne seine göttliche Lauterkeit zu verlieren, weil Maria als Gefäß, das Jesus passieren muss, durch den heiligen Geist von der Erbsünde befreit wurde. Ein Gefäß vollständig von allen Rückständen zu reinigen, bleibt der göttlichen Macht vorbehalten. Auf diesem Weg löst David von Augsburg die Menschwerdung des Gottessohns von allen im christlichen Denken problematischen Implikationen menschlicher Genealogie. Vgl. „Bruder David von Augsburg“, hg. von Franz Pfeiffer, in: ZfdA 9 (1853), S. 1-67, hier S. 30-32. 32 Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494 , hg. von Joachim Knape, Stuttgart 2009 (RUB 18 333), V. 6,71 f. 33 Ebd., V. 6,73-88. <?page no="50"?> Wie lernt der Mensch? 49 6,75 Es kumbt von dynen eltern har / Ein koͤstlich ding ist richtum gar Aber des ist des gelückes fall Das vff vnd ab dantzt wie ein ball / Ein hubsch ding der weltt glory ist / 6,80 Vnstantbar doch / dem alzyt gbrist / Schonheit des libes man vyl acht Wert ettwann doch kum vbernacht / Glich wie gesuntheit ist vast liep Und stielt sich ab doch wie ein diep 6,85 Groß sterck / acht man für koͤstlich hab Nymbt doch von kranckheit / altter ab / Dar vmb ist nützt vndoͤttlich mer Vnd bliblich by vns dann die ler. Dass im Umkehrschluss fehlende Erziehung zum entscheidenden Einfallstor für das Böse in die Welt wird, 34 illustriert schon der dem Kapitel zugeordnete Holzschnitt mit Nachdruck, der zwei Kinder zeigt, die offensichtlich beim Glücksspiel in Streit geraten sind und einander mit Waffen bedrohen, während der erwachsene Narr mit verbundenen Augen unbeteiligt daneben sitzt. Aber auch über die Grenzen solcher im engeren Sinne didaktischen Funktionskontexte hinaus zeigen die deutschen Texte ein insistentes Interesse an der elterlichen, gesellschaftlichen oder auch persönlichen Verantwortung, die aus der Betrachtung des Menschen als eines nicht natürlich determinierten und deswegen auf Ausbildung und Erziehung angewiesenen Wesens resultiert. Lern- und Entwicklungsfähigkeit erscheinen bei all dem nicht als selbstverständliche und auszeichnende Privilegien menschlicher Existenz, sondern als Aufgabe und Anforderung, die es zunächst einmal zu erkennen, anzuerkennen und dann zu bewältigen gilt. Das Wissen um die Notwendigkeit von Erziehung als einzig möglichem Weg zu moralischer Integrität und gesellschaftlicher Interaktionsfähigkeit wird gerade nicht als Gemeingut vorausgesetzt, sondern muss offensichtlich immer wieder gegen andere Positionen durchgesetzt werden. Das zeigen neben der Vehemenz, mit der ein Bewusstsein um die elementare Bedeutung pädagogischen Wirkens eingefordert wird, immer wieder Markierungen, die die Verwurzelung dieses Wissens in der lateinischen Bildungswelt und damit eine Distanz zum eigenen kulturellen Kontext ausstellen. Im Prolog zu Morant und Galie etwa werden zwei entgegengesetzte Erklärungsmodelle für die an der eigenen Gegenwart beobachtbare Bösartigkeit der Menschen gegeneinander ausgespielt. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet eine mit einer laudatio temporis acti verbundene Zeitklage, die einen nachhaltigen Verfall der zentralen gesellschaftsstabilisierenden Werte apostrophiert - valsche , untruwe und unrecht destruieren gesellschaftliche Interaktion im Kern: valsche si balt mit gewalt / over al , 35 untruwe is leider nuwe, / unrecht is becleven (V. 14-16). Als mögliche Ursache für diese Missstände werden zunächst ererbte Dispositionen erwogen (V. 26-29): 34 Diesen Gedanken entfaltet auch Berthold von Regensburg mit unterschiedlichen Akzentuierungen in drei Predigten ( Von drîn lâgen [wie Anm. 11]; ebd. Von vier stricken , S. 474-487, hier S. 481-483; ebd. Bd. 2, Von den drîen huoten , S. 54-65, hier 57-59). 35 Morant und Galie (wie Anm. 27), V. 7-10. <?page no="51"?> 50 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp 26 of wir’t gemirken kunnen, so mogen wir wale ane zoren sprechen id si uns ane geboren baz dan ane gevallen. Dass ein solches Verständnis allerdings unzureichend bleibt, klingt schon in der Formulierung an: wale ane zoren , also ohne einen unangenehmen Widerspruch befürchten zu müssen oder ohne damit eine Provokation in Kauf zu nehmen, könnte man angeborene Eigenschaften für das Wesen des Menschen verantwortlich machen - in diese Sinne erscheint das Modell als zwar bequeme aber zu kurz greifende Erklärung. Konkretisiert wird dies im Folgenden, indem auch Zeitklage und laudatio temporis acti als zu grobe Denkmodelle entlarvt werden: Weder sind in der Gegenwart alle Menschen Verräter, noch war die Vergangenheit tatsächlich frei von Verrat und Betrug (V. 30-39): 30 niet en meinen ich uns allen, die nu leven in den liven. sulche liezen sich verdriven, e si sich genieden dat si iemanne verrieden; 35 dus vint man in den alden jaren lude die dit zwaren hedden gemeden schiere; ouch vant man me dan viere die’t schiere hedden ane gegan. Menschen sind und waren in ihren charakterlichen Merkmalen zu allen Zeiten unterschiedlich: dus waren die lude underdan / inde solen iemer also sin (V. 40 f.), und deswegen greifen überkommene schematisierende Vorstellungen wie genealogisch verbürgte Konstanz oder zeitlich bedingter Verfall nicht. Als Lösung wird über die Gefäß-Metapher die nachhaltige Beeinflussung des Menschen durch sein soziokulturelles Umfeld eingeführt. Dass dabei zunächst die lateinische Formulierung geboten und die Herkunft überdies durch eine Einleitungsformel ausgewiesen wird, unterstreicht einerseits die Exklusivität und Dignität des gebotenen Wissens, markiert aber gleichzeitig dessen Status als importiertes und nicht in den eigenen Wissenstraditionen verankertes Kulturgut (V. 42-50): des giet uns urkunde dat latin: quod nova testa capit, inveterata sapit; 45 so wat die nuwe schale veit, der smach ir iemer ane heit. ouch můz smachen die vrucht na ir erden inde ir lucht; ouch zount der minsche sinen smach 50 des vazzes da he inne lach. <?page no="52"?> Wie lernt der Mensch? 51 Wie schon im Zusammenhang didaktischer Erörterungen läuft auch in Morant und Galie die Argumentation letzten Endes auf die Verantwortlichkeiten zu, die aus der Annahme einer Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen resultieren. Allerdings geht es diesmal weniger um den pädagogischen Auftrag, als vielmehr um die Frage des Umgangs mit den Folgen erzieherischer Defizite: Wenn der Mensch in seiner moralischen und persönlichen Entwicklung durch sein soziales Umfeld bestimmt wird, dann ist es auch die Aufgabe der Gesellschaft, sich mit den Folgen charakterlicher Fehlentwicklungen, die sie ja letztlich selbst zu verantworten hat, auseinanderzusetzen, so wie Karl der Große und sein Hof es in der nachfolgenden Erzählung tun müssen. Aber auch jeder Einzelne hat am Ende seines Lebens vor Gott Rechenschaft darüber abzulegen, ob er sich entsprechend seiner Möglichkeiten dem Guten zugewendet hat oder nicht (V. 51-55): na deme dat he sich vermach deit he dat beste, he siet den dach: upp’it leste id is eme gůt. so we ouch dat argeste důt, 55 sin lon můze also wesen. Die Virulenz, die eine solche Perspektivierung auf Menschen mit charakterlichen Defiziten gerade im Kontext höfischer Gesellschaftsentwürfe hat, zeigt sich auch in der Crône Heinrichs von dem Türlin. Ausgangspunkt der Überlegungen ist hier die problematische Rolle, die Keie innerhalb der ansonsten zumindest dem eigenen Anspruch nach homogenen Wertegemeinschaft des Artushofes zukommt. Noch deutlicher als in Morant und Galie steht damit die Frage im Fokus, wie es zu erklären ist, dass Einzelne innerhalb einer Gemeinschaft nicht oder nur zum Teil deren normativen Ansprüchen genügen und wie die Gesellschaft mit ihrem abweichenden oder gar aggressiven Verhalten umgehen kann. Auch für Keie werden zunächst natürliche Anlagen als Erklärung für seine Eigenarten eingespielt, indem die aus Hartmanns Iwein bekannten Tiervergleiche aufgegriffen werden. Dort hatten Kalogrenant und Iwein Keie über den Vergleich mit Hummeln, Hornissen und Hunden als trieb- und instinktgesteuert bloßgestellt und damit gleichzeitig seine Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft hinterfragt. Davon distanziert sich der Erzähler in der Crône und pointiert u. a. über die Gefäß-Metapher den großen Einfluss, den das soziale Umfeld bei der Ausprägung von Verhaltensdispositionen hat: 36 Jr sehet wol, wazer vnd wein, 1510 Die gebent vngleichen smach. Sam tuot naht vnde tak. Div gebent vngleichez lieht, Als man alle tage sieht. Swes der vogel wont von neste 1515 Vnd swaz wazzers der teste Wider erst gewinnet, 36 Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1 - 12 281 ) , hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000, V. 1509-1520. <?page no="53"?> 52 Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp Des smaches im zerinnet Nimmer mer vürbaz. Gewonheit wirt nimer laz. 1520 Si greiffet vür nature. Abgesprochen wird Keie allein eine angemessene höfische Erziehung, was aber weder seine adelige Identität noch seine Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft in Frage stellt (V. 1521-1524): 1521 Swie Key wær ein schaure Vnd an allen dingen zuhtlos, Da mit er doch niht verlos Seins adels herschaft. Deswegen erscheint es auch unangemessen und sogar kontraproduktiv, seinen Aggressionen mit noch größerer Aggression zu begegnen: Der Hund bellt umso mehr, wenn man ihn mit Schlägen davon abhalten will, und auch Wespe und Hornisse werden erst dann wirklich gefährlich, wenn man sie aufstört. Wieder liegt es also in der Verantwortung der Gesellschaft, durch positive Einwirkung negative Entwicklungen zu verhindern oder abzumildern. 37 V. Es dürfte deutlich sein, dass die volkssprachige Literatur in ihrem Zugriff auf die Gefäß- Metapher ganz eigenständige Akzente setzt. Im Fokus steht nicht mehr allem voran die intellektuelle Entwicklung des Menschen, sondern die Möglichkeiten und Bedingungen einer ethisch-moralischen Sozialisation. Allerdings lassen sich die im Deutschen mit der Annahme der Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen verbundenen Diskussionen zentraler anthropologischer Fragen wie der nach dem Ursprung von Gut und Böse, den Ursachen für die Ausprägung charakterlicher Dispositionen, der gesellschaftlichen Verantwortung für Sozialisationsprozesse und den Möglichkeiten, den eigenen Lebensweg selbstverantwortlich zu gestalten, an keiner Stelle losgelöst von den lateinischen Prätexten verstehen. Das mit der Gefäß-Metapher verbundene anthropologische Wissen gerinnt nicht zum frei verfügbaren Gemeingut, sondern bleibt in seinem exklusiven lateinischen Ursprungsdiskurs verwurzelt. Auch wenn dieser nämlich primär die intellektuelle Bildung zum Gegenstand macht, werden seit den Anfängen bei Horaz beinahe immer auch deren Auswirkungen auf die ethisch-moralische Sozialisation mitreflektiert. Entsprechend bieten die lateinischen Prätexte auch für diesen Bereich Argumentationsmuster, und es ließe sich leicht zeigen, wie gezielt die deutschsprachigen Autoren darauf zugreifen. Der gelehrt lateinische Hintergrund fungiert bei all dem aber nicht nur als Bild- und Wissensspender, sondern wird auffällig häufig in den deutschen Texten explizit ausgewiesen. Dies kann wie z. B. in Morant und Galie oder der Crône durch die vollständige oder partielle Über- 37 Vgl. ausführlicher: Silvia Reuvekamp, „ Verborgen schatz und wistuom . Transformationen gelehrten Wissens in der Crône Heinrichs von dem Türlin“, in: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen - Literatur - Mythos , hg. von Manfred Eikelmann und Udo Friedrich unter Mitarbeit von Esther Laufer und Michael Schwarzbach, Berlin 2013, S. 99-115, hier S. 105-112. <?page no="54"?> Wie lernt der Mensch? 53 nahme der lateinischen Formulierung geschehen 38 oder wie im Schachzabelbuch und im Narrenschiff durch die Berufung auf antike Autoritäten und Beispielfiguren, denen das mit der Gefäß-Metapher verbundene Wissen zugeschrieben wird. 39 In all diesen Fällen wird dadurch eine Spannung zwischen dem in den eigenen Denktraditionen stärker verankerten genealogischen Diskurs und dem als kulturellen Import markierten Sozialisationsverständnis erzeugt. Am Beispiel der Gefäß-Metapher lässt sich zeigen, wie eng das Nachdenken über Lernen, Lehren, Bilden, Erziehung, Sozialisation und Entwicklung in der deutschen Literatur mit lateinischen Bildungsdiskursen verstrebt ist. Es ist dabei ganz offensichtlich, dass die deutschen Autoren über weit mehr als ein anthropologisches Allgemeinwissen verfügen und auch bei ihren Rezipienten nicht selten spezialisiertes Bildungswissen voraussetzen. Entsprechend wäre zu fragen, ob die zahlreichen Kindheits-, Jugend- und Sozialisationsgeschichten der volkssprachigen Literatur des hohen und späten Mittelalters nicht in viel stärkerem Maße auch vor dem Hintergrund gelehrter Diskurse zu lesen sind, als dies in der aktuellen Forschung geschieht. Es liegt zumindest der Verdacht nahe, dass diese Geschichten nicht allein in einem von gelehrten Diskursen weitgehend unabhängigen Adelsethos gründen. 40 38 Vgl. dazu die Textbelege in Abschnitt IV. 39 Im Schachzabelbuch (wie Anm. 28) ist es Salomon, der als Gewährsmann für die Notwendigkeit der Unterweisung auch der Mächtigen und Weisen angeführt wird (vgl. V. 1380-1385), als Beispiel für eine entsprechende Lehrsituation dient zudem ein Gespräch zwischen Alexander und Valerius (vgl. V. 1448-1538). Eine ganze Reihe von Exempelfiguren findet sich im Narrenschiff (wie Anm. 32), V. 6,29-94: Das man die kind nit ziehen wil / Des findt man cathelynen vil / Es stünd yetz vmb die kynd vil bas / Geb man schůlmeister jnn / als was / Phenix / den peleus synem sůn / Achilli sůcht / vnd zů wolt důn / Philippus durch sůcht kriechen landt / Biß er sym sůn ein meister fandt / Dem groͤ sten kunnig jn der welt / Wart Aristoteles zů geselt / Der selb Platonem hort lang jar / Vnd Plato Socratem dar vor / Aber die vaͤ tter vnser zitt / Dar vmb das sie verblent der gyt / Nemen sie vff soͤ lich meister nůn / Der jn zům narren macht ein sůn / Vnd schickt jn wider heym zů huß / Halb narrechter dann er kam druß / Des ist zů wundern nit dar an / Des narren narrecht kynder han / Crates der allt sprach / wann es jm / Zů stůnd / wolt er mit heller stym / Schryen / jr narren vnbedacht / Jr hant vff gůtsamlen groß acht / Vnd achten nit vff vwer kind / Den jr soͤ lich richtum samlen sindt / Aber vch wirt zů letst der lon […] Gorgias frogt / ob sellig wer / Von Persia der maͤ htig her / Sprach Socrates / ich weiß noch nüt / Ob er hab ler vnd tugent üt / Als ob er sprech / das gwalt vnd golt / On ler der tugent nützet solt. 40 Diese Perspektive verfolgt vor allem Jan-Dirk Müller (wie Anm. 13) in seinen kulturanthropologischen Studien zur höfischen Epik. Vgl. in der Nachfolge aber etwa auch Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive , hg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller, Berlin / Boston 2012, S. 8-118. <?page no="56"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 55 Wie lernte man aus der Predigt? Zur Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter, ausgehend von der Zitatensammlung der Berliner Handschrift Ms. germ. quart. 191 Stephen Mossman Das Problemfeld der ‚mündlichen Überlieferung‘ ist in den letzten Jahrzehnten, trotz der sonst intensiven Beschäftigung mit der mittelalterlichen deutschen Predigt, selten behandelt worden. Denn es fehlten generell die sehr spezifischen Rahmenbedingungen, die die peinlich genaue Protokollierung gehaltener Predigten (lat. reportationes ) erlaubt hätten, wie wir sie - wenn überhaupt im späteren Mittelalter - nur aus der Feder von den stenographisch geschulten Stadtschreibern und Juristen der norditalienischen Städte einerseits und wenigen Studenten der Pariser Universität andererseits kennen. 1 Angesichts der Tatsachen, dass die reportatio ein unbekanntes Phänomen im deutschsprachigen Raum gewesen ist und dass die besonderen Merkmale der Mündlichkeit in den überlieferten deutschen Predigttexten zu Recht als fingierte literarische Stilmittel angesehen werden, gilt es allgemein als kaum möglich, anhand der bekannten Predigtüberlieferung Aussagen über die deutsche Predigt als gesprochenes Medium treffen zu können. 2 Durch die eingehende Untersuchung eines einzelnen Handschriftenfaszikels (Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. quart. 191, fol. 352r-391v) wird diese Diskussion hier erneut angeschnitten, indem aus medialer Perspektive der Frage nachgegangen wird, wie man im späteren Mittelalter - genauer gesagt, im goldenen Zeitalter der städtischen Predigtkultur im Rheinland zwischen etwa 1300 und 1420 - aus der Predigt lernte. Die Predigtnachschriften bzw. -notizen, wie ich die Einzeltexte in der sogenannten ‚Zitatensammlung der Berliner Hs. mgq 191‘ - so der Titel des Artikels von Hans-Jochen Schiewer im Verfasserlexikon zu diesem Textensemble 3 - bezeichnen will, erlauben demnach einen privilegierten Einblick in den Lernprozess, der durch die mündlich gehaltene Predigt ausgelöst wird und bisher nur durch die Analyse inhaltlich-struktureller Merkmale der überlieferten Predigten oder durch die Auswertung normativer Schriften zur Predigerausbildung, in beiden Fällen immer aus der Sicht des Predigers, möglich gewesen ist. 1 Zu reportationes siehe Carlo Delcorno, „Medieval Preaching in Italy (1200-1500)“, übersetzt von Benjamin Westervelt, in: The Sermon , hg. von Beverly M. Kienzle, Turnhout 2000 (Typologie des Sources du Moyen Âge Occidental 81-83), S. 449-559, hier S. 497-501. 2 Grundlegend dazu Hans-Jochen Schiewer, „Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung. Ein Plädoyer für exemplarisches und beschreibend-interpretierendes Edieren“, in: Editio 6 (1992), S. 64-79; Almut Suerbaum, „Formen der Publikumsansprache bei Berthold von Regensburg und ihr literarischer Kontext“, in: Predigt im Kontext , hg. von Volker Mertens u. a., Berlin / Boston 2013, S. 21-33. 3 Hans-Jochen Schiewer, „Zitatensammlung der Berliner Hs. mgq 191“, in: 2 VL , Bd. 10, Berlin / New York 1999, Sp. 1563-1569. <?page no="57"?> 56 Stephen Mossman Für das deutsche Mittelalter gilt seit dem programmatischen Aufsatz von Paul-Gerhard Völker vor einem halben Jahrhundert der Befund als mehr oder weniger unangefochten, die mittelalterliche Predigtüberlieferung in deutscher Sprache habe mit Mitbzw. Nachschriften nichts zu tun, sondern erfolgte rein textuell. Es ging Völker damals darum, „den Wunderglauben an die schier unbegrenzte Möglichkeit der Aufzeichnung aus dem Gedächtnis zu erschüttern und die leichtfertige Übertragung einiger Zeugnisse über anonyme Mitschrift, deren Sondercharakter auffällt, auf die gesamte Predigtüberlieferung als Hypothese zu bezeichnen“. 4 Ein großer Teil der überlieferten mittelalterlichen deutschen Predigten seien stattdessen Lesepredigten, d. h. in der Predigtform verfasste Traktate, die niemals zum Vortrag gedacht gewesen seien. 5 Mit seinem Aufsatz feuerte Völker eine kräftige Breitseite gegen die damals herrschende und seinerzeit am stärksten durch Wolfgang Stammler vertretene Meinung ab, die überlieferten deutschsprachigen Predigten des Spätmittelalters seien fast sämtlich Nachschriften, die uns „unkritische, unechte Texte“ 6 geben: 7 „Die überlieferten deutschen Texte haben also in den meisten Fällen Laien aus dem Gedächtnis rekonstruiert, mit all den Mißverständnissen, Textentstellungen, Sinnverfälschungen, die beim Hören einer längeren Rede vorzukommen pflegen und bei der nachherigen Aufzeichnung erhalten bleiben. Daher hat die Wissenschaft den deutschen Sermonen bestimmter Prediger mit gesundem Mißtrauen zu begegnen.“ Für Völker war es wichtig, die sinnentstellende Vermittlerinstanz der halbgebildeten Nonne aus dem Weg zu räumen, um die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den überlieferten Predigten der deutschen geistlichen Schriftsteller des Mittelalters - in seinem Fall des Franziskaners Konrad Bömlins - überhaupt rechtfertigen zu können. Seine grundlegende Erkenntnis wurde erstaunlicherweise auch in der neueren Forschung nicht immer rezipiert, sehr zum Nachteil unseres Verständnisses gewisser Autoren. 8 Die Forschung zur Predigtkultur der rheinischen Großstädte im ‚langen‘ 14. Jahrhundert, d. h. in der Blütezeit der sogenannten ‚Deutschen Mystik‘, hat sich seitdem stets als eine jeweils rein literarische (bzw. philosophische oder theologische) Beschäftigung verstanden. Und das hat auch seine guten Gründe, denn die handschriftliche Überlieferung der volkssprachigen Werke jener Zeit weist in die Klöster, mit wenigen Ausnahmen in die Frauenklöster, und rezeptionsbezogene Studien zu den Predigten gehen deswegen von einer entsprechenden Kontextualisierung aus. 9 Die explizit historische Erfassung der Predigtkultur der rheinischen Städte, sowohl innerhalb als auch und vor allem außerhalb der Klostermauern, steckt immer noch in den Kinderschuhen. Es fehlt bisher vor allem an belastbaren Quellen, und es hat sich darüber hinaus auch als äußerst schwierig herausgestellt, erhaltene 4 Paul-Gerhard Völker, „Die Überlieferungsformen mittelalterlicher deutscher Predigten“, in: ZfdA 92 (1963), S. 212-227, hier S. 224 f. 5 Ebd., S. 223-225. 6 Ebd., S. 214. 7 Wolfgang Stammler, „Mittelalterliche Prosa in deutscher Sprache“, in: Deutsche Philologie im Aufriss , hg. von dems., Berlin 2 1960, Bd. 2, Sp. 749-1102, hier Sp. 983. 8 Z. B. Walter Senner, Johannes von Sterngassen OP und sein Sentenzenkommentar , Teil 1: Studie , Berlin 1995 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens N. F. 4), S. 311 f. 9 Ich verweise exemplarisch auf den wegweisenden Aufsatz von Balázs J. Nemes, „Der ‚entstellte‘ Eckhart. Eckhart-Handschriften im Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis“, in: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Straßburg , hg. von Stephen Mossman u. a., Berlin / Boston 2012 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 4), S. 39-98. <?page no="58"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 57 Predigtcorpora mit bestimmten Vortragsorten bzw. Ursprungskontexten in Verbindung zu bringen - man denke z. B. an die Schwierigkeiten, ‚Straßburger (bzw. Kölner oder Erfurter) Predigten‘ Eckharts auszumachen. 10 Angesichts einer Chronistik, die sich im Gegensatz zu ihrer Behandlung eines Berthold von Regensburg zu den rheinischen Predigern des 14. Jahrhunderts eher schweigsam verhält, und des Fehlens des erst im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts aufkommenden Phänomens der ‚Hausautoren‘, hätte man nur allzu gerne echte Predigtnachschriften aus dieser Zeit. Ich komme nun zum Textensemble, das es hier vorzustellen gilt: die Zitatensammlung im letzten Faszikel einer Sammelhandschrift aus dem Straßburger Kloster St. Nikolaus in undis, die im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts aus ungefähr acht z. T. viel älteren Faszikeln unterschiedlicher Provenienz zusammengestellt wurde. 11 In seinem aufschlussreichen Artikel im Verfasserlexikon charakterisiert Schiewer die Zitatensammlung als eine „Sammlung von Predigtexzerpten, die mit Autoritätenzitaten, Gebeten, Dicta und einem Exemplum durchsetzt ist“, 12 und ich übernehme hier seine genauere Beschreibung des Inhaltes: 13 „Nach einem Exordialzitat von Meister Eckhart folgen bis 357r nur nichtbiblische und biblische Autoritäten (Gregorius, Augustinus, Bernhard, Dionysius, Hiob). Bernhard taucht danach noch einmal auf (366v), und zwar im Kontext eines weitgehend entpersonalisierten Textblocks (365r-368r), mit Gebeten, Herrenworten und Aussagen und Fragen heiliger bzw. gůter moͤnschen . Der Rest der Sammlung setzt sich aus geschachtelten Exzerpten von 35 namentlich und 7 nicht namentlich genannten Autoren des 14. Jhs. zusammen.“ Wegen der Namensfülle erscheint kaum eine andere Handschrift, geschweige denn ein einzelner Handschriftenfaszikel, so oft im Verfasserlexikon , und schon die Pioniere der Altgermanistik wurden auf sie bzw. ihn aufmerksam. Franz Pfeiffer veröffentlichte im Jahre 1858 eine Reihe von Zitaten aus der Handschrift unter dem Titel „Sprüche deutscher Mystiker“ in der damals neuen Zeitschrift Germania . 14 10 Freimut Löser, „Was sind Meister Eckharts deutsche Straßburger Predigten? “, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2 (2008), S. 37-63. 11 Zur Handschrift siehe in erster Linie die Beschreibungen durch Hans Hornung, Daniel Sudermann als Handschriftensammler. Ein Beitrag zur Straßburger Bibliotheksgeschichte , Diss. masch. Tübingen 1956, S. 93-102, und Nemes (wie Anm. 9), S. 79-83; vgl. auch die bibliographischen Zusammenstellungen unter http: / / www.handschriftencensus.de/ 11830 (17. 3. 2014) und http: / / pik.ku-eichstaett.de/ 4611/ (17. 3. 2014). 12 Schiewer (wie Anm. 3), Sp. 1563. 13 Ebd., Sp. 1565. 14 Franz Pfeiffer, „Sprüche deutscher Mystiker“, in: Germania 3 (1858), S. 225-243. Es wurden seitdem weitere Texteinheiten ediert bzw. abgedruckt bei Karl Bihlmeyer, „Kleine Beiträge zur Geschichte der deutschen Mystik“, in: Beiträge zur Geschichte der Renaissance und Reformation. Joseph Schlecht am 16 . Januar 1917 als Festgabe zum sechzigsten Geburtstag dargebracht , München / Freising 1917, S. 45-62, hier S. 50-54; Wolfgang Stammler, „Studien zur deutschen Mystik“, in: ZfdPh 55 (1930), S. 291-300, hier S. 291-294; Dietrich Schmidtke, „Die ‚Feigenbaumpredigt‘ eines Straßburger Augustinereremiten. Mit einer Vorbemerkung zum deutschsprachigen Schrifttum der Straßburger Augustinereremiten im 14. Jahrhundert“, in: ZfdA 108 (1979), S. 137-157, hier S. 138-140; Walter Senner, Johannes von Sterngassen OP und sein Sentenzenkommentar , Teil 2: Texte , Berlin 1995 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens N. F. 5), S. 365-375. Eine diplomatische Transkription wurde vorgelegt von Gregor Wünsche, Die Zitatensammlung aus der Berliner Handschrift Mgq 191 . Inhalt und Kontext einer Spruchsammlung des 14 . Jahrhunderts , Magisterarbeit FU Berlin 2001, S. 99-129. Im Folgenden wird der Einheitlichkeit halber nach der Handschrift zitiert; alle Abkürzungen wurden aufgelöst und eine moderne Interpunktion eingeführt. <?page no="59"?> 58 Stephen Mossman Uns wie auch Pfeiffer ist klar, dass Meister Eckhart, Johannes von Sterngassen und Johannes Futerer (ein alter Studienfreund Heinrich Seuses), die alle mit Namen in der Sammlung auftauchen, erhaltene mystische Predigten verfasst und möglicherweise auch gehalten haben. Die Sammlung zeigt aber bemerkenswerterweise keinerlei Interesse an der Mystik und wird als inkohärent angesehen, was die bis vor Kurzem fehlende Beschäftigung mit ihr zu erklären vermag. In der neueren Forschung von Schiewer, Kurt Ruh und Gregor Wünsche zur Zitatensammlung gilt aber eines als sicher: Die Sammlung ist Produkt eines definitiv schriftlichen Texttradierungsverfahrens. 15 Dieses Verfahren, das zuerst Adolf Spamer vor einem Jahrhundert beschrieb und „Zersetzung und Vererbung“ nannte (oder in einer moderneren Terminologie ‚Dekomposition und Rekomposition‘), beruht auf der exzerpierenden Lektüre vor allem mystischer Texte und der neuen Zusammensetzung der dadurch gewonnenen ‚Lesefrüchte‘. 16 Das Verfahren wurde von Schiewer mit dem mittelhochdeutschen Begriff uslesen verbunden und in den Frauenklöstern angesiedelt, mit der aus Seuses Vita bekannten Figur der Elsbeth Stagel als Gewährsfrau. Die Zitatensammlung wurde demnach explizit in die Nähe anderer Werke gerückt, in erster Linie der ebenfalls um die Mitte des 14. Jahrhunderts und im Straßburger Raum entstandenen Spamerschen Mosaiktraktate , denen eindeutig ein schriftliches Texttradierungsverfahren des uslesen s zugrundeliegt, auch wenn wir über die Entstehungsorte jener und ähnlicher Werke noch diskutieren dürfen. Die ‚gedächtnisstarke Nonne‘ der älteren Forschung ist der „schreibenden, exzerpierenden und kompilierenden Nonne“, dem gewirbigú binlú (rührigen Bienlein) aus der Vita Heinrich Seuses, gewichen. 17 Die angebliche Inkohärenz der Zitatensammlung hat aber ihre genaue Einordnung in die Bandbreite der verschiedenen textkompositorischen Praktiken bisher verhindert. 18 Das fehlende Interesse des Kompilators an der Mystik macht es auch schwer, den Sinn und Zweck der Zitatensammlung in die von Ulla Williams hervorragend herausgearbeitete Zusammenstellung von Sprüchen im Dienste der Mystagogie zu verorten. Zwar sind die in der Zitatensammlung aneinandergereihten Sprüche in ihrem Aufbau oft mit den von Williams untersuchten Sprüchen der Verba seniorum oder Seuses Vita vergleichbar, vor allem wegen des durchaus aphoristischen Charakters vieler der Sprüche, aber aus inhaltlicher Sicht lässt sich keine Ähnlichkeit feststellen. Wir finden in der Zitatensammlung eben keine auf den ‚nuklearen‘ Kern ihres mystischen Inhaltes reduzierten Sprüche, die zum meditativen Nachdenken und Einüben in einer neuen Seinsweise des kontemplativen Lebens gedacht sind. 19 Anstatt die Zitatensammlung als Ganzes von vornherein einem weiteren Ordnungsprinzip zu unterwerfen, möchte ich mich dem Textensemble nun in zwei Schritten 15 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik , Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik , München 1996, S. 390 f.; Hans-Jochen Schiewer, „ Uslesen . Das Weiterwirken mystischen Gedankenguts im Kontext dominikanischer Frauengemeinschaften“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998 , hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 581-603, hier S. 597-600; Wünsche (wie Anm. 14), S. 87-90. 16 Burkhard Hasebrink, „Zersetzung? Eine Neubewertung der Eckhartkompilation in Spamers Mosaiktraktaten“, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität , hg. von Claudia Brinker u. a., Bern u. a. 1995, S. 353-369, zur Terminologie insbesondere S. 368 f. 17 Schiewer (wie Anm. 15), S. 593-600, das Zitat S. 595. 18 Vgl. die Untersuchung der thematischen Schwerpunkte innerhalb der Zitatensammlung von Wünsche (wie Anm. 14), S. 32-55 und 66-85. 19 Ulla Williams, „ Vatter ler mich . Zur Funktion von Verba und Dicta im Schrifttum der deutschen Mystik“, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eich- <?page no="60"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 59 annähern: zuerst makrostrukturell, der Reihe der insgesamt ca. 200 Texteinheiten nach, um die Zitatensammlung als Textensemble zu begreifen, und dann in einer zweiten Etappe mikrostrukturell, um die Medialität der urbanen Predigtkultur wahrzunehmen. Das Textensemble wird mit einem Gebet Meister Eckharts eingeleitet, dessen Echtheit noch nicht endgültig geklärt ist. Schon 1857 entzog Pfeiffer den Text seinem Kontext und druckte ihn in seiner Eckhart-Ausgabe unter den ‚Sprüchen‘ ab; der Gebetscharakter wurde mittlerweile von Freimut Löser erkannt, der den Text unter Heranziehung der ihm bekannten Parallelüberlieferung neu herausgab. 20 Der Einheitlichkeit in diesem Aufsatz wegen zitiere ich hier nach der Handschrift der Zitatensammlung (fol. 352r-v, vgl. Abb. 1): Meister Eckehar[t] sprach einest: „Ich toͤyffen mich alle tage zů sv́ben molen in dem blv̊te vnsers herren Ihesu Cristi, zů einre ieclichen gezit an dem tage das man denne singen vnd lesen sol. So spriche ich: ‚Herre Ihesu Criste, ich kome zů dir mit allem mime gebresten, Herre, vnd clage dir die mit leide vnd mit bitterkeit mins hertzen; vnd trage dir vf hertze, sele, vnd gemuͤte, vnd aller moͤnschen sache in miner begirde, vnd sv́nderlichen der, die es an mich begerent, minnenclicher herre Ihesu Criste; vnd bitte dich, daz dv vns toͤyffest vnd weschest vnd lúterst in der kraft dins minnenrichen wúrdigen blůtes, vnd vns do mitte cleidest vnd zierest vnd geuellich machest vor dem aneblicke dins himelschen vatters; vnd vns also svͤnest vnd huldest in das vetterliche hertze, das der gvnst vnd der geist siner minne in vns fliesse vnd an vns erwecke, wúrcke, [und] vollebringe alle vnser gedencke, wort vnd werck zů sime vetterlichen aller liebesten willen, hoͤhestes lop vnd inreste lúste. Amen‘.“ Nach dem Gebet folgt ein Zitat, das dem heiligen Gregorius zugeschrieben wird. Es knüpft an die Metapher des Taufens im Blut Christi aus der ersten Texteinheit an und erklärt, dass die ‚Bluttaufe‘ die Seele vor teuflischen Anfechtungen beschützen sollte. Sie, d. h. die ‚Bluttaufe‘, komme durch das Mitleiden des einzelnen Menschen mit dem gekreuzigten Christus zustande (fol. 352v): Sant Gregorius sprichet: „Moͤnsche, besprenge dich mit dem blůte vnsers herren, so werdent alle dine vigende der selen sigelos, vnd aller irretům můs von der selen entwichen. Wan besprengest du dich mit vnsers herren blůte? Das tůst du zů allen den stunden, so du mit einer getruwen mittelidunge dins hertzen bedenckest vnd betrahtest also verre so du maht, die pine vnd den smertzen siner vnzellichen wunden, vnd die vnmessigen rúnse vnd gússe sines minnewallendes blůtes, vnd die strangheit sins bittern todes, den er an dem crútze leit, verworffen vnd versmohet von aller der welte; vnd du do von eine pin vnd einen smertzen enpfohest in dime hertzen von getruwer mittelidvnge.“ Die erste Texteinheit ist also kein Gebetstext im eigentlichen Sinne, den Eckhart - die Echtheit des Textes vorausgesetzt - seine Leserschaft lehrt (was ja auch mit seiner Vorstellung vom richtigen Gebet grundsätzlich inkompatibel wäre), 21 sondern ist eine Berichterstattung stätt 2 .- 4 . Oktober 1991 , hg. von Rüdiger Blumrich und Philipp Kaiser, Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), S. 173-188. 20 Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts , hg. von Franz Pfeiffer, Bd. 2: Meister Eckhart , S. 604 (Nr. 23); Freimut Löser, „ Oratio est cum deo confabulatio . Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis“, in: Deutsche Mystik (wie Anm. 15), S. 283-316, hier S. 303-305. Zu den sechs Handschriften, die Löser S. 303 nennt, kommen weitere hinzu; vgl. die Zusammenstellung unter http: / / www.eckhart.de (17. 3.2014), im Register der Textzeugen unter „Pfeiffer Spruch 23“. 21 Dazu Löser (wie Anm. 20), S. 287-302. <?page no="61"?> 60 Stephen Mossman aus Eckharts Ordensleben, eine Art ‚Eckhart-Legende‘ wenn man so will, in der Eckhart wegen seiner priesterlichen Rolle und der damit verbundenen spirituellen Nähe zu Gott als Fürsprecher figuriert wird, der die Gesuche der mit ihm verbundenen Menschen erfolgreich Gott anvertraut. Der Leser wird nicht aufgefordert, dieselbe Rolle einzunehmen; stattdessen wird ihm durch das folgende Gregorius-Zitat geholfen, die metaphorische ‚Bluttaufe‘ aus dem Eckhart-Text, die dort mit dem monastischen Stundengebet gleichgesetzt wird, als die auch außerhalb des regulierten Lebens durchaus praktikable compassio Christi zu verstehen. Es folgen insgesamt neun hauptsächlich didaktisch ausgerichtete Zitate, alle den Kirchenvätern Gregorius, Augustinus und Bernhard zugeschrieben. Durch sie wird der Leser in die compassio Christi eingeweiht, mit dem Versprechen der Reinigung von den Sünden getröstet, die durch das Mitleiden mit dem Gekreuzigten erfolgen sollte, und dazu angetrieben, Gott wegen seiner auch aus Liebe geschenkten Gaben an die Menschheit zu lieben. Nach den Zitaten spricht eine neue, von den Kirchenvätern unabhängige Stimme ein Publikum als ‚Kinder‘ an, und beschließt die Zitatenreihe mit einer Schlussformel: Eya kinder, bittent Got, das er durch sin zart gebot vns allen hie vf erden sine goͤtteliche minne gebe, vnd nach diseme leben daz ewige leben. Amen (fol. 354v). Die ersten elf Texteinheiten bilden also zusammen einen geschlossenen und in sich durchaus kohärenten Text, den wir als Komposittraktat verstehen dürfen. Der Eckhart-Text mag zwar in verschiedenen anderen Handschriften überliefert sein, er wird aber, soweit mir bekannt ist, nur hier so kommentiert und in eine größere Texteinheit integriert. Es folgen nun weitere Texte, die ebenfalls alle auf schriftliche Überlieferung zurückgehen müssen: ein visionärer Dialog stark tröstender Ausrichtung (fol. 354v-355r); ein Gebet mit sehr auffälligem Wortschatz, das in mindestens fünf weiteren Handschriften überliefert ist (fol. 355r-v); 22 drei patristische Aphorismen (fol. 355v); eine Auflistung der acht Früchte der Eucharistie (fol. 355v-356r); und ein Mosaiktraktat zum richtigen Umgang mit Leiden, das sehr geschickt aus jeweils zwei Hiob- und Bernhard-Zitaten und einem stark überarbeiteten Abschnitt aus Meister Eckharts Traktat Von Abgeschiedenheit kompiliert ist (fol. 356r-357r). 23 Erst dann begegnen die Texteinheiten, in denen ich Predigtnachschriften bzw. -notizen wahrnehmen möchte. Die ersten acht sind einem Basler Weltpriester namens Heinrich zugeschrieben, in dem man m. E. berechtigterweise Heinrich von Nördlingen sehen will, 24 und entstammen mindestens zwei verschiedenen Predigten, vermutlich mehreren. In der ersten Texteinheit meldet sich anfangs der Kompilator der Zitatensammlung zu Wort und gibt die folgende Sammlung dabei deutlich als ein neues Textensemble zu erkennen (fol. 357r): Dis seite alles her Heinrich ein priester, vnd waz ein lúpriester zů Basel Sancte Peter, vnd waz búrtig von Ougestburg; vnd er bredigete also wol, das es v́ber die masse was. Und an einer bredige sprach er also: „Woffa! Was mvͤssent toͤde an einem moͤnschen sin, der sich selber v́ber windet, das 22 Mir sind folgende Handschriften bekannt: Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III.1.8 0 26, fol. 66r-v; Basel, Universitätsbibliothek, Cod. B XI 11, fol. 32v-35v; Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 51, fol. 1r-3r (aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts! ); Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Hs. 44, fol. 12v-13r; Kalocsa, Főszékesegyházi Könyvtár [Kathedralbibliothek], Ms. 300, fol. 120r-121r. 23 Meister Eckhart, Die deutschen Werke , Bd. 5: Meister Eckharts Traktate , hg. von Josef Quint, Stuttgart 1963, S. 377. 24 Schiewer (wie Anm. 3), Sp. 1566 f.; ausführlicher Kurt Ruh, „Heinrich von Augsburg II“, in: 2 VL , Bd. 3, Berlin / New York 1981, Sp. 690. <?page no="62"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 61 er die sv́nden lat? Die hochuart vnd die andern sehs totsúnden, do von stat geschriben: ‚Propter te mortificamur tota die‘.“ Die Predigtnotizen werden noch zweibzw. dreimal von schriftlich überlieferten Texten unterbrochen: visionäre Dialoge, ein Kurztraktat zu den 16 Früchten der Passion Christi, ein Reimgebet, und sonstige Gebetstexte mit dazugehörigen Unterweisungen (vgl. fol. 365v-367v, 377v-378v und 383r-384r). Die übrigen 80 % der Texteinheiten lassen sich m. E. problemlos als Predigtnachschriften bzw. -notizen einordnen; sonst müssten wir von der Existenz einer riesigen deutschsprachigen Predigtsammlung ausgehen, die hier exzerpiert worden wäre, von der aber jegliche sonstige Spur fehlt. In der Regel hätte ihre Niederschrift das Gedächtnis eines normalsterblichen Menschen nicht überstrapaziert; es hätte keine übernatürliche Leistung erfordert, sie zu memorieren - wobei ich keinesfalls davon ausgehe, dass einzelne Predigtabschnitte wortgetreu memoriert worden sind, auch wenn wir das für bestimmte Merksprüche (davon nur zwei oder drei lateinische, wie im Falle des vorigen Zitats) doch in Erwägung ziehen dürften. In verschiedenen Fällen wird explizit zusammengefasst und kommentiert, am aufschlussreichsten im folgenden Beispiel, in dem unser Kompilator den üblichen Inhalt der Predigten eines Karmeliten namens Sperwer wiedergibt und dabei sein Desinteresse an der Mystik implizit ausdrückt: Er sprach ouch also: „Moͤ nsche, du solt din hertze gotte geben vnd tů dich der creaturen abe, vnd vereinige dich mit Gotte.“ Vnd dis ist der grunt vnd daz hertze vnd die wurtzel aller siner bredige, die ich ie von ime gehorte (fol. 360r). Ein Ordnungsprinzip der gesamten Sammlung lässt sich nicht erkennen, aber innerhalb der Sammlung erweisen sich bestimmte Gruppen der Texteinheiten als zusammengehörig: entweder aufgrund ihrer verwandten Thematik, aufgrund der Identität der in den Predigten zitierten Autoritäten, aufgrund der Identität des Predigers (gelegentlich mit genauer Angabe des jeweiligen Predigtortes innerhalb der Stadt Straßburg) oder aufgrund der explizit kommentierten Inkompatibilität bestimmter Lehrmeinungen. Ein Zwischenfazit: Aus makrostruktureller Perspektive ist die Zitatensammlung kein Werk, was ihre Aufnahme in der Form eines gesonderten Artikels ins Verfasserlexikon berechtigte, sondern ein Buch. Wir haben es hier mit der Reinschrift im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts einer älteren Handschrift - und nicht eines älteren Werkes - zu tun, wobei die in der ursprünglichen Handschrift vermutlich eindeutig zu erkennenden Zäsuren zwischen den einzelnen Texten verlorengegangen sind. Die Handschrift wurde über einen Zeitraum von ungefähr 30 Jahren angelegt, zum Teil aus bereits existierenden Gebetstexten und Kurztraktaten und zum Teil aus eigenhändig zusammengestellten Notizen zu Predigten, die wahrscheinlich zuerst auf Einzelblättern oder in kleinen Heftchen aus zwei oder drei Doppelblättern eingetragen, und dann in den 1340er Jahren, spätestens um 1350, zusammengebunden worden sind. 25 Die aktuellen Untersuchungen Ruth Wiederkehrs zur Kodikologie deutschsprachiger Privatgebetbücher anhand eines repräsentativen und heute im Benediktinerkollegium Sarnen aufbewahrten Bestandes haben gezeigt, dass die früheren - d. h. im 14. Jahrhundert bzw. bis etwa 1420 entstandenen - Handschriften mehrheitlich Kopertbände sind, in die neue Lagen über einen längeren Zeitraum am einfachsten aufgenommen werden konnten. 26 Ob auch in unserem Fall die Vorlage der Rein- 25 Zur Datierung der Zitatensammlung siehe Schiewer (wie Anm. 3), Sp. 1566-1568. 26 Ruth Wiederkehr, Das Hermetschwiler Gebetbuch. Studien zu deutschsprachiger Gebetbuchliteratur der Nord- und Zentralschweiz im Spätmittelalter. Mit einer Edition , Berlin / Boston 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 5), S. 90-122 und 238-240. <?page no="63"?> 62 Stephen Mossman schrift ein derart gestalteter Kopertband oder eine Sammlung loser Blätter war, können wir nicht wissen. Wichtig ist aber der Befund, dass solche deutschsprachigen Privatbücher religiösen Inhalts im 14. Jahrhundert eher im Ausnahmefall als Einheiten konzipiert wurden und in der Regel über mehrere Jahre hinweg durch den Austausch kleinerer, auf Einzellagen eingetragenen Textsammlungen zustande gekommen sind. Die von Wiederkehr aufgespürte Überlieferungsform kleinerer religiöser Texte im 14. Jahrhundert erklärt auch die früher von Peter Ochsenbein konstatierte einheitliche Individualität (wenn man so will) deutschsprachiger Privatgebetbücher dieser Zeit. 27 Das erlaubt es, uns die Materialität einer Handschrift genau vorzustellen, die sowohl schriftlich überlieferte Kurztexte als auch eigenhändige Aufzeichnungen enthalten konnte, die wir nur aus der später erstellten Reinschrift kennen. Die Zitatensammlung mag zwar Gebete enthalten, ist aber kein Gebetbuch und besteht mehrheitlich aus eigenhändigen Aufzeichnungen und Notizen von in Straßburg gehaltenen Predigten. Mit gewisser Berechtigung dürfen wir das daraus entstandene Buch als rapiarium bezeichnen, ein im Spätmittelalter aus dem Schulbetrieb stammender Buchtyp, der sich im Umfeld der Devotio moderna zu einem schriftlichen Begleiter der individuell gestalteten geistlichen Lebensform entwickelte. Unter den erhaltenen rapiaria , die aus persönlichen Nachlässen in Bibliotheken eingegangen sind, sind verschiedene - ich zitiere Nikolaus Staubach - zu finden, „die - z. T. noch in alten Klostereinbänden - Einzelblätter, Bifolien, Lagen und Faszikel unterschiedlichen Inhalts und Ursprungs zu einem Codex vereinigen“. Reinschriften wurden dabei aber auch hergestellt, um für die Bibliothek geeignetere Bücher zu gestalten; und genau das ist vermutlich im Falle von unserem jetzigen Handschriftenfaszikel geschehen. 28 Erst durch die Festlegung der einzelnen Aufzeichnungen und Predigtnotizen als Sammlung schafften sie, um mit Burghart Wachinger zu sprechen, „den Literarisierungssprung, den gegenüber einfacheren Typen gestiegenen Kunstanspruch“. 29 Ich komme später auf die Bedeutung eines rapiariums für unseren Sammler - und auch für die spätere Leserschaft der erhaltenen Reinschrift - zurück. Wie aber lernte man aus der Predigt? Anders gefragt: Welchen Einblick in die Medialität der zeitgenössischen Predigtkultur am Oberrhein erlauben uns die Predigtnachschriften bzw. -notizen in der sogenannten Zitatensammlung? 30 Verschiedene Kategorien von Textstrukturen sind zu beobachten, darunter einige nur selten vertretene, wie z. B. didaktisch ausgerichtete Exegese bzw. einzelne Elemente der religiösen Wissensvermittlung (vor allem ungewöhnliche Einzelheiten zur Kreuzigung Christi), die ich im folgenden Überblick bewusst außer Acht lasse. Ich konzentriere mich hier stattdessen auf die sechs Haupt- 27 Peter Ochsenbein, „Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400“, in: Deutsche Handschriften 1100 - 1400 . Oxforder Kolloquium 1985 , hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 379-398, insbesondere S. 394. 28 Nikolaus Staubach, „ Diversa raptim undique collecta : Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna“, in: Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien - Kompilationen - Kollektionen , hg. von Kaspar Elm, Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 15), S. 115-147, mit dem Zitat S. 144. 29 Burghart Wachinger, „Kleinstformen der Literatur. Sprachgestalt - Gebrauch - Literaturgeschichte“, in: Kleinstformen der Literatur , hg. von dems. und Walter Haug, Tübingen 1994 (Fortuna vitrea 14), S. 1-37, hier S. 37, in Bezug auf Priamelsammlungen ca. 1500. 30 Für den Medialitätsbegriff, wie er hier verstanden und verwendet wird, rekurriere ich auf Christian Kiening, „Medialität in mediävistischer Perspektive“, in: Poetica 39 (2007), S. 285-352, insbesondere S. 326-342. <?page no="64"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 63 kategorien der Textstrukturen, mithilfe derer man aus der Predigt lernte, und vermische mit Absicht rein formale und inhaltliche Kriterien. Die erste Hauptkategorie sind Dicta, die in drei voneinander nicht klar zu trennenden Kategorien zu unterteilen sind: (a) Sprüche, die von den Predigern anderen Autoritäten (vor allem Augustinus und Bernhard) zugeschrieben sind - ähnliche Texte biblischen Ursprungs sind dagegen sehr selten; (b) Merksprüche mit stark sentenzhaftem bzw. exhortativem Charakter; aber hauptsächlich (c) Aphorismen. Der Stellenwert von aphoristischen Dicta in der Mystagogie ist dank der oben schon erwähnten Untersuchungen von Williams zu den Verba seniorum und zu den aneinandergereihten Dicta in Seuses Vita deutlich. Sie sind Sätze, deren verschlüsselter Inhalt vom incipiens im kontemplativen Leben zuerst gründlich internalisiert werden muss, bevor er zu höheren Stufen aufsteigen kann, welches Verfahren der Internalisierung die prägnante, aphoristisch anmutende Form der Texte unterstützt. In unserem Textensemble begegnen häufig Dicta ohne mystischen Inhalt, die jedoch einen ebenfalls aphoristischen Charakter aufweisen und somit auch zum gründlichen Nachdenken und zur Internalisierung gedient haben dürften. Als Beispiel führe ich hier ein Dictum zum Verhältnis von Weisheit und Schweigsamkeit an (fol. 364v): Ein brediger sprach an einre bredigen also: „Der nút wol reden kan, der swige, vnd schine ein wiser man“ . In einigen wenigen Fällen werden aphoristische Dicta kommentiert. Im folgenden Fall wird ein Aphorismus zum Verhältnis von Weisheit und seelischer Ruhe durch eine inhaltlich verwandte Erläuterung des Begriffs der geistlichen Ruhe ergänzt, die der Kompilator möglicherweise einem anderen Kontext entzog (fol. 365r-v): Ein brůder, ein barfůsse, sprach an einer bredige also: „Wan die sele růwet an einer stat, so wurt sv́ wise.“ Dis seit mir ein heiliger moͤnsche: „Der ruwe, der von minnen ist also, das dir sol leit sin das dú Got erzúrnet hast, vnd daz du Got verlorn hast, vnd das dir Gottes vnere leit sol sin, vnd das dir din misseuallen leit sol sin, das du dir selber gegen Gotte hast gemaht.“ Eine einfachere Form der Kommentierung wird durch das nächste Beispiel ersichtlich, in dem der Kompilator die exhortativen Aussagen des Johannes Futerer über den Frieden lobend hervorhebt (fol. 375r): An einer andern bredien seite er gar vsz der massen wol von frydesammekeit, vnd sprach: „Fride in dem hertzen, vnd fride in dem mvnde, vnd fride an den wercken - wie gar gv̊t das were! “ Er seite werlichen war, vnd sprach ovch, das ein heilge schribet also: „Wer v́ssere ding oder die welt anesiht, der verlúrt des hertzen fryde.“ Üblicherweise bleiben jedoch die Aphorismen und sonstigen Dicta unkommentiert. Die zweite Kategorie besteht aus Listen, oft (aber nicht immer) moral-didaktischen Inhalts, die normalerweise nur drei oder vier Punkte umfassen. Die Memorisierbarkeit - und somit auch die Anwendbarkeit - solcher Listen war von ihrer Kürze abhängig; die aufwändigen Reihen und komplizierten Unterteilungen, die in zeitgenössischen Lesepredigten begegnen, fehlen in der ‚Zitatensammlung‘ fast völlig. In einem Fall, als die Gedächtnisstärke des Kompilators einer besonders langen moral-didaktischen Liste in einer Predigt des Johannes von Sterngassen wohl nicht gewachsen war, wird diese Thematik indirekt angesprochen, wenn er von zwölf Gaben nur drei anführt (fol. 389r-v): Der von Sterregasse seite an einer bredigen vnd sprach also: „Welliches moͤnsche minne hat zv̊ Gottes wunden, dem werdent zwoͤlf gaben dar vmb.“ Der habe ich drige hie geschriben, die gefielent mir oͮch aller bast. Die erste gabe ist die, das Got den moͤnschen in der gnaden behebet. Die ander, daz in Got niemer lat ersterben one rehten rvwen. Das dirte, das in die selbe minne bringet one vegefv́r in das himelrich. <?page no="65"?> 64 Stephen Mossman In manchen anderen Fällen muss die Frage offen bleiben, ob eine Liste in der Predigt als Liste eingesetzt wurde, ob sie den Inhalt einer ganzen Predigt zusammenfasst, oder ob sie das Predigtgerüst aus dem einleitenden Exordium der Predigt wiedergibt, anhand dessen die Predigt strukturiert wurde. Die dritte Kategorie bilden Gebete, die nicht nur schriftlich kursierten, sondern gelegentlich auch durch die Predigt vermittelt worden sind, sowohl zum Selbstzweck als auch um den zu vermittelnden Inhalt der Predigt zusammenzufassen. Die Verbindung zwischen Predigtinhalt und Gebetstext wird aus dem folgenden Beispiel ersichtlich, in dem Johannes von Sterngassen sein Publikum ein kurzes Gebet lehrt, als Teil eines Aufrufes zur Reue (fol. 385v): Der von Sterre gasse, der lesemeister, der bredigete an vnser fröwen tage in der vasten gar wol, vnd sprach also: „Ein demuͤtig hertze ist nv́t anders dan das: Erkenne dinen gebresten, vnd bit Got, das er sich v́ber dich erbarme; vnd sprich also, ‚Herre, ich erkenne minen gebresten, erbarme dich v́ber mich.‘ Vnd wer dis an ime hat, den mag Got niemer verlan.“ Er bewerte es öch mit David in dem saltar, der sprichet also: „Ivxta est Deus istis, qvi tribvlato svnt corde et saluabit eos.“ Er sprach oͮch: „Moͤnsche, gehap dich wol, Got nimet dich nvwent an dem besten von hinnan.“ In einem besonders stark verschachtelten Beispiel aus einer anderen Predigt des Johannes von Sterngassen wird ein Reimgebet als Teil eines Exempels vermittelt (ob die Vermittlung des Gebetes die Absicht des Predigers war oder nicht, sei dahingestellt) (fol. 370r-v): An der selben bredige seite er ouch die mere von dem moͤnsche das do zv̊ bihten ging, vnd es der priester das gebet lerte alle frytage ein gantz jor alvmbe, also: „Schoͤppfer aller creatvren, wan dv barmhertzig bist von nattvren, so lo dich twingen dine miltekeit, vnd sich an mine swacheit! Herre, dvrch dinen bittern dot, herre, durch din heiliges blv̊t, hilf mir abe miner not! “ Vnd der moͤnsche kam wider zv̊ dem priester do das jar vmb kam, vnd bihtite anderwerbe; vnd do er gebihtite, do starp er vor des priesters ougen von dem grossen rvwen den er hatte, vnd fv̊r zv̊ gotte. Dar helffe vns ouch vnser herre, amen. Das letzte Beispiel eines Gebetes führt uns auch zur vierten Kategorie der zu beobachtenden Textstrukturen: Exempla. Die anfangs zitierte Bemerkung Schiewers, die Zitatensammlung enthalte nur ein Exemplum, mag zwar auf die Anzahl der vollständig erhaltenen Exempla zutreffen, ist aber ansonsten leicht irreführend: Nach meiner Zählung sind insgesamt 32 Exempla zu finden, die üblicherweise selbstständige Texteinheiten bilden. Sie sind aber kaum vollständig wiedergegeben - der oben zitierte Text mit dem Reimgebet sticht durch seine ungewöhnliche Länge heraus. Sehr selten ist auch die moralisatio vorhanden, und der erzählende Teil wird nur komprimiert wiedergegeben. Das folgende Beispiel aus einer Predigt Johannes Futerers, die im Dominikanerinnenkloster St. Katharina gehalten wurde, leitet eine kleine Reihe von solchen komprimierten Exempla aus verschiedenen Predigten ein, die den Eindruck erwecken, der Kompilator habe sie auf einer separaten Seite bzw. auf einem Einzelblatt nach und nach eingetragen: Der Fv̊terer, der seite an einem mendage noch den ostern zv̊ Sancte Ketthrinen von eime herren, der starp vnd fv̊r in die helle, und sin schaffener wart verzucket, vnd sach in vnd seite von ime (fol. 385r). Mehrere der Exempelangaben sind in anderen deutschsprachigen Exempelsammlungen aus dem südwestdeutschen Raum zu iden- <?page no="66"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 65 tifizieren, und zwar in deutlich ausführlicherer Form. 31 Vor allem aber erwecken das fast durchgängige Fehlen der moralisatio der Exempla, das den Erzählungen ihren religiösen Sinn entzieht und ihnen eine gewisse Eigenständigkeit verleiht, sowie die gelegentlich zu beobachtende Zusammenstellung verschiedener Exempeln innerhalb der Zitatensammlung den provokanten Eindruck, sie seien womöglich aus literarischem Interesse an erzählenden Texten und eben nicht primär wegen ihrer moralischen Bedeutung gesammelt worden. 32 In eindeutigem Gegensatz zu der Behandlung von Exempla sind Texteinheiten der fünften Kategorie - didaktisch ausgerichtete Allegorese - immer sowohl mit dem Vergleichsgegenstand als auch der dazugehörigen Auslegung ausgestattet. Die einfachere Variante stellen Vergleiche zwischen einem einzigen weltlichen und einem geistlichen Gegenstand dar. Eine genaue Erklärung ist auch dem ziemlich kuriosen Vergleich zwischen der Welt und einer aufgeblähten Blase hinzugefügt, den der Zisterzienser Philipp von Rathsamhausen, Abt von Pairis, in einer Predigt einem Heiligen zuschreibt (fol. 376r): Er seite oͮch ein heilge schribet also: „Die welt ist eine vfgeblasene blatere, wan also schiere so die blotere wvrt dvrch stochen mit einer nolden spitze, so zervellet sv́. Also ist ovch die welt. So nvwent ein siechtage komet an den moͤnschen, so zerfellet sine froͤyde.“ Andere sind aber ausführlicher und bezeugen die Gestaltung von einem Teil einer Predigt durch ein komplexes allegorisches Gerüst. Die mnemotechnische Funktion der Allegorese wird im folgenden Beispiel aus einer Predigt Johannes Futerers deutlich, in dem Futerer den Wachdienst in einer Burg mit der moralischen Bewachung des menschlichen Herzens vergleicht (fol. 375v-376r) : Do seite er do aber gar wol an einer bredige wie man der bvrg sol hvͤten. Die burg, das ist das hertze. Der herre vnd das gesinde sol sin eine gv̊te geselleschaft. Der herre sol ovch spise han; das ist Gottes wort. Er sol ovch eine dicke mvr han; das ist getvltekeit. Die porten soͤllent ouch beslossen sin; das sint die fv́nf sinne. Er sol ovch tieffe graben han; das ist demv́tekeit, vnd sv́llent der viere sin. Er sol ovch soldener han; das sint arme lv́te. Die sechste und letzte Kategorie, die auch als Variante der ersten aufgefasst werden könnte, die ich hier aber ihrer Häufigkeit wegen getrennt aufführe, ist die der Trostsprüche. Das Hauptanliegen unseres Kompilators war offensichtlich die eigene Sündhaftigkeit, die ihm Angst einjagte. Viele der Sprüche, die er sammelte, sind stark tröstend ausgerichtet und dazu einfach aufgebaut (d. h. sie sind keine Aphorismen, deren Inhalt zuerst aufgeschlüsselt werden musste). Im folgenden Beispiel, dessen Bedeutung der Kompilator explizit unterstreicht, bespricht der Dominikaner Eyglo von Friedberg die stark belastete Problematik der Angst vor dem sakramentalen Empfang der Eucharistie. Ohne aber an dieses spezifische Thema mit der Radikalität eines Marquard von Lindau oder Matthäus von Krakau aus späterer Zeit heranzugehen, 33 liefert er uns den Beweis, dass die Predigtkultur des 31 Monika Studer, Exempla im Kontext. Studien zu deutschen Prosaexempla des Spätmittelalters und zu einer Handschrift der Straßburger Reuerinnen , Berlin / Boston 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 6), S. 101 f. et passim . 32 Zur Gebrauchsfunktion deutschsprachiger Exempelsammlungen siehe ebd., S. 201-203, mit Überlegungen, die in ähnlicher Richtung auszulegen wären. 33 Stephen Mossman, Marquard von Lindau and the Challenges of Religious Life in Late Medieval Germany. The Passion, the Eucharist, the Virgin Mary , Oxford 2010, S. 146-175. <?page no="67"?> 66 Stephen Mossman 14. Jahrhunderts weit über die didaktische Vermittlung lehrhafter Inhalte hinausging (fol. 358v-359r): Der von Frydeberg, ein brediger, der seite ein wort, das duhte mich aller worte ein hort, vnd sprach also: „Welich moͤnsche vnsers herren fronlichammen zů einem mole hat enpfangen one totsv́nde mit eime lutern reinen hertzen, wie doch der selbe moͤnsche do noch in vil sv́nden vellet, beide totsv́nden vnd ander súnden, vnd das lange tribet, so ist die craft vnsers herren lichammen so manigualtig, den der moͤnsche zů einem mole enpfangen het wúrdeclichen, vnd ist oͮch denne vnsers herren erbarmhertzekeit so grosz, das er e alle sine wisheit wil durch sv̊chen und durch grv́nden, wie er dem selben moͤnschen gehelffe, daz er niemer gescheiden werde von sime ewigen himelriche.“ Wir sind hier von der Vermittlung moralisch-ethischer Lehre weit entfernt. Der Spruch, den der Kompilator hier als aller worte ein hort beschreibt, mag zwar einen theologischen Kern besitzen, aber es ist eben wegen jener Kommentierung kaum vorstellbar, dass er hier aus Interesse an der dogmatischen Stellungnahme des Predigers zum Thema des würdigen Empfangs der Eucharistie aufgezeichnet wurde. Die Frage nach der Funktion der Sammeltätigkeit solcher Predigtnachschriften bzw. -notizen führt uns schließlich zur Medialität der Zitatensammlung zurück. Die Notizen erlauben nicht nur einen Einblick in die Medialität der gehaltenen und gehörten Predigt, in die Gesprächssituation zwischen Prediger und Zuhörer. Das Textensemble als Ganzes hatte auch eine mediale Wirkung, und zwar in zweierlei Hinsicht: auf den Kompilator selber und auf die späteren Rezipienten des Buches. Es ist kaum glaubhaft, dass eine solche Sammlung als historisches Repositorium tagebuchartig angelegt wurde, auch wenn in den genauen Angaben der Prediger, und manchmal auch der Predigtorte und der Predigtanlässe, eine solche Absicht mitschwingt. Wir kommen aber der Funktion der Sammlung - des rapiariums - näher, wenn wir ihrer Schriftlichkeit Rechnung tragen. In Bezug auf einen ebenfalls über einen längeren Zeitraum zusammengestellten, individuell geprägten und zu seiner Zeit einzigarten Text des 14. Jahrhunderts, Geert Grotes Conclusa et proposita, non vota , spricht Theo Klausmann von einer „schriftlich gestützten Persönlichkeitsreform“. 34 Vielleicht nicht mehr als ein Vierteljahrhundert nach unserem Kompilator verfasste Grote anlässlich seiner Bekehrung keine konkreten Regeln, denen er sich verpflichten müsste, sondern Grundsätze seines künftigen Lebens nach seiner radikalen Abkehr von der kirchlichen Laufbahn eines vielbeschäftigten Pluralisten. Grote, so Klausmann, „[testet] in einer Umbruchssituation […] den Nutzen schriftlich festgehaltener Überlegungen als Gedankenstütze und Ansporn zur Beständigkeit“. 35 Ohne den besonderen Anstoß einer radikalen Lebenswende als Anlass zur Textkomposition zu beanspruchen, ist die Vorstellung einer Sammeltätigkeit im Dienste der „schriftlich gestützten Persönlichkeitsreform“ auch im Falle unseres Kompilators hilfreich. Zwei Texteinheiten sind hier aufzugreifen, die diese Überlegung unterstützen. Die erste ist ein Gebetstext, der am Ende des zweiten Komplexes von schriftlich überliefertem Material steht und somit Einleitungscharakter für die zweite ‚Hälfte‘ der Notizen besitzt. Im Gebet wird eindeutig der Wunsch ausgedrückt, in Christo re-formiert zu werden (fol. 367v): 34 Theo Klausmann, Consuetudo consuetudine vincitur. Die Hausordnungen der Brüder vom gemeinsamen Leben im Bildungs- und Sozialisationsprogramm der Devotio moderna , Frankfurt a. M. u. a. 2003 (Tradition - Reform - Innovation 4), S. 25. 35 Ebd., S. 29. <?page no="68"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 67 [I]ch bitte dich, hertze lieber herre Jhesus Cristus, das du dine martel vnd dinen tot in min hertze vnd in mine sele senckest vnd sendest also vil, also es mine krancke moͤnscheit geliden mag. [I]ch bitte dich, lieber herre, das dv mit dime heiligen ellenden tode an mir tilgest vnd abe nemest alles daz, daz dv nút enbist, vnd alles, das do nv́t geordent ist zv̊ dinem eren. Ich bitte dich, herre, das dv mit dime tv́ren rosefarwen blv̊te abeweschest alles, das vnluter an mir ist, vnd alles, das dv nv́t enbist, vnd alles daz, daz do nv́t geordent ist zv̊ dinen eren. Die zweite Stelle, die in diesem Kontext anzuführen ist, ist die allerletzte Texteinheit des gesamten Buches. Sie entstammt der Predigt eines Dominikaners namens von Franken und bespricht, die Notizensammlung programmatisch abschließend, den Sinn und Zweck der Predigt als Lehrform (fol. 391r-v): Der von Francken, ein brediger, seite an einer bredigen das sant Jacop schribet also: „Wer das Gottes wort hoͤret, vnd nv́t dar noch wúrcket, der tůt also der sich besiht in eime spiegel. Wan wer in einen spiegel siht, so er danvan [sic] komet, so vergisset er schiere sin selbes bilde. Also geschiht öch deme, der die bredige hoͤret, vnd nv́t dar noch wircket.“ Die schriftlich fixierte Form der Aufzeichnungen erscheint mir insgesamt in medialer Hinsicht genauso wichtig für den Kompilator wie die eigentlichen Inhalte gewesen zu sein. Die Aufzeichnung eines Spruchs diente nicht (nur) dazu, seinen Inhalt aufzubewahren, damit dieser nicht in Vergessenheit geriete, sondern ihm eine neue mediale Qualität zu verleihen, damit der Kompilator ihn im wortwörtlichsten Sinne festhalten und immer wieder auf ihn rekurrieren konnte. Die (seltene) Kommentierung einzelner Sprüche war m. E. vom Kompilator für sich selbst bestimmt, unternommen in Kenntnis der geistigen - oder vielmehr der psychischen - Schwäche des Menschen. Ob weitere ähnliche Textsammlungen überliefert sind, ist mir bisher unbekannt. 36 Die Qualität der Predigt als Medium, das nicht nur - wie in der Forschung immer wieder behauptet - der Vermittlung geistlicher bzw. theologischer Inhalte dient, sondern auch einen Rahmen präsentiert, in dem und durch den die dem Zuhörer eigenen Erfahrungen zu begreifen und zu verstehen sind, ist jedoch aus einer exakt zeitgenössischen Straßburger Quelle ebenfalls bekannt: das Leben der Gertrud von Ortenberg. Die Vita dieser Offenburger und später Straßburger Drittordensschwester des Franziskanerordens - sie war, entgegen der häufigen Behauptung in der Forschungsliteratur, keine Begine - ist vermutlich nicht lange nach ihrem Tode im Jahre 1335 ent- 36 Die von Schiewer festgestellte ‚strukturelle Vergleichbarkeit‘ der Zitatensammlung mit einem Werk in der Handschrift Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 69, fol. 2r-35v, will mir nicht einleuchten (vgl. Schiewer [wie Anm. 3], Sp. 1565). Das unvollständig überlieferte Werk - es bricht auf fol. 35v mitten im Satz ab - enthält nur drei Zitate, die aus dem Predigtkontext entnommen sein dürften (fol. 17r-18r). Es wird in der Einleitung explizit als ein aus verschiedenen Quellen zusammengesetztes Kompilat bezeichnet; an erster Stelle aus einem bisher völlig unbekannten Bericht der religiösen Erfahrungen einer Frau, über die wir dem Text nur entnehmen können, dass sie mit Tauler in Verbindung stand, im Jahre 1350 noch lebte, schließlich einem Kloster beitrat und keine Begine war. Der (verlorengegangene) Bericht - und damit auch das spätere Kompilat - sind Produkte einer mystischen Gesprächskultur des früheren 14. Jahrhunderts, die mit dem Phänomen Predigt kaum gleichzusetzen ist. Die Handschrift Ms. germ. oct. 69 ist auf 1391 datiert (fol. 243r) und ist unbekannter Herkunft. Bisher unbemerkt geblieben ist jedoch die Tatsache, dass der Schreiber - vermutlich aber die Schreiberin - auch für die Handschrift Colmar, Bibliothèque de la Ville, Ms. 269, verantwortlich ist, die einer Nonne namens Gisel im Dominikanerinnenkloster Unterlinden in Colmar gehörte (vgl. dort fol. 1r), und die möglicherweise auch in Unterlinden entstanden ist. <?page no="69"?> 68 Stephen Mossman standen, denn der anonyme Verfasser, der die Vita mit der Hilfe von Gertruds Begleiterin Heilke von Staufenberg schrieb, hat Gertrud noch persönlich gekannt. 37 Oft wird erwähnt, dass die beiden Frauen Predigten gehört haben, und von Heilke - der keine besondere religiöse Begnadung zugesprochen wird - wird berichtet, sie habe ein besonders gutes Gedächtnis für die Inhalte von Predigten gehabt. 38 Wichtiger ist aber, wie schon Martina Backes hervorhebt, die aktive Teilnahme der Frauen an einer religiösen Diskussionskultur mit der theologisch gebildeten Geistlichkeit der Stadt Straßburg, in der Predigtinhalte eingehender besprochen und dabei internalisiert worden sind, um die Strukturen, die die Predigt den Frauen bietet, ihr religiöses Leben und ihre Erfahrungen mit Sinn zu erfüllen. 39 Die mediale ‚Rahmenfunktion‘ der Predigt wird gegen Ende der Vita explizit thematisiert: 40 Ejn lese meister det ein predige, die horte dise selige frowe, vnd oͮch jungfrow Heilke; vnd ging die predige al zů mol vf ir leben, vnd waz ir dig vnd vil gar wol mit dirre predigen; vnd bat jungfrow Heilken, daz sú ir nit vergesse, vnd sú ir dick seite; wenn sú kunde gar wol predigen behaben, vnd sú gar eigenlich noch gesagen, vnd wenn sú ir die selbe predige seite, so horte sú sú also gerne vnd losete ir also genot also hette sú sú nieme gehoͤrt. Vnd v́ber vil jor dar noch do verstunt jungfrow Heilke erst, daz ir leben also gar eigenlich in dirre predigen begriffen vnd beslossen waz. 37 Zu Gertrud von Ortenberg siehe einleitend Siegfried Ringler, „Gertrud von Ortenberg (von Rickeldey / von Rückeldegen)“, in: 2 VL , Bd. 11, Berlin / New York 2004, Sp. 522-525. Die unikal überlieferte Vita (Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, Ms. 8507-09, fol. 133r-239v) ist unediert, aber eine diplomatische Transkription wurde vorgelegt von Hans Derkits, Die Lebensbeschreibung der Gertrud von Ortenberg , Diss. Wien 1990. Zu den historischen Umständen von Gertruds Leben siehe dens., „Die Vita der Gertrud von Ortenberg - Historische Aspekte eines Gnaden-Lebens“, Die Ortenau 71 (1991), S. 77-125, und (mit wichtigen Korrekturen! ) Eugen Hillenbrand, „Heiligenleben und Alltag. Offenburger Stadtgeschichte im Spiegel eines spätmittelalterlichen Beginenlebens“, in: Die Ortenau 90 (2010), S. 157-176, sowie dens., „Gertrud von Ortenberg - eine vergessene Heilige“, in: Die Ortenau 91 (2011), S. 279-296. Erst in den letzten Jahren wurde versucht, Gertrud und ihre Vita aus historischer und literaturwissenschaftlicher Sicht zu kontextualisieren: Siehe Anneke B. Mulder-Bakker, „The Age of Discretion. Women at Forty and Beyond“, in: Middle-Aged Women in the Middle Ages , hg. von Sue Niebrzydowski, Cambridge 2011 (Gender in the Middle Ages 7), S. 15-24; Nemes (wie Anm. 9), S. 40 f., und Martina Backes, „Eine Stadt voll der Gnaden. Straßburg aus der Perspektive Gertruds von Ortenberg“, in: Schreiben und Lesen (wie Anm. 9), S. 29-38. 38 Zum Thema Predigt in der Vita wären folgende Stellen heranzuziehen (ich verweise hier und im Folgenden auf die Zeilennummerierung in der gedruckten Transkription von Derkits, Lebensbeschreibung [wie Anm. 37]): 2726-2728, 4063-4085, 4451-4455, 4949-4959 und 6567-6569 (Besuch von Predigten zu verschiedenen Anlässen); 1244-1277 (auf Wunsch von Gertrud wiederholt Heilke einen allegorischen Vergleich, den sie aus einer Predigt eines Ordensbruders memorisiert hatte); 3593-3611 (Gertrud bricht in Tränen aus, als sie auf den Inhalt einer Predigt emotional reagiert); 4086-4139 (Beurteilung der Gottesnähe eines akademischen Gelehrten aufgrund seiner Predigten); 5244-5275 (Gertrud wird nach einer Predigt zum würdigen Empfang der Eucharistie ängstlich und bespricht das Thema anschließend mit ihrem gelehrten Beichtvater); 5282-5296 (Bericht über eine Predigtkampagne in Straßburg gegen daz loͮ ffende volk vnd die ketzer ); 6187-6270 (Gespräche zwischen Gertrud, Heilke und den Franziskanern zum Thema der ‚Vergessenheit‘ in mystischer Einung, das Heilke aus verschiedenen Predigten bekannt geworden ist); 6271-6421 (Heilke versteht, dass Gertruds Leben durch den Inhalt einer Predigt - zu den vier Graden der Liebe nach Richard von St. Viktor - zu begreifen ist); 6432-6502 (Skizze vom Inhalt einer Predigt an der Oktav des Johannes Evangelista, durch die Gertrud eine mystische Erfahrung erlebt). 39 Backes (wie Anm. 37), S. 34-38. 40 Derkits, Lebensbeschreibung (wie Anm. 37), 6271-6282. Der leichteren Verständlichkeit halber habe ich eine moderne Interpunktion eingeführt und Abkürzungen aufgelöst. <?page no="70"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 69 Heilke konnte zwar lesen und schreiben, aber die hier erwähnte Predigt wurde erst in der Vita in schriftlicher Form skizziert. 41 Der verbindende Faktor mit der Zitatensammlung ist nicht die Medialität der Niederschrift, sondern die besondere Auffassung des Mediums Predigt. Ich zitiere Backes: „Vieles deutet darauf hin, dass es nicht um eine Tradierung und Bewahrung von autorisiertem statischen Wissen ging, sondern eher um eine Art Dynamisierung von Erkenntnis im gemeinsamen Gespräch mit Gleichgesinnten in Hinblick auf Fragen des eigenen religiösen Lebens“. 42 Die Funktion, die das Gespräch für Gertrud (und Heilke) erfüllte, übernahm für den Kompilator der Zitatensammlung eben die schriftliche Aufzeichnung. Das Buch in seiner jetzigen Form einer späteren Reinschrift hatte aber auch eine mediale Wirkung. Die Sammelhandschrift Ms. germ. quart. 191 beinhaltet mehrere Faszikel unterschiedlichster Provenienz, darunter mindestens zwei, die definitiv nicht in St. Nikolaus in undis geschrieben worden sind. Der dritte Faszikel (fol. 132-202) ist in ostmitteldeutscher Schreibsprache verfasst und gehörte ursprünglich einem Deutschordensbruder. Eine gegen Ende des zweiten Faszikels eingebundene Lage (fol. 118-130), die als ein selbstständiger Teil der Handschrift bisher nicht wahrgenommen wurde (sie wurde erst nachträglich mit dem Doppelblatt 117+131 versehen und wurde damit zur zehnten Lage dieses Faszikels gemacht), enthält auf fol. 119r-126r eine Predigt zur Nachfolge Christi. Sie ist in einer sehr auffälligen Schrift verfasst, in der ich die Hand eines Straßburger Johanniters wiedererkenne (möglicherweise des langjährigen Komturs Johannes Amandus). 43 Der neunte Faszikel, der die Zitatensammlung enthält, ist auf einem Papier geschrieben, dessen Wasserzeichen zur Gruppe Piccard, Schlüssel, V 61-85 (datiert 1414-1419) gehört und dem Typ V 79 (1415) am ähnlichsten ist. 44 Die Reinschrift der Zitatensammlung erfolgte also im Zeitraum ca. 1412-1420, vermutlich um 1415. Sie ist jedoch in einer für diese Zeit schon etwas altertümlich wirkenden Textualis libraria geschrieben, die ich auch in einer zweiten Handschrift identifizieren konnte: in einem in elsässischer Schreibsprache verfassten Faszikel in einer dem Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina zugehörigen Handschrift, der eine der Wasserzeichendatierung zufolge im Zeitraum ca. 1409-1416 geschriebene Abschrift der Hoheliedpredigt des Straßburger Johanniters Ulrich enthält (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII , 34, fol. 147r-168v); vgl. die Abbildungen im Anhang. Da im Jahre 1428 St. Katharina in Nürnberg von Nonnen aus dem elsässischen Kloster Schönensteinbach reformiert wurde, die bekanntlich Handschriften mitbrachten - darunter mit Sicherheit 41 Die Tatsache, dass Heilke lesen und schreiben konnte, geht aus den Stellen 4264-4273 (als sie auf Wunsch Gertruds einen Brief an einen Franziskaner schreibt) und 6503-6545 hervor (als sie ihr Testament auf einer Wachstafel entwirft). Heilke weiß, dass Gertrud kunde wol dútsch lesen (6516-6517), und einmal ist von einem nicht näher bestimmbaren deutschsprachigen Buch die Rede, das von ihrer Dienstmagd gestohlen wurde (4290-4296), aber im Gegensatz zur Predigt wird das Lesen ansonsten (und auffälligerweise) niemals thematisiert; dazu schon Backes (wie Anm. 37), S. 35 f. 42 Ebd., S. 38. 43 Die Hand ist in vielen Archivalien aus dem Kloster zum Grünen Wörth anzutreffen; hervorzuheben ist z. B. ein im Jahre 1446 angelegtes Verzeichnis der Schenkungen, die das Kloster von ihren Brüdern seit 1399 erworben hatte und das unter den verschiedenen Akten in der liasse Straßburg, Archives départementales, H 1364 zu finden ist. Zu Johannes Amandus, der als Verfasser eines verlorenen Tractatus de mysterio missae bezeugt ist, siehe Barbara Fleith, „ Remotus a tumultu civitatis? Die Johanniterkommende ‚zum Grünen Wörth‘ im 15. Jahrhundert“, in: Schreiben und Lesen (wie Anm. 9), S. 411-467, hier S. 453. 44 Gerhard Piccard, Wasserzeichen Schlüssel , Stuttgart 1979 (Die Wasserzeichenkartei Piccard im Hauptstaatsarchiv Stuttgart 8). <?page no="71"?> 70 Stephen Mossman mehrere Faszikel jener heutigen Nürnberger Handschrift - haben Nigel F. Palmer und ich eine Schönensteinbacher Herkunft auch für die Abschrift von Ulrichs Hoheliedpredigt vermutet. 45 Sollte das zutreffen, so muss die Reinschrift der Zitatensammlung ebenfalls ein Schönensteinbacher Produkt sein, das in diesem Fall nicht nach Nürnberg, sondern nach dem 1432 reformierten St. Nikolaus in undis in Straßburg geschickt wurde, wo es zusammen mit anderen Einzelfaszikeln verschiedener Herkunft zusammengebunden wurde. Die mediale Wirkung der Zitatensammlung in ihrem observanten Kontext lässt sich nur schwer bestimmen. Sie hätte keinen neuen Zugang zu einem anderen Predigtkorpus eröffnet, denn für die größte Zahl der namentlich genannten Prediger sind gar keine Predigten überliefert. Für einen stimmt das aber nicht: Meister Eckhart. Und darüber hinaus wurde im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts, als die Handschrift in St. Nikolaus in undis in ihrer jetzigen Form zusammengebunden wurde, ein Inhaltsverzeichnis angelegt. Die Zitatensammlung wird dort mit zwei Einträgen aufgenommen, die von der ersten Texteinheit (dem Gebetstext Eckharts) und vom einzigen anderen Spruch, der ausdrücklich Eckhart zugeschrieben wird, ausgehen: Item Meister Eckehart wie der sich alle tag zů syben molen toͮffte in dem blůt v́nsers herren Jesu Christi xlvij und Item noch Meiste[r] Eckhar[t] vil ler vnd sprúch die die lerer vnd helgen gelert hand vnd vil gutter vnderscheid je ei[n]s noch dem andren xlviij (fol. 4v). Wie schon Schiewer bemerkte, „diese Trennung spiegelt sich nicht im Layout der H[andschrift] und fällt nicht zusammen mit der Nennung des ersten zeitgenössischen Predigers neben Meister Eckhart“. 46 Man lenkte so die Aufmerksamkeit der Leser in St. Nikolaus in undis auf den Faszikel gewissermaßen als Eckhartsche Sammlung - mehr noch, man auratisierte ihn sogar als solche. Durch die spätere Einschätzung des Faszikels als ‚Eckhart-Handschrift‘ ging allerdings sein ursprünglicher Charakter verloren. In seiner heutigen Gestalt ist er die Reinschrift einer rapiarium -ähnlichen Textsammlung, die schriftlich tradierte Kurztexte mit persönlichen Aufzeichnungen mündlich gehaltener Predigten aus der Stadt Straßburg in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vermischt. Die Aufzeichnungen erlauben es uns, die Kluft zwischen den überlieferten Predigttexten einerseits und unserer Kenntnis einer blühenden Kultur der volkssprachlichen Predigt im spätmittelalterlichen Rheinland andererseits zu überbrücken. Wichtiger ist aber der Einblick in die Medialität der Predigt. Zu einem recht frühen Zeitpunkt ist der Einsatz von Schrift in der selbstgesteuerten Identitätsbildung und Persönlichkeitsformung eines Laien zu erkennen, um mündlich vermittelte Predigtinhalte aufarbeiten zu können. Die Predigt ist aber auch an sich Medium. Die Aufzeichnungen der Berliner ‚Zitatensammlung‘ deuten darauf hin, dass die Predigt in den spätmittelalterlichen rheinischen Städten keinesfalls als eine unidirektionale Vermittlungsmethode theologischer bzw. moraldidaktischer Lehrinhalte zu verstehen ist. Als Medium betrachtet bot sie dem Rezipienten den Rahmen eines Verarbeitungsprozesses an, in dem der Rezipient mit den Schwierigkeiten eines christlichen Lebens in der Stadt umzugehen lernte und die Selbstreform anstreben dürfte. 45 Stephen Mossman und Nigel F. Palmer, „Ulrich der Johanniter vom Grünen Wörth and his Adaptation of the ‚Liber amoris‘. A Critical Edition of the ‚Hoheliedpredigt‘ and of its German Precursor ‚Die Höhenflüge der Seele‘“, in: Schreiben und Lesen (wie Anm. 9), S. 469-520, hier S. 492 f. 46 Schiewer (wie Anm. 3), Sp. 1564. <?page no="72"?> Medialität der deutschen Predigt im späteren Mittelalter 71 Abb. 1: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. quart. 191, fol. 352r (ca. 1412-1420) <?page no="73"?> 72 Stephen Mossman Abb. 2: Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII , 34, fol. 147r (ca. 1409-1416) <?page no="74"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 73 Nu wil ich schreiban unser heil James Ussher und die Verwendung der altdeutschen Literatur im Dienst der Reformation Timothy R. Jackson Nemo ædificatur audiendo quod non intelligit ‚Niemand wird durch das Hören dessen erbaut, was er nicht versteht.‘ (Augustinus, De Genesi ad literam , lib. 12, cap. 8) I. James Ussher und seine Historia dogmatica Als ich vor Jahren im Rahmen eines ganz anderen Projekts auf James Usshers Historia dogmatica gestoßen bin, 1 habe ich beim Durchblättern des Bandes mit einigem Erstaunen bemerkt, dass dieser irische Theologe aus dem 17. Jahrhundert auf eine Reihe von mittelalterlichen deutschen Autoren verwies und sie sogar zitierte. Deutschkenntnisse - und erst recht Kenntnisse historischer Sprachstufen - waren zu der Zeit kaum zu erwarten; so wurde der Lehrstuhl für Französisch und Deutsch an der Universität Dublin erst 1776 gegründet. Nachdem ich zuerst lediglich die Tatsache zur Kenntnis genommen hatte, bin ich zum Zweck dieser Tagung den Gründen für Usshers Interesse nachgegangen. Es hat sich herausgestellt, dass es ihm darum ging, anhand seiner beeindruckenden kultur- und kirchenhistorischen Bildung die Verwendung der Volkssprache in der protestantischen Reformation zu rechtfertigen und zu fördern. James Ussher (1581-1656), Sohn einer eingesessenen und wohlhabenden Dubliner Familie, gehörte zum allerersten studentischen Jahrgang der 1592 in seiner Heimatstadt gegründeten, 1594 geöffneten Universität. Er wurde 1598 zum Baccalaureus artium, zwei Jahre später zum Fellow von Trinity College 2 und schon 1607 zum ersten Professor of Theological Controversies . Zu jener Zeit war dies der vorrangige theologische Lehrstuhl der eindeutig protestantischen Universität; er selber aber nannte sich ‚Professor of Sacred Theology‘. 3 Seine geistliche Laufbahn - Fellows waren prinzipiell Kleriker - ging nicht weniger steil 1 Timothy R. Jackson, „Dutch interest in Irish affairs in the seventeenth and eighteenth centuries, as evidenced by the Fagel Collection“, in: ders. (Hg.), Frozen in time: the Fagel Collection in the Library of Trinity College Dublin , Dublin 2016, S. 173-225. Sein Familienname erscheint auch als „Usher“. 2 Trinity College sollte das erste College einer Universität nach Oxforder / Cambridger Modell sein; da kein zweites gestiftet worden ist, bleiben College und Universität zwar verfassungsrechtlich geschieden, für die meisten Zwecke aber identisch. 3 Alan Ford, James Ussher. Theology, history, and politics in early-modern Ireland and England , Oxford 2007, S. 32. <?page no="75"?> 74 Timothy R. Jackson aufwärts: Theologisch „a moderate Calvinist“, 4 wurde er 1601 von seinem Onkel Henry Ussher, dem protestantischen Erzbischof von Armagh, zum Diakon und Priester geweiht. Ab 1605 war er Kanzler der Kathedrale von St. Patrick in Dublin, ab 1621 Bischof von Meath. 1625 erreichte er den Höhepunkt seiner Karriere: Er wurde von König James I. zum Erzbischof von Armagh und somit Primas der anglikanischen Church of Ireland ernannt. Mittlerweile (1623) hatte er seine College- und Universitätsämter aufgegeben und war nunmehr ein fleißiger Geistlicher und Gelehrter, und zwar der erste Wissenschaftler von Rang - und lange Zeit noch der wichtigste -, den die junge Universität produzierte. Comenius nannte ihn „omnium Anglorum doctissimum“, 5 und er erscheint neben Savonarola, Erasmus und Scaliger als einer der in den Vitæ selectorum aliquot virorum des William Bates behandelten 30 Würdigen. 6 1640 hat er Irland verlassen; er verbrachte die letzten 16 Jahre seines Lebens in England. Von Ussher wird berichtet, er habe sich als Student vorgenommen, sämtliche Werke der Kirchenväter zu lesen, und habe diese Aufgabe bis zu seinem 38. Lebensjahr tatsächlich erfüllt. 7 Damit sollte ein Teil der Materialien zusammengestellt werden, mit denen er die Frage ‚Wo war der Protestantismus vor Luther? ‘ würde beantworten können, um der Behauptung etwa eines Thomas Stapleton entgegenzuwirken, an den patristischen Schriften könne „the primitive antiquity of the Roman Church“ bewiesen werden. 8 So wollte er in seinen vielen kirchengeschichtlichen Büchern - z. B. Gravissimæ quæstionis de Christianarum ecclesiarum […] successione et statu, historica explicatio (London: Bonham Norton, 1613; auch Hanau: Typis Hæredum Aubrianorum, ed. sec., 1658 - seine erste Veröffentlichung), Britannicarum ecclesiarum antiquitates (Dublin: Ex Officinâ Typographicâ Societatis Bibliopolarum, 1639), A discourse of the religion anciently professed by the Irish and British (London: R[obert] Y[oung], 1631) - immer wieder zeigen, dass die reformierte Kirche, nicht zuletzt ihr irischer Zweig, die ursprüngliche, später durch den Einfluss Roms verdorbene, christliche Kirche wiederherstellte. Innerhalb dieses Projekts ist der Gegenstand meiner Darstellung, Usshers Historia dogmatica (im Folgenden: HD ), zu lokalisieren. Dieses Werk ist nicht etwa analytisch angelegt, sondern bietet zum größten Teil eine Sammlung von Zitaten aus hebräischen und patristischen sowie auch mittelalterlichen Quellen, 9 die von sich aus seine Grundthese erläutern und untermauern sollen, nämlich: Schon in vorlutherischen Zeiten haben sich ständig und überall in der Kirche Stimmen hören lassen, die für die Verwendung der jeweiligen Volkssprache in Liturgie, Predigt und Übersetzungen der Heiligen Schrift plädierten. 4 Alan Ford, The Protestant Reformation in Ireland, 1590 - 1641 , Frankfurt a. M. u. a. 1987 (Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums 34), S. 196. Vgl. Usshers Gotteschalci et prædestinationæ controversiæ ab eo motæ historia , Dublin: Societas Bibliopolarum, 1631 (auch Hanau: Jacobus Lasche 1662), in der er Gottschalk den Sachsen als „German proto-Calvin defending predestination against Arminian attacks“ darstellt (Ford [wie Anm. 3], S. 157). 5 Zitiert nach Robert Fitzgibbon Young, Comenius in England , Oxford 1932, S. 40. Man könnte einwenden, es müsste richtig heißen: Hibernicorum . 6 William Bates, Vitæ selectorum aliquot virorum qui doctrina, dignitate, aut pietate inclaruere , London: George Wells, 1704. 7 The whole works of the most Rev. James Ussher , hg. von Charles R. Elrington und James H. Todd, 17 Bde., Dublin 1829-1864 (im Folgenden als Works zitiert), Bd. 1, S. 9; vgl. Ford (wie Anm. 4), S. 218. 8 Philip Styles, „James Ussher and his times“, in: Hermathena 88 (1956), S. 12-33, hier S. 18, zu Thomas Stapleton, The fortresse of the faith , Antwerpen: Hans de Laet, 1565, den Ussher als Student gelesen hat. 9 Vgl. Styles (wie Anm. 8), S. 17, zum De successione et statu : „a corpus of quotations and not […] a reasoned argument“. <?page no="76"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 75 Zur Ausführung des Projekts konnte Ussher sich auf die Bibliothek der Universität sowie auf seine relativ reichhaltige Privatbibliothek verlassen. Ab dem Jahr 1601 hatte er mit Luke Challoner, ebenfalls ein Fellow von Trinity College und dazu sein Schwiegervater, die Aufgabe, für die junge Institution Bücher zu erwerben, für die in den frühen Jahren relativ viel Geld vorhanden war. Allein oder zusammen sind sie öfters - z. B. 1603, 1606, 1609, 1612 - nach England gefahren, um Bücher anzukaufen. Ussher pflegte je einen Monat in Oxford, Cambridge und London zu verbringen, zum Teil in universitären Angelegenheiten, zum Teil zu privaten Forschungszwecken. 10 In Oxford war Thomas Bodley eine Kontaktperson, und sie haben sich gegenseitig bei der Anschaffung der „choicest and best books“ geholfen, so dass „the famous Bodleyan Library at Oxford , and that of Dublin , began together“. 11 In seiner Privatbibliothek besaß Ussher mehrere bibliographische Hilfswerke, u. a. das Bibliothecæ epitome des Konrad Gesner sowie das De scriptoribus des Petrus Suffridus, neben dem katholischen Index librorum prohibitorum . Und von den zweimal im Jahr erscheinenden Katalogen der Frankfurter Messe waren für die Jahre 1600 bis 1609 mindestens 15 in seinem Besitz, dazu auch der Kumulativkatalog des Nicholaus Basse für die Jahre 1564 bis 1592. 12 Unklar ist, warum das Ergebnis von Usshers Studien erst posthum erschien. Bei seinem Tod hinterließ er eine Handschrift mit dem Titel Historiæ dogmaticæ quæstionum inter Orthodoxos et Pontificios controversarum specimen […] , 13 die von Henry Wharton 1690 als die bereits erwähnte Historia dogmatica herausgegeben wurde. 14 Das Werk gliedert sich in zwei Teile, deren zweiter, kürzerer Teil (S. 305-468, auf den die nicht-nummerierten Indices folgen) aus dem Auctarium besteht, in dem Wharton innerhalb einer parallel laufenden Reihe von Kapiteln einen ähnlichen Inhalt wie Usshers erster Teil bietet, nämlich Belege für die Verwendung der Volkssprache im frühen Christentum. In seiner Præfatio berichtet Wharton, dass er die zahllosen von Ussher gesammelten testimonia geordnet, ergänzt, gelegentlich korrigiert bzw. kommentiert hat. Sonst aber wissen wir wenig über die Genese des Werkes, z. B. darüber, wie lange Ussher daran arbeitete - sein Patristik-Projekt war ja gut 35 Jahre vor seinem Tod zu Ende. Andererseits aber wissen wir, dass Ussher schon als junger Mann mit den bahnbrechenden Studien des Mathias Flacius Illyricus vertraut war, denn dessen Ecclesiastica historia (die sog. Centuriæ Magdeburgenses ), 15 die man als „the key work for Protestant historians interested in history’s polemical uses“ bezeichnet hat, stand in seiner Privatbibliothek, 16 dessen Catalogus testium veritatis in der Dubliner 10 Ford (wie Anm. 3), S. 33. Am 8. Dezember 1612 schreibt er aus London an Challoner, „Marnixius against Bellarmine is not here to be had“. Brief Nr. 332, Works (wie Anm. 7), Bd. 16, S. 321. 11 Richard Parr, The life of the most reverend Father in God, James Usher […] , London: Nathaniel Ranew, 1686, S. 10. 12 Elizabethanne Boran, „The libraries of Luke Challoner and James Ussher 1595-1608“, in: European Universities in the age of the Reformation , hg. von Helga Robinson-Hammerstein, Dublin 1998, S. 75-115, hier S. 106-108. 13 Vgl. Works (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 323. 14 Jacobi Usserii Historia dogmatica controversiæ inter Orthodoxos & Pontificios de Scripturis et sacris vernaculis […] , London: Richard Chiswell, 1690; Digitalisat: https: / / archive.org/ details/ bub_gb_7g_ aoLNPOqUC (Stand 15. 8. 2015). Vgl. Works (wie Anm. 7), Bd. 12, S. 145-496. 15 Ecclesiastica historia […] , Per aliquot studiosos & pios uiros in urbe Magdeburgica [sc. Mathias Flacius Illyricus et al.] , Basel: Johannes Oporinus, 1560-1574. In der Regel führe ich die jeweils älteste Edition solcher Werke an, die heute in der Bibliothek der Universität steht; das ist zumeist auch die erste. 16 Vgl. Boran (wie Anm. 12), S. 96; auch Ford (wie Anm. 3), S. 71. <?page no="77"?> 76 Timothy R. Jackson Universitätsbibliothek, und zwar bereits seit deren frühen Jahren. 17 Das in diesen Werken gefundene wissenschaftliche Leitprinzip, es habe zu jeder Zeit in der Kirche ‚wahre‘, d. h. von den römischen Irrtümern unangetastete Christen gegeben, brachte Ussher schon in seinem De successione et statu zum Ausdruck. II. Die Volkssprache bei den Hebräern und den Kirchenvätern Wie andere Unterstützer der Reformation sah Ussher ein Problem in der Hegemonie des Latein, die auf die altrömische Sprachpolitik zurückgehe ( HD 97): Curabant ergo Romani […] ut & in Provinciis plurimi Latinè loquerentur; ita ut Hispanias & Gallias Latinas prorsus fecerint, veteribus illarum gentium linguis abolitis: & in Senatu nullos audierunt nisi Latinè verba facientes. ‚So sorgten die Römer dafür, dass auch in den Provinzen die meisten Latein sprächen, so dass sie - die alten Sprachen jener Völker einmal abgeschafft - die spanischen und gallischen [Provinzen] lateinisch gemacht haben, und im Senat haben sie keine gehört, wenn sie nicht lateinische Worte verwendeten.‘ 18 Diese imperialistische Sprachpraxis, wie wir es vielleicht nennen würden, 19 sei dann von der jungen römisch-christlichen Kirche übernommen worden. Denn, wie Ussher weiter bemerkt: Die „Romani pontifices“ wollten ( HD 97), ut Latina Liturgia quantumvis incognita & non intellecta ubique in ditione suâ obtineret […], i. e. Romani imperii sedulò imitati. ‚dass die lateinische Liturgie, wie unbekannt und unverstanden auch immer, überall in ihrem Machtbereich bestehen würde, d. h. sie haben das römische Imperium eifrig nachgeahmt.‘ Nach Ansicht Usshers herrschte dieser Zustand immer noch in der katholischen Kirche: Liturgische, biblische und theologische Schriften wurden in eine Sprache gefasst, die zum größten Teil nur dem Klerus vertraut war und dem Laientum eine lingua non intellecta blieb. Demgegenüber zeigte Ussher, wie es - schon in der judäischen Tradition sogar (Kapitel I) und dann bei den griechischen und lateinischen Kirchenvätern (Kapitel II und III ) - 17 Mathias Flacius Illyricus, Catalogus testium veritatis, qui ante nostram ætatem reclamarunt Papæ , Basel: Michael Martin Stella und Johann Oporinus, 1556. Das Exemplar der Dubliner Universitätsbibliothek wurde 1608 vom Dubliner Buchbinder John Frankton eingebunden, vgl. J. G. Smyly, „The Old Library. Extracts from the Particular Book“, in: Hermathena 49 (1935), S. 166-183, hier S. 174. 18 Worte, die von Ussher selbst oder seinen Zeitgenossen stammen, sind hier und im Folgenden, so wie in der HD , recte geschrieben, Worte aus seinen Primärquellen kursiv. Latein-Deutsch-Übersetzungen von T. J. 19 Vgl. aber Usshers Augustinus-Zitat ( Civ. Dei , lib. 19, cap. 7): Opera enim data est, ut imperiosa civitas non solùm jugum, verùm etiam linguam suam domitis gentibus […] imponeret ( HD 97 - ‚Denn man hat sich darum bemüht, dass der imperiale Staat den unterworfenen Völkern nicht nur das Joch sondern auch die eigene Sprache aufdrücken würde‘). - In seiner Behandlung der Sprache geht Ussher ab und zu über die theologische Dimension hinaus und zeigt ein Interesse für die Sprachgeschichte als solche. Z. B. bemerkt er bei Berufung auf Otto von Freising, dass jene Franken, die Gallien bewohnten, das Lateinische übernommen haben; die aber, „qui circa Rhenum ac in Germaniâ remanserunt, Teutonicâ linguâ utuntur“ ( HD 99 - ‚die am Rhein und in Germanien zurückgeblieben sind, gebrauchen die deutsche Sprache‘). Im Prinzip aber, so meint er, neigt der Kolonisierte dazu, die Sprache des Kolonisten zu übernehmen: so das Latein in Nordafrika, das Griechische in Teilen von Italien ( HD 211). <?page no="78"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 77 positive Einstellungen zum Prinzip der Verwendung der jeweiligen Muttersprache statt der jeweils heiligen Sprache der religiösen Praxis gegeben hat. So habe der Rabiner Joses darauf bestanden, dass man Gebete in der Sprache sprechen sollte, die man versteht ( HD 7: ‚recitet eâ linguâ quam intelligit‘). Unter den Griechen habe Johannes Chrysostomus an einer Stelle in seiner ersten Matthaeus-Homilie betont, dass die Heilige Schrift & servo & rustico, & viduæ & puero ( HD 38 - ‚für den Sklaven und den Landbewohner, die Witwe und den Knaben‘) leicht zu verstehen ist, und in seiner ersten Johannes-Homilie habe er zum Johannes-Evangelium bemerkt ( HD 40): 20 Syri, Ægyptii, Indi, Persæ, Æthiopes, & innumeræ aliæ gentes, in suam transferentes linguam, homines barbari Philosophari didicerunt. ‚Indem die Syrer, Ägypter, Inder, Perser, Äthiopier und zahllose andere Völker es in ihre Sprache übersetzt hatten, haben die Barbaren das Philosophieren gelernt.‘ Aus den vielen Latinorum Patrum testimonia bringe ich nur Augustins schönes Bild von Gottes Ameise ( HD 80): Vide formicam Dei; surgit quotidie, currit ad Ecclesiam Dei, orat, audit lectionem, hymnum cantat, ruminat quod audit, apud se cogitat, recondit intus grana electa de areâ . ‚Siehe die Ameise Gottes; sie steht jeden Tag auf, läuft zur Kirche Gottes, betet, hört die Lesung, singt die Hymne, käut das Gehörte wieder, denkt darüber nach, speichert in ihrem Inneren die ausgewählten Körner von dem Dreschboden.‘ Das sind geistliche Übungen, die der Lateinunkundige nur bei Benutzung volkssprachlicher Texte ausführen kann. Nach drei Kapiteln mit solchen Zitaten kann Ussher in dem ersten Satz des vierten, „De origine erroris pontificii“, konstatieren ( HD 97): Ex Patrum, quos hucusque produximus, sententiis illud manifestum fecimus, prioribus sex à Christi ascensione sæculis linguam peregrinam in Sacris nondum fuisse receptam, neque etiam populo Scripturæ lectioni interdictum. ‚An den Meinungen der Kirchenväter, die wir bisher angeführt haben, haben wir deutlich gemacht, dass in den sechs Jahrhunderten, die seit Christi Auferstehung folgten, eine Fremdsprache den geistlichen Riten noch nicht ferngehalten, noch dem Volk das Lesen der [Heiligen] Schrift verboten worden ist.‘ III. Wulfila und das Gotische Ussher blieb ständig in brieflicher Verbindung mit einer großen Anzahl von Mitarbeitern verschiedenster Herkunft und Konfession, unter ihnen irische Franziskaner wie Thomas Strange und Luke Wadding 21 sowie Mitglieder der längst etablierten englischen Univer- 20 Ussher, von dem beide lateinische Übersetzungen stammen, verweist auf: Fol. 4. G. K. Edit. Paris. 1546. & fol. 3. M, bzw. Johannes Chrysostomus: In Johan. Homil. 1 . 21 Vgl. William O’Sullivan, „Ussher as a collector of manuscripts“, in: Hermathena 88 (1956), S. 34-58, hier S. 54: „[…] we find Fr. Strange working on Ussher’s primatial registers for Wadding and Wadding copying manuscripts in the Vatican for Ussher“. <?page no="79"?> 78 Timothy R. Jackson sitäten zu Oxford und Cambridge wie Abraham Wheelock, 22 Gerard Langbaine, Thomas Bodley und John Preston; und kontinentaleuropäische Gelehrte wie Lodewijk de Dieu, Constantijn L’Empereur und Johannes de Laet (Leiden), Gerardus Vossius (Vos) und Christian Ravis (Amsterdam), Isaak Gruter (Den Haag), Johannes Hevelius (Danzig), Friedrich Spanheim (Genf), Johannes Buxtorff und Wolfgang Mayer (Basel). 23 Am 3. Juli 1651 schrieb Ussher Franciscus Junius dem Jüngeren (auch François du Jon genannt) einen Brief, der Auskunft über die Quellen für das Studium des Gotischen gibt und dabei von dieser Zusammenarbeit sowie von Usshers Gelehrtheit zeugt. 24 Als erstes wies Ussher auf zwei von Bonaventura Vulcanius edierte, anonyme commentarioli hin, von denen der eine die „literas Gothicas“, der andere das „alphabetum Gothicum“ betraf. 25 Dann erwähnte er die Passagen aus dem Codex Argenteus , die von Michaelis Arnoldus Mercator und Antonius Morillonus abgeschrieben und von Gruterus in dessen Inscriptiones 26 bzw. von Johannes Goropius Becanus in dessen Gotodonica aufgenommen wurden; 27 er habe letztere, insbesondere den Wortlaut des Vaterunser, mit den von Vulcanius veröffentlichten verglichen - etwa Atta unsar thu in himmina, wihnai namo thein mit Atta vnsar thu in himina, Weihnai namo thein - und sei zum Schluss gekommen, dass Morillonus der Verfasser des ersten commentariolus sei. 28 Dann schrieb er von einem zweiten gotischen Codex, der ebenfalls mit „aureis argenteisque characteribus“ beschrieben war, nicht aber wie der 22 Wheelock lobt Ussher im Vorwort, „Ad Lectorem“, das seiner Edition der angelsächsischen Übersetzung von Bedas Historia (Cambridge: Ex Officina Rogeri Daniel. Prostant Londini apud Cornelium Bee, 1644) vorausgeht; wer Bedas historischen Kontext suche, werde sie in Usshers Schriften zu den britischen Kirchen finden: quibus quid addere conari, esset Iliadas post Homerum scribere (‚zu versuchen, dem etwas hinzuzufügen, hieße, nach Homer die Ilias zu schreiben‘). 23 Vossius widmete er seine Gottschalk-Studien. Mayer teilte ihm in einem Brief mit, er habe die Werke einer Anzahl von Anglikanern, „et tua quoque nonnulla“ (‚und von Deinen auch nicht wenige‘) in Latein und Deutsch übersetzt (Brief Nr. 440, Works [wie Anm. 7], Bd. 16, S. 560 f.). 24 Brief Nr. 289, Works (wie Anm. 7), Bd. 16, S. 189-191; Sophie van Romburgh, „For my worthy freind Mr Franciscus Junius“. An edition of the correspondence of Francis Junius F. F. ( 1591 - 1677 ) , Leiden / Boston 2004 (Brill’s Studies in Intellectual History 121), Brief Nr. 173, S. 802-811. Wir besitzen lediglich eine, möglicherweise unvollständige, Kopie des Briefes, die von Junius angefertigt wurde. Dieser wurde 1591 in Heidelberg geboren, wuchs in Leiden auf, verbrachte als junger Mann mehr als zwei Jahrzehnte in England im Dienst des Earl of Arundel und lebte seit 1642 wieder in den Niederlanden; er starb 1677. Wahrscheinlich 1650 / 1651 schenkte ihm Ussher die Handschrift mit altenglischen Texten, die heute als Oxford, Bodleian Library, MS Junius 11, bekannt ist, und die er als Cædmonis monachi paraphrasis poetica Genesios […] , Amsterdam: Christophorus Cunradus, 1655, herausgab. Auf Usshers Hilfe hat er auf S. 248 seiner Williram-Studien hingewiesen; vgl. das Faksimile: Franciscus Junius, Observationes in Willerami Abbatis Francicam paraphrasin Cantici Canticorum [Amsterdam: Christophorus Cunradus, 1655], hg. von Norbert Voorwinden, Amsterdam / Atlanta, GA 1992 (Early Studies in Germanic Philology 1). 25 Usshers eher fragmentarische Anmerkungen zu den Quellen, die er im Brief erwähnt, habe ich im Folgenden ergänzt. So sind die commentarioli , die er hier im Sinn hat, nach Vulcanius’ Edition von Gotus Jornandes, De Getarum, siue Gothorum origine et rebus gestis […] , Leiden: Ex Officina Plantiniana, Apud Franciscum Raphelengium [Frans van Ravelingen], 1597, mit eigener Paginierung (S. 1-15, bzw. 16-108) eingebunden. 26 Janus Gruterus, Inscriptiones antiquæ totius orbis Romani […] , [Heidelberg: Hieronymus Commelin], 1602. 27 Ioannes Goropius Becanus, Origines Antwerpianæ […] , Antwerpen: Ex officina Christophori Plantini, 1569. 28 Auf der Titelseite des ersten commentariolus im Vulcanius-Exemplar der Dubliner Universitätsbibliothek steht gegenüber den Worten viri cuiusdam docti anonymi am Rand in Usshers Schrift „Antonij Morilloni“. Auf S. 59 des zweiten commentariolus ist der Name Willerami mit Tinte unterstrichen worden. <?page no="80"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 79 Codex Argenteus auf Pergament, sondern auf Papier (so übersetzt van Romburgh „papyro“), was viele Jahre später einer der Gründe für Hans Ferdinand Maßmanns Frage im allerersten Band der Zeitschrift für deutsches Altertum war: „Gab es zwei Handschriften der gothischen Bibelübersetzung, wenigstens der Evangelien, im XVI Jahrhundert? “ 29 Dieser Codex, so soll Philippus Marnixius beteuert haben, stand in der Bibliothek des Hermannus Comes Nervenarius, 30 und Matalius Metellus Sequanus glaubte ihn ebenfalls in den Händen gehalten zu haben. 31 Ussher wies ferner darauf hin, dass Wulfila die gotischen Buchstaben erfunden und die Heilige Schrift zum ersten Mal ins Gotische übersetzt habe: ‚Das lehren Euch‘ („vos docent“) „Socrates [sc. Scholastikos - van Romburgh], Sozomenus, Isidorus Hispalensis (in Gothorum chronico) et martyrii Nicætæ scriptor (apud Simeonem Metaphrastem die 15º. Septembris)“, sowie eine Stelle im De rebus ecclesiasticis des Walafrid Strabo, die er zitierte. 32 Zum Schluss verwies er auf Joseph Scaligers Äußerungen zu den Goten. 33 Als Junius sein Gothicum glossarium (Amsterdam 1665) veröffentlicht, führt er Ussher als „magnus ille ac multæ lectionis Antistes“ (‚großer und belesener Meister‘) an und druckt auf S. 14-17 seinen Brief. Die in diesem Brief angeführten (sowie auch weitere) Quellen, sein Inhalt, zum Teil auch sein Wortlaut, sind an mehreren Stellen in der Historia dogmatica wiederzufinden, an denen Ussher sich mit dem Gotischen befasst. 34 Unter dem Abschnitt-Titel „370. Ulphilas Gothorum Episcopus“ (S. 61-63) 35 schreibt er Matthaeus Parker, Ado, Isidor, Petrus Equilinus und Simeon Metaphrastes die Behauptung zu, der Bischof „Galfila“ habe die gotischen Buchstaben erfunden und / oder das Alte und Neue Testament in diese Sprache übersetzt. Er zitiert auch hier, etwas ausführlicher als im Brief, die historischen Details zu Wulfilas altem und besonders wichtigem Beispiel der Verwendung der Volkssprache im geistlichen Leben, die Josephus Scaliger bietet ( HD 62): 36 29 Hans Ferdinand Maßmann, „Gotthica minora“, in: ZfdA 1 (1841), S. 296-393, Abschnitt Nr. 2 (Titel wie oben), S. 306-344, zu Ussher: S. 313, 341-344. 30 Für diese Informationen beruft sich Ussher auf Sibrandus Lubbertus, De principiis Christianorum dogmatum libri septem […] , Franeker: Aegidius Radaeus, 1591. Dieser schreibt „Nevvenar“ (S. 179), Ussher selber in der HD „Newenar“ (S. 213). Im Einklang mit Usshers Unternehmen hatte Lubbertus (S. 276) behauptet: „Deinde quemadmodum licitum fuit Latinis, vt legerent scripturam in Latina lingua; ita etiam licitum est, vt Germani eam legant in lingua Germanica, & singuli alij populi in paterna & natiua lingua“ (‚So wie also die Lateinsprachigen die [Heilige] Schrift in lateinischer Sprache haben lesen dürfen, genau so dürfen die Deutschen sie auf Deutsch und jedes andere Volk in seiner angeborenen Vatersprache lesen.‘) 31 Quelle hierfür ist Suffridus Petrus, De scriptoribus Frisiæ, decades xvi. & semis […] , Köln: Heinrich Falckenburgh, 1593. 32 Walafridus Strabo, De exordiis et incrementis rerum ecclesiasticarum (= De rebus ecclesiasticis ), cap. 7, in: Margarinus [Marguerin] de La Bigne, Magna bibliotheca veterum patrum, et antiquorum scriptorum ecclesiasticorum […], 14 Bde., Köln: Anton Hierat, 1618-1622, hier Bd. 9, Tl. 1, S. 950-966. Ussher besaß mindestens einige von diesen Bänden. 33 Joseph Justus Scaliger, Isagogicorum chronologiæ canonum libri tres , [Heidelberg: ] Hieronymus Commelin, 1622. 34 Auf S. 77 zitiert Ussher die Stelle in Augustins Epistola 178, an der dieser eine ‚barbarische‘ Sprache erwähnt: Si enim licet dicere non solùm Barbaris linguâ suâ, sed etiam Romanis, Sihora armen, quod interpretatur, Domine miserere […] (‚Denn wenn nicht nur die Barbaren in ihrer Sprache, sondern auch die Römer Sihora armen sagen dürfen, was mit Domine miserere übersetzt wird […]‘). Er identifiziert sie dann in einer Fußnote: „Gothicam linguam Roma capta didicit“ (‚Nach ihrer Eroberung lernte Rom Gotisch‘). 35 Er stellt ja ein genaues Datum für fast alle angeführten Gelehrten, Kleriker und Würdenträger fest. 36 Wie Anm. 33. <?page no="81"?> 80 Timothy R. Jackson Gothi temporibus Valentis Aug. Wulfilâ Episcopo Authore, Christiani quidem facti sunt, sed Ariani: atque adeò etiamnum in iisdem regionibus degunt sub Præcopensi Tartarorum Dynastâ; & utrumque Testamentum iisdem literis, quas excogitavit Wulfila, conscriptum, & eâdem linguâ, quâ tempore Ovidii utebantur, interpretatum legunt. ‚Zur Zeit des Valens Augustus sind die Goten durch den Bischof Wulfila zwar zu Christen gemacht worden, doch zu Arianern, und sie leben sogar immer noch in dem gleichen Gebiet unter der Präcopensischen Dynastie der Tartaren [sc. der Krimgoten]; und sie lesen beide Testamente, in den gleichen Buchstaben geschrieben, die Wulfila ausgedacht hat, und in die gleiche Sprache übersetzt, die sie in der Zeit des Ovid benutzten.‘ Auf S. 62 bringt Ussher den ersten und auf S. 116 beide im Junius-Brief zitierten Sätze Strabos, die die Auswirkungen der gothischen Übersetzungsarbeit feststellen und mit diesen Worten schließen ( HD 116): […] apud quasdam Scytharum gentes, maximè Tomitanos, eâdem locutione divina hactenus celebrari officia . ‚dass heute noch unter gewissen Skythenstämmen, insbesondere den Tomitani, die heiligen Offizien in der gleichen Sprache zelebriert werden.‘ Im 8. Kapitel der Historia dogmatica (mit dem Titel „Praxis Ecclesiæ“) nimmt Ussher die Frage der translatio[.] in usum Gothorum und somit den Inhalt des Junius-Briefes wieder auf ( HD 212-214). Laut Bonaventura Vulcanius’ „Praefatio“ des Commentarium de literis & linguâ Getarum soll Wulfilas mit gotischen Buchstaben geschriebene Handschrift (sc. der Codex Argenteus ) in irgendeiner deutschen Bibliothek („aliqua Germaniæ Bibliothecâ“) verborgen liegen ( HD 212). Was die ‚andere‘ (des Grafen von Neuenaar) gotische Handschrift angeht, so machen die Worte des Philippus Marnixius deutlich, die Lubbert im De principiis anführt und die hier von Ussher ausführlicher als im Brief zitiert werden, dass zwischen den älteren germanischen Sprachen vielerorts noch unscharf unterschieden wurde: So spricht er von einem „liber vetustissimus […] continens universum Novum Testamentum linguâ antiquâ Frisonum“ (‚ein sehr altes Buch, das das ganze Neue Testament in der alten Sprache der Friesen enthält‘); und aus diesem Buch habe er (Marnixius) einen Text kopiert, und zwar ( HD 213): Orationem Dominicam Frisico vel Saxonico antiquo charactere, qui non multum à Muscovitico charactere differre, & ad Græcum accedere, videtur. Ejus initium est: Atta unsar thu in himina; waikmi namo thien. &c . ‚das Vaterunser in alter friesischer oder sächsischer Buchstabierung, die sich nicht viel von der Muscovitischen Buchstabierung zu unterscheiden und der Griechischen nahezustehen scheint. Sein Anfang lautet: Atta unsar thu in himina; waikmi namo thien. &c .‘ IV. Alt- und mittelhochdeutsche Zeit Zum Thema Karl der Große bringt Ussher mehrere Zeugen, unter ihnen Einhard, Johannes Stumpfius und Franciscus Junius den Älteren (Vater des oben Genannten), die verschiedene Errungenschaften Karls konstatieren: z. B. habe er als erster die deutsche Sprache mit lateinischen Buchstaben geschrieben ( HD 110); er habe Latein gelernt, so dass er sowohl in <?page no="82"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 81 dieser Sprache als auch in seiner patria lingua beten konnte ( HD 110); er sei nicht nur selber fleißig im Studium der Heiligen Schrift gewesen, sondern habe auch dafür gesorgt, dass diese in die Volkssprachen übersetzt wurde, damit das Volk verstehen könnte ( HD 111); mit Hinblick auf die liturgische Praxis habe er im Jahr 813 auf der Synode von Tours verordnet, dass Homilien „in rusticam Romanam linguam aut Theotiscam“ (‚in die romanische oder die deutsche Sprache‘) übersetzt werden sollten, damit alle leichter verstehen könnten, was gesagt wurde ( HD 99). Außerdem solle sich sein Sohn Ludwig der Fromme nicht weniger für Studium und Übersetzung eingesetzt haben ( HD 111). Unter den Gelehrten der althochdeutschen Zeit, die ebenfalls - so soll der Leser der Historia dogmatica die Dinge verstehen - die Aufklärung des Laientums durch die Verwendung der deutschen Volkssprache gefördert haben, führt Ussher Notker Labeo von Sankt Gallen an, und zwar zum Jahr 980. Melchior Haiminsfeldius (auch Goldast genannt) zufolge habe der Mönch Ekkehardus Junior (Ekkehard IV . von St. Gallen) in seinem Liber benedictionum Notker als den Autor von Übersetzungen der Psalmen sowie des Buches Hiob identifiziert; letztere sei aber verschollen, was auch stimmt ( HD 126). 37 Das ist, so Ussher, die gleiche Psalmenübersetzung, die von Stumpfius in seinem Chronicon helveticum als „in linguam Francicam rudem adhuc & inconditam convertisse“ (‚in ein noch raues und unordentliches Fränkisch übertragen‘) beschrieben wird ( HD 127), und Goldast meint, die Psalterübersetzung, die Ekkehardus beschrieben und die einer Kaiserin gehört habe, selber zu besitzen ( HD 130): 38 Imperatricis descripsit Psalterium in linguam Barbaricam, i. e. Germanicam, à Notkero Labeone Physico traductum, in privatos nimirum Imperatricis usus. Quod Opus nunc in nostrâ manu est. ‚[Ekkehardus] hat den von Notker Labeo dem Naturphilosophen in eine barbarische Sprache, d. h. die deutsche, übersetzten Psalter einer Kaiserin beschrieben, der ohne Zweifel zu deren Privatgebrauch diente. Welches Werk nunmehr in unserer Hand liegt.‘ Nach Ussher geht es dabei wohl um die (von ihm aufs Jahr 1020 datierte) Kaiserin Kunigunde, die, als sie die Reichsinsignien abgelegt habe, einer vita monastica gefolgt sei. Zu Stumpf sowie zu Joachim von Watt (Vadianus genannt), der einen Psalter „à Notkero Monacho, quem ob linguæ tarditatem Balbulum cognominârunt, in nostram ( i. e. Germanicam ) linguam translatum“ erwähnt habe, 39 bemerkt Ussher, dass beide den Stammler und Notker Labeo verwechselt haben ( HD 127). 40 Im Fall Otfrids von Weißenburg geht Ussher allerdings weniger historisch-kritisch vor. Im Abschnitt „890. Waldo Episcopus Frisingensis“ schreibt er ( HD 124 f.): 41 37 Melchior Haiminsfeldius (Goldast), Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti , 3 Bde. in 1, Frankfurt a. M.: Ex Officina Wolfgangi Richteri, curante Johanne Theobaldo Schönwettero & Conrado Meulio, 1606, hier Bd. 3, S. 199. 38 Ebd., S. 3 f. 39 ‚in unsere Sprache (d. h. die deutsche [J. U.]) von Notker dem Mönch übersetzt, dem sie wegen seiner zögernden Rede den Spitznamen „Stammler“ gegeben haben.‘ 40 Ussher verweist auf „Joach. Vadianus lib. 2 de Collegiis & Monasteriis Germaniæ veteribus “; dieser Text war ihm wohl in Goldasts Alamannicarum rerum (wie Anm. 37), Bd. 3, S. 1-111, zugänglich. 41 Rerum Germanicarum libri tres , Basel: Hieronymus Froben und Nikolaus Episcopius, 1551, S. 112. Die Anmerkungen 1-4 im Zitat stammen von Ussher. Die vier althochdeutschen Verse sind in einer englischen ‚black letter‘-Schrift gedruckt worden. <?page no="83"?> 82 Timothy R. Jackson Beatus Rhenanus 1 scribit se Frisingæ in Bibliothecà Divi Corbiniani librum insignem Evangeliorum Francicè, h.e. Germanicè versum inspexisse compositum jussu Waldonis Episcopi scriptum à Sigefrido Presbytero ante sexcentos fermè annos (ut ille inquit) quando Franci Orientales primùm 2 Christo dedere nomen . Titulus libri erat, Liber Evangeliorum in Theodiscam linguam versus ; eratque rythmicè conscriptus. Incipit autem Author in præfatione hoc modo. Nu wil ich schreiban unser heil, Evangeliono deyl: So wir nu hiar bigunnon In Frenckisga zungun. Versus hos scriptos esse primo tempore ut Franci Christo nomen dedere, colligit non levibus conjecturis Beatus Rhenanus (ait Bibliander 3 ) Gretserus 4 autem spiritu Jesuitico Beatum Rhenanum reprehendit, quòd hàc notà veteres illos Germanos seu Francos laudaret, novosque perstringeret. Perpetua laus Francorum veterum est, qui sacros libros in suam, h.e. Germanicam linguam vertendos curârint: quod nuper à Theologis quibusdam improbatum scimus. 1 Rerum Germ. lib. 2. tit. Franci Germ. usi linguâ. 2 Munster. Cosmograph. p. 644. 3 De communi ratione omnium linguarum. p. 49. 4 Defens. Bellarm. p. 840, & 1065. ‚Beatus Rhenanus schreibt, er habe sich in der Bibliothek des göttlichen Corbinian zu Freising das bemerkenswerte, ins Fränkische, d. h. ins Deutsche, übertragene Evangelienbuch angesehen, welches vor etwa 600 Jahren (wie er sagt), als die Ost franken sich erst taufen ließen , auf Gebot des Bischofs Waldo zusammengestellt und von einem Priester namens Sigefridus kopiert worden sei. Der Titel des Buches war Buch der Evangelien in die deutsche Sprache übertragen und es war in Reimversen geschrieben. Also fängt der Autor in seinem Vorwort auf diese Weise an: Nu wil ich schreiban […] . Dass diese Verse geschrieben wurden, als die Franken sich erst taufen ließen, schlussfolgert Beatus Rhenanus aus schwerwiegenden Beweisgründen (sagt Bibliander). Gretser 42 aber rügt Beatus Rhenanus im Geist der Jesuiten, weil dieser mit seiner Bemerkung die alten Deutschen oder Franken lobte und die neuen tadelte: Ewiges Lob verdienen die alten Franken, die sich um die Übertragung der Heiligen Schrift in ihre, d. h. die deutsche, Sprache gekümmert haben werden, was bekanntlich in letzter Zeit von gewissen Theologen missbilligt wurde .‘ Ussher hat sich hier zu sehr auf Beatus Rhenanus verlassen; so übernimmt er mit Sigefridus für Sigihardus dessen Verschreibung des Schreibernamens. Und weil Beatus Otfrid nicht nennt (anscheinend hat er den Zusammenhang zwischen Werk und Autor einfach nicht erkannt, obwohl „dessen Name ihm aus den Schriftstellerkatalogen des [ Johannes] Trithemius geläufig gewesen sein kann“), 43 erwähnt ihn Ussher ebenfalls nicht. Allerdings scheint dieser mit den Redewendungen „ut ille inquit“ und „ait Bibliander“ 44 zumindest eine 42 Jacobus Gretser, Controuersiarum Roberti Bellarmini […] defensio […] Adversus Witackerum, Iunium [et al.] , 2 Bde., Ingolstadt: Adam Sartorius, 1606-1609, hier Bd. 1, Sp. 840 - siehe unten. 43 Norbert Kössinger, Otfrids Evangelienbuch in der frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie , Tübingen 2009, S. 35. 44 Theodorus Bibliander, De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius , Zürich: Christoph Froschauer, 1548. <?page no="84"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 83 gewisse Skepsis gegenüber der Rückdatierung des Textes auf die Zeit der Christianisierung der Franken mit der Taufe Chlodwigs um 499 / 500 zu äußern. 45 Außer gelegentlichen Änderungen in der Wortstellung und im jeweiligen grammatischen Fall zitiert Ussher Beatus genau. In den vier Versen aus Otfrids Text weicht er aber viermals orthographisch von Beatus ab, und die ‚black letter‘-Schrift geht nicht etwa auf Verwendung von Fraktur oder Textura bei Beatus zurück. Die Otfrid-Ausgabe, von Achilles Pirminius Gasser ediert und von Matthias Flacius Illyricus herausgegeben, ist wiederum anders ( Evangeliorum liber in pseudo-rhythmis Theotiscis , Basel: [Heinrich Petri] 1571). Ich komme auf dieses Zitat in meinen Schlussworten zurück. An dieser Stelle ist die etwas merkwürdige Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass Ussher Otfrid schon vier Seiten früher in der Historia dogmatica , und zwar unter dem Jahr 870, explizit behandelt hat. Die Informationen, die er an dieser Stelle bringt, hat er aus verschiedenen Quellen geschöpft, z. B. aus der sehr kurzen Beschreibung des Evangelienbuches im Chronicon Hirsaugiense des Johannes Trithemius - wobei er nicht zu bemerken scheint, dass es auch hier um den Freisinger Codex geht ( HD 120): 46 Scripsit [Otfridus monachus Wissenburgensis] ad Luidbertum Moguntinum Archiepiscopum quatuor libros Evangeliorum metricè in linguâ Teutonicâ quibusdam regulis formatâ: [vt paucissimi hodie reperiantur, qui eius scripta intelligant.] ‚Er widmete Liutbert Erzbischof von Mainz die vier Bücher der Evangelien, die er in Versen und in der deutschen Sprache nach solchen Regeln gebildet hat, [dass heute sehr wenige gefunden werden, die seine Schriften verstehen.]‘ Dann weist Ussher auf eine Stelle in der Widmung an Liutbert hin, die er aus dem Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius zitiert, Worte, in denen Otfrid den Nutzen der Übersetzung erläutert ( HD 121): Scripsi eorum precum suffultus juvamine Evangeliorum partem Francicè compositam, interdum spiritualia moraliaque verba permiscens, ut qui in illis alienæ linguæ difficultatem horrescit, hic propriâ linguâ cognoscat sanctissima verba . ‚Unterstützt durch die Hilfe ihrer Gebete [sc. der fratres und der matrona Judith, die ihn angespornt haben] habe ich einen Teil der Evangelien auf Deutsch und in poetischer Form geschrieben, mit gelegentlicher Beimischung geistlicher und moralischer Worte, damit derjenige, der vor ihnen zittert, wenn sie in eine schwierige Fremdsprache gefasst sind, hier in der eigenen die heiligsten Worte erkennen kann.‘ Und schließlich bringt Ussher den deutschsprachigen Untertitel der Otfrid-Ausgabe vom Jahr 1571, auch hier bei Verwendung einer ‚black letter‘-Schrift, allerdings in fehlerhafter Form: [Heinrich Petri] Evangelieu Buch in alt Frenckischen Reimen durch Otfridum von 45 Ebd., S. 35 f. 46 Trithemius, Chronicon Hirsaugiense , in: Johannes Trithemii Opera historica , hg. von Marquart Freher, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Typis Wechelianis apud Claudium Marnium & heredes Ioannis Aubrij, 1601, S. 1-235, hier S. 15 f. Ussher lässt dem Zitat Otfrids Namen fehlen, da er ohnehin in seiner Abschnittüberschrift steht; und Trithemius hat eigentlich Lintbertum . Die in eckigen Klammern stehenden Schlussworte, die Ussher nicht zitiert, machen deutlich, dass Trithemius nicht etwa an poetische Regeln, sondern an die linguistischen Regeln des schwer zu verstehenden Althochdeutschen denkt. Auch Bibliander weist auf den Unterschied zwischen dem althochdeutschen und dem zeitgenössischen Sprachgebrauch hin: ab usitata hodie loquendi consuetudine (wie Anm. 44, S. 49). <?page no="85"?> 84 Timothy R. Jackson Weiſtuberg Munchu S. Gallen, vor sieben hundert Jarn beschrieben, jekt aber in den Truck verfertigt “ ( HD 121). Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass Ussher nicht erkannt hat, dass der Codex, von dem Beatus Rhenanus schreibt ( HD 124), und der von Trithemius beschriebene ( HD 120) ein und derselbe sind, nämlich der uns als Hs. F, cgm 14, bekannte. Schließlich war Ussher aber kein Altgermanist, sondern Theologe. 47 Es seien noch einige Hinweise zu Usshers sonstiger Kenntnis mittelalterlicher deutscher Texte gegeben: Er erwähnt, dass u. a. Haimo von Halberstadt ( HD 114) und Walafrid Strabo ( HD 116) das bedeutende 14. Kapitel des ersten Korintherbriefes erläutert haben, z. B. den zweiten Vers: Qui enim loquitur lingua, non hominibus loquitur, sed Deo , dessen Sinn öfters so verstanden wurde: ‚Wer in einer fremden Sprache redet, redet nicht mit den Menschen, sondern mit Gott‘. Auch auf Hrabanus Maurus ( HD 114 f.) und Boso von Merseburg ( HD 126) wird verwiesen. Aus der mittelhochdeutschen Zeit erwähnt Ussher sehr kurz unter dem Jahr 1070 Willirams von Ebersberg Paraphrase des Hohen Liedes ( HD 134) 48 und dann, unter dem Jahr 1250, „Conradus IV . Imperator & Rudolphus ab Ems“ ( HD 152): 49 Vetus Instrumentum rogatu & jussu Conradi regis, filii Frederici II . Cæsaris Augusti, versibus Germanicis redditum est à Rodolpho quodam oriundo ex familiâ, quæ nomen habet ab eminente arce in Rhetiâ, quam vulgus nominat Hohen Ems. ‚Auf Bitte und Gebot des Königs Konrad, Sohn Friedrichs II . Cæsar Augustus, wurde das Alte Testament in deutschen Versen von einem Rudolf wiedergegeben, aus einer Familie entstanden, die den Namen einer hervorragenden Burg in Rhätien trägt, die im Volksmund Hohen Ems heißt.‘ Ussher zitiert ferner Goldasts Beurteilung, Rudolfs Weltchronik sei eine „elegantissima“ Paraphrase, sowie dessen Verweis auf Konrads von Helmsdorf deutsche Übersetzung der „collatio Novi Testamenti cum veteri Historiâ“ (sc. Speculum humanæ salvationis ): Der Spiegel des menschlichen Heils . 50 Ergänzt sei, dass Ussher auch andere, nicht-deutsche Quellen verwertet hat - z. B. angelsächsische (etwa einen Psalter mit Interlinearübersetzung), jüngere englische (Chaucer und Wycliffe), französische (vor allem Petrus Waldus), spanische (etwa Alfonsus, König von Kastilien) und slavische (vor allem Johannes Hus, aber auch Johannes Dubravius, Bischof von Olmütz). Auf diese kann hier jedoch nicht näher eingegangen werden. V. Der religionspolitische Kontext der Historia dogmatica Die oben zitierte Bemerkung Augustins, die Römer hätten unterworfenen Völkern das Joch der lateinischen Sprache auferlegen wollen, entspricht weitgehend den Zielen der englischen Irland-Politik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Pazifizierung und Anglisie- 47 Wharton aber bringt auf S. 369 f. der HD Korrekturen: Otfrid war nicht Munchu S. Gallen ; die Waldo zugeschriebene Version „non alia est, quam Otfridi“. 48 Ussher weist auf die neulich erschienene Ausgabe („nuper in lucem produxit“) des Paulus Merula hin: Willerami Abbatis in Canticum Canticorum paraphrasis gemina: prior rhythmis Latinis, altera veteri lingua francica , Leiden: Ex officina Plantiniana, Apud Christophorum Raphelengium, 1598, sowie auf Melchior Haiminsfeldus, Paræneticorum veterum Pars I , Lindau: Johann Ludwig Brem, 1604. 49 Vgl. Rudolf von Ems, Weltchronik , hg. von Gustav Ehrismann, Berlin 1915 (DTM 20), V. 21 663-21 667: Das ist der kúnig Chůnrat, / des keisirs kint, der mir hat / geboten und des bete mich / gerůchte biten des das ich / durh in dú mere tihte […] . 50 Zu Rudolf verweist er auf Bibliander (wie Anm. 44), S. 49, sowie auf Goldast (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 198, 393. <?page no="86"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 85 rung. Nur in der Stadt Dublin und ihrer Umgebung stand die Reformation auf einigermaßen festem Boden. Und es gab zwei Modelle, nach denen sie landesweit durchgesetzt werden sollte - wobei wir nicht vergessen dürfen, dass die Reformation in England in ihrem Ursprung nicht theologischer, sondern politischer, dynastischer Natur war. Nach dem ersten Modell sollten Staat und Kirche der irischen Bevölkerung den religiösen Konformismus aufzwingen. Nach dem zweiten sollte nicht durch Angst und Zwang Gehorsam erzielt, sondern durch Unterricht und Predigt Überzeugung erreicht werden. Gegenüber der Sprache bestand eine ähnliche Ambivalenz. Politisch gesehen, sollte die wilde, barbarische irische Sprache im Prozess der Anglisierung ausgemerzt werden; Heinrich VIII . wollte, dass die Iren an Sprache, Manieren und Kleidung ‚civil people‘ würden. Aus religiös-pragmatischer Perspektive aber mussten Ussher und seinesgleichen, wenn sie vorwärtskommen sollten, nicht nur der Gegenreformation widerstehen, sondern auch mit einer Bevölkerung ringen, für die nicht das Englische, sondern das Irische die Volkssprache war. Das müsste die Antwort auf die Frage geben, die Ussher in der Historia dogmatica so formuliert: „Hominem verò linguâ peregrinâ populo concionantem quis putet sobrium? “ ( HD 111 - ‚Wer hält doch für klug den Mann, der das Volk in einer Fremdsprache anredet? ‘). Trotzdem gibt es keine eindeutige Antwort auf eine andere Frage: An welche Volkssprache dachte Ussher im irischen Kontext? Mit der Gründung der Universität Dublin hoffte man u. a., protestantische Männer auszubilden, die imstande sein würden, ihre Landsleute auf Irisch zu unterrichten und ihnen auf Irisch eine Predigt zu halten. Ab den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts gab es verschiedene Projekte für die erweiterte Verwendung des Irischen im kirchlichen Leben mittels der Übersetzung der Bibel sowie der anglikanischen Liturgie und des Katechismus. Trinity College hat sich später an diesen beteiligt, z.B mit der Unterstützung des Engländers William Bedell (ab 1627 Provost, d. h. Rektor, des College), der selber Irisch lernte, eine Übersetzung des Alten Testaments unternahm und vorschrieb, dass die Studenten die Heilige Schrift auf Irisch lesen sollten. 51 Ussher betrachtete sich eindeutig als Iren: Mit dem Historiker James Ware sprach er von seinem Heimatland als „Hibernia nostra“. 52 Aus der Perspektive des Historikers, Theologen und Polemikers ging es ihm darum, die alten Iren gegen boshafte Kritiker wie Giraldus Cambrensis (im Mittelalter) oder Thomas Dempster (im frühen 17. Jahrhundert) zu verteidigen und zu beweisen, dass Irland erst durch den zunehmenden Einfluss Roms nach dem Jahr 1000 verdorben wurde. 53 In einem Brief an Lodewijk de Dieu hat Ussher die irische Sprache als elegant und opulent gelobt, 54 und nach einer Erzählung Richard Parrs war er erst dann bereit, einen Mann zu ordinieren, als dieser adäquate Irischkenntnisse vorzeigen konnte. Man hat dies als Beweis dafür gesehen, dass er das Irische nicht nur als einen uralten Kulturgegenstand betrachtet hat, sondern selber diese Sprache zumindest einigermaßen beherrscht hat. 55 Wie dem auch sei: In der Historia dogmatica plädiert er nicht explizit für die Verwendung des Irischen in der kirchlichen Praxis. 51 Ford (wie Anm. 4), S. 140 f.; vgl. auch S. 44 zu Lord Mountjoy. 52 Ford (wie Anm. 3), S. 216. 53 Ford (wie Anm. 4), S. 221. 54 Brief Nr. 208, Works (wie Anm. 7), Bd. 16, S. 24 f. 55 Bernadette Cunningham und Raymond Gillespie, „James Ussher and his Irish manuscripts“, in: Studia Hibernica 33 (2004-2005), S. 81-99, hier S. 96. <?page no="87"?> 86 Timothy R. Jackson VI. Schluss Um ein Fazit zu formulieren, kehre ich zu Usshers Abschnitt über Waldo von Freising zurück. In diesem langen Zitat verfährt er wie sonst in seinem Buch nach einem additiven Prinzip. Das, wenn auch verkannte, Evangelienbuch Germanicè versum ist nur ein Beleg unter Hunderten von aneinandergereihten Belegen für die Verwendung der Volkssprache in der vorreformatorischen Kirche: hier in der Übersetzung der Heiligen Schrift, anderswo in Liturgie, Predigt, privatem Lesen und privatem Gebet. Üblich ist auch das, freilich etwas elliptische, Verweisen auf Quellen für diese Belege: Hier sind es die Res Germanicæ des Beatus Rhenanus, Münsters Cosmographia , Biblianders De ratione communi und die Defensio Bellarmini des Jacob Gretser, die seine Belesenheit demonstrieren. Eher ungewöhnlich ist hier der argumentative Ton. Der implizite ideologisch-theologische Zweck des Buches ist freilich nirgends zu verkennen, aber die Verwendung von expliziter Polemik zur Unterstützung seiner These wie hier kommt in der Historia dogmatica sonst relativ selten vor. Im Passus bei Gretser, auf den Ussher hier hinweist, behauptet jener erstens: „Nec continebat liber iste versionem Euangeliorum in Germanicam linguam, sed paraphrasin Poëticam seu rhythmicam, quæ liberior esse solet, quàm translatio“ (‚Dieses Buch enthielt nicht eine Übertragung der Evangelien ins Deutsche, sondern eine poetische oder reimende Paraphrase, die freier zu sein pflegt als eine Übersetzung‘); zweitens seien geistliche Texte in der alten Zeit nicht öffentlich vorgelesen worden; drittens hätten sich die alten Franken wie die (neuen) Theologen über die zeitgenössische Liederlichkeit und Frivolität aufgeregt - wobei Gretser wohl an Auswirkungen des Protestantismus dachte. Während Gretser Kardinal Bellarmini verteidigt, sollen Usshers Vorlesungen als Professor of Theological Controversies hauptsächlich aus Bemühungen bestanden haben, die Kritik des Bellarmini am Protestantismus zu widerlegen. Kein Wunder vielleicht, dass er hier ‚Jesuit‘ als Allzweckschimpfwort verwendet. Allerdings wissen wir, dass Ussher auch mit katholischen Gelehrten, die er in der Öffentlichkeit als Gegner behandeln musste, im Interesse der Wissenschaft privat gut zusammengearbeitet hat. In Frage kommt besonders die schon erwähnte Gruppe von Franziskanern, die an den alten irischen historischen Quellen arbeiteten. Zur Frage der Behandlung des Erasmus durch die katholischen Behörden zitiert Ussher eine Stelle aus der ‚Præfatio ad Lectorem‘ seiner Matthäus-Paraphrase ( HD 176): Cur indecorum videtur, si quisquam sonet Evangelium eâ linguâ, quâ natus est, & quam intelligit: Gallus Gallicâ, Britannus Britannicâ, Germanus Germanicâ, Indus Indicâ? ‚Warum wird das als ungeziemend betrachtet, wenn jemand das Evangelium in der Sprache spricht, mit der er geboren ist, und die er versteht: der Franzose auf Französisch, der Brite auf Englisch, der Deutsche auf Deutsch, der Inder auf Indisch? ‘ Dazu bemerkt Ussher ( HD 177): Nec hunc locum attingunt Lovanienses; sed Inquisitores Hispani totam Præfationem deleri jubent. ‚Die Leuvener rühren diese Stelle auch nicht an; die spanischen Inquisitoren aber befehlen, dass die ganze Præfatio getilgt werde.‘ Geht es hier lediglich um die Konstatierung eines objektiv faktischen Kontrasts, oder denkt Ussher vielleicht bei den „Lovanienses“ an seine franziskanischen Mitarbeiter, und ist das <?page no="88"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 87 nicht vielleicht als Lob für zeitgenössische Katholiken zu verstehen, die nach Usshers Meinung der Volkssprache nicht so feindlich gegenüberstanden wie andere? Um zum Schluss noch einmal auf das Thema des Bandes zurückzukommen: Eine interkonfessionelle Zusammenarbeit, die sogar den Jesuiten Stephen White einschloss, war möglich als Teil eines gelehrten Freundschaftskreises, der in erster Linie ein Bildungskreis war. Das gemeinsame Interesse an der Volkssprache wird der Schlüssel dazu, nicht nur sprachliche, sondern auch religiöse Toleranz auszuüben. <?page no="90"?> James Ussher und altdeutsche Literatur im Dienst der Reformation 89 Bildung und Textaneignung <?page no="92"?> Die Altalemannischen Psalmenfragmente 91 Die Altalemannischen Psalmenfragmente Zur Struktur, Interpunktion und Pragmatik einer althochdeutschen Interlinearversion Alderik H. Blom I. Einleitung Interlinearversionen sind meist das Ergebnis einer Unterrichtssituation. Das gilt auf jeden Fall für die Altalemannischen Psalmenfragmente , die mit dem Psalter das mittelalterliche Unterrichtsbuch per se zum Gegenstand haben. Der weitere Horizont ist das europäische Phänomen der Erschließung dieses Grundlagentextes: Von Irland bis Böhmen findet sich eine Vielzahl von Typen volkssprachiger Glossierung des lateinischen Psalters vom 8. bis zum späten 11. Jahrhundert. Wie die Schnittstelle von lateinischem Basistext und keltischer und germanischer Volkssprache gestaltet wird, bietet die Möglichkeit, vergleichend den schriftlichen Gebrauch von Altirisch, Altenglisch, Altsächsisch, Altfriesisch und Althochdeutsch zu untersuchen. 1 Für diesen Aufsatz wird spezifisch eine frühmittelalterliche Interlinearversion in den Blick genommen und als Teil einer karolingischen Wissensvermittlung interpretiert. Interlinearversionen werden dabei mit Lothar Voetz als „vollständige Wortfür-Wort-Übertragungen, genauer: Form-für-Form-Übertragungen in eine andere Sprache oder Sprachstufe“ gelesen, die „einem gegebenen Basistext interlinear klar zugeordnet sind“. 2 Im Folgenden sollen die verschiedenen strukturellen Aspekte (Abschnitt II ) sowie der pragmatische Zweck (Abschnitt III ) der Altalemannischen Psalmenfragmente besprochen werden. Die Fragmente sind lediglich in zwei Bruchstücken erhalten geblieben, zum einen als Doppelblatt in der Studienbibliothek Dillingen als Hs. XV, Fragment 3, und zum anderen in zwei Einzelblättern in der Bayerischen Staatsbibliothek München, Hs. Cgm 5248 / 1. 3 Die 1 Großer Dank gilt Ulrike Michalczik für ihr gründliches Lesen dieses Aufsatzes sowie für die sprachlichen Korrekturen. Alderik H. Blom, Glossing the Psalms: The Emergence of the Written Vernaculars in Western Europe from the Seventh to the Twelfth Centuries , Berlin / Boston 2017, besonders S. 131-242 zu den westgermanischen Interlinearversionen des Psalters. Für eine vollständige Diskussion der Altalemannischen Psalmenfragmente siehe S. 141-159. 2 Lothar Voetz, „Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversionen“, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch , hg. von Rolf Bergmann und Stefanie Stricker, 2 Bde., Berlin / New York 2009, Bd. 1, S. 887-926, hier S. 889. 3 Digitalisate: http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00005834-8 (Dillingen); http: / / opacplus. bsb-muenchen.de/ title/ BV023226708 (München) (Stand 12. 6. 2016). Edition: Lothar Voetz, „Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion“, in: Althochdeutsche und altsächsische Literatur , hg. von Rolf Bergmann, Berlin / Boston 2013, S. 384-395. Zu den paläographischen Aspekten der Fragmente siehe Elisabeth Wunderle, „Die sogenannten althochdeutschen Fragmente der Bayerischen Staatsbi- <?page no="93"?> 92 Alderik H. Blom ältere Forschung hat diese Fragmente zunächst auf das frühe 9. Jahrhundert datiert, durch Bernhard Bischoff wurde diese Datierung aus paläographischen Gründen auf das zweite Drittel des 9. Jahrhunderts korrigiert. 4 Wie bekannt, wurden die Interlinearversionen von der älteren Forschung gerne als Übersetzungen oder Übersetzungsversuche eines lateinischen Textes gesehen, und Interlinearversionen im Allgemeinen als eine Art Zwischenstufe zwischen interlinearem Glossieren eines lateinischen Textes und „unabhängigen“ volkssprachigen Texten. 5 Diese Herangehensweise setzt aber voraus, dass die Zielsprache dieser Textgenres die Volkssprache gewesen ist. Jedoch hat sich dieser Ansatz in den letzten 20 Jahren durch Forscher wie Lothar Voetz, Ernst Hellgardt und Nikolaus Henkel grundlegend geändert. 6 Bahnbrechend war die Erkenntnis, dass „es […] nicht primäres Ziel der Glosse [ist], zu übersetzen, sondern zu erklären“. 7 Anstatt also die Interlinearversionen als Übersetzungsversuch zu werten - eine Deutung, welche die häufigen Lücken, die oft kaum verständlichen Abkürzungen sowie unklaren Getrenntschreibungen nicht erklärt - wurde nun evident, dass diese Interlinearversionen ein von Grund auf anderes Lesen erforderten: Es wird ein vertikal-lexikalisches Lesen anstelle eines horizontal-syntagmatischen vorausgesetzt. 8 Nicht so sehr sollten die bliothek München“, in: ZfdA 139 (2010), S. 197-221, hier S. 201; dies. Die mittelalterlichen Handschriften der Studienbibliothek Dillingen , Wiesbaden 2006, S. 424-426; Bernhard Bischoff, „Paläographische Fragen deutscher Denkmäler der Karolingerzeit“, in: FMSt 5 (1971), S. 101-134, hier S. 119; ders., Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigothischen) , Teil 1, Wiesbaden 1998, S. 218. 4 Zur älteren Forschung über Datierung und Provenienz siehe Elias von Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler , Berlin 1916, 3. Nachdruck, Dublin / Zürich 1971, S. 299; Georg Baesecke, Der deutsche Abrogans und die Herkunft des deutschen Schrifttums , Halle a. S. 1930, S. 10 f.; ders., „Unerledigte Fragen der althochdeutschen Textkritik und Literaturgeschichte“, in: PBB 69 (1947), S. 361-409, hier S. 398-409; Ursula Daab, „Zur Datierung der altalemannischen Psalmenübersetzung“, in: PBB 83 (1961-1962), S. 281-301 (besonders S. 284); dies., Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit , Tübingen 1963, S. 77-92. 5 Siehe z. B. Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur. Eine Einführung in das älteste Deutsch , Berlin / New York 1974, S. 100. Dieses ‚Stufenmodell‘ wurde angezweifelt von Christoph März, „Von der Interlinea zur Linea. Überlegungen zur Teleologie althochdeutschen Übersetzens“, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Colloquium 1994 , hg. von Joachim Heinzle, Berlin 1996 (Wolfram- Studien 14), S. 73-86. 6 Lothar Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen. Studien zu den Anfängen althochdeutscher Textglossierung , Göttingen 1985; Voetz (wie Anm. 1); Ernst Hellgardt, „Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich“, in: Mittelalterliche volkssprachige Glossen , hg. von Rolf Bergmann, Elvira Glaser und Claudine Moulin-Fankhänel, Heidelberg 2001 (Germanistische Bibliothek), S. 261-296. Siehe vor allem Nikolaus Henkel, „Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literaturhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe“, in: Übersetzen im Mittelalter (wie Anm. 6), S. 46-72 (besonders S. 65-68); ders., „Glossierung und Texterschließung. Zur Funktion lateinischer und volkssprachiger Glossen im Schulunterricht“, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 468-496. Eine ausgewogene Zusammenfassung der Diskussion geben Klaus Ridder und Jürgen Wolf, „Übersetzen im Althochdeutschen: Positionen und Perspektiven“, in: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters , hg. von Wolfgang Haubrichs u. a., Berlin / New York 2000 (Ergänzungsbände zum RGA 22), S. 414-447, hier S. 427-429. 7 Henkel, „Die althochdeutschen Interlinearversionen“ (wie Anm. 6), S. 53. 8 Zu den Abkürzungen siehe ebd., S. 62-65; Henkel, „Glossierung und Texterschließung“ (wie Anm. 6), S. 429-452. Des Weiteren Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 916 , hg. von Achim Masser, Göttingen 1997 (Studien zum Althochdeutschen 33), S. 27-34; Lothar Voetz, „Formen der Kürzungen in einigen alemannischen Denkmälern des achten und neunten Jahrhunderts“, in: Sprachwissenschaft 12 (1987), S. 166-179. Zur Getrenntschreibung siehe Henkel, „Die <?page no="94"?> Die Altalemannischen Psalmenfragmente 93 Glossierungen als Hilfsmittel zur Erschließung lateinischer Texte mittels Übersetzung dienen, sondern vielmehr als Hilfsmittel für das Verstehen des lateinischen Grundtextes hinsichtlich Morphologie, Syntax und Semantik. Anders formuliert: Nach dieser Herangehensweise bilden die einzelnen Teile der Interlinearversion keinen kohärenten Abschnitt auf einer horizontal-syntagmatischen Ebene, das heißt keinen selbstständigen Text in der Volkssprache, sondern sie sind jeweils vertikal mit ihrem entsprechenden Lemma verbunden. Demnach wäre die Zielsprache einer Interlinearversion an erster Stelle das Lateinische des Grundtextes selbst und nicht die Volkssprache. 9 Dazu schreibt Henkel, dass vom Standpunkt der sprachlichen sowie literarischen Pragmatik die Interlinearversionen nur den schriftlich fixierten Teil eines Aneignungsprozesses darstellen würden, der die mündliche Vermittlung umfasst haben sollte. Somit wären die althochdeutschen Interlinearversionen in den Kontext des (Schul-)Unterrichts des monastischen Bildungsbetriebs der Karolingerzeit einzuordnen. 10 Anhand von Beispielen, hauptsächlich aus der Althochdeutschen Benediktinerregel , zeigt Henkel, wie Spuren mündlicher Vermittlung sich neben dem und außerhalb des schriftlich Fixierten nachweisen lassen und hebt dort besonders jene syntaktischen Fügungen hervor, die keine formal korrespondierende Entsprechung im deutschen Sprachbau haben. 11 So deutet er die Ablativkonstruktionen ohne Präposition oder Präpositionalphrasen nicht als mehrgliedriges Syntagma (d. h. als eine Gruppe zusammenhängender sprachlicher Elemente), sondern nimmt an, dass jedes Wort einzeln in die Volkssprache übertragen wurde, wie in: Stultus uerbis non corregitur → vnfruater vvortum nist kerihtit . 12 Hier stehen ein lateinisches Lemma im Ablativ und ein althochdeutsches Interpretament im Dativ ( uerbis „mit Worten“, übertragen als vvortum , ein Dativ Plural ohne erklärende Präposition), fraglich bleibt aber, ob diese Konstruktion für das Althochdeutsche idiomatisch gewesen ist. Im Falle der Präpositionalphrasen handelt es sich meistens um Präpositionen, die im Lateinischen mit Akkusativ stehen, im Deutschen normalerweise mit Dativ, z. B. ad eu[m] → ze Inan und althochdeutschen Interlinearversionen“ (wie Anm. 6), S. 59 f.; Lothar Voetz, „Einige Betrachtungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung im Althochdeutschen“, in: Neue Perspektiven der Sprachgeschichte. Internationales Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 11 . und 12 . Februar 2005 , hg. von Ursula Goetz und Stephanie Stricker, Heidelberg 2006 (Germanistische Bibliothek 26), S. 51-64; Jürg Fleischer, „Palaeographic Clues to Prosody? - Accents, Word Separation, and Other Phenomena in Old High German Manuscripts“, in: Information Structure and Language Change. New Approaches to Word Order Variation in Germanic , hg. von Roland Hinterhölzl und Svetlana Petrova, Berlin 2009 (Trends in Linguistics. Studies and Monographs 203), S. 161-189. 9 Henkel, „Die althochdeutschen Interlinearversionen“ (wie Anm. 6), S. 72; ders., „Glossierung und Texterschließung“ (wie Anm. 5), S. 495; Voetz (wie Anm. 2), S. 920-925. 10 Für einen allgemeinen Überblick siehe Stefan Sonderegger, „Althochdeutsch auf der Reichenau. Neuere Forschungen zur ältesten Volkssprache im Inselkloster“, in: Die Abtei Reichenau. Neue Beiträge zur Geschichte und Kultur des Inselklosters , hg. von Helmut Maurer, Sigmaringen 1974 (Bodensee- Bibliothek 30), S. 69-82, hier S. 77-80; Wolfgang Haubrichs, „Das monastische Studienprogramm der ‚Statuta Murbacensia‘ und die altalemannischen Interlinearversionen“, in: Sprache - Literatur - Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. Wolfgang Kleiber zu seinem 60 . Geburtstag gewidmet , hg. von Albrecht Greule und Uwe Ruberg, Stuttgart 1989, S. 237-262, hier S. 243; ders., Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700 - 1050 / 60 ) , Tübingen 2 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1,1), S. 195-211. 11 Weiterführende Diskussion bei Henkel, „Die althochdeutschen Interlinearversionen“ (wie Anm. 6), S. 53-55 und 61 f. 12 Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel (wie Anm. 8), S. 109. <?page no="95"?> 94 Alderik H. Blom apud deum → mit cotan . 13 An diesen Stellen sollten die Interpretamente Henkel zufolge abermals keine Übersetzung der gesamten Präpositionalverbindung darstellen, sondern getrennte lexikalische Informationen geben (also Form-für-Form-Übertragungen). Dazu bestätigen diese Stellen auch, dass die Interlinearversion grundsätzlich durch eine ‚vertikale‘ Leserichtung mit dem lateinischen Text verknüpft ist und gerade nicht ‚horizontal‘ gelesen werden soll. An genau diesen Stellen böten die deutschen Interpretamente eher Informationen zu Kasus und Numerus des lateinischen Lemmas sowie zur Lexik, jedoch keine dem lateinischen Text angemessene und verständliche deutsche Wendung. Diese Stellen sind also nicht auf die Unfähigkeit des Bearbeiters, den sprachlichen Transfer angemessen zu leisten, zurückzuführen, sondern wollen vielmehr formale und lexikalische Informationen zur Erschließung des lateinischen Textes bieten. Die syntaktisch korrekte Erschließung, vor allem eine angemessene Übersetzung, ist laut Henkel meist nicht schriftlich fixiert und müsste demnach mündlich geleistet worden sein. II. Die Struktur der Altalemannischen Psalmenfragmente Nachfolgend werden die Fragmente deutlicher in den Kontext der aktuellen Forschung gestellt. Dabei wird die Frage berücksichtigt, inwieweit in den Fragmenten sowohl eine bestimmte vertikal orientierte Struktur als auch die von Henkel, Hellgardt und Voetz hervorgehobenen sprachlichen Merkmale nachweisbar sind. Tatsächlich weisen die Fragmente eine genaue Wort-für-Wort-Übertragung auf, welche genau zu der benutzten Version des lateinischen Psalmtextes ( Gallicanum ) zu passen scheint. Die volkssprachige Glosse in den erhaltenen Fragmenten ist bis auf zwei Ausnahmen vollständig, was bedeutet, dass kein lateinisches Wort ohne eine Interpretation stehen gelassen wird. 14 Im Gegensatz zu früheren althochdeutschen Interlinearversionen wie der St. Galler Interlinearversion zu Joh 19,38, der St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51, der Althochdeutschen Benediktinerregel und den Murbacher Hymnen , geben die Fragmente sogar Eigennamen mit einer althochdeutschen Interpretation wieder. 15 Dennoch ist die lateinische Wortfolge lückenlos Form-für-Form beibehalten worden, auch an Stellen, wo dies zu Unregelmäßigkeiten der Syntax führt, wie in Ps 108,2: [m]e apertum est → [m]ih intlohhan ist . Ein gutes Beispiel gibt das Dillinger Doppelblatt fol. 1r (Ps 107,7-10; zu den hier verwendeten Interpunktionszeichen siehe Abschnitt III ): 13 Steinmeyer (wie Anm. 4), S. 191 und 220. 14 Eine Ausnahme bildet Ps 124,5: cum (in der Phrase cum operantibus ) wurde nicht in die Interpretation aufgenommen, sondern nur [operanti]bus → uuurchan[tem] . In Ps 129,3 scheint das Althochdeutsche imo unnötig zu sein, um das Lateinische domine qui sustinebit → truhtin uuer kestat i[mo] wiederzugeben. 15 Voetz (wie Anm. 2), S. 391. <?page no="96"?> Die Altalemannischen Psalmenfragmente 95 <S>aluum fac dextera tua et ex[ d s locutus est in s cto suo · [ <E>xultabo et diuidam sicimam · [ tabernaculorum dimetiar . ~ [ <M>eus est galaad · et meus est man[ sus ceptio cap[ <I>uda rex meus .~ moab lebes spe[ Die einzige Ausnahme zu dieser Regel bilden die lateinischen Substantive im Genitiv, die im Althochdeutschen fast immer mit Artikel (nämlich des ) wiedergegeben werden, z. B. susceptio cap[itis → antfanc d e s ho[ und moab lebes spe[i] → moab uueref d e [ . 16 Lateinische morphologische Tempora wie das Futur sind wie im Lateinischen mit einer Einzelform übertragen, meistens einer Form des Indikativ Präsens, z. B. exultabo (Fut.) → froon (Ind. Präs.). 17 Die Modi sind allerdings nicht konsequent übertragen worden, da der Konjunktiv Präsens sowohl durch Indikativ Präsens als auch durch Konjunktiv Präsens wiedergegeben wird, wie die Formen dimetiar (Konj. Präs.) → mizzu (Ind. Präs., statt Konjunktivform) und speret (Konj. Präs.) → uânnê (Konj. Präs., statt Indikativform) zeigen. Präpositionen werden nur dann im Althochdeutschen verwendet, wenn sie auch im lateinischen Basistext vorkommen. Ähnlich verhält es sich mit den Stellen, an welchen das Lateinische keine Form des Verbs sein benutzt: Das Althochdeutsche nimmt dann ebenso wenig eine Form des Verbs sein auf, z. B. <I>uda rex meus → iudas chuninc miner und 16 Die Interpretation eines einzelnen lateinischen Substantivs durch eine volkssprachige Wortgruppe mit Artikel ist an anderer Stelle belegt, zum Beispiel in München, Bayerische Staatsbibliothek, Hs. Clm 6300, siehe Elvira Glaser, „Formales Verhältnis von Lemma und Interpretament: Formenkongruenz und funktionale Adäquatheit“, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 372-386 (hier S. 377). Zur weiterführenden Diskussion siehe dies., „Der bestimmte Artikel in den althochdeutschen Glossen“, in: Zur Geschichte der Nominalgruppe im älteren Deutsch. Festschrift für Paul Valentin. Akten des Pariser Kolloquium März 1999 , hg. von Yvon Desportes, Heidelberg 2000, S. 187-212. 17 Wilhelm Braune und Ingo Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik , Bd. 1: Laut- und Formenlehre , Tübingen 2004 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A: Hauptreihe, Band 5), S. 256 (§ 301, Anm. 2). Weitere Beispiele sind diuidam → ceteilo (Ps 107,8), laudabunt → lobont (Ps 113,17) und redimet → erlosit (Ps 129,8). Trotzdem gibt es an einigen Stellen Ausnahmen, zum Beispiel ist die Form 1. Pers. Sg. Indikativ Imperfekt sentiebam in Ps 130,2 mit farstuanti (< fir-stantan ‚erkennen, verstehen‘), 1. Pers. Sg. Konjunktiv Präteritum, wiedergegeben. <?page no="97"?> 96 Alderik H. Blom <M>eus est galaad → miner ist galaad . Analysierende Getrenntschreibungen, beispielsweise althochdeutsche Worttrennungen, die der Struktur eines lateinischen Kompositums entsprechen, sind zwar nicht häufig zu finden (zumal Komposita im Text der Fragmente selten anzutreffen sind), werden aber gelegentlich gebraucht. Ein Beispiel findet sich in Ps 107,11: heli diota alienigenae (Adj. ‚ausländisch, fremd‘; Nom. Pl.) Diese Zusammensetzung heli-diota ist wahrscheinlich eine Lehnübersetzung aus heli - ‚anders-‘ (nur in Zusammensetzungen belegt) und diotâ (f. ô -Stamm, später i -Stamm, diot ‚Volk, Land‘; hier Nom./ Akk. Pl.). Ein weiteres Beispiel gibt Ps 113,14: zuo auhhe (3. Sg. Konj. Präs.) <A>diciat (3. Sg. Konj. Präs. < ad-icere ‘hinzufügen, vermehren’) Das Verb * zuo-ouchen (reduplizierendes Verb der II . Klasse) ist ausschließlich in den Fragmenten belegt, stellt also ein Hapax dar (vgl. Gotisch aukan ‚vermehren‘? ), und bildet hier wahrscheinlich eine Lehnübertragung von ad → zuo und iciat → auhhê , wobei Tempus (Präsens) und Modus (Konjunktiv) identisch nachgebildet worden sind. In diesen Fällen ist es also wahrscheinlicher, dass die Formen nicht so sehr als ‚Übersetzungen‘ gesehen werden müssen, sondern vielmehr als Träger der grammatikalisch-technischen Erklärung der Lemmata (hier: Erklärung der Wortbildung). Werfen wir als Nächstes einen Blick auf die Fügungen von Präposition plus Substantiv. Lateinische Präpositionen mit Ablativ (d. h. sowohl ablativus loci als auch instrumentalis und temporis ) sind im Althochdeutschen fast immer als Präposition mit Dativ wiedergegeben worden. 18 Zum Beispiel: dominus erat in nobis → truhtin uuas in uns (Ps 123,2); ex ho[c nunc] → fona d[emo] nu (Ps 124,2); in uerbo eius → in uuorte s[inemo] (Ps 129,4). Weil all diese Funktionen ( instrumentalis , loci , temporis ) im Althochdeutschen ohnehin durch den Dativ ausgedrückt werden, ist an dieser Stelle schwer festzustellen, ob die Übertragung tatsächlich auf den üblichen deutschen Sprachgebrauch zurückgeht oder eher Kasusindikatoren für die lateinischen Lemmata bietet. Dasselbe gilt für die lateinischen Präpositionen, die normalerweise den Akkusativ regieren. Dort, wo lateinische Präpositionen mit Akkusativ (z. B. in , usque in , super , adversum ) auch ins Althochdeutsche als in , uncin , uber , uuider (im Sinne von ‚gegenüber‘) mit Akkusativ übertragen sind, ist wiederum schwer festzustellen, ob wir es hier mit einer Form-für-Form-Verfahrensweise oder mit idiomatischen (‚syntaktisch-kohärenten‘) Übertragungen des ganzen Syntagmas zu tun haben. Zum Beispiel: cum [irascere]tur furor eorum in nos → denne arbol[gan] ist heizmuoti iro in uns[ih] (Ps 123,3); [non com]mouebitur in aeternum → [nist] er[u]uegit in euuun (Ps 124,1); [usque] in saeculum → unzan in uuerolt (Ps 124,2); in magnis → in mihilem (Ps 130,1) und in mirabilibus → in uuunteron (Ps 130,1). 18 Henkel, „Die althochdeutschen Interlinearversionen“ (wie Anm. 6), S. 54 f.; Costanza Cigni, „Volkssprachige und lateinische Glossierung zu Walahfrid Strabos Liber de cultura hortorum “, in: Mittelalterliche volkssprachige Glossen (wie Anm. 5), S. 453-473, hier S. 460. <?page no="98"?> Die Altalemannischen Psalmenfragmente 97 Aufschlussreicher sind deswegen die (leider seltenen) Stellen, an welchen die althochdeutsche Übertragung nachweislich dem lateinischen Lemma folgt, weil sie eindeutig nicht auf den althochdeutschen Sprachgebrauch zurückgeht. Genau das ist der Fall, wo die lateinische Präpositionen apud ‚mit, bei‘ und ad ‚zu‘ (im Lateinischen immer mit dem Akkusativ verbunden) auch mit Akkusativ ins Althochdeutsche übertragen worden sind, obwohl normalerweise der Gebrauch des Dativs erforderlich wäre, z. B.: clamaui ad te → heretta ce dih (Ps 129,1); apud te → mit [ti]h (Ps 129,4) und apud eum → mit [in]a[n] (Ps 129,7). Hier hat die Interlinearversion die zweigliedrigen Syntagmen also nicht als Ganzes übersetzt, was auf eine horizontale Leserichtung hinweisen würde, sondern stattdessen Formfür-Form übertragen und dafür formale und lexikalische Informationen zur Erschließung des lateinischen Textes geboten, was also eher auf eine vertikale Leserichtung schließen lässt. Dennoch ist der Beleg nicht gänzlich eindeutig: Einige lateinische Akkusativ-Konstruktionen wurden als ganzes Syntagma mit entsprechender althochdeutscher Syntax, nämlich dem Dativ, übersetzt: ad nihilum → ce niuuihte (Ps 107,14; das Bewegungsverb deducere fordert den Akkusativ); ad iniquitatem → ce [h]unrehte (Ps 124,3; das Bewegungsverb extendere fordert den Akkusativ). Ebenfalls interessant sind diejenigen Fälle, in denen der lateinische Grundtext keine Präposition verwendet, das Lateinische aber die verbale Valenz anders handhabt als das Althochdeutsche. Hier stand dem Überträger keine lateinische Präposition als Leitfaden zur Verfügung, weshalb wir hieran gut erkennen können, dass häufiger (morphologisch) vom Lateinischen abgewichen wurde. Aber auch in diesem Fall ist die Verfahrensweise der volkssprachigen Übertragung nicht eindeutig: Bei einigen Verben unterscheidet sich nämlich die lateinische von der althochdeutschen Verbvalenz, die nicht immer sklavisch angepasst wurde, wie diese vier Beispiele zeigen: detrahebant mihi (Dat.) → pisprahhun mih (Akk.) (Ps 108,4); <B>ene[dixi]t [domui is]rahel → … h]iuuiski israhelo (Ps 113,12); <B>ene[dixit] omnibus → uuihta alle (Ps 113,13); benediximus uobis → uuihtomes euuuih (Ps 128,8). Die Lemmata sind nicht genau Form-für-Form übertragen, sondern wieder als Ganzes dem deutschen Sprachgebrauch angepasst worden. In Psalm 113 finden sich allerdings auch althochdeutsche Übertragungen, welche die Dativkonstruktionen des Lateinischen wörtlich, also nicht idiomatisch, übernommen haben, nämlich ohne verdeutlichende Präpositionen, wie: benedicimus domino → uuolaquedeme[s truhtin]e (Ps 113,18; lateinischer Dativ → althochdeutscher Dativ ohne Präposition) und < B>en[edi]c[ti uo]s domino → kiuuihta ie[r] truhtine (Ps 113,15; lateinischer Ablativ → althochdeutscher Dativ ohne Präposition). Als zusammenhängendes zweisprachiges Textensemble betrachtet bieten die Fragmente also ein gemischtes Bild - ein mixtum compositum aus einer vertikal wie horizontal gedachten Struktur. Hierbei ist erwähnenswert, dass sich ebenso an diesen Stellen der syntaktisch-kohärente Zusammenhang der volkssprachigen Interpretamente durchaus nicht weiter erstreckt als das Syntagma selbst (bzw. zwei Substantive oder ein Präpositionalsatz), sodass noch nicht von einem zusammenhängenden althochdeutschen Text die Rede sein kann. Im Ganzen bleibt das Textensemble also grundsätzlich vertikal strukturiert. Im folgenden Abschnitt sollen die Fragmente in den gezeichneten Kontext des Schulunterrichts im monastischen Bildungsbetrieb der Karolingerzeit eingeordnet werden, indem die Interpunktion dieser Handschrift, der bislang keine nennenswerte Aufmerksamkeit geschenkt wurde, detailliert untersucht wird. <?page no="99"?> 98 Alderik H. Blom III. Die Interpunktion und Pragmatik der Altalemannischen Psalmenfragmente Obwohl einige Folia sehr schwer lesbar sind, lässt sich in den erhaltenen Fragmenten deutlich ein Interpunktionssystem erkennen, wenn auch im lateinischen Text etwas besser als in der Interlinearversion. Zwar ist nicht klar, von wem zu welchem Zeitpunkt die Interpunktion eingefügt wurde und welche Teile der Interpunktion möglicherweise von einer Vorlage kopiert wurden, 19 jedoch fällt unmittelbar auf, dass die Interpunktion der Interlinearversion einheitlich derjenigen des lateinischen Textes folgt. Bevor wir beginnen können, die Beziehung zwischen der volkssprachigen und lateinischen Interpunktion zu verstehen, müssen wir letztere genauer betrachten. Das Lesen und Rezitieren des frühmittelalterlichen Psalters genießt einen Sonderstatus verglichen mit anderen literarischen und theologischen Texten. 20 Der liturgische Gebrauch des Psalters und der Umstand, dass er gemäß dem jeweiligen Psalmton gesungen wurde, hat dem gesamten Text eine andere Struktur verliehen. 21 So argumentiert Nigel F. Palmer, dass die Interpunktion des Psalters vor allem die performativen Aspekte wiedergibt, eher als die logische oder grammatikalische Struktur des Textes, die Malcolm B. Parkes für seine einflussreiche Analyse der frühmittelalterlichen Interpunktion zugrunde gelegt hat. Stattdessen scheint sich die Interpunktion des Psalters eher der Versstruktur als der Grammatik anzupassen. 22 Trotzdem schließen sich im Falle der Fragmente die zwei Möglichkeiten nicht notwendigerweise aus, sondern sie ergänzen sich bis zu einem gewissen Grad. Die Grundvoraussetzungen für das Vortragen der Psalmen ergeben sich deshalb aus der zweibeziehungsweise dreigliedrigen Struktur, welche die Psalmverse bereits im hebräischen Original aufweisen. In vielen späteren mittelalterlichen Psalterhandschriften ist die Pause zwischen den beiden Teilen eines zweigliedrigen Psalmverses, das sogenannte metrum , durch Interpunktion gekennzeichnet. In den dreigliedrigen Psalmversen wird eine sekundäre kleine Pause angegeben, das sogenannte punctum , welches ebenfalls durch Interpunktion hervorgehoben ist. Das Ende des Verses, die terminatio , wird gleichfalls durch Interpunktion markiert. 23 Im Großen und Ganzen stimmt die Interpunktion des lateinischen Psaltertextes der erhaltenen Fragmente mit der besagten traditionellen Struktur der Psalmen überein. Hierfür liefert Psalm 129,3-5 in der Münchner Handschrift auf fol. 2r ein typisches Beispiel: 19 Siehe Anna Grotans, Reading in Medieval St. Gall , Cambridge 2006 (Cambridge Studies in Palaeography and Codicology 13), S. 236: „punctuation could have been noted at the time of copying either by the scribe writing the text or by a corrector; or it could also have been added at some later date […]“. 20 Zur Unterscheidung der Wertigkeit verschiedener liturgischer Register siehe Joseph A. Jungmann, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe , 4. neubearbeitete Ausgabe, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1959, hier Bd. 1, S. 524-532. 21 Stephen J. P. van Dijk, „Medieval Terminology and the Methods of Psalm Singing“, in: Musica disciplina 6 (1952), S. 7-26; Joseph Dyer, „Psalm II. Lateinisch, einstimmig“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume , 2. neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Fischer, Sachteil Bd. 7, Kassel u. a. 1997, Sp. 1862-1876. 22 Nigel F. Palmer, „Simul cantemus, simul pauseamus. Zur mittelalterlichen Zisterzienserinterpunktion“, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften , hg. von Eckart Conrad Lutz, Martina Backes und Stefan Matter, Zürich 2010, S. 483-569, hier S. 494 f., reagiert auf Malcolm B. Parkes, Pause and Effect. An Introduction to the History of Punctuation in the West , Aldershot 1992, passim . 23 Palmer (wie Anm. 22), S. 555-563. <?page no="100"?> Die Altalemannischen Psalmenfragmente 99 <S>i iniquitatis obseruabis d omin e .~ d omi ne qui sustinebit .- <Q>uia apud te pro[pi]tiatio est .~ propter legem / tuam sustinui te d omi ne .- <S>ustinuit anima mea in uerbo eius .~ / <S>perauit anima mea in d omi no .- Alle drei Verse sind zweigliedrig, und das metrum sowie die terminatio sind durch Interpunktion gekennzeichnet. Deswegen sollte der Großteil der Interpunktion in den Fragmenten als ein performativer Kommentar zum lateinischen Text verstanden werden, als Instruktion also, wie man die Verse richtig rezitiert. Doch deckt sich die Interpunktion nicht immer mit der traditionellen zweibzw. dreigliedrigen Struktur der Verse, und nicht selten scheinen kleinere Abschnitte als das Metrum innerhalb der Verse markiert zu werden. 24 In den meisten Fällen geht die Interpunktion den beiordnenden Konjunktionen voran, vorwiegend et , das den koordinierenden Satz einleitet: Ps 107,9 <M>eus est galaad · et meus est man[asse] Ps 113,14 super uos .~ et super filios uestros Ps 123,7 <L>aqueus contritus est .~ et nos liberati sumus .- Ps 124,1 <Q>ui [con]fidunt in d omi no · sicut mons sion In anderen Fällen markiert die Interpunktion den Anfang einer Präpositionalphrase: Ps 107,11 deduc et me · usque in idumeam Ps 129,2 <F>iant aures tuae intendentes .~ in uocem An anderer Stelle markiert die Interpunktion den Beginn eines Relativsatzes: Ps 113,13 <B>ene[dixit] omnibus · qui timent d omi n u m Ps 113,15 <B>en[edi]c[ti uo]s d omi no · qui fecit Angenommen, dass diese graphischen Marker wie auch immer geartete Pausen anzeigen, so scheint es doch unwahrscheinlich, dass sie eine Pause während des Vortragens kennzeichnen. Wahrscheinlich markieren sie eine grammatikalische Pause, welche mehr dem Verständnis des Verses als der Rezitation sensu stricto dient. Demnach scheinen die graphischen Marker einen grammatikalisch-strukturellen sowie performativen Kommentar zu dem lateinischen Text zu liefern, was weiterhin eher einen Schulals einen streng liturgischen Kontext der Handschrift vermuten lässt; dennoch waren die Bereiche keinesfalls voneinander separiert, sodass eine Durchmischung leicht stattgefunden haben könnte. Folglich wäre das Rezitieren ohnehin ein fester Bestandteil des Psalterunterrichts gewesen. Die einfachste Form der Interpunktion, die für den lateinischen Text verwendet wurde, besteht aus Punkten, die sich in unterer bis mittlerer Höhe der Zeile befinden, im Folgenden punctus genannt. 25 Die Lesbarkeit ist ein wichtiges Problem für die Textinterpretation der 24 Es sei angemerkt, dass in einigen Fällen ein metrum nicht zwangsläufig durch Interpunktion markiert sein muss, wie in Ps 114,3, 124,5, 129,7. 25 Die generelle Identifikation dieser Punkte in Parkes (wie Anm. 21), S. 303 (beibehalten von Anna Laura Lepschy und Giulio C. Lepschy, „Punteggiatura e linguaggio“, in: Storia della punteggiatura in Europa , hg. von Bice Mortara Garavelli, Rom 2008, S. 3-24) mit distinctiones , „a system of punctuation developed in Antiquity, based on the division of a sententia by punctūs placed at different heights in an ascending order of importance“, basiert auf seiner Annahme, dass abstrakte Begriffe über die Logik der sententiae ebenfalls der Handschrifteninterpunktion unterliegen. Wie wir jedoch gesehen haben, <?page no="101"?> 100 Alderik H. Blom Fragmente und wird sogar hinsichtlich der Interpunktion noch wichtiger. Darum möchte ich lediglich die Fälle diskutieren, die unstrittig als punctus zu verstehen sind. Auffällig ist, dass der Gebrauch des einfachen punctus in den erhaltenen Fragmenten ganz und gar nicht konsequent ist, da der punctus vornehmlich auf dem Dillinger Doppelblatt vorkommt (18 Fälle). Auf dem Dillinger Doppelblatt ist der punctus jedoch an allen zuvor untersuchten Stellen vorhanden. 26 In Psalm 113,16-17 auf dem Dillinger Doppelblatt fol. 2r kennzeichnet er sowohl die metra (nach domino beziehungsweise domine ) als auch die terminatio (nach infernum ): <C>ae[l]um [caeli] domino · terram autem dedit filiis homin[um] · <N>on [mortui] laudabunt te domine · <Neque> omnes · q[ui descen]dunt in infernum · Trotzdem ist der punctus nicht die einzige Form der Interpunktion. Die meisten Interpunktionszeichen in den Fragmenten können stattdessen als sogenannte positurae verstanden werden, etwas komplexere graphische Symbole, die für die Interpunktion liturgischer Texte oder monastischer lectio verwendet werden. Dieses System wurde im Laufe des 8. Jahrhunderts am Hof Karls des Großen in Aachen eingeführt. 27 In liturgischen Handschriften können diese Markierungen ebenso festgelegte melodische Figuren wie Sinnabschnitte anzeigen; die Variationsbreite im Gebrauch dieser Markierungen kann beträchtlich sein. 28 Der häufigste positura -Typ in den erhaltenen Fragmenten wird in der Transkription mit ‚.~‘ wiedergegeben. Mehr oder weniger sicher kann dieses Zeichen als punctus elevatus identifiziert werden: eine positura , die im liturgischen Gebrauch gängig war, um das metrum in Psalmversen zu kennzeichnen. 29 Der Gebrauch dieses Symbols in den Fragmenten ist zwar nicht eindeutig, dennoch können einige Generalisierungen über seine Funktion guten Gewissens vorgenommen werden: Auch in den Fragmenten ist es am gebräuchlichsten, die größere metrische Pause in den zweigliedrigen Psalmversen zu markieren. Von ist dies im Falle des Psalters unwahrscheinlich, zumindest ohne eine eingehendere Untersuchung. Eine neutrale Bezeichnung wie punctus für diese Zeichen ist deshalb momentan hilfreicher. 26 Terminatio : Ps 107,7; 107,12; 108,2; 113,17; 113,18; 114,2; 114,3; 114,5; 114,6. Metrum : Ps 113,14 (Handschrift schwer leserlich, möglicherweise positura ); 113,16; 113,17; 114,1; 114,6. Kleinere Sinnabschnitte : Ps 107,9; 107,11; 113,13 (Handschrift schwer leserlich, möglicherweise positura ); 113,15. 27 Parkes (wie Anm. 22), S. 35-38 und 306. Siehe auch Peter Clemoes, Liturgical Influence on Punctuation in Late Old English and Early Middle English Manuscripts , Neudruck Binghamton 1980 (The Department of Anglo-Saxon, Norse, and Celtic, Cambridge: Occasional Papers 9); Leo Treitler, „Reading and Singing: On the Genesis of Occidental Music Writing“, in: Early Music History 4 (1984), S. 135-208, hier S. 153 und 189-192; Mario Geymonat, „Grafia e interpunzione nell’antichità greca e latina, nella cultura bizantina e nella latinità medievale“, in: Storia della punteggiatura (wie Anm. 24), S. 25-62, hier S. 61. 28 Grotans (wie Anm. 19), S. 192. 29 Palmer (wie Anm. 22), S. 495 und 555. Parkes (wie Anm. 22), S. 306, deutet den punctus elevatus wieder in Bezug auf die logische Struktur der sententiae . <?page no="102"?> Die Altalemannischen Psalmenfragmente 101 allen 20 sicheren Fällen des punctus elevatus in den erhaltenen Fragmenten markieren 16 die Pause in einem zweigliedrigen Vers ( metrum ). 30 Zur Verdeutlichung folgt ein typisches (oben bereits in anderem Zusammenhang zitiertes) Beispiel, Psalm 129,2 in der Münchner Handschrift auf fol. 2r (das metrum fällt zwischen intendentes und in ): <F>iant aures tuae intendentes . ~ in uocem deprecationis meae · In drei Fällen markiert der punctus elevatus vielmehr einen kleineren Sinnabschnitt als die Struktur des Psalmverses. 31 Ein (ebenfalls bereits zitiertes) Beispiel bietet Psalm 123,7 in der Münchner Handschrift auf fol. 1r ( punctus elevatus steht der koordinierenden Konjunktion et voran): <L>aqueus contritus est .~ et nos liberati sumus . Nur einmal wird das Zeichen für eine terminatio verwendet, nämlich nach dimetiar in Psalm 107,8 auf dem Dillinger Doppelblatt fol. 1r, in einem (oben bereits zu anderen Zwecken zitierten) zweigliedrigen Vers, in dem das metrum (nach sicimam ) durch einen einfachen Punkt angezeigt wird: froon inti ceteilo euillendi <E>xultabo et diuidam sicimam ·[ selidono mizzu tabernaculorum dimetiar .~ [ Gemäß dieser Definition überschneidet sich die Funktion des punctus elevatus teilweise mit der des einfachen punctus , obwohl letzterer ebenfalls in denjenigen Psalmen vorkommt, die positurae verwenden. Schließlich scheint ein ähnliches Zeichen hin und wieder benutzt zu werden, das stark an den punctus circumflexus erinnert und in der Transkription mit ‚.-‘ wiedergegeben wird. 32 Alle zwölf sicheren Beispiele dieses Zeichens erscheinen ausnahmslos am Ende eines Verses. 33 Eine typische Kombination zweier positurae zeigen die zweigliedrigen Verse Ps 129,1 und 130,2 in der Münchner Handschrift auf fol. 2r, in denen der punctus elevatus für eine mittlere Pause verwendet wird und das Zeichen ‚.-‘, um eine terminatio anzuzeigen: 30 Ps 107,10; 107,14; 108,4; 108,5; 114,2; 114,5; 124,3; 124,5; 129,1; 129,2; 129,4; 129,5; 129,7; 130,1; 130,3. 31 Ps 108,3; 123,7; 129,8. 32 Parkes (wie Anm. 21), S. 307. 33 Ps 114,7; 123,7; 124,5; 129,1; 129,3; 129,5; 129,7; 129,8; 130,1; 130,2; 130,3. <?page no="103"?> 102 Alderik H. Blom et <D>eprofundis clamaui ad te domine .~ domine exaudi uocem meam .- <S>]i non [hu]militer sentiebam.~ sed exaltaui matre]mmeam .- Betrachtet man sowohl die Funktion wie die Datierung, scheint das Symbol der Form nach an einen circumflexus zu erinnern, allerdings wird es gemäß der Funktion wie ein punctus versus gebraucht ‚; ‘, eine positura , die die terminatio am Versende anzeigt. Ein Amalgam der Systeme punctus und positurae ist nicht ungewöhnlich zu Beginn des 9. Jahrhunderts. Parkes beschreibt Ähnliches im ‚Goldenen‘ oder ‚Dagulf ‘-Psalter (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Hs. lat. 1861) des späten 8. Jahrhunderts sowie im etwas späteren St. Reguier-Psalterfragments (Paris, Bibliothèque nationale de France, Hs. lat. 13 159), die beide mit der Palastschule in Aachen in Verbindung gebracht werden. 34 Berücksichtigt man die vorgeschlagene Datierung der Fragmente auf das zweite Drittel des 9. Jahrhunderts, könnte das eine Erklärung für die ähnliche Vermischung der hier gezeigten Systeme sein, obgleich die Form der positurae im ‚Dagulf ‘-Psalter in einigen Details anders ausgeführt ist. 35 Oben wurde bereits vorgeschlagen, dass die Interpunktion des lateinischen Textes, in Form der einfachen punctus sowie positurae , in erster Linie einen Kommentar für das Vortragen und erst in zweiter Linie einen für die Grammatik des Textes liefern sollte. Demzufolge muss nun die Beziehung des lateinischen Textes zur althochdeutschen Interlinearversion besprochen werden. Wie die analysierten Beispiele deutlich zeigen, weist der althochdeutsche Text an denselben Stellen ebenso eine Form der Interpunktion auf wie der lateinische. Einige Ausnahmen lassen sich durch die schwere Lesbarkeit oder andere Schäden an den Handschriften erklären. Insgesamt ist die Interpunktion zu einheitlich, um zufällig sein zu können. Jedoch wurde diese Interpunktion im althochdeutschen Text niemals in Form der positurae übernommen, auch nicht an den Stellen, an welchen der lateinische Text entsprechende graphische Marker aufweist. Das wiederum macht es sehr unwahrscheinlich, dass die Markierungen in der Interlinearversion tatsächlich als eine Art ‚Vortragskommentar‘ gedacht waren. Ein anderer Vorschlag, nämlich dass die Markierungen im Althochdeutschen lediglich als visuelle Hilfen dienten, um Worttrennungen und räumliche Zuordnungen der althochdeutschen Übersetzungen zum lateinischen Text auf der Seite an- 34 Parkes (wie Anm. 22), S. 36-38. 35 Vgl. Der Goldene Psalter ‚Dagulf-Psalter‘: Codex Vindoboniensis 1861 aus dem Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek , hg. von Kurt Holter, 2 Bde., Graz 1980 (Codices selecti 69), hier Bd. 1, fols. 118v-119v, 122v-123r, 133v-135r. Siehe Blom (wie Anm. 1), S. 141-143 für die ebenfalls enge Verwandtschaft des lateinischen Textes des ‚Dagulf ‘-Psalters und der Altalemannischen Psalmenfragmente . <?page no="104"?> Die Altalemannischen Psalmenfragmente 103 zuzeigen, scheint ebenso unwahrscheinlich. Wenn die Markierungen nur für diesen Zweck hinzugefügt worden wären, wäre es nicht nötig gewesen, sie an denjenigen Stellen hinzuzufügen, an welchen die Worttrennung und die Beziehung zu den lateinischen Lemmata ohne zusätzliche visuelle Hilfe bereits verständlich gewesen sind. Dort wäre es außerdem ebenso wenig nötig gewesen, der Interpunktion des lateinischen Textes so einheitlich zu folgen. Weiterhin kennzeichnet die Interpunktion häufig das Zeilenende und fällt somit häufig mit einem Versende zusammen, an dem visuelle Angaben zur Worttrennung oder Position auf der Seite unnötig gewesen wären; dennoch wurden sie aus dem lateinischen Text übernommen, was ebenfalls gegen diese visuelle Interpretation spricht. Jede Form der Interpunktion hat wahrscheinlich eine wie auch immer geartete Pause angezeigt, entweder eine für das Rezitieren oder eine für das stille Verständnis. Aus diesem Grund besteht die Interpunktion des althochdeutschen Textes wahrscheinlich aus Markierungen einzelner Sinnabschnitte, die gleichzeitig das grammatikalische Verständnis des lateinischen Textes erleichtern sollen. Für diesen Kommentartyp war die vollständige liturgische Interpunktion der positurae nicht notwendig. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Pausen tatsächlich mit vorgetragen wurden, sondern dass sie eine zusätzliche Anmerkung zum Sinnabschnitt innerhalb des lateinischen Textes geboten haben. Wenn man annimmt, dass die Handschrift sowie ihr Layout einem einzigen Zweck dienten, dann böte die Kombination eines interpungierten lateinischen Textes und einer interpungierten Interlinearversion eine außerordentliche Informationsfülle zu einem der Schlüsseltexte des monastischen Lebens im frühen 9. Jahrhundert - und damit zur Bildungssituation der ersten Phase deutscher Schriftlichkeit. <?page no="106"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis-Übersetzung als Weg zur Lektüre eines lateinischen Klassikers Nikolaus Henkel Dem Andenken an Gert Hübner († 13. 6. 2016) Der katholisch-konservative Schriftsteller und Publizist Theodor Haecker (1879-1945) veröffentlichte 1931 einen Essay mit dem Titel „Vergil. Vater des Abendlandes“. 1 Haecker, der 1935 Redeverbot erhielt und Anfang der 1940er Jahre mehrfach Gast bei den Treffen der Weißen Rose war, 2 konnte von dieser Abhandlung bis zu dem über ihn 1938 verhängten Publikationsverbot drei Auflagen in Deutschland und zwei in der Schweiz herausbringen; gleichzeitig erschienen Übersetzungen ins Englische, Französische und Italienische. 3 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, seit 1946, wurde die Schrift wieder in Deutschland und der Schweiz aufgelegt und erschien seit den 50er Jahren auch als Fischer-Taschenbuch bis zur Mitte der 60er Jahre. „Vergil. Vater des Abendlandes“: Die in diesem emphatischen Titel behauptete Faktizität ist aus gegenwärtiger Sicht kaum noch verständlich - und doch gehörte Vergil in Deutschland bis in die 1920er Jahre zum festen Lektürekanon der Gymnasien, z. T. auch der Realgymnasien und damit zum kulturellen Wissen der Gebildeten im Lande und weit darüber hinaus. Nüchtern ist festzustellen: In nur knapp 100 Jahren ist dieser Autor dem Kulturellen Gedächtnis Europas, dessen Bildung er über zwei Jahrtausende geprägt hatte, nahezu abhandengekommen. Schauen wir auf das Hochmittelalter, so kann die Bedeutung Vergils für die Literaturen des westlichen Europa und vor allem für die Poetik des Erzählens in den Volkssprachen kaum überschätzt werden. Versetzen wir uns hypothetisch in die Zeit um 1150, so stellen wir fest, dass es zu diesem Zeitpunkt eine zwar gut bezeugte, kaum jedoch sicher ab- 1 Siehe zu Haecker: Eugen Blessing, „Haecker, Theodor“, in: Neue Deutsche Biographie , Bd. 7, Berlin 1966, S. 425-427; Karin Masser, Theodor Haecker. Literatur in theologischer Fragestellung , Frankfurt a. M. 1986. Siehe auch die Beiträge in Theodor Haecker ( 1879 - 1945 ). Verteidigung des Bildes vom Menschen , hg. von Gebhardt Fürst, Peter Kastner und Hinrich Siefken, Stuttgart 2001 (Hohenheimer Protokolle 55); zu Haeckers Vergil-Schrift hier S. 43-50. Der religionsphilosophischen Seite von Haeckers Werk gilt Florian Mayr, Theodor Haecker. Eine Einführung in sein Werk , Paderborn 1994 (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 13). 2 Hinrich Siefken, Die Weisse Rose. Student Resistance to National Socialism 1942 / 1943. Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte, Nottingham 1991 (University of Nottingham Monographs in the Humanities), hier S. 117-146. 3 Virgile. Père de l’Occident, Paris 1931; Virgil. Father of the West, London 1934; Virgilio. Padre dell’Occidente, Brescia 1935. <?page no="107"?> 106 Nikolaus Henkel zuschätzende Tradition mündlichen episodischen Erzählens gab, für eine schriftliterarische Großform hingegen, wie sie der um 1160 in Frankreich auftretende Roman darstellt, existierten in den Volkssprachen keine Muster, auch keinerlei vorgängige Modellbildung. In den Köpfe n der Autoren der frühen Romane gab es freilich die nötigen Modelle. Sie stammten u. a. aus der Lektüre der römischen Klassiker, wie sie die Kloster- und Domschulen der Zeit unterrichteten mit dem Ziel einer aktiven Beherrschung der Sprache und der literarischen Formen in Wort und Schrift. Vergil hatte hier eine prominente Rolle, insbesondere die Aeneis . Am Beispiel des Strukturmodells der sog. epischen Zweiteilung lässt sich das verfolgen: Die Bücher 1-6 von Vergils Epos erzählen von der Landung der schiffbrüchigen Trojaner an der Küste Karthagos, wo sie von Dido aufgenommen werden. Ihr erzählt Aeneas vom Untergang Trojas (Buch 1-3). Nach Liebe und Tod der Dido im 4. Buch folgt ein Zwischenspiel und dann die Unterweltfahrt des Aeneas im 6. Buch, wo er die von ihm und seinen Nachkommen ausgehende künftige Geschichte bis hin zu Augustus, dem Herrscher in Vergils Gegenwart, schauen darf. Als Suche nach dem Ziel könnte man diese erste Hälfte umschreiben. Der zweite Teil, Buch 7-12, gilt der Landung am Tiber und dem Kampf um die Herrschaft in Latium: das Erreichen des Ziels, die Erringung der Herrschaft über Latium wären Gegenstand der zweiten Hälfte. Beide Teile sind verbunden durch die Gestalt des Aeneas und den Befehl der Götter, ein zweites Troja zu begründen, aus dem die spätere römische Herrschaft über ein Weltreich hervorgehen sollte. Diese epische Zweiteilung ist ein Modell, das der Verfasser des Roman d’Eneas um 1160 / 1165 übernimmt, freilich, mit Rücksicht auf die Interessen des hochmittelalterlichen Publikums, mit einer ganz anderen Ausgestaltung der beiden nahezu gleichgroßen Teile seines Romans: einerseits die scheiternde Verbindung mit Dido, deren Liebe Eneas nicht erwidert und die deshalb keine dynastische Zukunft hat, andererseits die Vervollkommnung der Liebe in Gegenseitigkeit und in ehelicher Bindung zwischen Eneas und Lavinia, die auf die procreatio prolis und damit die Begründung einer Dynastie zielt, auf die sich das Imperium Romanum gründen wird - und das Römische Reich der Gegenwart des 12. Jahrhunderts, was den Lesern der Zeit bekannt ist und was Heinrich von Veldeke in seinem Eneasroman besonders hervorhebt. 4 Das Modell der epischen Zweiteilung einschließlich seiner sinnstiftenden strukturellen Verknüpfung der beiden Teile kennen auch Chrétien und Hartmann, wenn sie einer nur vordergründigen Qualität ihrer Helden Erec und Yvain den davon deutlich abgesetzten mühsamen Weg zu wahrer Vervollkommnung folgen lassen. Und man könnte - mit anderen Vorzeichen - auch das Werk des Nibelungendichters in diese Reihe stellen. Fragen wir nach weiteren Modellen, die das Studium der lateinischen Klassiker für das romanhafte Erzählen im Hochmittelalter bot, dann wären zu nennen etwa die Technik struktureller Verknüpfung von Episoden als Instrument der Sinnstiftung, die Technik des 4 Siehe hierzu auch Nikolaus Henkel, „Vergils Aeneis und die mittelalterlichen Eneas-Romane“, in: The Classical Tradition in the Middle Ages and the Renaissance. Proceedings of the First European Science Foundation Workshop on ‚The Reception of Classical Texts‘ , hg. von Claudio Leonardi und Birger Munk Olsen, Spoleto 1995 (SISMEL. Biblioteca di medioevo latino 15), S. 123-141, sowie Silvia Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ‚Eneas‘ Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007 (Hermaea 113), besonders S. 153-217. <?page no="108"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 107 Monologs, 5 des schnellen Wortwechsels im Dialog, 6 die descriptio -Technik bei der Beschreibung von Personen und Sachen, für die es um 1150 / 1160, also vor dem Erscheinen des romanhaften Erzählens im westlichen Mittelalter, keinerlei Muster in der Volkssprache gab. 7 Gleichwohl standen solche Modelle in den Köpfen der Romanautoren aufgrund ihrer bildungsgeschichtlichen Sozialisation bereit, um für das Erzählen in der Volkssprache eingesetzt zu werden, und Vergils Werk spielt dabei die zentrale prägende Rolle. Es wirkt in Art einer translatio artis bzw. artificii , einer Übertragung und Dienstbarmachung literarischer Techniken und Modelle in die Volkssprache. Das gilt für die Anfänge des Romans; vom 13. Jahrhundert an gibt es in den Volkssprachen eigenständige literarische Prägungen, die die Richtung vorgeben. Innerhalb der lateinischen Literatur und Bildungswelt der Folgezeit, wie schon seit dem frühen Mittelalter, bleibt Vergil aber bis in die Neuzeit von beindruckender, ja überwältigender prägender Wirksamkeit. 8 Während der Roman d’Eneas (mit neun erhaltenen Handschriften) nach dem 14., Veldekes Eneasroman (16 erhaltene Zeugen) nach dem 15. Jahrhundert vergessen sind, 9 bleibt 5 Das betrifft vor allem den Liebesmonolog, der in den Volkssprachen etwas völlig Neues darstellt. Siehe zu den Monologen in den frühen Eneas-Romanen Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid , Tübingen 1993 (Hermaea 71), besonders S. 178-186, die Ovids Metamorphosen als Modell der mittelalterlichen Monologe heranzieht, einen Text, der, wie die übrigen Werke des Autors, in der Aetas Ovidiana des 12. Jahrhunderts intensiv studiert worden ist. 6 Das Vorbild dürften die im Mittelalter zum Lektürekanon gehörenden und als Lesetexte zur Schulung der lateinischsprachigen Kommunikationsfähigkeit genutzten Komödien des Terenz gewesen sein, siehe dazu Nikolaus Henkel, „Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts. Das Modell der Dramen des Terenz und Seneca“, in: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven , hg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), S. 139-164. 7 Siehe hierzu die in der deutschen Forschung nicht aufgenommene Arbeit von Wendy Chapman Peek, Vision, Language, Spectacle. Ekphrasis in the Aeneid and Medieval Romance , Diss. Cornell University 1992; weiterhin Schmitz (wie Anm. 4), besonders S. 293-328, sowie Nikolaus Henkel, „‚Fortschritt‘ in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im ‚Roman d’Eneas‘ und in Heinrichs von Veldeke ‚Eneasroman‘“, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur , hg. von Joachim Bumke und Ursula Peters, Berlin 2005 ( ZfdPh 124, Sonderheft), S. 96-116. 8 Ich nenne nur einige beliebige, gleichwohl markante Beispiele: Der Waltharius bietet auf Schritt und Tritt Vergilreminiszenzen, durch die der Verfasser für das aus der Mündlichkeit der Volkssprache gewonnene Sujet den Anschluss an den großen Epiker sucht, vgl. die Nachweise in der Ausgabe von Karl Strecker in: Monumenta Germaniae Historica. Poetae Latini VI, 1 , Weimar 1951, Nachdruck München 1978, S. 24-85. Bemerkenswert sind auch die als geschlossene Gruppe in den Carmina Burana überlieferten und an Vergils Aeneis sich anschließenden Dichtungen CB 98, 99 (mit den beiden Randeinträgen CB 99a und b), 100, 101 und 102. Zur großen Didoklage und ihren Parallelen siehe Peter Dronke, „Didos Lament: From Medieval Latin Lyric to Chaucer“, in: Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire , hg. von Ulrich J. Stache, Wolfgang Maaz und Fritz Wagner, Hildesheim 1986, S. 364-390. Siehe auch Christopher Baswell, Virgil in Medieval England. Figuring the Aeneid from the Twelfth Century to Chaucer , Cambridge 1995. Auch Walters von Châtillon Alexandreis ist hier zu nennen, ein Werk mit europaweiter Wirkungsgeschichte, mit seiner wiederum gattungsabhängigen und bis in die Sprach- und Versgestaltung hineinreichenden Vergil-Nachfolge. 9 Die späteste, 1474 geschriebene Handschrift Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2861, bietet eine vom Überlieferungskontext mit der Weihenstephaner Chronik gesteuerte gekürzte Bearbeitung. Die hier tradierte Fassung von Veldekes Text fungiert nicht mehr eigentlich als Roman, sondern als Vorgeschichte für die mit der Frühgeschichte Roms einsetzende Chronik. „Auf diese Weise wird im Gesamtkonzept der Handschrift durch die ‚Weihenstephaner Chronik‘ das System der beiden Geschlechtsregister des ‚Eneasromans‘ gleichsam bis in das Jahr 1474 perpetuiert“ (Marcus Schröter, Der Wiener ‚Eneasroman‘ (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2861 ) Heinrichs von Veldeke in Text und Bild. Untersuchungen zu Ikonographie und Textüberlieferung des ältesten höfischen Antiken- <?page no="109"?> 108 Nikolaus Henkel Vergils Werk seit dem 9. Jahrhundert durchgängig präsent und ein Bezugspunkt, auf den die intellektuellen Eliten der Folgezeit und ihre Literatur immer wieder zurückgriffen. Beeindruckend ist Vergils Präsenz im Feld von Wissen und Studium: Im europäischen Kulturraum sind bis etwa zum Jahr 1200 noch über 400 großenteils glossierte und kommentierte Handschriften erhalten geblieben, bis gegen 1500 sind es rund 1000. Und im Buchdruck sind allein in den gut 30 Jahren von der Erstausgabe (Rom 1469) bis 1500 knapp 200 Vergil-Drucke nachgewiesen. 10 Vor diesem Hintergrund einer überwältigenden Präsenz Vergils im kulturellen Bewusstsein des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 11 geht es im Folgenden um eine deutsche Versbearbeitung der Aeneis aus dem Jahr 1515 und die Frage, wie sie sich gegenüber der durchgängigen lateinischen Tradition positioniert. Wir rufen uns zunächst einige Realien zu Thomas Murner, dem Übersetzer, ins Gedächtnis (I.), gehen dann auf die an Kaiser Maximilian I. gerichtete Widmungsvorrede ein mit der hier ausformulierten Idee des Friedens, in der die Aeneis , Augustus und Maximilian in Art einer profanen Typologie verbunden werden (II.), und verknüpfen diese Beobachtungen mit dem Modell der politischen Theorie der Pax Romana / Pax Augusta , dem neben anderem auch Vergils Werk zugrunde liegt und das um 1500 literarisch aktualisiert wird (III.). Daraus ergibt sich dann die Frage nach Ziel und Kontext von Murners Übersetzung und dem intendierten Verfahren der Lektüre: Vergil lesen - in deutscher Sprache ( IV .). Die Eigenart von Murners deutscher Aeneis wird abschließend konturiert durch einen Blick auf Johannes Adelphus Mulings deutsche Bearbeitung von Vergils Eklogen (V.). I. Vielfältig wie die Stationen des unsteten Lebens des Franziskaners Thomas Murner ist seine literarische Produktivität. 12 Das Studium der Artes, der Rechte und der Theologie schlägt sich in rund 60 erhaltenen Werken nieder. Neben Lehrschriften aus den Bereichen Artes und Jura sind es geistliche Werke, dazu die Narrensatiren, in denen Murner sich an den befreundeten Brant anschließt, sowie zeitgeschichtliche und theologische Streitschriften und agitatorische Polemik, insbesondere gegen Luther. Ein Großteil der Werke ist lateinisch und bislang weitgehend unediert geblieben, ediert und seit langem bekannt sind die deutschen Schriften, allerdings mit Ausnahme der Übersetzungen. Und so ist der Editionsstand auch ein signifikantes Zeugnis der germanistischen Fachgeschichte, die sich ihre Gegenstände stärker von deren sprachlicher Verfasstheit als von der intellektuellen Physiognomie der Autoren bestimmen lässt. Zur Aeneis -Übersetzung Murners bemerkte Franz Josef Worstbrock: „Eine Ausgabe der Vergil-Übersetzung, einer der besten sprachlichen Leistungen M.s, ist ein spürbares Desiderat“. 13 romans in deutscher Sprache , Diss. Freiburg i. Br. 2001, S. 357 (online verfügbar: http: / / www.freidok. uni-freiburg.de/ volltexte/ 1087/ pdf/ DissertationSchroeter.pdf, gesehen am 11. März 2015). 10 Zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte insgesamt siehe Franz Josef Worstbrock, „Vergil (P. Vergilius Maro)“, in: 2 VL , Bd. 10, Berlin / New York 1999, Sp. 247-284. 11 Siehe hierzu auch die Beiträge in: Vergil und das antike Epos . Festschrift Hans Jürgen Tschiedel , hg. von Stefan Freund und Meinolf Vielberg, Stuttgart 2008 (Altertumswissenschaftliche Kolloquien 20). 12 Eine umfassende neuere und die Forschung weiterführende Gesamtdarstellung bietet der Artikel von Franz Josef Worstbrock, „Murner, Thomas“, in: Deutscher Humanismus 1480 - 1520 . Verfasserlexikon , Bd. 2, Berlin / Boston 2013, Sp. 299-368. 13 Ebd., Sp. 308. Eine Edition von Murners deutscher Aeneis , die synoptisch auch die lateinische Vorlage bietet, wird in Freiburg im Rahmen eines DFG-Projekts erstellt: Julia Frick, Thomas Murner, ‚ Aeneis ‘ <?page no="110"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 109 Murners deutsche Aeneis , 1515 bei Johannes Grüninger in Straßburg erschienen, ist in einer der zu dieser Zeit bedeutendsten Offizinen in der Kulturregion am Oberrhein gedruckt worden. 14 Das stattliche Folio-Format verdankt die Ausgabe jedoch weniger der Bedeutung des aufzunehmenden Textes als vielmehr der Tatsache, dass sie mit Holzschnitten ausgestattet werden sollte. Es sind die, die Sebastian Brant für das Folio-Format seiner großen kommentierten Vergil-Werkausgabe von 1502 entworfen hatte 15 und die nun - in einer reichen Auswahl - den Text von Murners Aeneis begleiten. Und wie in allen Druckausgaben des 15./ 16. Jahrhunderts werden die zwölf Bücher Vergils durch ein dreizehntes Buch ergänzt, das Supplement des Maffeo Vegio (1407-1458), das die Handlung nach dem Sieg über Turnus fortführt über die Hochzeit von Aeneas und Lavinia und die Übernahme der Herrschaft nach dem Tod des Latinus bis zur Aufnahme des Aeneas in die Welt der Götter. 16 Murner hat Brants Vergil-Ausgabe gut gekannt und sehr geschätzt, gerade auch wegen ihrer Holzschnitte. In seiner Verteidigungs- und Streitschrift Honestorum poematum condigna laudatio von 1503 äußert er sich zur gegenwärtigen Literatur, u. a. auch zu Brant und seinen mit Holzschnitten ausgestatteten Werken: ‚Sebastian Brant, unser ungemein kluger Landsmann, hat sich aus unserer Sicht unsterblichen Ruhm erworben wie einer, der für sein Gemeinwesen fällt, auf alle Zeiten, wie man sagt, durch seinen Ruhm weiterlebt‘. [Es folgt eine Würdigung der Stultifera navis und ihrer Holzschnitte.] ‚Hast du den Vergil gesehen, der in unserer kaiserlichen Stadt Straßburg mit unterschiedlichen Typen gedruckt und mit Bildern geschmückt wurde, so, dass man den Eindruck hat, Eolus selbst habe mit nahezu leibhaftigem Befehl das tosende Unwetter angestachelt, auch, dass Troja im Krieg zerstört wird und dass die neuen Mauern Roms in gefälliger Anschaulichkeit sich erheben und anderes mehr dieser Art‘. . 17 deutsch , Diss. Freiburg, Philolog. Fakultät, 2016 (Druck für 2017 / 2018 erwartet). Ich danke Frau Frick für die Möglichkeit, aus der Textausgabe zitieren zu können. 14 Siehe Franz Josef Worstbrock, Deutsche Antikerezeption 1450-1550 , Teil 1: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer, Boppard / Rhein 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1), Nr. 427, S. 158. VD16 V 1426; Digitalisat des Straßburger Drucks: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ bsb00002565/ images/ , gesehen am 15. März 2015. 15 VD16 V 1332. Digitalisat: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ bsb00001879/ images/ , gesehen am 18. März 2015. Siehe zu Brant als dem Concepteur der Holzschnitte Nikolaus Henkel, „Das Bild als Wissenssumme. Die Holzschnitte in Sebastian Brants Vergil-Ausgabe, Straßburg 1502“, in: Literatur und Kultur am Oberrhein um 1500 . Kolloquium Manchester 2011 , hg. von Stephen Mossman, Nigel F. Palmer und Felix Heinzer, Berlin / Boston 2012, S. 379-409. 16 Ausgabe des lateinischen Textes nach den frühen Handschriften: Das Aeneissupplement des Maffeo Vegio , eingeleitet, nach den Handschriften hg., übersetzt und mit Index versehen von Bernd Schneider, Weinheim 1985. Seit dem ersten Druck von Vergils Aeneis , Rom 1469, ist das 13. Buch Teil der folgenden Werkausgaben. 17 Sebastianum brant virum vndecumque prudentissimum conterraneum nostrum inmortalem vidimus gloriam conquisiuisse. vt qui pro republica caderet in eternum per gloriam viuere diceretur. […] Uidistin Uirgilium in hac nostra imperiali vrbe Argentina formis diuersis impressum et imaginibus decorum vt fere vitali precepto Eolus ipse tempestates videatur sonoras excitare, ilium destrui bello, vrbisque rhome menia noua visionis iucunditate exurgere et cetera id generis. (Thome murner honestorum poematum condigua [lies: condigna ] landatio [lies: laudatio ] Impudicorum vero Miranda Castigatio. [Straßburg, um 1503], VD16 M 7038, fol. b1r. Digitalisat: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ bsb00007884/ images/ , gesehen am 14. März 2015). Vgl. zu diesem Text Worstbrock (wie Anm. 12), Sp. 316 f. - Die von Murner erwähnten Holzschnitte der Vergilausgabe von 1502 sind: Eolus, fol. CXXIVv; Zerstörung Trojas, fol. CLXXIIv; auch fol. CLXVIv oder CLXVIIIv; das ‚neue‘ Rom, Anhang fol. IIIr und IIIv. <?page no="111"?> 110 Nikolaus Henkel Murner adressiert seine Vergil-Übersetzung an Kaiser Maximilian I., der, wohl 1505, Murner zum poeta laureatus gekrönt hatte, 18 doch sind die Umstände dieses Aktes nicht dokumentiert. Auch fehlt ein eigentliches, mit dem Lorbeer sonst verknüpftes Huldigungswerk für den Kaiser; zu prüfen ist jedoch, ob nicht die Aeneis -Übersetzung an die Stelle einer solchen Huldigung gerückt werden kann. Sie dürfte in den Jahren 1510-1515 entstanden sein, in denen Murner, rastlos wie immer und gleichzeitig auch mit anderen Werken beschäftigt, nacheinander in Bern, Speyer, Frankfurt, Straßburg und Trier nachweisbar ist. II. Das Titelblatt der deutschen Aeneis bringt eine knappe Widmung an Maximilian: Maximiliano / Dem durchlüchtigen / Vnüberwintlichen / Milten / Fridsamen vnd angeborner fürsichtikeit weisen Fürsten diese gelerte gab. A. E. I. O. V. Unüberwindlichkeit und Friedsamkeit sind die auf Wehrhaftigkeit und Friedfertigkeit gerichteten und einander ergänzenden Eigenschaften. 19 Murner wählt sie bewusst, weil sich in ihnen ein politisches Programm erkennen lässt, das auch dem Augustusbezug in Vergils Aeneis zugrundeliegt: die Pax Augusta oder Pax Romana . In diesem Zusammenhang ist die der Widmung angehängte Habsburger-Devise, die Maximilians Vater Friedrich III . eingeführt hatte, nicht - oder doch nicht nur - obligates Beiwerk, sondern Bedeutungsträger: Austriae Est Imperare Orbi Universo: ‚Österreichs Aufgabe ist es, über den gesamten Erdkreis zu herrschen‘. 20 Eine das literarische wie politische Verständnis leitende Perspektive auf die deutsche Aeneis gibt die ausführliche Vorrede. 21 Sie ist gekennzeichnet durch ein programmatisches Leitwort: ‚Friede‘. In unterschiedlichen Formen und Wortbildungstypen erscheint Friede insgesamt zwölfmal, davon neunmal auf Maximilian und einmal zugleich auf seinen Vater Friedrich III. bezogen sowie dreimal auf Vergil und den Friedenskaiser Augustus. Es handelt sich um die folgenden Wendungen: 18 Siehe dazu John L. Flood, Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook , 4 Bde., Berlin / New York 2006, Bd. 3, S. 1390-1396; Carola Redzich, „… in zeiten des fridens ein gelerte gab . Zu Thomas Murners Übertragung der Aeneis (1515) und ihrer Widmungsvorrede an Kaiser Maximilian I.“, in: Kaiser Maximilian I. ( 1459 - 1519 ) und die Hofkultur seiner Zeit , hg. von Sieglinde Hartmann und Freimut Löser, Wiesbaden 2009 (JOWG 17), S. 107-121. 19 Auch in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Institutiones Kaiser Justinians, des ersten Teils des Corpus Iuris Civilis , hebt Murner die Wehrhaftigkeit des Friedens hervor, worauf mich Julia Frick hinweist. Dort heißt es einleitend: Keyserliche Maiestadt soll nit allein mit woffen / sunder ouch mit gesatzen gezieret syn / das sy beide zyt des kriegs vnd des fridens recht gubernieren mug. ( Instituten und warer Ursprung unnd Fundament des keyserlichen Rechtens , Basel: Adam Petri, 1519. VD16 C 5233). Das Münchener Exemplar ESlg / 4 J.pract. 157(1) hat eine bemerkenswerte zeitgenössische, handschriftlich eingetragene Verbesserung: […] nit allein mit woffen gezieret / sunder ouch mit gesatzen gewaffent syn (Vorrede, fol. 1r), die man vielleicht Murner wird zutrauen dürfen. Digitalisat: http: / / reader.digitalesammlungen.de/ resolve/ display/ bsb10987686.html, gesehen am 12. März 2015. 20 Dies ist nur eine der zahlreichen, z. T. auch satirischen Auflösungen des Akronyms, von denen über 80 verzeichnet sind von Alfons Lhotsky, „A. E. I. O. U. Die ‚Devise‘ Kaiser Friedrichs III.“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 60 (1952), S. 155-193. 21 Abgedruckt in: Eckhard Bernstein, Die erste deutsche Äneis. Eine Untersuchung von Thomas Murners Äneis-Übersetzung aus dem Jahre 1515 , Meisenheim / Glan 1974 (Deutsche Studien 23), S. 105, danach auch die folgenden Zitate. <?page no="112"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 111 - Maximiliano dem vnüberwindtlichen durchlüchtigen Keiser in zeiten des fridens ein gelerte gab (zweimal, in der Widmung auf dem Titelblatt sowie als Einleitungssatz der Widmungsvorrede); - Maximilian, fürsichtiger Keiser / in zeiten des fridens möge die Gabe annehmen; - es sei für Maximilian in fridsamen zeiten nit vnzimlich […] zuo entpfahen Vergilium Maronem […] vß latynschem verß in tütsche reimen vnd gezwungne reden mechtig vnd gewaltigklich vertütschet vnd dalmetscht, vor mir ein vngehoertes vnderston . - ein Werk, das Vergil Augusto dem fridsamen keiser zuo latyn erdichtet hat / dadurch ein sül [‚Denkmal‘] von im vnd ein gegenwirtigs ewigs lob erlanget / zuo keinen zeiten ymmer ab zeloeschen / vnd ietz (nit on wunder) eben dir auch einem fridsamen gietigen fürsten von latynschem todt in tütsches leben ist erquicket worden ; - bei der gedechtniß Vergilii des fridsamen Keisers Augusti ; - Murner wünscht, dass Maximilian das Reich, das bei deinen vnd deiner genaden heiliger gedechtniß vatters zeitten vor allen anstoessern [‚Nachbarn‘] fridenreich ist regieret worden / weiters in friden bewarest ; - der fridsam ewig ruom Augusti ; - über Maximilian sagt Murner: dein fridenreichs regiment […] darzu ewiger friden hie vnd dort erschiessen mag ; - zu Maximilian: Gott möge dein angeborne giete vnd fridsames regiment nach seiner barmherzigkeit bewahren. Mit dem Leitwort ‚Friede‘ ist ein durch die stetige Wiederholung herausgehobenes Argument gestiftet, das in einer Art Beziehungsdreieck zwischen Murner, dem Kaiser und der Aeneis verhandelt wird und dessen historische Begründung und auf die Gegenwart um 1500 bezogene Tragweite zu prüfen sind. III. Mit dem Leitwort ‚Friede‘ bezieht sich Murner auf ein Konzept politischer Programmatik der augusteischen Zeit, das maßgeblich von der Literatur nach Caesars Tod im Jahr 44 v. Chr. und nach dem Ende der Bürgerkriege im Jahr 27 v. Chr. begleitet und vornehmlich literarisch formuliert wurde, vor allem in den Werken Vergils und des Horaz, und das bis in die späte Kaiserzeit Bestand hatte. 22 Es ist ein Konzept, das Murner und nicht wenige seiner Zeitgenossen in ihrer unmittelbaren Gegenwart in Kaiser Maximilian verwirklicht sahen. Dieses Konzept der Pax Augusta , später auch Pax Romana bezeichnet, meint nicht die Idee des Friedens an sich, sondern einen durch Sieg über die Feinde errungenen Frieden, einen 22 Siehe dazu die Antrittsvorlesung des Berliner Latinisten Ulrich Schmitzer, „Friede auf Erden? Latinistische Erwägungen zur pax Augusta in interdisziplinärer Perspektive“ (20. Januar 2004): http: / / edoc.hu-berlin.de/ humboldt-vl/ 148/ all/ PDF/ 148.pdf, gesehen am 11. März 2015. Schmitzer betont, dass der literarische Entwurf der Pax Augusta der politischen Umsetzung vorausgegangen sei. Siehe auch Andreas Luther, Historische Studien zu den Bucolica Vergils , Wien 2002 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte 698); Wilfried Stroh, „Horaz und Vergil in ihren prophetischen Gedichten“, in: Gymnasium 100 (1993), S. 289-322; Eckard Lefèvre, „Cicero und Vergil als literarische Zeugen des Übergangs vom Bürgerkrieg zur Pax Augusta. Von den ‚Orationes Philippicae‘ zur ‚Aeneis‘“, in: Latein und Griechisch in Baden-Württemberg 35 (2007), S. 32-45. <?page no="113"?> 112 Nikolaus Henkel Sieg-Frieden. 23 Augustus erwähnt in seinem inschriftlich u. a. im Monumentum Ancyranum überlieferten Bericht über seine Lebensleistung, dass der römische Senat nach seiner, des Augustus, Rückkehr aus den aufständischen Provinzen Spanien und Gallien in Rom einen Altar des ‚Augustus-Friedens‘ habe errichten lassen, die bis heute erhalten gebliebene Ara Pacis . Und dreimal habe der römische Senat in seiner, des Augustus, Amtszeit angeordnet, nach alt überliefertem Brauch die Pforten des Tempels des Janus Quirinus, des Kriegsgottes, zu schließen. 24 Es geht aber hier nicht um einen altertumswissenschaftlichen Exkurs auf einer germanistischen Tagung, sondern um ein politisches wie auch literarisch ausgeformtes Ideenkonstrukt, das in den Köpfen der geistigen Eliten um 1500, Murners, Brants, Lochers oder Wimpfelings und anderer Zeitgenossen, höchst aktuell war, ein Zeichensystem, das in dieser Zeit geradezu nach einer gegenwartsbezogenen Instrumentalisierung verlangte. Begründet war dieses Konstrukt in den antiken Texten, die um 1500 ganz selbstverständlich Teil des Kulturellen Gedächtnisses der Zeit waren. Einige Beispiele sollen genügen. In seiner 4. Ekloge aus dem Jahr 40 v. Chr. bietet Vergil die Vision von einer neuen, auf Frieden gegründeten Welt und von der Geburt eines göttlichen Kindes, das vom Himmel herabgesandt wird und das die Wiederkehr eines goldenen Zeitalters anzeigt ( Ecl . 4, 6-9; Bl. XIII r-v): 25 Jam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna, Jam noua progenies cęlo demittitur alto. Tu modo nascenti puero, quo ferrea primum Desinet et toto surget gens aurea mundo, Casta faue Lucina: tuus iam regnat Apollo. [‚nun kehrt die Jungfrau (sc. die Sibylle) wieder zurück und es kehrt zurück die Friedensherrschaft Saturns, nun wird ein neuer Spross herabgesandt vom hohen Himmel. Du, keusche Lucina, 26 sei der Geburt des Knaben gewogen, mit dem zum ersten Mal die eiserne Zeit endet und für die ganze Welt ein goldenes Geschlecht aufsteigt: nun herrscht dein Apoll.‘] Und weiter: Dieses Kind sei zur Herrschaft über die Welt ausersehen und werde den befriedeten Erdkreis in der Kraft seines Vaters regieren: pacatumque reget patriis virtutibus orbem ( Ecl . 4, 17; Bl. XIII v). Wir werden sehen, wie diese Stelle in die politisch-ideologische Fundierung der Zeit um 1500 eingeht. Das trifft ebenso auf die folgenden Beispiele zu. In seiner Aeneis (um 19 v. Chr. vor der letzten Überarbeitung abgebrochen) gibt Vergil an drei Stellen Zukunftsvisionen. Gleich die erste, eine Prophezeiung, die Jupiter seiner Tochter Venus über das zukünftige Schicksal Roms gibt, musste in der aktuellen Gegen- 23 Siehe dazu das einleitende Kapitel in: Klaus Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrung und Wahrnehmung des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986, S. 19-71. 24 Augustus, Meine Taten - Res gestae divi Augusti, nach dem Monumentum Ancyranum, Apollinense und Antiochenum, lateinisch-griechisch-deutsch hg. von Ekkehard Weber, München 1970, cap. 2,12-13. 25 Ich zitiere hier und sonst nach der von Sebastian Brant besorgten Vergil-Ausgabe Straßburg 1502 ( VD16 V 1332; siehe Anm.15). Sie weicht an einzelnen Stellen ab von der kritischen Textausgabe: P. Vergilii Opera , hg. von Roger Aubrey Baskerville Mynors, Oxford 1972. Siehe zu dieser Stelle Werner Kraus, „Vergils vierte Ekloge : Ein kritisches Hypomnema“, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II.31.1,1980, S. 604-645; Helmut Seng, Vergils Eklogenbuch. Aufbau, Chronologie und Zahlenverhältnisse , Hildesheim 1999. 26 Die Göttin des Lichts ( lux ) und der Geburt, also des Moments, in dem ein Kind das Licht der Welt erblickt. <?page no="114"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 113 wart von Vergils Text als Vision eines Friedens im Römerreich und als Vorausdeutung auf das Wirken des Herrschers der Zeit, Augustus, verstanden werden: ‚mit festen eisernen Riegeln werden die fürchterlichen Pforten des Krieges verschlossen werden‘ ( […] dirae ferro et compagibus artis / claudentur Belli portae ( Aen . 1, 293 f.). Und in der Unterweltfahrt im 6. Buch der Aeneis wird dem staunenden Trojaner bei der Begegnung mit dem Jenseitsschatten seines Vaters von diesem die Reihe seiner Nachkommen gezeigt, als Höhepunkt, und mit deutlicher Emphase, auch Augustus ( Aen . 6, 791-795; Bl. CCLXXXIII r / v): Hic vir hic est: tibi quem promitti sępius audis Augustus cęsar: diuum genus: aurea condet Sęcula: qui rursus latio regnata per arua Saturno quondam super et garamantas et indos Proferet imperium. [‚Dies, dies ist der Mann, der, wie du oft schon gehört hast, dir verheißen wird: Caesar Augustus, aus dem Geschlecht der Götter; er wird das goldene Zeitalter wieder über das Land bringen, das einstmals vom latinischen Saturn regiert wurde, und seine Herrschaft über die Garamanten und Inder ausdehnen.‘] Und ebenso emphatisch umreißt der Schatten des Anchises wenig später zusammenfassend die Aufgabe der Nachkommen des Aeneas, der Römer: ‚Du Römer, besinne dich darauf, die Völker durch Herrschaft zu lenken; dies werden deine Fähigkeiten sein, dem Frieden eine sittliche Ordnung zu geben, die Unterlegenen zu schonen, doch die Hoffärtigen niederzuringen‘. 27 Welche Bedeutung die Friedensidee gehabt hat, kann noch ein weiteres Zeugnis aus dem Imperium Romanum belegen, freilich nur aus der Provinz stammend. Im Sondergut des Evangeliums nach Lukas (Lc 2,14) wird gleichfalls von der Geburt eines göttlichen Kindes erzählt, das ebenso mit dem Friedensgedanken verbunden wird, wenn bei seiner Geburt von himmlischen Boten der Welt zugerufen wird: Gloria in altissimis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis . 28 Beide Vorstellungen, die von Vergil formulierte wie auch die des Evangelienberichts, prägen in beindruckender Präsenz das Mittelalter und gelten weit darüber hinaus. Für Vergil belegt das die reiche oben erwähnte Überlieferung: rund 1000 Handschriften und knapp 200 Inkunabelausgaben. 29 Und als Gloria in excelsis ist die Friedensbotschaft der Engel Teil der Messe vom frühen Mittelalter bis zum heutigen Tag. Die Friedensvorstellungen Vergils und des Neuen Testaments zusammenzusehen, ist aus der Sicht der Zeit um 1500 keineswegs abwegig. Der Kommentator der Straßburger Vergilausgabe von 1509, die Murner 27 Tu regere imperio populos romane, memento / Hę tibi erunt artes: pacique imponere morem: / Parcere subiectis: et debellare superbos (Aen. 6, 851-853; Bl. CCLXXXVv). 28 Das Messformular der Kirche nutzt eine ältere Übersetzung mit dem Wortlaut Gloria in excelsis . 29 Zu den Handschriften bis gegen 1200 siehe Birger Munk Olsen, L’étude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe siècles , 4 Bde., Paris 1982-2009, hier Bd. 2, S. 796-826; Bd. 4.1, S. 19-29. Zur weiteren Überlieferung siehe die Nachweise bei Nikolaus Henkel, „Vergil. Althochdeutsche Glossierung“, in: Althochdeutsche und altsächsische Literatur , hg. von Rolf Bergmann, Berlin / Boston 2013, S. 472-480. Zur Inkunabelüberlieferung vgl. Martin Davies und John Goldfinch, Vergil. A Census of Printed Editions 1469 - 1500 , London 1992 (Occasional Papers of the Bibliographical Society 7). Erfasst sind hier 84 Ausgaben des vergilischen Gesamtwerks einschließlich der ps.-vergilischen Dichtungen, dazu 12 Ausgaben der Aeneis , fünf Ausgaben der Bucolica zusammen mit den Georgica , 49 Ausgaben der Bucolica , 22 der Georgica sowie 13 der kleineren Texte. <?page no="115"?> 114 Nikolaus Henkel offenbar als Vorlage für seine Übersetzung benutzt hat, vermerkt zu der Friedensprophezeiung, dass zur Zeit des Augustus die Pforten des Kriegs verschlossen werden ( claudentur belli portae , Aen . 1, 294): ‚Eine von außen [d. h. von den Göttern] kommende wunderbare Prophezeiung beschreibt der Dichter [= Vergil], einen allgemeinen Frieden auf dem Erdkreis unter Augustus: unter seiner Herrschaft hat man Christus, den besten, höchsten und wahren Gott, in menschlichem Fleisch kommen sehen als Urheber des Friedens, damit er die Sünden der Welt auf sich nehme‘. 30 Für die Zeit um 1500 gehörte der aktualisierende Bezug auf die von Vergil formulierte Friedensidee zum geläufigen Inventar politischer Vorstellungen. Murners Freund Sebastian Brant greift sie mit Bezug auf Maximilian und seinen Vater Friedrich III. mehrfach in seinen Dichtungen auf, etwa anlässlich der Königswahl Maximilians 1486 mit Bezug auf das goldene Zeitalter in Vergils 4. Ekloge: ‚Sohn und Vater halten den Erdkreis im Zaum; unter ihrer Königsherrschaft kehren wieder die goldenen (Friedens-)Zeiten der Götter‘ ( Filius atque parens orbis moderantur habenas / Regibus his redeunt aurea saecla deum ). 31 Deutlicher noch tritt der Vergilbezug auf in einer Dichtung auf den Tod Kaiser Friedrichs III . (19. August 1493), die als Trostschrift und Ermunterung an dessen Sohn Maximilian gerichtet ist. Mit deutlichem Bezug auf die oben zitierte Stelle aus Vergils 4. Ekloge fordert Brant Maximilian zum politischen Handeln auf: ‚Nun ist die rechte Zeit gekommen, guter König, jetzt soll das Friedensreich Saturns wiederkehren‘ ( Tempus adest, bone rex, redeant Saturnia regna ). 32 Oder wenn Brant Maximilian an anderer Stelle auffordert: ‚Mach, dass für die Welt durch dein Wirken die guten Zeiten des Friedens wiederkehren‘ ( Fac mundo per te redeant bona saecula pacis ). 33 Die Anknüpfung des von Maximilian erhofften Friedens an die Dichtung Vergils, insbesondere die Aeneis und deren Zielpunkt Augustus als den Begründer des Imperium Romanum , kommt nicht von ungefähr. Bereits die Antike hatte beobachtet, dass Vergils Anliegen nicht nur war, in Art einer Vorzeitgeschichte den Untergang Trojas und die Geschichte des Aeneas darzustellen, sondern in der Aeneis die in der Vergangenheit liegende Vorausdeutung auf das Friedensreich des Augustus in Vergils unmittelbarer Gegenwart zu 30 Externum hoc atque mirum poete vaticinium / vniversalem pacem orbis sub augusto describens: sub cuius imperio auctor pacis Christus optimus, maximus deus verus humana carne visus est in mundum venisse / vt tolleret peccata mundi ( VD16 V 1409, fol. XXIr-v. Digitalisat: http: / / reader.digitale-sammlungen.de/ resolve/ display/ bsb11048043.html, gesehen am 19. März 2015). Dieser heilsgeschichtliche Bezug erinnert, ohne dass irgendein Zusammenhang besteht, an Heinrichs von Veldeke Eneasroman , der am Schluss der Erzählung ein Register der Nachkommen des Eneas bis hin zu Augustus bietet: ez wart bî sînen zîten / vil stâter fride unde gût und anfügt: bî des zîten wart der gotes sun / geboren ze Bethlehêm (V. 13 404 f. und 13 412 f.). Doch Veldekes Werk ist in dieser Zeit lange vergessen und hätte auch ganz außerhalb der literarischen Interessen der intellektuellen Elite der Zeit um 1500 gelegen. 31 Sebastian Brant, Kleine Texte , hg. von Thomas Wilhelmi, 3 Bde., Stuttgart / Bad Cannstatt 1998, hier Bd. 1, Nr. 35, V. 11 f., S. 46. 32 Ebd., Nr. 86, V. 49, S. 100. 33 In der Dichtung zu den Wormser Zwillingen: ebd., Nr. 153, V. 76, S. 238: diese Wesen seien ‚freundlich gesinnte Wunderzeichen eines festen Friedens‘ ( monstra […] solidae pacis amica ). Und am Schluss der Dichtung wünscht Brant Maximilian ein langes Leben und dass er noch länger das befriedete Reich führen möge: Pacatumque regas longius Imperium (ebd., V. 110, S. 239). Brant referiert an zahlreichen weiteren Stellen in seinen Dichtungen auf den unter Maximilians Herrschaft erhofften Frieden; ich nenne nur die folgenden: ebd., Nr. 161, V. 115, S. 258; Nr. 167, V. 52 und 109-112, S. 272, 274; Nr. 175, V. 102, S. 287; dazu Nr. 164, V. 28, S. 269: In terris bona pax . <?page no="116"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 115 fassen. 34 Der spätantike Kommentar des Servius formuliert bündig, Vergils Absicht in seiner Aeneis sei gewesen, Augustum laudare a parentibus : ‚Augustus zu rühmen von seinen Vorfahren her‘, gemeint sind Aeneas und seine Nachkommen. 35 Dieser Kommentar ist in der gesamten Wirkungsgeschichte der Aeneis , also auch um 1500 omnipräsent, u. a. in Sebastian Brants Vergilausgabe von 1502. Murner verlängert das von Vergil inszenierte Verfahren einer politischen Vorausdeutung in seine eigene - und Maximilians - Gegenwart und zieht eine Linie von Aeneas als der von Vergil intendierten Präfiguration des Friedenskaisers Augustus hin zu Maximilian, dem erhofften Friedenskaiser der Zeit um 1500. Freilich, diese Gegenwart sah anders aus. Dieter Mertens, der gegenwärtig beste Kenner der politischen und Ideengeschichte der Zeit Maximilians, hat gerade die kriegerische Grundhaltung des Kaisers hervorgehoben, der auch die rund 40 in seiner Zeit dichtenden poetae laureati in ihrer auf Kampf, Sieg und Triumph ausgerichtete Panegyrik nachzukommen suchten. Friede werde hier, so Mertens, erst als Resultat von Krieg und Sieg gefeiert: Sieg-Friede. Allgemein stellt er fest: „Die Symbiose von Herrscher und Literaten in der Aetas Maximilianea ist das bewusst gestaltete Produkt einer Konvergenz politischer und bildungsgeschichtlicher Entwicklungen im Reich“. 36 Vergils Aeneis , seit je im Zentrum der europäischen Bildungsgeschichte stehend, lieferte in unterschiedlichen Zeitumständen Bausteine für innerliterarische modellbildende Zwecke wie auch für die argumentative Weiterentwicklung der politischen Idee. Mit seiner Aeneis -Übersetzung zielt Murner gewissermaßen auf die translatio eines politischen Konzepts des Imperium Romanum einschließlich der Pax Romana auf das Römische Reich unter Maximilian. Damit dient Murner dem Kaiser anders als andere poetae laureati , die das Lob Maximilians ausdrücklich integrierten, wie es etwa Murners Zeitgenosse Riccardo Bartolini (um 1475-1529) tat, der die zwölf Bücher seiner Austrias mit seiner an Vergil und Statius orientierten epischen Darstellung des bayerisch-pfälzischen Erbfolgekriegs der Jahre 1504 / 1505 34 Siehe dazu die Interpretation von Friedrich Klingner, „Virgil und die römischen Idee des Friedens“, in: ders., Römische Geisteswelt , 5., vermehrte Auflage München 1965, S. 614-643. Aktuell dazu Ernst A. Schmidt, „Vergils Aeneis als augusteische Dichtung“, in: Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen [! ] und Funktionswandel vormoderner Epik , hg. von Jörg Rüpke, Stuttgart 2001 (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 4), S. 65-92; „[d]er Weg Vergils zum Epos ist eindeutig politisch akzentuiert und zugleich auf Augustus ausgerichtet“ (ebd., S. 76). 35 In der Vorrede zum Kommentar: Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentaria , hg. von Georg Thilo / Hermann Hagen, Bd. 1-3.1-2, Leipzig 1881-1887, hier Bd. 1, S. 4, 10 f. 36 Dieter Mertens, „Maximilians gekrönte Dichter über Krieg und Frieden“, in: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus , hg. von Franz Josef Worstbrock, Weinheim 1986, S. 105-123; das Zitat hier S. 115. Zur Bedeutung von Literatur in der Hofkultur Maximilians, insbesondere zur Sicherung des literarischen Andenkens siehe Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. , München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), mit einer Konzentration auf die deutschsprachigen Texte. <?page no="117"?> 116 Nikolaus Henkel zum Lobe Maximilians verfasste: 37 Hier wird am Anfang von Buch IX Maximilian angerufen, die Sehnsucht der Völker nach Frieden zu erfüllen. 38 Der Text von Murners deutscher Aeneis bietet indes keinerlei expliziten Verweis auf die aktuelle Gegenwart und auf Maximilian, obwohl es leicht gewesen wäre, aus den Verweisen Vergils auf die Stiftung zukünftigen Friedens durch Augustus einen Bezug zu Maximilian herzustellen. Es scheint vielmehr, dass Murner die Konstruktion eines solchen Jetztzeitbezugs ganz bewusst dem Leser der deutschen Verse anheimstellt, nachdem die Vorrede die Herstellung solch eines Bezugs bereits programmatisch inszeniert hatte. In der deutschen Aeneis öffnet sich der von Vergil auf Augustus ausgerichtete Gegenwartsbezug nun auf die Zeit Maximilians hin. Der in der Widmung angesprochene Friedenskaiser erscheint als Fortsetzer des Friedensreichs des Augustus. Dabei kommt noch ein taktisches Kalkül zum Tragen. Wie bei der Widmung von Druckwerken vielfach zu beobachten, 39 dient die Widmung an den Kaiser vor allem als ‚Türöffner‘ für eine Vergil-Lektüre in der Volkssprache. Murners Ziel ist, diesen für seine Gegenwart aktuellen Text auch denen zugänglich zu machen, die sich außerhalb der lateinischen Welt der intellektuellen Eliten bewegten. 40 Im Zusammenhang damit steht eine bemerkenswerte Wendung in der Widmung: durch ihn sei der Text Vergils von latynschem todt in tütsches leben […] erquicket worden . 41 Der hier erkennbare Gestus der Wiedererweckung eines in seiner sprachlichen Verfasstheit ‚toten‘ Werks zu neuem ‚Leben‘ ist für die Selbstinszenierung der Humanisten typisch, dort freilich anders gerichtet, wo - in der lateinischen Bildungskultur der intellektuellen Eliten - Verlorenes oder Vergessenes wieder ans Licht gebracht wird. Bedeutendes Beispiel sind der Kuriensekretar Poggio Bracciolini und seine Wiederentdeckungen bis dahin verschollener antiker Autoren während seines Aufenthalts auf dem Konstanzer Konzil: die kleinen Schriften des Tacitus einschließlich der Germania , 42 37 Straßburg: Matthias Schürer, 1516. VD16 B 562; eine Ausgabe fehlt. Benutzt wurde das Digitalisat der BSB München: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ bsb00004355/ images/ , gesehen am 12. März 2015. Siehe insbesondere Stephan Füssel, Riccardus Bartolinus Perusinus. Humanistische Panegyrik am Hofe Maximilians I. , Baden-Baden 1987 (Saecula spiritalia 16). Zu Bartolini siehe auch Mertens (wie Anm. 36), besonders S. 110, 113-115, sowie Müller (wie Anm. 36), S. 159-169, 174-179. Vgl. zur Vergilimitation Bartolinis auch Elisabeth Klecker, „Mit Vergil im Seesturm. Parodie und Panegyrik bei Riccardo Bartolini, Austrias IX, Rvir-Rviiv“, in: ‚Parodie‘ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit , hg. von Reinhold F. Glei und Robert Seidel, Tübingen 2006, S. 321-344. 38 VD16 B 562 (wie Anm. 37), fol. Rviiiv. 39 Vgl. Barbara Weinmayer, Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken, München 1982 (MTU 77). 40 Klaus Manger, Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg ( 1478 - 1510 ) , Heidelberg 1981 (Heidelberger Forschungen 24), S. 100 f., vertritt die Ansicht: „Die Besonderheit der Aeneis-Übersetzung besteht darin, daß Murner sich gegen die gewöhnlich allegorisierende Ausdeutung des Werkes wendet“. Das ist eine deutliche Fehleinschätzung. Die allegorische Interpretation ist in Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine Randerscheinung. In dem in den Handschriften bzw. Drucken, in Glossen und Kommentaren zu beobachtenden Studium des Vergiltextes ist sie kaum repräsentiert. Die Glossen und Kommentare zeigen vielmehr, dass Wortbedeutung, Wortbildung, Wortstellung, Syntax, rhetorische Figuren und Realien, d. h. ein möglichst komplexes Verständnis des Textes im Mittelpunkt standen. 41 Siehe den Abdruck der Widmungsvorrede bei Bernstein (wie Anm. 21), S. 105. 42 Siehe die Nachweise in: Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics , hg. von Leighton D. Reynolds, reprinted with corrections, Oxford 1986, S. 410 f. <?page no="118"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 117 Reden Ciceros, 43 die Silvae des Statius, 44 De architectura des Vitruv, 45 Lukrezens De rerum natura 46 und andere mehr. Murners Übertragung dieses humanistischen Topos der Wiedererweckung auf das Verhältnis von Latein und Volkssprache, von latynschem todt in tütsches leben , ist, wenn ich recht sehe, nahezu einmalig. 47 Sie zielt auf die Erschließung eines Bildungsschatzes, der in der Welt seiner lateinischen Sprache eingeschlossen war, für diejenigen, die, obwohl in einem fortgeschrittenen Bildungsstadium vorzustellen, zuvor keinen Zugang zu dieser exklusiven - und exkludierenden - Welt hatten. IV. Die auf den Frieden des Römischen Reichs unter der Herrschaft Maximilians zielenden Formulierungen der Vorrede ergänzt Murner durch Aussagen über Art und Intention seiner deutschen Aeneis : Die Erinnerung an die Götter, die ietz für tüffel geacht werden , habe er nicht tilgen wollen, so ich ein dalmetsch vnd kein dichter was . 48 Deswegen sei er dem Text eng gefolgt, damit diejenigen Leser, die sich am Werke Vergils üben wollen ( so sich in Vergilio ieben als dem anmütigsten latynschen man vff erden , fol. Aiv), über die deutsche Fassung den Weg zu Vergils lateinischem Werk finden. Das hat der von Murner intendierte studierende Leser neben der deutschen Versfassung in einem gesonderten Buch zur Verfügung. Um die Verbindung zwischen beiden Büchern für die Leser praktikabel zu gestalten, habe er, Murner, seine deutsche Bearbeitung vssenwendig mit verzeichnetem latyn ausgestattet, das menglich schier on meister Vergilium lesen moeg / vnd was gewaltigs dalmetschen sie dabei erlernen . Diesem Zweck dienen die am Rand der deutschen Textkolumnen verzeichneten lateinischen Initien der jeweils übersetzten Passage. Diese Verweise sind ausgesprochen 43 Ebd., S. 83-85. 44 Ebd., S. 397-399. 45 Ebd., S. 440-445. 46 Ebd., S. 218-222. Karl Lachmann hatte 1850 die maßgebliche kritische Ausgabe des Textes vorgelegt ( T. Lucreti Cari De rerum natura libri sex , recensuit et emendauit Carolus Lachmannus, Berlin 1850). Die im Fach seit langem bekannten Fakten hat Stephen Greenblatt 2011 zu einem für die breitere Öffentlichkeit bestimmten wissenschaftshistorischen Zeitpanorama verarbeitet, das eine erstaunliche Resonanz gefunden hat unter dem Beachtung fordernden Titel: Stephen Greenblatt, The Swerve. How the World Became Modern , deutsch unter dem Titel: Die Wende. Wie die Renaissance begann , aus dem Englischen von Klaus Binder, München 3 2012. Poggios andere Funde verschollener Texte der Antike bleiben in Greenblatts Darstellung unbeachtet. 47 Einige Parallelen benennt Manger (wie Anm. 40), S. 100, Anm. 55. 48 Dahinter dürfte die von Horaz geprägte Formel vom fidus interpres stehen (Horaz, Ars poetica , V. 133 f.), die, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang schon früh isoliert, im Sinne eines zwar vorlagengetreuen, aber nicht dem Wort-für-Wort-Prinzip folgenden Übersetzens eingesetzt wurde. Von besonderer Bedeutung ist die um 1500 reich rezipierte Epist. 57 des Hieronymus De optimo genere interpretandi (hg. von Gerhardus J. M. Bartelink, Leiden 1980); siehe dazu Ulisse Cecini, Alcoranus latinus. Eine sprachliche und kulturwissenschaftliche Analyse der Koranübersetzungen von Robert von Ketton und Marcus von Toledo , Berlin 2012, S. 40-48; Christiane Norden, „Hieronymus als Übersetzer. Von Unterschied zwischen Theorie und Praxis“, in: ‚Vom Altern der Texte‘. Bausteine für eine Geschichte des interkulturellen Übersetzens , hg. von Hartwig Kalverkämper und Larisa Schippel, Berlin 2012, S. 141-158; siehe zur humanistischen Umsetzung der Vorstellungen auch Sven Limbeck, Theorie und Praxis des Übersetzens im deutschen Humanismus. Albrecht von Eybs Übersetzung der ‚Philogenia‘ des Ugolino Pisani , Diss. Erlangen 2000; Simone Drücke, Humanistische Laienbildung um 1500 . Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried , Göttingen 2001 (Palaestra 312), besonders S. 141-152. <?page no="119"?> 118 Nikolaus Henkel Abb. 1: Thomas Murner, Aeneis deutsch, Straßburg 1515, fol. Viv (1,423-454) <?page no="120"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 119 dicht gesetzt, im Abstand von etwa 3 bis 10 Versen des Originals (Abb. 1). Murners Ziel ist also, dass der intendierte Leser die deutsche Übersetzung gewissermaßen als ‚Trittstein‘ für das Studium des daneben liegenden, also synoptisch verfügbaren lateinischen Originals benutzt. 49 Das Ziel dieser gewissermaßen bilingualen Lektüre ist durchaus praktischer Natur: es soll als Vorbereitung auf das Studium des Römischen Rechts dienen und richtet sich an diejenigen, die nach verfaßtem latyn Keiserliche recht begeren zu leeren / die vnder allen rechten in dem gezierteschten latyn verschriben sein . Damit will Murner dem Kaiser offenbar einen praktischen Nutzen der Aeneis -Lektüre für diejenigen offerieren, die als studierte Juristen später in den Hofdienst eintreten sollen. Das scheint aber bei Lichte betrachtet weit von jeder realistischen Anwendung entfernt zu sein: Wortschatz, Syntax und erst recht die metrische Form der Aeneis haben nichts gemein mit der Sprache des Rechts. Und die kennt Murner sehr gut, hat er doch u. a. als Hilfe für Juristen die Tituli des weltlichen wie des kanonischen Rechts in zweisprachigen Ausgaben und mehrere Übersetzungen von juristischen Texten vorgelegt. 50 Zu Murners juristischen Arbeiten notiert Worstbrock: „Was der Jurist M[urner] schrieb, diente nicht der Wissenschaft, sondern allein einer einfachen, möglichst gemeinverständlichen Vermittlung des kaiserlichen und des kirchlichen Rechts, die er zu seinem Programm erhob“. 51 Was Murner in der Vorrede seiner deutschen Aeneis offeriert, ist eine rätselhafte, weil praxisferne Funktion der Vergillektüre, die denn auch in der Folgezeit keine erkennbaren Spuren hinterlässt. Man wird den Rekurs auf die vorbildliche Latinität des Römischen ( kayserlichen ) Rechts in diesem Zusammenhang eher als Teil der Huldigung an Maximilian denn als praktische Gebrauchsempfehlung lesen müssen. Murners Übersetzungsweise sei knapp umrissen. Er benutzt den freien Knittelvers, in der Regel paarig gereimt, doch kommen nicht selten auch Dreireime vor, doch meist ohne jede hervorhebende oder strukturierende Intention. 52 Die Übersetzung ist in der Regel auch ohne den lateinischen Text gut verständlich, aber es gibt Stolpersteine, die zeigen, dass Murner sich manchmal - möglicherweise aus sprachdidaktischer Intention - eng bis zur Unverständlichkeit an den lateinischen Text bindet. Dazu einige Beispiele: Von dem Trojaner Antenor, der mit seinen Söhnen aus Troja flieht und im Veneto die Stadt Padua gründet, wird gesagt, dass er Troyansche stül gesetzet hat, / Padow gebuwt, ein schöne stat (1, 485 f.). 53 Was diese ‚trojanischen Stühle‘ sein sollen, wird klar, wenn man, wie Murner ja will, in den lateinischen Text schaut. Dort heißt es: Hic tamen ille vrbem Pataui sedesque locauit / Teucrorum ( Aen . 1,247 f.; ‚Hier gründete jener [sc. Antenor] die Stadt Patavium, den Wohnsitz der Teucrer‘). 49 Murner verwendet solche am Rand beigedruckten Verweise auf die lateinische Vorlage auch in seiner Übersetzung der Institutionen Kaiser Justinians, des ersten Teils des Corpus Iuris Civilis , erschienen 1519 in Basel bei Adam Petri; siehe Anm. 19. 50 Siehe zu den juristischen Schriften und Übersetzungen Murners Worstbrock (wie Anm. 12), Sp. 339-341. 51 Ebd., Sp. 339. 52 Insofern ist der Dreireim hier spontan, nach dem jeweiligen Formulierungsbedarf, eingesetzt, anders also als in der höfischen Epik des 13. Jahrhunderts, siehe hierzu Wolfgang Achnitz, „Die Bedeutung der Drei- und Vierreime für die Textgeschichte des Erec Hartmanns von Aue“, in: editio 14 (2000), S. 130-143; sowie ders., „ ein rîm an drîn worten stêt . Überlegungen zur Verbreitung und Funktion von Mehrreimen in mittelhochdeutscher Reimpaardichtung“, in: ZfdA 129 (2000), S. 249-274. 53 Die Zählung bezieht sich hier wie sonst auf die genannte Edition von Julia Frick (vgl. Anm. 13). Eine Editionsprobe (Buch 1) ist gegenwärtig verfügbar unter: http: / / portal.uni-freiburg.de/ germanistischemediaevistik/ bilder-dateien/ probeedition. <?page no="121"?> 120 Nikolaus Henkel Ganz vergleichbar ist eine Stelle aus dem 6. Buch: Da erschein der iungen handt / vnd bgirden in das Welisch landt (6,9 f.). Im lateinischen Text lautet diese Stelle: iuuenum manus emicat ardens / Littus in Hesperium ( Aen . 6,5 f.; ‚Die Schar der Jungen springt voller Eifer an den Strand Hesperiens [Italiens]‘). Murner gibt hier manus mit der Grundbedeutung ‚Hand‘ wieder, nicht mit der an dieser Stelle zutreffenden übertragenen ‚Handvoll, Schar‘. Eine andere Intention des Übersetzers kommt an der folgenden Stelle zum Zug. Im Gespräch Jupiters mit seiner Tochter Venus im 1. Buch, beklagt diese die Not der Trojaner und ihres Sohnes Aeneas; da lächelt ihr der Göttervater zu und tröstet sie: Jupiter der rede schon vnderlacht, / der göt vnd menschen hat gemacht (1,501 f.). Vergils Text bietet an dieser Stelle: Olli subridens hominum sator atque deorum ( Aen . 1,254; ‚Ihr lächelt der Schöpfer der Götter und Menschen zu‘). Das Verb underlachen ist im 15./ 16. Jahrhundert einige Male belegt, freilich stets in Kontaktposition mit lat. subridere , und zwar in lateinisch-deutschen Glossaren - und eben einige Male in Murners Übersetzung. Stets wird dabei das lateinische Wortbildungsmuster sub-ridere durch under-lachen in der Volkssprache formal nachvollzogen, ein sprachdidaktisches Phänomen, das wir in der Wortbildung des Deutschen im Rahmen der Glossierung lateinischer Texte seit dem 9. Jahrhundert beobachten. 54 Ähnlich ist der folgende Fall gelagert: die Bezeichnung der Römer als gens togata ( Aen . 1,282), als Volk also, das sich von den Nichtrömern durch ihre Toga unterscheidet. Die gens togata erscheint in Murners Übersetzung als das gementlet volk , die Römsche schar (1,551). Auch das Verb menteln ist durchaus belegt, freilich mehrheitlich in Glossaren, wo es lat. palliare ‚mit dem Pallium bekleiden, umhüllen‘ wiedergibt. 55 Auch diese Phänomene dürften als Ausdruck des von Murner in der Vorrede formulierten Selbstverständnisses als dalmetsch angesehen werden, der die Freiheit des dichters zurückweist. Dass Murners deutsche Aeneis aber auch Missverständnisse und regelrechte Übersetzungsfehler aufweist, ist angesichts der in seiner Zeit verfügbaren Hilfsmittel nicht erstaunlich. Die von Julia Frick vorbereitete und die Edition von Murners Text begleitende Untersuchung wird dieses Phänomen, auf das Eckhard Bernstein zuerst aufmerksam gemacht hat, 56 näher untersuchen. Murners Stellung innerhalb des reichen Bestandes deutscher Übersetzungen antiker lateinischer Texte ist in mehrfacher Hinsicht singulär. Zum einen: Seine Übersetzung ist die einzige der Aeneis überhaupt bis zu der ganz wirkungslos gebliebenen Versübersetzung des akademisch gebildeten Augsburger Meistersingers Johannes Spreng († 1601), die erst 1610 postum im Druck erschienen ist. 57 Zum andern: Gegenstand der Antikeübersetzungen aus 54 Belege: DWb 24, Sp. 1647. Im Althochdeutschen kommt das Gros der mit untargebildeten Komposita nur als Glosse vor, siehe die Liste bei Rudolf Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch , 6. überarbeitete und um die Glossen erweiterte Auflage, Tübingen 2006, S. 384 f. Zur Verbreitung dieses Phänomens in der frühen volkssprachlichen Glossierungspraxis siehe Nikolaus Henkel, „Deutsche Glossen. Zum Stellenwert der Volkssprache bei der Erschließung lateinischer Klassiker“, in: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters , hg. von Wolfgang Haubrichs, Ernst Hellgardt, Reiner Hildebrandt u. a., Berlin 2000 (Ergänzungsbände zum Reallexikon für Germanische Altertumskunde 22), S. 387-413. 55 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch , Bd. 1, Leipzig 1852, Sp. 2030 s. v. manteln . 56 Eckhard Bernstein, „Thomas Murner’s Latin: Some Notes on the First German Aeneid“, in: Classical Folia 26 (1972), S. 72-82. 57 Hier dient die Aeneis -Übersetzung gewissermaßen als Fortsetzung von Sprengs Übersetzung von Homers Ilias zur Komplettierung eines deutschen gereimten Troja-Buchs. Siehe auch Petra Fochler, Fiktion als Historie. Der Trojanische Krieg in der deutschen Literatur des 16 . Jahrhunderts , Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 4), S. 82-96; weiterhin: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen , hg. von Horst Brunner, Wiesbaden 1990 <?page no="122"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 121 der Zeit von 1450-1550 sind in der Regel Prosatexte, die auch in Prosa übersetzt werden. Die gleichfalls zum Bildungskanon gehörenden Epen des Lucan oder Statius oder gar die Carmina des Horaz wurden bis gegen 1550 z. B. überhaupt nicht übersetzt. Insofern ist Murners deutsche Aeneis ein Sonderfall. Die von Jörg Wickram veröffentlichte Übersetzung von Ovids Metamorphosen steht in ganz anderen Zusammenhängen: Ihre Vorlage ist bekanntlich die deutsche Versbearbeitung Albrechts von Halberstadt aus der Zeit um 1200. Und Wickrams deutsche Metamorphosen -Ausgabe hat ein anderes Zielpublikum: Sie soll Goldschmiede und andere Kunsthandwerker in Stand setzen, antike mythologische Themen, wie sie in der italienischen Kleinkunst allenthalben seit dem 15. Jahrhundert verfügbar waren, selbst zu gestalten. Hinsichtlich der von Murner als dalmetsch intendierten Bindung seiner Bearbeitung an das Lateinische könnte man eventuell die rund 40 Jahre früher entstandenen Übersetzungen des Niklas von Wyle vergleichen, der seine deutsche Prosa den Regeln des Lateinischen nachzugestalten beabsichtigte. „Übersetzen bedeutete für Wyle zunächst ein Verfahren seines Unterrichts“ 58 und zielte auf den Gebrauch einer an der Mustergültigkeit des Lateinischen geschulten Volkssprache. Insofern könnte man an die von Murner ins Spiel gebrachte Vervollkommnung der Sprachfertigkeiten für den Umgang mit dem kaiserlichen Recht denken, doch während es Murner um die Schulung der Lateinkompetenz durch die deutsch-lateinische Aeneis -Lektüre ging, zielte Wyle auf die Beherrschung des Deutschen. Murners deutsche Aeneis ist also ganz offensichtlich ein Einzelgänger innerhalb der Übersetzungsliteratur der Frühen Neuzeit. Umso erstaunlicher ist ihre bemerkenswert breite Drucküberlieferung. Die Straßburger Erstausgabe mit den Holzschnitten von Brants großer Vergil-Ausgabe von 1502 scheint offenbar nach ihrem Erscheinen im Jahr 1515 zunächst über fast 30 Jahren vergessen zu sein. Erst dann folgt in den Jahren 1543-1563 mit sechs weiteren Ausgaben eine Phase intensiverer Rezeption: - Worms: Gregor Hofmann, 1543 ( VD16 V 1427) - Worms: Gregor Hofmann, [1543] ( VD16 V 1429) - Worms: Gregor Hofmann, [1544] ( VD16 V 1428) - Frankfurt a. M.: David Zoepfeln zum Eysern hut , 1559 ( VD16 V 1430) - Straßburg: Christian Müller d.Ä., 1559 ( VD16 V 1431) - Frankfurt a. M.: David Zoepfeln zum Eysern hut , 1563 ( VD16 V 1432) Dazu kommt ein später, offenbar isolierter Nachläufer: - Jena: Johann Weidner, 1606 ( VD 17 1: 043 261R). 59 (Wissensliteratur im Mittelalter 3), S. 139-142, wo aber Murners Aeneis -Übersetzung nicht erwähnt wird. 58 Franz Josef Worstbrock, „Niklas von Wyle“, in: 2 VL , Bd. 6, Berlin / New York 1987, Sp. 1016-1035, hier Sp. 1029. 59 Virgilii Maronis zwölff Bücher: Item das Buch Maphei / von dem thewren Helden Aenea, Was der zu Wasser und Land bestanden. Jetzund von newen wiederumb ubersehen / mit Fleis corrigiret / und schönen Figuren gezieret, Leipzig 1606. Schlüsselseiten: http: / / gateway-bayern.de/ VD17+1%3A043261R, gesehen am 12. März 2015. Eine genauere Untersuchung der Drucke wird die erwähnte Dissertation von Julia Frick (wie Anm. 13) bieten. <?page no="123"?> 122 Nikolaus Henkel Maßgeblich wird für die Folgedrucke die Wormser Ausgabe von Gregor Hofmann von 1543. 60 Die Widmung an Maximilian und der Name des Übersetzers, des Franziskaners Murner, fehlen hier und von nun an generell, was wohl auch dem Einfluss der Reformation in Worms zuzuschreiben ist. Murners programmatische Ausrichtung der Aeneis -Lektüre unter dem Aspekt einer Translatio der Pax Augusta in seine und Maximilians Gegenwart ist damit aufgegeben. Aber sie war offenbar auch nicht mehr nötig für eine Lektüre der Aeneis in deutscher Sprache. Statt an Maximilian richtet sich die Vorrede des anonymen Bearbeiters und Herausgebers von 1543 an den Leser. Zum Übersetzer sagt sie nur, dass die Aeneadische bücher Vergilij / vor vil jaren / von einem gelerten Man verteutschet vnd außgangen seien. Und die Vorrede fährt fort: Seind sie jetz wider auffs new getruckt / vnd an vil orten corrigiert / die reymen gebessert / auch ein jedes Buoch mit seim sonderlichen Begriff [gemeint sind die Argumenta] / sampt einer schönen Figur darzuo gehörig / gemeret vnnd gezieret worden. Welches alles du selbs im lesen / mehr dann ich dir hie in kürtz anzeigen kann / erkennen würst (fol. 1v). Die in dieser Vorrede angesprochenen Korrekturen betreffen zum einen Phänomene des Sprachwandels (Wortersatz) 61 oder sind Änderungen, die aus der gegenüber dem alemannischen Straßburg weiter nördlich gelegenen rheinfränkischen Druckersprache in Worms resultieren. Zum Teil versucht der anonyme Bearbeiter auch, durch Änderung der Wortstellung, durch Füllwörter oder Ausgleich der Silbenzahl die Verse zu glätten. Erhalten bleiben aber, wenngleich in reduzierter Zahl und leicht verändert, die am Rand beigedruckten Initien in lateinischer Sprache, die, sofern es vom Leser gewünscht wurde, den Weg zu den Versen Vergils weisen können. Dazu kommen die neuen Holzschnitte der Quartausgabe, die sich zwar im Bildaufbau und -gehalt orientieren an den Bildinhalten der im Folioformat gedruckten Straßburger Ausgabe von 1515, die sich nun aber in relativ kunstloser Ausführung auf das kleine Format der Folgeausgaben ausrichten müssen, und dies in reduzierter Zahl, nur noch als Einleitung zu den einzelnen Büchern. Dieser Ausstattung folgen die weiteren Ausgaben. Insgesamt zeigen diese sechs Folgeausgaben der Jahre 1543-1563 eine über rund 50 Jahre fortdauernde Akzeptanz der Versübersetzung Murners. Wenn man für jede dieser Ausgaben mit etwa 300-800 Exemplaren rechnet, erweist das eine nicht unbeträchtliche Wirkung, die jedoch ausläuft lange bevor 50 Jahre später Sprengs neue Übersetzung der Aeneis erscheint. Der in größerem zeitlichen Abstand 1606 erscheinende Druck von Murners Übersetzung liegt offensichtlich abseits der kohärenten Sequenz der Ausgaben von 1543 bis 1563, was jedoch weiterer Untersuchung bedarf. V. Das Ziel, den Leser über eine deutsche Übersetzung zur Lektüre des lateinischen Textes zu begleiten, verfolgt auch Johannes Adelphus Muling mit seiner deutschen Ausgabe von Vergils Eklogen, doch wählt er einen methodisch anderen Weg. Seine Bearbeitung ist in 60 Vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16 . und 17 . Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet , auf der Grundlage des gleichnamigen Werks von Josef Benzing bearbeitet von Christian Reske, Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), S. 1020 f. Der Druck von 1543 ist als Digitalisat der BSB München verfügbar ( VD16 V 1427); Digitalisat: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0002/ bsb00022307/ images/ , gesehen am 12. März 2015. 61 So etwa schellig (4,219) > vnsinnig ; brulofft (4,255) > Hochzeit ; fettich (6,35) > flügel . <?page no="124"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 123 Straßburg erschienen, gleichfalls bei Johannes Grüninger, wohl um 1508 / 1509 62 und ausgestattet mit den einschlägigen Holzschnitten aus Sebastian Brants großer Vergil-Ausgabe von 1502 zu Beginn jeder der zehn Eklogen. 63 Auch hier bewirkt die Übernahme der Holzschnitte aus Brants großer Folio-Ausgabe die Wahl des Buchformats, wie es auch schon beim Druck von Murners deutscher Aeneis -Ausgabe zu beobachten war, doch bildet die Eklogen-Ausgabe mit 30 Blatt ein naturgemäß relativ schmales Heft. Sein Programm eröffnet Muling in der Vorrede (fol. II r). Den Irrglauben der leyen, die Virgilium ein zaubrer heissen, wolle er widerlegen, als an seiner kostlicher lere / in seinen gedichten verborgen / ze erkennen ist vnnd was man ire kinder lere. Seine deutsche Bearbeitung sei bestimmt, zuo wolgefallen vnnd fürdernuß den iungen anfahenden schülern / das die so noch nit vollen verstandt haben / leichtlicher mögent verfassen [‚geistig auffassen‘] begreiffen vnd behalten die loblichen schrifften Virgilij. die er in dry iaren geschriben / vnnd aber wir in dry monaten getütschet. Daruß zuo verston / wie vngeleich vnnd kleinschetzig diese vnnser traductio sy. Gegen dem hohen latyn Virgilij (ebd.). Er, Muling, habe sich bemüht, das allwege ein yder verß dem latin mit seiner gloß vnnd vßlegung vergleicht werde / vnnd eines dem andern correspondiere (ebd.). Muling verwendet ausschließlich die deutsche Sprache in seiner Bearbeitung. Die einleitenden Elemente variieren in ihrer Abfolge je nach dem auf dem Blatt verfügbaren Raum: dazu gehört eine oft über dem Holzschnitt positionierte knappe, sachlich anspruchslose Inhaltsangabe in zwei Reimpaaren, so zu Ecl . 1 (fol. III v): Melibeus an des Buochboums schat Tityrum fry ligend funden hat Der in vertriben tröstet wol Lobt seine gaben als er sol. Oder zu Ecl . 10 (fol. XXVIII r): Gallus würt hier gesungen Wie in Lycoris hat bezwungen Vnd was er alles leyde Vmb willen der schöne meyde. Zu jeder Ekloge wird zudem ein ausführliches Argumentum in Prosa geboten, das je nach Raumverteilung auf der Buchseite vor dem Holzschnitt oder ihm folgend angeordnet wird. Die eigentliche Arbeit am Text wird in drei Schritten geleistet: einer nahe am Text bleibenden versweisen Prosaübersetzung, einer in deutlich kleinerer Type gesetzten kommentierenden und öfter mit Das ist eingeleiteten Umschreibung des Inhalts, die auch 62 Der VD16 gibt ohne erkennbaren Anhaltspunkt die Datierung „[ca. 1520]“ an. Eine plausible Begründung für eine frühere Datierung bietet aufgrund der Namensform Mülich und der Tatsache, dass Muling sich nur um 1510 mit der Übersetzung antiker Autoren befasst hat, Franz Josef Worstbrock, „Adelphus Mulings Vergilübersetzung“, in: ZfdA 102 (1973), S. 203-210, hier S. 204-206. Eine aktuelle und umfassende Gesamtwürdigung von Mulings Werk bietet ders., „Muling, Johann Adelphus“, in: Deutscher Humanismus 1480 - 1520 . Verfasserlexikon , Bd. 2, Berlin / Boston 2013, Sp. 255-277, zur Eklogen-Übersetzung hier Sp. 267. 63 P. Virgilij Bucolica zu tütsch das hirten vnnd buren werck der .x. Eglogen [Straßburg: Johann Grüninger, um 1508 / 1510], VD16 V 1529; siehe dazu Worstbrock, Antikerezeption (wie Anm. 14), Nr. 426, S. 158. Digitalisat der BSB München: http: / / gateway-bayern.de/ VD16 +V+1529, gesehen am 14. März 2015. <?page no="125"?> 124 Nikolaus Henkel Sacherklärungen umfassen kann, sowie von Fall zu Fall einer in der Regel wortbezogenen Erläuterung als Marginalnotat. 64 Solche auf Inhalt und Sprache ausgerichteten Notate auf der Ebene des Elementarwissens sind dienende Komponenten des Lernprozesses und bieten ebenso wie die wörtliche und die paraphrasierend-kommentierende Übersetzung den iungen anfahenden schülern eine didaktisch funktionale Hinführung zu Vergils Text. Was Murner in seiner deutschen Aeneis durch die Beigabe der lateinischen Initien neben dem deutschen Text beabsichtigt, gilt auch für Mulings Eklogen-Bearbeitung: Beide zielen auf einen Modus der Benutzung, der die Kopräsenz des lateinischen Textes neben der deutschen Bearbeitung vorsieht. Das ist insofern ein bemerkenswerter Befund, als die Prosa-Übersetzungen lateinischer Texte in dieser Zeit in der Regel darauf abzielen, das antike Werk mehr oder weniger zu ersetzen. Erfolg war Mulings deutscher Eklogen-Bearbeitung trotz der beigegebenen Holzschnitte nicht beschieden: Es blieb bei der einen Straßburger Ausgabe. Von ihr erhoffte Muling, wie er in der Vorrede sagt, dass sie nit verworfen noch veracht / sonder als ander teutsche bücher gelesen. in guotem vffgenommen vnnd verstanden werde , und stellt in Aussicht: So diß beschicht ouch andere seine [sc. Vergils] bücher mit höherm fleiß vnd ernstlicher vßlegung transferiern (fol. II r). Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Über die Gründe liegen keine konkreten Zeugnisse vor, doch lässt sich eine Hypothese formulieren. Die von Muling angewandten Verfahrensschritte, von einer Übersetzung mit großer Vorlagentreue zu einer vom Text sich lösenden Paraphrase mit kommentierenden Elementen zu kommen und diese durch marginal notierte Informationen zu bestimmten Realien zu ergänzen, ist im Grunde nicht neu. Es entspricht dem in den Lateinschulen der Zeit geübten Verfahren, nur wird es dort im Medium der lateinischen Sprache exerziert. Mulings Bearbeitung ist sichtlich auf das Selbststudium eines Anfängers ausgerichtet, doch offenbar ohne dass dafür ein erkennbarer Bedarf bestünde. Vergils Werke bedurften auch zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch der Schule und des angeleiteten Unterrichts oder aber einer in der lateinischen Sprache bereits geschulten Leserschaft. Dass Murner Mulings Eklogen-Bearbeitung kannte, darf man mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen; möglicherweise hat er deshalb für die Aeneis einen anderen Weg, den der Versübersetzung, gewählt. VI. Was bedeuten die vorgetragenen Beobachtungen zu Vergils Aeneis und Murners wie auch Mulings Übersetzungen unter der Perspektive Lehren - Lernen - Bilden ? Das Studium von Vergils Werken lässt sich vom 9. Jahrhundert an beobachten in den zahlreichen lateinischen Handschriften, die zumeist glossiert und kommentiert sind. Sie zeigen ein vielfältiges Instrumentarium des Lehrens und Lernens, allerdings vorrangig in lateinischer Sprache, zu dem auch vereinzelt deutschsprachige Glossen gehören können. 65 Dieses Lehren und Lernen nehmen mit kaum verändertem Instrumentarium auch die zahlreichen gedruckten Ausgaben auf. Die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ununterbrochene Beschäftigung mit dem lateinischen Werk Vergils zeugt davon, welch bildende Funktion diesem 64 Eine Beschreibung und Analyse des Zusammenwirkens dieser Elemente anhand des Eingangs von Ecl . 1, V. 1-5 gibt Worstbrock, „Mulings Vergilübersetzung“ (wie Anm. 62), S. 208-210. 65 Siehe Henkel (wie Anm. 29). <?page no="126"?> Vergil lesen. Thomas Murners Aeneis -Übersetzung 125 Werke im westlichen Europa zugesprochen wurde; und die von Sebastian Brant besorgte große kommentierte und in den erhaltenen Exemplaren vielfach auch noch handschriftlich glossierte Vergil-Werkausgabe von 1502 erweist das nachdrücklich. An der vom Werk Vergils ausgehenden kulturellen Faszination nehmen auch die Volkssprachen teil, freilich nur als zeitlich begrenzte Begleiter dieses in lateinischer Sprache durchgängigen Bildungsprozesses. Der Roman d’Eneas (neun Handschriften) und der deutsche Eneasroman (16 Handschriften) bieten einem schmalen Publikumssektor über einen Zeitraum von 200 bis knapp 300 Jahre hin eine auf das Thema Liebe ausgerichtete Umdeutung der Aeneis . Ihr Erfolg ist begrenzt, vielleicht, weil damit auch nur ansatzweise das Bildungspotential des Werks getroffen wurde. Auch Thomas Murner hat das über Jahrhunderte bewährte Bildungspotential der Aeneis im Auge, wenn er es in der Volkssprache bereitstellt. Er bietet in seiner Übersetzung einerseits eine von der Versform nur wenig eingeengte vorlagennahe Wiedergabe von Vergils Text, die vorrangig als Mittel zum Selbststudium und als ‚Trittstein‘ zu Vergils lateinischem Text dienen soll. Er zielt andererseits, ohne in den Text selbst einzugreifen, auf eine Instrumentalisierung des Werks im Interesse der imperialen Friedensidee seiner Zeit. Von Murners deutscher Aeneis sind zwar insgesamt acht Ausgaben erhalten, aber nach der Frankfurter Ausgabe von 1563 bricht die Überlieferung, abgesehen von dem späten Nachläufer von 1606, ab. Der Roman d’Eneas , der Eneasroman und Murners Übersetzung wie auch Mulings Bearbeitung bieten zwar markante, aber zeitlich doch deutlich begrenzte Wirkungsfelder für Vergil in den Volkssprachen. In der Tat scheint es, als sei Vergil bis ins 18. Jahrhundert, als er in den Schatten Homers zu rücken beginnt, im Wesentlichen ein Autor für die Lateinkenner gewesen, angewiesen auf die Bildungsräume von Schule und Universität, von wo aus dieser Autor - auch unter der Perspektive Lehren - Lernen - Bilden - eine staunenswerte europäische Wirkung entfaltet hat. <?page no="128"?> Auf Deutsch lehren 127 Auf Deutsch lehren Deutsch und Latein in ausgewählten frühmittelhochdeutschen Texten Sarah Bowden I. Die Lehrhaftigkeit der frühmittelhochdeutschen Literatur Am Anfang der Rede vom Glauben des Armen Hartmann erklärt der Dichter, warum er seine rede - eine in der Mitte des 12. Jahrhunderts geschriebene Erklärung des Glaubensbekenntnisses von ungefähr 4000 Versen - auf Deutsch schrieb: 1 durh di gotis enste hetich di cunste, von dem selben glouben woldich sprechen, besceidenliche rechen mit dutiscer zungen ze lere den tumben; wande manige reden darane haftent, dar si luzil umbe ahtent. (V. 17-24) Die Gründe für seine Sprachwahl sind also pragmatisch: Die tumben - wohl diejenigen, die kein Latein können - achten nicht ausreichend auf die Gebote der Christenheit, und dieser Mangel soll behoben werden, indem ihnen der Glaube auf Deutsch besser erklärt wird. Es geht allgemein darum, die Ungebildeten verschiedene Aspekte des Heilswissens zu lehren, und die Verständlichkeit der Sprache ist dabei zentral. Diese Textfunktion, d. h. der Impuls zu lehren, wird oft als Grund für die Entstehung der volkssprachigen Schriftkultur im 11. und 12. Jahrhundert angegeben. Obwohl Lehrhaftigkeit eine zentrale Rolle in der gesamten mittelalterlichen Literatur spielt und sogar als Grundanforderung literarischer Produktion gilt, wird oft behauptet, dass diese Forderung nach Lehrhaftigkeit die frühmittelhochdeutsche Literatur aus verschiedenen Gründen besonders stark geprägt hat. 2 Aufgrund verschiedener gesellschaftlicher und religiöser 1 Der Arme Hartmann, Rede vom heiligen glouben , in: Die religiösen Dichtungen des 11 . und 12 . Jahrhunderts , hg. von Friedrich Maurer, Bd. 2, Tübingen 1965, S. 567-628. Alle Zitate dieses Textes stammen aus dieser Ausgabe. Maurer stellt diese Dichtung in Langzeilenstrophen dar, obwohl er auch Versnummern anbietet, die ich hier wiedergebe. Zur Problematik der Ausgabe Maurers, besonders der Langzeilenstrophen, vgl. Werner Schröder, „Zu Friedrich Maurers Neuedition der deutschen religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts“, in: PBB 88 (1967), S. 249-284. 2 Zur Lehrhaftigkeit der mittelalterlichen Literatur vgl. Christoph Huber, „Lehrdichtung“, B. II: „Mittelalter“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik , Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 107-112, hier Sp. 107: „Im mittelalterlichen Literaturverständnis ist Lehrhaftigkeit als Vermittlung von Wissen und als Handlungsanleitung zum Lebensvollzug eine Grundanforderung, die sich auf den Ebenen der Textproduktion und -rezeption je neu stellt“. Vgl. auch Regula Forster, Romy Günthart und Christoph Schanze, „Einleitung“, in: Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident , hg. von Regula Forster und Romy Günthart, Frankfurt a. M. 2010, S. 7-19, hier S. 7, laut denen die Didaktik „eine Grundanforderung der Textproduktion und -rezeption [darstellt], die der vormodernen Erzählliteratur selbstverständlich ist“. <?page no="129"?> 128 Sarah Bowden Entwicklungen, u. a. monastische Reformbewegungen, Investiturstreit, Entwicklung von Höfen und Städten, Entstehung der Universitäten und Kreuzzüge, gewann die schriftliche Produktion zu dieser Zeit insgesamt an Bedeutung, besonders wenn sie der Fixierung von Normen und Lebenspraktiken diente. 3 Im Falle der Entfaltung einer volkssprachlichen Schriftkultur werden die religiösen Entwicklungen dieser Zeit stark hervorgehoben. Immer mehr Laienbrüder (oder Conversi ) wurden aufgenommen, und die Zahl der Frauenorden und Klöster stieg an. Zudem gewannen Seelsorge und religiöse Ausbildung der Laien immer mehr an Bedeutung, so dass der Bedarf an volkssprachlichen Texten zur Vermittlung theologischen Basiswissens zunahm. 4 Die Forschung stimmt insgesamt in der Auffassung überein, dass die frühmittelhochdeutsche Literatur kein kohärentes Gesamtbild darstellt. 5 Der ‚Sitz im Leben‘ eines jeweiligen Texts ist in den meisten Fällen schwer festzulegen; es ist sogar aufgrund des Inhalts oder des Überlieferungskontexts nur selten feststellbar, ob ein bestimmter Text an ein laikales oder monastisches Publikum gerichtet war. 6 Trotzdem ist es üblich, die frühmittelhochdeutsche Schriftlichkeit als überwiegend lehrhaft zu charakterisieren: So gibt es etwa Walter Haug zufolge „ein[en] drängende[n] Bildungsanspruch der Laien“, 7 und laut Christian Kiening basieren die volkssprachigen Texte auf der „gemeinsame[n] Grundfrage nach der Möglichkeit volkssprachlicher Vermittlung von Heilswissen an ein kaum lateinisch gebildetes Publikum“. 8 Eine solche Ansicht liegt unzweifelhaft nahe, nicht nur weil manche Texte sich als explizit lehrhaft vorstellen: Nu vernemet waz ich iuch lere , fordert z. B. der 3 Vgl. Hagen Keller, „Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Einführung zum Kolloquium in Münster, 17.-19. Mai 1989“, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen , hg. von Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach, München 1992 (MMS 65), S. 1-7, hier S. 2-4; Gisela Vollmann-Profe, Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter ( 1050 / 60 - 1160 / 70 ) , Königstein / Taunus 1986 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I / 2), S. 15-22. 4 Dazu Fritz Peter Knapp, „Sprache und Publikum der geistlichen Literatur in den Diözesen Passau und Salzburg vom Ausgange des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts“, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100 - 1500 . Regensburger Colloquium 1988 , hg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 32-41. Für Knapp ist die Neubewertung der Oblaten bei den Hirsauern und Zisterziensern besonders wichtig, wie auch die Rolle, die die Augustiner-Chorherren bei der laikalen Seelsorge spielten. Knapp argumentiert, dass die volkssprachigen Texte zu dieser Zeit zum größten Teil im monastischen Kontext rezipiert wurden, besonders bei der Tischlesung. Vgl. dazu auch Peter K. Stein, „Stil, Struktur, historischer Ort und Funktion. Literarhistorische Beobachtungen und methodologische Überlegungen zu den Dichtungen der Frau Ava“, in: Festschrift für Adalbert Schmidt zum 70 . Geburtstag , hg. von Gerlinde Weiss, Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 4), S. 5-85. 5 Vgl. Christian Kiening, „Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts“, in: DVjs 66 (1992), S. 405-449, hier S. 409: „[E]ine literarische Reihe aber ist aufgrund stofflich-thematischer Vielfalt, aufgrund von Ungleichzeitigkeiten und Unabhängigkeiten der Denkmäler kaum zu bilden“. 6 Im vorgegebenen Rahmen ist es nicht möglich, ausführlich auf die Schwierigkeiten der Publikumsfrage einzugehen. Es scheint mir aber wichtig, kein kohärentes Publikum für die frühmittelhochdeutsche Literatur zu erwarten und jeden einzelnen Text für sich zu untersuchen. 7 Walter Haug, „Allegorese und Entscheidung. Literaturtheoretische Positionen in frühmittelhochdeutscher Zeit“, in: ders., Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13 . Jahrhunderts , Darmstadt 2 1992, S. 46-74, hier S. 46. 8 Kiening (wie Anm. 5), S. 409. Vgl. in letzter Zeit auch Christine Kühn, Ze lere den tumben. Hartmanns ‚Rede vom heiligen Glauben‘ , Frankfurt a. M. 2013 (Lateres 9), S. 11: „Allen [frühmittelhochdeutschen] Dichtungen gemeinsam ist die Belehrung über die Inhalte des Glaubens und / oder die Unterweisung in ethischer Lebensführung“. <?page no="130"?> Auf Deutsch lehren 129 Priester Arnold in seinem Gedicht von der Siebenzahl von seinem Publikum. 9 Es ist deshalb auch nicht meine Absicht, diese Ansicht infrage zu stellen, sondern eher die Problematik herauszustellen, die darin liegt, die ‚Lehrhaftigkeit‘ der frühmittelhochdeutschen Literatur allzu stark in den Vordergrund zu stellen und zu verallgemeinern. Worin besteht beispielsweise der Vorteil, ein lateinisch ungebildetes Publikum durch ein Gedicht statt durch eine Predigt zu belehren? Warum wurden volksprachige, lehrhafte Texte überhaupt niedergeschrieben? Gibt es einen Unterschied zwischen einem adligen und einem monastischen Publikum, wenn beide lateinunkundig sind? Solche Fragen sind nicht ohne Weiteres zu beantworten. In diesem Beitrag möchte ich mich daher zunächst auf einen spezifischen Bereich konzentrieren, nämlich auf die Beziehung zwischen Latein und Volkssprache in poetischen Texten. Die folgenden Beobachtungen verstehen sich daher nicht als definitiv oder programmatisch, sondern eher als investigative Untersuchungen, die dazu dienen, diese Fragen zumindest teilweise zu beantworten. Es ist kaum nötig, das enge Verhältnis zwischen Latein und Volkssprache im Mittelalter abermals zu betonen. 10 Im 11. und 12. Jahrhundert entfaltet sich die deutsche Literatur zum ersten Mal als historisches Kontinuum und muss deshalb, in den Worten von Ernst Hellgardt, „den Anschluß an die lateinische Schrift- und Buchkultur finden“. 11 Es überrascht also nicht, dass viele deutsche Texte in lateinisch-deutschen Sammelhandschriften überliefert werden. 12 Es gibt auch einige Texte, in denen sowohl Latein als auch Deutsch zu finden ist, nicht nur als Mischprosa, sondern - was häufiger vorkommt - in Konfigurationen, in denen die Sprachen funktional aufeinander zu angeordnet werden, z. B. Interlinearversionen von Gebeten oder Psalmen, oder Texte mit lateinischen Anweisungen oder Anleitungen, wie manche deutschen Segen, Gebete und auch Glaubensbekenntnisse und Beichten. 13 Im Zentrum dieses Beitrags stehen allerdings Werke in Versform, die lateinische Einschübe beinhalten - hauptsächlich biblische oder liturgische Zitate - und diese übersetzen oder sich direkt darauf beziehen. In solchen Texten wird die deutsche Sprache benutzt, um bereits auf Latein existierende Ausdrücke, Wörter oder Ideen (wie Bibelpassagen oder Teile der Liturgie) zu erklären. Man könnte deshalb sagen, dass hier eine klar definierte Sprachhierarchie besteht, in der das Lateinische etwas Festes, Rituelles, sogar spirituell Aufgeladenes ausdrückt, während das Deutsche vom Lateinischen abhängig ist und den Inhalt eines ursprünglich lateinischen Ausdrucks an ein deutschsprachiges Publikum vermittelt. Man könnte also annehmen, dass die Funktion der deutschen Sprache eine eher pragmatische ist: Deutsch wird benutzt, um zu lehren, was bereits auf Latein gelehrt wird - lateinische Zitate werden als Impuls zu weiteren Reflexionen angewendet, 9 Der Priester Arnold, Das Loblied auf den heiligen Geist (Gedicht von der Siebenzahl) , in: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts , hg. von Friedrich Maurer, Bd. 3, Tübingen 1970, S. 53-85 (V. 306). 10 Für einen detaillierten Forschungsbericht zum Thema vgl. Nikolaus Henkel und Nigel Palmer, „Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter. 1100-1500. Zum Rahmenthema des Regensburger Colloquiums: Ein Forschungsbericht“, in: Latein und Volkssprache (wie Anm. 4), S. 2-18. 11 Ernst Hellgardt, „Lateinisch-deutsche Textensembles in Handschriften des 12. Jahrhunderts“, in: Latein und Volkssprache (wie Anm. 4), S. 19-31, hier S. 29. 12 Vgl. ebd., besonders S. 28-31. Eine unschätzbare Übersicht der deutschsprachigen Handschriften der frühmittelhochdeutschen Zeit wird von Hellgardt an anderer Stelle angeboten: vgl. Ernst Hellgardt, „Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert. Bestand und Charakteristik im chronologischen Aufriß“, in: Deutsche Handschriften 1100 - 1400 . Oxforder Kolloquium 1985 , hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 35-81. 13 Solche Konfigurationen werden von Hellgardt (wie Anm. 11) ausführlich diskutiert. <?page no="131"?> 130 Sarah Bowden die die Inhalte und weiteren Bedeutungen der lateinischen Grundlage einem breiteren Publikum bekannt machen. In diesem Beitrag will ich nicht die grundsätzliche Gültigkeit dieses allgemeinen Prinzips infrage stellen, sondern eher seine Einfachheit. Ich möchte einige Texte untersuchen, die die Beziehung zwischen Deutsch und Latein in Bezug auf Lehren auf komplexere Weise thematisieren. Es geht in diesen Schriften nicht nur um eine Sprachwahl aus rein pragmatischen Gründen, sondern auch um die Selbstreflexion des Lehrens in deutscher Sprache im 12. Jahrhundert und um Thematisierungen pädagogischer Unterschiede zwischen den Sprachen sowie ihrer Wechselbeziehung. II. Die Selbstdefinition des Lehrens in deutscher Sprache In seiner grundlegenden Arbeit zur Literaturtheorie im deutschen Mittelalter stellt Haug fest, dass die dichterische Sprachproblematik in frühmittelhochdeutscher Zeit nicht in Bezug auf die einzelnen Sprachen thematisiert wird, sondern in Bezug auf die allgemeine Schwierigkeit, überhaupt eine angemessene Sprache für den christlichen Stoff des jeweiligen Texts zu finden. 14 Entscheidend ist demnach die menschliche Sprachfähigkeit des Dichters, d. h. die Defizienzen der menschlichen Sprache selbst. 15 Wenn Dichter ihre eigenen mangelhaften Sprachfähigkeiten beklagen - unabhängig von ihrer jeweiligen Sprache -, geht es also meistens nicht nur um eine konventionelle Demutsformel, sondern auch um eine Bitte an den Heiligen Geist um die spirituelle Inspiration, die sie brauchen, um den ernsten, christlichen Stoff des jeweiligen Gedichts überhaupt auszudrücken. Ein schönes Beispiel dafür ist das in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfasste deutsche Pilatus-Gedicht. 16 Hier wird die deutsche Sprache als unbändig beschrieben: Man sagit von dutischer zungen, / siu si unbetwngen, / ze vogene herte . 17 Diese Unzulänglichkeit liegt aber nicht an den spezifischen Eigenschaften der deutschen Sprache im Vergleich mit anderen Sprachen, sondern an den Schwierigkeiten, den sin - den Stoff des Gedichts - mit der menschlichen Sprache überhaupt zu äußern. Der Dichter bittet Gott deshalb darum, seine Sprache und sich selbst wie Stahl geschmeidig zu machen. 18 14 Haug, „Allegorese“ (wie Anm. 7), S. 70: „Die spezifische Angemessenheit des Deutschen steht in der Regel nicht zur Debatte; das Verhältnis zwischen der Vulgärsprache und dem Lateinischen wird, soweit unsere Zeugnisse reichen, nicht reflektiert“. Vgl. auch ders., „Schriftlichkeit und Reflexion. Zur Entstehung und Entwicklung eines deutschsprachigen Schrifttums im Mittelalter“, in: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, hg. von Aleida und Jan Assmann und Christof Hardmeier, München 1983 (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 141-157. 15 Vgl. dazu auch Friedrich Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“, ZfdA 89 (1958-1959), S. 1-23, hier S. 12 f.: „Hält sich also die mittelalterliche Etymologie vorwiegend innerhalb des Rahmens einer Sprache, liegt es dagegen im Wesen der Dingbedeutungen, daß der geistige Sinn des Wortes in allen Sprachen der gleiche ist, da er nicht von Wortklang der verschiedenen Einzelsprachen ausgeht, sondern von der aller Menschheit in der Schöpfung gleich begegnenden Sprache der Dinge“. 16 Vgl. dazu Joachim Knape, „Pilatus“, in: 2 VL , Bd. 7, Berlin / New York 1989, Sp. 669-682 (besonders Sp. 676-678). 17 „Pilatus“, in: Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit 4, hg. von Franz Joseph Mone, Karlsruhe 1835, Sp. 434-446 (V. 1-3). 18 Ebd., V. 4-18. Vgl. dazu Haug, „Allegorese“ (wie Anm. 7), S. 70 f.; Kiening (wie Anm. 5), S. 434-437. <?page no="132"?> Auf Deutsch lehren 131 Die deutsche Sprache wird vom Priester Wernher in seiner im Jahre 1172 geschriebenen Maria etwas anders behandelt. 19 Hier betont der Dichter die pragmatischen Gründe seiner Entscheidung für die deutsche Sprache: 20 daz sie iz alle musen lesen die gotes kint wellent wesen, vnd ovch megen schowen die laigen vnt die frowen. (D, V. 141-144) Die religiöse Bildung derjenigen, die keine Lateinkenntnis haben, insbesondere der Frauen, spielt hier eine zentrale Rolle, und die erhoffte Wirkung auf das Publikum wird im Text wiederholt thematisiert. 21 Die detaillierte Beschreibung des Kompositions- und Übersetzungsprozesses im Prolog ist allerdings auffällig. Hier erklärt der Dichter, seine Quelle sei eine Fassung des Matthäus-Evangeliums, die betŵngen / in ebreisker zûnge (D, V. 87 f.) lag, bis zwei Bischöfe, Chromatius und Eliodorus, Briefe an den heiligen Hieronymus schrieben, der diesen Text dann in die senften latine (D, V. 93) übersetzte. 22 Obwohl die hebräische Quelle von einem Apostel geschrieben wurde, scheint die zweite, lateinische Fassung auf irgendeine Weise ‚besser‘ zu sein, denn der Übersetzungsprozess wird mit positiven Transformationsbildern verglichen: daz wazzer wart da ze wîne, / div milch verwandelt sich in daz ole (D, V. 94 f.). Hieronymus ‚weckt‘ den vorher schlafenden Text auf, enthüllt die darin verdeckte Lehre und gibt damit den Gotteskindern das Brot (D, V. 108). Der enthüllte Text fungiert dann als eine Fahne, unter der die Gotteskinder gegen den Teufel kämpfen und sich aus dem Finsternis in das ewige Licht erheben (D, V. 103-117). Hier werden somit nicht nur die Ernsthaftigkeit und der Wahrheitsgehalt des Stoffes hervorgehoben, sondern vor allem der Wert der durch das Übersetzen ermöglichten Verständlichkeit: Zwischen der Verwandlung des Texts (vom Hebräischen ins Lateinische) und der daraus resultierenden Verwandlung des Publikums wird eine Parallele gezogen, die dem Übersetzungsprozess Heilspotential verleiht. Obwohl die Verherrlichung des Übersetzens sich auf Hieronymus bezieht, wird sie implizit auch auf die deutsche Übersetzung Wernhers übertragen. Es ist auffällig, dass Wernher, der die Übersetzung des Hieronymus so sorgfältig beschrieb, diese lateinische Zwischenstufe nicht mehr berücksichtigt, wenn er seinen eigenen Kompositionsprozess einführt: swaz Matheus schreib dort / den ebreischen liuten, / daz 19 Zur Genauigkeit der Datierung vgl. Kurt Gärtner, „Priester Wernher“, in: 2 VL , Bd. 10, Berlin / New York 1999, Sp. 903-915, hier Sp. 903-905. 20 Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen , hg. von Carl Wesle, Halle a. S. 1927 (ATB 26). Wesle versucht, das ‚Original‘ der Maria zu rekonstruieren, indem er die beiden vollständigen Handschriften (A und D) in je einer Spalte sowie die Bruchstücke B, C, E, F und G zusammengefasst in einer dritten Spalte synoptisch wiedergibt. Hier zitiere ich aus Wesles Abdruck der ältesten Handschrift (D), obwohl diese Handschrift als ziemlich freie Umarbeitung des Originals gilt. Die Passagen, mit denen ich mich hier beschäftige, sind in den beiden vollständigen Handschriften inhaltlich aber kaum verschieden. Zur Überlieferung und Editionsgeschichte des Texts vgl. auch Kurt Gärtner, „Neues zur Priester-Wernher-Kritik. Mit einem Abdruck der kleineren Bruchstücke von Priester Wernhers ‚Maria‘“, in: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971 , hg. von L. Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff und Roy A. Wisbey, Berlin 1974, S. 103-135; Ernst Hellgardt, „Zur Priester Wernher-Edition. Ein Vorversuch“, in: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75 . Geburtstag , hg. von Ralf Plate und Martin Schubert, Berlin / Boston 2011, S. 1-21. 21 Vgl. dazu Gärtner (wie Anm. 19), Sp. 905. 22 Zu dieser Quelle, die nicht genau identifizierbar ist, vgl. ebd., Sp. 909-911. <?page no="133"?> 132 Sarah Bowden wil ich iv bedv̂ten (D, V. 182-184). Diese Äußerung fungiert selbstverständlich als Beweis für den Wahrheitsgehalt seines Stoffes, aber die plötzliche Auslassung der vorher so stark thematisierten dazwischenliegenden Übersetzung (denn Wernher benutzte sicherlich keine hebräische Quelle! ) betont die Verbindung zwischen dem ‚seligen‘ Projekt des Hieronymus und demjenigen Wernhers noch stärker. Der positive Stellenwert des Deutschen wird also nicht durch irgendeine spezifische Eigenschaft der Einzelsprache begründet, sondern das Deutsche ist ebenso wie das Lateinische fähig, das Publikum zu verwandeln. Die Verherrlichung der Verständlichkeit und des Übersetzens, die bereits bei Hieronymus sichtbar wurde, wird also im Werk Wernhers weitergeführt und zeigt, inwiefern das Schreiben in der Volkssprache eine bedeutsame Rolle im göttlichen Heilsplan spielen kann. III. Der Arme Hartmann als ‚deutscher Dichter‘ Die diskutierten Beispiele stimmen also mit der grundsätzlichen Theorie Haugs überein, dass die spezifischen Eigenschaften der deutschen Sprache im Vergleich mit anderen Sprachen in volkssprachigen Texten nicht thematisiert werden. In der Rede vom Glauben des Armen Hartmann wird die deutsche Sprache aber deutlich anders behandelt. Zwar geht es bei der Sprachwahl dort auch um die pragmatische Verständlichkeit der im Text enthaltenen Informationen, aber die besonderen Eigenschaften der deutschen Sprache in Bezug auf ihre lehrhaften und literarischen Möglichkeiten werden durch den Text auf komplexere Weise ins Spiel gebracht. Die um 1140 bis 1160 verfasste Rede , die nur in der verbrannten Straßburg-Molsheimer Handschrift enthalten war, 23 besteht aus einer Auslegung der nizäno-konstantinopolitanischen Fassung des Credo , das im 12. Jahrhundert nur in der Sonntagsliturgie benutzt wurde, und bietet eine aufschluss- und aspektreiche Einführung in das christliche Heilswissen. 24 In der Forschung wurde bisher angenommen, dass der Text für ein adliges laikales Publikum geschrieben worden ist; 25 die Frage nach dem Stand des Dichters bleibt aber umstritten. 26 Wie oben angedeutet ist die Hauptfunktion dieser Rede eine lehrhafte - es geht 23 Diese Handschrift, die auch Heinrichs Litanei , den Straßburger Alexander und die ersten 621 Verse des Pilatus beinhaltete, wurde im Jahr 1870 beim Brand der Straßburger Bibliothek während des deutschfranzösischen Krieges vernichtet. Glücklicherweise waren die einzelnen Texte bereits abgeschrieben worden. Zur Handschrift vgl. Christoph Mackert, „Eine Schriftprobe aus der verbrannten ‚Straßburg- Molsheimer Handschrift‘“, in: ZfdA 130 (2001), S. 143-165. 24 Zur Datierung und zum Credo vgl. Konrad Kunze, „Der arme Hartmann“, in: 2 VL , Bd. 2, Berlin / New York 1978, Sp. 450-454, hier Sp. 451. Für eine detaillierte Einführung zum Text vgl. auch Heinz Rupp, Deutsche religiöse Dichtungen des 11 . und 12 . Jahrhunderts. Untersuchungen und Interpretationen , Bern 2 1971 (Bibliotheca Germanica 13), S. 134-216; Francis G. Gentry, „Der arme Hartmann“, in: German Writers and Works of the Early Middle Ages: 800 - 1170 , hg. von Will Hasty und James Hardin, Detroit 1995 (Dictionary of Literary Biography 148), S. 10-13. 25 Wichtig ist hier auch die umfangreiche Beschreibung des weltlichen Lebens und die Warnung vor den diesem inhärenten Gefahren, V. 2403-2488. Zum Publikum vgl. Rupp (wie Anm. 24), S. 211 f.; Kühn (wie Anm. 8), S. 29-45. 26 Hartmann wurde in der älteren Forschung zu den ersten deutschen Laiendichtern gezählt, weil er sich anscheinend von Pfaffen und Priestern abgrenzt (vgl. V. 1065-1140); dazu vgl. Rupp (wie Anm. 24), S. 211 f. Kühn (wie Anm. 8), S. 42-45, hat diese These aber aufgrund der im Text demonstrierten guten theologischen und literarischen Ausbildung des Dichters kürzlich bestritten. <?page no="134"?> Auf Deutsch lehren 133 darum, das Credo denjenigen zu erklären, die seine Lehre ansonsten nicht verstehen würden -, aber der Text geht weit über eine allgemeine Einführung in die Theologie hinaus. 27 Zum ersten ist das Selbstbewusstsein Hartmanns als Dichter und Lehrer und, noch auffälliger, als explizit deutscher Dichter und Lehrer bemerkenswert prominent. Er bezieht sich oft auf sein Werk, das er wiederholt eine rede nennt, wie auch auf die darin beschriebenen Lehren, die im Credo und in allen Handlungen Gottes zu finden sind und die er ebenfalls reden nennt. Obwohl das Wort rede dabei nicht ungewöhnlich verwendet wird, ist der Text von diesem Wort (wie auch von verwandten Wörtern, wie redebere ) durchdrungen - es erscheint, wenn ich richtig zähle, 34 Mal. Die semantische Verbindung zwischen dem Text (eine rede ) und seinen theologischen Inhalten ( reden ), die auf diese Weise hervorgehoben wird, betont erneut den von Haug beschriebenen und in der Maria Wernhers thematisierten dichterischen Topos der engen Beziehung zwischen dem dichterischen Projekt und der göttlichen Lehre, die durch die direkte Inspiration des Heiligen Geistes ermöglicht wird. Die häufige Wiederholung von rede , um den Text selbst und seine Inhalte zu bezeichnen, deutet aber auch auf eine bestimmte Form dichterischen Selbstbewusstseins. Hartmann unternimmt etwas Komplexeres als die einfache Unterweisung der Laien - er gestaltet sein eigenes Material, er demonstriert durch semantische Verbindungen die Untrennbarkeit der Inhalte des Textes von ihrer dichterischen Darstellung. In diesem Sinne ist es auch wichtig, dass Hartmann sein Werk als ein schriftliches konzipiert. Obwohl das Wort rede oft katechetische Unterweisungen bezeichnet, wird es auch mit Sprechen assoziiert - man würde vielleicht eine mündliche Konzeption des Deutschen erwarten, besonders weil die lateinischen Credo -Zitate im Text belassen wurden, so man in den buchen vindit (V. 60). Der Unterschied zwischen Deutsch und Latein wird jedoch nicht am Unterschied von Oralität und Schriftlichkeit festgemacht. Im Zentrum des Texts weist Hartmann auf einen weiteren von ihm verfassten Text zum Jüngsten Gericht hin, den er explizit als ein Buch kennzeichnet und der entweder gelesen oder gehört werden kann: […] iz ist alliz gescriben ze gehorenne unde ze gesihte in dutiscer scrifte. swer daz buch wille lesen, der mach iz alliz da vernemen, so wirz mit unsen sinnen aller best mochten vinden. (V. 1634-1640) Wir wissen nichts von dem zweiten Werk Hartmanns, aber eine solche Selbstdefinition eines dichterischen Korpus in deutscher Sprache ist zu dieser Zeit ungewöhnlich. Vielleicht noch auffälliger ist die Annahme, das Publikum könne sich ohne Weiteres an ein zweites Werk wenden, besonders wenn es sich dabei um Laien handeln könnte. Die deutsche Sprache wird nicht nur im Bezug auf dichterische Selbstdefinition thematisiert, sondern auch in Verbindung mit ihren spezifischen Funktionen und Eigenschaften im Vergleich zum Latein. Manche Ausdrücke aus dem Credo werden im Text lateinisch zitiert und nicht nur ausgelegt oder übersetzt, sondern als Impuls zu weiteren Reflexionen des 27 Die literarischen und theologischen Leistungen des Texts werden allmählich in der Forschung anerkannt. Vgl. besonders Elke Brüggen, „Schwierige Nähe. Reflexe weltlicher Kultur und profane Interessen in frühmittelhochdeutscher geistlicher Literatur“, in: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters , hg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2000, S. 27-50 (besonders S. 31-36); Morgan Powell, „Die tumben und die wîsen . Wolframs ‚Parzival‘-Prolog neu gedeutet“, in: PBB 131 (2009), S. 50-90 (besonders S. 71-73); Kühn (wie Anm. 8). <?page no="135"?> 134 Sarah Bowden theologischen Inhalts genutzt. Im Abschnitt zu Gott wird zum Beispiel das Credo zitiert - credo in unum deum patrem omnipotentem , usw. (V. 61-63) - und auf dieses dreizeilige Zitat folgt eine fast hundertzeilige Beschreibung der Eigenschaften Gottes auf Deutsch. Dieses exegetische Verfahren wird in mittelalterlicher Literatur vorzugsweise genutzt, um die Wichtigkeit des verhüllten, höheren spirituellen Sinns zu betonen, der hinter vox und res verborgen liegt. 28 In unserem Text wird die Auslegung nicht von einem komplexen Verständnis des vierfachen Schriftsinns geprägt, sondern funktioniert eher durch Assoziation und Erweiterung. Die lateinischen Zitate werden als Anfangspunkt benutzt, um weitere, verwandte Fakten und Lehren zu untersuchen. Etwas Ähnliches geschieht natürlich in lateinischen Texten, aber hier werden zwei Sprachen benutzt, so dass ein deutlicher Kontrast zwischen diesen Sprachen entsteht. Der Kontrast wird erwartungsgemäß so gestaltet, dass Latein die Sprache des Credo und der Liturgie ist. Lateinische Ausdrücke sind fixiert, symbolisch und transzendent aufgeladen. Sie stehen scheinbar dem Göttlichen näher, weil sie die Lehre Gottes direkt äußern. Die deutsche Sprache stellt sich in Dienst des Lateinischen, indem sie das Lateinische erklärt, ohne seinen höheren, festen Status zu stören. Auf der anderen Seite bedeutet die erklärende Funktion des Deutschen, dass diese Sprache gewissermaßen ‚freier‘ und entlastet scheint - vielleicht in Bezug auf poetische Möglichkeiten, aber hier hauptsächlich durch den Kontrast mit einem zweiten Aspekt des Lateinischen, nämlich seiner Funktion als Ausbildungssprache. Hier müssen wir wieder zum Anfang des Gedichts zurückkehren, wo die deutsche Sprache explizit an die tumben gerichtet wird (siehe oben). Später rechnet sich auch der Dichter selbst zu diesen: Ich unde andre tumben (V. 423). Die tumben sind offensichtlich diejenigen, die mit dutiscer zungen (V. 21) sprechen. Sie besitzen hier keine der anderen (oft negativ geprägten) Eigenschaften, die mit tumpheit in Zusammenhang stehen, wie z. B. Unerfahrenheit, Dummheit oder jugendliche Torheit. 29 Sie sind eine Gruppe, die primär durch ihre Sprache bezeichnet wird. Das Ausbildungsniveau dieser tumben ist unklar. Einerseits wird angedeutet, dass zumindest einige von ihnen lesen können (siehe oben), und es gibt darüber hinaus einige lateinische Einschübe im Text, die unübersetzt bleiben, woraus man eine (vielleicht begrenzte) Lateinkenntnis ableiten könnte. Diese Einschübe sind jedoch wohlbekannte, oft biblische Phrasen wie In principio erat verbum (V. 445), mit denen die Gläubigen im Mittelalter wohl vertraut waren, auch wenn sie sie nicht wörtlich verstanden. 30 28 Vgl. dazu Ohly (wie Anm. 15). Zum allegorischen Verfahren in frühmittelhochdeutscher Dichtung vgl. Hartmut Freytag, Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11 . und 12 . Jahrhunderts , Bern 1982 (Bibliotheca Germanica 24); Ernst Hellgardt, „Zur Poetik frühmittelhochdeutscher Dichtung“, in: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters , hg. von Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt-Wiegand und Klaus Speckenbach, München 1984 (MMS 51), S. 131-138; Dietrich Schmidtke, „Bemerkungen zu den Varianten allegorischen Gestaltens in der frühmittelhochdeutschen Literatur“, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050 - 1200 . Festschrift für Ursula Hennig , hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 221-234; Sarah Bowden, „Zur Poetik des mehrsinnigen Verstehens. Der allegorische Stil der Hochzeit “, in: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf , hg. von Elizabeth Andersen, Ricarda Bauschke-Hartung, Nicola McLelland und Silvia Reuvekamp, Berlin / New York 2015, S. 305-321. 29 Vgl „tump“, in: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch , 3 Bde, Leipzig 1872-1878, Nachdruck mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Stuttgart 1992, hier Bd. 2, Sp. 1567. 30 In diesem Sinne könnte man von der ‚Auratisierung‘ des lateinischen Textes sprechen, der eine rituelle Dimension einnimmt. Vgl. dazu Bruno Quast, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit , Tübingen / Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48), besonders S. 1-40. <?page no="136"?> Auf Deutsch lehren 135 Interessanter ist die selbstdefinierte tumpheit Hartmanns. Diese fungiert sicherlich als Demutsformel, aber die Weise, in der diese tumpheit eingeführt wird, deutet auf mehr als einen topischen Gestus hin. In der Mitte des Gedichts fängt der Dichter an, yle (d. h. Hyle, den vor der Schöpfung existierenden Urstoff) nach platonischer Theorie zu diskutieren. 31 Es folgen fast 100 Zeilen zur akademischen Untersuchung der Welt (u. a. zur Astronomie, zu den vier Elementen und den freien Künsten), mit denen der Dichter zumindest zum Teil vertraut gewesen sein muss. Bemerkenswert ist, dass in diesem Abschnitt des Gedichts immer mehr lateinische Phrasen benutzt werden, von denen die Mehrheit unübersetzt bleibt. Die Lehren konzentrieren sich zum Beispiel auf dicere verum, / naturas rerum, / rerum vestigia / cum philosophia (V. 353-356). Im Bezug auf die Sterne wolle man wissen, quorsum tendant, / quid portendant (V. 403 f.). Zunächst erscheint die Funktion solcher Passagen unklar: Will Hartmann seinem Publikum etwas über diese Wissenschaften vermitteln? Kokettiert er lediglich mit seinem Wissen? Es fällt aber auf, dass dieser Abschnitt im Vergleich zum Rest des Gedichts recht flüchtig aufgebaut wirkt - statt einer ausführlichen Beschreibung einzelner Aspekte der Trinität gibt es hier einen kurzen Überblick über eine komplexe wissenschaftliche Praxis. Außerdem nennt sich Hartmann erst am Ende dieses Abschnitts tumb ; als Schlussbemerkung zu dieser Beschreibung der weltlichen Bildung verkündet er: Ich und andre tumben, / wi luzzil wir der kunnen (V. 425 f.). Das heißt, dass der Dichter sich und sein Werk von dieser lateinischen Bildung distanziert - deshalb auch die Kürze der Beschreibung und die hohe Anzahl enthaltener lateinischer Phrasen -, die dem Dichter zufolge vergänglich ist: wande daz is di wisheit / di da sciere zegeit, / di da san vertirbit / in dem menscen, so er stirbit (V. 427-430). 32 Die Weisheit Christi hingegen, mit der Hartmann sich in seinem Gedicht wirklich befasst, niemer nezegeit und niemer vertirbit (V. 434 f.). 33 Eine solche Präferenz der Demut und Einfachheit ist in der mittelalterlichen Theologie nicht ungewöhnlich, aber es fällt auf, dass sie sich hier an der Sprachwahl festmacht. Es wird natürlich nicht explizit gesagt, dass Deutsch besser als Latein sei, und Latein verliert auch nicht seinen Status als die göttliche, transzendent aufgeladene Sprache, aber wenn Hartmann sich tump nennt und diesen Status explizit mit der deutschen Sprache verbindet, grenzt er sich bewusst von der lateinischen Bildung ab. Denn tumpheit - eine mangelnde Kenntnis des lateinischen Gelehrtentums - bedeutet, dass man sich nicht vom theologischen Basiswissen ablenken und deswegen vom Göttlichen entfremden lässt. Die Exklusion der explizit lateinischen Gelehrsamkeit erscheint somit als Voraussetzung für eine neue Form der Kommunikation. Durch die wiederholte Selbstdefinition als deutscher Dichter und deutscher Text, die hervorgehobene Kraft der rede , deren Verbindung mit der göttlichen Lehre und die bewusste Distanzierung von der lateinischen, weltlichen Bildung bietet Hartmann jedoch eine geschickte Rechtfertigung der deutschen Sprache als Lehr- 31 Zu Hyle im Mittelalter vgl. Gentry (wie Anm. 24), S. 11. 32 Vgl. Kühn (wie Anm. 8), S. 65 f.: „Seine Demutsgeste […] wird ad absurdum geführt, indem er diese Art von Weisheit als irrelevant und vergänglich bezeichnet […]. Daraus - und damit aus einem gewandelten Verständnis der Bildung - erklärt sich die Flüchtigkeit seiner Skizze vom naturwissenschaftlichen Wissen seiner Zeit“. 33 In diesem Sinne nennt Powell (wie Anm. 27), S. 71, Hartmann „bücherfeindlich“. Jedoch scheint es mir, dass Hartmann die einfache Weisheit Christi lediglich bevorzugt, nicht dass er die weltliche Weisheit grundsätzlich für schädlich oder teuflisch hält. <?page no="137"?> 136 Sarah Bowden sprache an und betont damit ihre besondere Wirkung, die die reine Notwendigkeit der Verständlichkeit überschreitet. IV. Problematische Lehrhaftigkeit in der Auslegung des Vaterunsers Wie die Rede Hartmanns geht es in der ebenfalls Mitte des 12. Jahrhunderts verfassten Auslegung des Vaterunsers darum, einen liturgischen Text zu erklären, der vor und von der Gemeinde rituell gesprochen wurde, und diesen durch Assoziation weiterzuführen. 34 Gisela Vollmann-Profe diskutiert die beiden Texte in ihrer Literaturgeschichte der frühmittelhochdeutschen Zeit im Abschnitt zur „geistliche[n] Belehrung“ ebenfalls zusammen und schreibt ihnen die gleiche Funktion zu, nämlich die Vermittlung von „Glaubensinformation“. 35 Der Dichter der Vaterunser-Auslegung unternimmt diese Aufgabe jedoch völlig anders als der Arme Hartmann. Zunächst gibt es hier keine explizite Lehrfunktion, und der Zweck des Gedichts wird nie eindeutig bestimmt. Obwohl der Text um eine Auslegung des Vaterunsers aufgebaut wird, aus dem die sieben Bitten wörtlich ins Deutsche übersetzt werden, ist die Beziehung zum Lateinischen schwieriger zu fassen als bei der Rede Hartmanns. Zudem ist die Gesamtstruktur des Gedichts durch ungewöhnliche Komplexität geprägt. Denn hier geht es nicht nur darum, das Vaterunser zu erklären, sondern auch darum, dessen sieben Bitten in Beziehung zu vier weiteren Septenaren zu setzen und darüber hinaus weitere Parallelen zwischen diesen Septenaren zu untersuchen: die sieben Seligpreisungen der Bergpredigt, die sieben Gaben des Heiligen Geistes, die sieben Siegel oder Lebensstationen Christi und die sieben alttestamentlichen Patriarchen. Das Gedicht ist in 20 Strophen von jeweils zwölf Zeilen gegliedert. Nach fünf Einleitungsstrophen wechseln sich Strophen zu den sieben Bitten des Vaterunsers mit Strophen zu den anderen Septenaren ab. Diese Septenare - außer den Bitten des Vaterunsers - werden nicht eindeutig voneinander unterschieden oder im Text durch Zitate oder direkte Hinweise darauf eingeführt. Obwohl dem Publikum in der zweiten Strophe mitgeteilt wird, dass es siben bete im Vaterunser gebe und sibenne sint ouch der gebe / des heiligen geistes (Str. 2, V. 21 f.), geht es hier nicht um eine klare, belehrende Aufstellung der Septenare, sondern darum, die Septenare auf komplexe, assoziative und oft verhüllte Weise zu verbinden. In der achten Strophe ist beispielsweise der Ausgangspunkt die zweite Bitte des Vaterunsers, herre, zuo chome din riche (Str. 8, V. 88), und es folgt eine Beschreibung vom Kommen des Vaters am Ende der Welt und vom Untergang des Teufels. Die folgende Strophe fängt, wie in diesem Gedicht häufig der Fall ist, mit einer Seligpreisung an: Salige die daz riche meinent / unde ir herze da zuo reinent (Str. 9, V. 99 f.). Die Reinen werden ewig am Thron Gottes leben - und so führen die Gedanken zum Jüngsten Gericht weiter. Hier kommt außerdem eine Gabe des Heiligen Geistes ins Spiel, denn die Reinen dürfen Gott dank der Gabe der Gnade im 34 Die Auslegung des Vaterunsers , in: Kleinere deutsche Gedichte des 11 . und 12 . Jahrhunderts , hg. von Werner Schröder, Bd. 1, Tübingen 1972 (ATB 71), S. 68-85. Zur Datierung vgl. Edgar Papp, „Auslegung des Vaterunsers“, in: 2 VL , Bd. 1, Berlin / New York 1978, Sp. 554-556. 35 Vollmann-Profe (wie Anm. 3), S. 174. Zur Wichtigkeit des Vaterunsers im Allgemeinen im Mittelalter, vgl. Bernd Adam, „Vaterunserauslegungen in der Volksprache“, in: 2 VL , Bd. 10, Berlin / New York 1999, Sp. 170-182. Er argumentiert (Sp. 171), dass das Vaterunser und dessen Auslegungen im 12. und 13. Jahrhundert aufgrund des wachsenden theologischen Interesses und Bedürfnisses nach religiöser Unterweisung an Bedeutung gewannen. <?page no="138"?> Auf Deutsch lehren 137 Himmel anschauen (Str. 9, V. 103 f.), und es wird darüber hinaus ein Patriarch genannt: Moses, der Gott ebenfalls anschauen wollte, aber auf Erden nicht anschauen durfte (Str. 9, V. 107 f.). Ähnliches findet sich im gesamten Gedicht - ein Leitgedanke wird durch eine Bitte des Vaterunsers eingeführt und dann durch die anderen Septenare weiterentwickelt, ohne auf diese Septenare als solche je explizit zu verweisen. 36 Im Gedicht geht es also eindeutig darum, die Vernetzung von allen Elementen des göttlichen Universums zu demonstrieren, und es führt dadurch auf einen Leitgedanken der mittelalterlichen Theologie hin, der in der weitreichenden und mannigfaltigen allegorischen Praxis der Zeit ausgedrückt wird (siehe oben). Dabei spielt Zahlensymbolik eine wichtige Rolle, weil Zahlen Verbindungen zwischen verschiedenen Gruppen von Fakten und Eigenschaften ermöglichen, die ansonsten womöglich als Gegensätze wahrgenommen würden. 37 Die Zahl Sieben ist wegen ihres weiten Bedeutungsspektrums besonders wichtig. 38 So können in unserem Gedicht dank der Sieben einige überraschende Verbindungen geknüpft werden: Die 17. Strophe führt von der Seligkeit der Milden, die Tauben ähneln, zur Taufe Christi, bei der Tauben anwesend waren, zu der Taube, die Noah den Olivenzweig brachte. Bei diesem Prozess, der einem modernen Leser zunächst äußerst kreativ vorkommt, geht es aber nicht darum, selbst Zusammenhänge zu schaffen, sondern die Zusammenhänge zu enthüllen, die zwischen allen Elementen der von Gott geordneten Schöpfung bereits existieren. 39 Die fünf Septenare werden in diesem Gedicht also nur sehr subtil angedeutet: Es scheint die Aufgabe des Lesers oder Hörers selbst zu sein, jedes der sieben Elemente des jeweiligen Septenars zu identifizieren und als solches zu verstehen. Es erscheint also fraglich, ob die Funktion des Gedichts tatsächlich eine lehrhafte war, denn sein komplizierter Aufbau setzt eine gute Kenntnis der Septenare voraus. Eine der zwei Handschriften des Texts reflektiert dieses Problem: Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek, Cod. 652, eine Sammelhandschrift aus Lagenfragmenten verschiedener Handschriften. Die Quaternio, die unseren Text beinhaltet, bildet den Rest einer Sammelhandschrift des späten 12. Jahrhunderts, die von einer Hand geschrieben wurde und aus kleineren lateinischen und deutschen religiösen und medizinischen Texten besteht - das Gedicht Von der Siebenzahl , das Innsbrucker Kräuterbuch , das Innsbrucker Arzneibuch , die Frauengeheimnisse und verschiedene lateinische Skizzen zu Septenarreihen, wie auch ein Paar ophthalmologische Rezepte und ein kurzer Brief von Alexander an seine Mutter. 40 Wir wissen nichts über die Herkunft 36 Zur Komplexität der Struktur des Gedichts vgl. Volker Schupp, „Die ‚Auslegung des Vaterunsers‘ und ihre Bauform“, in: DU 11 (1959), S. 25-34; ders., Septenar und Bauform. Studien zur ‚Auslegung des Vaterunsers‘, zu ‚De VII Sigillis‘ und zum ‚Palästinalied‘ Walthers von der Vogelweide , Berlin 1964 (Phil. Stud.u.Qu. 22). Seit den Arbeiten von Schupp hat das Gedicht in der Forschung kaum Interesse gefunden. 37 Zur Zahlensymbolik im Mittelalter vgl. Heinz Meyer und Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen , München 1987 (MMS 56). 38 Ebd., Sp. 481: „Mit dieser Vielfalt der Bedeutungsmöglichkeiten bestätigt die Sieben wie keine andere Zahl, daß jeder Sinnträger der Allegorese potentiell ad bonam wie auch ad malam partem gedeutet werden, also Zeichen des Guten wie des Bösen, der Ewigkeit wie der Vergänglichkeit sein kann“. Die verschiedenen Bedeutungen der Zahl Sieben werden von ihnen in Sp. 479-565 ausführlich diskutiert. 39 Vgl. Schupp, „Die ‚Auslegung des Vaterunsers‘“ (wie Anm. 36), S. 30 f. 40 Weitere Details bei: http: / / www.handschriftencensus.de/ 3768 (Stand 12. 6. 2016). Vgl. auch Hellgardt (wie Anm. 12), S. 59 (Nr. 70). <?page no="139"?> 138 Sarah Bowden dieser Handschrift, nur dass sie im 12. Jahrhundert in bairisch-österreichischer Schreibsprache geschrieben wurde. 41 In dieser Handschrift wird unser Gedicht mit lateinischen Wörtern oder Phrasen zwischen den Strophen durchsetzt, die auf die Septenare und weitere Bibelzitate verweisen. 42 Vor der oben diskutierten neunten Strophe steht z. B.: Beati mundo corde (eine Seligpreisung); Ascensio (eine Lebensstation Christi); Spiritus pietatis (eine Gabe des Heiligen Geistes); pulsate et aperietur (Zitat aus Mt 7,7). Diese lateinischen Worte verweisen auf oder identifizieren Themen, die in der Strophe diskutiert werden. Obwohl die Anfänge von allen sieben Bitten des Vaterunsers vor der Strophe zitiert werden, in der sie diskutiert werden, sind die lateinischen Einschübe im Allgemeinen unsystematisch, und nicht jedes Element der fünf Septenare wird explizit erwähnt. Außerdem gibt es nach dem Ende des Gedichts und einem weiteren Gedicht zur Siebenzahl eine Liste von Septenarreihen auf Latein, u. a. ein Schema, das eigentlich das Bauschema unseres Gedichts bildet: 43 David Spiritus timoris Beati pacifici Dies iudicii Pater noster Moises Spiritus pietatis Beati mundo corde Ascensio domini Adveniat Iacob Spiritus scientiae Beati misericordes Resurrectio Fiat voluntas Isaac Spiritus fortitudinis Beati qui esuriunt Sepultura Panem nostrum Abraham Spiritus consilii Beati qui lugent Passio Christi Et dimitte Noe Spiritus intellectus Beati mites Baptismus Christi Et ne nos Adam Spiritus sapientiae Beati pauperes Nativitas domini Sed libera nos Solche lateinischen Einschübe sind äußerst ungewöhnlich und es lohnt sich also, ihre Funktion näher zu untersuchen. Wichtig ist, dass sie keinen integralen Teil des Gedichts bilden. Sie sind nicht in Versform verfasst, sondern bieten eher Notizen oder Hinweise; sie kommen in der zweiten Handschrift, in der das Gedicht zu finden ist - der sogenannten Millstätter Sammelhandschrift (Klagenfurt, Landesarchiv, Cod. GV 6 / 19) - nicht vor. Obwohl die Innsbrucker Handschrift die ältere ist, ist es unmöglich festzustellen, ob die Einschübe als ursprünglicher Teil des Gedichts konzipiert wurden, d. h. ob sie als Kompositionshilfsmittel des Dichters oder als spätere Ergänzung eines Rezipienten zu verstehen sind. Auf jeden Fall ist es aber wahrscheinlich, dass sie dem Leser dabei helfen, den deutschen Text zu verstehen, die Septenare zu erkennen und weitere Verbindungen zwischen ihnen zu finden. Und das Schema - obwohl vom Gedicht getrennt - bietet dann einen Überblick zum Aufbau des ganzen Textes (auch wenn es hier einen Fehler gibt: Im Text ist die fünfte Lebensstation Christi die temptatio statt der passio ). Die Beziehung zwischen den Sprachen scheint also derjenigen in der Rede Hartmanns fast entgegengesetzt zu sein. Denn die Auslegung des Vaterunsers ist ja die Auslegung eines ursprünglich lateinischen Texts, aber setzt sich mit dem Lateinischen nicht mittels Zitaten innerhalb des Gedichts selbst auseinander. Stattdessen kippt hier gleichsam die konventionelle Hierarchie der Sprachen, denn das Deutsche ist ohne das Lateinische potenziell nicht völlig verständlich - zumindest erscheint es in einer der beiden Handschriften so. Hier erklärt das Lateinische das Deutsche und fungiert 41 Zur Handschrift vgl. Bernhard Schnell, „Das ‚Prüller Kräuterbuch‘. Zum ersten Herbar in deutscher Sprache“, in: ZfdA 120 (1991), S. 184-202, hier S. 193-196. 42 Diese lateinischen Einschübe werden in der Ausgabe Schröders (wie Anm. 34) wiedergegeben. 43 Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek, Cod. 652, fol. 76r. Ich gebe hier das Schema ohne Abkürzungen wieder. <?page no="140"?> Auf Deutsch lehren 139 als Interpretationsmittel. Obwohl das deutsche Gedicht auch ohne die lateinischen Einschübe mit Sicherheit zumindest oberflächlich verstanden werden könnte, ist ein vertieftes Verständnis durch die lateinischen Hinweise stark erleichtert. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, weiter nach einem möglichen Rezeptionskreis zu suchen. Eindeutig ist, dass die Texte, die in der Quaternio mit unserem Gedicht überliefert werden, nicht durch Zufall gesammelt wurden, denn es dokumentiert sich ein klares Interesse an Medizin und an der Zahl Sieben. Außerdem wurden alle Texte von einem einzigen Schreiber niedergeschrieben. In seinen Arbeiten zum Kräuterbuch hat Bernhard Schnell gezeigt, dass zwischen unserer Handschrift - die das Innsbrucker Kräuterbuch überliefert - und der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 536, die das sogenannte Prüller Kräuterbuch beinhaltet, eine enge Beziehung besteht. Dieses ist, laut Schnell, das älteste Kräuterbuch in deutscher Sprache, und das Innsbrucker Kräuterbuch bezieht sich eng darauf. Darüber hinaus gibt es auch in der Münchner Handschrift eine Sammlung von deutschen und lateinischen Texten, die ebenfalls von Medizin und der Zahl Sieben handeln. Diese Handschrift wurde im Benediktinerkloster Prüll in Regensburg im Auftrag des Abts Wernher geschrieben, der vorher Stiftsbibliothekar zu Admont war. Auf Grundlage der Ähnlichkeiten zwischen den Handschriften argumentiert Schnell überzeugend, dass die Innsbrucker Handschrift nach dem Muster der Münchner Handschrift verfasst wurde und aus einem ähnlichen monastischen Kreis stammt. Er vermutet außerdem, dass die medizinischen Texte auf Deutsch geschrieben wurden, damit sie auch außerhalb des Klosters rezipiert werden konnten. 44 Im Fall unseres Gedichts müssen wir aber annehmen, dass die lateinischen Einschübe nicht vorgelesen worden wären, was vermuten lässt, dass die Innsbrucker Handschrift zum Lesen bestimmt war, wenn auch nicht ausschließlich. Ein Publikum, das zumindest zum Teil sowohl Deutsch als auch Latein beherrschte, wäre ebenfalls denkbar. Die Einschübe bestehen allerdings aus wohlbekannten Wörtern und Phrasen, und deshalb muss keine tiefe Lateinkenntnis als Rezeptionsvoraussetzung angesetzt werden. Das Publikum könnte mit solchen lateinischen Ausdrücken durch die Liturgie, die Perikopen oder Predigten vertraut gewesen sein, und diese könnten dann ohne ein vollständiges, wörtliches Verständnis als Anstoß zu weiteren Reflexionen fungieren. Trotzdem setzt die Rezeption dieser Handschrift eine Vertrautheit mit Septenaren und allegorischen Verfahren voraus, die eher auf einen monastischen Leserkreis hindeutet. Möglicherweise handelt es sich um eine etwas komplexere Art von Lehren, die auf den Prinzipien der meditatio und ruminatio basiert. 45 Die Innsbrucker Handschrift könnte möglicherweise aus dem Einzelbesitz eines Geistlichen stammen, der sich für Septenare und Medizin besonders interessierte. Wie auch immer wir die Auslegung des Vaterunsers verstehen - mit oder ohne Latein -, steht der Text im Widerspruch zu dem Grundprinzip, von dem ich ausgegangen war: dass Deutsch benutzt wird, um zu lehren, was bereits auf Latein gelehrt worden ist. Schon 44 Bernhard Schnell, „Das ‚Prüller Kräuterbuch‘. Zu Überlieferung und Rezeption des ältesten deutschen Kräuterbuchs“, in: Mittelhochdeutsch (wie Anm. 20), S. 282-294. Vgl. auch ders., „Das ‚Prüller Kräuterbuch‘“ (wie Anm. 41). 45 Vollmann-Profe (wie Anm. 3), S. 178: „Nur der im Geistig-Geistlichen beheimatete Mensch vermag freilich den verborgenen Beziehungen nachzuspüren mit Hilfe der meditativen ruminatio , d. h. des immer neuen, vertiefenden, anverwandelnden Überdenkens der Offenbarung Gottes in Schöpfung und Schrift. Auf dem Boden solchen Denkens ist die ‚Auslegung des Vaterunsers‘ entstanden. Wir sehen in ihr eine Art Umsetzung der geistlich-biblischen Meditation ins Medium der Literatur“. <?page no="141"?> 140 Sarah Bowden in den wenigen vorgeführten Beispielen wird die Komplexität der Beziehung zwischen Deutsch und Latein in frühmittelhochdeutscher Literatur deutlich, die sich keinen festen Funktionalisierungen und Hierarchien unterordnen lässt. Damit muss grundsätzlich die Annahme hinterfragt werden, dass geistliche Dichtung in frühmittelhochdeutscher Zeit primär aus Gründen der Verständlichkeit auf Deutsch geschrieben wurde. Stattdessen scheint es wahrscheinlich, dass die deutsche Sprache in dieser Zeit spezifische - vielleicht neue - literarische Möglichkeiten anbot, die in einzelnen Texten jeweils unterschiedlich aufgegriffen wurden und damit Lehre und Volkssprache in eine neue Beziehung setzten. <?page no="142"?> Lehren und Bilden in den Schriften eines spätmittelalterlichen ‚Machtmenschen‘ Bischof Ulrich II . Putsch von Brixen Nigel Harris ‚In demselben Jahre 1428 geschah es, dass Graf Heinrich von Görz meinen Fischern zu Bruneck die Netze nehmen ließ […]. Kaum hörte ich dies, als ich meine Diener mit dem Befehl absandte, wo sie nur immer die Fischer des Grafen anträfen, sollten sie ihnen auf der Stelle Hände und Füße abhauen‘. 1 Dieses Zitat stammt zwar aus dem bekanntlich ‚rohen‘ 15. Jahrhundert, enthält trotzdem nicht unbedingt Worte, die man von einem verdienstvollen geistlichen Lehrer, geschweige denn von einem fürsorglichen kirchlichen Oberhirten erwarten würde. Es handelt sich um einen Eintrag im so genannten Diarium des Ulrich Putsch, der zwischen 1427 und seinem Tode 1437 das Amt des Bischofs von Brixen bekleidete und seine Gesta auf höchst selektive, subjektive, aber auch durchaus lebhafte Art und Weise eigenhändig beschrieb. 2 Worte wie die eingangs zitierten führen uns schon in eine von mehreren interessanten Paradoxien ein, mit denen die Karriere dieses „Machtmensch[en] im geistlichen Gewand“ 3 reichlich besät war. Auf der einen Seite war Ulrich ein ausgesprochen schwieriger Mensch: Er war extrem ehrgeizig, geltungssüchtig, fast krankhaft selbstbezogen, ruchlos, mitunter grausam und ausgesprochen geldgierig. Trotzdem (und diesen Aspekt seiner Laufbahn hat die Forschung bisher fast völlig ignoriert) 4 war er auch ein gewissenhafter geistlicher Lehrer. Er scheint es als Teil seiner priesterlichen, später bischöflichen Funktion gesehen zu haben, sowohl seine ärmeren Mitgeistlichen als auch die unter deren Obhut stehenden Laien über zentrale Glaubensfragen schriftlich zu unterrichten. Im Folgenden soll es uns 1 Anno xxviij 0 quo supra contingit quod comes Hainricus de Goricia fecit piscatoribus meis in Prawneka recipere recia eorum […]. Dummodo hoc experirem, statim misi famulos meos et precepi eis, quod vbicunque invenirent piscatores comitis, statim eis amputarent pedes et manus ( The Shorter Writings of Ulrich Putsch. ‚Diarium‘, ‚Oraciones super missam‘ and ‚Manuale simplicium sacerdotum‘ , hg. von Nigel Harris, Oxford u. a. 2013, S. 57). 2 Ediert ebd., S. 53-87, auch bei Victor Schaller, „Ulrich II. Putsch, Bischof von Brixen (und sein Tagebuch 1427-1437)“, in: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg 36 (1892), S. 225-322, 568-572. Beide Ausgaben fußen auf Ulrichs Autograph: Bozen, Staatsarchiv (Bolzano, Archivio di Stato), Abteilung Hochstift Brixen, Bischöfliches Archiv, Cod. 2 (3. 1 C). 3 Diese Charakteristik stammt aus dem Titel eines am 19. Januar 2002 gesendeten Hörfunk-Beitrags: „Ulrich Putsch, Bischof von Brixen. Der Machtmensch im geistlichen Gewand“. Für das von mir eingesehene unveröffentlichte Skript war Armin Strohmeyr zuständig. 4 Die meisten Forschungsbeiträge wurden von Historikern verfasst. Nennenswert sind etwa die kurzen biographischen Darstellungen von Karl Wolfsgruber, „Ulrich Putsch - Der Brixener Fürstbischof (1427-1437) aus Donauwörth“, in: Mitteilungen des Historischen Vereins für Donauwörth und Umgebung (1990), S. 7-14, oder Josef Gelmi (z. B. Die Brixner Bischöfe in der Geschichte Tirols , Bozen 1984, S. 93-97). <?page no="143"?> 142 Nigel Harris vor allem darum gehen, diese lehrende Funktion ein wenig näher zu beleuchten. Wen und was wollte er lehren, und (solange wir so etwas überhaupt beurteilen können) mit welchem Erfolg? Beginnen wir aber mit einer wohl noch nötigen kurzen Skizze seiner ereignisreichen Laufbahn. Ulrich Putsch stammte aus einem Patriziergeschlecht in Donauwörth, wo er schon 1376 als Stadtschreiber bezeugt wird. Nach mehrjähriger Tätigkeit als notarius publicus apostolica et imperiali auctoritate in Schwaben muss er aber vor 1407 nach Tirol gekommen sein. Verbindungsglied zwischen den beiden Territorien war wohl das schwäbische Zisterzienserstift Kaishaim, das zahlreiche Beziehungen zu seinem Tiroler Tochterhaus in Stams unterhielt - Ulrich war nachweislich für beide Klöster in Rechtsangelegenheiten tätig. Zwischen 1407 und seinem Tod 1437 war er dann in Tirol sesshaft und außerordentlich erfolgreich. 1407 urkundet er als Notar in der herzöglichen Kanzlei Friedrichs IV ., bis 1412 scheint er es aber zum Sekretär des Herzogs gebracht zu haben, und zwischen 1413 und 1427 amtierte er als dessen Kanzler. Parallel dazu verfügte Putsch über mehrere z. T. reich dotierte geistliche Pfründen. 1411 wurde er z. B. Pfarrer von Tisens, 1412 Kollektor der Apostolischen Kammer in den Diözesen Brixen, Trient, Chur und Konstanz und im selben Jahr Inhaber der Pfarre Tirol-Meran. Nicht zuletzt dank solcher Ämter konnte Ulrich ein erhebliches Vermögen aufbauen, so dass er schon vor seinem zehnjährigen Episkopat als Kulturmäzen auftreten konnte. 5 Als seine Karriere schließlich 1427 mit seiner (anscheinend recht kontroversen) Wahl zum Bischof ihren Höhepunkt erreichte, muss er schon in hohem Alter gestanden haben. Von mangelnder Energie zeigen die Ereignisse seiner Amtszeit aber keine Spur. Nicht zuletzt wegen der Akribie, des Starrsinns und des Geltungsdrangs des betagten Bischofs selbst geriet er noch in zahlreiche arge Feindseligkeiten, sei es gegenüber dem Grafen von Görz, Bischof Alexander von Trient oder verschiedenen Tiroler Adligen, wie zum Beispiel Johann von Vilanders und natürlich Oswald von Wolkenstein. Besonders berüchtigt und folgenschwer war der im Winter 1428-1429 unternommene Versuch seiner eigenen Domherren und mehrerer Stiftsministerialen, den Bischof schlichtweg abzusetzen - was zu einer neuntägigen Gefangenschaft Ulrichs in der eigenen Residenz und anschließend zu einem dreizehnwöchigen Exil in Innsbruck führte. Neben diesen vielfältigen Tätigkeiten war Ulrich Putsch besonders in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens auch schriftstellerisch aktiv. Drei seiner Werke lassen sich mit einiger Sicherheit datieren. Der Versepilog seiner Übersetzung des lateinischen frömmigkeitstheologischen Sammelsuriums Lumen anime C stellt fest, besagtes Werk sei getewtschet worden / Do man zalt nach rechtem orden / Tawsent vnd vierhundert jar / Vnd sechs vnd 5 Laut dem eigenen Diarium brachte er bei Amtsübernahme viele Kunstwerke sowie eine beachtliche Bibliothek nach Brixen: Deo dante ecclesie de bonis suis, vsque huc nichil obligaui, sed de propriis recepi. Eciam de masserijs et lectis et eorum attinencijs adduxi in magna quantitate septem vel octo currus bene gargatos. Habui eciam pulchra et preciosa clinodia et jacalia in ciphis aureis et argenteis, cuppis, dacijs, vnum ouum strucionis bene fulcitum, et alia quamplura, non solum ad mensam, ymo eciam ad altare; cum vna tabula de auro cum effigijs argenteis tribus, vna tabula de berillis satis preciosa, vna corporalium cista de berillis, vno osculo pacis de puro auro intercluso ligno sancte crucis, vna parua tabula de auro finissimo in qua in capite inclusa est vna spina de corona domini et de lacte beate virginis, in medio tabule de sancto Johanne Baptista, et in pede quamplures sancti. Eciam apportaui vnum magnum graduale cum pulchra illuminatura, duo missalia, apportaui tres magnos tapetos quod dicitur teppich, numero quasi octo, vnam bibliam preciosissimam, cui non est visa similis, librum decreti, et alios libros numero quasi centum. The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 54, Z. 32-47. <?page no="144"?> Lehren und Bilden bei Ulrich II. Putsch von Brixen 143 zwainczig fürwar . 6 Und im Akrostichon, das sich über die ersten 20 Verse dieser Übersetzung erstreckt, nennt sich der Autor, als ULRIKH PFARRER ZE TYROL. 7 Das schon erwähnte, in eher kolloquialem Latein verfasste Diarium wurde dann Schritt für Schritt zwischen den Jahren 1427 und 1437 geschrieben (dies beweisen etwa viele Schriftschwankungen, Ausradierungen und Marginalien, die im Autograph zu finden sind). Die Autorschaft auch dieses Tagebuchs ist übrigens völlig unumstritten: Am Anfang stellt sich der Verfasser seinem Publikum direkt vor (wir haben hier mit keinem intimen privaten Journal zu tun), indem er sich Ego Vlricus, rector parrochialis ecclesie in Tyroli nennt, der per viam arbitrij vnanimi voce a capitulo electus in episcopum worden sei. 8 Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat Putsch dann im Jahre 1431 ein drittes Werk, eine Reihe von 43 Messgebeten für illiterati verfasst oder zumindest zusammengestellt. Im Tagebuch-Eintrag für 1431 steht nämlich lakonisch: Composui oraciones super missam . 9 Diese Aussage wird daduch bestätigt, dass in einem Codex aus Stams (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts) sowie in zahlreichen anderen Handschriften ein solches Werk unserem Bischof zugeschrieben wird: 10 Es heißt, die oraciones compilauit Reuerendus pater et dominus dominus Udalricus episcopus Brixinensis , womit eigentlich nur Ulrich Putsch gemeint sein kann - nicht nur wegen des Diarium -Eintrags und seiner persönlichen Nähe zu Stams, sondern auch wegen der Tatsache, dass der einzige andere Brixner Bischof, der Ulrich mit Namen hieß, fast keine literarischen Interessen gehegt hatte. 11 Wie man vielleicht erwarten würde, wurden diese Messgebete im Laufe der darauffolgenden 100 Jahre anscheinend mehrfach ins Deutsche übersetzt (ich glaube, fünf fast gänzlich voneinander unabhängige Fassungen identifiziert zu haben). 12 Ob Ulrich selbst für die eine oder andere Verdeutschung verantwortlich war, lässt sich nicht eindeutig beweisen - ich habe aber auf Grund von markanten übersetzungstechnischen Ähnlichkeiten zwischen der am häufigsten überlieferten deutschen Fassung der Oraciones und der oben genannten Lumen anime- 6 The Light of the Soul. The ‚Lumen anime C‘ and Ulrich Putsch’s ‚Das liecht der sel‘. Critical Edition with Introduction, hg. von Nigel Harris, Oxford u. a. 2007, S. 461, V. 5624-5627. 7 Ebd., S. 71. 8 The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 53, Z. 9-11. Ulrich muss gewusst haben, dass seine Wahl in Wirklichkeit alles andere als ‚einstimmig‘ war. Schon im selben Satz fügt er etwa hinzu: Habui multos emulos, sed intercessio domini Friderici ducis Austrie et adhesio precum omnium vasallorum cum ciuium supplicacione michi profuerunt . Ebd., S. 53, Z. 12-15. 9 Ebd., S. 71, Z. 479. 10 Stams, Stiftsbibliothek, Cod. 43; auch Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Ms. 69; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14 902; Stratton-on-the-Fosse, Downside Abbey Library, Ms. 58 254. Die Zuschreibung findet sich auch in drei Handschriften einer vielleicht von Putsch selber gemachten Verdeutschung der Gebete: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 114 und Cgm 638; Salzburg, Bibliothek der Erzabtei St. Peter, Cod. a II 12. In Cgm 114 lesen wir etwa auf fol. 86 v : Item dy vorgeschriben gepet über dy messz hat gemacht der erwirdig vater vnn herr herr Vlrich Bischoff von Brixinensis [sic], die da begabt sein mit vil grossem ablaß, wer sy mit andacht spricht vnd pettet, etc. Eine synoptische Ausgabe der lateinischen und der am häufigsten überlieferten deutschen Fassung gibt es in The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 89-117, Zitat S. 117, Z. 354-356. 11 Es handelt sich um Ulrich I. Reicholf (1396-1417), der außer durch vier vielleicht von ihm selber vorformulierte lateinische Verse auf seinem Grabstein nicht schriftstellerisch in Erscheinung trat, und auch - wenn wir Ulrich Putsch Glauben schenken - die bischöfliche Bibliothek arg vernachlässigte. Siehe The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 54, Z. 47-50. Einen freundlichen Hinweis auf Reicholfs Grabstein verdanke ich Herrn Prof. Dr. Max Siller (Innsbruck). 12 Siehe The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 33-35. <?page no="145"?> 144 Nigel Harris Übersetzung dennoch gezeigt, dass diese beiden Texte sehr wohl aus der gleichen Feder stammen könnten. 13 Schließlich wird in zwei von insgesamt acht erhaltenen Handschriften unserem Brixner Bischof ein sogenanntes Manuale simplicium sacerdotum libros non habencium attribuiert. 14 Es handelt sich dabei um eine erheblich verkürzte und zum Teil recht frei verfahrende lateinische Fassung von den ersten vier Büchern des im Spätmittelalter ungemein geschätzten Rationale divinorum officiorum des Gulielmus Durandus. Auch diese Zuschreibung, die zuerst im auf 1434 datierten Clm 5667 erscheint, ist durchaus plausibel: Nichts spricht gegen sie; kein anderer möglicher Autor wird in den Handschriften genannt; und vor allem kann man eine Anzahl von Parallelen zwischen diesem Manuale und den anderen Werken Ulrichs eruieren. 15 Im Folgenden soll es uns nun darum gehen, vor allem die lehrenden und bildenden Momente dieser vier Werke skizzenhaft darzustellen. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, mit dem Manuale zu beginnen, weil hier die didaktischen Intentionen des Verfassers wohl am deutlichsten zu erkennen sind. Schon der in den meisten Handschriften überlieferte Werktitel Manuale simplicium sacerdotum libros non habencium verrät eine didaktische und auch seelsorgerische Absicht - und erinnert zudem an das Anliegen und die Rhetorik der nicht zuletzt von Franz Josef Worstbrock erforschten Liber pauperum -Tradition. 16 Letzteres gilt auch für Ulrichs von Durandus unabhängigen Prolog, dem zufolge er ein paruum tractatulum verfasst haben will pro vtilitate aliquorum presbitorum qui quasi cottidie se diuinis officijs immiscere presumunt, nec misteria misse et eorum que ad diuinum cultum pertinere dinoscantur intelligunt, et de quibus presumendum est quod paruam mercedem inde reportent et tempus perdant . 17 Da spricht in der Tat ein gewissenhafter Bischof, der auf ‚Qualitätskontrolle‘ in Bezug auf die in seiner Diözese tätigen Priester erpicht ist und der außerdem verhindern will, dass diese ihre Zeit nutzlos verschwenden. Von besonderer Wichtigkeit sind hier Ulrichs Berufung auf die Nützlichkeit, die vtilitas seines Unterfangens, sowie seine Hervorhebung der Messe und deren Mysterien. Aus seiner Adaption von Durandus wird nämlich einerseits bald klar, dass er sein Werk als ein durchaus pragmatisches, praxisorientiertes Handbuch betrachtet, und nicht, oder nicht primär, als ein Mittel, seine Priester theologisch zu bilden. Es wird naturgemäß sehr viel gestrichen, gestrafft oder kurz zusammengefasst - von dem Material aber, das Ulrich mehr oder weniger unangetastet lässt, ist das allermeiste eher praktischer und relativ einfacher Natur. Diese Tendenz macht sich bereits am Anfang bemerkbar. Nach seinem Prolog kopiert er die ersten fünf einführenden Zeilen von Durandus’ erstem Buch, „De ecclesia et eius partibus“, ziemlich getreu. Dann 13 Ebd., S. 35-38. 14 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 5199 und Clm 5667. Der Text ist ediert in The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 119-201. 15 Für Weiteres zu den Ähnlichkeiten zwischen den Ulrich Putsch zugeschriebenen Texten siehe ebd., S. 39-41. 16 Franz Josef Worstbrock, „ Libri pauperum. Zu Entstehung, Struktur und Gebrauch einiger mittelalterlicher Buchformen der Wissenschaft seit dem 12. Jahrhundert“, in: Der Codex im Gebrauch. Akten des Internationalen Kolloquiums 11 .- 13 . Juni 1992 , hg. von Christel Meier, Dagmar Hüpper und Hagen Keller, München 1996 (MMS 70), S. 41-60. Einige der von Worstbrock als für den Liber pauperum typisch betrachteten Merkmale gelten auch für Ulrichs Durandus-Bearbeitung, wie z. B.: „ Libri pauperum […] können Summarien umfangreicher Großtexte sein […]. Die verkürzende Abbildung folgt strikt der Ordnung des Ausgangstextes“ (S. 53); oder sie „wollen die großen Ausgangstexte oder die Wissensbereiche, die sie abbilden, wenn nicht ersetzen, so doch vertreten“ (S. 56). 17 The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 119, Z. 10-14. <?page no="146"?> Lehren und Bilden bei Ulrich II. Putsch von Brixen 145 werden die nächsten 183 Zeilen des Rationale divinorum officiorum 18 aber einfach getilgt, in denen Durandus das eingangs kurz Konstatierte mit etymologischen und auch theologischen Argumenten bestätigt und belegt (von den alttestamentlichen Vorgängern des mittelalterlichen Kirchengebäudes ist besonders ausführlich die Rede). Erst die darauffolgende Reihe von kurz gefassten allegorischen Moralisationen von gewissen partibus ecclesie scheint Ulrichs Aufmerksamkeit wiedererweckt zu haben - wie z. B. Tectum ecclesie designat caritatem. Nam sicut tectum cooperit ecclesiam, sic caritas operit multitudinem peccatorum. Hostium ecclesie signat obedienciam. Nam hostium obedit intrantibus bonis et malis . 19 Eine solche Vorgehensweise ist für Ulrichs Bearbeitung symptomatisch. Er fasste sein Manuale wohl tatsächlich als ein leicht zugängliches, praxisbezogenes Vademecum auf - und als ein Vademecum, das seinem Leser vor allem bei der Vorbereitung und Performanz der Messfeier helfen soll. Schon bei Durandus ist das vierte von den durch Ulrich Putsch bearbeiteten Büchern ( De exposicione misse ) mit Abstand das umfangreichste, im Manuale ist diese Disparität aber wesentlich größer - in meiner Ausgabe nehmen die drei ersten Bücher insgesamt 916 Zeilen in Anspruch, und das vierte, über die Messe, mehr als 1500. Auch in diesem vierten Buch werden sehr viele Passagen des Quellentextes einfach gestrichen, besonders diejenigen, die sich mit der eigentlichen Theologie der Eucharistie befassen. Das Verhalten des Adaptators Ulrich Putsch ändert sich aber insofern, als er sich in diesem vierten Buch etwas mehr Freiheit erlaubt, bis hin zu völlig neu zusammengestellten Kapiteln über das Pater Noster und die geistlichen Vorbereitungen, die vor der Messe zu treffen sind. 20 Nicht zuletzt in diesen beiden Abschnitten merkt man auch, das Putsch die ‚Einfachheit‘ seines klerikalen Zielpublikums im Auge behält: Von komplexer Theologie, wie sie wenigstens partiell an diesen Stellen auch bei Durandus zu finden ist, ist bei Ulrich keine Spur. Vielmehr gibt er praktische Anweisungen (man müsse zum Beispiel die Gebete ganz deutlich sprechen, non festinando, vel verba sincopando, aut aliquid obmittendo ) und versorgt seine simplices sacerdotes mit leicht memorierbaren, klar numerierten Listen: Er assoziiert die sieben Bitten des Pater Nosters mit den sieben Worten Christi am Kreuz und gibt dem einfachen Benutzer die Möglichkeit, auf besonders leichte Weise zu beichten, indem er ihn kurz an die vier himmelschreienden Sünden, fünf Sinne, sechs Werke der Barmherzigkeit, sieben Todsünden und acht Seligsprechungen erinnert. Neben dieser mnemonischen Verwendung von Zahlen, die für die spätmittelalterliche (auch Laien-)Didaxe so charakteristisch ist, zeigt Putsch auch in anderer Hinsicht eine essentiell praktisch-pragmatische Orientierung: Fast die einzigen Kapitel, die er aus dem vierten Buch des Durandus wortwörtlich kopiert, sind diejenigen, die sich auf die casus et negligencia circa consecracionem konzentrieren, 21 wo man etwa lernen kann, was zu tun ist, wenn ein Insekt vor der Wandlung in den Kelch fällt, oder wenn einem Kommunizierenden gerade nach Einnahme der Hostie übel wird. Nun darf man zwar behaupten, das Ulrichs Manuale seinen didaktischen Zweck in mancher Hinsicht erfüllt: Als knappe, unprätentiöse, praxisorientierte Zusammenfassung eines einschlägigen liturgischen Meisterwerkes hätte er bestimmt zahlreichen spätmit- 18 In der Edition von Anselme Davril und Timothy M. Thibodeau, Gvillelmi Dvranti Rationale Divinorvm Officiorvm , 3 Bde., Turnhout 1995-2000 (CCCM 140, 140A, 140B). 19 The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 120, Z. 32-35. 20 Siehe ebd., S. 190-194, Z. 2099-2214 respektive S. 153-155, Z. 1000-1069. 21 Ebd., S. 178-182, Z. 1770-1883. <?page no="147"?> 146 Nigel Harris telalterlichen Weltpriestern von Nutzen sein können. Auf der anderen Seite aber weist das Manuale einige Schwächen auf, die diese Nützlichkeit in der Praxis wahrscheinlich schmälerten. Leicht zu benutzen ist es nämlich nicht. Ulrichs Tendenz, oft sehr kurze Ausschnitte aus Durandus ohne verbindende oder erläuternde Übergangspassagen schlicht nebeneinander zu stellen, machen seinen Text weder gut lesbar noch leicht konsultierbar - zumal er auf Latein verfasst und in allen acht noch existierenden Handschriften ohne Register oder Inhaltsverzeichnis überliefert ist. Es überrascht also nicht unbedingt, dass diese handschriftliche Überlieferung eher schmal wirkt, und dass die meisten Textzeugen in denjenigen bairisch-österreichischen Klöstern geschrieben wurden, in deren Bibliotheken im Laufe des 15. Jahrhunderts sowieso eine rege Kopiertätigkeit herrschte. 22 Alles in allem gibt es wenige Beweise dafür, dass sich dieses Manuale unter seinen anvisierten Lesern einer besonderen Beliebtheit erfreute. Im Falle der wohl 1431 komponierten Oraciones super missam ist eine lehrende oder bildende Funktion weniger explizit. Auch diese Gebete zeugen jedoch von Ulrichs Wunsch, eine verständige und auch einfühlsame Beteiligung an der Messfeier zu fördern, obwohl sein Zielpublikum hier ein anderes und ungleich breiteres ist: Omnis homo , so steht es im kurzen Einführungsparagraphen, qui deuote cupit astare diuino officio, oret attente has subscriptas oraciones . 23 Genau wie man sie beten soll, wird aber nie ausdrücklich erklärt. Man muss wohl davon ausgehen, dass die Gebete entweder lateinisch oder deutsch - und zwar mehrmals - von einem Kleriker zum Auswendiglernen vorgetragen wurden, und dass sie dann im Rahmen der Messe gesprochen wurden (es heißt vielfach etwa et dicat oder dic cum presbitero ) - wie laut, ob überhaupt hörbar, oder gar in welcher Sprache, wird aber nirgends thematisiert. Fest steht nur, dass für das Sprechen der einzelnen Gebete Ablässe gewährt werden sollten - zehn Tage für die Gebete vor der Präfation, 40 Tage bis zur Wandlung, 50 bis zur Kommunion, und bis zum Schluss ebenfalls 50. 24 In der Praxis wird der Gottesdienstbesucher durch die Oraciones mit einer Art Führer durch die ganze Messe versehen, der ihm zwar theologische Erläuterungen schuldig bleibt, der ihm aber helfen soll, über das liturgische Geschehen zu meditieren, sich damit zu identifizieren, es für ihn persönlich nutzbar zu machen. Dies gilt zum Beispiel für das 15. Gebet: Ad offertorium dic oracionem: O celestis pater, qui es fundamentum omnium bonitatum, suscipe clementer et benigne hanc oblacionem, et tribue peticionibus meis effectum salutarem, ut graciam tuam consequi valeam, et iugiter perseuerem in illa. Amen . 25 Hier kommen verschiedene Aspekte zum Vorschein, die auch für viele andere Gebete charakteristisch sind: Eine zweiteilige, aus Lob und Fürbitte bestehende Grundstruktur; die Betonung des Individuell- Persönlichen ( tribue peticionibus meis ), der Hoffnung auf das ewige Leben und nicht zuletzt auch des pragmatisch Nützlichen ( effectum salutarem ). Die Verwendung der ersten Person Singular sollte hier aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Ulrich offensichtlich auch auf das korporative, das kollektive Moment der Messe ankam. Viele Gebete ermutigen den 22 Die Codices München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 18 595 und Clm 19 744 stammen z. B. aus Tegernsee, Clm 3021 aus Andechs und Clm 5667 aus Dießen. 23 The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 90, Z. 3 f. In den deutschen Fassungen heißt dies etwa Wer aber andächtvollichen pey der messz will sten, der sprech dise nachgeschribne gepet (ebd., S. 91, Z. 1 f.). 24 Siehe ebd., S. 116, Z. 327-333. 25 Ebd., S. 96, Z. 95-98. Deutsch (S. 97, Z. 97-100): Zu dem opfergesang: O hymlischer vater, der du pist ain gruntfest aller guttät, entpfach miltickleich vnd senftmütickleich ditz opfer, vnd verleich meinen pittungen haylsamen nütz, das ich deiner gnad müg nachfolgen, vnd emsigckleich in ir beleiben. Amen. <?page no="148"?> Lehren und Bilden bei Ulrich II. Putsch von Brixen 147 einzelnen Laien dazu, sich als Mitglied in einer breiten, manchmal sehr breiten betenden Gemeinschaft zu betrachten. Ungefähr die Hälfte der Gebete verwendet nämlich die Wirstatt der Ich-Form, und in einigen wird die Vorstellung der ganzen christlichen Kirche, der Gemeinschaft der Heiligen, auch ausdrücklich herangezogen. 26 Über die eigentliche Wirkung, die diese Oraciones super missam auf ihre Leser bzw. Hörer erzielen konnten, kann man nur Vermutungen anstellen. Besonders in ihren verschiedenen (oft erheblich verkürzenden) deutschsprachigen Bearbeitungen scheinen sie aber bis ins 16. Jahrhundert hinein ziemlich bekannt gewesen zu sein. Wenn man nur mehr ohne weniger vollständige Kopien in Betracht zieht, so gibt es fünf lateinische und zwölf deutsche (fast alle bairisch-österreichische) Handschriften, wenn man aber Exzerpte dazu zählt, so gibt es mindestens zehn weitere. 27 Rund die Hälfte dieser Codices besteht aus kleinformatigen Gebetbüchern aus dem späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert, ein Befund, der darauf hindeutet, dass die Gebete zunehmend im Rahmen der privaten Andacht statt des liturgischen Rituals benutzt wurden. Unser dritter Text, Ulrichs 1426 erstellte Übersetzung des Lumen anime C , ist in nur sieben Handschriften überliefert . 28 Die ganze Lumen -Textfamilie ist bekanntlich eine äußerst vielschichtige und weit verzweigte; alle Texte, die unter der Bezeichnung Lumen anime firmieren, sind aber im Grunde Naturexempelsammlungen in lateinischer Prosa, die für Prediger gedacht sind und die ihr Material zumindest tendenziell alphabetisch nach den ins Auge gefassten Predigtgegenständen ordnen. 29 Dies galt wohl auch für den Text der lateinischen Lumen- Handschrift, die Ulrich Putsch ins Deutsche übersetzte: 30 Sie muss insgesamt 637 kurze Abschnitte überliefert haben, von denen die allermeisten eine klar gegliederte Grundstruktur aufweisen, die für didaktisch orientierte Exempelsammlungen jeglicher Art bezeichnend war. Gemeinhin wird mit einem naturwissenschaftlichen bzw. medizinischen Zitat angefangen, das dann geistlich interpretiert und oft durch weitere Zitate untermauert wird. Wir lernen etwa, dass hohe Wolken keinen Regen bringen, weil die Höhen kalt sind und der Regen nicht tauen könne; genauso wenig interessieren sich die hohen in der zyer diser werlt für Buße und Reue, wie auch Gregorius und andere gesagt hätten. 31 26 Siehe z. B. das Communicantes-Gebet, Nr. 26 (ebd., S. 102-104, Z. 170-177): Fac nos, quesumus, omnipotens deus, communicari ceteribus sanctorum angelorum, necnon beatam virginem Mariam, que ipsum qui oblatus est et qui uera hostia est genuit, digne et laudabiliter venerari cum sanctis apostolis, martiribus et omnibus sanctis tuis, ut eorum suffragio de fide perducamur ad speciem, de stadio perueniamus ad brauium, et de via ad patriam transeamus; necnon eorum suffragantibus meritis diuino auxilio muniti protegamur hic et per infinita secula seculorum. Amen. 27 Einzelheiten ebd., S. 28-32. 28 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1159, sowie Ms. germ. fol. 1313; Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Ms. FB 1064; Karlsruhe, Badische Staatsbibliothek, Ms. St. Peter Pap. 25; München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 47 und Cgm 389; Wilten (Innsbruck), Stiftsbibliothek, Ms. 32 03 13. Alle sind ausführlich beschrieben bei Bernd Schmidt, Ulrich Putsch und seine Übersetzung ‚Das liecht der sel‘ , Diss. Hamburg 1973, S. 107-130; eine Aktualisierung erfolgte durch Harris, The Light of the Soul (wie Anm. 6), S. 59-61. 29 Zur Tradition noch grundlegend: Mary A. und Richard H. Rouse, „The Texts Called Lumen anime “, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 41 (1971), S. 5-113. Für eine Zusammenfassung und Aktualisierung ihrer Ergebnisse siehe The Light of the Soul (wie Anm. 6), S. 15-47. 30 Dieser verschollenen Handschrift am nächsten steht Salzburg, Bibliothek der Erzabtei St. Peter, Cod. a II 22 (1468-1470). 31 Dies der Inhalt des zwölften Abschnitts: Siehe The Light of the Soul (wie Anm. 6), S. 92 f. <?page no="149"?> 148 Nigel Harris An dieser Grundstruktur ändert Ulrich kaum etwas. Mehr noch, seine Übersetzung ist fast pedantisch genau, sowohl was den Satzbau als auch was die Wortwahl betrifft, und von Erweiterungen, Ergänzungen oder Umdichtungen kann kaum die Rede sein. 32 Nur ganz am Anfang und ganz am Ende des Leicht der sel erlaubt er es sich, Selbständiges hinzuzufügen. Sein Text fängt mit einem zehn Reimpaare umfassenden Prolog an, der, wie bereits gesagt, ein Akrostichon enthält, das uns den Namen des Übersetzers bekannt gibt, bevor er zu einer Anrufung und einem Lobpreis Mariens übergeht. Erst ganz am Ende des Prologs verrät Ulrich unabhängig von seiner Quelle eine eigene - recht allgemein gehaltene - geistlich-seelsorgerische Intention, indem er behauptet, er schreibe ein Buch, des manig mensch an der sel mag genesen (V.134). Dann gibt es nichts Neues bis zum Epilog, der diesmal aus 27 Reimpaaren besteht, das Abfassungsjahr 1426 erwähnt, auf das Akrostichon des Prologs sowie auf den Unterschied zwischen dem sogenannten ‚großen‘ und dem von ihm übersetzten ‚kleinen‘ Lumen anime eingeht, ein letztes Mal Maria und die Heiligen anruft, und schließlich für das Seelenheil betet. 33 Nun kann man sich leicht vorstellen, dass eine volkssprachliche Naturexempelsammlung dieser Art einem Prediger auch in der Praxis dienlich war: Sie stellt eine immense Fülle an meist leicht verständlichen Naturexempeln bereit und bezieht diese konsequent auf moraltheologische oder auch mariologische Predigtgegestände. Wie Ulrichs Manuale kann jedoch auch dieses Riesenwerk nicht besonders leicht zu benutzen gewesen sein. Viele lateinische Lumen- Handschriften machen zwar ihrerseits einen etwas chaotischen Eindruck, in ihnen liegt aber oft ein Register vor, das bei Ulrich gänzlich fehlt, und bei den meisten ist, wie gesagt, zumindest ansatzweise eine alphabetische Ordnung der Kapitel zu finden. Nun ist das Moment der alphabetischen Ordnung fast das einzige Element seines Quellentextes, das Ulrich nicht ins Deutsche übertrug. Er verwendet vielmehr noch das lateinische Abc. Sein erstes Kapitel heißt etwa von der höhmütikeit vnd hochfart diser werlt , das zweite von der lieb Christi und das dritte von der zufließung vnd selykeit der werlt, die da pringt den tod des leibs vnd der sel . 34 Hinter diesen Bezeichungen stecken offensichtlich die lateinischen Termini de altitudine , de amore und de affluencia ; eine Reihenfolge der Kapitel, die dem Aufbau der lateinischen Quelle unkritisch treu bleibt, kann allerdings dem lateinunkundigen Leser, den Ulrich vermutlich mit anvisierte, wenig genutzt haben. Ein Blick in die Überlieferungsgeschichte des Liecht der sel legt wiederum nahe, dass Ulrichs Werk wohl auch als naturwissenschaftliches / medizinisches Handbuch benutzt wurde. Eine frühe Handschrift (Cgm 389, vom Jahre 1428) befand sich zum Beispiel im Besitz des bekannten Nürnberger Arztes und Büchersammlers Hartmann Schedel, während die Innsbrucker Handschrift G mit der Bibliothek des naturwissenschaftlich interessieten Tiroler Adligen Anton von Annenberg in Verbindung gebracht werden kann. Auch für einen solchen Rezipienten brächte die Benutzung des Kompendiums aber einige Schwierigkeiten mit sich. Bei aller strukturellen Verworrenheit blieb das Liecht doch geistlich fokussiert, und sein völliger Mangel an naturwissenschaftlicher Systematik muss seinen 32 Ulrichs Übersetzungsstil wird analysiert von Schmidt (wie Anm. 28), S. 72-105, sowie von Nigel Harris, „ Das es teutsche zung vernimpt : Zur Übersetzungsliteratur Tirols um 1400“, in: German Life and Letters 66 (2013), S. 233-253, besonders S. 240-245. 33 Siehe The Light of the Soul (wie Anm. 6), S. 70 bzw. S. 461-465. Im Spätmittelalter wurde (tendenziell und irreführenderweise) das von Rouse und Rouse (wie Anm. 29) genannte Lumen anime B als das ‚große‘ und das Lumen anime C als das ‚kleine‘ bezeichnet. 34 The Light of the Soul (wie Anm. 6), S. 85, Z. 137-139; S. 99, Z. 323; S. 105, Z. 422 f. <?page no="150"?> Lehren und Bilden bei Ulrich II. Putsch von Brixen 149 Wert in den Augen eines vornehmlich am Naturwissen interessierten Lesers geschmälert haben. Ihm genauso wie dem Prediger muss das Liecht letztendlich wie ein Nachschlagewerk vorgekommen sein, in dem man nur mit Mühe etwas nachschlagen konnte. Schließlich kommen wir zu Ulrichs Diarium oder, um dessen Vorblatt genau zu zitieren, Acta per reverendissimum dominum Udalricum episcopum Brixinensem ac fundatorem capelle trium regum propria manu conscripta de anno ad annum . 35 Wie bereits angedeutet wurde, handelt es sich hierbei keineswegs um ein intim persönliches Dokument. Über das innere Geistesleben des Bischofs lernen wir so gut wie nichts, und auch über seine privaten oder familiären Umstände kaum etwas - er stellt beispielsweise fest, dass er 1428 einen neuen Abt des Prämonstratenser Stifts Wilten zu Innsbruck habe weihen müssen, erwähnt aber mit keinem Wort, dass die Sedisvakanz nur wegen des Todes seines eigenen Bruders entstanden war. Vielmehr stellt sich Ulrich ausschließlich als Person des öffentlichen Lebens dar. Er schreibt „in gewisser Weise an seinen eigenen Gesta“ 36 und deswegen (wie übrigens auch sein berühmtester Kontrahent Oswald von Wolkenstein) mit einem Auge auf die Nachwelt gerichtet. Genauso wie Oswald wollte Putsch sich dementsprechend Sicherheit verschaffen, dass seine Schrift die Nachwelt tatsächlich erreichen würde: Sie wurde nämlich mit anderen wichtigen Dokumenten zusammengebunden, damit spätere Brixner Bischöfe sie bei der Amtsübernahme vorfänden. Was wollte Ulrich also durch diese Acta seine Nachfolger, und vielleicht auch eine breitere Öffentlichkeit lehren? Auf der einen Seite wohl viele Fakten. Größere Ereignisse der Reichspolitik (wie etwa das Konzil von Basel oder Einfälle durch die Hussiten - Ulrich nennt sie Ungaros ) werden zwar nur peripher angedeutet; 37 über Ulrichs eigene Tätigkeit als Territorialherr, Finanz- und Wirtschaftspolitiker, Bauherr und nicht zuletzt Kunst- und Literaturmäzen wird die Nachwelt durch das Diarium aber hervorragend informiert. Er habe beispielshalber verschiedene Burgen renoviert und ausgebaut, die Dreikönigskapelle im Brixner Dom errichtet und vornehm ausgestattet, die Straßen der Städte Brixen, Bruneck und Klausen gepflastert, und allerlei Kleinodien, Reliquien und auch Bücher entweder gekauft oder in Auftrag gegeben. 38 Einen rein informativen Bericht über die Ereignisse seiner Amtszeit wollte Ulrich aber bestimmt nicht schreiben. Er hegte darüber hinaus die augenfällige Absicht, sich selbst darzustellen und hochzustilisieren. In mancher Hinsicht zeichnet sein Tagebuch das Bild eines idealen geistlichen Fürsten, der zur Bewunderung und wohl auch Nachahmung durch den Leser einlädt. Wie wir bereits gesehen haben, ist dieser Fürst eine bedeutende politische Größe, ein eifriger Bauherr und Kunstmäzen; er ist aber auch ein guter Haushalter (Ulrich wird nicht müde, zu betonen, dass er seine Diözese auch in eine finanzielle Blütezeit geführt habe); dazu ist er freigebig, gerecht und verständnisvoll 39 und immer bereit, sein Volk zu schützen (er habe etwa 30 000 Pfeile anfertigen und Pässe, Städte und Schlösser befestigen lassen). Die Erfüllung dieser Pflichten hindern einen solchen Bischof aber keinesfalls daran, auch seinem geistlichen Amt eifrig nachzugehen: In Ulrichs Tagebuch stehen überall Ver- 35 Ebd., S. 53, Z. 1-3. 36 Zitiert aus Harald Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit ( 1400 - 1650 ). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen , Wien 1998, hier S. 27. 37 The Shorter Writings of Ulrich Putsch (wie Anm. 1), S. 73, Z. 514-517 respektive S. 72, Z. 485-487. 38 Weitere Einzelheiten ebd., S. 18 f. 39 Zum Beispiel gegenüber den Nonnen des umstrittenen Benediktiner-Konvents Sonnenburg: Siehe ebd., S. 55 f., Z. 53-86 und 98 f. <?page no="151"?> 150 Nigel Harris ben wie celebraui , consecraui , reconciliaui oder reconscraui , die uns ständig daran erinnern, dass wir es hier mit einem Gottesmann zu tun haben, der alles, wie er selbst behauptet, pure propter deum macht. 40 Auch hier gibt es aber ein Problem. Man kann sich nämlich kaum vorstellen, dass Ulrichs idealisierte Selbstdarstellung überzeugen und zur imitatio episcopi inspirieren konnte, denn das Diarium ist a uch eine zutiefst polemische und apologetische Schrift, in der Ulrich ständig bemüht ist, sich selbst zu rechtfertigen und seine Feinde anzuschwärzen. Infolgedessen schildert er einen allzu vereinfachten und kaum plausiblen Kampf zwischen Gut und Böse, wobei er immer Recht hat, immer die Wahrheit sagt und Gott und alle guten Menschen immer auf seiner Seite weiß. Seine Kontrahenten dagegen handeln vielfach absque causa racionabili ; Heinrich Seldenhorn verhält sich etwa tamquam Judas , und von drei besonders feindlich gesinnten Domherren heißt es, dass vnus fuit lunaticus, alter furiosus, tercius autem maxime infedelis, fallax et perfidus . 41 Solche Schwarzweißzeichnungen (und es gibt derer wirklich sehr viele) zeugen unleugbar nicht nur von einem lobenswerten christlichen Fürstenideal, sondern auch von Eitelkeit, von exzessiver Dünnhäutigkeit, ja von dem unaufhaltsamen Geltungsdrang des zwanghaften Karrieristen - und durch einen solchen Menschen möchten sich wohl die meisten Leser des Tagebuchs nicht bilden lassen, zumal er im Laufe des Werkes immer wieder auch andere gravierende Charakterschwächen durchschimmern lässt. Er bringt zum Beispiel oft eine nicht zu übersehende Vorliebe für Name-Dropping zum Ausdruck, 42 und bei aller Hervorhebung der eigenen Freigebigkeit kann er nicht verbergen, dass er eigentlich ein unverbesserlicher Geizhals war, der sich immer wieder darüber beschwert, dass etwas (ein Ankauf, Reparaturen oder vor allem Gastfreundlichkeit) nur cum magnis oder grauibus oder sogar infinitis expensis geschehen sei. Was bleibt uns also als Fazit dieser Überlegungen? Wir haben hoffentlich erneut gezeigt, dass Ulrich Putsch ein vielseitiger, energischer, in mancher Hinsicht aber skrupelloser Machtmensch war, der „eine Politik der notfalls gewaltsamen Durchsetzung seiner Vorstellungen betrieb“. 43 Gleichzeitig scheint er aber seinen kirchlich-liturgischen Aufgaben pflichtbewusst nachgegangen zu sein, und wohl besonders in den letzten 10-15 Jahren seines Lebens bemühte er sich eifrig und gewissenhaft darum, seine Schäflein über verschiedene Grundelemente des katholischen Glaubens schriftlich zu unterrichten. Mit welchem Erfolg er dies tat, können wir zwar nicht wirklich wissen, auf Grund der vorhandenen Indizien darf man aber vermuten, dass sein pädagogischer Einfluss eher bescheiden war. Über die Gründe dafür können wir wieder nur spekulieren - als mögliche Ursachen kann man aber auf gewisse Charakterdefizite hinweisen, wie auch auf eine mehrmals zu bemerkende Unfähigkeit, seine Lehren auf wirklich benutzerfreundliche Art und Weise zu organisieren und leicht zugänglich zu machen. Putsch war wohl nicht in erster Linie pädagogisch begabt. An der Echtheit seines Wunsches, die unter seiner Obhut stehenden 40 Diese Redewendung benutzt Ulrich in Bezug auf seine Bischofsweihe, die in Venedig durch den Bischof von Torcello geschah - siehe ebd., S. 56, Z. 87-90. Man darf davon ausgehen, dass der dafür eigentlich zuständige Salzburger Erzbischof Eberhard IV. Ulrich die Weihe verweigert hatte. 41 Siehe ebd., S. 59 (Z. 161-164), 61 (Z. 215 f.), 63 (Z. 275-280), 68 (Z. 395-397), 79 (Z. 669-671). 42 Er habe etwa immer wieder Mitgliedern der herzoglichen Familie Gastfreundschaft gewährt, dürfe den verstorbenen Grafen Johann Meinhard von Görz singulus amicus meus nennen (ebd., S. 67, Z. 376 f.) oder habe 1430 vom Mailander Herzog Filippo Maria Visconti einen wunderbaren Teppich gegen acht Falken und zwei Sperber geschenkt bekommen (ebd., S. 70, Z. 438-440). 43 Ute M. Schwob, Spuren der Femgerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Tirol , Innsbruck 2009 (Schlern- Schriften 345), S. 66. <?page no="152"?> Lehren und Bilden bei Ulrich II. Putsch von Brixen 151 Kleriker und Laien auf gebührende Art und Weise zu unterrichten, indem er vor allem ihren geistlichen Orientierungsbedürfnissen nachzukommen suchte, gibt es aber m. E. keinen Grund zu zweifeln. Auch in dieser Beziehung war unser komplizierter „Machtmensch im geistlichen Gewand“ durchaus ein Kind des 15. Jahrhunderts. <?page no="154"?> Lehren und Bilden bei Ulrich II. Putsch von Brixen 153 Meditation und Gebet <?page no="156"?> Gestufte Lehre 155 Gestufte Lehre Thema und Variation bei Mechthild von Magdeburg Annette Gerok-Reiter Was hat mystisches Sprechen mit Lehren, Lernen und Bilden zu tun? Die Frage lässt sich zunächst positiv wie negativ fassen. Die positive Antwort basiert auf dem Verständnis von Mystik als theologia mystica , d. h. als einer Teildisziplin des Wissenssystems der Theologie. Als Teildisziplin der Lehre von Gott beansprucht sie, ein Wissen zu vermitteln, das rational strukturiert, argumentativ entfaltet und - da vernunftbegründet - nachvollziehbar ist. Die Inhalte der Teildisziplin können gelehrt, die kognitiven Zusammenhänge erlernt werden ebenso wie deren Umsetzung in einer Praxis der Meditation. Mystik steht dieser Auffassung nach nicht jenseits der Lehre, sondern ist Teil theologischer Belehrung. Von einer „Mystik als Lehre“ spricht daher Kurt Ruh, 1 von einer „Mystik für die Schule“ 2 oder auch „Vernunftmystik“ 3 Uta Störmer-Caysa. Wichtigste Vertreter dieser auf Vernunft, Ratio und Gelehrsamkeit gegründeten Mystik wären nach Ruh etwa Thomas von Aquin oder Dionysius Areopagita, 4 nach Störmer-Caysa insbesondere die Viktoriner. 5 Die negative Antwort resultiert aus der entgegengesetzten bzw. komplementären Perspektivierung, wie sie nicht nur, aber besonders ausgeprägt in der Frauenmystik vertreten ist. Hier steht weder die logische Struktur eines theologischen Gesamtsystems noch der explizierbar-strukturierte Stufenweg einer Einübungspraxis im Vordergrund, sondern die Unmittelbarkeit der unio -Erfahrung. Weil nicht auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung hin, sondern von ihr her gedacht wird, diese sich jedoch einem logischen Erklärungsmodus entzieht, ist sie auch nicht kompatibel mit einem lehrhaften Zugriff. Gerungen wird hier in erster und basaler Weise darum, für eine Erfahrung, die in ihrer Unmittelbarkeit alle Sprache übersteigt, eine nur annähernd adäquate Sprache zu finden. Adäquat aber kann allenfalls eine Sprache sein, die sich am Rand ihrer Möglichkeiten bewegt und diese Ränder beständig mitthematisiert. Als inadäquat muss demgegenüber eine Sprache argumentativ kohärenter Lehre erscheinen. Mystisches und lehrhaftes Sprechen stehen in dieser Perspektivierung somit in einem kontradiktorischen Verhältnis. 6 1 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik , Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12 . Jahrhunderts , München 1990, S. 15. 2 Uta Störmer-Caysa, Entrückte Welten. Einführung in die mittelalterliche Mystik , Leipzig 1998 (RUB 1634), S. 24. 3 Vgl. ebd., S. 134. 4 Ruh (wie Anm. 1), S. 15. 5 Vgl. Störmer-Caysa (wie Anm. 2), S. 24-26, 107-109. 6 Sofern dieser Ansatz von weiblichen Autoren getragen wird, verbindet sich die systematisch angelegte Kontradiktion mit einem sozialen Argument: So ist es Frauen - seit dem Konzil von Vienne (1311 / 1312), festgeschrieben im kanonischen Recht seit 1317 - untersagt, zu lehren. Damit ist der Anspruch, gelehrtes Wissen zu vermitteln bzw. (be-)lehren zu wollen, von vornherein diskriminiert. <?page no="157"?> 156 Annette Gerok-Reiter Festzuhalten bleibt jedoch, dass beide Perspektivierungen, so unterschiedlich sie auch ansetzen, lediglich zwei Seiten desselben Erfahrungsphänomens markieren und insofern tendenziell die jeweils andere Perspektivierung integrieren oder mitreflektieren. So setzt die theologia mystica zwar bei gelehrtem Wissen und einer erlernbaren meditativen Praxis an, muss jedoch an der Grenzlinie der argumentatio den nicht erzwingbaren Sprung zur mystischen Erfahrung zumindest thematisieren. Umgekehrt sind vom Ansatz der mystischen Erfahrung aus immer auch, sofern diese mitgeteilt werden soll, Strategien der Vermittlung zu entwerfen, die in ihrem Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten durchaus auch lehrhaftes Sprechen miteinbeziehen können. Wenn im Folgenden Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit ins Zentrum gestellt werden soll, so geht es denn auch nicht um die grundsätzliche Spannung von Mystik und Sprache, die bevorzugt in sprachlichen Figuren der Inkohärenz ihren Niederschlag findet - vieldiskutiert in der Forschung auch und gerade in Bezug auf Mechthild. 7 Vielmehr suche ich Dabei verstärkt sich das Manko, eine Frau zu sein, der Lehre nicht zusteht, in der Regel um das Defizit, die Sprache theologischer Lehre, das Latein, nicht zu beherrschen, sowie - je nach Kontext - um das Defizit, nicht an eine Institution angebunden zu sein, die einen möglichen Legitimationsrahmen für Lehre und Belehrung bietet: ein dreifaches Handicap. Deshalb nennt Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland , Bd. 3: Blüte - Männer und Frauen der neuen Mystik ( 1200 - 1350 ) , aus dem Englischen von Bernardin Schellenberger, Freiburg i. Br. 1999, S. 400, Mechthild die „dreifach Ungeeignete“. - Ob die weiblichen Autorinnen die Erfahrung der unio ins Zentrum ihrer Darstellungen stellen, weil sie den Duktus argumentativ-stringenter Lehre nicht ergreifen dürfen, oder ob sie jenseits lehrhaften Sprechens argumentieren, da die Erfahrung der unio dies vorgibt, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Zurückzuweisen ist jedoch sicherlich eine Argumentation, die auf eine spezifisch weiblich-unmittelbare Schreib- und Erfahrungsweise rekurriert: Vgl. zur berechtigten Kritik insbesondere Sara S. Poor, „Gender und Autorität in der Konstruktion einer schriftlichen Tradition“, in: Autorität der / in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997 , Bd. 2, hg. von Jürgen Fohrmann, Ingrid Kasten und Eva Neuland, Bielefeld 1999, S. 532-552; dies., Mechthild of Magdeburg and her Book: Gender and the Making of Textual Authority , Philadelphia 2004. - Auch die produktiven Autorisierungsstrategien, die die Autorinnen vor dem Hintergrund des dreifachen Handicaps entwickeln, sollen im Folgenden nicht näher beleuchtet worden; die Forschung hat sich ihnen schon eingehend gewidmet. Neben Poor und McGinn sind hier u. a. zu nennen: Barbara Newman, From Virile Woman to WomanChrist. Studies in Medieval Religion and Literature , Philadelphia 1995; Ursula Peters, „Hofkleriker - Stadtschreiber - Mystikerin. Zum literaturhistorischen Status dreier Autorentypen“, in: Autorentypen , hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6), S. 29-49. 7 Zu verweisen ist hier etwa auf das wichtige Themenfeld Metaphorik / Sprengmetaphorik; dazu: Alois M. Haas, „Das Nichts Gottes und seine Sprengmetaphorik“, in: Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit . Festschrift für Peter Rusterholz zum 65 . Geburtstag , hg. von Henriette Herwig, Tübingen u. a. 1999, S. 53-70; Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache , Tübingen / Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), insbesondere das Kapitel „Am Grenzwert der Sprache. Zur Hermeneutik der Metapher“, S. 52-63. Zentral sind in dieser Hinsicht ebenso die Analysen zur Dialogstruktur; etwa: Walter Haug, „Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur“, in: Das Gespräch , hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 251-279; Gerd Dicke, „Aus der Seele gesprochen. Zur Semantik und Pragmatik der Gottesdialoge im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg“, in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999 , hg. von Nikolaus Henkel, Martin H. Jones und Nigel F. Palmer, Tübingen 2003, S. 267-278; Annette Volfing, „Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg“, in: Dialoge (wie eben), S. 257-266. Besonders ertragreich sind zum genannten Aspekt schließlich auch die Studien zu den Modi ästhetischen oder lyrischen Sprechens, insbesondere: Burkhard Hasebrink, „‚Ich kann nicht ruhen, ich brenne‘. Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit“, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters , hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin / New York 2007 (Trends in Medie- <?page no="158"?> Gestufte Lehre 157 genau jene Vermittlungsmodi bei Mechthild auf, die sich den Figuren und Strategien der Inkohärenz entgegenstellen, die gleichsam am entgegengesetzten Ende der Ausdruckslogik rangieren: Formen und Variationen der Didaxe, Argumentationen über Lehre und Lehrbefugnis, Platzierungen gelehrten Wissens, Übergänge lehrhaften Sprechens zu anderen Sprechweisen etc. Welcher Ort und welche Funktion kommen diesen innerhalb eines Ansatzes zu, der im Prinzip von der radikalen Differenz zwischen mystischer Erfahrung und lehrhaftem Sprechen ausgeht? Das Forschungsfeld ist in dieser Hinsicht in Bezug auf Mechthild weitaus weniger bestellt. Auf zwei einschlägige Aufsätze aus jüngerer Zeit lässt sich dennoch verweisen. Ingrid Kasten hat herausgearbeitet, dass insbesondere im Redemodus der Narration - im Gegensatz zum Dialog - im Fließenden Licht vielfach heilsgeschichtliches Wissen entfaltet und vermittelt wird. 8 Almut Suerbaum wiederum hat darauf aufmerksam gemacht, dass Elemente lehrhaften Sprechens wie die Formulierung von „‚soll‘-Regel[n]“ 9 oder ganze Kapitel, die der Vermittlung katechetischen Wissens dienen, im Fließenden Licht keineswegs nur Randphänomen sind. 10 Zieht man darüber hinaus die Selbstreflexion des Sprecher-Ichs in Bezug auf die Spannung gelehrt / ungelehrt oder die Beurteilung gelehrten Wissens und ihrer Träger hinzu, zudem den Sachverhalt, dass dem Sprecher-Ich ‚Belehrung‘ im Einzelfall attestiert wird, dieses selbst jedoch den lehrhaften Gestus strikt zurückweist, ergibt sich insgesamt ein disparates, ja durchaus verwirrendes Bild, das sich weder durch den Verweis auf die Sonderposition des VII. Buches und dessen pragmatische Kontextualisierung 11 noch durch den Verweis auf die unterschiedlichen Redaktionsstufen des Textes, insbesondere die scharfe Trennung von Autorin und Redaktor, 12 auflösen lässt. Im Folgenden möchte val Philology 12), S. 91-107; Sandra Linden, „Der inwendig singende Geist auf dem Weg zu Gott“, in: Lyrische Narrationen - narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur , hg. von Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius, Göttingen 2011, S. 359-386. 8 Ingrid Kasten, „Formen des Narrativen in Mechthilds ‚Fließendem Licht der Gottheit‘“, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität [Festschrift Alois Maria Haas], hg. von Claudia Brinker u. a., Bern u. a. 1995, S. 1-18. 9 Almut Suerbaum, „Die Paradoxie mystischer Lehre im ‚St. Trudperter Hohenlied‘ und im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘“, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin / New York 2009, S. 27-40, hier S. 32. 10 Ebd., S. 31. 11 Konsens der Forschung besteht in der Sonderstellung von Buch VII, insofern dieses mit großer Sicherheit erst im Konvent in Helfta entstanden ist und sich primär an diesen richtet. Die Textgenese resümierend: Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik , Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit , München 1993, S. 247-261; vgl. auch Burkhard Hasebrink, „‚Das fließende Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. Eine Skizze“, in: Bete und Arbeite! Zisterzienser in der Grafschaft Mansfeld , hg. von Esther Pia Wipfler in Zusammenarbeit mit Rose-Marie Knape, Halle a. S. 1998, S. 149-159, hier S. 149-151, zur Zeit im Kloster Helfta insbesondere S. 157 f. Dass didaktische Elemente sich nicht nur in Buch VII finden, betont bereits Suerbaum (wie Anm. 9), S. 31, zu Recht mit Nachdruck: „Schon Rubrizierung und Kapitelüberschriften nämlich machen deutlich, dass eine einfache Antithese von mystischer Vision und katechetischer Lehre zumindest dem Textverständnis des Rubrikators nicht gerecht wird, denn gerade in den ersten Büchern des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘ finden sich zahlreiche Kapitelüberschriften, die mithilfe des Modalverbs ‚sollen‘ den Kapitelinhalt als normative Belehrung über regelhaftes Verhalten präsentieren“. 12 Die Textgenese in ihren unterschiedlichen Schichten, insbesondere die Rolle Heinrichs von Halle, bleibt insgesamt zu unklar. Den unsicheren Befund aufgrund der Hinweise in den Texten analysiert Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13 . und 14 . Jahrhunderts , Tübingen 1988 (Hermaea N. F. 59), S. 116-129. Das Resümee: „Und es fragt sich, ob die Vorstellung eines engen Zusammenwirkens Mechthilds von Magdeburg mit ihrem dominikanischen Berater Heinrich von Halle nicht eher zu den Mythen einer Mystikforschung <?page no="159"?> 158 Annette Gerok-Reiter ich die Palette an Umsetzungen und Diskursivierungen des Themas ‚Lehre‘ und dessen Variationen in Mechthilds Fließendem Licht aufzeigen, anhand paradigmatischer Querschnitte sondieren und neu systematisieren. 13 Dabei kommt als Multiplikator der Schwierigkeiten hinzu, dass mittelhochdeutsch lêre und lêren mit unterschiedlicher Semantik, Belehrendes unter Umständen auch ohne Begriffsindikator in Mechthilds Schrift auftauchen. Auch in dieser Hinsicht muss das Feld allererst gesichtet werden. Ausgehend vom theologisch-klerikalen Kontext und der im Text selbst aufgerufenen Leitopposition von gelehrt / ungelehrt, die sich diesem Kontext verdankt, gehe ich als Kernsemantik von einem für diesen Kontext spezifischen und d. h. engen Begriff von ‚Lehre‘ aus. Nur von ihm aus lässt sich meines Erachtens die gewünschte heuristische Prägnanz bei der weiteren Differenzierung erreichen. 14 Für diesen engen Begriff von ‚Lehre‘ sind drei Kriterien im Verbund ausschlaggebend: 1. Der Inhalt der Lehre bezieht sich auf „grundsätzlich systematisierbare[ ]“, 15 d. h. auf kognitiv zu erfassende Wissensbestände, insbesondere theologisch-klerikales Wissen. 16 2. Die Kommunikationssituation umfasst Lehrenden und zu Belehrenden. Zwischen beiden Positionen besteht eine Differenz, ja Distanz, die sich bestimmt durch den Grad der Wissensteilhabe am aufgerufenen Wissensfeld. 17 3. Aufgrund des Wissensvorsprungs des Lehrenden ist das Lehrverhältnis ein hierarchisches. 18 Von hier aus stellt die Analyse im Folgenden drei Fragen: gehört, die die Entstehung frauenmystischer spiritueller Erfahrungstexte vornehmlich unter dem Gesichtspunkt einer Kooperation der begnadeten Frauen mit ihren Seelsorgern gesehen hat“ (S. 125). Die Kontroversen in diesem Punkt halten an: vgl. Volker Leppin, „Begine und Beichtvater. Zu den Dominikanerpartien im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg“, in: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner , hg. von Enno Bünz, Stefan Tebruck und Helmut G. Walther, Köln u. a. 2007 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 24), S. 543-554. 13 Ich greife damit die Anregungen von Suerbaum (wie Anm. 9) auf und versuche, die Perspektive zu weiten. 14 So auch Wolf-Lüder Liebermann, „Lehrdichtung. A. Definition“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik , Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 93-96, hier Sp. 95. 15 Liebermann (ebd.) bezieht den Anspruch der Systematisierbarkeit der Wissensgebiete auf den Inhalt von ‚Lehrdichtung‘; die Spezifizierung scheint mir jedoch ebenso auf ‚Lehre‘ insgesamt zuzutreffen. 16 Ausgegrenzt sind damit pragmatische oder allgemeine Wissensspektren wie Handlungswissen, Anleitungswissen oder Erfahrungswissen. 17 Die Wissensteilhabe verschafft Autorität. Sie ist zu belegen und zu legitimieren. Zur Bedeutung der Legitimierung der Lehre vgl. Christoph Huber, „Lehrdichtung. B. II. Mittelalter“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik , Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 107-112, hier Sp. 108. - Die beiden ersten Kriterien finden sich in ähnlicher Weise bei Henrike Lähnemann und Sandra Linden, „Was ist lehrhaftes Sprechen? Einleitung“, in: Dichtung und Didaxe (wie Anm. 9), S. 1-10, insbesondere S. 1-3: „Lehrhaftigkeit“ wird gefasst als „Wissens- und Normvermittlung“ (S. 1), die an eine personale „Lehrsituation“ gebunden ist, wobei der Rezipient der Lehre auch „imaginär“ sein kann (S. 2). 18 Liebermann (wie Anm. 14) formuliert dies - wieder mit Bezug zur Lehrdichtung - radikaler: Die „Freiheit“ des Rezipienten sei „auf ein Minimum reduziert“ (Sp. 95). Obwohl hier Anschluss an Liebermanns engen Begriff von Lehre und Lehrdichtung gesucht wird, erfüllt Mechthilds Schrift weder die Kriterien von Typ A (Stoff/ Inhaltsprimat) noch von Typ B (ästhetisches Primat) der Lehrdichtung (vgl. Sp. 95). Die von Liebermann vorgenommene Typisierung, insbesondere die Alternative Typ A versus Typ B, reicht nicht aus, um die historisch gegebene Vielfalt der Möglichkeiten abzudecken. <?page no="160"?> Gestufte Lehre 159 1. Welche Kommunikationssituation entspricht dem Text, welche Rezeptionshaltung wird erwartet? 2. Inwiefern wird über gelehrtes Wissen gesprochen? Worauf gründet sich die Anerkennung gelehrten Wissens sowie die Anerkennung seiner klerikalen Träger, worauf gründet sich die Kritik? 3. In welcher Weise und mit welcher Funktion kommen gelehrtes Sprechen und Belehrung als Ausdrucksmodus selbst zur Anwendung? I. Kommunikationssituation der ‚Lehre‘? Mechthilds Text nennt seine Adressaten in verschiedenen Formen. Das Sprecher-Ich bezieht sie etwa wiederholt in seine Bitten um rechte Aufnahme des Buches ein und bezeugt damit, dass es das Buch dezidiert nicht für sich, nicht für die stille Andacht und auch nicht für eine arkane Gruppierung geschrieben hat, sondern für eine offene Adressatengruppe. Adressaten sind etwa: Gottes kint , gottes frúnt , [e]in warhaftigú vrowe oder ein gůt man . Der Bezug zu einem sozialen Kontext, einer Zielgruppe ist somit feste Rahmenbedingung. Dabei werden auch Funktionen und Stufen der Vermittlung reflektiert: So ersetzt das Geschriebene das direkte Gespräch: Ein warhaftigú vrowe und ein gůt man der sol dis buͤchelin lesen, der nach minem tode wolte gerne und mag mit mir nit reden ( VI ,1, S. 430, 10-12) . 19 Für das richtige ‚Vernehmen‘, in welches das Lesen münden soll, bedarf es allerdings über die intensive Lektüre hinaus der Hilfe Gottes: und [ich] bitte dich, vil lieber herre, me, das dise rede dinú kint muͤssen also vernemen, als du si, herre, in der rehten warheit hast us gegeben ( III ,1, S. 158, 1-3). Ja, mehr noch: Gott müsse das Geschriebene dem Rezipienten ‚ans Herz legen‘: Lieber gottes frúnt, disen minneweg han ich dir geschriben, got muͤsse in an din herze geben! Amen (I,44, S. 64, 25 f.). Grundsätzlich gilt also: Das Geschriebene ist Aufzeichnung für andere. Es will in seinem Anliegen verstanden werden. Auch wenn ohne Gottes Hilfe kein Verstehen möglich ist, ist es doch Aufgabe des Textes, die Voraussetzung für ein Verstehen prinzipiell zu schaffen. Damit stellt sich der Text in eine Kommunikationssituation, die darauf aus ist, einen Zugang zu ermöglichen und ein Verstehen zu initiieren. Die Öffnung auf diese Kommunikationssituation hin und der dezidierte Wunsch der Vermittlung implizieren ein didaktisches Grundinteresse. Die Dringlichkeit des Wunsches und die Bitte um göttlichen Beistand belegen zudem, dass der zu vermittelnde Inhalt unter dem Gesichtspunkt des prodesse gesehen wird. Dies lässt sich allgemein formulieren: Jede Bemühung der Verschriftung eines Gedankens zielt als medialer Akt auf Verbreitung und speist sich in der Regel aus der Intention eines über den personalen Bereich heraus zu vermittelnden Nutzens. In diesem allgemeinen Sinn ließe sich an das Diktum des Paulus in Röm 15,4 anschließen: Quaecumque enim scripta sunt, ad nostram doctrinam scripta sunt (‚Denn alles Geschriebene ist zu unserer Belehrung geschrieben‘). So gesehen stellt sich das Fließende Licht durchaus, 19 Sämtliche Textzitate nach: Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit , hg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek deutscher Klassiker 181; Bibliothek des Mittelalters 19). - Vgl. zur medialen Differenz Klaus Grubmüller, „Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechthild von Magdeburg“, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger , Bd. 1, hg. von Johannes Janota u. a., Tübingen 1992, S. 335-348. Auf Rezeptionsseite heißt dies, dass das Buch intensiv gelesen werden muss: neunmal, so formuliert es der Vorbericht (S. 12, 15-17) ebenso wie der Prolog (S. 18, 5-7). Betont wird damit die entscheidende Voraussetzung für alle, die das Buch richtig vernemen (S. 18, 4 f.) wollen. <?page no="161"?> 160 Annette Gerok-Reiter bezogen auf die Rezeptionserwartung, unter den Anspruch der didaktischen Vermittlung im Zuge einer Wirkungsabsicht des prodesse . 20 Ein spezifischer Lehrinhalt, ja die Semantik und Systematik der Lehre und des Lehrens ist mit dieser Vermittlungs- und Nutzintention jedoch nicht zwingend verbunden: 21 Als Lexem taucht leren als Intention des Sprecher-Ichs in Bezug auf den Rezipienten denn auch nur äußerst selten auf; dann aber immer wieder mit einer von der Kernsemantik abweichenden Bedeutung, wie ich im Folgenden zeigen möchte. II. Anerkennung und Kritik gelehrten Wissens und darauf gegründeter Lehre Im Buch II , Kapitel 26 beklagt das Sprecher-Ich, dass es kein geleret geistlich man ( II ,26, S. 136, 23) sei, denn nur dann könnte das Geschriebene zur Ehre Gottes gereichen. Darauf antwortet die göttliche Instanz: Das ist mir vor inen [der gelehrten Geistlichkeit] ein gros ere und sterket die heligen christanheit an in vil sere, das der ungelerte munt die gelerte zungen von minem heligen geiste leret (II,26, S. 138, 4-7). Wie in dieser vielzitierten Passage 22 nimmt das Sprecher-Ich in mehreren Textstellen des Fließenden Lichts Bezug zu gelehrtem Wissen bzw. zum geleret geistlich man und setzt der klerikalen Gelehrsamkeit seine eigene Ungelehrtheit und Sündhaftigkeit - es bezeichnet sich eben hier drastisch als unvletige[r] pfůl ( II ,26, S. 136, 26) - entgegen. Diskutiert wird dabei insbesondere, inwiefern das Sprecher- 20 Der Nutzen liegt dabei nicht in einem spezifischen Lehrinhalt, sondern ist diesem gleichsam vorläufig, etwa in der Weise, in der - so Buch VI,5, S. 440, 21 f. - alle creaturen […] schoͤ ni und […] nutz erbringen oder in der es in Buch VI,42 von schmerzlichen wie tröstlichen Ereignissen heißt: So moͤ gen wir úns allú ding nútze machen, dú úber úns gant (S. 516, 8 f.). 21 Anders in der lateinischen Übersetzung, die deutlich der „religiöse[n] Unterweisung und Seelsorge“ dient (Hasebrink [wie Anm. 11], S. 151). Sie hat verstärkten „Lehrbuch“-Charakter, Ziel ist die Vermittlung von „Heilswissen“, greifbar etwa in thematisch geordneter Kapitelsystematik, wie Gisela Vollmann-Profe detailliert nachweisen konnte: G. V.-P., „Mechthild von Magdeburg - deutsch und lateinisch“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, Kolloquium Kloster Fischingen 1998 , hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 133-156, Zitate hier S. 151 und 153. Eine solche Differenz ebnet Bruno Boesch, Lehrhafte Literatur. Lehre in der Dichtung und Lehrdichtung des deutschen Mittelalters , Berlin 1977, ein, wenn er Mechthilds gesamtes Fließendes Licht unspezifiziert unter „Lehre“, verstanden lediglich als „Anspruch“ an den „Leser und Hörer […], der ihn unmißverständlich herausfordert“ (S. 150), subsumiert (S. 148-150). - Andererseits sollte aber auch nicht von einer allzu scharfen Zäsur zwischen beiden Texten ausgegangen werden. So hebt Vollmann-Profe (wie oben) hervor, dass die Voraussetzung dafür, die lateinische Fassung als „anregendes Hilfsmittel für seelsorgerliche Tätigkeit“ (S. 154) zu nutzen, bereits im volkssprachigen Text zu finden sei: „In gewisser Weise konnte sich der Organisator der Rev. bei diesen Funktionalisierungen durchaus auf das deutsche Werk berufen“ (S. 152), etwa auf VI,1, S. 430, 10-12. Dies wird bestätigt durch das Faktum, dass die Einsiedler Handschrift durch die Basler Bürgerin Margaretha zum Goldenen Ring an die Waldschwestern im Einsiedler Hochtal mit der Auflage vermacht wurde, dass sie die Handschrift alle vier Wochen untereinander kursieren lassen sollten (vgl.: Mechthild von Magdeburg , ‚Das fließende Licht der Gottheit‘ , nach der Einsiedler Handschrift im kritischen Vergleich mit der gesamten Überlieferung hg. von Hans Neumann, Bd. 2: Untersuchungen , ergänzt und zum Druck eingerichtet von Gisela Vollmann-Profe, München / Zürich 1993 [MTU 101], S. 176, 184-186). 22 Vgl. dazu insbesondere Köbele (wie Anm. 7), S. 33-40, sowie Hildegard Keul, „Der ungelehrte Mund der Frauen. Eine verschwiegene Autorität in der Frage nach Gott“, in: Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie und Gotteserfahrung , Bd. 1: Mittelalter , hg. von Mariano Delgado und Gotthard Fuchs, Stuttgart 2004, S. 225-246. <?page no="162"?> Gestufte Lehre 161 Ich aus dieser inferioren Position heraus das Recht habe, die göttlichen Offenbarungen zu verschriftlichen und mit der aktiven Veräußerung, Veröffentlichung und Verbreitung in prekärer Weise Funktionen zu übernehmen, die rechtens nur der Gelehrsamkeit bzw. den institutionalisierten geleret geistlich man ( II ,26, S. 136, 23) zukommen. Die Diskrepanz zwischen ungelehrtem Status und gelehrtem Äußerungsmodus der Schriftlichkeit wird denn auch immer wieder reflektiert: Ausführlich und wohl mit biographischer Konnotation wird das Problem in Buch IV , Kapitel 2 thematisiert: Hier wird zunächst im Bild der luziferischen Versuchung formuliert, dass der Gedanke, sich durch die Gnadenoffenbarungen in einer erhobenen Position zu sehen, Hybris bedeutet ( IV ,2, S. 230, 34-232, 32). Gegenüber den wisen lúten ( IV ,2, S. 236, 22) bezeichnet sich das weiblich markierte Sprecher-Ich dann konsequent als ein tore, ein súndig und ein arm mensche ( IV ,2, S. 236, 20 f.), der der Wunder Gottes nicht würdig sei und daher auch die göttlichen Offenbarungen nicht vermitteln wolle. Als das Sprecher- Ich dennoch nicht aus der Pflicht genommen wird, heißt es mit deutlicher Betonung der Weiblichkeit des Sprecher-Ichs ( IV ,2, S. 236, 32-238, 3): Do gieng ich armú bibende in diemuͤtiger schame zů minem bihter und seite ime dise rede und gerte oͮch siner lere. Do sprach er, ich soͤlte froͤlich vollevarn; got, der mich hette gezogen, der soͤlte mich wol bewarn. Do hies er mich das, des ich mich dikke weinende schemme, wan minú grossú unwirdekeit vor minen oͮgen offen stat, das was, das er eim snoͤden wibe hies us gottes herzen und munt dis bůch schriben. Das Sprecher-Ich nimmt sich hier weder ein Recht zur Lehre noch erhält es dieses. Verpflichtet wird es durch die göttliche Instanz sowie den Beichtvater lediglich darauf, nicht zu schweigen, sondern sich zu äußern. Ob diese Äußerung als Lehre aufzufassen ist, bleibt offen. Dass sie - weil in Buchform gebracht - als solche zumindest von außen aufgefasst werden könnte, legen die Leid- und Schamreaktionen sowie die Demutsbeteuerungen des Sprecher-Ichs nahe. In Buch VII wird, offenbar als Reaktion auf den Konvent und seinen Wunsch, belehrt zu werden, eine Lehrintention in klerikalem Sinn dezidiert zurückgewiesen und an andere, möglicherweise traditionskonform gelehrtes Wissen vermittelnde Bücher gebunden: Ir wellent lere haben von mir und ich selber ungeleret bin. Des ir ie gerent, das vindent ir tusentvalt in úweren bůchen ( VII ,21, S. 572, 23 f.). Die Passagen, deren Reihe mühelos fortgesetzt werden könnte, kommen darin überein, dass sich die Sprecher-Instanz mit aller Deutlichkeit und Intensität selbst auf den inferioren Status der ungelehrten Frau beruft. Die Autorität klerikalen Wissens und das ausschließlich daraus erwachsende Recht zur religiösen Äußerung im Sinn der disputatio , der Predigt oder sonstiger institutionalisierter Belehrung werden in keiner Weise angezweifelt oder in Frage gestellt, vielmehr mit Nachdruck (auch in Hinblick auf ihre Geschlechterhierarchie) affirmiert. Kriterium der Wertung ist hierbei durchgehend die Dichotomie gelehrt / ungelehrt gemäß theologisch-klerikaler Ausbildung. 23 Das durch eine Ausbildung erworbene theologisch-katechetische Wissen sichert dem hierin Ausgebildeten einen Wissensvorsprung, der das Distanz- und Hierarchieverhältnis nicht nur zwischen Laien und Klerus, sondern auch zwischen weiblicher und männlicher Geistlichkeit zu Recht, so das Sprecher-Ich, be- 23 Diese Differenz ist auch konstitutiv für die Restriktionen des Konzils von Lyon im Jahr 1274, bei dem voller Misstrauen auf die Laienfrömmigkeit der Frauenbewegungen reagiert wurde: Siehe Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter , Darmstadt 2 1961, S. 338, Anm. 7. <?page no="163"?> 162 Annette Gerok-Reiter gründet. Wird der gelehrte Rat nicht angenommen, wie im Fall einer Nonne, die in ertriche keines menschen rat volgen [wolte] nach cristanlicher ordenunge , wird dies als verwerflicher eigen wille vom Sprecher-Ich scharf kritisiert (V,5, S. 332, 9 und 11 f.). Die Lehre des Beichtvaters ( und gerte oͮch siner lere IV , 2, S. 236, 33) bleibt denn auch für das weibliche Sprecher- Ich Richtschnur und Legitimitätsgrund. Die geistliche[ ] ordenunge ( III ,5, S. 168, 17 f.), zu der neben dem geistlichen Tagesablauf, der Lesung der Tagzeiten und dem Zelebrieren der heiligen Messe ( III ,5, S. 168, 15-19) eben auch die Dichotomie von gelehrt / ungelehrt gehört, soll grundsätzlich gewahrt bleiben. Ausgehend von dieser selbstverständlichen Hierarchie von gelehrt / ungelehrt und den damit verbundenen institutionalisierten Funktionen und Geschlechterzuschreibungen, ist jedoch umso erstaunlicher, dass es ebenso Passagen innerhalb des Fließenden Lichts gibt, die deutliche Kritik am gelehrten Wissen und seinen Trägern üben. Will man hier nicht nur von jeweils aktuellen Reaktionen auf Unstimmigkeiten im Konvent oder im weiteren Umfeld ausgehen, also gleichsam an eine Tagesformanpassung und deren biographische Matrix denken, ist nach dem Kriterienwechsel zu fragen. Ich exemplifiziere an der Erklärung, die die göttliche Instanz vor ihrem Bekenntnis zur Lehre des ungelehrten Munds gibt ( II ,26, S. 136, 30-138, 4): ‚Tohter, es verlúret manig wise man sin túres golt von verwarloͤsi in einem grossen herwege, da er mitte ze hoher schůle moͤhte varen; das můs ieman vinden. Ich habe von nature daz getan manigen tag: Wa ich ie sunderliche gnade gap, da sůchte ich ie zů die nidersten, minsten, heimlichosten stat; die irdenschen hohsten berge moͤgent nit enpfan die offenbarunge miner gnaden, wan die vlůt mines heligen geistes vlússet von nature ze tal. Man vindet manigen wisen meister an der schrift, der an im selber vor minen oͮgen ein tore ist.‘ Die Auflösung der drängenden Legitimitätsfrage dem Sprecher-Ich gegenüber erfolgt durch ein Gleichnis mit zweifacher Auslegung. Der wise man verliert von verwarloͤsi (‚aus Unachtsamkeit‘) das Gold, das ihm den Besuch einer Hohen Schule ermöglichen könnte. Dieses Gold, Bedingung der Gelehrsamkeit, müsse jemand finden. Wer dies sei, wird nicht expliziert, angeführt wird jedoch im sprunghaften Bildwechsel vom Gold zu Gott und vom gelehrten Wissen der Hohen Schule zur Gnade, dass die gnadenhafte Gotteserfahrung nur an der nidersten, minsten, heimlichosten stat zu gewinnen sei. Handeln von verwarloͤsi heißt demnach, diesen Zusammenhang nicht zu erkennen. Gemünzt wird dies im zweiten Auslegungsschritt auf die schriftgelehrten Meister, die - weil ihnen diese Erkenntnis fehlt - doch Toren seien. Inhalt des Gleichnisses ist somit die Abwertung der Träger gelehrten Wissens, nicht weil das gelehrte Wissen der ‚Hohen Schule‘ selbst falsch oder unnötig wäre, sondern weil es nicht mit der notwendigen Demut aufgesucht bzw. umgesetzt wird und eben deshalb der Zugang, das Gold, verspielt wird. Nicht das gelehrte Wissen, sondern deren Träger stehen also im Kreuzfeuer der Kritik, und hier nicht deren institutionalisierte Funktionen, sondern der Habitus der literati , die eine angemessene humilitas vermissen lassen. Kriterium der Wertung ist hier somit die grundelose demuͤtekeit ( VI ,1, S. 422, 35 f.). 24 Das heißt, fällt die Gelehrsamkeit dem geistliche[n] homůte ( II , 26, S. 138, 24 f.) anheim, so 24 Das Kapitel ist überschrieben mit: Wie ein prior oder ein priorinne oder ander prelaten sich soͤ llent halten gegen iren undertane [Das erste capittel] (VI,1, S. 418, 11-13) und richtet sich damit in erster Linie an die Leitung des Konvents. Zurückgewiesen werden die girige homůt und die snidende ital ere (VI,1, S. 422, 37-424, 1). Zur radikalen Kritik an der Geistlichkeit vgl. etwa auch: VI, 21, S. 478, an den Pharisäern: III,1, S. 156, 35-158, 1. <?page no="164"?> Gestufte Lehre 163 wird ihr das selbstverständliche Rederecht entzogen und vielmehr demjenigen zugeordnet, der ebendiese demuͤtekeit aufbringt. Damit verschiebt sich der Legitimitätsgrund religiöser Äußerung. Wenn demuͤtekeit 25 das ausschlaggebende Kriterium religiösen Bezugs und religiöser Einsicht ist, kann Gelehrsamkeit ohne diesen Bezug hinter einer Ungelehrsamkeit rangieren, die aufgrund der demuͤtekeit von größerer Einsicht und Erkenntnis zeugt. Einsicht und Erkenntnis sind damit nicht mehr selbstverständlich mit dem Status der Literati verbunden, vielmehr kann dieser Status als Habitus der Hybris wirkliche Erkenntnis verstellen, kann zur valsch helikeit ( III ,21, S. 206, 25) führen, während das Wissen um die grundsätzliche Ungelehrtheit, die Demutshaltung der Illiterati, zur zentralen Bedingung der Möglichkeit der wesentlichen Gotteserfahrung avanciert. 26 Die Dichotomie gelehrt / ungelehrt wird damit nicht aufgehoben. Sie wird jedoch in ihrer Wertigkeit an eine entscheidende Bedingung gebunden, die - gleichsam auf der Rückseite der institutionalisierten Legitimität - im Einzelfall zu überprüfen ist und zur Umwertung führen kann. Der Wissensvorsprung besteht damit im Wissen des eigenen Nicht-Wissens, was das für die Lehre im engen Sinn konstitutive hierarchische Wissensverhältnis obsolet werden lässt. Aufgehoben wird damit zugleich die Gendergebundenheit des Nicht-Wissens. Zwar ist das Erkennen des eigenen Nicht-Wissens und die daraus resultierende Haltung der Demut der nicht klerikal gebildeten weiblichen Sprecher-Instanz gleichsam nächstliegend, doch indem diese Perspektive des Nicht-Wissens gerade auch dem klerikal Gebildeten abverlangt wird, erweist sie sich als geschlechterübergreifende Bedingung der Möglichkeit mystischer Erfahrung. Nach der didaktischen Vermittlungsabsicht als Rahmenbedingung und neben der Belehrung im Sinn von Weitergabe klerikalen gelehrten Wissens wird damit eine zweite Form der Lehre sichtbar, eine Lehre, die die tradierte Gelehrsamkeit - meisterschaft - übersteigt und die demütige Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit zum alleinigen Ziel hat: Diese Lehre ist die Lehre des Heiligen Geistes, der da erlúhtet des cristan menschen herze und smeket in siner sele úber alle suͤssekeit und leret des menschen sinne úber alle meisterschaft, das er diemuͤtekliche da sprichet, das er vor gotte vollekomen nit mag wesen. ( VII ,47, S. 620, 20-24). Und es scheint mir ein Abglanz eben dieser zweiten Art der Lehre zu sein, den die göttliche Instanz dem ungelerten munt durchaus zubilligt. Es stärke den Christenglauben, dass der ungelerte munt die gelerte zungen von minem heligen geiste leret ( II ,26, S. 138, 6 f.). Oder, wie es in VII ,8 auf die Frage: Herre, was solte ich hie in diseme closter tůn? , heißt : Du solt si erlúhten und leren […] (S. 550, 11 f.). Doch auch diese zweite Form der Lehre - die Lehre über alle Gelehrsamkeit hinaus - kann noch transzendiert werden. Denn der tiefste Punkt der Demut bezieht den Verzicht auf alle Lehre mit ein. I,27 formuliert als Aufgabe, dass der moͤnsche sich selber twinget in 25 [G]eistlich könne nur der werden, der bei aller Weisheit ein tore bleibe, der einvaltekeit folge (IV,3, S. 244, 15-17). Entsprechend auch in ausführlicher Explikation: VII,42, S. 614, 8-18. Vgl. zur „demutstopische[n] Funktion solcher Wendungen“ im Rahmen „der christlichen Idee einer docta ignorantia “: Köbele (wie Anm. 7), S. 34-37, Zitate S. 34 f., mit reichem Belegmaterial. Dass es bei Mechthild jedoch nur um das „ungelehrte[ ] Charisma“ (S. 35) gehe (im Gegensatz zum „Kerygma“ Meister Eckarts, vgl. S. 40), wäre angesichts der mit den Topoi gelehrt-souverän umgehenden Argumentation des Sprecher- Ichs nochmals zu überdenken. 26 Vgl. IV,12, S. 264, 28-31: O herre, ich kan dir in der tieffi der ungemischeten diemuͤ tekeit nit entsinken; oͮ we ich dir in dem homůte lihte entwenke! Mere ie ich tieffer sinke, ie ich suͤ ssor trinke . Zur Stufung der Demut siehe: Michelle Voss Roberts, „Retrieving Humility: Rhetoric, Authority, and Divinization in Mechthild of Magdeburg“, in: Feminist Theology 18,1 (2009), S. 50-73, hier S. 54. <?page no="165"?> 164 Annette Gerok-Reiter gotte ane alle meisterschaft 27 und die gottes gnade heliklich behalte und willekliche trage in verzihunge aller dingen nach des menschen willen (S. 46, 24-27). Indem der tiefste Punkt jedoch zugleich der höchste ist, ist eine weitere Belehrung auch nicht nötig: Du darft mich nit me leren, ich enmag mich nit von der minne keren, ich můs ir gevangen wesen, ich mag anders nit geleben , erläutert die Seele in durch Rhythmus und Reim indizierter Hochgestimmtheit in Kapitel I,28 (S. 48, 19-21). Dem Punkt äußersten Ausgeliefertseins der Seele an die Liebe korrespondiert eine dritte Form der Lehre, paradoxal gesprochen: die Lehre der Nicht- Lehre. III. Gelehrtes Wissen in der Anwendung Trotz dieser Umwertung, ja gestuften Abwertung bleibt gelehrt-theologisches Wissen jedoch zentraler Bestandteil der Themen und Äußerungen im Fließenden Licht . So rekurriert der Text durchaus auf dieses Wissen und bindet es in verschiedene Formen in seine Explikationen ein. Warum, so ließe sich vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Darlegungen fragen, behält gelehrtes Wissen trotz seiner Relativierung einen solchen Stellenwert nicht nur als Thema, über das - auch kritisch - gesprochen wird, sondern ebenso als Material eines belehrenden Darlegungsmodus? Die Antwort hat von den unterschiedlichen Arten der Anbindung und Umsetzung auszugehen. Gehäuft treten katechetische Darlegungen und Hinweise im Buch VII auf. Hier finden sich Passagen etwa zur Frage Wie man das ‚Ave Maria‘ sol bevelhen únser vrowen ( VII ,20, S. 572, 4 f.) oder Wie man dem sune danken sol ( VII ,23, S. 576, 16) ebenso wie grundsätzliche Erläuterungen: Von fúnf súnden und von fúnf tugenden ( VII ,44, S. 614, 19) oder Von vier dingen des geloͮben ( VII ,54, S. 636, 30). Da das VII . Buch wohl am spätesten und bereits in Helfta entstanden ist, 28 dürfte der verstärkte Rekurs auf das theologisch-katechetische Wissen durch die intensivere Einbindung Mechthilds in den Konvent und die neue, dadurch entstandene Kommunikationssituation zu begründen sein. Nur in Buch VII findet sich im Übrigen eine Kapitelüberschrift, die Lehre explizit macht ( VII , 29, S. 586, 10-17): Von einer lere Wiltu din herze gantz zů gotte keren, so soltu drú ding haben zů einer lere: vorhtig vor allen súnden, gůtwillig zů allen tugenden, stete zů allen gůten dingen. So mahtu din leben zů einem gůten ende bringen. Wiltu dich selben da zů twingen, so mahtu es mit gotz helfe wol vollebringen. Bitte got steteklich hie umbe, so tragestu sanfte allen dinen kumber. Bitte luterlich und diene got mit vlisse, so wirstu vroͤden riche. An dieser Stelle wird denn auch deutlich, dass unter den katechetischen oder lehrhaften Inhalten keine komplexen Auslegungen oder disputationes verstanden werden, sondern die Wiedergabe basaler Glaubensregeln oder pragmatisch orientierter Handlungsanweisungen. 29 Das prononcierte Auftreten solcher Passagen in Buch VI und vor allem Buch VII lässt sich von hier aus als Tendenz der Rückführung des ‚hohen Tons‘ der Visionen in den geregelt-vertrauten Bereich anerkannter Glaubensgrundsätze und klösterlicher Handlungs- 27 In der Übersetzung von Vollmann-Profe: „ohne jede Belehrung von außen“ (I,27, S. 47, 29 f.). 28 Vgl. Anm. 11. 29 Solche Handlungsanweisungen können auch ganze Kapitel füllen; vgl. etwa VI,2, S. 432, 1-2: Von der regele eis kanoniken, wie er sich halten sol, die ist von gotte komen ; VI,12, S. 454, 11-27: Wie du dich halten solt an vierzehen dingen etc. <?page no="166"?> Gestufte Lehre 165 anweisung verstehen. Eine solche ‚Rückführung‘ dürfte auch die Intention der Themenübersicht des Vorberichts sein, die in erster Linie den Eindruck vermittelt, es handele sich bei Mechthilds Werk um ein katechetisch-praktisches Archiv. Innerhalb der 14 Themen, die das Inhaltsverzeichnis (S. 10 / 12) nennt - etwa De trinitate oder De Christo , De descriptione celi oder De descriptione inferni usw. bis zu De predicatoribus in fine mundi tempore Antichristi -, wird nur einmal auf das Thema De raptu et separatione anime a carne (S. 10, 25) verwiesen - und dies nur mit einer einzigen Kapitelangabe (I,5). Vom Ende und Anfang her gesehen, scheint der lehrhafte Duktus somit genutzt, um von den Rändern her den offenbar irritierenden Inhalt sowie den ebenso irritierenden Sprechmodus der Visionen gleichsam ‚einzuhegen‘. Doch nicht nur die Gesamtkomposition zeigt in der vorliegenden Überlieferung diesen Kontrapost. Vielmehr zieht er sich über alle Ebenen bis in die Feinstrukturen der Gestaltung. So bilden Kapiteltitel und nachfolgender Text oftmals ein komplementäres Setting, das zwei durchaus unterschiedliche Ausdrucksformen zusammenbindet, so dass sich diese gegenseitig ‚inspirieren‘, aber auch ‚entschärfen‘ können, etwa wenn - wie Suerbaum gezeigt hat - die Formulierungen eines emotional-emphatisch aufgeladenen Liebesbegehrens des Sprecher-Ichs durch den Titel in die Perspektive einer funktionalen Gebetsanleitung gelenkt werden. 30 Diese ‚Zwei- oder Mehrstimmigkeit‘ lässt sich jedoch auch innerhalb einzelner Passagen finden, oft gebunden an den Wechsel der Sprechinstanzen, den Wechsel der Redeformen Narration versus Dialog oder den Wechsel von Prosa und rhythmisiertem lyrischem Sprechen. Dabei geht, sind unterschiedliche Sprechmodi zusammengespannt, in der Regel der lehrhafte Modus (eines auktorialen Sprechers, die Narration, die Prosa) dem emphatischen Modus (der Ich-Stimme, dem Dialog, dem lyrischen Duktus) voraus, leitet diesen ein, bereitet diesen vor. Dies weist auf eine zweite Funktion: Der Rezipient wird zunächst in dem ihm vertrauten Erklärungszusammenhang und -duktus abgeholt, um von hier aus durch oftmals nur leicht modulierte Veränderungen und Verschiebungen in ungewohntere Erfahrungsbereiche und Äußerungsmodi geführt zu werden - ein fast suggestives Hineinziehen mit dem Ziel der Immersion in Text und Erfahrung gleichermaßen. 31 Oder anders formuliert: Man kann sich gleichsam nur vom katechetischen Wissen aus dem „Gespräch mit dem göttlichen Partner“ 32 nähern und muss dieses gelehrte Wissen dennoch hinter sich lassen. 33 30 Suerbaum (wie Anm. 9), S. 31-33. Inwieweit diese Korrespondenzen auf Mechthilds eigene Redaktion zurückgehen oder Überschreibungen des späteren Redaktors sind, muss dabei - wie schon gesagt - offen bleiben. 31 Zum Begriff vgl. Hartmut Bleumer, „Immersion im Mittelalter. Eine Einführung“, in: LiLi 167 (2012), S. 5-15, wobei hier nicht nur die Metaphorik des Eintauchens mit dem im Fließenden Licht wichtigen Bildbereich des Sinkens, Einsinkens, Versinkens in Relation zu setzen ist (vgl. ebd., S. 7), sondern auch und vor allem die Struktur der Reflexion, die sich selbst gleichsam ‚überholt‘, ohne verlorenzugehen: „Der Immersionseffekt beruht auf einer intensiven semantischen Tätigkeit des Rezipienten, deren hohes Reflexionspotential gerade als intensive sinnliche Teilhabe umgeschrieben wird“ (S. 11). Das Doppelmoment des Reflexiven wie Sinnlichen, des Hermeneutischen wie Identifikatorischen arbeitet, auf die Rezeption des Fließenden Lichts bezogen, dann auch Balázs J. Nemes, „Der involvierte Leser. Immersive Lektürepraktiken in der spätmittelalterlichen Mystikrezeption“, in: LiLi 167 (2012), S. 38-62, als spezifisches Kennzeichen der immersiven Lektüre heraus. 32 Haug (wie Anm. 7); vgl. auch Kasten (wie Anm. 8). 33 Anders akzentuiert Poor, „Gender und Autorität“ (wie Anm. 6), S. 42 f.: Auch sie erkennt die Mischung der „Muster“, insbesondere den Einbezug von „Verfahren theologischer Diskurse [wie] die der Bibelkommentatoren, Propheten, Lektoren, Bittsteller und Priester“, ordnet diese Mischung jedoch einer <?page no="167"?> 166 Annette Gerok-Reiter Diese didaktisch angelegte Traversale, die durch die Kolonreime bereits ein solch sprödes und knappes Kapitel kennzeichnet wie Von einer lere , 34 lässt sich in komplexer Entfaltung in zahlreichen Kapiteln nachweisen, insbesondere in denen, die auf die unio hinführen. Demonstriert sei dies anhand von Kapitel II,24 (S. 120-126). Dieses ist in drei Teilen aufgebaut: Der erste Teil setzt mit den Anrufungen von zehn Heiligen ein, von denen jeder einzeln ausführlich gewürdigt wird. Die Anrufung der Heiligen geht über in die Anrufung Gottes und mündet von hier über die Explikation der ungebundenen Liebe in einen bilderreichen und fast hymnischen Preis der gebundenen Liebe. Wozu die Parade der Heiligen mit jeweiliger Explikation über drei Viertel des mehrseitigen Kapitels? Zweifellos wird hier theologisches Wissen aufgerufen und demonstriert. Die nachfolgenden Äußerungen erhalten somit zunächst ein verlässliches ‚Fundament‘. Zugleich wird der Rezipient Schritt für Schritt von der vertrauten ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ aus in die ungewohnte Argumentation und Bildgebung des eigentlichen Themas der ‚gebundenen Liebe‘ hinübergeführt. Dieser allmähliche Übergang lässt sich als Verfahrensweise didaktisch aufgebauter Vermittlungsbemühung sehen. Korreliert mit diesem ‚dosierten‘ Übergang ist zudem ein zentraler inhaltlicher Aspekt. Denn alle Anrufungen heben die demütige Bereitschaft der Heiligen zum Leiden hervor, variieren ebendieses Thema mit immer neuen Bildern und Kontextverweisen. Die demuͤtekeit , die das Sprecher-Ich denn auch anschließend als eigenes Thema aufnimmt und in der Selbstbezichtigung als völlig wertloses Gefäß (II,24, S. 124, 16 f.) auf sich bezieht, wird somit in der Fokussierung der verschiedenen Heiligen zunächst ausführlich entfaltet. Ebendies aber eröffnet ein multiples Identifikationsangebot, auf das der Rezipient sich im Spektrum der Wahl einlassen kann und soll, um gleichsam als Dritter im Bunde - neben den Heiligen und dem Ich - über die Schwelle der Demut hinweg der mystischen Erfahrung würdig zu werden. Oder anders formuliert: Die Heiligennennung bietet nicht nur eine belehrende Einführung, die den Rezipienten auf vertrautem Boden - vertraut in Inhalt wie Sprechmodus - abholt, sondern wirkt durch die perennierende Reihung zugleich als performative Einübung in die notwendige Demutshaltung mit der Zielsetzung, von diesen didaktisch inszenierten Übergangsmodalitäten aus den Rezipienten immer stärker in die Eigenbewegung des Textes hineinzunehmen, Text- und Erfahrungsimmersion werden enggeführt. Lehrhaftes Sprechen als „Einladung zum Nachvollzug“, so hat Almut Suerbaum diesen dynamischen Prozess beschrieben. 35 Besonders deutlich wird diese „Einladung“ etwa auch in Kapitel VII ,61, S. 650-652, in dem die bildlich repräsentierte Lehre der Minnevorbereitung in einen hymnisch-präsentischen Anruf der Minne übergeht, der zugleich Variationen des mystischen Liebeskonzepts ausdifferenziert. In Abfolge wie durchgängiger Doppelstruktur von „präsentischem Sinneseindruck und nachhaltendem semantischen Deutungsprozess“ 36 wird eben das demonstriert, von dem der Abschnitt spricht: Wie man sich bereiten sol zů gotte (S. 650, 12). biographisch festzumachenden Entwicklung, d. h. einem „langen und wechselvollen Prozess des Umgangs mit Autorität“ zu. Dies wird den Detailstrukturen wohl nicht ausreichend gerecht. 34 Bleumer (wie Anm. 31) weist denn auch darauf hin, dass Immersion „wesentlich ein Klangphänomen“ (S. 11) sei. Die Wirkung der Klangphänomene hat Linden (wie Anm. 7) für das Fließende Licht Mechthilds differenziert herausgearbeitet, wobei auch sie nicht das „rauschhafte verstandesfreie Aufgehen in einer bezaubernden Klangstruktur“ in den Mittelpunkt stellt, sondern das „Zusammenwirken von Sprachklang und Wortsinn“ (S. 367). Diese Doppelstruktur kennzeichnet keineswegs nur die lyrischen Passagen des Werks, sondern auch viele der Prosa-Explikationen. 35 Suerbaum (wie Anm. 9), S. 33. 36 Linden (wie Anm. 7), S. 367. <?page no="168"?> Gestufte Lehre 167 Doch im Übergang vom einübenden Nachvollzug zur unvermittelten unio -Erfahrung selbst wird auch diese didaktisch-überleitende Funktion überholt, wird Lehre schließlich gänzlich obsolet. Hierzu das letzte Beispiel: In Kapitel I,44 bricht die Seele auf, um ihren Geliebten zu treffen. Sie wird von ihren Kämmerern prächtig ausgestattet, ihre Kleider sind Allegorien der Tugenden: Sie erhält das Hemd der sanften Demut, das weiße Kleid der lauteren Keuschheit, den Mantel des heiligen Leumunds usw. So ausgestattet, kann sie mit dem ersehnten Jüngling den Ehrentanz tanzen, Vorbereitung der unio . Bevor es jedoch zu dieser kommt, treten die Kämmerer erneut auf und versuchen durch Ratschläge im Rahmen topisch-klerikaler Lehre der Seele zu der Kühlung zu verhelfen, die sie verlangt. Doch die Seele lehnt alle belehrenden Ratschläge ab (I,44, S. 60, 32-62, 2): ‚Vroͮwe, in der megde kúschikeit ist dú grosse minne bereit.‘ ‚Das mag wol sin, das enist das hoͤhste nit an mir.‘ ‚In der marterer blůte moͤgent ir úch sere kuͤlen.‘ ‚Ich bin gemartert so manigen tag, das ich dar nu nit komen mag.‘ ‚In dem rate der bihteren wonent reine lúte gerne.‘ ‚Mit rate will ich iemer stan, beide tůn und lan, doch mag ich nu dar nit gan.‘ Kurz vor der unio mit dem Geliebten werden somit Zug um Zug alle nur erdenklichen Belehrungen negiert. Dabei ist nicht das Ziel, das den Ratschlägen inhaltlich Gegensätzliche zu tun, sondern die Zurückweisung der Lehre an sich. Der Bereich, in den die Seele nunmehr aufbricht, ist ein Bereich, der durch Lehre nicht erreicht werden kann, sondern reiner Vollzug ist, erfülltes, präsentisch spürendes Sein: Went ir, das ich nit empfinde sin wol? (I,44, S. 62, 33), fragt die Seele die belehrenden Kämmerer, ein Sein, dessen Ziel, Intention oder Inhalt denn auch nicht mehr in allegorisch gelehrter Deutung zu fassen ist, sondern allenfalls in den Evokationen von Bild-, Rhythmus- und Reimintervallen. Dieser Sprechmodus aber hebt die Kriterien der Lehre auf: Statt um die Vermittlung von Wissen geht es um die Ungeschiedenheit, ein selig stilli (I,44, S. 64, 20), statt um rationale Systematik um sinnlich aufgeladene Metaphorik, statt um Distanz zwischen Lehrendem und Belehrtem um einen identifikatorischen Vollzug, statt um Hierarchie um Teilhabe, statt um allegorische Deutung um sprachliche Performanz. So muss die Seele die belehrenden Kämmerer im Vorhof der unio entlassen. Doch nicht, ohne ihnen ein tröstendes Wort mitzugeben: Nu betruͤbent úch nit ze sere! Ir soͤllent mich noch leren. Swenne ich widerkere, so bedarf ich úwer lere wol, wan dis ertrich ist maniger strikke vol (I,44, S. 62, 34-37). Die Lehre hat ihren Ort. Doch es ist weder derjenige der unio noch derjenige der unio -Beschreibung. In Szene gesetzt ist damit in I,44 eine Lehre, die ihre eigene Aufhebung zu erzählen weiß und in der Erzählung denn zugleich ihren eigenen Bestand sichert. 37 37 Wie in der Doppelstruktur von Reflexivem und Sinnlichem, von Wortsinn und Sprachklang ist damit auch hier das „Grundproblem des Performativen“ angesprochen, das Burkhard Hasebrink insbesondere anhand mystischer Texte des Mittelalters aufgezeigt hat; es besteht darin, dass der Präsenzerfahrung immer zugleich die Differenzerfahrung inhärent ist: vgl. B. H., „Sprechen vom Anderen her. ‚Heterologie‘ mythischer Rede als epistemischer Fluchtpunkt mittelalterlicher Literarizität“, in: Germanistik in und für Europa. Faszination - Wissen , hg. von Konrad Ehrlich, Bielefeld 2006 (Texte des Münchner Germanistentages 2004), S. 391-399, Zitat S. 399. Diese Spannung verweist einerseits ontologisch auf die nicht zu überwindende Unterschiedenheit von Gott und Mensch (vgl. Hasebrink [wie Anm. 11], S. 154-156), andererseits jedoch auch auf ein Signum mittelalterlicher Ästhetik, die - deutlich an der ästhetischen Reflexionsfigur der Klage -„mit ihrer ganzen Intensität auf Vergegen- <?page no="169"?> 168 Annette Gerok-Reiter IV. Fazit Mechthilds Text unterstellt sich der sozialen Praxis von Vermittlung und Verständigung. Damit ist als Rahmenbedingung eine Öffnung auf didaktische Strategien im Zuge einer Wirkungsabsicht gegeben. Diese können gelehrtes Wissen bzw. Belehrung sowohl als Thema wie auch als Darstellungsmodus einbeziehen. Das Thema der Lehre entfaltet sich über die klerikal geprägte Dichotomie gelehrt / ungelehrt. Das Sprecher-Ich ordnet sich dieser Dichotomie vollständig unter und weist damit jeden Anspruch, lehren zu wollen, zurück bzw. gibt die Verantwortung an Gott weiter. Die Gelehrsamkeit qua klerikaler Bildung wird jedoch durch die Lehre úber alle meisterschaft (VII,47, S. 620, 22 f.) relativiert. Zu erlernen ist als conditio sine qua non mystischer Erfahrung in diesem zweiten Lehrfeld die Grenze jeder Gelehrsamkeit, die Demut der Einsicht grundsätzlichen Nicht-Wissens. Doch auch diese Lehre muss - als äußerster Punkt des demütigen Verzichts - überstiegen werden in einem Seinsstatus ane alle meisterschaft (I,27, S. 46, 25), der Lehre der Nicht-Lehre. Dabei überrascht weniger die genaue, fast - so scheint es - systematische Dreistufung der thematischen Variationen als die korrespondierenden Praktiken, die diese Dreistufung in den Darlegungsmodi des Textes umsetzen. So wird zum einen gelehrtes Wissen in Form vertrauter Glaubenswahrheiten als Fundament der Kommunikation geboten. Dieses Fundament wird zum Zweiten immer wieder der Ausgangspunkt einer modulierenden Sprachbewegung, die sich vom vertrauten Ausgangspunkt aus in ungewohntes Sprach- und Denkgelände hineinschraubt und den Rezipienten suggestiv in den Text hineinzieht. Text- und Erfahrungsimmersion werden dabei enggeführt. Schließlich scheint der Vermittlungsmodus der Lehre ganz im Modus der Performanz aufzugehen. Zu ergänzen ist, dass die umgekehrte Bewegung als kommunikativer Rückbezug zur Gemeinschaft ebenfalls zu registrieren ist. 38 Wichtiger als eine polare Gegenüberstellung von mystischer Erfahrung und lehrhaftem Sprechen erscheint somit die Produktivität einer durchaus didaktisch angelegten Traversale zwischen den Polen, die deren konstitutiver Bezogenheit entspricht. 39 Man könnte versucht sein, diese Traversale in ihren drei Akzenten mit den zentralen Aspekten des vorliegenden Bandes, den Aspekten des Lehrens, des Lernens und des Bildens zusammenzubringen. Näher liegt jedoch - noch einmal - die Bildgebung und Sprache des Fließenden Lichts selbst: Kapitel IV,3 beschreibt drei Weisheiten: Die erste ist die priesterliche Weisheit wärtigung ziele“, zugleich aber immer auch die „Bekundung einer Abwesenheit“ impliziere (Hasebrink [wie Anm. 7], S. 105). Aus dieser Spannung heraus inszeniere denn auch „religiöse Kommunikation das Paradox des Sprechens vom Unsagbaren“ (S. 105), ebenso wie sich von hier aus erkläre, inwiefern der „Anspruch auf Heiligkeit […] zwischen unmittelbarer Inspiration und klerikaler Autorisierung“ seine Begründung finde (S. 106). Lehrhaftes Sprechen wäre in dieser Perspektive dann gerade nicht das Andere des lyrisch-ästhetischen Sprechens, sondern als dessen Bedingung zugleich dessen Teil. 38 Vgl. dazu Almut Suerbaum, „Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg“, in: Dialoge (wie Anm. 7), S. 239-255, insbesondere S. 251 f. Zur Häufigkeit solcherart „Wendungen vom Ich zum Wir“ siehe ebd., S. 252, Anm. 37. 39 Eben deshalb demonstriert Mechthilds Fließendes Licht die Transformationsprozesse religiösen Wissens, wie sie das Graduiertenkolleg 1662 „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800-1800)“ untersucht, in doppelter Weise: Zum einen wird gelehrtes Wissen, auch etwa in Form lehrhaft vermittelten Bibelwissens, als Einstieg genutzt, um von hier aus den Rezipienten in ungewohntere Erfahrungsfelder zu führen, was wiederum auf die Deutung des Bibelwissens zurückwirkt. Zum anderen werden die Offenbarungserlebnisse des Sprecher-Ichs an einen kollektiv zugänglichen Redemodus zurückgebunden, der die Adaptation der Erfahrungen in die Lebenswelt des Klosters bzw. der Rezipienten erleichtert. Vgl.: http: / / www.uni-tuebingen.de/ forschung/ forschungsschwerpunkte/ graduiertenkollegs/ gk-religioeses-wissen.html (letzter Abruf: 10. 9. 2016). <?page no="170"?> Gestufte Lehre 169 ( pfeffelichú wisheit ) und die christliche Lehre ( cristanlichú lere ) (S. 240, 4). Dargelegt wird sie in einer aufwendigen Bildallegorie, deren Entschlüsselung klerikaler Deutungspraxis bedarf. Die zweite Weisheit erschließt sich nur demjenigen, so heißt es, der immer auch ein Tor um der Liebe Gottes willen bleibt, wan reinú heligú einvaltekeit ist ein můter der waren gottes wisheit (S. 244, 16-18). Die dritte Weisheit, jenseits der Lehre, aber komme aus der Gnade und sei ganz auf die Gaben Gottes ausgerichtet: Umbe ir ungemach betruͤbet si [die Seele] sich niemer, mere si froͤwet sich alleine in gotz willen (S. 244, 23-25). Mechthilds Werk dekliniert somit Lehre und lehrhaftes Sprechen - ausgehend von den drei genannten Grundpositionen gelehrte Lehre / Lehre úber alle meisterschaft / Vollzug ane meisterschaft - in ganz unterschiedlichen Formen, Funktionen und Relationen durch: als Notwendigkeit wie als Ballast, diskursiv und anschaulich, systematisch und doch mit durchgehender Flexibilität, als Bedingung wie als Teil eines ‚performativen Selbstwiderspruchs‘. 40 Eben deshalb ist das Fließende Licht Mechthilds von Magdeburg nicht nur ein ‚Meisterbuch‘ der Mystik, 41 sondern auch ein ‚Meisterkurs‘ in Sachen Lehre. 40 Jan-Dirk Müller, „Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar“, in: ders., Minnesang und Literaturtheorie , hg. von Ute von Bloh und Armin Schulz, Tübingen 2001, S. 209-231. 41 Vgl. Annette Volfing, „Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen“, in diesem Band S. 253 - 65, hier S. 265. <?page no="172"?> Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte im Spannungsfeld von Liturgie und Privatandacht Zu Formen des Laienstundengebetes im deutschsprachigen Mittelalter Stefan Matter I. Einleitung Es gibt nicht viele Bereiche in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in denen die Menge der überlieferten Texte in einem solchen Missverhältnis steht zu ihrer Erforschung, wie das bei der Gebetbuchliteratur immer noch der Fall ist. Trotz vielfältiger Bemühungen der letzten Jahre sind doch erst einzelne schmale Pfade durch das Dickicht des Überlieferten geschlagen worden, eine Kartierung des Materials bleibt damit noch ein Projekt für die Zukunft. Dieser Befund gilt nicht nur in besonderem Maße für den vorliegenden Gegenstand - deutschsprachige Tagzeitentexte -, er gilt auch für ihre lateinischen Vorlagen, sogenannte Stundenlieder, von denen sie häufig mehr oder weniger direkt abhängen. Bei Tagzeitentexten handelt es sich um Texte, die ihrem Inhalt und teilweise auch ihrer äußeren Form nach auf die kanonischen Gebetsstunden der Geistlichen Bezug nehmen, das Officium divinum . Manches davon - wenn auch insgesamt: weniges - ist zwar ediert, bei der Erforschung der Texte bleibt aber noch fast alles zu tun, ihre Quellen sind nur unzureichend freigelegt, ihr Sitz im Leben ist überhaupt nicht untersucht. Es ist beispielsweise - um nur einen prominenten Verfassernamen zu nennen - gänzlich unklar, wie die beiden deutschen Tagzeitentexte Johanns von Neumarkt, welche auf den lateinischen Stundenliedern Patris sapientia veritas divina und Matutino tempore Mariae nuntiatur fußen, von Elisabeth von Mähren konkret hätten verwendet werden können, der sie Johann zugeeignet hat. 1 Die Handschriften bringen teilweise nur den nach den Horen gegliederten Prosatext, teilweise ist dieser aber regelrecht als Offizium eingerichtet, mit Invitatorium, kleiner Litanei und Oratio angereichert. Dies gilt ebenso bereits für die lateinischen Vorlagen, wobei das Patris sapientia in Stundenbüchern häufig Teil eines sehr breit überlieferten Heilig-Kreuz-Offiziums ist. Solche Zusammenhänge und Abhängigkeiten liegen in diesem und verwandten Fällen noch vollkommen im Dunkeln. Ich möchte mich im Folgenden deswegen in grundsätzlicher Weise der Frage zuwenden, in welche Formen des Laienstundengebetes sich die mittelhochdeutschen Tagzeitentexte 1 Schriften Johanns von Neumarkt , hg. von Joseph Klapper, Berlin 1935 (Vom Mittelalter zur Reformation 6,4), Nr. 1 und 2; vgl. dazu meinen Aufsatz: „Das Stundenlied ‚Patris sapientia‘ und seine deutschsprachigen Übertragungen. Zu einem Schlüsseltext der spätmittelalterlichen Gebetbuchliteratur“, in: Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters , hg. von Franz-Josef Holznagel in Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Susanne Köbele, Berlin 2017 (Wolfram- Studien 24), S. 501-517. <?page no="173"?> 172 Stefan Matter einbetten lassen. Wurden im deutschsprachigen Raum von Laien Tagzeiten gebetet, und wenn ja, in welcher Form? 2 Welche Formen der Wissensvermittlung an und der Belehrung von geistlich nicht oder doch wenig geschulten Laien sind damit verbunden? Welche Rolle spielt dabei die Form der Texte (namentlich ihre Tagzeiten-Struktur) und welche die Inhalte, die beide auf je spezifische Weise gelehrt-geistliches Wissen zu vermitteln vermögen. Insbesondere die Frage nach der konkreten Gestalt eines Laienstundengebetes scheint in der Forschung noch gar nicht behandelt, ist aber für die Kontextualisierung von Tagzeitentexten verständlicherweise zentral. Lediglich für den hier nicht näher behandelten und insgesamt deutlich besser aufgearbeiteten Bereich der niederdeutschen Texte im Umfeld der Devotio moderna gibt es Einzeluntersuchungen. 3 Eine genauere Verortung der einschlägigen Texte böte daher auch die Gelegenheit, an einem einzelnen, jedoch zentralen Punkt eine konkretere Vorstellung der von Laien praktizierten Andachtsübungen zu gewinnen. Zugleich ergäbe sich die Möglichkeit, nach den Lehr- und Vermittlungsprozessen zu fragen, welche in vielen Fällen die Übertragungen in die Volkssprache erst motiviert haben werden. 4 II. ‚Tagzeitentexte‘ als Forschungsgegenstand Zunächst ein paar Worte zu ‚Tagzeitentexten‘ als abgrenzbarer Textgruppe. Sie treten formal sehr vielgestaltig auf: Weit in der Überzahl sind Prosatexte, daneben gibt es solche in Versen - und nur solche Verstexte sind als ‚Tagzeitengedichte‘ von Nigel Palmer und Gisela Kornrumpf im Verfasserlexikon bereits zusammengestellt; 5 manche umfassen nur gerade 2 Erstaunlicherweise wurde diese Frage bislang kaum je gestellt und schon gar nicht eingehender untersucht. Es ist dabei vor allem zu nennen: Joseph Stadlhuber, „Das Laienstundengebet vom Leiden Christi in seinem mittelalterlichen Fortleben“, in: Zeitschrift für katholische Theologie 72 (1950), S. 282-325; ferner verschiedene Beiträge von Peter Ochsenbein, am einschlägigsten für unsere Fragestellung: P. O., „Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form. Notizen zur Geschichte der abendländischen Frömmigkeit“, in: Viva vox und ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters , hg. von Clemens M. Kasper und Klaus Schreiner, Münster 1997 (Vita regularis 5), S. 135-155; ders., „Frömmigkeit eines Laien. Zur Gebetspraxis des Niklaus von Flüe“, in: Historisches Jahrbuch 104 (1984), S. 289-308. Grundlegend ist weiterhin: Franz X. Haimerl, Mittelalterliche Frömmigkeit im Spiegel der Gebetsbuchliteratur Süddeutschlands , München 1952 (Münchner Theologische Studien I,4). 3 Vor allem ist zu nennen: Thomas Kock, „Lektüre und Meditation der Laienbrüder in der Devotio moderna“, in: Ons geestelijk erf 76 (2002), S. 15-63; Monika Costard, Spätmittelalterliche Frauenfrömmigkeit am Niederrhein. Geschichte, Spiritualität und Handschriften der Schwesternhäuser in Geldern und Sonsbeck , Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 62); für den weiteren Kontext: Klaus Schreiner, „Gebildete Analphabeten? Spätmittelalterliche Laienbrüder als Leser und Schreiber wissensvermittelnder und frömmigkeitsbildender Literatur“, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache , hg. von Horst Brunner und Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter 13), S. 296-327. 4 Vgl. z. B.: Eva Schlotheuber, „Bücher und Bildung in den Frauengemeinschaften der Bettelorden“, in: Nonnen, Kanonissinnen und Mystikerinnen. Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland. Beiträge einer interdisziplinären Tagung vom 21 .- 23 . 9 . 2005 in Frauenchiemsee , hg. von ders., Göttingen 2008 (Studien zur Germania Sacra 31), S. 241-262; Almut Breitenbach, „‚In der Schule des ewigen Königs‘. Wissen und Bildung in Klarissenklöstern zwischen Norm und Praxis“, in: Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart , hg. von Heinz-Dieter Heimann, Angelica Hilsebein, Bernd Schmies und Christoph Stiegemann, Paderborn 2012, S. 183-216. 5 Nigel F. Palmer, „Tagzeitengedichte“, in: 2 VL , Bd. 9, Berlin / New York 1995, Sp. 577-588; Gisela Kornrumpf, „Tagzeitengedichte [Korr./ Nachtr.]“, in: 2 VL , Bd. 11, Berlin / New York 2004, Sp. 1476-1488. <?page no="174"?> Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte 173 wenige Zeilen, andere viele Handschriftenseiten; nicht selten sind sie Offizien nachgebildet, andere ganz frei gebaut oder als Traktate zur Andachtsanleitung konzipiert. Inhaltlich haben die allermeisten Texte einen klaren Schwerpunkt beim Passionsgeschehen, dazu treten Heilige, einzelne kirchliche Hochfeste oder andere Bezugsgrößen (so etwa bei Seuse die ‚Heilige Weisheit‘). Entwicklungsgeschichtlich sind Tagzeitentexte abzuleiten vom ursprünglich monastischen Stundengebet, 6 an welches sich im Laufe des hohen Mittelalters eine Reihe von sogenannten Zusatzoffizien angegliedert hatte. 7 Das bekannteste von ihnen ist sicherlich das Officium parvum Beatae Mariae Virginis , welches im späteren Mittelalter einen der Kerntexte des Stundenbuches bilden wird. Daneben gibt es aber eine große Menge an Tagzeitentexten, die ohne jegliche ‚liturgisierende‘ Einkleidung daherkommen - oder bei denen eine solche, wie bei Johann von Neumarkt, in der Überlieferung einmal da ist und ein andermal fehlt. Die Grenzen zu Andachtsanleitungen sind fließend, indem viele Texte zunächst zwar einen anleitenden Charakter haben, dann aber zur Hauptsache aus Betrachtungen bestehen, also als Gebetstext verwendet werden konnten und wohl auch wurden. III. Das Stundenbuch und das deutsche Privatgebetbuch In der Zeit des frühen und hohen Mittelalters war der teilweise um volkssprachige Gebetsanweisungen erweiterte Psalter das Gebetbuch der lesekundigen und vermögenden Schichten. 8 Erst im Laufe des 14. Jahrhunderts wurde er schrittweise vom Stundenbuch und anderen Formen des Privatgebetbuches abgelöst. Es ist immer wieder mit Verwunderung vermerkt worden, dass neben den unzähligen Stundenbüchern in lateinischer, französischer und niederländischer Sprache nur verhältnismäßig wenige deutschsprachige Stundenbücher überliefert sind, obwohl unter diesen auch gerade sehr frühe Beispiele zu finden sind. 9 Einen Perspektivenwechsel hat erst jüngst Jeffrey Hamburger eingefordert: Er plädiert vor allem dafür, versuchsweise die Textsammlung des Stundenbuches als - wenn auch außergewöhnlich erfolgreiche - Sonderform im Bereich der Gebetbuchliteratur zu 6 Eine eigentliche Geschichte des mittelalterlichen Stundengebetes gibt es bislang nicht. Am eingehendsten hat sich immer wieder Angelus A. Häussling mit der Materie beschäftigt, vgl. zuletzt die Zusammenstellung seiner einschlägigen Arbeiten (auch der zahlreichen Lexikonartikel): A. A. H., Tagzeitenliturgie in Geschichte und Gegenwart. Historische und theologische Studien , hg. von Martin Klöckener, Münster 2012 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 100); ferner Robert Taft, The Liturgy of the Hours in East and West. The Origins of the Divine Office and Its Meaning for Today , Collegeville MN 1986; John Harper, The Forms and Orders of Western Liturgy from the Tenth to the Eighteenth Century. A Historical Introduction and Guide for Students and Musicians , Oxford 1991; Eric Palazzo, Le Moyen Age. Des origines au XIIIe siècle , Paris 1993 (Histoire des livres liturgiques), S. 131-183. 7 Albert Schmidt, Zusätze als Problem des monastischen Stundengebets im Mittelalter , Münster 1986 (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums 36). 8 Jürgen Wolf, „Psalter und Gebetbuch am Hof. Bindeglieder zwischen klerikal-literater und laikalmündlicher Welt“, in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green , hg. von Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 139-179. 9 Mit diesen Handschriften hat sich vor allem Regina Cermann in ihrer Dissertation Über die Anfänge des deutschsprachigen Stundenbuchs. Texteigenheiten, Verbreitungsgebiet und Ausstattungsweise eines bislang unbekannten deutschsprachigen Typus (Vorläufer und Gegenstück zu Geert Grootes getijdenboek) aus dem Jahr 2005 beschäftigt, die mir aber trotz aller Bemühungen nicht zugänglich war. Vgl. bislang lediglich: Regina Cermann, „Über den Export deutschsprachiger Stundenbücher von Paris nach Nürnberg“, in: Codices manuscripti 75 (2010), S. 9-24. <?page no="175"?> 174 Stefan Matter sehen, neben der die in einer Reihe mit den frühmittelalterlichen libri precum stehenden deutschen Privatgebetbücher möglicherweise deswegen weiterhin so erfolgreich blieben, weil ihre Textzusammenstellungen in viel stärkerem Maße individuelle Vorlieben berücksichtigen konnten, als das bei den verhältnismäßig homogen strukturierten Stundenbüchern der Fall war. 10 Bei der Frage nach den Gebrauchszusammenhängen von Tagzeitentexten ist das Stundenbuch trotzdem ein guter Ausgangspunkt, denn in ihm sind ja zunächst einmal Offizien enthalten, die nicht dem Officium divinum zugehörten, aber doch teilweise als Zusatzoffizien sich diesem angliederten. So wird das Officium parvum Beatae Mariae Virginis - das karolingische Wurzeln zu haben scheint - beispielsweise in der Kathedrale von Paris ab dem frühen 13. Jahrhundert täglich persolviert 11 und ist später in verschiedenen Orden als privat zu betender Text vorgeschrieben. 12 Was weiß man nun über die Verwendung des Stundenbuches? 13 In französischen und italienischen Quellen ist gut belegt, dass es zur täglichen Pflicht frommer Laien, insbesondere auch von Frauen, gehörte, mit Hilfe des eigenen Stundenbuches im privaten Rahmen das Stundengebet zu sprechen. 14 Zu den Texten, in denen solches festgehalten wird, gehören Anleitungen zu einer geistlichen Lebensführung für Laien sowie entsprechende Passagen in Ehelehren und Beichtspiegeln. 15 Explizit genannt werden dabei immer wieder les heures de Nostre Dame , also das Officium parvum , dann teilweise zusätzlich die sieben Bußpsalmen und verschiedenes andere mehr. Auch zu den Gebetszeiten äußern sich die Texte, die um die Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von weltlichen und geistlichen Pflichten - zumal der Ehefrauen - wissen. Aus diesem Grund werden gerne einzelne Momente im Tagesverlauf vorgeschlagen, an denen in konzentrierter Weise das Gebetspensum des ganzen Tages zusammengezogen werden könne; bevorzugt sind das die Nachtstunden, der frühe Morgen oder der späte Abend. 16 Ganz anders nun das Bild im deutschsprachigen Raum. Schaut man sich die deutschsprachigen Verwandten der eben erwähnten französischen und italienischen Texte an, so wird dort auf die sieben Horen des Stundengebetes kaum einmal verwiesen, auf das Stundenbuch schon gar nicht. Bertholds von Regensburg Predigt Von der tagczeit vnd von sust petten steht im 13. Jahrhundert mit ihrer Forderung offenbar völlig vereinzelt, dass jeder sein tagc- 10 Jeffrey F. Hamburger, „Another Perspective. The Book of Hours in Germany“, in: Books of Hours Reconsidered , hg. von Sandra Hindman und James H. Marrow, Turnhout 2013 (Studies in Medieval and Early Renaissance Art History), S. 97-152. 11 Rebecca A. Baltzer, „The Little Office of the Virgin and Mary’s Role at Paris“, in: The Divine Office in the Middle Ages. Methodology and Source Studies, Regional Developments, Hagiography , hg. von Margot E. Fassler und Rebecca A. Baltzer, New York 2000, S. 463-484. 12 Ochsenbein, „Privates Beten“ (wie Anm. 2), S. 147; so wird es in der dominikanischen Liturgie zwar vorgeschrieben, ist jedoch individuell und außerhalb des Chores zu persolvieren, vgl. William R. Bonniwell, A History of the Dominican Liturgy 1215 - 1945 , New York 2 1945, S. 134 und 145 f. 13 Vgl. zu dieser Frage auch Stadlhuber (wie Anm. 2), S. 293 f. 14 Zuletzt dazu: Virginia Reinburg, French Books of Hours. Making an Archive of Prayer, c. 1400 - 1600 , Cambridge u. a. 2012, S. 109-112 (mit älterer Literatur). 15 Geneviève Hasenohr, „La vie quotidienne de la femme vue par l’église. L’enseignement des ‚journées chrétiennes‘ de la fin du moyen-âge“, in: Frau und spätmittelalterlicher Alltag. Internationaler Kongress Krems an der Donau , hg. von Heinrich Appelt, Wien 1986 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 473; Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 9), S. 19-101, hier S. 54 f. 16 Ebd., S. 40-51, mit zahlreichen Beispielen. <?page no="176"?> Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte 175 zeit all tag spricht als sy im geseczt ist - der arbaittär vnd der feirar, 17 der pfaff vnd der lay, der geystleich vnd der weltleich . 18 Nach Thomas Peuntners Büchlein von der Liebhabung Gottes komme für Laien der Predigt die Funktion zu, die für Geistliche das Stundengebet habe; 19 im Laiendoctrinal findet das Stundengebet überhaupt keine Erwähnung; 20 das gleiche gilt für Johannes Niders 24 goldene Harfen 21 oder Albrechts von Eyb Spiegel der Sitten . 22 Auch Ehelehren bieten, wie es scheint, im Gegensatz zu ihren welschen Verwandten keine einschlägigen Vorschriften. 23 Dass man trotz der zahlreichen Tagzeitentexte in der spätmittelalterlichen Gebetbuchliteratur nicht einfach davon ausgehen kann, dass die Ausrichtung des Laiengebetes auf Tagzeiten generell vorauszusetzen ist, hat Peter Ochsenbein am Beispiel von Niklaus von Flüe gezeigt. Zum eben skizzierten Schweigen der Ratgeberliteratur passt nämlich, dass der illiterate Bruder Klaus nach eigener Aussage erst durch den Krienser Pfarrer Heimo am Grund zu Beginn seiner Eremitage 1467, oder allenfalls auch schon kurz davor, dazu angeleitet worden sei, seine Gebete nach den sieben kanonischen Stunden zu gliedern und auf das Leiden Christi auszurichten. 24 Vorher scheint ihm dies unbekannt gewesen zu sein. Wenn auch nicht auf das Stundengebet und das Stundenbuch, auf tägliche Gebetszeiten wird durchaus verwiesen. Eine Möglichkeit der Verankerung der Gebete im Tagesverlauf ist, sie als Tischgebete mit den Mahlzeiten zu verbinden, wofür die wirkmächtigen Tischlesungen Johannes’ von Indersdorf ein namhaftes Beispiel abgeben. 25 Üblich sind daneben die Randzeiten des Tages, so etwa in Martins von Amberg in den 1370er Jahren entstandenem Gewissensspiegel , der in seinem letzten Kapitel praktische Lehren für eine christliche Lebensführung formuliert. 26 Die dort aufgestellten, das Gebet betreffenden Re- 17 Möglicherweise celebrator , also wohl ‚Geistlicher‘ (vgl. Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis , Bd. 2, Halle a. S. 1773, S. 321: Qui Missam solemniter agit ). 18 Dieter Richter, Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg. Untersuchungen zur geistlichen Literatur des Spätmittelalters , München 1969 (MTU 21), S. 260-264 (Edition) sowie 188-190 (Kommentar), hier S. 260. - Auch in einer anderen Predigt ( Von des lîbes siechtuom unde der sêle tôde ) betont Berthold die Pflicht eines jeden einzelnen, die Tagzeiten zu lesen: Ir sît gelêret oder ungelêret, sô soltet ir iuwer tagezît sprechen , vgl. Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten , mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer, 2 Bde., Wien 1862-1880, Nachdruck Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke. Texte des Mittelalters), Bd. 1, Nr. XXXII, S. 505-519, hier S. 515. 19 Bernhard Schnell, Thomas Peuntner, ‚Büchlein von der Liebhabung Gottes‘. Edition und Untersuchungen , München / Zürich 1984 (MTU 81), hier Kap. 10. 20 Heike Riedel-Bierschwale, Das ‚Laiendoctrinal‘ des Erhart Groß. Edition und Untersuchung , Münster u. a. 2009 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 15), hier: Buch 3, Kap. 22: das man alle zeit an got schal denken . 21 Stefan Abel, Johannes Nider, ‚Die vierundzwanzig goldenen Harfen‘. Edition und Kommentar , Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 60), hier z. B. 23. Harfe, Z. 65-74, zum siebenmaligen Gebet. 22 Albrecht von Eyb, Spiegel der Sitten , hg. von Gerhard Klecha, Berlin 1989 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 34), vgl. hier die Kapitel zur acedia und jenes zu andacht vnd von dem würcklichen vnd beschaulichen leben . 23 Rüdiger Schnell in brieflicher Mitteilung vom 10. 10. 2013. 24 Ochsenbein, „Frömmigkeit“ (wie Anm. 2), hier besonders S. 298 f. 25 Zur Überlieferung vgl. Bernhard Haage, Der Traktat ‚Von dreierlei Wesen der Menschen‘ , Diss. masch. Heidelberg 1968, S. 537. 26 Martin von Amberg, Der Gewissensspiegel , aus den Handschriften hg. von Stanley N. Werbow, Berlin 1958 (Texte des späten Mittelalters 7), hier: Z. 1125-1335; dieser Teil ist auch separat überliefert und gehört möglicherweise gar nicht ursprünglich zum Gewissensspiegel , vgl. Egino Weidenhiller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters. Nach den Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek , München 1965 (MTU 10), hier besonders S. 139 f. Das ist etwa in der <?page no="177"?> 176 Stefan Matter geln sind auch in ihrer Kargheit typisch für diesbezügliche Angaben deutschsprachiger Texte: Dez abendes so du slaffen gest, so besende alle deine werch und gedanchen und halde mit in rechnung und wart wie vil du dez tagez hast zu dem ewigen leben czerung gewunnen ader verlorn (Z. 1272-1275). Des Weiteren heißt es zur morgendlichen Andacht: Wenn du vom slaff entwachest, so lobe aber deinen scheppher noch deinem vormugen (Z. 1293 f.). Ähnlich summarische Angaben findet man verschiedentlich, 27 speziell mit Tagzeitentexten lassen sie sich aber nicht ohne Weiteres in Verbindung bringen, da ihnen das dazu Wesentliche, eben der Bezug auf die kanonischen Gebetsstunden, fehlt. IV. Tagzeiten für Laien und Ersatzoffizien Besonders ergiebig für unsere Fragestellung ist eine Gruppe von Andachtsanleitungen für Laien, die ganz explizit auf die Tagzeiten Bezug nehmen und einen gleich noch näher zu bestimmenden Bezug zur Stundenliturgie haben. In einem Stück aus dem unedierten katechetischen Traktatbündel Von einem christlichen Leben , das wohl etwa um 1400 entstanden sein dürfte und sehr breit überliefert ist, findet sich eine Anleitung zum Tagzeitengebet für Laien. 28 Es werden dort zuerst in stichwortartig-anaphorischer Reihung die Passionsereignisse den einzelnen Horen des Stundengebetes zugeordnet, wonach der Text in wenigen Worten ausführt, dass diese Gegenstände alle tag zú yeder zeit besunder oder auff ein zeit mit einander zu betrachten seien. Wer die siben zeit gepetten mag, […] der sol den in der mettin nacht für die mettin vier stund sibenn pater noster petten, das macht xxviii. Vnd dan für die vesper zwir siben pater noster, das ist xiiii. Vnnd dan für die andern fünff zeit, Das ist für preim tercz sext none vnd complet, für yetliche zeit einest siben pater noster . 29 Es werden dann noch präzise Uhrzeiten angegeben, mit denen man die Gebetsstunden im Tagesverlauf unterbringen kann. 30 Hier kann also of- Handschrift München, Universitätsbibliothek, 4° cod. ms. 482 der Fall (fol. 276r-280r), in unmittelbarer Nachbarschaft des unten erwähnten Traktats von einem christlichen Leben . 27 So etwa in einem Kurztraktat im Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 702 (digital unter: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0005/ bsb00050350/ images/ , Stand 13. 1. 2016), fol. 112v: Es was ain weltlicher mentsch, der hett sein noturft wol, der kom zü ainem Beichter, der was hailigens lebens, vnd sprach zů jm: „Gebent mir ettlichen Rat, wie jch die zeit anlege, das jch die sele behalte“. Do sprach der Beichter: „So wil jch dir ain Regel geben: So du wilt jn der nacht deins wassers benemen, so bet etwas, wie lützel es joch ist, für deine metten, vnd so denne früe vff stanst, so vertůe den tag vntz jmbiße, das du dich die weile mit niemand bekümberst dann mit gott, es seÿ denne gar notturft, vnd wenne du über tisch wilt gann essen, so lob gott, das er dir diẅ speyse verlihen haut, vnd so du geissest, so lob aber vnsern herrn abe tische mit gebette. Welhes gebet dir aller lustlichest ist zepetten, vahe nach jmbiße fürsich an, iergent in deiner haimlichait vntz an die None, vnd schike daz den selen zehilff jn das fegfüvr. Vnd macht darnach wurken mit der hand oder dich iergent ergant hausen vczit zeschaffen vntz an die vesper, vnd la dich denne aber an dem gebet vntz an das nachtmaß, vnd iss denn aber mit lobende got als dauor geschriben staut, vnd so du aber geissest, so la dich an dem gebet vntz du schlaffen wilt gan. So kommet dir das güt jnn deinem trome, so du also den tag vertreibest Bewonestu des ain weyl, so nemestu nit alle die welt für das selbe“. - Abkürzungen sind hier und im Folgenden stillschweigend aufgelöst, Schaft-s ist durch rundes s ersetzt und eine moderne Interpunktion eingefügt. 28 Weidenhiller (wie Anm. 26), S. 140-152; ders., „ Von einem christlichen Leben “, in: 2 VL , Bd. 1, Berlin / New York 1978, Sp. 1228 f. und 2 VL , Bd. 11, Berlin / New York 2004, Sp. 323. 29 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 7241, fol. 314ra-b (online unter: http./ / daten.digitalesammlungen.de/ ~db / 0003 / bsb00 034 597 / images/ , Stand 13. 1. 2016). 30 Ebd., fol. 314va-b: Vnd darumb so soltu wissen, das die erst stunde dez tags, Das ist an dem morgen, wenn die nacht vergangen ist vnd der tag anfahet. So ist die preim vnd die zeit wert vnncz zway schlecht. So ist den in der dritten stundt, So ist ez dann tercz zeit, Vnnd wert vnncz es fünffe schlecht. So ist es den in der <?page no="178"?> Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte 177 fensichtlich ein Laie selbst eine Art Offizium persolvieren, das allerdings nicht aus Psalmen und Lektionen, aus Antiphonen und Responsorien besteht, sondern einzig aus Paternoster zusammengesetzt ist. Genauere Angaben zur Art der Betrachtung, insbesondere dazu, wie konkret die Verbindung der eigens aufgelisteten Passionsereignisse mit den zu sprechenden Vaterunser zu denken ist, macht dieser Traktat aber nicht. Lediglich aus Paternoster und später teilweise auch aus Avemaria bestehende Reduktionsformen des Officium divinum begegnen bereits im 11. Jahrhundert, beispielsweise für Konversen in Zisterzienserklöstern. 31 Später sind solche Ersatzoffizien in Reklusenregeln, 32 bei Bußbrüderschaften 33 und insbesondere bei Bettelorden 34 überliefert. 35 Aber beispielsweise auch Heinrich Seuse macht in seiner Bruderschaft der Ewigen Weisheit , dem auch in deutscher Übersetzung häufig überlieferten zweitletzten Kapitel des Horologium Sapentiae , sechsten stundt, wenn es mitter tag ist, Vnd das selb ist sext zeitt vnnd wert, vnncz es achte slecht. So ist es dan in der newnden stund, Das ist none zeit, Do starb er nicht [? ] zu mitten tag, die selb zeit wert vnncz es zechne schlecht. So ist es dan in der ailfftenn stundt, das ist dan die vesper zeit, Dar nach ist dan die zwelfft stund das ist die complet. Vnd also seint das die rechten siben stund vnd zeit die man erenn vnd begien sol zú gedechtnus vnd zú lob dem leÿden ihesu christi. 31 Jacques Dubois, „L’institution des convers au XIIe siècle. Forme de vie monastique propre aux laïcs“, in: I laici nella ‚Societas Christiana‘ dei secoli XI e XII. Atti della terza Settimana internazionale di studio, Mendola, 21 - 27 agosto 1965 , Mailand 1968 (Pubblicazioni della Università Cattolica del Sacro Cuore. Contributi. Varia 5; Miscellanea del Centro di Studi Medioevali 5), S. 183-261, hier S. 241 f. 32 Livarius Oliver, „Regulae tres reclusorum et eremitarum angliae saec. XIII-XV“, in: Antonianum 3 (1928), S. 151-190 und 299-320, hier Regula Reclusorum Dubliniensis , Kap. XIX, S. 181: Et si indoctus sit anachorita, cantet XXtiIIII Pater noster loco matutinarum et diligenter audiat matutinas sacerdotis, Placebo et Dirige dicat in die pro animabus et dicat pro aliis horis septem dominicas orationes ; Regula eremitarum Cantabrigiensis , Kap. IV, S. 307: Pro matutinis dicat viginties Pater, Ave et Gloria. Pro vesperis decies et pro qualibet aliarum quinque horarum quinquies. In diebus autem festis duplicabuntur Pater, Ave et Gloria tantum ad matutinas . - ders., „Regula Reclusorum Angliae et Quaestiones tres de Vita solitaria saec. XIII-XIV“, in: Antonianum 9 (1934), S. 37-84 und 243-268, hier Regula reclusorum laicorum anglice conscripta, saec. XIII , S. 263 f.: Et pro Matutino diei dicet XL Pater noster, XL Ave et III Credo et pro Laudibus XV Pater noster, XV Ave et I Credo. Et pro Prima dicet XII Pater noster, XII Ave et I Credo. Et cum dixerit Primam, audiet Missam. Et post Missam dicet pro omni hora [canonica] X Pater noster, X Ave et I Credo. Post hoc ibit ad oratorium suum et habebit mediationem de Passione Christi aut de aliqua alia sancta re. Pro meridie dicet X Pater noster, X Ave et I Credo et tunc ibit ad prandium. Post prandium dicet pro omnibus suis benefactoribus XXX Pater noster, XXX Ave et III Credo et Dominae nostrae Psalterium. Pro cantu vespertino dicet XL Pater noster, XL Ave et I Credo. Pro Completorio dicet X Pater noster, X Ave et I Credo. Et a completorio dicto tenebit silentium. 33 G[illes] G. Meersseman, Der Hymnos Akathistos im Abendland , Bd. 2: Gruss-Psalter, Gruss-Orationen, Gaude-Andachten und Litaneien , Fribourg 1960 (Spicilegium Friburgense 3), S. 10-12. 34 Zum Beispiel in der franziskanischen Drittordensregel, vgl. Benv[enuto] Bughetti, „Prima regula tertii ordinis iuxta novum codicem“, in: Archivum Franciscanum Historicum 14 (1921), S. 109-121, hier S. 116; Karl Otto Müller-Ravensburg, „Die deutsche weltliche Drittordensregel des hl. Franz v. Assisi im 15. Jahrhundert“, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte NF 32 (1925 / 1926), S. 90-116, hier Kap. 6, S. 109 f.; Hugo Stopp, „Die Augsburger Handschrift der deutschen Tertiarenregel“, in: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters , in Verbindung mit Ulrich Fellmann hg. von Rudolf Schützeichel, Bonn 1979, S. 575-588, hier Kap. 6, S. 584 f. 35 Weitere Beispiele bei Gislind Ritz, Die christliche Gebetszählschnur. Ihre Geschichte - ihre Erscheinung - ihre Funktion , Diss. masch. München 1955, S. 21-36; Ochsenbein, „Privates Beten“ (wie Anm. 2), S. 139; Thomas Lentes, Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg ( 1350 - 1550 ) , Diss. masch. Münster 1996, S. 506-508. <?page no="179"?> 178 Stefan Matter entsprechende Umrechnungen für jene, qui legere nesciunt vel legitime occupati sunt , für Illiterate also und für solche, die mit anderen Aufgaben betraut sind. 36 Vereinzelt finden sich nun auch in deutschsprachigen Texten Reflexe solcher Ersatzoffizien, so etwa in einer Unterweisung zur Vollkommenheit , einer bislang ungedruckten Anleitung zur Vorbereitung auf das Stundengebet aus franziskanischem Umfeld. 37 In zwei der drei Handschriften ist die Unterweisung mit der Angabe versehen, dass man das Stundengebet selbst auch durch Paternoster ersetzen könne. Das liest sich in einer der beiden Handschriften so: 38 Ain lai der nit verpflicht [ist] die siben tagzeit zesprechen, der mag im ain gewonhait machen, das er zů ainer yeglichen tagzeit fünff pater noster spräch mit der hernach geschriben vͤbunge . 39 Diese auf die Anamnese der Passion ausgerichtete uebunge besteht darin, sich zunächst für jede Hore des Stundengebets das Leiden Christi ausführlich zu vergegenwärtigen und buchstäblich mit allen Gliedern des Körpers nachzufühlen, woran sich ein Gebet sowie eine ‚Vermahnung‘ anschließen. Die auf die einzelnen Horen bezogenen Betrachtungsgegenstände werden kurz angegeben. Die Vorbereitungsübung mit ersůchung leidens deiner glider (fol. 9r), das Gebet und die ‚Vermahnung‘ sind für jede der sieben Horen dieselben, sie werden deswegen nur einmal ausformuliert, dann wird auf sie verwiesen. Die Unterweisung zur Vollkommenheit zielt also zunächst auf zum Stundengebet verpflichtete Geistliche, ist aber offensichtlich ebenso von Laien verwendet worden, wie die zitierte Rubrik bezeugt. Sie scheint ihren Platz aber doch eher in einem monastischen Umfeld gehabt zu haben, wie auch die handschriftliche Überlieferung nahelegt. Wie das aus Paternoster bestehende Stundengebet selbst aussah, wird allerdings auch aus diesem Text nicht recht klar - wurden die Vaterunser einfach der Reihe nach gesprochen, ohne zusätzliche Gliederung und Rahmung? Eine weitere ungedruckte Andachtsanleitung kann möglicherweise hierauf eine Antwort geben. Sie wird in der Forschung einem nicht genauer fassbaren Meister Heinzelin zugeschrieben, dessen Namen eine der beiden Handschriften nennt. 40 36 Pius Künzle, Heinrich Seuses Horologium Sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benützung der Vorarbeiten von Dominikus Planzer OP , Fribourg 1977 (Spicilegium Friburgense 23), Kap. II,7, S. 598. - Zur Überlieferung vgl. Georg Hofmann, „Seuses Werke in deutschsprachigen Handschriften des späten Mittelalters“, in: Fuldaer Geschichtsblätter 45 (1969), S. 113-206, hier Nr. 12, S. 164-166. 37 Zur Überlieferung vgl. Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 4001 - 5247 , Wiesbaden 1996 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,7), S. 150. Es scheint sich um eine Übersetzung nach einer lateinischen Vorlage zu handeln, vgl. Günter Glauche, „Theologia mystica in der Trierer Kartause. Zum literarischen Werk des Marcus Fabri von Kröv“, in: Kurtrierisches Jahrbuch 23 (1983), S. 36-46, besonders S. 44 f. 38 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4482, aus dem Pütrichhaus (digital unter: http: / / daten. digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0003/ bsb00034577/ images/ , Stand 12. 1. 2016). Die von einem auch in anderen Codices nachweisbaren Augsburger Berufsschreiber im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts geschriebene Handschrift kam möglicherweise erst 1510 mit einer eintretenden Schwester ins Pütrichhaus: Benigna Wilprecht heiratete 1502 einen Veldner von Straubing, wird also spätestens 1488 geboren sein, sie tritt 1510 ins Pütrichhaus ein; Schneider (wie Anm. 37), S. 149, datiert die Handschrift in das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts. 39 Cgm 4482, fol. 1r-30r, hier fol. 1r; Parallelüberlieferung in der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 218 (digital unter: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ 0003/ bsb00035363/ images/ , Stand 12. 1. 2016), fol. 138vb-142va, aus dem Pütrichhaus, sowie in München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 262, fol. 263ra-270vb, aus dem Franziskanerkloster Kehlheim (dort am Ende die Bemerkung: Welcher mensch nit prister ist der mag VII pater noster beten fur ein tagzeitt ). 40 Überliefert in Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III 1 2° 14, fol. 13ra-24vb sowie 61ra-67ra (die Handschrift ist verbunden, der Text vollständig), und in der von Konrad Bollstatter geschriebenen <?page no="180"?> Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte 179 In einer Vorrede dieses Tagzeitentraktates werden zunächst die Horen mit anderen Siebenerreihen zusammengebracht: Sie helfen gegen die sieben Todsünden, so heißt es da, bei der Erlangung der sieben Gaben des Heiligen Geistes, sie bringen einen in den Besitz der sieben Haupttugenden und machen die sieben Marter Christi für den Einzelnen fruchtbar. Deshalb, so heißt es weiter, [sprich] für die mettin […] xxvi pater noster Also vil ave maria vnd für die preim sprich ix pater noster vnd für die tercz auch viiii pater noster Auch so sprich für die sext viiii pater noster vnd für die non sprich auch ix pater noster vnd für die vesper sprich xi pater noster vnd für die complet sprich siben pater noster . 41 Im Vergleich zu den beiden eben angeführten Texten geht der Tagzeitentraktat von Meister Heinzelin nun insofern einen Schritt weiter, als er nicht nur konsequent jedem der insgesamt 77 Paternoster 42 eine eigene kurze Betrachtung und in der Regel ein kurzes Gebet beigibt, sondern auch die Horen mit Invitatorium und Doxologie eröffnet sowie mit Suffragien und Kollekte abschließt. Der größte Teil des solcherart gegliederten Textes ist der Stundenliturgie entnommen, es werden Psalmen anzitiert, aber auch Cantica, Antiphone und Responsorien. Der Beginn der Matutin - der alten, aus drei Nokturnen bestehenden nächtlichen Vigilien - kann eine Idee vom Aufbau des Textes geben: 43 Die metti hat xiii pater noster der gehörn fünffe jnden ersten nocturn vnd fünffe jn den andern nocturn vnd drew jn den dritten noctur Jtem die ersten fünffe vermainend also das erst pater noster dem vater das ander dem sun vnd das drit dem hailigen gaist das vierd der inbrunsstigen mynne die jn zü menschen macht das fünfft seiner honigvliessenden geburt 44 vnd Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 463 (digital unter: http: / / daten.digitalesammlungen.de/ 0008/ bsb00082388/ images/ , Stand 12. 1. 2016), fol. 24r-129r; vgl. Karin Schneider, „Meister Heinzelin“, in: 2 VL , Bd. 3, Berlin / New York 1981, Sp. 936, sowie 2 VL , Bd. 11, Berlin / New York 2004, Sp. 639. - Da die Fassung in der Münchner Handschrift sicher sekundär ist und zudem der Name an Stellen auftaucht, die mir eher für Schreiberals für Autorennennungen typisch scheinen, ist es durchaus nicht gesichert, dass man hier tatsächlich einen Autornamen fasst. 41 Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III 1 2° 14, fol. 13va. Zur Handschrift vgl. Karin Schneider, Deutsche mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg. Die Signaturengruppen Cod. I. 3 und Cod. III. 1 , Wiesbaden 1988 (Die Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg II,1), S. 171-175. 42 Auch in den oben erwähnten Tagzeiten im Traktatbündel Von einem christlichen Leben sind es übrigens - trotz anderer Verteilung auf die Horen - insgesamt genau 77, was dort so kommentiert wird: Und daz pete pringt und macht mit einander al samt an der su mm en lxxvii paternoster. Sihe also gett ez als zŭ mit siben wann siben als ein gŭte hailige zall ist (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 7241 [wie Anm. 29], fol. 314rb). - Eine weiterer Fall, in welchem 77 Pater noster als Offizium bezeichnet werden, führt Lentes (wie Anm. 35), S. 196, an (Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Mgo 47, nach seiner Nomenklatur ein „Privatgebetbuch nach liturgischem Schema“). 43 Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III 1 2° 14, fol. 14ra-rb. 44 Die Handschrift hat: das fünfft das hochvliessender geburt . An dieser fehlerhaften Stelle zeigt sich, dass auch die Augsburger Handschrift eine Abschrift sein muss, denn korrekt müsste es honigfliessender geburt heißen, so wie weiter unten das Responsorium zur Matutin von Nativitas ( Corpus antiphonalium officii , ed. a Renato-Joanne Hesbert, Bd. 1-5, Rom 1963-1975 [Rerum ecclesiasticarum documenta. Series Maior. Fontes 7], Nr. 6859) zitiert wird: In dem fünfften spricht ysayas parvulus natus est nobis et filius datus est nobis (Is 9,6) et iterum Nunc melliflui facti sunt celi etc . - Die Handschrift Cgm 463 (vgl. Anm. 40), fol. 28v, hat hier einen vom Wortlaut und von der Syntax her korrekten Text: das funfft seiner honigfliessenden gepurtt . <?page no="181"?> 180 Stefan Matter zú dem ersten sprich den psalm magnus dominus et laudabiles nimis 45 Grosser herr deines gewaltes ist nicht ende vergibe [fol. 14rb] mir alles das das ich hon gesündiget aus cranckhait vnd blödikait meins leibs mit vermeiden mit worten vnd mit wercken pater noster Ave maria Zü dem andern sprich den vers magnus dominus noster et magna virtus eius et sapientiae eius non est numerus 46 Ein grosser herr gross ist dein crafft vnd deiner weishait ist kain zale erbarme dich uber mich vnd vergibe mir alle mein sünd die ich ye hab gethan aus onwissen vnd vergessen mit vermeiden worten vnd wercken Sprich ein pater noster Ave maria Der Traktat liest sich damit wie eine ausformulierte, durch Betrachtungsgegenstände angereicherte Anleitung für ein Ersatzoffizium, das im Kern aus Paternoster besteht, aber darüber hinaus in vielfältiger Weise auf die Stundenliturgie bezogen ist. 47 Das gilt allerdings nur für die in der Augsburger Handschrift überlieferte Fassung, aus welcher der eben mitgeteilte Auszug stammt. Die von Konrad Bollstatter geschriebene Handschrift in München enthält eine kürzere Form desselben Textes, in welcher nicht nur alle lateinischen Liturgiezitate fehlen, sondern überdies die deutschsprachigen Übertragungen häufig im Detail eigene Wege gehen. Es handelt sich also möglicherweise um zwei eigenständige Übersetzungen eines lateinischen Grundtextes, eher aber wohl um leicht bearbeitete Abschriften. Man wäre zwar versucht, den Text der Münchner Handschrift als Kurzfassung anzusprechen, zwingend scheint das aber keineswegs. Es braucht noch weiterer Untersuchungen, um klarer sehen zu können, wie dieser höchst interessante Tagzeitentraktat genauer einzuordnen ist. Vorderhand kann nur erst dies gesagt werden: Der Text bildet nicht etwa das Offizium eines benennbaren Ferial- oder Festtages ab, vielmehr kompiliert er Versatzstücke, die im Chordienst schwerpunktmäßig, aber nicht ausschließlich, die Fastenzeit und dann vor allem das Triduum paschale umfassen, also die drei Ostertage. Ferner: Die Anzahl der Herrengebete für die einzelnen Gebetsstunden lassen sich zumindest numerisch nicht mit den einzelnen Bestandteilen der gängigen Offizien des ordo monasticus oder cathedralis zur Deckung bringen (also etwa die Anzahl der Psalmen und Cantica der Nokturnen mit der Anzahl der Paternoster), die Zuweisung beispielsweise an einen spezifischen Orden ist damit nicht ohne Weiteres möglich. Auch habe ich in den Regeltexten noch kein Ersatzoffizium gefunden, bei dem die Anzahl der Herrengebete in derselben Weise auf die Gebetsstunden verteilt werden wie bei Meister Heinzelin. Der Text bleibt also noch etwas rätselhaft und lohnte eine eingehendere Untersuchung. 45 Ps 144,3: magnus Dominus et laudabilis nimis et magnitudinis eius non est finis - in dieser Position als Psalm von Pfingstsonntag. 46 Ps 146,5: magnus Dominus noster et magna virtus eius et sapientiae eius non est numerus - Versikel und Responsorium de Regum / de Trinitate. 47 Zu dieser in spätmittelalterlichen Gebetbüchern gängigen Kombination von Grundgebet und anderen Gebetstexten vgl. Lentes (wie Anm. 35), S. 518-521; die den Betrachtungen nachgestellten Grundgebete dienen vielleicht vor allem dazu, dem Betenden Raum für Meditation zu geben, vgl. ebd., S. 525-527. - Zur Verwendung des Herrengebetes im Chordienst vgl. Josef A. Jungmann, „Beiträge zur Geschichte der Gebetsliturgie“, in: Zeitschrift für katholische Theologie 72 (1950), S. 66-79, 223-234, 360-366, 481-486; 73 (1951), S. 85-92, 347-358, hier Kap. VII: „Das Gebet des Herrn im römischen Brevier“, 73 (1951), S. 347-358. <?page no="182"?> Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte 181 V. Reihengebete für in der Welt lebende Laien Durch seinen starken Liturgiebezug nimmt der Tagzeitentraktat des Meister Heinzelin eine Sonderstellung unter den Paternoster-Reihengebeten ein. 48 Als Anleitung zum täglichen Gebet lässt sich ein solcher Text am ehesten in einem Umfeld denken, in welchem Zeit in einem beträchtlichen Umfang zu Verfügung steht, also vielleicht in einem Drittordenshaus. 49 Es wäre aber immerhin denkbar, dass auch ein frommer Laie in der Welt diese Andachtsanleitung zum regelmäßigen oder gelegentlichen Gebet benutzt haben könnte. Er hätte dann sicherlich jener Stelle besonderes Augenmerk geschenkt, die gewisse Freiheiten in Bezug auf die Anzahl der zu sprechenden Paternoster zulässt: ee du es aber untter wegen lassest so sprich ye für ein zeitt v oder iii oder ii oder ains . 50 Diese Lizenzen in Bezug auf den Umfang der zu persolvierenden Gebete jedenfalls sind ein sicheres Zeichen für Privatgebete, für die ja eben keine Regeln verbindliche Vorgaben machen. Solche Freiheiten lassen neben Meister Heinzelin auch die oben kurz vorgestellten Tagzeitenanweisungen aus dem Traktatbündel Von einem christlichen Leben zu, wo es heißt: Welcher aber die zeit nicht gepetten mag, als vor beschaiden ist, der pet als vil er müg, oder aber zu dem aller mÿnsten doch siben pater noster für die siben zeit, für ÿede zeit eins . 51 Vergleichbares findet sich in Andachtsanleitungen immer wieder. Die Frage nach Tagzeiten für Laien hat nun zuletzt doch eher in monastische Kontexte geführt, wenn auch für die vorgestellten Traktate der ursprüngliche Sitz im Leben nur mehr schwer festzumachen ist. 52 Gerade die den Texten eingeschriebenen Freiheiten in Bezug auf den Gebetsumfang aber scheinen diese auch für Leute außerhalb regulierter Institutionen zugänglich zu machen, für die sie wohl zuerst geschrieben worden waren. Die Grenzen zwischen diesen beiden Sphären werden allerdings sicherlich fließend sein. Ich möchte daher meine kleine Beispielreihe mit einer nun ganz gezielt an in der Welt lebende Laien gerichteten Andachtsübung schließen. Zum Heiligen Jahr 1500 hielt Johannes Geiler von Kaysersberg auf seiner Kanzel in Straßburg eine Predigt, in welcher er eine von Johannes Gerson inspirierte geistliche Romfahrt entwarf. Sie bildete den Abschluss eines insgesamt 25 Predigten umfassenden Zyklus zur geistlichen Pilgerschaft. 53 Er führt darin Folgendes aus: Rom sei von Straßburg 48 Den derzeit besten Überblick über Reihengebete bietet wohl Lentes (wie Anm. 35), S. 506-527. 49 Aus vergleichbaren Kontexten stammen auch die von Kock (wie Anm. 3) vorgestellten niederdeutschen Andachtsanleitungen. Sie dienten, so vermutet Kock S. 30 f., in „Frauenkonventen […] als Ergänzung des Stundengebets, häufig auch als notwendiger Zusatz zu den lateinisch zu sprechenden Horen, die von vielen Schwestern nicht verstanden wurden“. „Für die Laienbrüder bieten diese Betrachtungen den weitgehenden Ersatz für die bei den Fraterherren und Windesheimer Kanonikern übliche Privatlektüre“. 50 Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III 1 2° 14, fol. 13va; der Text fährt fort: wann du bist gebunden zü sprechen die siben zeit alle tag dich irre dann ehafftige not Psalmus Septies in die laudem dixi tibi (Ps 118,164). 51 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 7241, fol. 314rb (vgl. Anm. 29). 52 Es wäre ein lohnendes Unterfangen, gezielt in solchen Kontexten nach weiteren Spuren des Laienstundengebetes zu suchen. Hierzu würden sich vor allem Handschriften anbieten, die neben Ordensregeln auch Kommentare, Consuetudines oder Laien-Anweisungen enthalten; vgl. hierzu die Hinweise in Schreiner (wie Anm. 3). 53 Zum ganzen Komplex, der mehrfach und sehr variabel überliefert ist, vgl. Rita Voltmer, Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg ( 1445 - 1510 ) und Straßburg , Trier 2005 (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 4), S. 989-995 (Peregrinus; Pilger I-IV; Pilgerschaft) sowie 998 (Romfahrt). Vgl. außerdem Nine R. Miedema, Rompilgerführer in Spätmittel- <?page no="183"?> 182 Stefan Matter 147 Meilen entfernt - eine rundweg erfundene Zahl, wie er selbst zugibt - und könne daher in 21 Reisetagen à sieben Meilen erreicht werden. Zusammen mit einem siebentägigen Romaufenthalt dauere die ganze imaginierte Reise neunundvierzig, also so gut wie fünfzig Tage ( die zal des Jubeljor . in der alten ee / des einen tags achtet die geschrifft nit ). Die zweite der wiederum insgesamt sieben Übungen auf dieser geistlichen Pilgerfahrt besteht nun darin, dass der Pilger 54 .vii. wochen oder .l. tag fur sich nem und alle tag bett fur yetliche myl . ein pater noster das sind siben pater noster all tag und die zů unterscheidnen und bestimpten zyten oder stunden . noch dem ym das allerfuglichest ist . und ouch zů mererer andacht gedienen mag / und zů dickerer bedenckunge syner bilgerfart Der er sich underwunden hat . Besunderlich des morgens und obents mag er die teylen noch den siben zytten Metten . Prym . Tertz . Sext . Nonn . Vesper Complet . oder noch dem schlahen der stunden / als alweg uber zwo stund yn denen eyn bilger eyn myl pfligt zů gon bettet dor fur ein pater noster . oder teyl das wie im eben ist . Mag ouch uff yetlich pater noster uff seüfftzen zů got und sprechen . Deus propicius esto michi peccatori . Got biß genedig mir sunder . Die kanonischen Gebetsstunden bilden in dieser Stelle lediglich noch ein mögliches Gliederungsschema unter anderen. Die täglichen Gebete dürfen stattdessen auch morgens oder abends gesprochen werden und überdies wird alternativ der Glockenschlag als Hilfe für die Verteilung der Gebete im Tagesverlauf vorgeschlagen. Ebenfalls nach den 24 Stunden des Tages teilt Bruder Berthold sein Zeitglöcklein ein - wiederum verbunden mit der Lizenz, das Gebetspensum stark zu reduzieren: 55 Das andechtig zitgloͤgglin diß büchlins hat vier und zwentzig stuck, vßgeteilt nach den xxiiii stunden des natürlichen tags, die der andechtig mensch zů siner andacht bruchen vnd betrachten mag, alle stund eyn stuck, oder tag vnd nacht xii stuck, oder viii, oder vi, oder vii, iii, oder iiii, nach dem vnd sin stat, sin houpt oder sin vermoͤgen erlyden mag. Ganz vergleichbar formuliert auch die Leidensuhr eines Straßburger Franziskaners , die mit dem Zeitglöcklein in noch nicht näher geklärter Weise direkt zusammenhängt. 56 alter und Früher Neuzeit. Die ‚Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‘ (deutsch / niederländisch). Edition und Kommentar , Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 72), S. 406, 410, 425 f.; dies., „Een geestelijke pelgrim op reis: reisvoorbereiding en reisbenodigdheden. Met een editie van de xx aigenschafft, die ain pilger an ym haben sol van Johannes Geiler von Kaysersberg“, in: Op reis met Memoria , hg. von Peter de Wilde, Annelies van Gijsen, Jesse Mortelmans u. a., Hilversum 2004 (Middeleeuwse Studies en Bronnen 81), S. 107-145. 54 Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke , Erster Teil: Die deutschen Schriften , Erste Abteilung: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften , Bd. 1, hg. von Gerhard Bauer, Berlin / New York 1989 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 129), Nr. 6, S. 141-151, hier S. 147-149. 55 Ich zitiere nach der in Basel bei Johann Amerbach 1492 gedruckten Ausgabe (GW 4168) und benutze das Exemplar Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Ink. K 3484 (online unter: http: / / dl.ub.uni-freiburg. de/ diglit/ berthold1492, Stand 9. 1. 2016), fol. a1r; zu Bertholds Zeitglöcklein vgl. Sabine Griese, „Das Andachtsbuch als symbolische Form. Bertholds ‚Zeitglöcklein‘ und verwandte Texte als Laien-Gebetbücher und -Bilder“, in: The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times , hg. von Rudolf Suntrup, Jan R. Veenstra und Anne Bollmann, Frankfurt a. M. u. a. 2005 (Medieval to Early Modern Culture 5), S. 3-35. 56 Livarius Oliver, „Die Leidensuhr eines Straßburger Franziskaners aus dem 15. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Betrachtung des bitteren Leidens“, in: Der Katholik 21 (1918), S. 99-112 <?page no="184"?> Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte 183 In ähnlicher Weise stellt das ‚franziskanische Tagzeitenblockbuch‘ aus Bamberg eine Verbindung der 24 Stunden des Tages und der sieben Tagzeiten her, indem es zunächst ebenfalls für alle Stunden stichwortartige Betrachtungsgegenstände aus der Passion nennt, daneben aber unter Berufung auf die Franziskusregel zusätzlich für die Horen des Stundengebets angibt, wie viele Paternoster jeweils zu beten seien: 57 Sanctus franciscus in seiner regel am dritten capitel spricht die laÿen söllent sprechen für die metten xxiiii vatter unser für die laudes v, für die preÿm Tertz Sext None, für ÿegklich getzeÿt vii, für die vesper vii, für die Complet vii, unnd söllent betten für die totten. Wiltu aber nit ein tagzyt sprechen So sprich ain vatter unser Aber so die glogg schlecht thún senlich blicken in das leÿden christi sprich oder gedenck Es folgt ein wörtlich mitgeteiltes Gebet. Diese Ambivalenz von Teilhabe an der durch kirchliche Legitimierung herausgehobenen Gebetsform des Officium divinum und seinen vorgeschriebenen Gebetspensen einerseits und der alternativen Orientierung an weltlichen Zeitrastern verbunden mit Konzessionen in Bezug auf den Gebetsumfang andererseits scheint mir typisch zu sein für spätmittelalterliche Anleitungen zum täglichen Laiengebet. So partizipiert auch Geilers Andachtsübung - die in einer langen und später zur Kreuzwegandacht führenden Reihe von geistlichen Pilgerfahrten steht 58 - an der Heiligung der Zeit durch einfache, aber an das Offizium angelehnte Formen des Laienstundengebetes. 59 VI. Ergebnis Was ist damit für unsere Fragestellung gewonnen? Das Ergebnis dieses kurzen Überblickes kann nur ein vorläufiges sein. Es ist offensichtlich, dass - anders als etwa in Frankreich oder Italien - private Frömmigkeit in den Quellen des deutschsprachigen Raums nicht primär mit dem Stundengebet in Verbindung gebracht worden ist; ebenso klar ist aber, dass die zahlreichen an das Stundengebet angelehnten Tagzeitentexte, die zur persönlichen Andacht und Erbauung gedient haben, diese Anbindung an das fortwährende Gebet der Geistlichen ganz gezielt suchen und für den Betenden fruchtbar machen wollen. In der Welt lebende Laien haben wohl, wenn überhaupt, ihre Tagzeiten beziehungsweise Tagzeitenderivate am Stück gebetet, das gilt für den deutschsprachigen Teil Europas sicherlich ebenso wie für den romanischsprachigen. Davon abzugrenzen sind Anleitungen für in Orden oder in und 158-175, hier S. 175. 57 Zitiert nach dem in der Staatsbibliothek Bamberg aufbewahrten Druck Inc.typ.Ic.I.45-a#2 (o. O. und o. J., wohl aus Süddeutschland und etwa 1475 gedruckt; online unter: http: / / www.nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 22-dtl-0000001397; Stand 9. 1. 2016), fol. 14v-15r. - Zu diesem Blockbuch vgl. nun ausführlich Sabine Griese, „Das ‚Zeitglöcklein‘-Blockbuch. Strategien der Gebetsandacht im Kontext franziskanischer Gelehrsamkeit“, in: Bibliothek und Wissenschaft 46 (2013), S. 287-310, zum hier aufgegriffenen Vorschlag eines passenderen Forschungstitels S. 298. 58 Karl Alois Kneller, Geschichte der Kreuzwegandacht. Von den Anfängen bis zur völligen Ausbildung , Freiburg i. Br. 1908 (Stimmen aus Maria-Laach, Ergänzungsheft 98). 59 Der Rosenkranz als das auf lange Sicht sicherlich bei weitem erfolgreichste Reihengebet gehört nur ganz am Rande in diese Entwicklung, indem er zwar in seinen Anfängen eine Reduktionsform des dem Stundengebet ursprünglich zugrunde liegenden Psalters darstellt, aber in seiner weiteren Entwicklung jede Bezugnahme auf Horeneinteilungen vermissen lässt. Zur Geschichte des Rosenkranzes vgl. neben Ritz (wie Anm. 35) vor allem Anne Winston Allen, Stories of the Rose. The Making of the Rosary in the Middle Ages , University Park, PA 1997. <?page no="185"?> 184 Stefan Matter loser strukturierten geistlichen Gemeinschaften lebende Gläubige, welche nicht nur häufig einen direkteren Zugang zu monastischen Formen des Stundengebets hatten, sondern auch über Tagesstrukturen verfügten, die zeitaufwendige Andachtsübungen zuließen, wie wir sie etwa in Meister Heinzelins Tagzeitentraktat kennengelernt haben. Hier sind dann wohl auch am ehesten die Vermittlungsleistungen zu suchen, die solchen Übertragungsprozessen eingeschrieben sind - zunächst im Bemühen, das Officium divinum durch Zusatz- und Ersatzoffizien (innerhalb wie außerhalb von Konventen) für weitere Kreise zugänglich zu machen, und dann, als zweiter Schritt, durch deren weitere Verdichtung in Stundenliedern und Tagzeitengedichten. Nur die erste Stufe der Vermittlung geistlichen Wissens konnte an dieser Stelle mit einigen Schlaglichtern beleuchtet werden. <?page no="186"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung im spätmittelalterlichen Nürnberg Anne Simon I. Einleitung Es sein etlich so einfeltig das sy nit wissen was die wort im Vatter vnser in sich halten oder was sy bitten. darumb sy die gantzen wort kalt oben hin sprechen on alle frucht. 1 So drückte Martin Luther um 1520 seine Sorge um die Fähigkeit junger Kinder aus, mit Verstand und gebührender Inbrunst zu beten und die Frucht des Betens - Trost und Hilfe in tiefster Not - zu genießen. 2 Solche Sorgen beschränkten sich allerdings nicht auf das reformatorische Ringen um die Glaubenserneuerung, denn bereits in einer spätmittelalterlichen Handschrift aus dem Katharinenkloster Nürnberg findet man folgende Anweisung (hier zum Beten des Rosenkranzes): der schol sein hertz zu got keren den roßenkrantz sprechen vnd ander leut leren amen . 3 Diese Sorge um die gebührende Geistesverfassung beim Beten stammt wohl daher, dass ob im Kloster oder in der Privatsphäre das Beten im geistigen Leben des Mittelalters eine zentrale, den Tagesablauf strukturierende Rolle spielte und dem Einzelnen die Möglichkeit bot, Gott näher zu treten: 4 „Das Gebet ist nach Thomas [von Aquin] reine Betätigung der Tugend der Religion, die die Ehrung und Verherrlichung Gottes zum Zweck hat. Durch das Gebet ehren wir Gott, weil er dadurch als der Herr alles Guten anerkannt wird, weil der Mensch sich im Gebet Gott unterwirft und seiner zu bedürfen bekennt. […] Er [Thomas] lehrt, dass unser Gebet in die Pläne der göttlichen Vorsehung aufgenommen wurde, so dass wir durch unser Beten jetzt das erlangen, was Gott in seiner Vorsehung als auf unser Gebet hin zu verleihen bestimmt hatte“. Beim Beten betätigt der Mensch nicht nur die religionsinhärente, sondern auch die eigene Tugend, indem er Gott ehrt und so seine Rolle in der ‚göttlichen Vorsehung‘ erfüllt. Auch wenn Gott den Erfolg eines Gebets schon vorbestimmt hat, muss der Einzelne mit Ver- 1 Martin Luther, Ein kurtze form das Pater noster zuo versteen vnnd zuo beten. Für die jungen kinder im christen glauben. Doctor Martini Luther Augustiner , s.l., s.a., fol. aijr (London, British Library 3905.c 78; VD16 L 5361, online unter: http: / / digitale.bibliothek.uni-halle.de/ VD16 / content/ pageview/ 1702745, Stand 10. 1. 2016). Abkürzungen sind aufgelöst. 2 Luther (wie Anm. 1), fol. aijr, schrieb: dann wo yemant sich findet gebrechlich da sol er am tieffesten biten . 3 Stadtbibliothek Nürnberg, Cod. Cent. VII, 9, fol. 8r. Die Anweisung ist zitiert nach Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg , Bd. 1: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften , bearbeitet von Karin Schneider, Wiesbaden 1965 (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg 1), S. 275 4 Hieronymus Wilms, Das Beten der Mystikerinnen dargestellt nach den Dominikanerinnen-Klöstern zu Adelshausen, Diessenhofen, Engeltal, Kirchberg, Oetenbach und Unterlinden , Leipzig 1916 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 1), S. 20. <?page no="187"?> 186 Anne Simon stand, aufrichtiger Innigkeit und einem dem Herrn zugewandten Herzen beten, weil sonst der Misserfolg ebenfalls vorbestimmt sein kann. Dass ein andächtiger Mensch mit der korrekten innerlichen Einstellung sein Gebet verrichtet, reicht aber nicht: Er muss nämlich auch ander leut leren . Zwar wird nicht klargestellt, ob die äußere Form und der Vollzug des Gebets, dessen theologischer Inhalt oder die persönliche Einstellung beigebracht werden soll, aber das Beten wird doch von vornherein als didaktisches Mittel begriffen und der betende Mensch zur Vorbildhaftigkeit verpflichtet. Diese Sorge um die Methodik und Wirksamkeit des Betens findet man auch in der deutschsprachigen Laienliteratur, zum Beispiel in der beliebten, weit verbreiteten Legendensammlung Der Heiligen Leben . 5 Unter den der Verkündigung angeschlossenen Marienwundern stechen einige durch ihre explizite Thematisierung der Problematik des ‚richtigen‘ Betens hervor. Überhaupt wird bei diesen Geschichten weniger die rettende Macht der Jungfrau als die des Ave Maria-Gebets betont, und sie bieten hauptsächlich eine Einweisung in die korrekte, von der Gottesmutter selbst gelehrte Art des Betens und dessen rettende, transformative Wirkung. Am Ende des Marienkapitels steht sogar ein die theologische Lehre der Verkündigung und der Menschwerdung Christi zusammenfassendes, ins Alltagsleben transportierbares, gedächtnis- und andachtsstützendes ‚Übungsgebet‘. Die Verehrung Marias ist zwar religionsgeschichtlich nichts Neues, steht aber hier im Rahmen des neu aufblühenden Kultes der Jungfrau und des Rosenkranzes, dem das am 8. Dezember 1476 durch Papst Sixtus IV . verkündigte Dogma der unbefleckten Empfängnis einen entscheidenden Ansporn gab. Anhand der gegenseitigen Beeinflussung textlicher und bildlicher Zeugnisse der Verkündigung als Auslöser des Lehrens, Lernens und Bildens wird in diesem Beitrag Folgendes untersucht: erstens die Einweisung in die angemessene Methodik des Betens und deren Belohnung; zweitens das Beten als theologischer Unterricht sowie Selbstschulung des Individuums; drittens der Gebrauch des die Verkündigungslehre verkörpernden Rosenkranzes zur Bildung einer identitätsstiftenden Religiosität unter der statusbewussten Bevölkerung Nürnbergs; und schließlich die Rolle des Mariengebets als Versprechen des gnadenreichen Schutzes der Jungfrau. II. Maria als vorbildliche Beterin Wenden wir uns als erstes Maria als vorbildlicher Beterin zu. Im Abschnitt Von vnser lieben frawen verkundung findet sich die bekannte Verkündigungsgeschichte und die übliche da- 5 Von Der Heiligen Leben wird aufgrund der meist hohen Auflagenzahlen der Inkunabeln und Frühdrucke angenommen, dass das Werk in handschriftlicher und gedruckter Form in ca. 30 000 bis 40 000 Exemplaren im gesamten deutschen Sprachraum sowie in Skandinavien und den Niederlanden verbreitet war ( Der Heiligen Leben , Bd. 1: Der Sommerteil , hg. von Margit Brand, Kristina Freienhagen-Baumgardt, Ruth Meyer und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1996 [TTG 44], S. XIII). Der Heiligen Leben wurde zwischen 1471 und 1500 24 Mal gedruckt. Die älteste, gegen Ende des 14. Jahrhunderts entstandene Handschrift stammt aus dem Nürnberger Katharinenkloster und wird jetzt in der Stadtbibliothek aufbewahrt (Cod. Cent. IV, 43; vgl. http: / / www.handschriftencensus.de/ 10887; Stand 9. 1. 2016). Der Heiligen Leben war das erfolgreichste volkssprachliche Legendar des europäischen Mittelalters. Ungefähr 36 der 198 heute noch vorhandenen Handschriften waren in Laienbesitz, die 41 Drucke bezeugen ebenfalls die Beliebtheit des Werkes unter der Laienbevölkerung (Werner Williams-Krapp, „Ordensreform und Literatur im 15. Jahrhundert“, in: JOWG 4 [1986 / 1987], S. 41-51, hier S. 45). <?page no="188"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung 187 Abb. 1: Die Verkündigung ( Der Heiligen Leben , fol. CCCLXIIII v) <?page no="189"?> 188 Anne Simon mit verbundene Didaktik: 6 die Reinheit und Gehorsamkeit Marias als Voraussetzung für ihre Rolle als Gottesmutter, 7 das in Christus fleischgewordene Gotteswort als Heil der Menschheit, die Keuschheit und Demut Josephs und Elisabeths als umrahmendes Tugendmuster der heiligen Sippe. Diese Lehre wird sowohl textlich - durch die lineare Erzählung, durch den Dialog Marias mit Gabriel und anschließend mit Elisabeth - als auch bildlich - durch die Darstellung des Engelsgrußes im Holzschnitt am Kapitelanfang - vermittelt. Im Holzschnitt wird Maria betend dargestellt, und dieses Bild prägt die Rezeption der erzählten Heilsgeschichte, deren entscheidender Moment, die Menschwerdung Christi im Leib Marias, folgendermaßen beschrieben wird (fol. CCCLXV r): vnd in dem selben punckt da maria die keusch iunckfraw sprach. mir gescheh nach deinem wort. da sandt ir got der vater von hymel in iren magdlichen leyb seinen sun wesenlich vnnd persönlich. vnnd das er was das belyb er. vnd das er nit was dz nam er an sich. wann der heylig geyst wircket inn dem selben nuon von iren reynsten blutztröpfflein dy menscheyt. dy nam an sich die ewig gotheyt. vnnd vereynet sich damit. vnd das ewig wort ward zu fleysch in ir. Hier wird kurz, prägnant und in einer für eine Laienleserschaft verständlichen Einfachheit die Lehre der unbefleckten Empfängnis und der Menschwerdung Christi dargelegt. Was dabei auffällt, ist die Macht des gesprochenen Wortes, vor allem des Gotteswortes: In genau dem Augenblick, in dem Maria ihre Bereitschaft, sich dem göttlichen Willen zu unterwerfen, ausspricht, wird das ewige Gotteswort Christus in ihrem Leib zu vergänglichem Fleisch und Blut. Marias Worte - ihre menschliche Sprache - bilden also den Auslöser für die Errettung der Menschheit, wandeln das Unsichtbar-Übermenschliche ins Sichtbar- Begreifliche. David Ganz schreibt dem Wort Gabriels heilsgeschichtliche Wirksamkeit zu: „[E]s inkarniert, lässt Gott Fleisch werden“. 8 Hier spielt dagegen eher das Wort Marias diese Rolle. Gleich am Anfang wird das transformative Potential der sich Gott unterwerfenden Sprache herauskristallisiert und dem Leser als Vorbild für das eigene Sprechen angeboten, denn das Gebet ist primär Wort, und indem der Gläubige betet und sich dem Dialog mit dem Herrn (oder einem Heiligen) öffnet, erschafft er sich durch das Beten immer wieder auf analoge Weise diesen Augenblick der Empfängnis Gottes in sich und damit die Möglichkeit der erlösenden Wirkung. Die Jungfrau Maria, als von Gott zur Mutter seines Sohnes Auserkorene, gilt als besonders tugendhaft, und da ihr Blut von Gott für die Erschaffung Christi verwendet wurde, fungiert sie quasi als Übersetzerin des Unbegreiflichen ins Begreifliche, weil Körperliche und dem Menschen Ähnlichere. Diese Übersetzungstätigkeit läuft in beide Richtungen: Wenn Maria das Gotteswort dem Menschen verständlich machen kann, kann sie auch das menschliche Wort - und damit auch die im Gebet ausgedrückten menschlichen Ängste und Bedürfnisse - Gott verständlich machen, sie ‚belehrt‘ Gott somit. Die Geschichte der Verkündigung, sowie Maria als Vorbild der betenden Andächtigen, didaktisiert also das tugendhafte, gottehrende 6 Der Heiligen Leben , hier und im Folgenden zitiert nach dem Druck Nürnberg: Anton Koberger, 1488 ( GW M11 407; online unter http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0002/ bsb00027260/ images, Stand 7. 1. 2016), fol. CCCLXIIIIv-CCCLXVIIIr. 7 Den Wunsch, ihr einen Ehemann auszusuchen, lehnt sie mit folgender Begründung ab: ich hab alle tag mein keuscheyt behalten. vnd hab got gelobt ich wöll sy behalten die weyl ich lebe ( Der Heiligen Leben [wie Anm. 6], fol. CCCLXVr). Abkürzungen sind aufgelöst worden. 8 David Ganz, „Ein ‚Krentzlein‘ aus Bildern. Der Englische Gruss des Veit Stoss und die Entstehung spätmittelalterlicher Bild-Rosarien“, in: Der Rosenkranz. Andacht Geschichte Kunst , hg. von Urs-Beat Frei und Fredy Bühler, Bern 2003, S. 153-169, hier S. 156. <?page no="190"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung 189 Sprechen, lehrt die Wichtigkeit der Einfügung in den göttlichen Willen und liefert im Engelsgruß den Grundstein für die im 15. Jahrhundert so beliebt gewordene Verehrung des Rosenkranzes. Wie bereits festgestellt, wird im Holzschnitt am Kapitelanfang die textlich vermittelte Didaktik visuell unterstrichen, indem Maria als vorbildliche Beterin dargestellt wird: Vor dem Betpult kniend, mit der Hand auf der aufgeschlagenen Bibel und mit niedergeschlagenen Augen macht sie dem Leser die gottgefällige, heilsgeschichtlich bewährte Gebetshaltung vor. 9 Der Leser der Heiligen Leben hatte damit das Exemplarische ständig vor Augen und konnte es in der eigenen Gebetspraxis nachahmen, zum Beispiel beim Sprechen des Gebets am Kapitelschluss. 10 Bereits die korrekte Körperstellung hätte als Gedächtnisauslöser wirken und dem Betenden die Lehre der Menschwerdung Christi ins Gedächtnis rufen können. Das Ave Maria-Gebet wird in den Wundergeschichten um Maria weiter thematisiert. In diesem Beitrag werden drei Exempel besprochen, um die Einweisung ins richtige und daher wirksame Beten zu erforschen und das Gebet als multifunktionales didaktisches Mittel zu erläutern. Beim ersten Mirakelbericht geht es um die stereotype Minnegeschichte eines jungen Ritters, der sich in die Ehefrau seines Grafen verliebt und zu verzweifeln beginnt, da sie in [verschmecht] vnd was ir gar vnwerd von im (fol. CCCLXVI r). Sein Beichtvater verweist ihn an den Abt eines nahen Klosters, der ihm empfiehlt: du solt alle tag vnser lieben frawen hundert Aue maria sprechen. so wirt dir die fraw oder ein anders das dir lieber ist (fol. CCCLXVI r). Dank der ständigen Wiederholung des Ave Maria erringt sich der Ritter zwar keine Vielzahl beliebig austauschbarer Frauen, dafür aber die Erscheinung der heiligen Jungfrau. Er verliebt sich prompt in sie, tritt in den Klosterorden ein und wird wegen seiner Keuschheit nach einem Jahr durch einen seligen Tod belohnt (fol. CCCLXVI r). Drei Didaktisierungselemente fallen hier auf: Erstens betet der Ritter mit grossem ernst , der Leser wird also gleich in die richtige Methodik des Betens eingewiesen, denn hieraus wird klar, dass man nicht nur der äußerlichen Form wegen beten darf, sondern innig, ernsthaft und konzentriert, wenn das Gebet die erwünschten Ergebnisse erzielen soll. Zweitens dient der Ritter der heiligen Jungfrau während seines Klosterlebens mit grosßem fleyß , d. h. treuer, beständiger Dienst muss sich dem Gebet anschließen, um Marias Fürbitte und Gnade zu erlangen. 11 Daher wird drittens vor allem die Wiederholung des Ave Maria als Auslöser des Mirakulösen betont: Genau diese täglich hundertfache Repetition des Gebets versetzt den Ritter in den Zustand der Verzückung, die ihm die Vision der heiligen Jungfrau ermöglicht, denn: 12 Jedes Gebet setzt durch seine Rezitation eine gewisse Wirkung frei, die einen Wert besitzt. Diesen Wert kann man durch wiederholte Rezitation steigern. Je größer die Anzahl der Wiederholungen, desto höher die Wirkung. 9 Holzschnitt online verfügbar, siehe Anm. 6. 10 Das Exemplarische hatte ein Leser auch in seiner ganzen Stadt vor Augen: man denke zum Beispiel in Nürnberg ans Behaim-Fenster (1379) der Sebalduskirche, ans Großfenster der Marthakirche, an den Dreikönigsaltar (1460) der Lorenzkirche usw. 11 Das wird wohl einer Art geistigem Balanceakt gleichgekommen sein, denn „wohl empfiehlt er [Thomas von Aquin] ein Ausharren im Beten, wenn es zur Steigerung der Andacht diene. Ein Übermaß jedoch sollte, um der Gefahr, Ekel an der heiligen Übung zu empfinden, vorzubeugen, vermieden werden“ (Wilms [wie Anm. 4], S. 21). 12 Arnold Angenendt und Karen Meiners, „Erscheinungsformen spätmittelalterlicher Religiosität“, in: Divina Officia. Liturgie und Frömmigkeit im Mittelalter , hg. von Patrizia Carmassi, Wolfenbüttel 2000 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 83), S. 25-35, hier S. 29. <?page no="191"?> 190 Anne Simon Auffallend ist bei dieser Wundergeschichte die Unterstreichung des Sprachlichen durch das Bildliche, denn bei der Erscheinung Marias verwandelt sich das ritterliche Gebet in Sterne an ihrem Mantel (fol. CCCLXVI r): vnnd het einen gestirnten mantel an der was vol guldiner stern vnnd sprach zu dem ritter. du hast mich angerufft. […] vnd sihe die stern an dz seind dy Aue maria die du mir gesprochen hast. Diese Konkretisierung und Sichtbarmachung des Gebets stellen unter anderem die metaphorische Verbindung zwischen dem Beten und Christus als Licht der Welt her: Christus ist ‚ein heller Morgenstern‘ (Apc 22,16), und der Stern ist zugleich Symbol der Jungfrau Maria. Bei der Beschreibung der Geburt Christi ruft der Text zur Visualisierung des gängigen Lobs der Jungfrau als der klar hymelstern auf, denn ein Stern in Form der Jungfrau mit dem Kind auf dem Arm macht Kaiser Augustus auf die Geburt Christi aufmerksam (fol. CCCLXVI r): In der selben nacht da Maria iren sun gebar da gieng der Keyser Augustus auß vnnd sah einen scheynenden stern. Der selb stern was einer iunckfrawen geleych. Dy selb iunckfraw het ein kind an irem arm. Das Beten erleuchtet Betenden wie auch Angebetete, und da das Licht metaphorisch die Selbstoffenbarung Gottes darstellt, strahlt es durch diese textliche Verbildlichung das Versprechen des Heiles aus. Mehr noch: Das ‚richtige‘ Beten lässt die Angebetete präsent werden, überführt sie quasi leiblich in die Gegenwart des Betenden. Die spielerische Ausgestaltung der Sternenmetapher vermittelt auch, dass die Gebete der Frommen den bedachten Heiligen nicht nur beleuchten, sondern gleichzeitig auch dessen Glanz und Macht vermehren: Gläubiger und Heiliger sind voneinander abhängig. Außerdem bietet diese Gebetsverwandlung einen der Verkündigung analogen Vorgang: Das Abstrakte, Unsichtbare - das Wort - wird durch die betonte Bildlichkeit der Sprache zum Konkreten, zum körperlich / geistig Greifbaren, ob Kind oder Stern. Worte verwandeln sich in ein die Dunkelheit der Gottesferne beleuchtendes Licht, d. h. die Gebetssterne helfen dem irregehenden Sünder, den Weg zu Gott zurückzufinden, und zwar durch Maria als Vermittlerin. Dabei wird allerdings die Keuschheit explizit mit dem Seelenheil verbunden: Der Betende muss Maria in ihrer Reinheit und ihrer Zuwendung zu Gott nachahmen. Diese Geschichte lehrt also die Wirksamkeit des Betens unter strengen, gehorsam zu erfüllenden Voraussetzungen. Gleich als nächste schließt sich die Geschichte der Nonne Fulalia an (fol. CCCLXVI v). Diese Erzählung verdient besondere Aufmerksamkeit, weil sie eine klare Anleitung zur Methodik des Betens enthält, die im sprechenden Namen der Nonne gleichsam signalisiert wird: Das Suffix -lalia leitet sich aus dem Griechischen ab und bezeichnet abnormes oder verworrenes Sprechen. 13 Der Name weist also gleich auf die in der Geschichte dargestellte und gelöste Problematik hin. Fulalia liebt die Jungfrau Maria und dienet ir mit grosßem vleyß , auch indem sie fleißig betet (fol. CCCLXVI v): da lag sie an irem gebet. da erschyn ir vnser liebe fraw vnnd sprach zu ir. […] mein tochter furcht dein gutte muter nicht der du stetiglichen dienst. wilt du aber das mir dein dienst genem sey den 13 lalia bedeutet ‚Plauderei‘ (von lalein : ‚plaudern, schwätzen‘), verwandt mit dem Verb „lallen“, vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch , Bd. 12 (6), Leipzig 1885, Sp. 81-85 (http: / / woerterbuchnetz.de/ s. v.; Stand 9. 1. 2016). <?page no="192"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung 191 du alle tag thust. vnd dz er dir nützer werde. so sprich das Aue maria nit als bald vnd nym dir baß der weyl. Fulalia hatte nämlich alle tag als vil Aue maria gesprochen als vil psalm inn dem psalter ist vnd darumb dz sy die zal erfult vnd volbrecht so eylet sie dester mer (ebd.). 14 Dem Rat Marias folgend, reduziert Fulalia die Zahl der von ihr gesprochenen Gebete vnd betet nuor dz dritt teyl das seind sechßvndfunfftzig. die sprach sie gar mit grosßem vleyß vnd andacht (ebd.). Das verworrene Sprechen Fulalias besteht also aus verstümmelten Gebeten, die durch das zu schnelle Plappern an Sinn verlieren und der Betenden daher keinen Segen bringen. An dieser Geschichte wird erneut deutlich, dass die Gebetsqualität durch verständigen Mitvollzug des Inhalts wichtiger ist als die reine Gebetsmenge, denn eine zu große Betbetriebsamkeit führt allein dazu, das eigene Seelenheil zu gefährden. Ob im klösterlichen Alltag immer daran gedacht wurde, ist fraglich; in Klosterchroniken wird von Frauen berichtet, die täglich 1000 Ave Maria sprachen; die Schwester Elsbeth von Ungarn soll sogar 7000 Ave Maria gebetet haben. 15 Fulalia mag tatsächlich als warnendes Beispiel gedacht sein: Auch wenn wiederholtes Beten eine „Technik zur Schulung des inneren Menschen“ sowie „Hilfe, Tugenden einzuüben, Affekte zu regulieren und sich selbst zu disziplinieren“ bildet, 16 sollte daraus kein mechanisches Verfahren entstehen, denn es kam auf das Verstehen an, durch das das Gebet inniger wurde. 17 Fulalia muss also die Mäßigkeit und Selbstdisziplin lernen, die ihrer Liebe zur Jungfrau den gebührenden Ausdruck verleihen, und dadurch auch für den eventuell übereifrigen Leser vorbildlich werden. In der Fulalia-Geschichte werden keine festgesetzten Betzeiten genannt; Beten wird nicht unbedingt als Teil der Routine des Gottesdienstes, ob im Kloster oder als Teil der Privatandacht, aufgefasst, sondern als voll integrierter Bestandteil des alltäglichen Lebens, als bei der normalen Haus- oder Tagesarbeit zu erfüllende Pflicht. 18 Wie beim jungen Ritter führt allerdings das Beten zum persönlichen Dialog mit der Jungfrau, die die Wichtigkeit der Worte der herr mit dir betont, denn was ich freuden da von hab dz kan mit worten nyemant außgesprechen (fol. CCCLXVI v). 19 Indem der Leser an den Engelsgruß erinnert wird, wird das Ave Maria zur memoria , zur Kommemoration der Menschwerdung Christi und Markierung des Potentials eines jeden Gebets, das Immanent- Göttliche zu realisieren. In der dritten Wundergeschichte geht es um einen erber man in einem groen [sic] orden der was nit gelert ( HL 2, S. 567 = fol. 370vb, fol. CCCLXVII v- CCCLXVIII r). Wegen seiner mangelnden Bildung bleibt der Mann einfacher Laienbruder, was die Mönche bedauern: Sie gaben im einen meyster das er versuchet ob er gelernen möcht vnd bey den gelerten möcht steen (fol. CCCLXVII v). Der Laienbruder erweist sich als unfähig, irgendetwas außer den 14 Fulalias übereifriges Beten entsprach anscheinend dem Üblichen: „Alanus [de Rupe] propagierte in und durch diese Bruderschaften [die Rosenkranzbruderschaften] den Marienpsalter. Analog zu den 150 Psalmen der Bibel bestand er aus 150 Ave Maria, die durch 15 Vater unser in Zehnergruppen gegliedert waren. Nach dem Glauben der Zeit wollte man durch den täglich gebeteten Marienpsalter die angeblich 5475 Wunden des leidenden Jesus ehren (365 Tage x 15 Dekaden)“. Siehe Andrea Heinz, „Die Entstehung des Leben-Jesu-Rosenkranzes“, in: Der Rosenkranz (wie Anm. 8), S. 23-47, hier S. 38. 15 Wilms (wie Anm. 4), S. 59. 16 Angenendt und Meiners (wie Anm. 12), S. 29. 17 Ebd., S. 30. 18 Siehe dazu auch den Beitrag von Stefan Matter in diesem Band, v. a. die Besprechung des Pater Noster. 19 Paradoxerweise lässt sich also die Freude am Christum erschaffenden Gotteswort nicht mit Worten ausdrücken, das Ausgesprochene dient dem Unaussprechbaren. <?page no="193"?> 192 Anne Simon beiden Wörtern Aue maria zu lernen, also nicht einmal ein ganzes Gebet. Bei seinem Tod wuchs auß seinem grab ein schoͤne liligen. Da stund an yeglichem blat geschriben Aue maria (fol. CCCLXVII v). Die Mönche sahen das groß wunder. vnd gruben das grab auff. vnd sahen das der liligen wuͦrtzeln dem todten auß seinem hertzen gieng. vnd zu dem mund auß (fol. CCCLXVIIv-CCCLXVIIIr). Die Lilie, als Symbol der Reinheit und Keuschheit besonders mit der Jungfrau Maria und der Verkündigung verbunden, ist wie die Gottesmutter selbst buchstäblich im Herzen des Laienbruders verwurzelt, aus dessen Herzen die Liebe zu Maria über seine Lippen hinausdrängt. Diese Liebe wird zu etwas konkret Lebendigem, das wächst und andere Gläubige ‚ansprechen‘ kann, sie darüber belehren, dass die Liebe zur Jungfrau deren Fürsorge sogar über den Tod hinaus sichert. Die Lilie mag die rettende Macht des Gebets versinnbildlichen, indem sie andeutet, dass der Laienbruder im Himmel weiterlebt, weil er, obgleich tot, noch in der Lage ist, seine Liebe zu Maria ‚auszusprechen‘. Als erste Zeugen dieses Wunders bilden seine Ordensbrüder daher auch die ersten Belehrten. Das, was Hildegard Elisabeth Keller über die Rose geschrieben hat, gilt hier genauso für die Lilie: 20 Die Rose „erweist sich [im Exemplar Heinrich Seuses] als wichtiges Paradigma für die richtige Aufnahme von Wort und Bild. Der Prolog des Büchleins der ewigen Weisheit vergleicht das Verhältnis zwischen dem erkalteten Wort auf dem ‚toten Pergament‘ und demjenigen, das in seiner ‚Lebendigkeit‘, in seinem ‚Ursprung‘ (dem influz gegenwúrtiger gnade ) im Herzen empfangen wird, mit dem Unterschied zwischen der blühenden und der abgebrochenen Rose“. Wenn das in Der Heiligen Leben gedruckte Wort, das Ave Maria, ‚im Herzen empfangen‘, also richtig aufgenommen, wird, bleibt es kein erkaltetes, sondern ein dem Leser Gnade bringendes. Des Ritters Gebetssterne am Marienmantel und die beschriftete Lilie werden durch diese Gnade zu mit dem inneren Auge des Lesers visualisierbaren Emblemen der Macht des Betens. Diese mentale Bilder hervorrufende Bildlichkeit der Sprache wird in den weiteren Wundergeschichten zur Verstärkung dieser Lehre eingesetzt: Zum Beispiel wird die Seele eines Diebes allein dadurch gerettet, dass ihm die im Augenblick seines Todes gesprochenen Wörter Aue maria buchstäblich auf der Zunge geschrieben stehen (fol. CCCLXVII v). Solche vertextete Visualität erlaubt es sogar dem theologisch ungeschultesten Laien, sich die Lehre einzuprägen und sie sich anhand des Emblems - ob Lilie, Rose, Stern, Zunge oder Sonstiges - jederzeit geistig zu vergegenwärtigen. Die Geschichte steht natürlich auch unter dem Vorzeichen des Verkündigungsholzschnitts am Anfang des Kapitels, der den Lilientopf genau im Mittelpunkt des Vordergrundes darstellt und dadurch die Wichtigkeit der Lilie als Symbol hervorhebt (fol. CCCLXIIII v; siehe Abb. 1). Reinheit und Keuschheit in Form der Lilie und daher metaphorisch Marias umrahmen also das Gebet und signalisieren die gebührende Geistesverfassung. Der ganze Abschnitt schließt mit einem Gebet an die Gottesmutter (fol. CCCLXVIII r): O du edle muter gottes durch die sendung die dir got der vater thet an seynem sun. dem der heylig geyst inn deiner reynsten sel vnd in deinem keuschen leyb bereyt hat die allerwirdigsten wonung vor allen creaturen. vnd durch das vereynen das sich got mit dir thet. vnd durch das geberen dz du in hast gethan vns allen zutrost. Bit in das er vnsere hertzen reynig. vnd vns selber bereyt zu seiner wonung. vnd vns mit im vereyne das wir eyn ding mit im werden hye vnd dort ewiglichen. 20 Hildegard Elisabeth Keller, „Rosen-Metamorphosen. Von unfesten Zeichen in spätmittelalterlichen Texten: Heinrich Seuses ‚Exemplar‘ und das Mirakel ‚Marien Rosenkranz‘“, in: Der Rosenkranz (wie Anm. 8), S. 49-67, hier S. 54. <?page no="194"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung 193 Des helff vns got der vater durch seinen eingebornen sun vnsern herrn Jesum Cristum der mit im lebt vnd herschet inn einigkeyt des heyligen geystes immer inn ewigkeyt der ewigkeyt Amen. Das Gebet besteht aus zwei Teilen: der narratio , die den Leser - und natürlich auch den Betenden - an Ereignisse aus dem Leben Marias erinnert, und der petitio , der Bitte an Gott. 21 Die narratio fasst die Lehre der Menschwerdung Christi, die ganz am Anfang des Kapitels dargelegt wurde, kurz zusammen, hebt die Schlüsselrolle Marias bei der Erlösung der Menschheit aus der Sünde hervor und äußert den Wunsch, dass der Betende mit der Hilfe Marias und Christi selbst eine Art Maria werde, indem er Christus eine Wohnung in seinem Herzen biete, wie Maria dem Gottessohn in ihrem Leib. Die ‚Botschaft‘ des ganzen Kapitels kristallisiert sich hier heraus: Das, was der Leser aus den Wundergeschichten über die Methodik des Betens gelernt hat, kann er an diesem Gebet üben, sich dadurch die Inkarnationslehre einprägen und selbst zum lehrenden Vorbild werden. III. Beten als theologischer Unterricht Im Jahre 1499 wurde der Einblattdruck Verkundung des englischen grus mit einem andechtigen gepet von Kaspar Hochfeder in Nürnberg veröffentlicht. Der Text wird dem Nürnberger Meistersinger Hans Folz zugerechnet. 22 Der dem Text vorangestellte Verkündigungsholzschnitt stammt aus Der Heiligen Leben Anton Kobergers und stellt die Verbindung zu diesem Werk und den marianischen Wundergeschichten her. Der in den üblichen, leicht merkbaren Reimpaaren verfasste Text der Verkundung des englischen grus beläuft sich auf 100 Zeilen, die in fünf gleichlange, die Stufen der biblischen Geschichte widerspiegelnde Abschnitte unterteilt sind: Verkündigung durch den Erzengel Gabriel (V. 1-20), Nachricht über die Schwangerschaft Elisabeths, vorbildliche Fügung Marias unter den Willen Gottes und tatsächliche Empfängnis (V. 21-40), das Wunder der Menschwerdung Christi (V. 41-60), die Heimsuchung 23 und das Magnificat (V. 61-100). Der vierte Abschnitt läuft in den fünften über und drückt damit die Verbreitung der guten Nachricht der unbefleckten Empfängnis, der Gnade und der Allmacht Gottes aus. Der Text lässt sich auch singen: Man mag dy istori pis zu dem gepet lesen oder singen in hans folzen abenteur weis . 24 Ein gemeinsames Vortragen 21 Siehe dazu den Beitrag von Nigel Palmer und dessen Besprechung des Gebets Nr. 99 aus dem Begerin- Gebetbuch in diesem Band, S. 204. 22 Kaspar Hochfeder war Buchdrucker aus Heiligbrunn bei Landshut. Er kam spätestens 1490 nach Nürnberg, 1498 oder spätestens Anfang 1499 verließ er die Stadt und ging nach Metz. Sein erster bekannter Druck, die Opera Anselms von Canterbury, erschien 1491 in Nürnberg. Er druckte hauptsächlich lateinische Schriften (Franz Xaver Pröll, „Hochfeder, Kaspar“, in: NDB 9 [1972], S. 288 f. [Onlinefassung: http: / / www.deutsche-biographie.de/ pnd119338297.html; Stand 10. 1. 2016]). 23 Siehe Lc 1,28 und Lc 1,42. Anne Winston-Allan macht darauf aufmerksam, dass „[i]n the West the earliest linking together of these two passages occurs in a seventh-century antiphon of the offertory of the mass for the fourth Sunday of Advent that was traditionally attributed to Gregory the Great. By the eleventh century the greeting had become well known because of its inclusion in the extremely popular Little Office of the Blessed Virgin“. Siehe Anne Winston-Allan, Stories of the Rose. The Making of the Rosary in the Middle Ages , University Park, PA 1997, S. 14. 24 Zum Lied siehe Frieder Schanze, „Ein unveröffentlichtes Lied des Hans Folz: Die Verkündung des Englischen Grußes“, in: Texte zum Sprechen bringen. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler , hg. von Christiane Ackermann und Ulrich Barton unter Mitarbeit von Anne Auditor und Susanne Borgards, Tübingen 2009, S. 329-336. Schanze bezeichnet das Lied als „Tonpropaganda“ (S. 335) und vermerkt, die Melodie sei erst im 16. Jahrhundert aufs Papier gekommen (S. 335, Anm. 19). Laut Schanze gibt es eine Aufzeichnung in: Die Töne der Meistersinger. Die Handschriften der Stadtbibliothek <?page no="195"?> 194 Anne Simon mag als eine Art ‚geistiges Bindemittel‘ gedient und durch die Marienverehrung bestimmte Gruppen innerhalb der Nürnberger Stadtgemeinschaft untereinander verbunden haben. 25 Außerdem ist die Verkundung des englischen grus in großen Teilen als Dialog verfasst, was die Lebendigkeit, Memorierbarkeit und Vortragbarkeit des Werkes vermehrt: 26 sie sprach ich hab nie man erkent Wy mag es sein bescheide mich es kumt der heilig geist in dich sprach er [Gabriel] mit gnaden wunderhaft vnd dich vm gipt des hösten kraft wan das dein heiliger leip gepirt der sun gottes genenet wirt. Bei der Erzählung dieser schon bekannten Geschichte treten die Allmacht Gottes und das Paradox der Empfängnis, dass eine zarte Jungfrau in ihrem Leibe denjenigen umfasste, der durch seine Allmacht alles schuf, umfasst und beherrscht, als Hauptthemen hervor. Es stellt sich die Frage nach der Funktion der Versifikation gerade einer der bekanntesten Bibelstellen. An wen ist die didaktische Aufbereitung durch Reim und sprachliche Einfachheit der Verkundung gerichtet? Dient der gereimte Text ausschließlich als Vorbereitung auf das sich anschließende Gebet? Wird der Betende durch den einfachen Reim und den etwas monoton wirkenden, sich ständig wiederholenden Rhythmus in den Zustand der Verzückung versetzt, die im Gebet selber (wie in der Geschichte des jungen Ritters) als Ideal angedeutet wird? Dieses abschließende Mariengebet erzählt im Wesentlichen noch einmal den Inhalt der Verkündigungsgeschichte, der durch die Wiederholung noch stärker eingeprägt wird: die Demut Marias, die den für den Menschen Unfassbaren umfasst (V. 29-40); das Begehren Marias beim Lesen der Worte Jesajas (sie will das von ihm gepriesene Mädchen sehen und wird in diesem Augenblick selbst zur konkreten Realisierung des biblischen Textes und des eigenen Wunsches, Jes 7,14); die Betonung ihrer Verborgenheit, geistigen Wachheit, Stille, Verzückung und heiligen Begierde. Das Gebet fungiert u. a. auch als Anleitung in die Gebetsmethodik, denn der Leser wird auf die nötigen (hier auch im Holzschnitt dargestellten) Voraussetzungen der Wachheit, Stille und des liebenden Begehrens aufmerksam gemacht: 27 O in was sunderlicher ynprünstiger hoch flamender begir vnd lybe dein hettz [sic] gemüt vnd sele begriffen vnd vmgeben gewesen ist, do du einlitzlich Heimlich verporgen vnd gantz munder mit hoch wachendem gemüt sam in einer tifen verzuckung bedachtest dy wort des profeten ysaie, nim war ein iungfran [sic] wirtt enpfahen vnd ein sun gepern in wellcher fleissiger betrachtung du sy Nürnberg Will III. 792 , 793 , 794 , 795 , 796 , in Abbildung und mit Materialien hg. von Horst Brunner und Johannes Rettelbach, Göppingen 1989 (Litterae 47) (S. 335, Anm. 19). 25 Aus dem Gedicht selbst lässt sich kaum auf den Rezipientenkreis schließen. 26 Die Verkundung des engelischen grus mit einem andechtigen gepet (Nürnberg: Kaspar Hochfeder, 1499), V. 14-18 (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graphiksammlung, Kk HB2373, Kapsel 1199). Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst. Abbildung bei Frieder Schanze, „Zu Erhard Etzlaubs Romweg-Karte, dem Drucker Kaspar Hochfeder in Nürnberg und einem unbekannten Nürnberger Drucker in der Nachfolge Hochfeders“, in: Gutenberg-Jahrbuch 71 (1996), S. 126-140, hier S. 135. Eine Textedition bietet Schanze (wie Anm. 24), S. 331-335. 27 Hy nach folget das gepet auff dy ystori , letzter Abschnitt der Verkundung des engelischen grus (wie Anm. 26). <?page no="196"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung 195 selbig iungfrau so hoch begapt von got hast begert zu sehen vnd erkenen do alls pald der engel gabrihel zu dir ein gend sprach, Ave gracia plena dominus tecum Gegrüsset seistu voller genaden der herr ist mit dir. Hier entspricht Maria dem von Thomas von Aquin (und Luther) geschilderten Ideal, denn sie ehrt Gott, der ihr nicht kalt oben hin gesprochenes Gebet in die Pläne der göttlichen Vorsehung aufnimmt und ihr das verleiht, was er bereits vorbestimmt hatte, nämlich die Gottesmutterschaft. Insofern dient Maria textlich und bildlich als lehrreiches Vorbild für den Leser. Es wird außerdem Sprachunterricht erteilt, denn der Anfang des Ave Maria wird sowohl lateinisch als auch deutsch wiedergegeben, schlägt dadurch Brücken zwischen den bekannten lateinischen Formeln des kirchlichen Gottesdienstes und der Privatandacht und lässt die Andacht inniger, weil menschennäher werden. 28 Wie Anne Winston-Allen feststellt: 29 „Changing the linguistic, symbolic performance from Latin to a vernacular dialect changes the quality of the spiritual reality that is enacted. Just as performance in a private, nonliturgical setting eliminates one intermediary agency, so does use of the native tongue eliminate another layer of mediation“. Das Gebet ruft zwar Maria an, erzählt ihr aber wieder das, was sie bereits weiß, nämlich die eigene Lebensgeschichte. Das ist durchaus üblich, wie man diesem Gebet an die heilige Katharina von Alexandrien aus dem Katharinenkloster Nürnberg entnehmen kann: 30 Gegrusset seistu die funftzig meister prochtest zu dem himel das sÿ vber wunden wurden mit deinen worten vnd in der prunst der greülichen flamen. Gegrust seistu die die kunigin mit den rittern host angeweist mit himelischer lere. Gegrußet seistu die geslagen ist worden mit slegen vnd besloßen in den vinstern kerker do du geprauchest das liecht des himels. Gegrusset seistu du heillige katerina wann du vber winden host das rad das all zu mal verkert ward zu verderben die heiden. Das Gebet dient als aide-mémoire , dessen ständige Wiederholung das Leben und Wirken des Heiligen beim Gläubigen tiefer einprägt und dessen ritueller Charakter (hier das regelmäßige Wiederholen von Gegrusset seistu ) den Betenden in die meditative Verzückung versetzt, die für die Empfängnis des göttlichen Wortes und Wirkens im eigenen Innern vonnöten ist. Das Gebet unterrichtet aber auch denjenigen, der angerufen wird, indem es zeigt, dass der Betende sich gut informiert hat und seine Andacht tatsächlich dem genannten Heiligen gilt. Die Erzählung des bereits Bekannten dient also dazu, den Heiligen zu schmeicheln (weil er bewußt ausgewählt wird) und für den Betenden zu gewinnen. Ein Gebet - ob an die heilige Katharina oder die Jungfrau Maria gerichtet - könnte aber auch als Unterrichtsmaterial für ein Kind oder einen Novizen dienen, indem es alles Wesentliche im Leben, Leiden, Verdienst und Märtyrertod eines Heiligen zusammenfasst. Die Struktur des Gebets, nämlich die ständige Wiederholung einer Formel, erleichtert dessen Auswendiglernen und markiert den ‚Fortschritt‘ durch das Gebet sowie die Stellen, an denen der Betende anhalten und über 28 Sprachlich fallen auch die Metaphern auf, die die Paradoxa des menschlichen Dialogs mit Gott ausdrücken: ynprünstiger hoch flamender begir und tifen verzuckung ; gannz munder mit hoch wachendem gemüt . 29 Winston-Allen (wie Anm. 23), S. 29 f. 30 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII 65, fol. 11r-13r. <?page no="197"?> 196 Anne Simon den Inhalt meditieren soll, während die zusammengeraffte Biographie als memoria dient, als gesprochenes Denkmal für den Heiligen. Ständiges Wiederholen eines Gebets hätte dem Betenden also Zweifaches beigebracht: die vorbildliche vita des Heiligen als Muster für das eigene Leben und die vorbildliche Sprache für die Formulierung eigener Gebete. IV. Bildung durch Rosenkranz-Verehrung Das ständige Wiederholen ist Hauptmerkmal des Rosenkranzes, und es stellt sich die Frage, ob die Struktur der Verkundung des englischen grus die des Rosenkranzes (d. h. die Dekaden 31 ) widerspiegelt. Dafür war aber die Struktur des Rosenkranzes zu unterschiedlich. Die Betonung des Ave Maria in der Verkundung des englischen grus und in den Heiligen Leben könnte aber tatsächlich direkt oder indirekt mit der Anbetung des Rosenkranzes zusammenhängen, denn das Ende des 15. Jahrhunderts erlebte deren Aufblühen, nicht zuletzt weil Jakob Sprenger, Prior des Dominikanerordens in Köln, beim Sieg Kölns über Karl den Kühnen, Herzog von Burgund am 27. Juni 1475, der 1473-1474 Neuss belagert hatte, den Rosenkranz als wirksame Kampfwaffe lobte. 32 Der Rosenkranz war im spirituellen Leben der Dominikaner überhaupt von Bedeutung, da die Jungfrau Maria 1208 dem Gründer des Ordens in einer Kirche in Prouille erschien und ihm einen Rosenkranz schenkte, den sie als wirksame Waffe in seinem Kampf gegen die Albigenser in Südfrankreich anpries. Die ersten Verfasser der Ordensgeschichte behaupteten sogar, Dominikus habe den Rosenkranz erfunden. 33 Wie Winston-Allen erklärt: 34 „In practical terms, the rosary, by rehearsing the tenets of the faith, served to reinforce orthodoxy and to combat heresy. […] The church approved the rosary as a further way of catechizing the unlettered in the central mysteries of the faith and thereby discouraging the intrusions of heresies that continually sprouted from folk beliefs“. Der Rosenkranz wurde also von vornherein als didaktisches Mittel zur Belehrung der Laienbevölkerung konzipiert, was sich auch in den Wundergeschichten in Der Heiligen Leben niederschlägt, und ebenso zur Bekämpfung der Ketzerei. Für eine solche Stärkung im Glauben mag Nürnberg besonders offen gewesen sein, denn das dortige Wiederaufleben der Marienverehrung kann mit der Angst vor den Hussiten zusammenhängen. 35 Der Krieg gegen die Hussiten (1419-1433) hatte Nürnberg und Franken schwer getroffen und den Nürnberger Handel beeinträchtigt: 36 Es ist dies Jahr [1428] abermals große Plackerei getrieben worden, ohne Zweifel aus Verursachung der hußitischen Kriegsläuft. Im Schwabenland und umb Sünßheimb sein den nürnbergischen 31 Jeweils zehn Ave Maria. 32 Zur weiteren Entwicklung der Rosenkranzverehrung vgl. Heinz (wie Anm. 14), S. 40, und Stefan Jäggi, „Rosenkranzbruderschaften. Vom Spätmittelalter bis zur Konfessionalisierung“, in: Der Rosenkranz (wie Anm. 8), S. 91-105, hier S. 91. 33 James Hall, Hall’s Dictionary of Subjects & Symbols in Art , Einführung von Kenneth Clark, 1 1974, London 2000, S. 333 f. 34 Winston-Allen (wie Anm. 23), S. 28. 35 Veit Funk, Glasfensterkunst in St. Lorenz. Michael Wolgemut, Peter Hemmel von Andlau, Hans Baldung Grien, Albrecht Dürer , Nürnberg 1995, S. 142 f. 36 Johannes Müllner, Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623 , Bd. 2: Von 1351 - 1469 , hg. von Gerhard Hirschmann, Nürnberg 1984 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 11), S. 269. <?page no="198"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung 197 Kaufleuten Güter aufgehalten und von den vereinten Ständen deswegen ein Tag gen Würzburg gelegt worden. 1430 rückten die Hussiten sogar bis zu drei Meilen vor der Stadt. 37 Dank der Kundgebung des Dogmas der unbefleckten Empfängnis 1486 nahm die Anbetung der Jungfrau Maria und auch des Rosenkranzes im späten 15. Jahrhundert allgemein zu. Um 1490 wurde die Anbetung des Rosenkranzes von den Nonnen des Katharinenklosters in Nürnberg eingeführt. Die Nonnen wollten das neue Rosenkranzfest feiern und ließen daher an der Nordwand ihres Kirchenschiffs ein Fresko des Rosenkranzes malen. 38 Ein Gebetbuch aus dem Katharinenkloster berichtet von den damit verbundenen Ablässen: 39 Von dem krönlin maria der wirdigen mütter gottz Es ist gewesen Ein Erwirdiger andechtiger vatter barfüsser ordens Jn güter kuntschafft der erwirdigen mütt er priorin zü sant kath er ina zü nürnberg prediger ordens Jn dem xvC vn d ij jar ist er gewesen zü Rom vn d hat gebetten den aller heiligste n vattre den babst vm m besu n d er n applas vo n dem bett das man heisst die kron Der ju n ckfräwen maria Des hat Jn der Heilig vatt er der babst gew er t vnd hat geben Jm vnd seijnem Couent xxiiij tusent jar applas so dick jr einer die kron spricht vnd hat jm auch geben ettwen vil tuse n t mensche n nach seine n willen vnd geuallen - vnd nach de n hat er den heilige n vatt er de n babst gebetten mer vn d mütliche n das er den applas auch wöll geben der Erwirdigen mütt er priorin vnd Jre m couent vor bestimpt da hat jn der babst aber erhört vnd noch mer dar zü thon Das sie auch söllichen applas geben mög vnd verkünden · sol tusent menschen wern / wenn sie wöll sie seint weltlich oder geistlich das die selben auch sollen haben vsß seine n bebstlichen gewalt xxiiij m jar applas so offt vnd dick Jr eins spricht Ein krönlin. Für die Dominikaner und Franziskaner Nürnbergs nahm das Rosenkranzbeten eine wichtige Stelle im religiösen Leben ein, die unter der Laienbevölkerung der Stadt ihren Widerhall fand. Peter Ochsenbein macht darauf aufmerksam, dass ab 1479 / 1480 immer mehr Andachtsschriften zum Rosenkranz erschienen, 40 zu denen wohl auch die Verkundung des englischen grus gehört. Im Jahre 1501 brachte der Stadtarzt Ulrich Pindar in Nürnberg den mit Holzschnitten von Hans Baldung Grien, Hans Schäufelein, Wolf Traut und Hans Süß von Kulmbach illustrierten Beschlossen gart des rosenkranz Mariae für die neu gegründete, wohl den Dominikanern angegliederte Nürnberger Rosenkranzbruderschaft heraus, 41 1503 wurde eine Ablasspredigt über den Rosenkranz in der Lorenzkirche gehalten und ein Holzschnitt dazu publiziert. Die Rosenkranzanbetung fand auch in der Tafelmalerei ihren Ausdruck: Aus der Werkstatt Michael Wolgemuts stammen die Maria in Fünf-Wunden-Rosenkranz (1490-1495) und die Geistlichen Stände in Anbetung des Rosenkranzes (1490-1495), 42 37 Ebd., S. 275. 38 Walter Fries, „Kirche und Kloster zu St. Katharina in Nürnberg“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 25 (1924), S. 1-143, hier S. 32. Das Fresko war auch Besuchern sichtbar. 39 Gebetbuch, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 1733 (online: http./ / dlib.gnm.de/ item/ HS1733; Stand 7. 1. 2016), fol. 122r-123r. Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst. 40 Peter Ochsenbein, „Handschrift und Druck in der Gebetbuchliteratur zwischen 1470 und 1520“, in: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck , hg. von Gerd Dicke und Klaus Grubmüller, Wiesbaden 2003, S. 113-127, hier S. 114. 41 Zu den Rosenkranzbruderschaften vgl. Ganz (wie Anm. 8), S. 153, und Jäggi (wie Anm. 32), S. 93-95. 42 Ganz (wie Anm. 8), S. 158. Der Maria in Fünf-Wunden-Rosenkranz befindet sich heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, die Geistlichen Stände in Anbetung des Rosenkranzes in der Lorenzkirche Nürnberg. <?page no="199"?> 198 Anne Simon und 1506 malte Albrecht Dürer das Rosenkranzfest für die Kirche der deutschen Kaufmannschaft in Venedig. 43 Echte Rosenkränze hingen in den Kirchen Nürnbergs, ließen wie die Lilie des verstorbenen Laienbruders oder die Sterne am Mantel Marias das abstrakte Gebet sicht- und greifbar werden und dienten als öffentliches Zeugnis persönlicher Frömmigkeit: „Aus dem Haushaltsbuch der Jahre 1507-1517 erfahren wir, dass [Anton II .] Tucher zu den Festen Mariä Verkündigung (25. März), Mariä Himmelfahrt (15. August), Mariä Geburt (8. September) und Weihnachten (25. Dezember) regelmässig je 50 Kerzen stiftete, die <auf den rossenkrancz> der Dominikanerkirche, der Frauenkirche und - seltener - von St. Clara gingen“. 44 Derselbe mächtige Patrizier und vorderste Losunger war es auch, der 1517 bei Veit Stoß den vom Rosenkranz umrahmten Englischen Gruß und den dazugehörigen Kerzenleuchter in Auftrag gab, die seitdem ununterbrochen im Chor der Lorenzkirche hängen. Dass der mächtigste Bürger Nürnbergs seine Verehrung des Rosenkranzes prominent zur Schau stellt, lässt diese zu einem Politikum werden, und auch wenn dahinter ein genuiner Ausdruck persönlicher Frömmigkeit steht, konnte die Rosenkranzverehrung in Nürnberg zusätzlich als Instrument städtischer Einheit und politischer Annäherung, wenn nicht Schmeichelei, dienen, denn in die analog konzipierte Rosenkranzbruderschaft Kölns sollen sich als erste Kaiser Friedrich III . mit seiner Familie sowie andere hochrangige Adlige und Kirchenfürsten eingetragen haben. 45 Das Verhältnis Nürnbergs zum Kaiser war angespannt, da Friedrich die Stadt in ihrem Kampf gegen den Markgrafen Albrecht Achilles von Ansbach-Kulmbach, der 1470 Kurfürst von Brandenburg wurde und seine Territorialmacht auf Kosten Nürnbergs vergrößern wollte, nicht unterstützt hatte. Friedrich gewährte der Stadt auch keine neuen Privilegien und verlangte sogar die Rücksendung der im Nürnberger Heilig-Geist-Spital aufbewahrten Reichskleinodien. 46 Die Bemühung der Nürnberger um die Gunst Friedrichs hielt bis dessen Tod an, 47 und die Rosenkranzanbetung in Nürnberg sollte womöglich als Demonstration gemeinsamer Andacht den Kaiser umstimmen bzw. ihn über die Treue und politische Zuverlässigkeit seiner Stadt belehren. Stadt- und religionspolitisch erfüllte der Rosenkranz vielleicht eine weitere Rolle: 1498 erwirkte der Rat beim Römischen König Maximilian I. die Genehmigung zur Vertreibung der Juden und kaufte dessen Rechte am Judenviertel. Bereits nach dem Pogrom im Jahre 1349 war am Hauptmarkt an der Stelle der ehemaligen Synagoge die Frauenkirche errichtet worden; die letzten Juden verließen am 10. März 1499 die Stadt. 48 Auch wenn die jüdische Bevölkerung Nürnberg 1499 ohne Misshandlung verlassen durfte, könnte das dortige Auf- 43 Ludwig Grote, Die Tucher. Bildnis einer Patrizierfamilie , München 1961 (Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg zur deutschen Kunst- und Kulturgeschichte 15 / 16), S. 70. 44 Haushaltsbuch der Jahre 1507-1517, vgl. Ganz (wie Anm. 8), S. 154; Grote (wie Anm. 43), S. 70. 45 Jäggi (wie Anm. 32), S. 91. 46 Müllner (wie Anm. 36), S. 62. 47 Im Jahre 1485 zum Beispiel, als Friedrich Nürnberg besuchte, schenkte ihm der Rat ein kostbares Kleinod. Siehe Johannes Müllner, Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623 , Bd. 3: Von 1470 - 1544 , hg. von Michael Diefenbacher in Zusammenarbeit mit Walter Gebhardt, Nürnberg 2003 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 32), S. 71. 48 Gerhard Gruner, Nürnberg in Jahreszahlen , Nürnberg 1999, S. 98 f. <?page no="200"?> Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung 199 blühen der Rosenkranzandacht durch deren Vertreibung verstärkt worden sein. Jeffrey Hamburger macht darauf aufmerksam, dass 49 „in the tradition of prayers known as Handwerkliches Beten that was common in, if not exclusive to, convents, supplicants offered up make-believe gifts fashioned, not from gold, silk, or beads, but from prayer formulas reiterated so often that the words took on the character of an incantation“. Analog dazu mag der Rosenkranzandacht auch als eine Art ‚gemeinsam gebetete Frauenkirche‘ gedient haben, als Geschenk der Stadt an Maria zur prophylaktischen Buße etwaiger Verstöße gegen die Juden, aber gleichzeitig als spirituelle Auslöschung der jüdischen Gegenwart in Nürnberg, als deren palimpsestartige Überschreibung durch die Verehrung der Gottesmutter, die die Gottessohnschaft Christi nicht leugnete, sondern diesen durch ihren Gehorsam erst Mensch werden ließ und dadurch die Erlösung der Menschheit ermöglichte. V. Zusammenfassung Der Rosenkranz steht in Nürnberg für eine spezifisch ständische Verbindung von memoria , Gebet und Identität. Die Ave-Maria-Belehrung, die in Der Heiligen Leben eingewoben ist, eröffnet einen spätmittelalterlichen Resonanzraum von Andachtsdidaxe, die dann auch politisch und gesellschaftlich eingesetzt wird. Die textuell vermittelten, visuell untermauerten Bildungsstrategien betonen das Beten als ein sprachliches, körperliches, geistiges und geistliches ‚Training‘, das den ganzen Menschen umformt und die Entfernung zwischen Gott und dem Menschen überbrückt. Allerdings wird nicht nur das Individuum gottgefälliger gestaltet, sondern die Stadt Nürnberg selbst, denn „the ritual text [hier das Ave Maria] reflects and informs the religious awareness of a discursive community“. 50 Eine andachtsdidaktisch verbesserte, durch die Rosenkranzverehrung vereinigte Stadt mag eben auch eine politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich erfolgreichere gewesen sein. 49 Jeffrey F. Hamburger, Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent , Berkeley / Los Angeles / London 1997, S. 75. 50 Winston-Allen (wie Anm. 23), S. 30. <?page no="202"?> Bildung durch Gebet 201 Bildung durch Gebet Meditation und der Aufbau des inneren Menschen im Straßburger Begerin-Gebetbuch um 1480 Nigel F. Palmer I. Um das Jahr 1220 tritt der brabantische Ritter Walter von Birbech als Mönch ins Zisterzienserkloster Himmerod in der Eifel ein. Bei einem Laien aus einem angesehenen Adelsgeschlecht scheint das Kloster keine besonders strengen Aufnahmebedingungen gestellt zu haben, was lateinische Sprachkenntnisse und Bildung betraf, 1 denn ein Zeitgenosse berichtet folgendermaßen von dem Leben des illiteraten Ritters im Kloster: Requisitus die quadam a praedicto Priore, sicut ipse mihi retulit, quid in mensa cogitaret, eo quod non intelligeret lectionem, respondit: „Ego habeo ibi lectionem meam. Quando manducare incipio, qualiter pro me Dei filius sit ab angelo nunciatus, et in utero Virginis de Spiritu sancto conceptus, mente retracto; sicque primum folium verto. Deinde cogito, quomodo angelis concinentibus sit natus, et pannis vilibus involutus, in praesepio reclinatus; et ecce perlectum est folium secundum. In hunc modum transcurro circumcisionem, adventum Magorum, oblationem eius in templo, baptismum, et ieiunium, passionem, et resurrectionem, ascensionem, et sancti Spiritus adventum, extremumque iudicium. Talis est lectio mea quotidiana, cuius finis, finis est prandii.“ Quod in tali libro comedens legerit, testabantur lacrimae quas in mensa fudit. Plus enim delectabatur in sanctis meditationibus, quam in genuflexionibus, per quas spiritus contemplantis impeditur. Non multas ut dixi in oratione venias petivit, sed stans, vel super genua iacens erecto vulto coelos respicere consuevit. 2 Als er einmal vom Prior gefragt wurde, der mir dies erzählt hat, worüber er bei Tisch nachdachte - er konnte nämlich die Tischlesung nicht verstehen -, antwortete Walter: „Dort habe ich meine eigene 1 Über den Bildungsstand der Zisterziensermönche, die nur als Erwachsene (seit 1134 erst mit 16, seit 1157 erst mit 19) in den Orden aufgenommen werden durften, sind wir immer noch sehr schlecht informiert. Eine Schulbildung für Knaben, wie z. B. bei den Benediktinern, fand in den Zisterzen nicht statt. Für das Sprachproblem siehe: B. W. O’Dwyer, „The Problem of Education in the Cistercian Order“, in: Journal of Religious History 3 (1965), S. 238-245. Siehe auch: Martha G. Newman, The Boundaries of Charity: Cistercian Culture and Ecclesiastical Reform, 1098 - 1180 , Stanford, Calif. 1995, S. 21-29. 2 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum. Dialog über die Wunder , übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, mit einer Einleitung von Horst Schneider, 5 Bde., Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86,1-6), VII.38, S. 1432-1434. Vgl. Jeffrey F. Hamburger und Nigel F. Palmer, The Prayer Book of Ursula Begerin. Vol. 1: Art-Historical and Literary Introduction. Vol 2: Reproductions and Critical Edition , Dietikon-Zürich 2015, Bd. 1, S. 401 f. Ich verwende hier und bei allen weiteren Zitaten grundsätzlich immer meine eigenen Übersetzungen. <?page no="203"?> 202 Nigel F. Palmer Lesung: Wenn ich mit dem Essen beginne, behandle ich im Geist, wie Gottes Sohn für mich vom Engel angekündigt wurde und wie er durch das Einwirken des Heiligen Geistes im Schoß der heiligen Jungfrau empfangen wurde. Dann blättere ich das erste Blatt um. Dann denke ich auch darüber nach, wie er beim Gesang der Engel geboren, in schäbige Lappen gewickelt und in eine Krippe gelegt wurde. Und siehe: Damit ist das zweite Blatt durchgelesen. Auf dieselbe Weise gehe ich die Beschneidung durch, die Ankunft der Magier, die Darstellung im Tempel, die Taufe und das Fasten, die Passion, die Auferstehung, die Himmelfahrt und die Ankunft des heiligen Geistes, und das Letzte Gericht. Das ist meine tägliche Tischlesung. Wenn sie zu Ende ist, ist auch das Essen zu Ende.“ Was er bei der Mahlzeit in diesem Buch las, bezeugen die Tränen, die er bei Tisch vergoss. Er hatte mehr Freude an heiligen Meditationen als an Kniefällen, durch welche der Geist des Betrachtenden behindert wird. Darum pflegte er, wie gesagt, sich beim Beten nicht wiederholt auf den Boden zu werfen, sondern er stand oder blieb knien und pflegte dabei in aufrechter Haltung zum Himmel hinaufzublicken. Die von Caesarius von Heisterbach erzählte Kurzvita von Walter von Birbech funktioniert auf zwei Ebenen. Im Kontext des Dialogus miraculorum fügt sie sich in einen Diskurs über Einfältigkeit und Gelehrsamkeit im religiösen Leben ein und dient als ein Beispiel dafür, wie der ungebildete fromme Mensch den unmittelbaren Zugang zu Gott findet und etwas zu erreichen vermag, was den normalen Ordensbrüdern vorenthalten bleibt. Der Text bietet außerdem - und darauf kommt es für den in diesem Beitrag angestrebten Zusammenhang an - einen historischen Beleg dafür, dass die systematische Meditation über das Leben Jesu in der religiösen Praxis der Zeit um 1220 im Rheinland als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Die Andachtsübung, über welche in der zitierten Passage berichtet wird, bestimmt Walters ganzes Leben, denn sie wird jeden Tag bei Tisch wiederholt. Die virtuelle Lektüre, die Beschäftigung mit mentalen Bildern, die für den ehemaligen Ritter an Stelle der Tischlesung dient, bedeutet für ihn eine geistliche Speisung, die während der Mahlzeiten im Refektorium stattfindet und die er als Einzelperson umgeben von der ganzen Mönchsgemeinschaft praktiziert. Es handelt sich nicht nur um ein Erlebnis im Geist - mente retracto - sondern um ein körperliches Erlebnis, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass er Tränen der Freude vergießt. Walters Meditationen bei Tisch umfassen das ganze Leben Jesu in dessen Menschlichkeit von der Empfängnis im Schoß der Jungfrau bis zu seiner zweiten Wiederkunft beim Jüngsten Gericht. Elf Ereignisse aus dem Leben Jesu werden täglich von Walter von Birbech in chronologischer Abfolge als mentale Bilder vergegenwärtigt. Aus den Angaben zu seiner Meditation über Christi Geburt, dem zweiten Blatt des virtuellen Buchs, wird deutlich, dass die imaginative Vergegenwärtigung der Ereignisse auch Begleitumstände und ein Nachdenken über ihre Bedeutung umfasst: So wird die Paradoxie, dass die Geburt durch den Gesang der Engel gefeiert wird, während das Kind in schäbige Lappen gewickelt wird, in der Erzählung hervorgehoben. Die Meditationsübung bei Tisch scheint überhaupt für den illiteraten Zisterzienser einen Teil seiner Gebetspraxis zu bilden, denn es heißt, dass die innere Meditationsandacht mehr geistliche Freude bringt als die durch die liturgischen Bestimmungen des Ordens verlangten Kniebeugungen und Prostrationen. 3 3 Die besonderen Kniebeugungen, die im Zisterzienserorden vorgeschrieben waren, werden an verschiedenen Stellen der Ecclesiastica officia des Ordens beschrieben, vgl. Ecclesiastica Officia. Gebräuchebuch der Zisterzienser aus dem 12 . Jahrhundert , übersetzt, bearbeitet und hg. von Hermann M. Herzog und Johannes Müller, Langwaden 2003 (Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 7), Register <?page no="204"?> Bildung durch Gebet 203 Wozu dienen die Meditationen über das Leben Jesu? Daran, dass am Anfang der Reihe nicht nur die Verkündigung, sondern auch die Empfängnis genannt wird und dass am Ende der Liste der elf Ereignisse die zweite Wiederkunft steht, ist zu erkennen, dass die Menschwerdung, die Erlebnisse des Gottessohns in seiner Menschlichkeit und damit das übergeordnete Thema der Soteriologie im Mittelpunkt stehen. 4 Durch die ständige Beschäftigung mit diesem Thema während der Mahlzeiten vermag der illiterate Mönch sich die Erlösung des Menschen - etwa im Sinne der Satisfaktionslehre - einzuprägen, einzuverleiben. Während 100 Jahre später für Heinrich Seuse die durchaus vergleichbare Andachtsübung, die er mit den Hundert Betrachtungen praktizierte, fast nur auf die Passion und auf das Mitempfinden des Leidens konzentriert war, 5 scheint das Programm des Himmeroder Zisterziensers ausdrücklich durch die Vertiefung in das ganze Leben Jesu unter Hintanstellung der Passion nur Freude hervorzurufen - deswegen meine Deutung, dass seine Tränen nicht als Ausdruck der Trauer, sondern als Tränen der Freude über die Erlösung des Menschen zu verstehen sind - eine Freude, die ihren angemessenen Ausdruck darin findet, dass Walter ‚in aufrechter Haltung zum Himmel hinaufblickt‘. Was hier beschrieben wird, ist die soteriologisch bestimmte Lebenspraxis einer Einzelperson, die eine bestimmte religiöse Haltung verkörpert. Sie wird durch den einzelnen Mönch individuell gewählt und durch ihn ausgeübt, es handelt sich aber nicht explizit um Erbauung oder Bildung in dem Sinne, dass dieses Lebensprogramm es dem Menschen ermöglicht, sich ständig zu verbessern oder sich prozesshaft einer inneren Entwicklung zu unterziehen, die zu einem Zustand führen würde, auf den Gott durch einen Akt der Gnade reagiert, indem er sich dem Menschen zuwendet. Aber die Meditationspraxis des frommen Ritter-Mönchs, die man als etwas Gutes an sich zu verstehen hat, wird ihn sein ganzes Leben hindurch begleiten, sie wird sowohl körperlich als auch geistig vollzogen, denn die Vertiefung in das Leben Jesu und in die Lehre des menschlichen Heils verläuft für Walter von Birbech parallel zum Verzehr leiblicher Ernährung im Refektorium. II. Im Hauptteil dieses Beitrags möchte ich das in Straßburg entstandene spätmittelalterliche Begerin-Gebetbuch der Burgerbibliothek in Bern 6 einer Analyse unterziehen, in welcher die Frage zu klären sein wird, auf welche Weise die in diesem Werk enthaltenen impliziten Anforderungen an das Innenleben des um sein Heil besorgten Menschen mit den Wortfeldern Bildung und Erbauung zu erfassen sind. Es geht mir auch um die Frage nach einer adäquaten Positionierung der individuellen Leistungen des menschlichen Subjekts im sos. v. „Kniebeugung“, „Prosternation“, „ venia “, und insbesondere Kapitel 53 mit den Anmerkungen der Herausgeber (S. 184-209). 4 Vgl. Giles Constable, „The Ideal of the Imitation of Christ“, in: Three Studies in Medieval Religious and Social Thought , Cambridge 1995, S. 143-248, insbesondere S. 169-193: „The imitation of the humanity of Christ“. 5 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften , hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, Nachdruck Frankfurt a. M. 1961, S. 314-322. Vgl. José van Aelst, Passie voor het lijden. De Hundert Betrachtungen und Begehrungen van Henricus Suso en de oudste drie bewerkingen uit de Nederlanden , Leuven 2005 (Miscellanea Neerlandica 33); dies., Vruchten van de Passie. De laatmiddeleeuwse passieliteratuur verkend aan de hand van Suso’s Honderd artikelen, Hilversum 2011 (Middeleeuwse Studies en Bronnen 129). 6 Bern, Burgerbibliothek, Cod. 801. Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), mit einer vollständigen Farbabbildung der Handschrift und einer textkritischen Ausgabe des deutschen Gebetszyklus in Bd. 2. <?page no="205"?> 204 Nigel F. Palmer teriologischen Bereich der Interaktion zwischen dem andächtigen Menschen und Gott und nach der Gewichtung dieses Aspekts in den Begerin-Gebeten. Bei Caesarius wird die Betrachtung innerer mentaler Bilder, die im Gedächtnis gespeichert sind, als Alternative zur Auseinandersetzung mit der Heilslehre in schriftlicher Form - bei der Tischlesung - verstanden. Im Begerin-Gebetbuch haben wir es mit einem für die individuelle Betrachtung vorgesehenen Zyklus von ursprünglich ca. 200 religiösen Bildern zu tun - in diesem Fall materiellen Bildern, die in heilsgeschichtlicher Chronologie vom Fall der Engel bis zum Jüngsten Gericht das gesamte Programm des Lebens Jesu in seiner Menschlichkeit abschreiten. Der Bilderzyklus, der als ein reines Bilderbuch ohne Texte geplant war und im Zeitraum 1380-1410 entstanden sein dürfte, wurde in den 1470er oder 1480er Jahren und damit wahrscheinlich gut 80 Jahre nach der Entstehung der Bilderhandschrift durch einen Zyklus von 155 kunstvoll gestalteten deutschen Gebeten ergänzt, die inhaltlich auf die Bilder bezogen sind. 7 Die ersten Seiten der Handschrift, die durchaus eine Einleitung oder eine Art Gebrauchsanweisung für den Text-und-Bilder-Zyklus enthalten haben könnten, fehlen, aber es wird auch ohne eine solche Einleitung klar, dass dieser umfangreiche Zyklus die Implikation in sich birgt, dass die Besitzerin des Buches sich systematisch in das Leben Jesu vertiefen sollte, indem sie die Texte und Bilder der Handschrift als Grundlage für ihre Gebetspraxis verwendete. Als wichtigste Quelle für den Gebetszyklus diente die Vita Christi des Kartäusers Ludolf von Sachsen, der im Jahr 1378 in der Straßburger Kartause starb. 8 Die von Ludolf verfassten Gebete, mit denen die Kapitel der Vita Christi jeweils abgeschlossen werden, dienten als unmittelbare Vorlage für 110 Gebete des Begerin-Gebetbuchs. Die Wahl dieser Vorlage ist wohl nicht zufällig gewesen, denn es gibt Indizien dafür, dass auch der Verfasser der deutschen Gebete, der den Gebetszyklus in den 1470er oder 1480er Jahren für den Gebrauch einer Nonne im Straßburger Reuerinnenkloster St. Maria Magdalena konzipierte, dem Kartäuserorden nahestand. Aus dem Magdalenenkloster stammt auch die Handschrift, die sich im frühen 16. Jahrhundert im Besitz der Straßburger Reuerin Ursula Begerin befunden hat, die als Nonne in diesem Kloster bezeugt ist: daher die konventionelle Bezeichnung ‚Begerin-Gebetbuch‘. 9 Der Gebetszyklus bietet konzeptionell die Möglichkeit, das gesamte Leben Jesu systematisch als thematische Grundlage für ein Gebetsprogramm zu verwenden, in dem der ganze 7 Mindestens zwei Gebete fehlen auf Grund von Blattverlust. Gebet Nr. 151 (fol. 159r) wird bei der Angabe von 155 erhaltenen Gebeten nicht mitgezählt; es handelt sich dabei um eine Hinzufügung von späterer Hand. 8 Für Ludolf von Sachsen siehe Walter Baier, Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen. Ein quellenkritischer Beitrag zu Leben und Werk Ludolfs und zur Geschichte der Passionstheologie , Salzburg 1977 (Analecta Cartusiana 44,1-3); Tobias A. Kemper, Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters , Tübingen 2006 (MTU 131), S. 136-140; Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 439-452. Siehe auch: Nigel F. Palmer, „Allegory and Prayer: The House of the Heart and the Ark of the Virtues in the ‚Gebetbuch der Ursula Begerin‘“ [Vortrag Trier, 2010], in: Gedenkschrift für Christoph Gerhardt , hg. von Ralf Plate und Niels Bohnert (in Druckvorbereitung). 9 Für Einzelheiten siehe Palmer, „Allegory and Prayer“ (wie Anm. 8); Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), passim. Für die Handschriften, die aus der Bibliothek des Reuerinnenklosters erhalten sind, siehe Nigel F. Palmer, „Die Münchner Perikopenhandschrift Cgm 157 und die Handschriftenproduktion des Straßburger Reuerinnenklosters im späten 15. Jahrhundert“, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte , hg. von Barbara Fleith und René Wetzel, Berlin / New York 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 263-300, hier S. 273-278. <?page no="206"?> Bildung durch Gebet 205 Zyklus des durch die Menschwerdung vollzogenen christlichen Heils in chronologischer Reihenfolge, gegebenenfalls auf die Tage der Woche und die Stunden des Tages verteilt und turnusmäßig wiederholt, durchgearbeitet werden konnte. 10 Er konnte andererseits auch als Blumenstrauß verwendet werden, aus dem einzelne Gebete bei passender Gelegenheit herausgepflückt werden konnten, in welchem Fall das Prinzip der Aneinanderreihung der Ereignisse nur eine literarische und keine pragmatische Funktion gehabt haben würde. Für den Einstieg in mein Thema wähle ich zwei Gebete, die den Normalfall darstellen und in denen die spezifischen Aspekte der Erbauung, die aus solchen Gebeten geholt werden kann, und der inneren Bildung, die durch ein durch das Leben Jesu strukturiertes Lebensprogramm zu erreichen ist, nur implizit angesprochen sind. Gebet Nr. 97, ‚Ich bin der rechte Weinstock‘ (Abb. 1), für das bislang keine lateinische Quelle ermittelt werden konnte, geht von der Allegorie des Weinstocks aus, die im Johannesevangelium (Io 15,1-17) präsentiert und gedeutet wird: O herre Jhesu Crist, ein bürn aller künste, jch ermane dich der aller andechtigsten vnd trostlichsten bredige, süße vnd wol gehönigte von hymmelischer süßikeit, die du dynen liebsten jüngeren gethün hest, sie vnder ander vil heilsamer lere fürderlichen vnderwisende vnd ermanende, die liebe zubehalten, vnd bitte dich von ganczem herczen, das du durch din gnodenriches insprechen mir bredigest die gezirde aller tugenden, vnd sunderlichen das du uff dem herde myns herczen enzündest das vnuerloschliche füer der liebe, also das ich ein früchtbarer zwig sye der winreben dises heiligen ordens vnd das die ackermennyn, myn liebe mütter, mich durch zymmlich stroffe vnd lere ye me reynige zu dynem gottlichen lop vnd myner selikeit, uff das ich an mynem lesten ende nit von dir, der du bist die wöre winrebe, als ein vnnüczer zwig ewiglichen abgehouwen werde. Amen. 11 Der biblische Prätext ist ein Teil der Abschiedsrede, die Jesus nach dem Abendmahl an seine Jünger richtet, insbesondere über die Liebe, die den Vater, den Sohn und die Freunde Gottes miteinander verbindet. Daran werden in dem deutschen Gebet drei Bitten an Gott angeknüpft: erstens, das du durch din gnodenriches insprechen mir bredigest die gezirde aller tugenden ; zweitens, das du uff dem herde myns herczen enzündest das vnuerloschliche füer der liebe , damit sie wie die Reben, die der Winzer am Weinstock sorgfältig pflegt und wachsen lässt, im Rahmen ihres Ordens ‚viel Frucht bringen wird‘; und drittens, dass ihre ackermennyn , d. h. die ‚Weingärtnerin‘, ihre Priorin - in Anlehnung an das biblische Pater meus agricola est (Io 15,1) -, sie wie die fruchtbare Weinrebe des Evangeliums reinigen möge, damit sie durch diese Reinigung von Sünden befreit und würdig wird, das Lob Gottes und ihr eigenes Seelenheil zu ernten. Auf diese Weise wird sie der Gefahr entgehen können, wie eine unfruchtbare Weinrebe beim Jüngsten Gericht abgeschnitten zu werden. 10 Die Verteilung von Passionsmeditationen auf die sieben Stunden des Tages ist zuerst bei Ps.-Beda, De meditatione passionis Christi per septem horas diei libellus ( PL 94, Sp. 561-568) bezeugt und wird besonders durch die Überlieferung der Meditationes vitae Christi (heute zugeschrieben an Jacobus de Sancto Gimignano, s. u. Anm. 21) und der Vita Christi (zugeschrieben an Michael de Massa) weiter verbreitet. Siehe Iohannis de Caulibus Meditaciones vite Christi olim S. Bonauenturo attributae , hg. von Mary Stallings-Taney, Turnhout 1997 (CCCM 153); Michael de Massa, Vita Christi [ Vita Jhesu a venerabili viro fratre Ludolpho Cartusiae edita ], Nürnberg: Johann Sensenschmidt und Andreas Frisner, 1474-1478 ( GW M19 222, online zugänglich in den Digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek, München). Für die Erweiterung auf die sieben Tage der Woche siehe van Aelst, Passie voor het lijden (wie Anm. 5), S. 221-224. 11 Bern, Burgerbibliothek, Cod. 801, fol. 103r. Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 110. <?page no="207"?> 206 Nigel F. Palmer Die Beterin möchte durch Gott inspiriert werden, sich mit den Tugenden zu schmücken, die Liebe - gedacht ist vor allem an die Liebe zu ihren Mitschwestern - auszuüben, und sie möchte mit Gottes Hilfe durch die Anweisungen ihrer Priorin gereinigt werden. Gebet Nr. 99 (Abb. 2) bezieht sich auf das Bild von Jesus, der sich in Gethsemane auf die Erde niedergeworfen hat, um zu beten (fol. 104v): O aller demütigster Jhesu, als du dich von den acht jungeren fruntlichen gescheiden hest, do hestu den dryen mit dir genommen geoffenboret din herczlich trurikeit, glicherwise du ynen fürmals die clorheit dyner maiestöt in dyner transfigurigung erzoügte, sprechende zu ynen: „Betrübet ist myn sele vncz in den dot“, bewisende domit din wore monschlich natuer. Vnd hest sie ouch heissen beiten vnd wachen vnd bistu einwennig fürbas gegangen, vallende uff din gebenedyet antlit vnd bettende din hymmelischen vatter, mocht es gesin, das er von dir nëme den kelch dyns bittern lydens. Ah, des alles ermane ich dich vnd bitte dich gar demütiglichen, verlyhe mir, alle myn trurikeit vnd widerwurtikeit, die mir v̈mmer zu kommen mügent, also gezwingen, das sie blibent vnder dem gebot der vernünft, vnd mynen willen in dynen willen allezit also gancz ergeben, glicherwise du dynen willen dynem vetterlichen willen ergeben hest, uff das ich also durch myn gelassenheit vnd gedult dynem vatter ouch wolgefallen müge. Amen. 12 12 Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 112. Abb. 1: ‚Ich bin der rechte Weinstock‘. Gebet Nr. 97. Bern, Burgerbibliothek, Cod. 801, fol. 102v-103r. <?page no="208"?> Bildung durch Gebet 207 Abb. 2: Jesus in Gethsemane. Gebet Nr. 99. Bern, Burgerbibliothek, Cod. 801, fol. 104v-105r. Der Text lässt den erzählenden Teil des Gebets etwas früher anfangen, als Jesus sich von den Jüngern verabschiedet, um nur Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus mitzunehmen, und ‚zu trauern und zu zagen‘ anfängt ( coepit contristari et moestus esse , Mt 26,37). Er bittet sie, dort zu wachen und auf ihn zu warten, geht dann ein paar Schritte weiter und fällt auf sein Angesicht, um Gott Vater anzubeten. Aus diesen Ereignissen greift die Beterin jetzt die Motive der Trauer und der Niedergeschlagenheit auf und spricht Gott mit einer dreifachen Bitte an. Er möge es ihr ermöglichen, erstens die Emotionen der trurikeit vnd widerwurtikeit zu zügeln, zweitens den eigenen Willen dem Willen Gottes konform zu machen, so wie es Jesus in dem Gebet an Gott Vater getan hat, das er auf der Erde liegend formulierte, ‚doch nicht wie ich will, sondern wie du willst‘ (Mt 26,39), und drittens sich auf diese Weise durch die Tugenden der Gelassenheit und der Geduld auszuzeichnen, damit sie Gott Vater gefallen möge. Ziel ist in beiden Gebeten das Seelenheil. Der Weg dahin führt über die Vergegenwärtigung eines Ereignisses aus dem Leben Jesu, das im ersten Teil, der narratio , erzählend ins Gedächtnis gerufen wird und im zweiten Teil, der petitio , die Grundlage einer Bitte an Gott bildet, er möge der Beterin bestimmte Tugenden oder tugendhafte Handlungen ermöglichen. In Gebet Nr. 97 beziehen sich die Bitten auf eine Handlung Jesu im ersten Teil, nämlich seine Lehrrede über das gottgefällige Leben, und auf Einzelelemente der Allegorie des rechten Weinstocks, während die Bitten in Gebet Nr. 99 auf Handlungselemente der biblischen Erzählung bezogen sind, die die Beterin durch die imitatio des Lebens Jesu nachvollziehen soll: die Bändigung von Trauer und Niedergeschlagenheit, die Überwindung des Eigenwillens und die Ausübung von Gelassenheit und Geduld. Diese Grundstruktur wiederholt sich bei sehr vielen Gebeten des Zyklus, und es wäre deswegen durchaus möglich, <?page no="209"?> 208 Nigel F. Palmer einen Tugendkatalog aus den Gebeten herauszulesen, in welchem wahrscheinlich Demut, Gehorsam und Liebe zahlenmäßig an erster Stelle stehen würden. Es ist aber nicht so, dass wir wie in einem Erbauungsbuch mit einer Liste von Tugenden konfrontiert werden, die der fromme Mensch lernen und ausüben sollte, denn es ist immer davon die Rede, dass die Beterin die Bitte aussprechen soll, Gott möge es ihr durch einen Akt der Gnade ermöglichen, die verschiedenen Tugenden zu erlangen und tugendhafte Handlungen zu vollziehen. Die innere Bildung geschieht also indirekt, nur über Gottes Gnade. Die für das menschliche Heil so wichtigen Tugenden werden von dem einzelnen Subjekt erworben, die Beterin nennt selbstverständlich immer die eigene Erlösung als ihr Ziel, aber die Ausübung der Tugenden geschieht in der Gemeinschaft oder im Umgang mit ihren Schwestern. Gebet Nr. 126 reagiert auf die visitatio sepulchri durch die Bitte (fol. 131v), verlyhe mir, allezit dich ouch begirlichen zu süchen, dich mit frowden zu finden vnd mit süßer wolgefelliger andocht zu salben, ouch mynen lieben swestern mitzuteilen, was ich güts von dir enpfangen hann, vnd das ich gange von zitlicher liebe zu dyner gotlichen liebe, uff das, so ich von diser welt scheide, zu seliger ewikeit kommen müge, dich, mynen liebsten gesponsen, mit allen reynen herczen one vnderloß zu sehen. Amen. 13 Ihre Schwestern sollen also über die Zuweisungen der Gnade, die sie erlebt, informiert werden. In Gebet Nr. 76 bittet sie darum, dass ihre Schwestern nach ihrem Tod ihre Fürsprecherinnen sein mögen, so dass sie auf diese Weise durch ihre Hilfe und Verdienste gerettet werden kann, wenn ihre Verdienste ungenügend sein sollten (fol. 83r): Jch bitte dich, liebster gesponse, das din fründe, myn swesteren, die dich liep habent, für dir myn fursprecherin vnd helfferin syent, dorvmb, so mir an mynem verdienen abegäte vnd von hiennan scheide, das ich dann müge durch ir hilffe vnd verdienste uffgenommen werden in die ewigen tabernackelen. Amen. 14 Diese Belege dafür, dass die Erwerbung der Tugenden in einer Gemeinschaft der swesterliche[n] eynikeit, gemeynsamkeit vnd liebe (Nr. 119, Zeile 9 f., fol. 124v) zu geschehen habe, ließen sich vermehren. III. Dass Meditationen über das Leben Jesu auf die Identifikation mit seinen Tugenden zielen, hat eine lange Geschichte, 15 denn eine solche Praxis lässt sich mindestens seit dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts belegen. Das geschieht parallel zu der Tradition der Meditationen über das Leben Jesu, die als ein Nachempfinden seines Leidens gestaltet werden, wie das zuerst bei Bernhard von Clairvaux in der Hoheliedpredigt 43 explizit formuliert wurde. 16 Für Bernhard bedeutet die Meditation über das Leben Jesu ein systematisches und 13 Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 139. 14 Ebd. Bd. 2, S. 90. 15 Georg Steer, „Die Passion Christi bei den deutschen Bettelorden im 13. Jahrhundert. David von Augsburg, ‚Baumgarten geistlicher Herzen‘, Hugo Ripelin von Straßburg, Meister Eckharts ‚Reden der Unterscheidung‘“, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters , hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 52-75; Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 422-424. 16 Sermones in Cantica Canticorum , 43.II.3, in: S. Bernardi opera , hg. von Jean Leclercq u. a., 8 Bde., Rom 1957-1977, hier Bd. 2, S. 42 ( PL 183, Sp. 597). <?page no="210"?> Bildung durch Gebet 209 kontinuierliches Nachdenken über alle Ängste und bitteren Erfahrungen, die Jesus von seiner Kindheit bis zu seinem Tod erlebte. Ganz ähnlich, aber noch konsequenter und mit einer theologischen Begründung, konzipierte Heinrich Seuse seine Hundert Betrachtungen 200 Jahre später als Meditationen, die bis auf eine sehr kurze Einleitungspartie nur auf die Ereignisse der Passion bezogen sind (siehe oben, Anm. 5). Der englische Zisterzienser Aelred von Rievaulx andererseits begründete nicht ganz 30 Jahre nach Bernhard eine andere Praxis der Meditation, indem er einen Zyklus von 29 Betrachtungen von der Verkündigung bis zur visitatio verfasste, in denen die Passion, wenn auch präsent, eine deutlich untergeordnete Rolle spielt. 17 Bonaventura propagierte um 1260 in seinem Lignum Vitae 18 ein Leben der franziskanischen conformatio mit dem Gekreuzigten, in dem der Betrachter sich kontinuierlich mit Ereignissen aus dem ganzen Leben und Wesen Jesu in seiner Humanität zu beschäftigen habe: vom innertrinitarischen Procedere am Anfang der Welt bis zur Kontemplation des Erlösers im Himmel am Ende der Welt, wenn auch verbunden mit einer stark ausgeprägten Passionsmystik, die in seinen anderen Schriften stärker hervorgehoben wird. Es gibt auch Stellen bei Bonaventura, an denen deutlich formuliert wird, dass das Leiden Christi sein ganzes menschliches Leben umfasste und nicht nur auf die Passion beschränkt war. 19 Gleichzeitig mit Bonaventura entstehen in Deutschland die Schriften Davids von Augsburg, dessen für die Ausbildung von Novizen gedachtes Werk De exterioris et interioris hominis compositione ein bedeutendes Kapitel über die Meditation enthält: In omnibus virtutibus et bonis moribus propone tibi semper clarissimum speculum et totius sanctitatis perfectissimum exemplar, scilicet vitam et mores Filii Dei, Domini nostri Iesu Christi, qui ad hoc nobis de caelo missus est, ut ostenderet et aperiret nobis viam virtutum et legem disciplinae suo exemplo daret nobis et erudiret nos per semetipsum, ut sicut ad imaginem eius naturaliter creati sumus, ita ad morum eius similitudinem per imitationem virtutum pro nostra possibilitate reformemur, qui eius imaginem in nobis foedavimus per peccatum. Quantum enim quisque se ei in virtutum imitatione hic conformare studuerit, tantum ei in patria in gloria et claritate propinquior et similior erit . 20 In allen Tugenden und guten Sitten halte dir ständig den glänzenden Spiegel und das vollkommenste Exemplar aller Heiligkeit vor, nämlich das Leben und die Gewohnheiten des Gottessohns, der uns vom Himmel gesandt wurde, damit er uns den Weg der Tugenden zeige und offenbare und uns durch sein Beispiel das Gesetz der Zucht gebe und uns nach seinem Vorbild erziehe, damit wir, so wie wir von Natur nach seinem Bild geschaffen wurden, durch Nachahmung seiner Tugenden, soweit es uns möglich ist, die wir durch die Sünde sein Bild in uns entstellt haben, zu einem Gleichnis seiner Gewohnheiten wiederhergestellt werden. Denn in dem Maße wie jemand sich bemüht, 17 Aelred von Rievaulx, De institutione inclusarum , hg. von Charles H. Talbot, in: Aelredi Rievallensis Opera omnia , Bd. 1: Opera ascetica , hg. von Anselm Hoste und Charles H. Talbot, Turnhout 1971 (CCCM 1), S. 637-682. 18 In: Seraphici doctoris S. Bonaventurae Decem opuscula ad theologiam mysticam spectantia in textu correcta et notis illustrata a patris Collegii S. Bonaventurae , Quaracchi 1896 ( 5 1965), S. 168-223. 19 Vgl. Martin Elze, „Das Verständnis der Passion Jesu im ausgehenden Mittelalter und bei Luther“, in: Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert zum 65 . Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern , Berlin 1966 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 38), S. 127-151, Stellenangaben S. 129 mit Anm. 7. 20 David ab Augusta, De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplicem statum incipientium, proficientium et perfectorum libri tres , hg. vom Collegium S. Bonaventurae, Quaracchi 1899, S. 25-27 (Kap. I.20). Vgl. Steer (wie Anm. 15), S. 57-61, 70 f. <?page no="211"?> 210 Nigel F. Palmer ihm durch die Nachahmung seiner Tugenden konform zu werden, so sehr wird er ihm im Vaterland in seinem Glanz und seiner Herrlichkeit näher stehen und ähnlicher sein. Was David hier formuliert, ist eine ziemlich genaue Entsprechung zu den Vorstellungen, die den Begerin-Gebeten zugrunde liegen, die aber hier nicht direkt auf David oder Bonaventura zurückgehen, sondern durch die Tradition der meditativen Leben Jesu des 14. Jahrhunderts, nämlich durch die Meditationes Vitae Christi des Franziskaners Jacobus de Sancto Gimigniano, 21 die Vita Christi des Augustiners Michael de Massa und die Vita Christi des rheinischen Kartäusers Ludolf von Sachsen vermittelt wurden. 22 David von Augsburg empfiehlt den Novizen die Meditation über das Leben und die Gewohnheiten Jesu ( vitam et mores Filii Dei ), über die Gepflogenheiten und Handlungen Jesu ( mores et actus suos ). Jesus ist ein glänzender Spiegel, das perfekte Exemplar aller Heiligkeit, der vom Himmel geschickt wurde, um uns den Pfad der Tugenden zu eröffnen, damit wir uns durch sein Beispiel disziplinieren mögen und damit diejenigen, die durch ihre Sünde das Bild Gottes in der Seele beschmutzt haben, soweit wie möglich reformiert werden können und durch die Nachahmung der Tugenden Christi ihr Leben noch einmal seinem Leben angleichen mögen. Je mehr man sich durch die Nachahmung der Tugenden diesem franziskanisch inspirierten Erbauungsprogramm der conformatio unterwirft und sich Christus in diesem Leben angleicht, desto näher wird man in der nächsten Welt bei ihm stehen dürfen. Die vielen Beispiele für eine solche Meditationspraxis, die David auflistet, beziehen sich aber nur einmal auf die Passion. Sonst handelt es sich darum, dass der Novize die Ereignisse aus dem Leben Jesu in seinem Herzen aufzeichnen soll, damit seine Liebe zu Gott wachse, um auf diese Weise Gottes Gnade und Vertrauen zu verdienen und seine Tugendhaftigkeit zu perfektionieren. Was wir in dem Begerin-Gebetbuch beobachten können, ist die Transferierung der Meditation, wie wir sie in der Geschichte Walters von Birbech oder theologisch begründet bei David von Augsburg finden, in eine Gebetspraxis, die in den deutschen Texten, die dem Bilderzyklus hinzugefügt wurden, schriftlich formuliert wurde und damit literarische Gestalt gewinnt. IV. Zum Schluss sollen zwei Texte aus dem Begerin-Gebetbuch präsentiert werden, die das Thema der geistigen Bildung oder Erbauung des Menschen mit jeweils etwas unterschiedlicher Metaphorik behandeln. Das erste Gebet des Zyklus, Nr. 1, enthält eine Passage am Schluss, die das Lob des Schöpfers, der den Menschen nach seinem eigenen Bild und Gleichnis geschaffen hat, als Grundlage für die Bitte um die Reformierung des göttlichen Abbilds im Menschen verwendet (fol. 9v): 21 Bis vor kurzem entweder unter dem Namen eines sonst unbekannten ‚Johannes de Caulibus OFM‘ angeführt oder auf Grund von unhaltbaren Spekulationen für das nachträglich ins Lateinische übersetzte Werk einer italienischen Klarissin gehalten. Vgl. Kemper (wie Anm. 8), S. 88-107, und vor allem die bahnbrechenden Untersuchungen von Peter Tȯth und Dávid Falvay, „New light on the date and authorship of the Meditationes vitae Christi “, in: Devotional Culture in Late Medieval England and Europe: Diverse Imagination of Christ’s Life , hg. von Stephen Kelly und Ryan Perry, Turnhout 2014 (Medieval Church Studies 31), S. 17-104. Vgl. Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 425-427. 22 Für Michael de Massa siehe Kemper (wie Anm. 8), S. 111-133; Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 436-439. <?page no="212"?> Bildung durch Gebet 211 Allmechtiger, ewiger, hymmelischer got vatter, der du vor aller welt vnußsprechlichen geborn hest dynen sün dir glich, mitewig vnd mitweßelich, mit dem du vnd mit dem heiligen geist alle dinge, sichtbarlich vnd vnsichtbarlich, vnd mich arme sunderin vnder allen dingen geschopffet hest, ich bette dich an, ich lobe dich, ich eren dich: biß gnedig mir, vnwürdigen sunderin, vnd versmähe nit das werck dyner hend, sünder behalte mich vnd helffe mir durch dynen heiligen namen, vnd reiche din recht hant mir, dyner geschopffde. Kumme zu hilff myner fleischlichen blodikeit. Mich arme, ellende, beflecket mit vil vntugenden, mache widervmb gerecht. Du, der mich geschaffen hest, mich, mit mancherley sunden entbildet, bilde widervmb, der du mich gebildet hest nach dynem bilde, uff das du nach dyner manigfaltige[n] barmherczikeit behaltest myn arme, dürfftig sele. Amen. 23 Das Gebet bietet eine ziemlich genaue Übersetzung der oratio , mit welcher Ludolf von Sachsen Buch I, Kapitel 1, seiner Vita Christi schließt und die Ludolf bis auf den Schlussteil aus einem bekannten Gebet des 9. Jahrhunderts aus dem Umkreis Alkuins adaptiert. Ludolf fügt am Schluss seiner Wiedergabe des karolingischen Gebets einen kurzen Abschnitt hinzu: Operi manuum tuarum dexteram porrige, carnali fragilitati succurre. Qui me fecisti, refice infectum vitiis; qui me formasti, reforma corruptum peccatis; ut secundum magnam tuam misericordiam salves animam meam miseram. Amen. 24 Strecke Deine rechte Hand aus zu mir, dem Werk deiner Hände [Iob 14,15]: eile zu Hilfe dem schwachen Fleisch. Du, der Du mich gemacht hast, mache mich neu, der ich mit den Lastern infiziert bin; Du, der Du mich gestaltetest, gestalte mich neu, der ich mit Sünden verdorben bin, damit Du durch Deine große Barmherzigkeit meine arme Seele retten mögest. Das wird in der deutschen Bearbeitung des Gebets leicht variiert. Der Mensch, der bei Ludolf durch den Sündenfall ‚korrumpiert‘ ist, wird im deutschen Text als entbildet bezeichnet - in dem Sinne deformiert, dass er seine ursprüngliche Gestaltung ad imaginem et similitudinem nostram (d. h. Gottes) eingebüßt hat. Der Betende bittet darum, dass der Schöpfergott, der den Menschen nach Genesis 1,26 nach seinem Bild gebildet hat, ihn noch einmal nach seinem ‚Bild‘ gestalten möge. Im zweiten Gebet des Zyklus wird die göttliche imago als bildung übersetzt: Du hest yme ingegossen ein vndotlich, vernüfftig, edele sele, den lyp zu bewegen vnd zu regiren, gemacht noch dyner bildung in bekantniß der worheit vnd noch dyner glichniß in liebe der tügenden (Nr. 2, Zeile 8-13, fol. 10r). Vor dem Sündenfall verfügte die Seele über die Erkenntnis der Wahrheit und über Liebe zu den Tugenden, womit hier gleich am Anfang des Gebetszyklus eine Vorstellung eingeführt wird, die genau zum Ziel des Meditationsprogramms passt, nämlich durch die Vergegenwärtigung des Lebens Jesu seine Tugenden sich zu eigen zu machen. Das ‚Bild‘ ist zugleich ein ‚Vorbild‘. Wenn einmal die Hoffnung ausgesprochen wird, das ich der kloren dryvaltikeit bild müge sin ein ewige schouwerin (Nr. 155, Zeile 29 f., fol. 173v), wird es sich nicht um die passive Vorstellung des 23 Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 17. Das Blatt mit der Bildseite, die diesem Gebet gegenüberstand, ist verloren. 24 Vita Jesu Christi e quatuor evangeliis et scriptoribus orthodoxis concinnata per Ludolphum de Saxonia ex ordine Carthusianorum, editio novissima , hg. von A.-C[lovis] Bolard, L[ouis-Marie] Rigollot und J[ean Baptiste] Carnandet, Paris / Rom 1865 ( 2 1870), S. 9. Für die Vorlage siehe: Stephan Waldhoff, Alcuins Gebetbuch für Karl den Grossen. Seine Rekonstruktion und seine Stellung in der frühmittelalterlichen Geschichte der libelli precum, Münster 2003 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 89), S. 382, Nr. 27. Vgl. PL 101, Sp. 1399. <?page no="213"?> 212 Nigel F. Palmer Betrachtens der Trinität handeln, sondern um die Hoffnung, durch das Betrachten, das Sich- Versenken in Gott an einem Bildungsprozess teilnehmen zu dürfen, in dem der Mensch das Bild, das er im Himmel ewig vor seinen Augen haben wird, als ein Vorbild in sich aufnimmt und sich ihm angleicht. Wenn der hl. Hieronymus als du schoͤner bildener (Nr. 153, Zeile 12, fol. 166r) angesprochen wird, haben wir es mit einem vergleichbaren Verhältnis zwischen dem Betrachter und dem Vorbild zu tun. An anderen Stellen ist anstatt von bild , bildung oder bildener von exempel oder form im Sinne von ‚Exemplar‘ die Rede. Jesus wird in einem Gebet, das im ersten Teil von seinem Verrat durch Judas berichtet, gebeten, zu ermöglichen, dass die betende Nonne disem exempel der größen gedult vnd demütikeit nachfolgen möge (Nr. 93, Zeile 11 f., fol. 98r). An anderer Stelle wird Jesus als der woren gehorsamme ein forme vnd der rechten demütikeit ein exempel angeredet (Nr. 25, Zeile 1-3, fol. 31v). Besonders wichtig für die Konzeption der religiösen Erbauung, die dem Meditationsprogramm des Begerin-Gebetbuchs zugrunde liegt, scheint mir das Gebet Nr. 9 über die Arche Noe zu sein, das mit der Thematisierung der prozesshaft dargestellten Errichtung von dem ‚Haus der Tugenden‘ im Inneren des Menschen einen Akzent setzt, der über das sonstige Modell der durch die Vergegenwärtigung des Lebens Jesu anzustrebenden conformatio mit Christus hinausweist (fol. 15r): O barmhercziger got, verlyhe mir zubüwen ein arche der tügenden von bestößenen holczern, das ist von geloßenheit myn selbs, in ir durch vil widerwertig zufellikeit vil wonunge der bestendikeit zümachen, vnd sie zu bestrichen mit lyme der liebe jnnerlich zu dir, mynem schopffer, vßerlich zu mynem nehsten, höhe gnüng durch eynen fruchtbaren anfangk, breit gnüng durch ein wore zunemmen, vnd lang gnüng in rechter volkummenheit. Ouch verlyhe mir, ein nyeder fenster eynes andechtigen, demütigen gebetts dorjnne zu machen, do durch licht dyner gnoden ingange, vnd ein thür der fürsichtikeit zu machen, uff das, so ich jn mich oder uß mir gange, durch den vnuͮersehenlichen güße schedlicher anfechtunge nit versincke. Amen. 25 Das Arche Noe-Gebet weist keinen expliziten Bezug zum Leben Jesu auf, obwohl es am Schluss einer Reihe von neun Gebeten am Anfang des Werks steht, die ein Fundament für die darauf folgende christologische Thematik bilden wird. Es war im ersten Satz von Gebet Nr. 1 zwar von der Geburt des Sohns im innertrinitarischen Prozess die Rede, aber es geht dann im weiteren Verlauf dieses ersten Teils des Zyklus vor allem um die Schöpfung der Welt, um die Schöpfung von Adam und Eva und um das Gebot Gottes, gegen das Adam und Eva verstoßen. Darauf folgen der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies, die Geschichte von Cain und Abel und die Buße, die der Mensch infolge des Sündenfalls zu leisten hat. Die Thematik ist durch den Bilderzyklus vorgegeben, der für diesen Teil des Gebetbuchs aus dem Speculum humanae salvationis übernommen ist. Daran schließt das Gebet über die Arche an, in dem der Wunsch ausgesprochen wird, Gott möge das Vorhaben ermöglichen, ein Gebäude der Tugenden im Menschen zu errichten, aber ohne einen Bezug zur Meditationsthematik oder zur Rolle des Sohns als Exemplar der Tugenden zu thematisieren. Im nächsten Gebet, Nr. 10, wendet sich die Beterin an Maria als die Wurzel Jesse: von dir ist ußgeschossen der eynige mynnigliche kyme, blüm vnd frücht gewachsen, Jhesus, vnser erloͤser (Nr. 10, Zeile 4-7, fol. 15v). Damit sind wir beim Hauptthema der Begerin-Gebete. 25 Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 22. Vgl. Palmer, „Allegory and Prayer“ (wie Anm. 8), mit einer detaillierten Diskussion dieses Gebets. <?page no="214"?> Bildung durch Gebet 213 Gebet Nr. 9 bietet eine Spezifizierung des geistlichen Erbauungsprogramms, das von einer Allegorie der Arche in Anlehnung an Genesis 6,14-16 ausgeht. Die Arche dient als eine Metapher für die Tugenden, die eine Art Matrix für die ausführlich formulierte Allegorie bildet, in welcher die glatt gehobelten Hölzer, die Kämmerlein, das Pech; die Höhe, die Breite und die Länge; das niedrige Fenster, die Tür und die Sintflut alle eine allegorische Auslegung erfahren. Diese liegt der Bitte zugrunde, Gott möge es dem Menschen ermöglichen, ein tugendhaftes Innenleben durch die Gelassenheit, die Beständigkeit und die Liebe zu Gott und dem Nachbarn in seinem Inneren aufzubauen. Er soll in der Erwerbung dieser Tugenden nach einem vielversprechenden Anfang und guten Fortschritten zur rechten Vollkommenheit aufsteigen: Es handelt sich somit um die dynamische Vorstellung einer prozesshaften inneren Entwicklung des Menschen, die sich von dem Modell, dem wir in den sonstigen Gebeten begegnen, deutlich unterscheidet. Das niedrige Fenster, eine Vorstellung, die auf einer mittelalterlichen Lesart der Genesisstelle basiert, 26 und die Tür in der Seite der Arche nehmen beide eine Sonderstellung in der allegorischen Auslegung ein. Das Fenster bezeichnet das andächtige Gebet, das den Zugang zu Gottes Gnade ermöglicht, ein Gedanke, welcher der Gesamtkonzeption des Gebetszyklus zugrunde liegt, denn nur durch Gottes Gnade vermag der Mensch, der sich die Tugendhaftigkeit des göttlichen Vorbilds zu eigen macht, die Tugenden, um die Gott ständig gebeten wird, zu erwerben. Die thür der fürsichtikeit , vielleicht am besten mit der ‚Tür der Behutsamkeit‘ zu übersetzen, führt die Vorstellung ein, dass der Mensch gerade auf dem Gipfel seines Erfolgs bei dem Versuch, sich Gott anzugleichen, der Sintflut schädlicher Anfechtungen ausgesetzt sei, die ihn stürzen könnten. Es handelt sich um den Zustand, so ich jn mich oder uß mir gange - wenn ich ‚in mich hinein- oder aus mir hinausgehe‘, einen ambivalenten Bewusstseinszustand, in dem das Aufsteigen zum Ziel mit dem Hinuntertauchen in das Innere des Menschen verbunden ist, vergleichbar der Vorstellung in mystischen Texten, dass man hinuntersteigen muss, um hinaufzukommen. Susanne Köbele spricht in diesem Kontext von der „Verschränkung zweier Bewegungsrichtungen“, die eine dynamische Einheit bilden. 27 Dass die Bildung des inneren Menschen als ein Entwicklungsprozess verstanden wird, ist bei den Begerin-Gebeten die Ausnahme. Es ist bei einem mittelalterlichen Text dieser Art zu bedenken, dass der Gesamtentwurf und die sprachliche Gestaltung wie in diesem Fall von einem Autor verantwortet sein können, das religiöse Gedankengut aber, das der Verfasser letztendlich aus schriftlichen Quellen übernommen hat, durchaus verschiedene Positionen vertreten kann, die im fertigen Text nicht vollkommen aneinander angeglichen werden müssen. Die Allegorese der Arche Noe hat einen bedeutenden Prätext an einer Stelle bei Hugo von St. Viktor, der die Arche als eine Allegorie der theologischen Tugenden deutet, die beim Errichten des Hauses der Tugenden im Inneren des Menschen vonnöten sind, damit dieser zu Christus auf seinem Thron im Himmel hinaufsteigen kann. 28 Das im Gebet Nr. 9 vertretene Modell religiöser Bildung, das in diesem Fall aus einer auf das 12. Jahr- 26 Hamburger und Palmer (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 22. Vgl. die Lesart ostium autem arcae pones ex latere deorsum: cenacula et tristega facies in ea (Gn 6,16). Unerklärt bleibt dennoch die Übertragung der niedrigen Position der Tür ( deorsum ) auf das im vorangehenden Satz genannte Fenster. 27 Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache , Tübingen / Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 91. 28 Hugo von St. Victor, De archa Noe , I.v; Hugonis de Sancto Victore De archa Noe. Libellus de formatione arche , hg. von Patricius Sicard, Turnhout 2001 (CCCM 176), S. 33 225-34 232 ( PL 176, Sp. 626). Vgl. die Diskussion dieser Stelle im Vergleich mit der Glossa ordinaria bei Palmer, „Allegory and Prayer“ (wie Anm. 8). <?page no="215"?> 214 Nigel F. Palmer hundert zurückgehenden exegetischen Tradition übernommen zu sein scheint, harmoniert trotz grundsätzlicher Unterschiede problemlos mit dem im Begerin-Gebetbuch überwiegenden conformatio -Gedanken. Auch hier handelt es sich um Bildung durch die Tugenden, obwohl der christologische Aspekt, dass man sich durch die Vergegenwärtigung des Lebens Jesu dem ‚glänzenden Spiegel und vollkommensten Exemplar aller Heiligkeit‘ anzugleichen hat, mit keinem Wort angedeutet wird. Auch hier wird religiöse Bildung als ein Prozess verstanden, der zwar im Inneren des Einzelnen stattfindet, aber nicht geübt oder gelernt werden kann, weil sie immer davon abhängig ist, dass die Erwerbung der Tugenden der Bittstellerin durch Gott ‚verliehen‘ wird. Es handelt sich also um ein Bildungskonzept, das sich grundsätzlich aus der Situation des Gebets ergibt. <?page no="216"?> Bildung durch Gebet 215 Wissenstransfer <?page no="218"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 217 Lieben lernen? Lehrhafte Vermittlung und ihre Problematisierung in Minnereden Sandra Linden Vorbemerkungen: Minne als Reflexionspunkt in der mittelalterlichen Literatur maht du minne mir tiuten? 1 - ‚Kannst Du mir Minne erklären? ‘ fragt die kleine Sigune in Wolframs Titurel ihren Freund Schionatulander und will auch gleich noch wissen, ob sie Minne vielleicht zusammen mit ihren Puppen aufbewahren kann oder ob sie eher scheu wie ein wilder Falke sei. Schionatulander, der, vielleicht durch seine Dienste als Liebesbote der Amphlise, im Gespräch der beiden Kinder als der Erfahrenere rangiert, zeichnet Minne als mächtige Jägerin, deren Schuss jedes Ziel unter Garantie erreicht. 2 Die Minnepersonifikation wird, da das von ihr besetzte Bildfeld der Jagd eingeführt und allgemein bekannt ist, zu einer Erkenntnis- und Erschließungsfigur, mit der sich die unwissenden Kinder in ihrer Neugier behelfen. Das Gespräch der beiden Kleinen zeugt nicht allein von kindlicher Naivität, sondern steht symptomatisch für einen breiteren Diskurs, der an der Wesensfrage nach der Minne seinen Ausgang nimmt und sich bis in einzelne lehrhafte Verhaltensanweisungen verzweigen kann. 3 Die Minne löst in literarischen Entwürfen des Mittelalters viel stärker als andere Emotionen bei den betroffenen Figuren oder Sprechern eine Reflexionsbewegung aus, d. h., die Erfahrung von Minne geht mit einem Wissenwollen über den eigenen Zustand und dem Wunsch nach rationaler Erschließung des Phänomens einher. Schon Walther fragt in reizvoller Verquickung von minnesängerischem und spruchdichterischem Gestus ja programmatisch, Saget mir ieman, waz ist minne? (L 69,1), 4 und deutet zugleich an, dass 1 Wolfram von Eschenbach, Titurel , hg., übersetzt und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin / New York 2002, Str. 64. Eine Analyse des Dialogs bietet Irmgard Gephart, „Textur der Minne. Liebesdiskurs und Leselust in Wolframs ‚Titurel‘“, in: ABäG 60 (2005), S. 89-128, hier S. 104-109; vgl. grundlegend auch Christian Kiening und Susanne Köbele, „Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs Titurel“, in: PBB 120 (1998), S. 234-265. 2 Wolfram von Eschenbach, Titurel (wie Anm. 1), Str. 65. 3 Zum Minnediskurs vgl. ebenso grundlegend wie materialreich Rüdiger Schnell, Causa amoris . Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur , Bern / München 1985 (Bibliotheca Germanica 27) und, auf lehrhafte Literatur und Wissenschaft fokussiert, die Beiträge von Alfred Karnein, Amor est passio. Untersuchungen zum nicht-höfischen Liebesdiskurs des Mittelalters , hg. von Friedrich Wolfzettel, Triest 1997 (Hesperides 4). 4 Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche , 14. Auflage, hg. von Christoph Cormeau, Berlin / New York 1996. <?page no="219"?> 218 Sandra Linden man mit dieser Frage keineswegs schnell an ein Ende kommt: weiz ich des ein teil, sô west ich es gerne mê (L 69,2). Eine stärker lehrhafte Ausformung erfährt die Frage nach der Minne, sobald das Wissen hierarchisch verteilt ist und z. B. im Roman ein Erzähler im Exkurs über allgemeine Minnefragen reflektiert oder sich auf der Figurenebene ein Minne-Lehrgespräch etwa in der Form des Eltern-Kind-Dialogs entfaltet. Wenn Lavinia in Veldekes Eneasroman 5 zunächst ausführlich ihren eigenen Zustand analysiert und ihre Mutter dann zu einer knapp 200 Verse langen, nur von kurzen Zwischenfragen unterbrochenen Erläuterung über die Natur der Minne ansetzt, ist das keineswegs eine vom Handlungsentwurf diktierte Notwendigkeit, sondern verweist auf ein textübergreifendes Interesse an einer lehrhaften Beschäftigung mit dem Thema Minne. 6 Im Minnesang formt sich vor allem im 13. Jahrhundert eine entsprechende Linie der Didaktisierung aus, 7 und so singt etwa Ulrich von Liechtenstein in einigen Liedern nicht mehr für eine einzelne Dame, sondern verallgemeinert das Minnelob, 8 baut Konrad von Würzburg über eine Schematisierung der Ich-Rolle die generalisierte Rede über die Minne zu einem eigenen Register des Sangs aus. 9 Minne wird definiert und erklärt, zeigt sich als ein zu erschließendes und vermittelbares Wissen, zugleich hält die höfische Literatur aber auch gerne bewusst, dass die radikale Minne eigentlich sämtliche rationalen Erklärungsversuche übersteigt. Eine Gattung, die sich besonders auf die Minnedidaktik konzentriert, ist die in Vorläufern ab dem 13. Jahrhundert belegte und im Spätmittelalter aufblühende Minnerede, die im Zentrum des Beitrags steht. Im Folgenden soll untersucht werden, wie Minnereden ein Lehren und Lernen im Bereich der Minne präsentieren, welche Formen lehrhafter Vermittlung sie anbieten, aber auch, welche Reibungspunkte sich aus einer Lehr- und Lernbarkeit der Minne in der literarischen Darstellung ergeben. Nach einigen allgemeinen Bemerkungen zu den gattungsgegebenen Möglichkeiten einer lehrhaften Rede über die Liebe in der Minnerede verengt sich der Blick vor allem auf die Gestaltung der Ich-Rolle, wobei am Beispiel der Minnelehre des Johann von Konstanz, der Minneburg und der Jagd Hadamars von Laber zu zeigen ist, mit welchen literarischen Möglichkeiten eine Lehrautorität des Ichs konstituiert, aber auch problematisiert wird. Ein kurzes Fazit lotet das Verhältnis der Aussagen ‚ich liebe‘ und ‚ich lehre‘ in der Vermittlungssituation aus. 5 Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar , hg. von Hans Fromm, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 77; Bibliothek des Mittelalters 4), 261,14-266,13 bzw. V. 9786-9985. 6 Dietrich Huschenbett, „Minne als Lehre. Zur Bedeutung der ‚Vorläufer‘ der Minnereden für die Literaturgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985 , hg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett und William H. Jackson, Tübingen 1987, S. 50-60, und Rüdiger Schnell, „Ovids Ars amatoria und die höfische Minnetheorie“, in: Euphorion 69 (1975), S. 132-159, haben vor allem dem späteren höfischen Roman eine Tendenz zur Minnedidaktik attestiert. 7 Vgl. Hugo Kuhn, Minnesangs Wende , 2., vermehrte Auflage, Tübingen 1967, und Franz Josef Worstbrock, „Lied VI des Wilden Alexander. Überlieferung, Interpretation und Literarhistorie“, in: PBB 118 (1996), S. 183-204. 8 Vgl. Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein , Tübingen / Basel 2004 (Bibliotheca Germanica 49), S. 316-322. 9 Vgl. Gert Hübner, Minnesang im 13 . Jahrhundert. Eine Einführung , Tübingen 2008 (narr studienbücher), Kap. 9, S. 132-138. <?page no="220"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 219 I. Minne als Lehre. Perspektiven einer Gattung Von Ingeborg Glier als „stärker pragmatisch-didaktische Variante der Minnedichtung“ 10 bezeichnet, nimmt die Minnerede literarische Ansätze einer lehrhaften Vermittlung des Minnethemas auf und macht sie zu ihrem Hauptgegenstand. Diese Feststellung bestätigt sich schon, wenn man die rund 600 Minnereden, die Brandis zuerst zusammengestellt hat 11 und die nun durch das Handbuch Minnereden besser verfügbar sind, 12 nur einmal in ihren Titeln durchsieht: Der Minne Lehre (B 354), Der Minne Regel (B 303 und 428), Rat der Frau Venus (B 212), Ratschläge für einen Zaghaften (B 421), Rat eines alten Mütterchens (B 207), Schule der Minne (B 433), Wahre und falsche Minne (B 404), Lehrgedicht von der Minne (B 519), Lehren an einen Jüngling (Z 80), Lehre für die Frauen (B 319 und 320) usw. Thema ist immer noch die ideale Minne als radikale Kraft, wie sie die höfische Literatur als Konzept entwickelt hat, doch wird sie in den Minnereden in der Form eines stärker lehrhaften Sprechens fortgeführt und so auf eine neue Diskussionsebene gestellt. Es zeigt sich das verstärkte Bemühen, ein verbindliches Sprechen über die Minne zu installieren; bestimmte Grundwerte der Minne werden in Variation immer wieder gedanklich umkreist, so dass sich die Poetik der Minnereden zentral über die Faktoren Wiederholung und Serialität erschließt. 13 Nicht das Auffinden eines neuen Wissens über die Minne ist Programm, sondern die Minnereden suchen Anschluss an bestehende literarische Traditionen und konservieren ein Wissen, das beim literarisch gebildeten Publikum allgemein bekannt war. Über die Intention und Funktion dieser Lehren, allegorischen Entwürfe und konkreten Verhaltensratschläge gehen die Meinungen der Forschung auseinander. 14 Doch nicht die vielstimmige Gattungsdiskussion der Minnereden soll hier weitergeführt werden, vielmehr lässt sich die der Minnerede oftmals vorgeworfene und dann hermeneutisch kunstvoll re- 10 Vgl. Ingeborg Glier, Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden , München 1971 (MTU 34), S. 16. 11 Vgl. Thilo Brandis, Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden, München 1968 (MTU 25). 12 Vgl. Jacob Klingner und Ludger Lieb, Handbuch Minnereden , mit Beiträgen von Iulia-Emilia Dorobanţu, Stefan Matter, Martin Muschick u. a., 2 Bde., Berlin / Boston 2013. 13 Vgl. Ludger Lieb, „Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede“, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 - 1450 . DFG-Symposion 2000 , hg. von Ursula Peters, Stuttgart / Weimar 2001 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 23), S. 506-528. 14 Die vor allem von Lieb und Strohschneider vertretene Kommunikationsthese zielt darauf, dass es gar nicht so sehr auf das Wissen über die Minne, sondern auf das richtige Sprechen über sie ankommt, vgl. Ludger Lieb und Peter Strohschneider, „Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs der spätmittelalterlichen Minnereden“, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne , hg. von Gert Melville und Peter von Moos, Köln u. a. 1998 (Norm und Struktur 10), S. 275-305, vor allem S. 304 f. Manfred Kern, „‚Parlando‘. Trivialisierte Bildlichkeit, transgressive Produktivität und europäischer Kontext der Minnerede (mit einem Exkurs zu Rosenplüt und Boccaccio)“, in: Triviale Minne. Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden , hg. von Ludger Lieb und Otto Neudeck, Berlin / New York 2006, S. 55-76, betont in Variation der Kommunikationsthese das lockere, gesellige Parlando über die Minne. Michael Waltenberger, „ Diß ist ein red als hundert . Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund “, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten , hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger, Berlin 2006 (Phil.Stud.u.Qu. 195), S. 248-274, wiederum hat herausgearbeitet, wie gerade die Konventionalität der Minnereden über Präsenzeffekte ein imaginatives Potential freisetzt. Susanne Uhl, Der Erzählraum als Reflexionsraum. Eine Untersuchung zur Minnelehre Johanns von Konstanz und weiteren mittelhochdeutschen Minnereden , Bern u. a. 2010 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 48) kalkuliert stärker mit einem „lusorischen, experimentierenden Umgang mit den verschiedensten Konstellationen der Minne“ (S. 45). <?page no="221"?> 220 Sandra Linden habilitierte Eintönigkeit zunächst ganz basal als Hinweis auf ein konstantes Lehrbemühen lesen. Es geht im Folgenden weniger um die Funktionalität der Lehre als um die grundlegende Feststellung, dass die Minnereden überhaupt Formen des lehrhaften Sprechens nutzen und diese mit bestimmten Anforderungen an das sprechende Ich einhergehen. Das lehrhafte Sprechen über die Minne wird in den Minnereden auf ganz unterschiedliche Weise geübt: Oft nimmt es die Form der Minneklage an, in anderen Fällen wendet sich das Ich mit einem Tugendkatalog an die Rezipienten, manchmal auch mit konkreten Verführungstipps, mitunter gibt auch die Dame dem Werber Verhaltensratschläge für eine erfolgreiche Werbung. Im Zentrum steht immer noch die Grundfrage ‚Was ist Minne? ‘, hinzu kommen Ratschläge über spezifische Verhaltensweisen in der Minneinteraktion. Nicht immer müssen die Lehrgespräche dabei ein besonderes Problembewusstsein für die Komplexität ihres Gegenstandes zeigen, sondern die Frage kann mitunter auch ganz pragmatisch beantwortet werden, wie die Minnerede B 338 zeigt, die im Liederbuch der Clara Hätzlerin notiert ist. 15 Brandis hat ihr den Titel Rechte Liebe gegeben, aber in der Handschrift trägt sie die passendere Überschrift Was die liebe sey . Das Ich trifft bei einem Spaziergang auf einige Damen, die ihn freundlich empfangen, eine Unterhaltung beginnen und schließlich auf die Liebe zu sprechen kommen: Zu letst da sprach der frawen ain: / Gesell, nun antwürt mir allain / Vnd sag mir, was die lieb ist (V. 31-33). Die Antwort folgt prompt (V. 37-40): Ich sprach: das will ich sagen, Die lieb fürt der sälden wagen, Lieb ist ain costlichs gůt 40 Lieb nymmer v̈bel tůt. Es folgt eine mehr als 100 Verse lange Definitionsreihe, an deren Ende das Ich zufrieden feststellt: Secht, fraw, hǎnd ir gefrǎgt / Von lieb, so hab ich eüch gesagt (V. 159 f.). Seine Frage, ob die Damen noch etwas ergänzen möchten, wird verneint, alle sind zufrieden und verabschieden sich, die Minnerede ist zu Ende. Doch was hier so glatt durchgespielt wird, ist in vielen anderen Minnereden mit weitaus mehr Aufwand realisiert, der sich zum einen aus einem höheren Bewusstsein für die Komplexität des Lehrgegenstands ergibt, aber auch mit der Involviertheit der Sprecherposition zusammenhängt. Ist das Ich, das über die Minne Auskunft geben soll, selbst von ihr betroffen, ist die lehrhafte Objektivierung verkompliziert. In der Minnerede Der Traum im Garten (B 251) 16 schläft das Ich im Nachdenken über sein persönliches Minneschicksal ein und begegnet im Traum seiner Dame, die Regeln für eine erfolgreiche Werbung formuliert. Verbindlichkeit von Lehre wird hier über eine Staffelung der Autorisierungsebenen aufgebaut: Die Lehre stammt nicht von der Dame, sondern das Ich imaginiert sie im Traum als ihre Rede. Trotzdem hält sich das Ich nach dem Aufwachen an die Regeln, als ob die Dame sie selbst gegeben hätte. Der Minnende kann die in der Traumebene gültige Autorisierung in die Realität übertragen, indem er der Dame von seinem Traum erzählt und diese die Lehre 15 Liederbuch der Clara Hätzlerin , hg. von Carl Haltaus, Quedlinburg / Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8), Nr. 73, S. 283-285. 16 Mittelhochdeutsche Minnereden I. Die Heidelberger Hss. 344 , 358 , 376 und 393 , hg. von Kurt Matthaei, 2., unveränderte Auflage, Dublin / Zürich 1967 (DTM 24), Nr. 4, S. 55-59. Vgl. Uhl (wie Anm. 14), S. 241-245. <?page no="222"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 221 nachträglich gutheißt, ihm mit einer Umarmung sogar den versprochenen Minnelohn für die Regelbefolgung gewährt. In einem weiteren Schritt verpflichtet sich das Ich, die Lehrsätze der Dame unter allen Minnenden zu verbreiten und empfiehlt sie schließlich auch dem Publikum als Verhaltensrichtlinien an. Das Ich nimmt gegenüber dem Rezipienten also erst ganz am Ende die Rolle des Lehrers ein, und doch ist es allein seine Minnelehre, die hier formuliert wird. Die kurze, nur 62 Verse umfassende Minnerede Das Wesen der Minne (B 284), 17 die in ihrem Hauptteil aus Minnedefinitionen besteht, zeigt in einer Vorrede, welche Anforderungen das lehrhafte Sprechen über die Minne an die Ich-Rolle stellt, indem verschiedene Motivationen für die gedankliche Auseinandersetzung mit der Minne kombiniert werden. Der Text setzt dreimal mit der Frage ‚Was ist Minne? ‘ an und begründet stets aufs Neue, warum sich das Ich damit beschäftigt (V. 5-7): 5 doch durch geselschafft ich begynn bruͤfen dich, werde mynn, uß dummen synn und swacher kunst. Ein kritisches, durch einen Bescheidenheitstopos nicht wesentlich eingeschränktes Prüfen und Erkunden der Minne steht auf dem Programm, mit dem Begriff geselschafft wird eine freundschaftliche Minnegeselligkeit, ein öffentliches Parlieren über die Minne anvisiert, wie die Forschung es als typisch für die Gattung benannt hat. 18 Direkt anschließend ergibt sich die Frage nach der Minne aber noch einmal anders, nämlich aus der Beobachtung anderer Minnekranker, die die Neugier des Ichs geweckt haben: mich wondert was mynn müg sin, / das sie dut mangem luͤstlich pin (V. 9 f.). Nicht das Ich, sondern andere Liebende werden hier als leidend beschrieben, der Sprecher will vielmehr in einer Art Ratgeberposition eine Phänomenologie der Minneleiden schreiben: von mynn ein teil wil ich schriben, / sagen was der mynnent mus liden (V. 15 f.). Im folgenden Vers wechselt die Darstellung in die Narration und bringt nun in einer dritten Anmoderation der Frage eine persönliche Minnebetroffenheit ins Spiel (V. 17-19): 17 ich schlieff einer nacht, und wachet das herze myn, von jamer leid ich gros pin, ich gund dencken was mynn wer. Dreimal stellt sich das Ich die Frage nach der Minne, und jedes Mal wird sie anders motiviert. Hinter jeder einzelnen Motivation steht, auch wenn die kurze Minnerede das nicht eigens ausführt, eine je eigene Sprecherhaltung: Das Ich will einerseits in einer Art geselliger Minnekommunikation sprechen, andererseits hilfreicher Ratgeber für andere Minneleidende sein und schließlich Aufschluss über die eigene persönliche Betroffenheit erhalten. Betroffenheit in der Minne und Lehrautorität über die Minne stehen in einem schwierigen Verhältnis zueinander und sind nur bedingt in einem Ich miteinander vereinbar. Nicht 17 Mittelhochdeutsche Minnereden II. Die Heidelberger Hss. 313 und 355 ; die Berliner Hs. ms. germ. fol. 922 , auf Grund der Vorarbeit von Wilhelm Brauns hg. von Gerhard Thiele, Berlin 1938 (DTM 41), Nr. 1, S. 1 f. 18 Vgl. z. B. Ludger Lieb und Otto Neudeck, „Zur Poetik und Kultur der Minnereden. Eine Einleitung“, in: Triviale Minne (wie Anm. 14), S. 1-17, hier S. 11. Eine alternative Lesart wäre es, das Substantiv geselschafft auf die freundschaftliche Verbundenheit und das Zusammensein mit der Minne zu beziehen. <?page no="223"?> 222 Sandra Linden umsonst sagt bereits Walther am Ende des eingangs zitierten Lieds: wê, waz rede ich ôrlôser und ougen âne? / swen die minne blendet, wie mac der gesehen? (L 69,22f). 19 Während sich eine grundsätzliche Sachkenntnis in Minnedingen harmonisch zu einem auf persönlicher Lebenserfahrung basierenden Lehranspruch fügt, scheint eine aktuelle Betroffenheit von der Minne, die dem Minneopfer sprichwörtlich den Verstand raubt, für eine Positionierung als Lehrer eher hinderlich. Wer selbst an der Minne leidet, taugt kaum als Arzt für andere, und der unerfüllte eigene Dienst lässt an der Qualität einer Lehre, die mit ihren Definitionen und Verhaltensratschlägen ja auch eine Machbarkeit und Beherrschbarkeit der Minne suggeriert, zweifeln. Wohl um diesem Problem der Ich-Darstellung zu entgehen, fahren die didaktischen Minnelieder des 13. Jahrhunderts das leidende sehnsuchtskranke Ich in seiner Ausgestaltung zurück, verteilt der Roman die Positionen von Lehrer und Schüler, Wissendem und Betroffenem wie im Mutter-Tochter-Gespräch des Eneasromans meist auf zwei Figuren. Und selbst das erzählende Ich, das in den Exkursen des höfischen Romans über die Minne räsoniert, wird nicht müde zu betonen, dass es sich entweder enttäuscht von der Minne abgewandt hat oder sie gar nicht oder nicht in vergleichbarem Ausmaß wie die Protagonisten persönlich erfahren hat. 20 Für viele Minnereden hingegen ist es geradezu konstitutiv, dass das Ich hier gleichzeitig eine aktuelle und radikale persönliche Betroffenheit berichtet und sich zur Lehrautorität aufschwingt, allgemeine Minnelehre und die Schilderung subjektiver Betroffenheit eng verzahnt sind. Dabei erfährt das Ich wenig deskriptive Ausgestaltung, ist es laut Glier eine Hohlform, 21 die dem Rezipienten als Projektionsfläche dient. Und dennoch ist die Ich-Rede ein elementarer Bestandteil der Gattung Minnerede, was sich schon allein aus der Grundform der Rede ergibt, aber auch für die erzählenden Minnereden gilt. Für die Ich-Rolle der Minnereden ist das Changieren von Lernendem und Lehrendem, von eigener Betroffenheit und objektiver Lehrautorität, von persönlicher und exemplarischer Rede charakteristisch und zugleich problematisch, wenn es um die Etablierung von Lehrautorität geht. Es gilt also zu fragen, welche literarischen Konsequenzen sich für die Rolle des liebenden Ichs ergeben, wenn sich das Minnethema dem Lehrhaften öffnet, und welche Verfahrensweisen die Minnereden entwickeln, um das Ich, das als Minneopfer ja eigentlich lernbedürftig und nicht lehrbefähigt ist, in eine Position der Lehrautorität zu erheben. 19 Strophenfolge nach der Edition von Cormeau (wie Anm. 4) nach *EF. Thomas Bein ( Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche , 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns, neu hg. von Thomas Bein, Berlin / Boston 2013), ediert Ton 44 in zwei Fassungen, nämlich nach EFO und nach C, wo die in EFO letzte Strophe am Anfang steht. 20 Vgl. z. B. Wolfram von Eschenbach, Parzival , nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8), 130,14-16 und 292,5-11, Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold , hg. von Walter Haug und Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug, 2 Bde., Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10 / 11), V. 12 187-12 195, sowie, besonders deutlich, Reinfried von Braunschweig , hg. von Karl Bartsch, Stuttgart 1871 (StLV 109), V. 12 814-12 819. 21 Vgl. Glier (wie Anm. 10), S. 395. <?page no="224"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 223 II. Von der Personifikation belehrt: Johanns von Konstanz Minnelehre (B 232) Die Minnelehre (B 232) 22 des Johann von Konstanz, die, um 1300 entstanden, zu den frühen Minnereden zählt, hat schon allein dadurch eine gewisse Prominenz, dass sie im Anhang der Weingartner Liederhandschrift überliefert ist. 23 Die gut 2500 Verse lange Minnerede ist zweigeteilt in ein allegorisches Traumgeschehen und einen Briefsteller, der als Minnewerbung an eine Dame ausgeführt ist. Die Briefe vermitteln weniger ein ethisch anspruchsvolles Konzept hoher Minne, sind vielmehr Instrumente einer gelehrten, rhetorisch elaborierten Verführungskunst. 24 Zum versierten Minnebriefschreiber wird das Ich erst durch das allegorische Arrangement der Traumszenerie, 25 wobei für die vorliegende Fragestellung die im Traum dargestellte Wissensvermittlung zwischen dem Ich und der personifizierten Minne bzw. ihrem Sohn Cupido interessant ist. Das Ich kündigt im Prolog eine schoͤne rede von minnen (V. 3) an und zielt mit seiner Lehre auf die erfolgreiche Liebeswerbung. Es verspricht einerseits eine lere (V. 6), andererseits aber auch einen Erlebnisbericht: ich welle iv vf gnade sagen / baiduͥ kuͥnden vnde clagen, / wie hie vor mir geschach (V. 43-45), d. h., wieder treffen der Anspruch auf Lehrautorität und persönliche Minnebetroffenheit aufeinander. Das Ich stellt sich dieselbe Frage wie Walther, do gedaht ich vil gerait, / waz diu minne moͤhti sin (V. 140 f.), aber es bekommt anders als dieser eine direkte und exklusive Antwort, indem Cupido und Frau Minne sich ihm im Traum mitteilen. Das Ich ist Kontaktfigur für das Publikum, steht zugleich aber im Austausch mit überirdischen Mächten, deren Wissenshorizont und Normen es vermittelt bekommt und wie eine Art Sprachrohr verkünden kann. Das Stilmittel der Personifikation ermöglicht es, dass die Lehren, die das Ich dem Rezipienten präsentiert, nicht als sein Eigenes ausgewiesen werden müssen, sondern als Selbstaussagen der personifizierten Minne automatisch mit höchster Autorität versehen werden. 26 Die Lehrautorität des Ichs ist zwar aufgebaut, sie 22 Die Minnelehre des Johann von Konstanz , nach der Weingartner Liederhandschrift hg. von Dietrich Huschenbett, Wiesbaden 2002. 23 Zur Überlieferung vgl. Stefan Matter, Reden von der Minne. Untersuchungen zu Spielformen literarischer Bildung zwischen verbaler und visueller Vergegenwärtigung anhand von Minnereden und Minnebildern des deutschsprachigen Mittelalters, Tübingen 2013 (Bibliotheca Germanica 59), S. 72-77, mit weiterer Literatur. 24 Die Kombination von volkssprachigem und klerikalem Minnediskurs in der Minnelehre untersuchen Jörn Bockmann und Judith Klinger, „Höfische Liebeskunst als Minnerhetorik: Die Konstanzer ‚Minnelehre‘“, in: Das Mittelalter 3 (1998), Heft 1, S. 107-126, und Susanne Köbele, „Die Kunst der Übertreibung. Hyperbolik und Ironie in spätmittelalterlichen Minnereden“, in: Triviale Minne (wie Anm. 14), S. 19-44, hier S. 24-26. Zur strukturellen Übergängigkeit der Erzählräume in der Minnelehre vgl. Susanne Brügel, „Minnereden als Reflexionsmedium. Zur narrativen Struktur der ‚Minnelehre‘ Johanns von Konstanz“, in: Triviale Minne (wie Anm. 14), S. 201-223. 25 Zur allegorischen Ausdeutung der Traumbilder vgl. Katharina Philipowski, „Der allegorische Traum als Ich-Erzählung oder die Ich-Erzählung als Traum-Allegorie: Minnelehre und Rosenroman“, in: Körper-Ästhetiken. Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip , hg. von Cornelia Logemann, Miriam Oesterreich und Julia Rüthemann, Bielefeld 2012, S. 241-271, zur Exklusivität und Objektivität des Traumwissens S. 247 f. 26 Personifikationen sind in literarischen Texten des Mittelalters ein beliebtes Instrument der Wissensvermittlung, entfalten aber neben und zusätzlich zu einer handlungsorientierenden Anweisung oftmals ein produktives Potential. Einen Überblick über die Leistungsfähigkeit und Beliebtheit der Stilfigur bietet Christian Kiening, „Personifikation. Begegnungen mit dem Fremd-Vertrauten in der mittelalterlichen Literatur“, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur , hg. von Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 347-387. Vgl. auch <?page no="225"?> 224 Sandra Linden gründet allerdings nicht in einer personalen Verantwortung für das Gelehrte, sondern in einer Vermittlerrolle, die dem Ich wohl eher zufällig als durch eine besondere persönliche Befähigung zukommt. In einer surrealen Traumwelt sieht das Ich in einem brennenden Blutsee den kleinen Cupido auf einer Säule sitzen, der nur darauf zu warten scheint, vom Ich befragt zu werden. Es entspinnt sich ein 350 Verse langes Frage-Antwort-Spiel, in dem sich Cupido mit merklichem Vergnügen zum Lehrer aufschwingt (V. 290-293): 290 daz kint smieran began, ez sprach: „nimt dich iht wunder an mir, dez frag besvnder, dez wil ich antwurten dir.“ Das Ich spielt das Spiel brav mit, fragt mit Flügeln, Lanze, Fackel, Blindheit, Nacktheit usw. die klassischen Attribute Amors bzw. Cupidos ab und erhält auch entsprechend ausführlich Antwort. Was zunächst wie eine einfache Auslagerung des Wissens auf eine unhinterfragbare Lehrinstanz anmutet, zeigt in der praktischen Umsetzung allerdings Reibungswiderstände bei der Ich-Gestaltung. Denn das Ich ist nicht nur in der Position des Belehrten, sondern hält im Dialog mit Cupido eigenes Wissen bewusst zurück, wie Susanne Uhl gezeigt hat. 27 An mehreren Stellen lässt der Autor in einer Art Übergängigkeit von Autor- und Erzähler- Ich andeutungsreich durchschimmern, dass das Ich keineswegs so ahnungslos ist, wie es behauptet: Von Cupido aufgefordert, liest es nicht nur die lateinische Bezeichnung auf dessen Krone ( cunctipotentis amoris filius , V. 260), sondern geht in der erläuternden Erklärung weit über eine reine Übersetzung hinaus (V. 261-270): daz spricht, als ich mich versinne, „diz kint ist ainer goͤttinne, der alliu herzen sint bekant vnd der dienent alliu lant 265 vnde diu mit ir gewalte betwinget iunge vnde alte vnd alle creatiure, gehiur vnd vngehiure, vnd aller hertzen sinne. 270 si ist genannt vro Minne.“ Auch in der folgenden Begegnung mit Frau Minne zeigt sich das Ich punktuell immer wieder als Wissender, wenn es z. B. beim Ausdeuten der Inschriften keineswegs nur Dinge nachspricht, die es angeblich von Cupido gelernt hat. Schließlich erhält das Ich sogar Einsicht in die eigene Betroffenheit, als es sich selbst in der Reihe der Minneleidenden auf dem Michael Cuntz und Jan Söffner, „Einige Betrachtungen zur Poetik der mittelalterlichen Personifikation“, in: Retorica: Ordnungen und Brüche. Beiträge des Tübinger Italianistentags , hg. von Rita Franceschini u. a., Tübingen 2006, S. 283-301. 27 Vgl. Uhl (wie Anm. 14), S. 168-174. <?page no="226"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 225 Wagen der Minne erblickt, 28 und so werden in dieser selbstreflexiven Volte die rationale Erschließung der Minne und das hilflose Ausgeliefertsein an sie noch einmal enggeführt. Während das Ich einen personalen Umgang mit Frau Minne pflegt, ist die Minne für die Dame weiterhin ein abstraktes Es, das sich ihrer Vorstellung entzieht, und so ist sie immer noch bei der Ausgangsfrage (V. 1793-1795): geselle, waz ist minnen? ich kan mich nuͥ ͥt versinnen 1795 ze rehte, wie ez ist getan. Das Ich nimmt nach der Begegnung im Traum eine zweifache Lehrposition ein, nämlich gegenüber dem Rezipienten und in der eigenen Minneinteraktion auch gegenüber der Dame. Sein exklusives Wissen über die Minne verleiht ihm auch in der persönlichen Begegnung mit der Geliebten eine überlegene Position: Ich sprach: „liebes muͥ ͥndel rot, / ich sag dir, wie ez ist getan. […]“ (V. 1802 f.). Über den Kunstgriff der Personifikation ergibt sich in Johanns Minnelehre die für viele Minnereden typische eigenwillige Konstruktion, dass ein von der Minne betroffenes hilfloses Ich in einer Anderwelt durch Personifikationen eine Art Initiierung erfährt und plötzlich als Wissender sprechen kann. Das Ich muss nicht etwa verschiedene im gesellschaftlichen Archiv vorhandene Wissenspositionen und Erfahrungswerte sammeln und gegeneinander abwägen, bis es zu einer gültigen Minnedefinition kommt, sondern in der Fiktion der erzählenden Minnereden kann durch die Setzung der überirdischen Personifikation Wissen direkt autorisiert und dem Ich einfach aus der Transzendenz als gültige Information in seine Lebenswelt vermittelt werden. Die Verantwortung des Ichs bei diesem Vermittlungsprozess wird darauf reduziert, die Personifikationen richtig zu befragen, ihre Antworten ordentlich zu memorieren und im Bericht korrekt an sein Publikum weiterzugeben. Die Lehrautorität des Ichs ist aufgebaut, sie gründet aber nicht in einer tieferen Einsicht in das Gelehrte, sondern in einer Vermittlerrolle. Und doch blitzt punktuell immer wieder eine eigenständige Wissenskompetenz des Ichs auf, wird das Handlungsmuster einer Belehrung durch die übermächtige Personifikation nicht ganz glatt ausgeführt. III. Von der Personifikation befragt: Die Minneburg (B 485) Zu einem grundlegenden formalen Prinzip erhoben, findet sich das schwierige Ineinander von lehrendem und liebendem Ich in der Minneburg (B 485), 29 einer Großform der Gattung Minnerede, die im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden ist 30 und nach knapp 5500 Versen als Fragment abbricht. Die Minneburg verfügt über zwei formal deutlich ge- 28 Vgl. V. 764-774: Do stv̊ nt an der dritten want: / alle die diu Minne / ie betwang ir sinne / vnd nach waren trostes ân / vnd ze trost hetten wan. / bi den selben stv̊ nt och ich / harte vntrostlich / an ainem ort an der want. / min hobet hůp ich mit der hant / vnderlainet riuweclich. / „der trostes ane“, suz hiez ich. 29 Die Minneburg , nach der Heidelberger Pergamenthandschrift [Cpg. 455] hg. von Hans Pyritz, Berlin 1950 (DTM 43). Die Forschungsliteratur zur Minneburg ist umfangreich, ich verweise hier lediglich auf die grundlegenden Arbeiten von Ralf Schlechtweg-Jahn, Minne und Metapher. Die ‚Minneburg‘ als höfischer Mikrokosmos , Trier 1992 (LIR 3), und Anja Sommer, Die Minneburg. Beiträge zu einer Funktionsgeschichte der Allegorie im späten Mittelalter. Mit der Erstedition der Prosafassung , Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Mikrokosmos 52). 30 Zur Datierung vgl. Glier (wie Anm. 10), S. 127. <?page no="227"?> 226 Sandra Linden trennte Darstellungsmodi: Während die materje den Lebenslauf der allegorischen Figur des Minnekindes beschreibt, der vom Ich beobachtend begleitet wird, bieten die underbinde , die die materje wiederholt für mehrere hundert Verse unterbrechen, reflektierende Erörterungen über das leidvolle persönliche Minneschicksal des erzählenden Ichs. In einem Minnegericht, in dem in einer durchsichtigen Identitätsverhüllung der Minnekasus des Ichs verhandelt wird, werden beide Darstellungsebenen schließlich vereint. Während die materje von einem gottgewollten Ordo ausgeht, in dem sich die Minne regelhaft erfüllt, befindet sich das Ich der underbinde in einem Minnedienst, in dem ihn die beharrliche Verweigerung der Dame verzweifeln lässt. Doch soll im Folgenden weniger das komplizierte Ineinander der beiden Aussageebenen zur Diskussion stehen, 31 sondern die Analyse konzentriert sich auf eine Passage der materje , die eine Wissensvermittlung darstellt, nämlich die Belehrung des Minnekindes im zweiten und dritten Kapitel. Das Minnekind wird unmittelbar nach seiner Geburt in die Fürsorge des beobachtenden Ichs übergeben, das mit der Kinderbetreuung schnell überfordert ist (V. 355-358): 355 Ich pflag dez kindes nach sußer art Bis daz ez gar vil fragend wart. Ich kund ez halbes niht vernemen Daz es mit fragen kunde beschremen. Hier stellt nicht das Ich die Frage nach der Minne, sondern das kleine Minnekind fragt selbst, wer es denn sei, d. h., die Personifikation erklärt sich einmal nicht selbst, sondern muss in einem Erziehungs- und Bildungsprozess über ihre eigene Natur belehrt werden, was dadurch motiviert wird, dass man ihr einen menschlichen Lebenslauf verleiht. Das Ich kann die Belehrung des Minnekindes jedoch nicht selbst leisten, sondern muss eine Lehrautorität von außen heranholen, die es nach längerer Suche in der Figur des Neptanaus in Alexandrien findet. Was sich dem Ich völlig verschließt, scheint dem gelehrten Neptanaus alltäglich verfügbares Wissen zu sein. Nach dem Minnekind befragt, sagt er lachend (V. 424-427): […] „ich weiz ez wol. 425 Alle tage ez in der werlt geschicht; 31 Annette Volfing, „Die ‚Minneburg‘: Texterzeugung als Geschlechtsverkehr“, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon, Berlin / New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 203-216, hat das Ineinander von materje und underbint entsprechend als Theorie und Praxis der Minne gedeutet und dann wieder auf das Verhältnis des gläsernen Mannes und der stählernen Frau rückprojiziert, die zusammen das Minnekind zeugen, von dem die materje allegorisch erzählt. Die Forschung hat diskutiert, ob man in einer solchen Konstruktion noch von einem identischen Ich-Erzähler ausgehen kann, der lediglich unterschiedliche Perspektiven einnimmt (vgl. Sommer [wie Anm. 29], die in ihrer Fokussierung auf das allegorische Erzählen vor allem auf das Ineinander von geistlicher und weltlicher Hermeneutik abhebt), oder ob man zwei oder mehr getrennte Erzählerpersonen ansetzen muss (vgl. Schlechtweg- Jahn [wie Anm. 29] und David F. Tinsley, „ Also ist mir vil tummen welffe in mines synnes throne. A Reassessment of Die Minneburg “, in: Euphorion 84 [1990], S. 59-74). Volfing, S. 204 f., sieht in Ergänzung zu Glier (wie Anm. 10), S. 429, in enzyklopädischer Weise eine Vielzahl einzelner Minnereden in der Minneburg vereint. Ein Ausschnitt aus dem zweiten underbint begegnet als eigenständige Minnerede im Liederbuch der Hätzlerin ( Wie ainer sein fräd wolt begraben ), vgl. dazu Matter (wie Anm. 23), S. 105-108. <?page no="228"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 227 Allein man ez doch merket niht Noch ez versint sich nieman gar.“ Das Ich prüft den Gelehrten nach Augenschein und ist zufrieden, da Neptanaus mit hoher Stirn, tiefliegenden Augen und langem grauen Bart über topische Attribute der Gelehrsamkeit verfügt. 32 Doch will sich dieser zusätzlich durch einen Vortrag über die sieben Künste für die Erziehung des Minnekindes qualifizieren und gibt dabei zu erkennen, dass er dem Ich ebenfalls gelehrtes Wissen und somit eine entsprechende Beurteilungskompetenz zutraut: Mich dunkt, du wist sin auch ein teile (V. 450). Doch das Ich wehrt mit auffälliger Vehemenz ab (V. 451-453): 451 Waz er mir sagt, solt ich daz sagen, Ich muͤst an sinnen gar verzagen. Ich kund ez niht halb fur gelegen. Schlechtweg-Jahn hat herausgearbeitet, dass Neptanaus Stellvertreter für den gelehrten Autor ist und dessen Meisterschaft bezeichnet. 33 Zum erzählenden Ich wird hier jedoch eine bewusste Differenz aufgebaut, es weist die Rolle des Wissenden, auch wenn sie ihm sowohl vom Minnekind als auch von Neptanaus suggestiv zugedacht wird, deutlich von sich. Es folgt ein langes Lehrgespräch zwischen Neptanaus und dem wissbegierigen Minnekind, und so entsteht ein breites Wissenskompendium der Minne, von dem auch das beobachtende Ich profitiert. 34 Das Wissen über die Minne wird anders als in der Konstanzer Minnelehre nicht aus einem transzendenten Raum durch die Personifikation an das Ich vermittelt, sondern der Personifikation von einem menschlichen Lehrer zugesprochen und dem Ich eher en passant über die Zeugenschaft beim Lehrgespräch zugänglich. Was die Minne nun tatsächlich ist, erfährt das Ich von Neptanaus, die Personifikation stößt den von Mensch zu Mensch laufenden Wissenstransfer nur an, d. h., die Autorität der Personifikation wird durch das Argument ihres kindlichen Alters zurückgenommen und durch eine innerweltliche Wissensinstanz ersetzt. Das für viele Minnereden typische Lehrgespräch zwischen dem erzählenden Ich und der Personifikation unterliegt hier einem reizvollen Rollentausch zwischen Lehrer und Schüler und wird, narratologisch betrachtet, durch die Einführung der Neptanaus-Figur aus der Ich-Perspektive gelöst und in eine Er-Erzählung übertragen. Durch diesen Ausbau der narrativen Szenerie wird das Ich in der heiklen Zusammenführung von Minnebetroffenheit und lehrhafter Vermittlung aus dem Fokus der Aufmerksamkeit herausgerückt: Es nimmt nicht wie in Johanns Minnelehre als Fragender am Lehrgespräch teil, sondern steht nur noch als Beobachter daneben. Die Konstanzer Minnelehre und die Minneburg antworten beide ausführlich und kompetent auf die Frage ‚Was ist Minne? ‘, in beiden Fällen wird die Lehrautorität jedoch bewusst aus dem Ich ausgelagert, d. h., die Autoren vermeiden es, das betroffene Ich in der Rolle des Lehrers zu zeigen, spielen zugleich aber andeutungsreich auf sein eigentliches Wissen an. 32 Vgl. V. 428-434: Mich wundert siner rede zwar. / Ich sach in an in minem muͤ t / Und vant sin visonomyen gut: / Sin heubt gro, sin augen tief, / Sin stirn hoh. sin sprache swief / Grop sitig uz dem munde her. / Einen langen grysen bart trug er. 33 Vgl. Schlechtweg-Jahn (wie Anm. 29), S. 95. 34 Entsprechend heißt es im Prolog zum dritten Buch, V. 708-710: Ditz buͤ chlin sagt an alle lug / Und auch an triegens mit wist / Waz minne sy oder waz sie ist . <?page no="229"?> 228 Sandra Linden IV. Vom Lernen zum Lehren. Prozessualität in der Jagd Hadamars von Laber (B 513) Ein drittes Beispiel, das die Rollenkombination von Liebendem und Lehrendem produktiv gestaltet, ist Hadamars von Laber Jagd (B 513). 35 Die Minnerede aus rund 600 Titurelstrophen, deren Anzahl und Reihenfolge in der Überlieferung stark variiert, 36 ist - etwa zeitgleich zur Minneburg - im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden. 37 Es handelt sich um eine breit ausgeführte Jagdallegorie mit dem liebenden Ich als Jäger, der Dame als Wild und den Tugenden und anderen Eigenschaften oder inneren Instanzen als mehr oder weniger hilfreichen Jagdhunden. Hadamars Jagd wird gerne als Beleg dafür herangezogen, dass die Minnereden zwar eine Lehrbarkeit der Minne suggerieren, letztlich aber auch wissen, dass sie damit einer Illusion nachhängen, denn der Jäger kommt trotz ordentlicher Regelbefolgung nicht ans Ziel, behält am Ende nur noch den Hund Harre, das Ausharren, als einzigen Jagdgehilfen übrig. 38 So formuliert die Jagd zwar eine Fülle von Minneregeln, demonstriert aber zugleich, wie wenig diese Regeln zum Ziel führen. Sie präsentiert zahlreiche Formen lehrhaften Sprechens, ist in der Gesamtanlage mit ihrem eher locker und assoziativ gestrickten Handlungsbogen aber nicht von einer klaren didaktischen Intention bestimmt. In der Jagd erwirbt das Ich sein Wissen über die Minne nicht per Indoktrination durch die Personifikation, sondern über einen zeitlich längeren, nicht immer kontinuierlichen Prozess, in dem es eigene Erfahrungen in der Jagd macht, die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Jagdhunde kennen lernt und zugleich mit anderen Figuren wie dem Forstmeister oder dem alten Jäger in einen lehrhaften Austausch über die Minne tritt. Trotz aller Diskontinuitäten des Textes lässt sich dabei eine Bewegung beobachten, in der sich das Ich vom Fragenden zum Ratgebenden entwickelt und die als Lernprozess bezeichnet werden soll. Am Anfang seiner Jagd erhält das Ich eine Einführung durch den Forstmeister, der nicht selbst von der Minne erfasst ist, sondern eher als objektiver Lehrer auftritt und dem Jagenden einige praktische Grundregeln an die Hand gibt. Der Forstmeister ist nicht weise, aber klug, 39 und das Ich, das schnell in der Minnejagd reüssieren will, zeigt sich als eifriger Schüler und fragt (Str. 35): 35 Hadamar’s von Laber Jagd und drei andere Minnegedichte seiner Zeit und Weise. Des Minners Klage, Der Minnenden Zwist und Versöhnung, Der Minne-Falkner, hg. von Johann Andreas Schmeller, Stuttgart 1850, Neudruck Stuttgart 1968. Zur Jagd vgl. grundlegend Ulrich Steckelberg, Hadamars von Laber ‚Jagd‘. Untersuchungen zu Überlieferung, Textstruktur und allegorischen Sinnbildungsverfahren, Tübingen 1998 (Hermaea 79), und Sonja Emmerling, Hadamar und seine Liebesdichtung ‚Die Jagd‘, Regensburg 2005 (Forum Mittelalter 2), mit weiterer Literatur. 36 Zum Strophenbestand in den jeweiligen Handschriften vgl. Steckelberg (wie Anm. 35), S. 349-351. Überlieferungsgeschichtlich interessant ist die Heidelberger Handschrift cpg 455 (He 15 ), die um 1400 entstanden ist und Jagd und Minneburg zusammen überliefert. 37 Zur zeitlichen Nähe zur Minneburg vgl. Glier (wie Anm. 10), S. 156-159; die Überlieferung setzt Mitte des 14. Jahrhunderts ein, vgl. die detaillierte Darstellung im Handbuch Minnereden (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 965 f. 38 Vgl. etwa Dietrich Schmidtke, „Die Jagd des Hadamar von Laber als melancholisches Kunstwerk“, in: Geist und Zeit. Wirkungen des Mittelalters in Literatur und Sprache . Festschrift für Roswitha Wisniewski zu ihrem 65 . Geburtstag , hg. von Carola L. Gottzmann und Herbert Kolb, Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 277-290. 39 Vgl. Str. 30: Einen forstmeister klůgen / fand ich an dem gesůche. / Er sprach ze mir durch fůgen. <?page no="230"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 229 35 Wie sol man rechte triuwe gerechtichlîch erkennen? Wâ ist nû lieb ân riuwe? Wâ ist der stæte bund ân allez trennen? Wie ist gebærde, wort und werk geschicket, wâ rechte lieb und stæte mit triuwen hât den rechten bund gestricket? Das Ich fragt nach dem Ziel seines Jagens, nach einer harmonischen Verbindung von rehter lieb , stæte und triuwe , doch es bekommt keine Antwort, was nicht nur an der mangelnden Kompetenz des Forstmeisters liegt, denn (Str. 36): 36 Dîn frâg sich hœher hœhet, du meinest daz insigel stæter minne, du frâgest hœher dann du macht gereichen. Doch sein Vorhaben scheint nicht völlig aussichtslos, die Fragen des Ichs sind nur falsch platziert: Far fürbaz, frâg die gůten (Str. 36), lautet der Ratschlag des Forstmeisters. In der weiteren Bewegung kommt das Ich immer wieder in Kontakt zu anderen Jägern, und so ist die Minnejagd explizit als kommunikativer Akt zwischen den jagenden Männern angelegt, die sich im Gespräch auf eine richtige Art des Jagens verständigen und so eine Gemeinschaft formen. 40 Das längste Lehrgespräch (Str. 118-312) führt das Ich mit einem alten Jäger, der auf ein langes Leben im Minnedienst zurückblickt und anders als der Forstmeister selbst über Minne-Jagderfahrung verfügt, aber auch noch nicht am Ziel ist. Er ist nicht nur klug, sondern aufgrund seiner Lebenserfahrung auch weise. 41 Das Ich fragt den Alten nach dem underscheid der minne (Str. 195) und bittet um eine genaue Erklärung und Verhaltensanweisung, die der Alte nach einigem Zögern auch gibt, wenn er rät, in der Minne stets auf dem Fundament der mâze zu bauen (Str. 198). Die letzten 200 Strophen des Textes lassen kein konkretes Handlungsgeschehen der Jagd mehr aufkommen, sondern bieten vor allem Reflexion. Zwar wird noch punktuell eine Jagdsituation angesprochen, doch werden die einzelnen Elemente nicht mehr zu einer konzisen Handlungsfolge verbunden. Mehr und mehr wird das Ich als aktiv Handelnder aus dem Minnedienst zurückgenommen: Es ist zwar immer noch von der Minne betroffen und kann sich, der Regel der triuwe folgend, nicht von seiner Dame lossagen, jagt aber nicht mehr aktiv, sondern verlegt sich vielmehr auf die gedankliche Auseinandersetzung mit der Jagd. Der Punkt, an dem das Ich die Rolle des Fragenden zurücklässt, ist im Text genau markiert (Str. 379): 379 Vor schricken manig frâge zaglîchen ich verswîge, ich wæne, ob ich ez wâge, daz man mir sage davon mir fröude sîge. 40 Vgl. Ralf Schlechtweg-Jahn, „Hadamars von Laber ‚Jagd‘ als serielle Literatur“, in: Triviale Minne (wie Anm. 14), S. 241-258, hier S. 249-251. 41 Vgl. Str. 181: Einen weideman vil grîse, / den fant ich bî der ferte, / der was ze iagen wîse. <?page no="231"?> 230 Sandra Linden Das Ich will nicht mehr weiterfragen, weil es befürchtet, dass es in den Antworten nur von der Unerreichbarkeit seines Ziels zu hören bekommt, die es aber auch selbst bereits realisiert hat: Ez ferret sich mir ferre darnâch mein herze ie sich hât gesenet (Str. 379). Das Ich verfällt nun aber nicht in Schweigen, sondern vollzieht einen gedanklichen Prozess der Verallgemeinerung und Abstraktion und formuliert in den folgenden Strophen generelle Verhaltensratschläge, wie man mit der Sehnsucht umgehen soll. Die Verallgemeinerung dient zunächst der Analyse der eigenen Situation, entfaltet zugleich aber eine Lehrfunktion gegenüber anderen Minnebetroffenen, auch gegenüber dem Rezipienten, und ist in seinem didaktischen Anspruch durch das verallgemeinernde Personalpronomen swer markiert (Str. 380-384, 386-390 usw.). Das handelnde Ich vom Beginn, das wild drauflos stürmt, aber nicht weiß, wie es eigentlich jagen soll, und versucht, dieses Wissen durch Fragen zu erlangen, ist ersetzt durch das wissende Ich, das zwar die Regeln kennt, aber nicht mehr aktiv jagt. Persönliche Minnebetroffenheit und Lehrautorität sind nun im Ich kombiniert, allerdings um den Preis der Handlungsfähigkeit und der narrativen Entfaltung. Auch die Zeit, die der Wissens- und Autoritätserwerb in Anspruch genommen hat, wirkt negativ auf die Fähigkeit zur aktiven Anwendung des Wissens: ein Alterungsprozess des Ichs ist im Hintergrund immer wieder angespielt. 42 Anders als in den Minnereden, die Lehrautorität über die Vermittlung einer Personifikation aufbauen, muss sich das Ich in der Jagd sein Wissen über die Minne und die damit verbundene Lehrbefähigung in einem Lernprozess stufenweise erarbeiten, macht eigene Erfahrungen, sammelt Wissen von anderen, gerät dabei auch auf so manchen Irrweg. Am Ende ist das Ich ein Kenner der Minnejagd, und dennoch verleiht der mangelnde eigene Minneerfolg, die andauernde Minnebetroffenheit der qualifizierten Lehre einen resignativen Unterton und schränkt so ihre handlungsanweisende Funktion ein. V. ‚Ich liebe‘ versus ‚Ich lehre‘ Die drei vorgestellten Beispieltexte gestalten ein minnebetroffenes Ich, das als Erzählinstanz der Minnerede gegenüber seinem Publikum zugleich eine lehrhafte Klärung der Minne anstrebt oder zumindest in einem lehrhaften Gestus spricht. Die Konstanzer Minnelehre löst die Kombination der Rollen von Liebendem und Lehrendem wie viele andere Minnereden, 43 indem das Ich in der Begegnung mit der Personifikation mit sanktioniertem Wissen versehen und auf diese Weise als Lehrautorität für das Publikum installiert wird. Trotzdem geht diese Auslagerung von Lehrautorität, wie gezeigt wurde, nicht glatt auf, ergeben sich Widersprüchlichkeiten in der Ich-Gestaltung. In der Minneburg ist die Legitimierung des Wissens verkompliziert, indem die Positionen von Lehrer und Belehrtem zwischen Mensch und Personifikation getauscht werden: Neptanaus belehrt das kleine unwissende Minnekind, das Ich ist aus der konkreten Situation der lehrhaften Vermittlung herausgenommen, partizipiert aber mittels Beobachtung. Die Jagd schließlich baut eine Lehrbefähigung des Ichs nicht über eine Autorisierung durch Personifikationen auf, sondern zeichnet einen komplizierten Prozess, in dem sich das Ich schrittweise durch eigene Erfahrungen und das 42 Vgl. z. B. Str. 532, 549 oder auch das vom alten Jäger in Str. 293-295 erwähnte abschreckende Beispiel des Herzogs Ludwig von Teck, der zu lange im Minnedienst verharrt. 43 Als Orientierung kann der mehr als fünf Spalten umfassende, in einzelne Personifikationen und Gruppen gegliederte Registereintrag „Personifikationen“ im Handbuch Minnereden (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 315-318, dienen. <?page no="232"?> Lehrhafte Vermittlung in Minnereden 231 Befragen anderer Figuren ein Wissen über die Minne erwirbt. Dieses Wissen befähigt das Ich zur Formulierung allgemeiner Verhaltensratschläge, zugleich wird es aber durch die Erfolglosigkeit des persönlichen Dienstes problematisiert. Im Ich der Minnereden wird einerseits die von der Minne betroffene Ich-Rede des höfischen Sangs weitergeführt und kultiviert, und in diesem Sinne spricht das Ich der Minnerede auch meist von einer aktuellen Leiderfahrung. Andererseits sind die Autoren der Minnereden an einer gewissen formalen Bearbeitung des Themas Minne in lehrhafter Form interessiert, öffnet sich die Gattung Aussagemustern des lehrhaften Sprechens, in denen das Ich als Wissensvermittler agiert: Das Ich liebt und leidet, wendet sich aber zugleich an ein Publikum, dem es nicht nur sein Minneleid klagen, sondern auch eine nützliche Lehre über die Minne anbieten will. Diese doppelte kommunikative Ausrichtung, das komplizierte Ineinander von ‚Ich liebe‘ und ‚Ich lehre‘, lässt sich in einer gedanklichen Annäherung vielleicht parallel zur Situationsspaltung zwischen dem minnenden und dem singenden Ich beschreiben, wie sie Rainer Warning für den Minnesang herausgearbeitet hat. 44 Die Situationsspaltung markiert die Spannung, die sich für die Ich-Darstellung im Sang aus der Gleichzeitigkeit von ‚ich liebe‘ und ‚ich singe‘ ergibt. Dabei tritt eine interne Sprechsituation in Opposition zu einer externen Rezeptionssituation, ist die Rede des Ichs zur Geliebten immer auch ein vor der Gesellschaft inszenierter Diskurs. Die im Lied formulierte Rede des Liebenden zur oder über die Dame ist innerhalb der Kommunikation zwischen Sänger und Hofgesellschaft inszeniert und durch diese überhaupt erst angeregt. In einer ganz ähnlichen kommunikativen Haltung, wie sie der hochmittelalterliche Minnesang eingeübt und breit etabliert hat, spricht das Ich der spätmittelalterlichen Minnereden gleichzeitig im Rekurs auf die eigene affektive Befindlichkeit als Liebender und in der Wendung ans Publikum als Lehrender. Um ein lehrhaftes Sprechen über die Minne attraktiv zu machen, installieren viele Minnereden nicht einfach eine überlegene und objektive Lehrinstanz, sondern machen die Lehre einem von der Minne betroffenen Ich verfügbar. Die schönen Klagen des Minnereden-Ichs sind Bestandteil einer lehrhaften Vermittlung vor Publikum, ganz ähnlich wie die Klagen des Minnesängers Bestandteil einer Kunstübung vor Publikum sind, und so führen die Minneredenautoren das ‚Ich liebe‘ und das ‚Ich lehre‘ manchmal mit bewussten Brüchen und Widerständen gegeneinander. Man könnte fragen, warum die Minnereden das ‚Ich liebe‘ überhaupt noch brauchen und nicht auf eine problemlosere Vermittlung der Lehre von der Minne verfallen, indem sie das Ich vom Minnezwang befreien und wie in der Minnerede Rechte Liebe (B 338) als objektiven Lehrer sprechen lassen. Es scheint so, dass gerade die persönliche Betroffenheit des liebenden Ichs, die die Minnereden als literarisches Muster aus der höfischen Literatur übernehmen und weiterschreiben, die Lehre mit einer besonderen Attraktivität versieht. Die affektive Komponente, die durch die unglückliche Liebe des Ichs in den Kasus eingebracht wird, bietet dabei weniger ein konkretes Identifikationspotential für den Rezi- 44 Vgl. Rainer Warning, „Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors“, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift Hugo Kuhn , hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120-159, vor allem S. 120. Dass das am Minnesang entwickelte Denkmodell der Situationsspaltung, bei dem Sprech- und Gebrauchssituation auseinandertreten, nicht auf die Gattung beschränkt ist, hat etwa Margreth Egidi, „Dissoziation und Status der Ich-Rolle in den Liedern Suchensinns“, in: Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung , hg. von Horst Brunner und Helmut Tervooren, Berlin 2000 ( ZfdPh, Sonderheft zu Band 119), S. 237-251, gezeigt, die über das Modell der Situationsspaltung verschiedene Rede-Ebenen in der Spruchdichtung Suchensinns differenziert. <?page no="233"?> 232 Sandra Linden pienten, sondern evoziert eher eine Sphäre des affektiven Mitfühlens und Mitleidens, die die Vermittlung der Lehrinhalte günstig beeinflussen soll, erstellt eine Gemengelage aus Affekt und Ratio, die didaktisch produktiv sein kann. Wie im Minnesang das Ineinander von ‚Ich liebe‘ und ‚Ich singe‘ poetisch wirksam wird, entstehen in den Minnereden aus einem ganz parallelen Miteinander von ‚Ich liebe‘ und ‚Ich lehre‘ Reibungspunkte in der Gestaltung des sprechenden Ichs, die literarische Energien freisetzen und in der Kombination aus affektiv-direkter Liebesklage und rational-distanzierter Minnelehre reizvolle poetische Konstellationen eröffnen. Was Walther noch als Unmöglichkeit ausweist, nämlich dass der von der Minne Geblendete klare Aussagen über seinen Betrachtungsgegenstand macht und zu einer validen Lehrinstanz für andere wird, versuchen die Minnereden in immer neuen Arrangements um das minnende Ich doch noch zu realisieren. Sie betreiben eine lehrhafte Vermittlung zur Frage ‚Was ist Minne? ‘, die vielleicht didaktisch nicht immer besonders effektiv, dafür aber literarisch besonders produktiv ist. <?page no="234"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 233 apenbar sus lere! Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ Franz-Josef Holznagel I. Hinführung Das ‚Rostocker Liederbuch‘ (RLB) ist in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden, vermutlich im Umkreis der Rostocker Universität. 1 Es tradiert trotz seines fragmentarischen Zustandes ein großes und ausdifferenziertes Ensemble von ca. 60 Texten und über 30 Melodien, die teilweise unikal überliefert sind, teilweise aber auch eine breite Parallelüberlieferung aufweisen. Dabei stehen Texte, die mit großer Wahrscheinlichkeit im niederdeutschen Raum entstanden sind, 2 neben hochdeutschen Stücken, die unterschiedlich stark 1 Die Texte aus dem ‚Rostocker Liederbuch‘ werden im Folgenden zitiert nach: Das Rostocker Liederbuch , nach den Fragmenten der Handschrift neu hg. von Friedrich Ranke und J[oseph] M. Müller- Blattau, Halle a. S. 1927 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse 4. Jahr, Heft 5), unveränderter Nachdruck mit Farbfaksimile unter dem Titel: Rostocker Liederbuch. Niederdeutsche Handschrift des 15 . Jahrhunderts aus dem Bestand der Universitätsbibliothek Rostock. Das Rostocker Liederbuch , nach den Fragmenten der Handschrift neu hg. von Friedrich Ranke und J[oseph] M. Müller-Blattau, Leipzig 1987 [= RMB]. - Die editio princeps hat Bruno Claussen vorgelegt. Sie ist im Ganzen durch RMB überholt; im Detail sind einzelne Lesungen und Konjekturen aber immer noch erwähnenswert: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478 , hg. von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder, Buchschmuck von Thuro Balzer, Rostock 1919. - Zur Handschrift vgl. u. a.: Kurt Heydeck, Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck , Wiesbaden 2001 (Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock 1), S. 128-132; Arne Holtorf, „Rostocker Liederbuch“, in: 2 VL , Bd. 8, Berlin / New York 1992, Sp. 253-257; Franz-Josef Holznagel, „Das ‚Rostocker Liederbuch‘ und seine neue kritische Edition. Unter Mitarbeit von Andreas Bieberstedt, Udo Kühne und Hartmut Möller“, in: Niederdeutsches Jahrbuch 133 (2010), S. 45-86; Walter Salmen, „Rostocker Liederbuch“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume , hg. von Ludwig Finscher, 2. neubearbeitete Auflage, 26 Bde. in zwei Teilen, Sachteil in neun Bänden, Personenteil in siebzehn Bänden, mit einem Register zum Sachteil und einem Register zum Personenteil, Kassel u. a. 1994-2008 [= 2 MGG ], hier: Sachteil, Bd. 8, 1998, S. 563 f. - Weiterführende Materialien zur Handschrift finden sich im ‚Digitalen Archiv zum Rostocker Liederbuch‘ (DARL): http: / / www.rostocker-liederbuch.de (Stand 2. 1. 2016). 2 Vgl. z. B. RLB 13, 30, 33, 37, 47, 50, 54, 55, die nach Ausweis der Reime nördlich der Benrather Linie entstanden sind. Ihr Sprachstand kann als konsequent mittelniederdeutsch beschrieben werden. Hinzu kommt eine Gruppe von Texten, die zwar grundsätzlich im Niederdeutschen entstanden sein dürfte, aber Interferenzerscheinungen mit dem Hochdeutschen aufweist. Zu dieser Gruppe zählen RLB 2-6, 10-12, 17 f., 23-27, 29, 32, 34 f., 44, 49, 52 f., 56-59. <?page no="235"?> 234 Franz-Josef Holznagel an das Niederdeutsche angeglichen worden sind; 3 überdies finden sich Lieder mit einer lateinisch-deutschen Sprachmischung 4 und schließlich rein Lateinisches. 5 Auch mit Blick auf die literarischen Darbietungsformen fällt die außerordentliche Buntheit der Sammlung auf. Der Schwerpunkt liegt (wie bei den meisten anderen Liederbüchern auch) auf den Texten, die in der Tradition des hoch- und spätmittelalterlichen Werbeliedes stehen; von den 60 Texten der Sammlung gehören allein 15 6 dieser Gruppe an. 7 Ein zweiter Akzent wird mit elf Texten gesetzt, die zu der Gruppe der ansonsten nicht sonderlich breit bezeugten contre textes gehören, die mit Umkehrungen oder Parodien vorgängiger Muster arbeiten, die in der Heftigkeit ihrer Absage an die Sublimation, in der Drastik der Darstellung des Sexuellen 8 oder im Spiel mit dem Ekel die Grenzen dessen, was in literarischen Diskursen des Hochmittelalters üblicherweise formuliert worden ist, weit überschreiten. Damit dürfte das ‚Rostocker Liederbuch‘ im Rahmen der weltlichen Liederbuchlyrik eine herausragende Position innehaben. 9 Mit insgesamt sechs Stücken sind überdies noch die gebrauchslyrischen Stücke (also Tanz- und Trinklieder sowie Witz- und Necklieder) gut vertreten. 10 Zum literarischen Profil der Sammlung gehört überdies noch ein Register mit informierenden und / oder belehrenden Texttypen, das (neben einigen geistlichen Stücken) 13 Nummern mit einer weltlichen Didaxe umfasst, die sich auf acht Lieder ( RLB 2, 3-5, 11, 24, 58, 60) sowie fünf unsangliche Stücke bzw. Textreihen ( RLB 12, 25, 29-31) verteilen. Es handelt sich dabei zum einen um Texte, die sich auf konkrete historische Ereignisse beziehen, und zum anderen um Stücke, die sich allgemeinen moraldidaktischen Fragen widmen. Diese 13 Nummern sollen im Folgenden genauer beleuchtet werden. 11 3 Nur schwach an das Niederdeutsche angeglichen wurden RLB 19-21. Bei den Stücken RLB 1, 7-9, 14 f., 22, 31, 36, 38, 45 f., 48 handelt es sich dagegen um hochdeutsche Texte mit deutlichem niederdeutschen Einschlag. 4 Vgl. die bilingualen Stücke RLB 28, 43 sowie die rein lateinischen Nummern RLB 16, 39-42, 51, 60. 5 Diese Äußerungen zum Sprachstand der Texte im ‚Rostocker Liederbuch‘ beruhen auf den grundlegenden Untersuchungen, die Doreen Brandt im Rahmen des DARL durchgeführt hat. Vgl. hierzu die ausführliche Dokumentation auf http: / / www.rostocker-liederbuch.de (wie Anm. 1), sowie Doreen Brandt, „ Nuwe mere und nige mere . Untersuchung zur hochdeutsch-niederdeutschen Sprachmischung im ‚Rostocker Liederbuch‘“, in: Niederdeutsches Jahrbuch 137 (2014), S. 59-79. 6 Vgl. RLB 1 / 38a, 7-8, 14, 17 f., 20, 22, 35, 43 [lat.-dt.], 44-46, 52 f. 7 Auffallend schwach ausgeprägt ist dagegen das in anderen Handschriften recht gut vertretene Register mit Stücken aus der Tradition des genre objectif , das im ‚Rostocker Liederbuch‘ lediglich von einem pastourellenartigen Text (RLB 16) sowie zwei Tageliedern (RLB 19 und 34) repräsentiert wird; darunter eine sprachlich und metrisch überarbeitete Version von Oswalds von Wolkenstein Lied Wach auff, mein hort (RLB 19). 8 Zur Darstellung des Erotischen und Pornographischen in den Liederbüchern vgl. u. a. Gaby Herchert, Acker mir mein bestes Feld. Untersuchungen zu erotischen Liederbuchliedern des späten Mittelalters, mit Wörterbuch und Textsammlung , Münster / New York 1995 (Internationale Hochschulschriften 201); Stefan Zeyen, … daz tet der liebe dorn. Erotische Metaphorik in der deutschsprachigen Lyrik des 12 .- 14 . Jahrhunderts , Essen 1996 (Item mediävistische Studien 5). 9 Es handelt sich genauer um sechs Schwanklieder (RLB 15, 24, 26, 33, 36, 49), ein Mal-mariée -Lied (RLB 21), zwei Absagelieder (RLB 23 und 56) sowie um zwei Lieder, die mit einer ausgesprochen direkten Sexualmetaphorik arbeiten (RLB 28 und 38). 10 Vgl. u. a. RLB 13, 37, 47 f., 51, 55. 11 Die Konzentration auf Texte mit einer weltlichen Thematik ist insofern gerechtfertigt, als diese ohne Zweifel im Zentrum des informierend-belehrenden Registers stehen. Eine weiterführende Untersuchung zu den didaktischen Texten des ‚Rostocker Liederbuchs‘ müsste freilich auch die geistlichen Texte einbeziehen. Es handelt sich dabei um zwei Lieder (das Weihnachtslied RLB 6 sowie die mittelniederdeutsche Variante des ‚Tischsegens‘ des Mönchs von Salzburg, RLB 9), ferner um eine Gruppe <?page no="236"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 235 Im Zentrum der nachfolgenden Darstellung stehen vor allem die Themen der Texte und ihre Zugehörigkeit zu vorgängigen literarischen Traditionen; gelegentlich erfolgt in den Fällen, wo es als notwendig erscheint, auch ein Nebenblick auf die sprachliche Gestalt der Stücke oder auf ihre metrische Form. 12 Die Ausführungen verfolgen dabei zwei Ziele: - Zum ersten soll im Kontext eines Bandes, der sich mit Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters beschäftigt, auf einige aufschlussreiche, aber kaum bekannte informierende und / oder didaktische Texte weltlichen Zuschnitts hingewiesen werden. - Zum zweiten analysiert der Beitrag Binnengliederungen innerhalb des informierendbelehrenden Registers, indem er sowohl die Gemeinsamkeiten wie die Divergenzen zwischen diesen 13 Texten beschreibt. II. Historisch-politische Lieder (RLB 3-5, 11, 58, 60) Die Lieder RLB 3-5 stammen aus der Feder eines ansonsten nicht bezeugten Verfassers namens Hinrick Sticker, 13 der sich am Schluss des Liedes Nr. 5 mittels einer Autorsignatur nennt ( RLB 5, V. 81). Sie verhandeln einen typisch spätmittelalterlichen Hegemonialkonflikt: 14 Otto der Jüngere (* 1439; † 8. 1. 1471) übernimmt 1464, im Alter von gerade einmal 25 Jahren, die Herrschaft über das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, und sofort nach seinem Regierungsantritt kommt es seitens einer Gruppe einflussreicher Adliger um die Herren von Bartensleben und von der Schulenburg zu einer Erhebung gegen ihn, die durch den Herzog von Mecklenburg unterstützt wird. 15 Offenbar will dieser Adelsbund die von mittellateinischen Mariencantiones (RLB 40-42) sowie um fünf lateinische prosaische Tropen, die zu der Nummer RLB 39 zusammengefasst worden sind, und schließlich um das Fragment einer mittelniederdeutschen Version der Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae (RLB 59). 12 Fragen der Melodiebildung müssen in diesem Beitrag weitgehend ausgeklammert werden. Eine genaue Analyse der Melodien wird im Rahmen der Neuedition des ‚Rostocker Liederbuchs‘ durch Hartmut Möller in Angriff genommen. 13 Vgl. Arne Holtorf, „Sticker, Hinrick“, in: 2 VL , Bd. 9, Berlin / New York 1995, Sp. 333 f. 14 Zu den historischen Hintergründen dieses Konfliktes vgl. besonders Heinrich Bünting, Braünschweigische vnd Lunebürgische Chronica: Darinnen man eigentlich nacheinander Beschrieben findet was lange fuͤ r vnd nach Christi Geburt in diesen Landen fuͤ r herrliche thaten geschehen, welche treffliche Keyser, Koͤ nige, Fuͤ rsten vnd Herrn, zu jeder zeit darin[n]en regieret, woher die fuͤ rnemesten Staͤ d, Jnsonderheit Braunschweig, Luͤ neburg, Goͤ ttingen, Hannober etc. Jre ankunfft vnd Namen haben, beneben angehengtem Chronico des Siffts Hildesheim, alles mit schoͤ nen Figuren, Brustbildern, vnd Wapen gezieret , Magdeburg: Paul Donat, 1596, Teil 2, fol. 34r; Heinrich Bünting und Johannes Letzner, Braunschweig-Luͤ neburgische Chronica Oder: Historische Beschreibung der Durchlauchtigsten Herzogen zu Braunschweig und Luͤ neburg, Wie dieselben anfaͤ ngliche aus den Fuͤ rstlichen Haͤ usern Este und Sachsen ihren Ursprung genommen, Was sie in diesen Landen fuͤ r Helden-Thaten verrichtet […] , Bd. 2: Des Braunschweigischen und Lüneburgischen Chronici II. Tomus, in sich haltend Das Mittle Haus Braunschweig-Lüneburg , Braunschweig 1722, S. 1324 f.; Wilhelm Havemann, Geschichte der Lande Braunschweig und Lüneburg für Schule und Haus , Lüneburg 1837, Bd. 1, S. 270; Johann Heinrich Steffens, Auszug aus der Geschichte des Durchlauchtigsten Gesammt-Hauses Braunschweig-Luͤ neburg, Nebst den noͤ tigsthen Stammtafeln , Zelle 1777, S. 393-395 (§ 148). 15 Dies ergibt sich aus zwei Indizien. Zum einen werden einige besonders brutale Gegner Ottos in RLB 5 durch ihren Schlachtruf als Mecklenburger charakterisiert: Mekelnborgh dat was or schreyg (V. 52). Zum anderen scheint es in RLB 3 eine versteckte Spitze gegen das Land oder den Herzog zu geben. In den Versen 29-32 wird erzählt, wie eine Kuh bei Dannenberg zur Elbe laufen musste und dabei tot blieb. Diese Stelle ist, wörtlich verstanden, mehr als rätselhaft; mit Blick auf die bekannte Tendenz, in historisch-politischen Lieder Wappentiere als Akteure auftreten zu lassen, könnte es sich um eine <?page no="237"?> 236 Franz-Josef Holznagel mutmaßliche Schwäche des jungen Landesherrn nutzen, um eigene Rechte auszuweiten; hinzu kommt eine Differenz im Herrschaftsstil: Während die Bundesherren sehr viel Wert auf Formen der höfischen Repräsentation legen, werden diese von dem an kirchlichen Reformideen interessierten Otto eher zurückgedrängt. 16 Über die Dauer und den Verlauf dieser Auseinandersetzung wird kaum etwas überliefert, sicher ist lediglich, dass Otto aus ihr als Gewinner hervorgeht. Die Lieder sind nicht zum selben Zeitpunkt entstanden, sondern reagieren jeweils auf die aktuelle Entwicklung des Konfliktes. 17 In Folge dessen unterscheiden sie sich in ihrem Aufbau und in ihren persuasiven Strategien, gleichwohl ist ihnen allen gemeinsam, dass sie sich als Rede eines parteiischen Sprechers präsentieren, der die berichteten Ereignisse aus der Sicht der siegreichen herzoglichen Partei bewertet. Diese Grundhaltung zeigt sich auf der einen Seite daran, dass die Bündnisherren heftig kritisiert werden. 18 Auf der anderen Seite wird sie am Lobpreis auf die Person Otto deutlich, der mit klassischen Mitteln der Panegyrik arbeitet. Hierzu gehört die Beschreibung der körperlichen Vorzüge Ottos genauso wie die mehrfach geäußerte Vorstellung von der religiösen Fundierung der Braunschweiger Herrschaft, die sich in der Gottgefälligkeit des jungen Herzogs und seines Handelns äußere. Der Fürstenpreis ist am deutlichsten in RLB 5 zu erkennen. Der Text kündigt mit V. 7 ein Lob auf Herzog Otto an, das dann in den nächsten Strophen (v. a. in V. 9-32) entfaltet wird. Der Ich- Sprecher streicht dabei zunächst die politischen Leistungen des Herzogs heraus (vor allem die Herstellung des gleichermaßen von Kaufleuten, Fuhrunternehmern, Stadtbürgern und Bauern geschätzten Landfriedens in den Versen 9-16). 19 Dann lobt er die beeindruckende äußere Erscheinung Ottos (V. 17-24), so dass der Herzog ganz nach dem adligen Idealbild der καλοκάγαθία beschrieben wird. 20 Ferner bescheinigt der Text dem Landesherrn die allgemeine Anerkennung durch seine Untertanen (V. 22-24); außerdem wird ihm aufgrund seiner Verdienste Gottes Beistand gewünscht (V. 27 f.) und die Ehrenkrone des Landes Lüneburg zugesprochen (V. 31 f.). 21 polemische Umdeutung des Mecklenburger Stiers zu einer unglücklichen Kuh handeln. Vgl. RLB 3, V. 29-32. 16 Vgl. Bünting und Letzner (wie Anm. 14), S. 1324 f.; Steffens (wie Anm. 14), S. 393 f. 17 In RLB 3 geht es vor allem um die Mobilmachung der herzoglichen Partei; der Text dürfte aus diesem Grund schon kurz nach dem Regierungsantritt Ottos, also noch im Herbst 1464, entstanden sein. RLB 4 beschreibt dagegen mit dem erfolgreichen Angriff des Herzogs auf die Wolfsburg, die Stammburg der Herren von Bartensleben, den entscheidenden Höhe- und Wendepunkt des Konfliktes im Winter 1464 / 1465 (v. a. RLB 4, V. 21-25). In RLB 5 wird dieser Sieg Ottos in V. 56-72 als bekannt vorausgesetzt. Da überdies in den Versen 73-80 die erbaren jungen man aufgefordert werden, den Frieden mit dem Landesherrn nicht (erneut) zu gefährden, scheint sich das Lied also auf das Ende des Streites zu beziehen. Unter der Vorgabe, dass es sich bei dem Natureingang in V. 1-8 nicht um eine reine Exordialtopik handelt, ließe sich das Lied genau auf das Frühjahr 1465 datieren. 18 In RLB 3 wird der Herr von Bartensleben als Kriegstreiber bezeichnet, der im Nachhinein die Schäden der Auseinandersetzung und den Tod von Gefolgsleuten bedauern muss (V. 21-28; vgl. dazu auch RLB 4, V. 26 f.). In RLB 5 werden alle Bundesherren für das Niederbrennen von Dörfern und die Zerstörung von Gebäuden verantwortlich gemacht (V. 41-56), in RLB 4 erscheinen sie überdies als unkluge Akteure, die ihren Gegner aufgrund seiner Jugend unterschätzen (vgl. V. 16-20). 19 Für das Verhältnis der Lieder untereinander signifikant ist, dass die Sicherung des Friedens mittels derselben idiomatischen Wendung ausgedrückt wird wie in RLB 3 f., nämlich mit der Formel syne strate reyne holden bzw. in vrede holden (RLB 3, V. 57; RLB 4, V. 41; RLB 5, V. 9). 20 Vgl. Jochen A. Bär, „Kalokagathie“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik , hg. von Gert Ueding, Tübingen 1992-2007 (Bd. 1-8) sowie Berlin / Boston 2009-2015 (Bd. 9-12), hier Bd. 4, 1998, Sp. 861-869. 21 Zur positiven Würdigung des Herzogs Otto gehört in RLB 5 auch noch der Hinweis auf seinen militärischen Erfolg bei der Eroberung der Wolfsburg (in V. 57-72). <?page no="238"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 237 Typisch für die panegyrische Tendenz der drei Lieder ist überdies, dass der Herzog stets mit seinem positiv besetzen Wappentier, dem Braunschweiger Löwen, identifiziert wird, der sich u. a. durch große Tapferkeit ( RLB 3, V. 11), enorme Kampfeskraft ( RLB 3, V. 40-46; RLB 5, V. 61) und seine offene Art ( RLB 3, V. 48 f.) auszeichne. Auf der Grundlage einer metonymischen Verschiebung vom Landesherrn auf sein Gefolge können dann auch die Truppen des Herzogs als De lowen bezeichnet werden ( RLB 4, V. 11). Das Fürstenlob wird seinerseits wieder mit der Forderung an den Landesherrn verbunden, auch weiterhin ein gottgefälliges und tugendhaftes Regiment auszuüben ( RLB 3, V. 57-63; RLB 4, V. 51-58; RLB 5, V. 89-96), und schließlich wird Otto gemahnt, seine Gefolgsleute, die ihn im Konflikt unterstützt haben (und das schließt den Verfasser der Lieder selbst mit ein! ) angemessen zu honorieren. Diese Verbindung von Herrscherpreis und Lohnforderung ist bereits im milte- Diskurs der Sangspruchdichtung sowie in den Heische-Strophen der Neidhart-Überlieferung und der historisch-politischen Lieder angelegt; 22 sie klingt vor allem am Ende von RLB 5 an. 23 Bei den drei Liedern des Hinrick Sticker handelt es sich also nicht allein um wertende Kommentare zu einem zeitgenössischen Ereignis. Vielmehr weisen diese auch noch Züge eines Fürstenspiegels auf. 24 Dies scheint mit Blick auf das jugendliche Alter Ottos von besonderer Bedeutung zu sein: Offenbar richten sich die Texte nicht nur an die Anhängerschaft des Herzogs, sondern auch an Otto selbst, 25 und für beide Adressaten sollen zentrale Herrschertugenden deutlich gemacht werden, zu denen neben der rechten religiösen Einstellung 26 auch der Mut und die Tatkraft des Fürsten gehören sowie sein Vermögen, den Rechtsfrieden zu garantieren, die Verkehrswege zu sichern und die Untertanen zu schützen. 22 Zur milte im Sangspruch vgl. Berenike Krause, Die ‚milte‘-Thematik in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung , Frankfurt a. M. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 9), zur Thematisierung der milte im Verhältnis von Lehensherr und Lehensmann vgl. ebd., S. 126-131. Zu den sog. Heischestrophen in der Neidhart-Überlieferung vgl. zuletzt Dorothee Lindemann, Studien zur Neidhart-Tradition. Untersuchungen zu den Liedern c 2 , 8 und 15 / 16 der Berliner Handschrift c (Edition und Kommentar), zum Spiegelraubmotiv und zu den Fürst-Friedrich-Liedern , Herne 2004, besonders S. 206-240. Zur hochdeutschen Tradition des politischen Liedes vgl. umfassend Karina Kellermann, Abschied vom ‚historischen Volkslied‘. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung ‚historisch-politische Ereignisdichtung‘ , Tübingen 2000 (Hermaea 90). Besonders aufschlussreich ist die Parallele zwischen RLB 5 und dem ersten Lied von Gilgenschein. Vgl. ebd., S. 271 f. - Ich bedanke mich herzlich bei Karina Kellermann für freundschaftlichen Rat und briefliche Auskünfte. 23 Hier findet sich zunächst in V. 81-84 die Verfasser-Signatur ( Hinrick Sticker synget to eren / dat beste dat he kan / hertich otten deme edelen heren / synen truwen guden man ). Dann wird Herzog Otto aufgefordert, doch die nicht zu vergessen, die ihm in der Not beigestanden haben. Dies bezieht sich zunächst ganz allgemein auf alle Parteigänger des Herzogs, im speziellen Fall aber auf den Verfasser des Liedes. 24 Zur Tradition der Fürstenspiegel vgl. (immer noch) die verdienstvolle Grundlagenarbeit von Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters , Stuttgart 1938, unveränderter Nachdruck Stuttgart 1952 (Monumenta Germaniae historica, Schriften 2) sowie Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters , ausgewählt, übersetzt und kommentiert, hg. von Hans Hubert Anton, Darmstadt 2006 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 45). 25 Diese Vermutung wird gestützt durch die häufige Adressierung des Herzogs. Vgl. RLB 3, V. 8-14, 50-54; RLB 4, V. 51-60; RLB 5, V. 25-32, 89-96. 26 Der Hinweis auf die Religiosität Ottos ist insofern nicht (nur) topisch, als sie auch in den Chroniken als ein charakteristisches Merkmal seiner Person erwähnt wird. Sie scheint auch für den Konflikt mit den Bundesherren nicht ganz ohne Belang gewesen zu sein. Vgl. die Quellen in Anm. 14. <?page no="239"?> 238 Franz-Josef Holznagel Umgekehrt wird dem recht agierenden Herzog dann auch die triwe der Gefolgsleute zugesichert, für die diese dann wiederum mit der hulde des Lehnsherrn rechnen dürfen. 27 Die Sprecherstilisierung, insbesondere die Behauptung seiner Augenzeugenschaft 28 sowie die häufigen Apostrophen an den Herzog, suggerieren, dass die drei Lieder in unmittelbarer zeitlicher wie räumlicher Nachbarschaft zu den berichteten Ereignissen entstanden sind. Dem entsprechen die markanten ostfälischen Merkmale der Schreibsprache: Hinrick Sticker wird seine Texte am Herzogshof geschrieben haben, von dort aus müssen sie, etwa über einen adligen jungen Herrn, der zum Studium geschickt wurde, in das Umfeld des Sammlerkreises geraten sein, der das ‚Rostocker Liederbuch‘ angelegt hat. Auf diese Weise sind aber nicht nur die Texte von Braunschweig an die Universität gelangt, sondern auch die eigenständigen und ausschließlich im ‚Rostocker Liederbuch‘ bezeugten Melodien. Auffällig ist nun dabei, dass diese Melodien mit sehr weit verbreiteten textmetrischen Mustern verbunden werden: RLB 4 steht in der Lindenschmidt-Strophe, 29 die auch das rhythmische Grundmuster für RLB 3 abgegeben hat, 30 RLB 5 verwendet dagegen die Heunenweise. 31 Dieser Befund deutet die Archive an, auf die Hinrick Sticker zurückgreifen konnte: Obwohl die Lieder in ihrer Thematik und auch hinsichtlich ihrer Schreibsprache lokalen, niederdeutschen Traditionen verpflichtet sind, verweist die Übernahme der beiden Strophenbaupläne auf einen Kontakt zur oberdeutschen Liedkultur, der, wie noch an anderen Beispielen zu zeigen sein wird, geradezu typisch ist für viele Stücke des ‚Rostocker Liederbuchs‘. Die Lieder RLB 3-5 zielen also auf das Beispiel einer positiven und gelungenen Herrschaft, im Unterschied dazu bezieht sich das lateinische Stück RLB 60 auf einen spektakulären Fall des politischen Scheiterns. 32 Es greift als Kulturimport eine international 27 Von daher sind die Lieder des Hinrick Sticker nicht nur mit der Tradition der historisch-politischen Lieder zu vergleichen, sondern genauso gut mit den religiös fundierten Fürstenpreisliedern des Frühmittelalters wie dem Ludwigslied oder mit De Heinrico . 28 Vgl. RLB 3: De vns utgesungen hat / dessen nuwen sangh, / de was dar ouer vro vnd spad (V. 64-66). Vgl. überdies RLB 5, V. 33-40. 29 Der Lindenschmidt-Ton ist bereits in den Carmina Burana bezeugt; er avanciert dann im Spätmittelalter zu einer der prominentesten Strophenstrukturen überhaupt, besonders oft wird er jedoch in historisch-politischen Liedern und in Schwankballaden (z. B. auch in RLB 15) verwendet. Diese Konvergenzen zwischen Texttypen und Strophenstruktur werden im ‚Rostocker Liederbuch‘ bestätigt. Zu dem Ton vgl. Horst J. Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen , 2., durchgesehene Auflage, Tübingen / Basel 1993 (UTB 1732), Nr. 5.6, S. 384-388, sowie Burghart Wachinger, „Lindenschmidt“, in: 2 VL , Bd. 5, Berlin / New York 1985, Sp. 840 f. 30 Die Strophe von RLB 3 besitzt die folgende Struktur: (A)3wa; (A)4mb; (A)3wa; (A)4mb; (A)4mc; (A)3wx; (A)4mc. Die letzten drei Verse stimmen mit dem Lindenschmidt-Ton überein, und die ersten vier Verse lassen sich unschwer als Amplifikation des Verspaares interpretieren, mit dem der Lindenschmidt beginnt. 31 Die Heunenweise wird zunächst im Kontext historisch-politischer Lieder genutzt. Daneben ist sie in der Überlieferung später heldenepischer Texte oder der langen spätmittelalterlichen Erzähllieder in der Art des Grafen von Rom belegt. Zum Ton vgl. Frank (wie Anm. 29), Nr. 8.7, S. 573-579. 32 Die nachfolgenden Ausführungen konnten den Kommentar zu RLB 60 nutzen, den Hartmut Möller und Udo Kühne für die Neuedition des ‚Rostocker Liederbuchs‘ erarbeitet haben. Udo Kühne hat insbesondere die Übersetzung des Textes beigesteuert (wo auf diese verwiesen wird, ist dies durch einen entsprechenden Hinweis vermerkt); außerdem hat er für seinen Kommentar die einschlägige Vitry- Forschung ausgewertet. Die Bemerkungen zur Musik basieren auf den genauen Untersuchungen von Hartmut Möller. Den beiden Kollegen sei an dieser Stelle ausdrücklich für die jederzeit gewährte, freundliche Unterstützung gedankt. <?page no="240"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 239 verbreitete Motette des französischen Komponisten Philippe de Vitry (1291-1361) auf, 33 die sich aus drei Stimmen zusammensetzt: dem Triplum (mit dem Incipit Tribum que non abhorruit ) in der Unterstimme, dem Motetus (mit dem Incipit Quoniam sectam ) in der Mittelstimme und dem Tenor (mit dem Incipit Merito ) in der Oberstimme. 34 RLB 60 übernimmt diesen Liedsatz aber nur in einer reduzierten und deutlich veränderten Variante: Text und Melodien des Triplum fehlen, die Melodie und der Text der Mittelstimme Quoniam sectam werden in die Unterstimme gesetzt; außerdem findet sich in RLB 60 eine neue Oberstimme. Die Melodie dazu entpuppt sich als eine in Einzelnoten aufgelöste Version des ursprünglichen Tenors; sie wird aber mit einem Text unterlegt, der nur im ‚Rostocker Liederbuch‘ überliefert ist (mit dem Incipit Dixit ). Wann die neue Melodie der Oberstimme und der dazu kombinierte Text entstanden sind und wie sie ins Liederbuch gelangten, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Möglicherweise sind sie erst im Umkreis der Rostocker Sammler verfasst worden. Das thematische Zentrum des Stücks wird (in der ursprünglichen Fassung wie in der Version des ‚Rostocker Liederbuchs‘) durch den Text Quoniam sectam markiert. Er bezieht sich in verschlüsselter Form auf das bittere Ende des Enguerran de Marigny, der lange Jahre Kammerherr und Berater des französischen Königs Philippe IV. war, aber nur wenige Monate nach dem Tode seines Förderers in Ungnade fiel und am 30. März 1315 hingerichtet wurde. 35 Der Text kleidet die Darstellung vom Sturz dieses einflussreichen Hofbeamten in das Gewand der Fabel und der Roman de Renart -Tradition. Erzählt wird, dass der Fuchs zu der Zeit, als der Löwe blind geworden sei, Hühner gerissen habe und aufgrund seines eigenen Verschuldens zu Tode kam. Ein krähender Hahn kommentiert dies dann mit einer Sentenz aus dem 4. Buch von Ovids Epistulae ex Ponto , in der es um die Unbeständigkeit der Macht geht. Dabei können die Tiere verhältnismäßig einfach decodiert werden. Während der literarisch belesene Hahn über die bekannte Vogelmetaphorik leicht als eine Metonymie für den Textdichter und Komponisten Philippe de Vitry verstanden werden kann, verweisen die anderen Tiere auf die politischen Akteure kurz vor oder nach dem Tode Philippes IV .: Der Fuchs ( vulpes ), der die Hühner gerissen hat, steht für Enguerran de Marigny, die gallos für die Franzosen, der blind gewordene leo für den geschwächten König. 36 33 Zu Philippe de Vitry vgl. zusammenfassend Karl Kügle, „Vitry, Phillipe de, Phillippes de Vitri, Phillipus de Vitriaco, Vittriaco, Philippus Victriensis, Vittry“, in: 2 MGG (wie Anm. 1), Personenteil, Bd. 17, 2007, Sp. 58-67. 34 Vgl. Philippe de Vitry. Complete Works. With a New Introduction and Notes on Performance Specially Written for This Edition by Edward H. Roesner , hg. von Leo Schrade, Monaco 1984, S. 6-8. 35 Zu Enguerran vgl. Jean Favier, Un conseiller de Philippe le Bel: Enguerran de Marigny , Paris 1963 (Société de l’École des Chartes. Mémoires et documents 16); ders., Un roi de marbre. Philippe le Bel, Enguerran de Marigny , Paris 2005 (Les indispensables de l’histoire); Dorothy W. Gillerman, Enguerran de Marigny and the Church of Notre-Dame at Ecouis. Art and Patronage in the Reign of Philip the Fair , University Park, Pa. 1994; Friedrich Merzbacher, „Enguerrand de Marigny, Minister Philipps des Schönen von Frankreich“, in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung , hg. von Clemens Bauer, Laetitia Boehm und Max Müller, Freiburg i. Br./ München 1965, S. 479-485. 36 Vgl. hierzu: Margaret Bent, „Polyphony of Texts and Music in the Fourteenth-Century Motet. Tribum que non abhorruit / Quoniam secta latronum / Merito hec patimur and Its ‚Quotations‘“, in: Hearing the Motet. Essays on the Motet of the Middle Ages and Renaissance , hg. von Dolores Pesce, New York / Oxford 1997, S. 82-103; Margaret Bent, „Fauvel and Marigny: Which Came First? “, in: Fauvel Studies. Allegory, Chronicle, Music, and Image in Paris, Bibliothèque Nationale de France, MS français 146 , hg. von Margaret Bent und Andrew Wathey, Oxford 1998, S. 35-52; Emma Dillon, Medieval Music-Making <?page no="241"?> 240 Franz-Josef Holznagel Ziel dieser wenig schmeichelnden Vergleiche ist eine ätzende Kritik am König und vor allem an dessen Berater. Diese wird besonders deutlich an dem sprichwörtlich gewordenen Ovid-Zitat, mit dem die Strophe abgeschlossen wird. Alles Menschliche hänge an einem dünnen Faden, verkündet dort der Hahn, und plötzlich stürze, was soeben noch stark gewesen sei: Omnia sunt hominum / tenui pendencia filo / Et subito casu / que valuere ruunt ( RLB 60, V. 19-22). 37 Angesichts des Umstandes, dass der Kammerherr durch den Strang zu Tode kam und dass sein Leichnam zwei Jahre lang am Galgen hängen gelassen wurde, bis seine Unschuld post mortem festgestellt werden konnte, wirken die Verse außerordentlich sarkastisch. 38 Mit diesem Schluss lässt die Vitry-Motette kaum noch eine Form von Didaxe mehr zu, die aus dem Text heraus ein Angebot an positiven Leitideen entwickelt, an denen sich künftiges Handeln orientieren könnte. Im Gegenteil: Der Hinweis auf den Sturz des Enguerran betont ja letztlich das blinde Walten des Schicksals, 39 dem mit rationaler Planung und mit der Orientierung am guten Beispiel eben nicht beizukommen ist. Zwar ist dem Text immer noch der implizite Rat abzugewinnen, angesichts ungerechter Herrschaft Gelassenheit zu wahren, weil eben jeder Mächtige einmal stürzen werde. Gleichwohl steht im Zentrum der Motette weniger die Vermittlung von handlungsleitenden Normen als vielmehr die and the ‚Roman de Fauvel‘ , Cambridge 2002 (New Perspectives in Music History and Criticism), besonders S. 22 f. und 219. 37 „Alles, was zu den Menschen gehört, hängt an einem dünnen Faden, / und durch einen plötzlichen Sturz fällt, was stark war.“ (Übersetzung: Udo Kühne). - Die Stelle muss im ‚Rostocker Liederbuch‘ aufgrund eines Blattbeschnittes über weite Strecken rekonstruiert werden. Die Lesung von Ranke und Müller-Blattau beruht in diesen beiden Versen weitgehend auf der Parallele zur französischen Tradition. Vgl. Philippe de Vitry, ed. Schrade (wie Anm. 34), S. 6-8. Hier ist die Anlehnung an Ovid evident, wie der Vergleich mit der entsprechenden Stelle aus den Epistulae ex Ponto , 4.3,35 f., zeigt: Omnia sunt hominum tenui pendentia filo, / et subito casu quae valuere, ruunt . Vgl. Ovid, Briefe aus der Verbannung. Lateinisch und deutsch , übertragen von Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, München / Zürich u. a. 4 2005 (Sammlung Tusculum), S. 482. Die beiden sentenzhaften Verse sind auch sonst im Mittelalter sehr weit verbreitet. Vgl. Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters , hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, begründet von Samuel Singer, hg. von Ricarda Liver, Bd. 3, S. 126 (unter dem Lemma „Faden“, 7-20). 38 In welchem Verhältnis diese Invektive zu dem nur im ‚Rostocker Liederbuch‘ bezeugten Text der neuen Oberstimme steht, ist schwer zu sagen. In dem enigmatischen Stück empört sich ein Ich-Sprecher voller Zorn darüber, dass er bei einer Reise (einer Kriegsfahrt? einem Kreuzzug? einer Pilgerreise? ) nicht dabei sein könne: Dixit, / dixit, / dixit iracundus homo / irreprehensibiliter: / nolo per[manere] domo. / Ad participandum iter / statim agitare volo, / suspectacionem nolo. [Es / sagte / mal ein Mann ganz zornig / - und man kann’s ihm nicht verdenken - : / „Ich will nicht zu Hause bleiben. / Bei der Reise dabei zu sein: / das will ich sogleich betreiben, / will darüber keinen Argwohn.“ / Es sagte … (Übersetzung: Udo Kühne)] Vgl. RLB 60, V. 1-8 (mit einer Ergänzung in V. 5 nach dem Apparat von RMB [wie Anm. 1]). Die Aussage ist viel zu allgemein, um sie auf eine bestimmte politische oder historische Konstellation beziehen zu können. Ein Zusammenhang zu dem Text über Enguerran besteht aber insofern, als es sich in beiden Fällen um die Darstellung eines Scheiterns oder einer Ausgrenzung handelt. 39 In der ursprünglichen Version der Motette behandelt denn auch der Text des Triplum konsequenterweise das Walten der Fortuna: Tribum que non abhorruit / indecenter ascendere / furibunda non metuit / Fortuna cito vertere / dum duci prefate tribus / in sempiternum speculum / parare palam omnibus / non pepercit patibulum. Vgl. Philippe de Vitry, ed. Schrade (wie Anm. 34), S. 6-8, hier S. 6 f. [Furious Fortune has not feared to bring down swiftly the tribe which did not shrink from ascending indecently, while for the leader of the foresaid tribe she has not refrained from preparing the gallows as an eternal mirror in the sight of everyone. Übersetzung: Magaret Bent, „Polyphony of Texts and Music in the Fourteenth-Century Motet“ (wie Anm. 36), S. 85 f.]. <?page no="242"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 241 Plausibilisierung einer parteiischen Sicht auf historische Ereignisse, die primär auf Polemik und Gegnerschelte abzielt. Dies verbindet den Liedsatz des Phillipe de Vitry mit den beiden niederdeutschen Liedern RLB 11 und 58. Als Autor des niederdeutschen Lied RLB 11 nennt sich ein ansonsten nicht weiter bezeugter Peter von Strazeborgh. Der Beiname deutet darauf hin, dass er aus der Stadt Strasburg in der Uckermark stammt, die heute zu Mecklenburg-Vorpommern gehört. 40 Der Text zeigt indes ostfälische Merkmale. Diese Divergenz zwischen der vermuteten Herkunft des Autors und der Schreibsprache der Lieder erklärt sich sehr wahrscheinlich daher, dass Peter von Strasburg in dem sozialen und geographischen Umkreis tätig war, wo auch das von ihm präsentierte Geschehen zu lokalisieren ist, nämlich in Braunschweig. Es geht in RLB 11 (wie schon in RLB 3-5) um ein Ereignis der Landesgeschichte Braunschweig-Lüneburgs, und zwar dieses Mal um den verhältnismäßig prominenten Brüderkrieg von 1431 (oder 1432). In diesem nutzt Herzog Heinrich die Abwesenheit seines Bruders Wilhelm dazu, die Macht an sich zu reißen. 41 Er erobert das Schloss Wolfenbüttel und vertreibt die dort lebende Gemahlin Wilhelms, Cäcilia von Brandenburg, und ihre beiden Söhne. Nach der Rückkehr Wilhelms kommt es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern, die erst nach einigen Monaten beendet werden können. Das Lied erzählt nun von einem entscheidenden Einzelmoment dieses Konfliktes, nämlich von der Vertreibung der Herzogin aus Wolfenbüttel und von dem sich anschließenden Versuch Wilhelms, sein Schloss wieder zu erobern. Der Text vertritt dabei eindeutig die Sicht Heinrichs. Dies erklärt zum einen, warum die erste Strophe den höhnischen Abschiedsgruß Heinrichs an die von ihm aus Wolfenbüttel hinauskomplimentierte Schwägerin genüsslich ausbreitet. Zum anderen ist aus diesem Grunde verständlich, dass die Belagerer extrem negativ bewertet und u. a. über einen Judas-Vergleich regelrecht dämonisiert werden, obwohl es sich ja bei ihrem Heerführer um den rechtmäßigen Eigentümer des Schlosses handelt. Der Text schließt mit der Nennung des Verfasser, Sängers und Tradanten, der sich zugleich den angesprochenen Herren und den Fürsten anempfiehlt, so dass hier eine ähnliche Kombination aus Verfassersignatur und Lohnheische vorliegt, wie sie auch in RLB 5 zu beobachten ist. Vergleicht man das Stück RLB 11 mit den Liedern des Hinrick Sticker, so lässt sich festhalten, dass es sich von diesen in zweierlei Hinsicht unterscheidet. Zum einen handelt es sich um ein reines Kampflied, das die Interessen einer bestimmten Partei unverhohlen vertritt. Von einer Didaktisierung des Geschehens, in der Weise, dass an dem Handeln der Akteure die Grundsätze einer politischen Moral abgelesen werden könnten, kann in diesem polemischen Text genauso wenig die Rede sein wie bei der lateinischen Motette RLB 60. Zum anderen schimmert eine andere politische Konstellation durch: Beziehen sich die Lieder RLB 3-5 auf einen ausschließlich inneradligen Konflikt zwischen dem Landesherrn und seinen Lehnsmännern, so sind in dem Bruderkrieg von 1431 / 1432 in ganz erheblichem Maße auch die Städte involviert. Das gilt insbesondere für die Stadt Braunschweig, die einen großen Anteil an Heinrichs Entschluss hatte, den Bruderzwist militärisch auszua- 40 Vgl. Arne Holtorf, „Peter von Straßburg II“, in: 2 VL , Bd. 7, Berlin / New York 1989, Sp. 456 f. - Um eine Verwechslung des uckermärkischen Strasburg mit dem elsässischen Straßburg zu vermeiden, die auch in Holtorfs Überlegungen zur Herkunft des Verfassers Verwirrung gestiftet hat (vgl. Sp. 457), sollte man diesen künftig als „Peter von Strasburg“ bezeichnen. 41 Vgl. Bünting (wie Anm. 14), fol. 119r. <?page no="243"?> 242 Franz-Josef Holznagel gieren, weil sie durch Wilhelm die Einschränkung ihrer Privilegien und ihrer städtischen Freiheiten befürchtete. 42 Spannungen zwischen den Herzögen und den mächtigen Hansestädten sind im 15. Jahrhundert typisch für die politische Situation im norddeutschen Raum, und von daher wäre es wenig verwunderlich, wenn sich auch RLB 58, das anonym überlieferte Lied vom Rostocker Braten, mit einem ähnlichen Interessensgegensatz beschäftigte. Dies ist in der Forschung auch ernsthaft erwogen worden, indes ist die Zielrichtung des Stücks nicht so recht klar. Die Hauptschwierigkeit liegt in dem Umstand, dass das Lied zwar auf die bekannte und bereits für das Mittelhochdeutsche bezeugte Redensart ‚den Braten riechen‘ abzielt, 43 dass jedoch dasjenige, wofür dieser ‚Braten‘ stehen soll, teils wegen überlieferungsbedingter Textlücken, teils wegen eines eher enigmatischen Stils, nicht völlig sicher bestimmt werden kann. Man muss sich also vor allzu schnellen Festlegungen hüten. Gleichwohl lässt der Text bei aller Lückenhaftigkeit und Rätselhaftigkeit eine Reihe von Feststellungen zu, die dazu angetan sind, den historischen Ort dieses Liedes etwas genauer zu bestimmen. Klar ist zunächst einmal, dass in dem Lied etwas Unangenehmes verhandelt wird, etwas, das von aufmerksamen Menschen schon so zeitig bemerkt worden war, dass diese zumindest erahnen konnten, worauf jemand hinaus wollte. Die mehrfache Nennung Rostocks sichert überdies, dass der Braten, den man schon von Ferne riechen konnte, etwas mit der Hansestadt zu tun haben muss. Dem entspricht die eindeutig nordostniederdeutsch eingefärbte Schreibsprache. Ferner wird deutlich, dass es die papen sind, die diesen ‚Braten‘ bereiten (V. 5 f.) 44 und dass diese dafür aus der Sicht des Textes auf den Scheiterhaufen gehören (V. 7-9). Es geht demnach um etwas, das durch Kleriker initiiert worden ist und wofür diese auch bestraft werden sollten. Dann hält der Text fest, dass der ‚Braten‘ den Bürgern nicht schmecken will (V. 42): Evidenterweise ist das Ereignis, für das die Metapher steht, nicht im Sinne der Stadt. Die Aufforderung an die Rostocker, die Schlagbäume herunter zu lassen und die Stadttore zu verschließen (V. 45), lässt schließlich erkennen, dass das Geschehen, um das es hier geht, mit einem Angriff auf Rostock verbunden war. Gleichwohl fordert der nur noch fragmentarisch erhaltene Refrain die Städter auf, Mut zu fassen: Gy leuen rostker weset vro […] (V. 37). Offenbar sieht der unkonturierte Sprecher des Textes Grund zum Optimismus. Zusammenfassend lässt sich also formulieren, dass der Text im Rückgriff auf die Zentralmetapher vom Braten einen mit militärischen Mitteln ausagierten Konflikt beschreibt, der das Verhältnis zwischen der Rostocker Bürgerschaft und dem Klerus betrifft (oder von dort her seinen Ausgangspunkt erhält). Dabei bezieht er in polemischer Weise gegen die Geistlichkeit Stellung und fordert zugleich die Rostocker Bürgerschaft zur Gegenwehr auf. Friedrich Ranke und Joseph Müller-Blattau haben nun vorgeschlagen, den Text von RLB 58 auf die sog. Rostocker Domfehde (1479-1492) zu beziehen: Bei dieser handelt es sich um einen langjährigen, gewaltsamen Konflikt zwischen den Mecklenburger Herzögen und der 42 Aufgrund einer mechanischen Überlieferungslücke hat sich zu RLB 11 keine Melodie erhalten; der Strophenbauplan lässt sich wie RLB 3 als schlichte Kanzonenform verstehen. 43 Vgl. Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten , 5 Bde., Freiburg i. Br./ Basel / Wien 1991, unveränderter Nachdruck Freiburg i. Br./ Basel / Wien 1994, Bd. 1, S. 249; Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch , 3 Bde., Leipzig 1872-1878, Nachdruck mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Stuttgart 1992, hier Bd. 2, Sp. 1003; Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch , 16 Bde., Leipzig 1854-1960, hier Bd. 2, Sp. 309. 44 Namentlich ein Wilhelm, ein Petrus und ein Jehans (V. 10). <?page no="244"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 243 Hansestadt Rostock, der sich an dem Vorhaben Magnus’ II . entzündet, die Kirche St. Jacobi zum Domkollegiatsstift zu erheben, um auf Kosten der Hansestadt die für den Ausbau der Landesherrschaft notwendigen herzoglichen Klerikerjuristen zu alimentieren. Nach der gegen Willen der Stadt durchgesetzten Einrichtung des Stifts kommt es im Januar 1487 zu einem Aufstand der städtischen Bevölkerung und in Folge dessen zu einer Belagerung der Stadt durch die herzoglichen Truppen. Die Rostocker gehen jedoch zum Gegenangriff über, und im August dieses Jahres gelingt es ihnen sogar, die herzoglichen Truppen für eine Zeit zurückzudrängen. Gleichwohl muss die Hansestadt ihren Widerstand gegen das Domstift aufgeben, weil der wirtschaftliche Druck, den der Herzog ausübt, auf Dauer zu groß wird. 45 Ob RLB 58 tatsächlich die umstrittene Einrichtung des Domstifts und seine Folgen verhandelt, wird sich nicht mehr mit letzter Sicherheit sagen lassen, es ist jedoch nicht unwahrscheinlich. Schließlich ist die Domfehde zur Entstehungszeit des Liederbuchs der mit Abstand wichtigste Konflikt zwischen der Hansestadt und den papen ; außerdem lassen sich einige Details, die von dem ‚Braten‘ verraten werden, sehr gut auf die historischen Konstellationen des Jahre 1487 beziehen. Hierzu gehört u. a. der Hinweis darauf, dass der ‚Braten‘ zur Erntezeit gegart (V. 31) und in der Nähe von Warnemünde ‚auf den Spieß gesteckt‘ worden sei (V. 49 f.). Dies deckt sich mit den Angaben der Chroniken, dass die Mecklenburger Herzöge im Hochsommer 1487 Rostock belagert haben, um die Hansestadt im Streit um das Domstift zum Einlenken zu zwingen, und dass im Rahmen der Kampfhandlungen Warnemünde 46 verwüstet worden sei. Sollte sich der Text auf diese Ereignisse beziehen, würde auch die rätselhafte Aussage des Refrains, dass die Rostocker Anlass hätten, sich zu freuen ( Gy leuen rostker weset vro […] ; V. 37) erklärbar, geht doch die Hansestadt im August 1487 aktiv zum Angriff gegen die Belagerer über. Es gelingt ihnen, bei Pankelow, auf der Dorfstraße nach Güstrow, die herzoglichen Truppen zu schlagen und neue Waffenstillstandsverhandlungen zu erzwingen. 47 Wenn es im Verlaufe der Domfehde einen historischen Moment gegeben hat, der den Rostocker Grund zur Freude bot, dann sicher der Hochsommer 1487. Es spricht also einiges für die These von Ranke und Müller-Blattau, dass in RLB 58 die Rostocker Domfehde verhandelt wird. Anders verhält es sich mit der Deutung der Zentralmetapher: Ranke und Müller-Blattau beziehen den ‚Braten‘ auf den Januar-Aufstand des Jahres 1487. Ihrer Einschätzung nach ist der Text deshalb als eine Kritik an der Hansestadt zu lesen, die sich gegen ihren Landesherrn aufgelehnt hätte. 48 Dagegen lassen sich indes zwei Argumente beibringen. Zum einen ist auf die extrem kritische Haltung des 45 Zu den Hintergründen vgl. vor allem ‚Pfaffenkriege‘ im spätmittelalterlichen Hanseraum. Quellen und Studien zu Braunschweig, Osnabrück, Lüneburg und Rostock , Teil 1-2, hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller, Köln / Weimar 1988, hier Teil 1, S. 194-266, sowie Marko A. Pluns, Die Universität Rostock 1418 - 1563 . Eine Hochschule im Spannungsfeld zwischen Stadt, Landesherren und wendischen Hansestädten , Köln / Weimar / Wien 2007 (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte N. F. 58), S. 78-130 (jeweils mit weiterführender Literatur). 46 Vgl. ‚Pfaffenkriege‘ (wie Anm. 45), S. 177; Pluns (wie Anm. 45), S. 113. 47 Vgl. hierzu Die Reimchronik über die Rostocker Domhändel , hg. von E[rnst] Saß, in: Mecklenburgische Jahrbücher 45 (1880), S. 33-52, hier S. 48 f., sowie Hans Jürgen Daebeler, Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700 , Diss. Rostock 1966, S. 187 f. 48 Vgl. RMB (wie Anm. 1), S. 289 [97]: „Unter dem Bilde eines Bratens spricht der Dichter von einem Unheil […], das die Rostocker angerichtet haben“, sowie „[d]er Braten ist der Aufruhr vom 12. bis 14. Januar 1487, durch den die Rostocker Kleinbürger das von Rat und Universität mit den Herzögen von Mecklenburg und dem Bischof von Schwerin vereinbarte Fest der Domweihe störten, und der dem neuernannten Domprobst Thomas Rode das Leben kostete“ (ebd.). <?page no="245"?> 244 Franz-Josef Holznagel Liedes gegenüber den papen hinzuweisen. Der Text benennt ja keineswegs die Städter als Urheber des Konfliktes, sondern explizit die Geistlichkeit. 49 Zum anderen ist die Deutung von Ranke und Müller-Blattau nur zu halten, wenn man annimmt, dass der Begriff pape lediglich auf die niedere Geistlichkeit abziele, die sich mit den Städtern solidarisiert hätte. 50 Von solch einer Differenzierung zwischen hoher und niederer Geistlichkeit verrät das Lied jedoch nichts. 51 Die Probleme, welche die Deutung von Ranke und Müller-Blattau aufwirft, lösen sich, wenn man annimmt, dass mit dem ‚Braten‘ nicht die Bürgerrevolte, sondern die von der Stadt kritisierte Einrichtung des Domstiftes gemeint ist (und die damit verbundenen militärischen Versuche des Herzogs, seine Politik gegen den Willen der Hansestadt durchzusetzen). Dann ist es auch nicht nötig, anzunehmen, dass das Sprecher-Ich des Textes „auf seiten der Angreifer“ stehe und dass dementsprechend die „wohlgemeinten Ratschläge für die Rostocker sowie der nach jeder Strophe wiederkehrende Refrain gy leuen Rostker weset vro […] “ nur als Ironie 52 aufgefasst werden könnten. 53 Auf der Basis dieser Überlegungen zum historischen Hintergrund von RLB 58 lassen sich somit die folgenden Thesen formulieren: - Mit Ranke und Müller-Blattau kann festgehalten werden, dass sich das Lied wahrscheinlich auf die Rostocker Domfehde bezieht. - Unter dieser Vorgabe spricht vieles für die Deutung von Ranke und Müller-Blattau, dass der zweite Teil des Textes die Belagerung der Hansestadt im Sommer des Jahres 1487 im Auge habe. - Die These von Ranke und Müller-Blattau, der ‚Braten‘ verweise auf die städtische Revolte vom 14. Januar 1487, und die daraus abgeleitete Deutung, dass sich das Lied kritisch gegen die Interessen der Hansestadt wende, lassen sich hingegen mit den Textbefunden nicht vereinbaren. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Zentralmetapher auf die gegen die Stadt Rostock gerichtete Politik der Herzöge und ihrer Verbündeten gemünzt ist. - Dementsprechend muss die Beurteilung der Sprecher-Instanz revidiert werden: Das Text-Ich spricht aus der Sicht Rostocks und wendet sich in polemischer Weise gegen die herzogliche Partei (innerhalb und außerhalb der Stadt! ) und ihre Interessen. Aufschlussreich ist, dass auch RLB 58 am Schluss des Textes mit einer Referenz auf den Autor arbeitet. Der Sprecher tritt zunächst hinter das von ihm Erzählte zurück; am Ende des Liedes wird er jedoch durch die Ich-Nennung in V. 57 und durch die Schlussstrophe (V. 60-70) konturiert: Er wird als Verfasser des Liedes vorgestellt, außerdem benennen die Schlussverse einige seiner 49 Dies wird im Kommentar zu RLB 58 auch vermerkt. Vgl. RMB (wie Anm. 1), zum einen S. 289 [97]: „Gegen die Pfaffen ist der Dichter ganz besonders erbost: man sollte sie im sackleinenen Rock verbrennen“, und zum anderen ebd., S. 290 [98]: „Bedenklich könnte an dieser Deutung erscheinen, daß wir von einer Beteiligung von Geistlichen an dem Aufruhr nichts wissen“. 50 Vgl. ebd., S. 290 [98]: „daß bei einer Empörung gegen die bevorzugten reichen Domherren auch der niedere Klerus zum mindesten mitgemacht“ habe, verstünde sich fast von selbst. 51 Das schließt nicht aus, dass bei „der Zurüstung und Anrichtung des Bratens […] Bürger (16) beteiligt“ gewesen sein könnten (vgl. ebd., S. 289 [97]). Historisch gesehen hat es in der Stadt Rostock durchaus eine herzogsfreundliche Partei gegeben; möglicherweise wird diese in den enigmatischen Versen 16-25 angesprochen. 52 Vgl. ebd., S. 289 [97]. 53 Zweifel an der These, dass sich das Sprecher-Ich gegen die Stadt richte, äußert schon Daebeler (wie Anm. 47), S. 188 f. <?page no="246"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 245 Lebensumstände. Er ist offenbar zum Zeitpunkt der Abfassung des Liedes noch verhältnismäßig jung (mit ghelen, krusen haren , V. 64), er ist in der ganzen Stadt bekannt (V. 62), und bereits sein Vater hat sich als Musiker betätigt (er sang als Cantor oder als Geistlicher vor den Altären, V. 63). Des Weiteren wird vermerkt, dass er das Spiel von Blaswie von Saiteninstrumenten beherrscht (V. 68 f.). Folgt man der Konjektur von RMB zu V. 67 (S. 274 [82]: syne oghen [kunnen nic]ht rechte sien ) würde überdies herausgestrichen, dass er schlecht sieht (und womöglich sogar blind ist). Ob dies ein biographisches Detail ist oder lediglich mit dem bekannten Topos des blinden Sängers spielt, der dazu geeignet ist, die Dignität des Sprechers sowie die besondere Qualität seines Liedes und seiner Vortragsweise zu unterstreichen, muss hier offen bleiben. 54 Soweit der Überblick über die historisch-politischen Texte des ‚Rostocker Liederbuchs‘. Sie alle bezwecken über eine parteiisch gefilterte Darbietung von Informationen vor allem eine Verunglimpfung des politischen Gegners; dabei nehmen die Lieder des Hinrich Sticker jedoch eine Sonderstellung ein, weil sie darüber hinaus noch einen normativen Anspruch formulieren, der auf die Änderung oder die Stabilisierung des Verhaltens einer identifizierbaren Adressatengruppe zielt. Diese Anleitung zu konkretem Handeln verbindet sie mit der zweiten Textgruppe des informierend-didaktischen Registers, die im Folgenden charakterisiert werden soll. III. Moraldidaktische Stücke in Strophen und in Reimpaaren (RLB 2, 12, 24 f., 29-31) Im Zentrum dieser zweiten Gruppe stehen die Stücke RLB 2 und RLB 24, zwei moraldidaktische Lieder in Strophen. RLB 2 arbeitet mit einem unkonturierten Sprecher, der als Vertreter des common sense auftritt und sich dabei einer eher sentenzhaften und diskursiv-setzenden (und weniger einer erörternden) Sprechhaltung bedient. Gerichtet ist die Rede an die Gruppe junger Männer (vgl. V. 4), die im Hinblick auf einige typische Aspekte der spätmittelalterlichen Didaxe unterrichtet werden sollen, die sie selber dann öffentlich vertreten sollen ( apenbar sus lere , V. 28). Im Mittelpunkt steht die Warnung vor Zorn, wie er sich z. B. am voreiligen Ziehen des Schwertes (V. 1) bekundet, und vor Streitsucht ( mot striten , V. 25). Stattdessen redet der Text einem Verhalten das Wort, das sich durch Geduld (besonders V. 25), die Mäßigung der Affekte, die Orientierung an etablierten Werten der Erziehung (der tucht , V. 15) und der ere (ebd.) sowie durch Gottvertrauen auszeichnet (V. 13). Außerdem wird mit Blick auf die bekannte Fabel von Eiche und Rohr 55 eine Anpassung an die Verhältnisse empfohlen ( büch so en riß , V. 11). Des Weiteren prangert der Sprecher das Verhalten der nyder (V. 18, V. 26) an, die sich mit übler Nachrede ( achter klaffen , V. 21) einen Vorteil verschaffen wollen. RLB 2 endet dementsprechend mit einer topischen Verwünschung der Lasterzunge: got schende aller nider tünghen! (V. 30). 54 Zum Topos des blinden Sängers vgl. lediglich Paul Zumthor, Einführung in die mündliche Dichtung , Berlin 1990, besonders S. 195-197. - Daebeler (wie Anm. 47), S. 189 f., deutet die Stelle anders. Seiner Einschätzung nach bezieht sich der V. 67 darauf, dass es sich bei dem Sänger des Liedes um den Türmer Lucas Voß gehandelt habe, der am 8. Juni 1487 wegen mangelnder Achtsamkeit der Stadt verwiesen wurde. 55 Vgl. Gerd Dicke und Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen , München 1987 (MMS 60), Nr. 81, S. 87-90. <?page no="247"?> 246 Franz-Josef Holznagel Das Lied RLB 24 zielt ebenfalls auf eine Modellierung des Verhaltens, setzt indes andere Akzente. Es präsentiert einen Ich-Sprecher, der angesichts der von ihm beobachteten wechselhaften Zeitläufte ein Loblied auf den Optimismus anstimmt (vgl. v. a. den V. 6 sowie den Refrain) und selbst in schwierigen Situationen von einer Fixierung auf das handlungslähmende Klagen abrät (vgl. den u. a. in V. 7, 19 und 38 geäußerten Appell, die Sorgen, die Trauer, das Herzeleid zu lassen). Stattdessen empfiehlt er, den Blick nach vorne zu richten. Außerdem variiert das Ich mehrfach den gleichen Grundgedanken, nämlich dass gerade die (u. a. im Bilde des in V. 20 erwähnten Glücksrades 56 gefasste) Kontingenz des menschlichen Lebens eine Veränderung der Umstände zum Besseren hin ermögliche: Schließlich zeige die Erfahrung, dass das Wasser, wenn es weggeblieben sei, wieder zurück kommen könne (V. 30 f.) und dass auf das Bittere doch stets das Süße folge (V. 39). Aus dieser Einsicht in das Auf und Ab des Schicksals wird schließlich der Rat abgeleitet, im Unglück gelassen und ruhig zu bleiben (V. 51 f.) und sich im Zweifel auf seine Flexibilität und seine Geschicklichkeit ( ghevoch , V. 45) 57 zu verlassen. In texttypologischer Hinsicht stellen die beiden Lieder RLB 2 und 24 eine Besonderheit dar, werden doch moraldidaktische Fragen im Gattungssystem der deutschen Lyrik des Mittelalters in der Regel nicht in Liedform erörtert, sondern normalerweise im Medium des (tendenziell) einstrophigen Sangspruchs und seiner spätmittelalterlichen Weiterentwicklungen. Von diesen literarischen Traditionen unterscheiden sich aber die beiden hier zur Debatte stehenden Lieder sehr deutlich. Was die Differenz zum Sangspruch des 12. und 13. Jahrhunderts angeht, so lässt sich festhalten, dass dieser mit einer anderen Aussageform arbeitet: Während die Poetik des Sangspruchs, spätestens seit Walther von der Vogelweide, oftmals eine pointierte und auf den Rahmen der Einzelstrophe hin konzipierte Darstellungsweise nahe legt (und zwar auch dann, wenn Sangspruchstrophen im Nachhinein zu längeren Ketten zusammengestellt werden), zeigen die beiden Lieder RLB 2 und 24 ein eher kreisendes argumentatives Grundmuster, bei dem über eine größere Anzahl von Strophen hinweg eine lockere Abfolge von thematisch verwandten Aussagen um bestimmte inhaltliche Kernaussagen herum gruppiert wird. Was das Verhältnis zum meisterlichen Lied und zu den Baren der Meistersänger betrifft, so ist insbesondere auf die differenten Bauformen hinzuweisen. Der Sangspruch und der Meistergesang bevorzugen besonders die dreiteilige Kanzonenform und ihre Derivate; außerdem hat man es in dieser Traditionslinie sehr oft mit ausladenden Strophen zu tun, 56 Vgl. u. a. V. 20. 57 ghevoch = (ge)vôch : „Gebühr, Angemessenheit, Geschicklichkeit“. Vgl. Karl Schiller und August Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch , 6 Bde., Bremen 1875-1881, hier Bd. 2, S. 96 (unter dem Lemma gevôch ), sowie Dieter Möhn und Ingrid Schröder, Mittelniederdeutsches Handwörterbuch , begründet von Agathe Lasch und Conrad Borchling, hg. nach Gerhard Cordes und Annemarie Hübner von Dieter Möhn und Ingrid Schröder, Bd. 1 ff., Neumünster 1956 ff., hier Bd. 1, Sp. 757 (unter dem Lemma vôch ). Dem entspricht mittelhochdeutsch vuoge , vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch , mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller (Bd. 2 von Friedrich Müller und Friedrich Zarncke), 3 Bde. (Bd. 2 in 2 Teilen), Leipzig 1854-1866, Nachdruck mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf, 5 Bde., Stuttgart 1990, hier Bd. 3, S 439 f., sowie Lexer (wie Anm. 43), Bd. 3, Sp. 572. - Gemeint ist im Mittelniederwie im Mittelhochdeutschen das Vermögen, sich auch unter schwierigen Bedingungen situationsadäquat (nach ‚Fug und Recht‘) zu verhalten; neuhochdeutsche Übersetzungsäquivalente wären z. B. auch ‚Anpassungsfähigkeit‘ oder ‚Flexibilität‘. <?page no="248"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 247 die nicht selten zwölf und mehr Verse aufweisen. 58 Beide Merkmale treffen für RLB 2 und 24 nicht zu. Die Baupläne besitzen kaum Berührungspunkte mit der klassischen Kanzone: RLB 2 zeigt einen zweiteiligen Strophenplan, der auf der Wiederholung einer metrischmusikalischen Struktur von jeweils drei Versen beruht, und das vierteilige Lied RLB 24 lässt sich am besten als Erweiterung des vierzeiligen (halben) Hildebrands-Tons verstehen, der über eine Art Steg mit einem zweizeiligen Refrain verbunden wird. Außerdem ist der Umfang der Strophen mit 6 bzw. 8 Versen und durchschnittlich 3-4 Hebungen eher klein, kann jedenfalls mit den Schmuckformen des Sangspruchs, der meisterlichen Lieddichtung und des Meistergesangs nicht konkurrieren. 59 Es lässt sich demnach festhalten, dass in beiden moraldidaktischen Liedern eine aufschlussreiche Form-Inhaltskoppelung vorliegt, die eine nicht-stollige Strophenstruktur mit einer spruchartigen Thematik verbindet. Ein naheliegender Gedanke ist nun, dies mit der Entstehung der Lieder an der nördlichen Peripherie des literarischen Systems erklären zu wollen. Dazu will indes die Schreibsprache beider Texte nicht so recht passen. Im Falle von RLB 2 weist zwar Einzelnes in den nordniederdeutschen Bereich; auffällig sind jedoch die (durch den Reim gedeckten! ) hochdeutschen Formen mich (V. 14) und dich (V. 14) sowie der (ebenfalls im Reim stehende) Imperativ sich (ebd.). Eine ähnlicher Befund liegt in RLB 24 vor: Der Text enthält grundsätzlich westniederdeutsch-westfälische sowie nordniederdeutsche Varianten, besitzt aber zugleich eine Reihe hochdeutscher Merkmale. Bemerkenswert ist z. B. die (ausschließliche! ) Verwendung der Form hat (V. 6, 13, 30, 35) anstelle des niederdeutschen Äquivalents hefft , und auch die Form mir (in V. 6, 48) ist gewiss hochdeutsch. Diese Eigentümlichkeiten in der Schreibsprache könnten darauf hindeuten, dass auch diese beiden ungewöhnlichen Liedtöne aus dem süddeutschen Raum importiert wurden (oder wenigstens eine Anregung durch hochdeutsche Vorbilder erfuhren), 60 so dass sich (wenngleich aus anderen Gründen) eine ähnliche Kulturkontaktsituation abzeichnet wie in den Liedern RLB 3-5. Was die Strophenform und die Schreibsprache angeht, lassen sich also RLB 2 und 24 nur schwer einordnen; hinsichtlich der Sprechhaltung und der Inhalte ist die Sachlage hingegen ganz eindeutig, weil sich enge Verbindungen zur hoch- und spätmittelalterlichen Kurzgnomik nachweisen lassen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die Tradition der belehrenden Reimpaarsprüche zu verweisen, die u. a. unter den Namen Cato 61 oder 58 V.a. die Strophenformen in der meisterlichen Lieddichtung und im Meistergesang. Vgl. hierzu jetzt Horst Brunner, Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12 . bis 15 . Jahrhunderts , Wiesbaden 2013 (Imagines medii aevi 34). 59 In RLB 2 zeigt sich die Grundstruktur A-A’: Es werden die beiden Teile der Strophe (A = V. 1-3; A’ = V. 4-6) auf dieselbe Melodie gesungen; sie gliedern sich ihrerseits wieder in zwei durch Binnenreime untergliederte Fünfheber (V. 1 f. bzw. V. 4 f.) und einen Vierheber (V. 3 bzw. V. 6). Durch die übereinstimmenden Reimklänge der Verse 3 und 6 werden die beiden Teilstücke zu einer Strophe zusammengebunden. - RLB 24 ergänzt den halben Hildebrands-Ton (A: A3wa, A3mb, A: A3wa, A3mb) zunächst um zwei Vierheber (B: A4mc, A4mc); an diese schließt dann ein zweizeiliger Refrain (R) an (A5md, A3md): A-A-B-Refrain. - Zur Not ließen sich diese beiden Vierheber auch als eine Art Abgesang interpretieren, so dass dann als Grundmuster eine sehr schlanke Kanzonenstrophe mit zweizeiligen Stollen und einem ebenfalls zweizeiligen (und damit recht dürftigen) Abgesang und Schlussrefrain anzusetzen wäre. 60 Das könnte auch den Umstand erklären, dass die Strophenform von RLB 24 aus dem Hildebrands-Ton abgeleitet zu sein scheint, der gewiss keine niederdeutsche Erfindung ist. 61 Vgl. u. a. http: / / www1.uni-hamburg.de/ disticha-catonis (Stand 2. 1. 2016) sowie Michael Baldzuhn, Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht <?page no="249"?> 248 Franz-Josef Holznagel Freidank 62 zu größeren literarischen Einheiten zusammengestellt werden konnten und die sowohl im hochwie im niederdeutschen Sprachraum sehr weit verbreitet waren; diese Tradition ist im ‚Rostocker Liederbuch‘ durch sprichwortartige Kleinsttexte repräsentiert, die an drei Stellen in der Handschrift eingetragen worden sind. Auf den Blättern 13r bis 15r findet sich eine Folge von 15 paargereimten Vierzeilern, die von Ranke und Müller-Blattau als Nummer RLB 12 gezählt worden ist. Diese Vierzeiler formulieren in sentenzhafter Verknappung allgemeine Lebensweisheiten, deren Wahrhaftigkeit dadurch abgesichert wird, dass sie berühmten Personen der Antike wie Dauid (V. 5-8), Allexander (V. 9-12) oder Aristotiles (V. 21-24) in den Mund gelegt werden. Grundlage dieser sogenannten gereimten Autoritäten ist eine lateinische Sammlung, die Quinquaginta bona proverbialia documenta philosophorum et sapientium , 63 die in ein konsequentes Mittelniederdeutsch umgesetzt worden ist, das deutliche ostelbische und südmärkische Merkmale aufweist. Die unikale Überlieferung von RLB 12 deutet darauf hin, dass die lateinische Vorlage ohne hochdeutsche Zwischenstufen direkt ins Niederdeutsche übertragen worden ist; die Autoritätensprüche gehören demnach in den Kontext der Stücke aus dem ‚Rostocker Liederbuch‘, die sich einem direkten Kontakt mit der lateinischen Literatur verdanken. Nur unvollständig erhalten hat sich auf der Verso-Seite des als fol. 23a gezählten Blattfragmentes ein weiterer Vierzeiler zum Thema Selbsterkenntnis und Ansehen (RLB 25), der sich bereits vor dem ‚Rostocker Liederbuch‘ im Niederdeutschen findet; 64 er wird später auch im Rimbökelin 65 tradiert, einer gedruckten Sammlung von niederdeutschen Reimpaarsprüchen des 16. Jahrhunderts, die vor allem Texte aus der sogenannten ‚Jüngeren Glosse‘ des Reinke de Vos 66 und aus der niederdeutschen Fassung von Sebastian Brants Narrenschiff 67 exzerpiert. Hier wird also ein niederdeutscher Zweig von Kurzgnomik fassbar, dessen Verhältnis zu den entsprechenden hochdeutschen Texten noch genauer zu untersuchen wäre. in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ‚Fabulae‘ Avians und der deutschen ‚Disticha Catonis‘ , Berlin / New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N. F. 44 = 278); Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte , München 1988 (MTU 90); ders., „Was soll der Mensch tun? Literarische Vermittlung von Lebensnormen zwischen Latein und Volkssprache und die ‚Disticha Catonis‘“, in: Literatur und Wandmalerei. II. Burgdorfer Colloquium 2001 , hg. von Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und René Wetzel, Tübingen 2005, S. 23-45. 62 Vgl. vor allem das Marburger Freidank-Repertorium: http: / / www.mrfreidank.de (mit ausführlichen Literaturhinweisen; Stand 2. 1. 2016), sowie Berndt Jäger, ‚Durch reimen gute lere geben‘. Untersuchungen zu Überlieferung und Rezeption Freidanks im Spätmittelalter , Göppingen 1978 (GAG 238); Ines Heiser, Autorität Freidank. Studien zur Rezeption eines Spruchdichters im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit , Tübingen 2006 (Hermaea 110); Franz-Josef Holznagel, „Vorüberlegungen zu einer neuen ‚Freidank‘-Ausgabe“, in: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1 .- 3 . April 2004 , hg. von Martin Schubert, Tübingen 2005 (Beiheft zu Editio 23), S. 159-172; Sebastian Brant. Der Freidanck , hg. von Barbara Leupold, Stuttgart 2010 ( ZfdA , Beihefte 8). 63 Vgl. Arne Holtorf und Kurt Gärtner, „‚Autoritäten‘ (gereimt)“, in: 2 VL , Bd. 1, Berlin / New York 1978, Sp. 557-561, hier Sp. 557 f.; http: / / www.uni-bielefeld.de/ lili/ forschung/ projekte/ bra/ Ro.html (Stand 2. 1. 2016). 64 Vgl. Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. hist. 8° 1a, fol. 238r (Mitte 15. Jahrhundert). 65 Vgl. Niederdeutsches Reimbüchlein. Eine Spruchsammlung des 16 . Jahrhunderts , hg. von Wilhelm Seelmann, Norden / Leipzig 1885. Eine Neuedition wird an der Universität Rostock vorbereitet. Vgl. http: / / purl.uni-rostock.de/ wsrb/ edition (zuletzt 12. 07. 2016) 66 Vgl. Hermann Brandes, Die Jüngere Glosse zum Reinke de Vos , Halle a. S. 1891. 67 Vgl. Dat narren schyp. Lübeck 1497 . Fotomechanischer Neudruck der mittelniederdeutschen Bearbeitung von Sebastian Brants Narrenschiff , hg. von Timothy Sodmann, Bremen 1980. <?page no="250"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 249 Schließlich tradieren die Seiten fol. 26r / v drei weitere Reimpaarsprüche ( RLB 29-31) zu den Themen Armut und Fremde und (erneut) Selbsterkenntnis, die im Unterschied zu RLB 12 und 25 aus dem Hochdeutschen übernommen worden sind. RLB 29 und 31 lassen dies bereits an ihrer sprachlichen Erscheinungsform erkennen, weisen sie doch markante Interferenzerscheinungen mit dem Frühneuhochdeutschen auf. Im Falle von RLB 30 ist die Sachlage etwas komplizierter. Sprachlich gesehen verweist der Reimpaarspruch auf das (Nord-)niederdeutsche; dem sprachlichen Befund steht aber die literarhistorische Analyse entgegen, weil die sechs erhaltenen Zeilen auf eine Versgruppe aus Freidanks Bescheidenheit zurückgehen (V. 106,12-17), 68 die lediglich an das Niederdeutsche angepasst worden sind. Ob die Sammler des ‚Rostocker Liederbuchs‘ die Freidank-Verse selbst ihrem Umgangsidiom angeglichen haben oder ob sie diese bereits in einer älteren niederdeutschen Übertragung 69 vorgefunden haben, muss dagegen offen bleiben. Für die innere Ordnung des ‚Rostocker Liederbuchs‘ ist es nun aufschlussreich, dass diese Gruppe von kleineren Reimpaardichtungen z. T. recht klare thematische Übereinstimmungen zu den moraldidaktischen und historisch-politischen Liedern aufweist: So wird die Warnung vor Zorn, die das Lied RLB 2 eröffnet, von ähnlichen Aussagen in den Autoritätensprüchen flankiert (vgl. besonders RLB 12, V. 13-16 und 21-24); dort wird auch ein weiterer Themenkomplex von RLB 2, die Warnung vor Neidern und Schwätzern, verhandelt ( RLB 12, V. 9-12 sowie 29-32), und schließlich wird die in RLB 2 angesprochene Orientierung auf die ere in RLB 25 wenigstens gestreift (vgl. vor allem RLB 25, V. 4). Besonders markant sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Nummern RLB 12 und RLB 3-5: Alle Zentralaussagen der von Hinrick Sticker entwickelten Herrscherlehre finden sich in ähnlicher Form auch in den gereimten Autoritäten. Dies gilt z. B. für die Vorstellung, dass das allgemeine Ansehen des Fürsten die Voraussetzung für eine gute Regierung darstelle ( RLB 12, V. 5-8), während eine schlechte Herrschaft zum Schaden der Untergebenen ausfalle ( RLB 12, V. 57-60), oder aber für den Tugendkatalog für die Lehnsmänner, der von diesen den Gehorsam unter den Willen des Herrschers ( RLB 12, V. 17-20), Demut ( RLB 12, V. 37-40) und die Zufriedenheit mit dem, was Gott jedem zugeteilt habe ( RLB 12, V. 53-56), einfordert. Konvergenzen dieser Art zeigen, dass es den Sammlern (jedenfalls innerhalb bestimmter Grenzen) darauf ankam, selbst über Texttypengrenzen hinweg thematisch Einschlägiges und Passendes miteinander zu kombinieren. Zugleich ist aber auch zu erkennen, dass die Texte desselben Registers mitunter in einer Art Kontrastrelation zueinander stehen können, so beispielsweise im Vergleich zwischen den Nummern RLB 24 und 31, liest sich doch die 68 Fridankes Bescheidenheit , hg. von H[einrich] E[rnst] Bezzenberger, Halle a. S. 1872, Nachdruck Aalen 1962, S. 174. 69 Niederdeutsche Übertragungen dieser Gruppe finden sich auch in den niederdeutschen Freidanken. Als Vergleichspunkt bietet sich vor allem die Handschrift Braunschweig, Stadtbibliothek, Ms. 176, an (aus der Zeit um 1500). Der Codex enthält auf den Blättern 15va-24vb ein Freidank-Corpus mit der Überschrift Item fridank poeta und dem Titelspruch Bezzenberger 1,1-4, der Freidank als Verfasser nennt. Vgl. Fridankes Bescheidenheit (wie Anm. 68), S. 67. Die Braunschweiger Sammlung enthält 530 lateinische und 599 niederdeutsche Verse, wobei die lateinischen Reimpaare jeweils vorangestellt worden sind. Vgl. http: / / www.mrfreidank.de/ 48; Stand 2. 1. 2016. - Ein wichtiges Medium für die Verbreitung von Freidank-Sprüchen im niederdeutschen Raum ist nach 1500 dann auch die sog. ‚Jüngere Glosse‘ zum Reinke de Vos , die immer wieder Reimpaarsprüche aus dem Freidank-Druck von Sebastian Brant exzerpiert und dabei ins Niederdeutsche überträgt. Vgl. Brandes (wie Anm. 66), besonders S. XXVIf. <?page no="251"?> 250 Franz-Josef Holznagel in den Reimpaarsprüchen ausformulierte pessimistische Klage über ein Leben in Armut geradezu wie ein Gegenprogramm zu der in Lied RLB 24 eingeforderten Haltung, auch in schlechten Zeiten auf eine Besserung der Verhältnisse zu hoffen. Solche Divergenzen sollten davor warnen, bei den Sammlern von Liederbüchern eine allzu stringente, inhaltlich wie formal kohärente Textzusammenstellung zu erwarten. IV. Fazit Die 13 weltlichen Texte des informierend-belehrenden Registers, dies sollte durch die bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, sind im Kontext des ‚Rostocker Liederbuchs‘ keine Marginalie, sie bilden vielmehr eine klar umrissene Gruppe von Liedern und Reimpaarsprüchen, durch die das literarische Profil der Sammlung auf eine markante Weise mitbestimmt wird. Dies unterscheidet das Rostocker Corpus mit seinem großen Spektrum an unterschiedlichen Inhalten und Formen deutlich von anderen Liederbüchern, die sich weitgehend auf ein sprachlich-literarisches Register konzentrieren. 70 Auf der Grundlage der verhandelten Inhalte gliedert sich diese markante Textgruppe einerseits in die historisch-politischen Lieder und andererseits in die im engeren Sinne moraldidaktischen Texte. In der Untergruppe der historisch-politischen Lieder beziehen sich fünf der Texte auf verhältnismäßig zeitnahe Ereignisse aus der Geschichte norddeutscher Territorien; sie betreffen jedoch unterschiedliche politische Konstellationen im Verhältnis zwischen den Landesfürsten, dem Adel und den Hansestädten. Nach ihrem Sprachstand zu urteilen sind sie in der direkten Umgebung der Orte entstanden, an denen sich die geschilderten Ereignisse abgespielt haben; die Fixierung auf regionale politische Themen geht aber einher mit dem Import von hochdeutschen Strophenformen. 71 Die sprachlich, literarisch und musikalisch hervorstechende Vitry-Motette verhandelt dagegen ein sehr weit zurückliegendes und geographisch fernliegendes Geschehen am französischen Hof; hier ist die Übernahme einer überregionalen Tradition mit Händen zu greifen. Auffällig ist, dass alle historisch-politischen Lieder mit Referenzen auf den Autor arbeiten. Die Texte des Hinrick Sticker und des Peter von Strasburg verbinden dabei die Nennung des Verfassernamens mit Herrscherpreis und Lohnheische, während RLB 58 die soziale Umgebung des Autors und seine musikalischen Fähigkeiten beleuchtet. RLB 60 nutzt schließlich die bekannte Vogelmetaphorik, um einer Metonymie des Textdichters und Melodiekomponisten einen Kommentar zum Liedinhalt in den Mund zu legen. Mit Blick auf die dominanten persuasiven Strategien handelt es sich bei allen sechs Liedern um parteiische Texte, welche die Diskreditierung des politischen Gegners verfolgen. Die Lieder des 70 Als direktes Gegenstück zum ‚Rostocker Liederbuch‘ kann das in etwa zeitgleiche ‚Königsteiner Liederbuch‘ gelten, in dessen Sammelinteresse vor allem die Wiederaufnahme und Fortführung des klassischen Minnesangs steht. Vgl. Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin , hg. von Paul Sappler, München 1970 (MTU 29); ders., „Königsteiner Liederbuch“, in: 2 VL , Bd. 5, Berlin / New York 1985, Sp. 108-110. 71 Das Interesse an den Stücken erklärt sich wenigstens z. T. aus der sozialen Verortung der Sammler: Wir haben es mit einem Kreis adliger junger Herren aus dem norddeutschen Raum zu tun, die sich selbstverständlich für politische Themen der Zeit interessieren. Zudem wird man wenigstens für einen Teil der Sammler eine Konvergenz zwischen ihren politischen Haltungen und der herausgestellten Tendenz der Texte unterstellen können. So lässt sich im Falle der Rostocker Domfehde festhalten, dass die Universität den Plänen der Mecklenburger Herzöge größte Zurückhaltung entgegenbringt und mit Sicherheit andere Interessen verfolgt als die in RLB 58 geschmähten Klerikerjuristen. <?page no="252"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 251 Hinrick Sticker entwerfen darüber hinaus auch noch das Modell einer gelungenen Herrschaft, an dem sich gleichermaßen der gelobte Fürst als auch seine Gefolgsleute orientieren sollen. Dies verbindet sie mit der Untergruppe der direkt belehrenden Texte. Diese ist zentriert um die moraldidaktischen Lieder RLB 2 und 24, die hinsichtlich ihrer Verortung in literarische Kontexte ein etwas widersprüchliches Bild zeigen. Die Stücke stehen auf der einen Seite aufgrund ihres unstolligen Strophenbaus außerhalb der dominanten hochdeutsch geprägten Formtraditionen, in denen in der Lyrik des deutschsprachigen Mittelalters didaktische Themen verhandelt werden. Auf der anderen Seite verweist die sprachliche Gestalt dieser Töne aber auf Vorbilder außerhalb des niederdeutschen Raums. Klar ist hingegen die Fundierung der Texte in der hochwie niederdeutsch weit verbreiteten Kurzgnomik in der Art des Freidank oder des Cato , mit denen sie in der Wahl der Inhalte, in der Sprecherstilisierung und im sprachlichen Gestus oftmals übereinstimmen. Diese Tradition ist im ‚Rostocker Liederbuch‘ durch die Reimpaarsprüche RLB 12, 25 sowie 29-31 repräsentiert, die teils auf lateinische oder hochdeutsche Prätexte zurückgehen, teils aber auch aus einer niederdeutschen Tradition zu stammen scheinen. Auffällig ist, dass diese Gruppe von Kleinstdichtungen eine ganze Anzahl an thematischen Konvergenzen mit dem Lied RLB 2 wie auch mit den Liedern des Hinrick Sticker aufweist, während zu dem Lied RLB 24 eher eine Kontrastrelation festzustellen ist. 72 Versucht man am Ende dieser Überlegungen zu den weltlichen, informierend-belehrenden Texttypen im ‚Rostocker Liederbuch‘ die Frage zu beantworten, inwieweit eine Analyse dieses Corpus dazu beitragen kann, das Konzept von Lehrhaftigkeit und seine zentrale Bedeutung für die mittelalterliche Literatur besser zu verstehen, lassen sich fünf übergeordnete Beobachtungen machen: 1. Didaktische Texte des Spätmittelalters erscheinen in Überlieferungsgemeinschaften, wo man sie im Ausgang von einem neuzeitlichen und an eher abstrakten Genrevorstellungen orientierten Zugriff nicht unbedingt erwartet. Dass in einer Handschrift, die in der Hauptsache von den Weiterführungen der hochmittelalterlichen Subgenera des Minnesangs geprägt ist, sangbare und nicht-sangliche didaktische Texte stehen, sollte man zunächst nicht meinen, ist dann aber, wenn man die weitere Tradition der handgeschriebenen, weltlichen Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts anschaut, nichts Ungewöhnliches. 2. Die Archive, auf die weltliche, informierend-didaktische Stücke zurückgreifen, sind vielfältig, ja divers, die Formen, mittels derer die Inhalte vermittelt werden, ausdifferenziert, und die Wege, auf denen sie ihr Zielpublikum erreichen, verwickelt. Deutlich ist auch, dass die Texte hinsichtlich der Frage, ob sich aus ihnen ein konkretes Angebot 72 Wie sich das Verhältnis zwischen den Texten des informierend-belehrenden Registers und den restlichen Stücken der Handschrift bestimmen ließe, wäre dann der Gegenstand einer weiterführenden Untersuchung. Vorerst lässt sich feststellen, dass man genau zwischen der formalen und der inhaltlichen Seite der Stücke unterscheiden sollte. Hinsichtlich der verhandelten Themen lässt sich festhalten, dass die 13 weltlichen Texte des informierend-belehrenden Registers als Ergänzung, Erweiterung oder auch als Gegenrede zu den anderen Inhalten wahrgenommen werden können. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn man die metrisch-musikalische Seite der Stücke in den Vordergrund rückt. So zeigt die Analyse der historisch-politischen Lieder, dass diese Stücke Strophenbaupläne aufweisen, die mit den Formtraditionen, in denen die Lieder der anderen Register stehen, bestens konvergieren. In einem Falle greifen sogar zwei Lieder aus unterschiedlichen Registern auf den gleichen Strophenbauplan, den Lindenschmidt, zurück (das historisch-politische Lied RLB 4 und das Schwanklied RLB 15). <?page no="253"?> 252 Franz-Josef Holznagel an positiven, handlungsleitenden Ideen entwickeln lässt oder nicht, differieren können. Dieser Komplexität der Archive, Tradierungswege und persuasiven Strategien steht in gewisser Weise entgegen, dass die vermittelten Inhalte selbst in vielen Fällen wenig Überraschendes bieten. So lassen sich zu vielen Aussagen, die in den didaktischen Stücken des ‚Rostocker Liederbuchs‘ formuliert worden sind, ohne Schwierigkeiten Parallelen aus Texten des hohen, ja des frühen Mittelalters beibringen. Der ‚Sinn‘ didaktischer Texte, dies macht das Corpus des ‚Rostocker Liederbuchs‘ erneut klar, besteht also primär nicht darin, ‚originelle Inhalte‘ zu präsentieren; es geht vielmehr darum, einen Fundus lang tradierter und weitgehend unhinterfragter Werte, Normen und Haltungen immer wieder neu dazustellen und sie dabei in andere literarische Kontexte zu stellen, an aktuelle Umstände anzupassen und eventuell neu zu akzentuieren. 3. Die relative Homogenität der Aussagen in den hier untersuchten Texten wirft die generelle Frage nach den Inklusions- und Exklusionsmechanismen auf, mit deren Hilfe didaktische Corpora ihr spezifisches Profil erhalten. Im Zentrum der Texte des ‚Rostocker Liederbuchs‘ steht offenbar eine weltliche Herrenlehre, die dann in RLB 58 um einige Komponenten erweitert wird, die das Verhalten der städtischen Oberschicht in einer norddeutschen Hansestadt betreffen. Innerhalb dieses Diskurses können dann sehr wohl (wie dargelegt) unterschiedliche Positionen eingenommen werden; zugleich wird aber deutlich, dass die Texte vieles nicht thematisieren: So gerät im ‚Rostocker Liederbuch‘ nirgends eine Lehre für Frauen in den Blick, und auch eine Didaxe für nicht-adlige soziale Gruppierungen fehlt. Bemerkenswert ist überdies, dass auch die wenigen geistlichen Stücke, die in dieser Sammlung tradiert werden, keine Handlungsnormen einfordern, die mit einer traditionellen adligen Lebensform im Widerspruch stünden. 4. Um solche diskursiven Ein- und Ausschlüsse historisch präziser einordnen zu können, müssen die sozialen Orte identifiziert werden, wo die didaktischen Corpora entstehen. Im Falle des ‚Rostocker Liederbuchs‘ deutet vieles darauf hin, dass hinter der Sammlung eine Gruppe junger Universitätsmitglieder steht, die aus dem norddeutschen (und womöglich nordeuropäischen) Adel stammen oder aus den Führungseliten der Hansestädte. Diese Gruppe interessiert sich in evidenter Weise für Hegemonialkonflikte in Braunschweig und in Mecklenburg und pflegt ein konservatives, an den Normen von politischer Klugheit orientiertes und auf die Mäßigung der Affekte abzielendes Adelsethos. Die Zusammenhänge zwischen dem literarischen Profil didaktischer Corpora und ihrer sozialen Verortung bedürften jedoch einer weitergehenden, genaueren Analyse. 5. Schließlich sollte das Beispiel des ‚Rostocker Liederbuchs‘ zum Anlass genommen werden, über die Funktion handschriftlicher Medien für die Etablierung, die Stabilisierung und die Weiterentwicklung von didaktischen Diskursen nachzudenken. Dabei wird man grundsätzlich davon ausgehen können, dass die Medien eine doppelte Funktion besitzen. Zum einen dienen sie als Thesauren, in denen die für den Diskurs relevanten Texte aufgezeichnet werden können. Zum anderen bilden Medien in der Art des ‚Rostocker Liederbuchs‘ aber auch die materielle Grundlage von performativen Akten (wie der musikalischen Aufführung von Liedern oder der gemeinsamen Lektüre nicht-sanglicher Einheiten), durch die ein didaktischer Diskurs präsentiert, aktualisiert und gegebenen- <?page no="254"?> Weltliche Didaxe im ‚Rostocker Liederbuch‘ 253 falls modifiziert wird. 73 Diese doppelte Funktion der Handschriften und Frühdrucke als Speichermedium wie als Dispositiv für Aufführungen wäre im Rahmen eines Konzeptes zu verfolgen, das man vorläufig als ‚Medienkulturgeschichte‘ des Didaktischen (im Allgemeinen) und der Liederbuchlyrik (im Besonderen) 74 bezeichnen könnte. 73 Vgl. Franz-Josef Holznagel, „Songs and Identities. The Handwritten Secular Songbooks in the German- Speaking Areas of the Fifteenth and Sixteenth Century“, in: Identity, Intertextuality, and Performance in Early Modern Song Culture , hg. von Dieuwke van der Poel, Louis Peter Grijp und Wim van Anrooij, Leiden / Boston 2016 (Intersections 43), S. 118-149. 74 Vgl. Franz-Josef Holznagel, „wil gi horen enen sanck? Zum Konzept einer Medienkulturgeschichte der Lyrik in den handschriftlichen, weltlichen Liederbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts “ , in: Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma , hg. von Dorothea Klein, Horst Brunner und Freimut Löser, Wiesbaden 2016 (Wissensliteratur im Mittelalter 53), S. 307-336. <?page no="256"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 255 Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen Annette Volfing I. Einleitung Die mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung ist als Gattung durch unterweisende oder lehrende Modi des Sprechens gekennzeichnet, wobei die Verkörperung von Wissen in der Figur des meisters eng mit Autoritätsansprüchen und mit Hierarchisierung verbunden wird. Dass der Spruchdichter seine Autorität durch den Einsatz didaktischer Inhalte zu untermauern sucht, bedeutet, dass der Wissenstransfer ein Schlüsselthema dieser Gattung wird: Der belehrende meister braucht ein Publikum, das bereit ist, sich von ihm belehren zu lassen. Reflexionen über den im Rahmen dieses Verhältnisses erzielten Lernfortschritt sind häufig von größerem Gewicht als die eigentlichen, im Spruch vermittelten Wissensbestände. Die Bemühungen des meisters , sich wetteifernd von anderen Lehrinstanzen abzugrenzen, gehören ebenfalls zur Konstruktion einer exklusiven Symbiose zwischen ihm und seinem Publikum. Dieser Aufsatz befasst sich in erster Linie mit dem Werk Rumelants von Sachsen in der Jenaer Liederhandschrift und betrachtet die Art und Weise, wie dieses Korpus die Themen Lehren und Lernen behandelt - insbesondere die Möglichkeiten für das Lehren und Lernen von kunst , wobei sich hier die Kategorien wissen , weisheit und kunst sicherlich immer stark überschneiden werden. 1 Die Jenaer Liederhandschrift enthält eine Anzahl von Sprüchen - vor allem in den Tönen Rumelants und des Meißners -, die den Anschein von persönlichem Antagonismus zwischen genannten Spruchdichtern erwecken. 2 Während die Anordnung der Sprüche in der 1 Rumelant von Sachsen, Edition, Übersetzung, Kommentar , hg. von Holger Runow, Berlin 2011 (Hermaea 121). 2 Die Jenaer Liederhandschrift in Abbildung. Anhang: Die Basler und Wolfenbüttler Fragmente , hg. von Helmut Tervooren und Ulrich Müller, Göppingen 1972 (Litterae 10); Digitalisat unter http: / / archive. thulb.uni-jena.de/ hisbest/ receive/ HisBest_cbu_00008190, Stand 14. 6. 2016. Zur Jenaer Liederhandschrift siehe auch Burghart Wachinger, „Jenaer Liederhandschrift“, in: 2 VL , Bd. 4, Berlin / New York 1983, Sp. 512-516 und Bd. 11, Berlin / New York 2004, Sp. 757; Die Jenaer Liederhandschrift: Codex, Geschichte, Umfeld , hg. von Jens Haustein und Franz Körndle, unter Mitwirkung von Wolfgang Beck und Christoph Fasbender, Berlin 2010. Zur Konflikt-Thematik siehe Burghart Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13 . Jahrhunderts , München 1973 (MTU 42); Freimut Löser, „Mein liebster Feind. Zur Rolle des literarischen Gegners in der Sangspruchdichtung am Beispiel Rumelants“, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens , hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 507-534; Sabine Obermaier, Von Nachtigallen und Handwerkern. ‚Dichtung über Dichtung‘ in Minnesang und Sangspruchdichtung , Tübingen 1995, S. 207-218; Margreth Egidi, „Sängerpolemik und literarischer Selbstbezug in der Sangspruchdichtung. Aspekte der Streitkommunikation“, in: ZfdPh 126 (2007), S. 38-50; Claudia Lauer, Ästhetik der Identität. Sänger-Rollen in der Sangspruchdichtung des 13 . Jahrhunderts , Heidelberg 2008, S. 242-261; Mirjam Burkard, Sangspruchdichter unter sich. Namentliche Erwähnungen in den Sprüchen des 12 ., 13 . und 14 . Jahrhunderts , Heidelberg 2012. <?page no="257"?> 256 Annette Volfing Handschrift nach Tönen statt nach Autorschaft scheinbar die Individualität der einzelnen Kontrahenten herunterspielt, legt die Aufnahme des Wartburgstoffs am Ende der Handschrift die Annahme nahe, dass das Thema des persönlichen Konflikts den Kompilator und die Benutzer der Handschrift besonders interessierte. Die Integration des Wartburgstoffs verleiht auch der These Gewicht, Dichter oder Sänger seien besonders konfliktfreudige Individuen, die ihr jeweiliges künstlerisches Eigentum mit Nachdruck vermarkten - und zugleich gegen andere absichern wollten. 3 Die Angriffsfreude, die dem Umgang mit Sängerkollegen zu Grunde liegt, ist aber auch symptomatisch für eine allgemeinere Unsicherheit, die mit dem Lehr-Amt, d. h. mit dem didaktischen Auftrag des Sprecher-Ichs, verbunden ist. 4 Das Hauptanliegen der Sangspruchdichtung ist die Verankerung von moralischer, künstlerischer und intellektueller Autorität in der Figur des Sprecher-Ichs. Bezeichnend für diese Figur ist ihre hierarchische Trennung vom Publikum: Sie mag sich an sozial höhergestellte Personen wenden, präsentiert sich aber typischerweise als jemanden, der mehr weiß, gründlicher nachdenkt und einen zuverlässigeren moralischen Kompass besitzt als diese. Gerade diese Überlegenheit liefert zum Teil die Grundlage dafür, dass sie im Umgang mit ihnen die meister -Rolle beanspruchen darf. 5 Die Selbstinszenierung als belehrender meister ist jedoch nicht unproblematisch. In dem Maße, in dem der meister seinem Publikum durch die Offenbarung ausgewählter Einsichten seine Autorität demonstriert, verhilft er rein theoretisch anderen zu einer ähnlich gearteten Autorität - und schadet so seinem eigenen Elite-Status. Der meister steht also vor einem schwierigen Balanceakt: Es liegt auf der einen Seite nicht in seinem Interesse, sein ganzes Wissen der Öffentlichkeit frei verfügbar zu machen, da gerade der Besitz dieses Wissens dazu dient, den meister von seinem Publikum abzugrenzen. Auf der anderen Seite soll der Spruchdichter sich ja als erfolgreicher Lehrer durchsetzen, um von seinem Publikum geachtet zu werden. Die Figur des gescheiterten Lehrers, dessen Worte ohne Effekt auf den Zuhörer verklingen, birgt die Gefahr der Lächerlichkeit in sich. So sagt der Stricker im Epimythion zur Fabel Der Hahn und die Perle : des effet er sich sere, / der den wisheit leret, / der sich an die rede niht keret! ( Hahn und Perle , V. 34-36). 6 3 Wachinger, Sängerkrieg (wie Anm. 2), S. 304: „Streit um den literarischen Rang ist das eigentliche Thema der meisten Spruchdichterfehden“. 4 Vgl. Lauer (wie Anm. 2), S. 44, die von der Hypothese ausgeht, „dass sich die Sangspruchdichtung als universal-ethische Lehre thematisch-situationell vor dem Hintergrund des mittelalterlichen ‚Tugendsystems‘, der grundlegenden mittelalterlichen Werte von guot , êre und gotes hulde in die Hauptthemengebiete geistliche Lehre, weltliche Lehre (Herren-, Tugend- und Morallehre), politische Lehre und Kunstlehre untergliedert, die sich wirkungsästhetisch wiederum der übergeordneten Aufgabe des überzeugenden und glaubwürdigen Erinnerns an die mittelalterlichen Werte gemäß dem prodesse und delectare in die Sprechakte von Klage, Preis, Tadel, Rat, Mahnung und Urteil aufteilen“. 5 Zur meister -Rolle vgl. Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln: Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität , Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung: Studien zur deutschen Literaturgeschichte 3), S. 96 f.: „Alles das, was dem Namen meister Inhalt und Würde gibt, liegt in dem Worte meisterschaft beschlossen. Es umspannt die ganze Vielzahl vorbildlicher Fähigkeiten, die zusammengenommen den meister ausmachen. Wer meisterschaft besitzt, sticht durch glänzende Gaben des Verstandes ebenso hervor wie durch sein Lehrtalent, er lebt ein beispielhaftes Leben und weiß andere dazu anzuhalten; er ist ein frommer Mann, ein gescheiter Theologe und ein Mahner zum rechten Glauben. Diese Vorzüge verbindet er, und das ist bald das Entscheidende, mit einem unvergleichlichen Geschick im Anfertigen von Gedichten“. 6 Der Stricker, Der Hahn und die Perle , in: Der Stricker, Tierbispel , hg. von Ute Schwab, Tübingen 1960 (ATB 54), S. 1-3. <?page no="258"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 257 Der Hahn und die Perle ist bekanntermaßen eine Fabel, die sich direkt mit dem Paradox der Didaxe beschäftigt. 7 Die Kernhandlung - ein hungriger Hahn ist nicht in der Lage, von der Entdeckung eines wertvollen Kleinods Nutzen zu ziehen - stützt sich auf die grundlegende und essenzielle Gegensätzlichkeit zwischen denen, die aufgrund ihrer Veranlagung imstande sind, sich Zugang zu Weisheit zu verschaffen, und denen, die es nicht sind. Gleichzeitig wird dieser Erzählstoff aber gewöhnlich so eingesetzt, dass das genaue Gegenteil nahegelegt wird, nämlich, dass der Mensch die Wahl hat, sich auf eine Lehre einzulassen oder nicht. Obwohl die Fabel anscheinend ohne die Figur des Lehrers auskommt, indem Weisheit zu einem unabhängig existierenden Ding vergegenständlicht wird, auf das man zufällig stoßen kann, deutet die selbst-referentielle Natur der ‚Fabel von der Fabel‘ sowie ihre exponierte Stellung am Anfang mehrerer Fabelsammlungen auf die Problematik der kommunikativen Dimension im Lernprozess hin. Hier ist der Erwerb von Weisheit eben keine einmalige und einseitige Entdeckung, sondern ein iterativer Prozess, der letztendlich von einer autoritativen Erzählerstimme - analog zu der des meisters in der Sangspruchdichtung - geleitet und betreut wird. Trotzdem ist es typisch für Fabeln, dass das Hauptaugenmerk überwiegend auf den Lernenden gerichtet ist, dessen Entscheidungen durch die Tierprotagonisten der Diegese reflektiert werden, und nicht auf die Figur des Lehrers. Strickers Epimythion ist von daher ungewöhnlich, weil es ganz gezielt die Aufmerksamkeit auf die schwierige Lage des Lehrenden verlagert, der durch seine fehlenden Lehrerfolge in Verlegenheit gerät, anstatt sich auf die Torheit derer zu konzentrieren, die sich für ein Leben entscheiden, das dem des Hahns ähnelt. Im Gegensatz dazu stellt die Sangspruchdichtung die Figur des meisters in den Mittelpunkt. Noch stärker als bei der Fabel wird hier deutlich, dass Wissen kein unpersönlicher Gegenstand ist, der sich problemlos von einer Person auf die andere übertragen lässt, sondern dass es untrennbar mit ästhetischen Überlegungen verbunden ist, von der formalen Anlage des Spruches bis hin zu metrischer und musikalischer Ausführung und den allgemeinen Konturen der Persönlichkeit des Sprecher- und Sänger-Ichs. II. Künstler und Kunstkenner bei Rumelant Rumelants Sprüche sind nicht im engeren Sinne poetologisch angelegt, sondern wollen ein breites Spektrum sozialer, moralischer und politischer Wahrheiten vermitteln. Trotzdem stellt er kunst auf eine Weise in den Vordergrund, die literarisches Verständnis - und literarische Kompetenz - zum Maßstab macht, mit deren Hilfe man den Weisen vom Narren unterscheiden kann. Diese Überlegungen finden sich im gesamten Korpus, erreichen aber eine besondere Intensität im 4. Ton. 8 7 Vgl. Klaus Speckenbach, „Die Fabel von der Fabel. Zur Überlieferungsgeschichte der Fabel von Hahn und Perle“, in: FMSt 12 (1978), S. 178-229; Gerd Dicke und Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen , München 1987 (MMS 60), Nr. 249, S. 288-253. 8 Diese Reihe von 29 Sprüchen beginnt mit einer Interpretation der Statue ( bilde ), die Nebukadnezar im Traum sieht (IV,1-3). Es folgen die Polemik gegen den Marner (IV,4-7) und andere kunst -bezogene Sprüche, die sich mit verschiedenen Aspekten der Gönner-Dichter-Beziehung (IV,14-19, 24 f., 27) und mit dem Gegensatz zwischen Weisheit und Torheit (IV,28 f.) befassen. Spruch IV,22 (der sich dem Maler widmet, dessen Figur in die verkehrte Richtung blickt) und Spruch IV,26 (der vom antimeister Harald handelt) werden im letzten Teil dieses Aufsatzes eingehender besprochen. <?page no="259"?> 258 Annette Volfing Wie auch für den Stricker ist für Rumelant die vorherrschende und absichtliche Bevorzugung von Torheit vor Weisheit ein verblüffendes und unverständliches Phänomen. Obwohl Rumelant diesen Punkt unter besonderer Berücksichtigung geiziger Gönner thematisiert - Mich wundert, wie den tummen kargen herren sî ze muote, / daz sie nicht wellen herren sîn wîs unde milte ( IV ,14, V. 1 f.) -, ist das Problem des hartnäckigen Festhaltens an der Torheit grundsätzlich dasselbe wie das in der Fabel Der Hahn und die Perle angesprochene. Wenn Rumelant jedoch in einem darauffolgenden Spruch erneut die Dichotomie zwischen dem berührt, was der Mensch zu sein entscheidet (d. h. tump ), und dem, was er sein könnte (d. h. wîs ), fügt er mit kunst dem Thema eine neue Dimension hinzu: ach herre Got, / wie sol ein tôre werden wîs, der sich vergizzet, / der zirket vremede kunst ê danne her sîne mizzet? ( IV ,18, V. 8-10). In diesen Versen wird der Tor nicht nur für fehlende Fairness und ungerechtfertigte Härte bei der Beurteilung der Kunst anderer gescholten, sondern insbesondere dafür, dass er es versäumt hat, eine objektive Bewertung seiner eigenen künstlerischen Fähigkeit vorzunehmen. Da diese Verse sich am Ende eines Spruches befinden, der die Torheit der Schwalbe besingt, die besser zu fliegen glaubt als der Falke und besser zu singen als die Nachtigall, 9 lassen sie sich als eine direkte Botschaft an andere Dichter verstehen, die eine überhöhte Vorstellung ihres eigenen Status haben. 10 Die übergreifende Lektion ‚Kritisiere nicht, wenn du es nicht besser machen kannst‘ ist jedoch letzten Endes auf alle Zuhörer anwendbar, seien sie nun berufliche Rivalen oder arrogante Kritiker, die noch niemals selbst gedichtet haben. 11 Auch die Tatsache, dass die drei vorhergehenden Sprüche geizige, undankbare Gönner zum Thema haben, lässt vermuten, dass auch dieser Spruch sich nicht ausschließlich an berufliche Rivalen wendet. Diese Kontexterweiterung in Spruch IV,18 wirft potenziell weitreichende Fragen darüber auf, wie der Berufsdichter sich selbst in der Welt positioniert. Sicherlich ist dieser Spruch auf einer Ebene einfach eine weitere Variante der topischen Warnung gegen Hochmut und als solche unauffällig. Die Warnung ist jedoch so formuliert, dass der Unterschied zwischen Berufsdichtern (den Produzenten der Sprüche) und den höfischen Zuhörern zum Teil verwischt wird. Indem er argumentiert, dass niemand an der kunst eines anderen Kritik üben dürfe, wenn er nicht in der Lage sei, es besser zu machen, hinterfragt Rumelant die bequeme Distanziertheit des passiven Kunstkenners, während er die Produktion von Literatur als eine Herausforderung präsentiert, an der sich potentiell jedermann versuchen kann. Spruch VII ,2 setzt diesen Gedanken fort. Hier bezeichnet das Sprecher-Ich sein Werk als eine Ware und polemisiert gegen diejenigen, die sie unredlich erwerben ( VII ,2, V. 15: der mîne wâre mit sîme valsche koufet ). Trotz der Handels-Metapher sind die sogenannten Käufer nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, die Mäzene. Stattdessen schließt diese Kategorie alle diejenigen ein, die das Sprecher-Ich um seine kunst beneiden ( VII ,2, V. 6-9): 9 Vgl. Obermaier (wie Anm. 2), S. 328-333 (zur Vogel-Metaphorik im Minnesang und im Literaturexkurs Gottfrieds von Straßburg) und 57-63 (zum Gegensatz von Nachtigall und Schwalbe bei Heinrich von Morungen). 10 Die Frage, ob hier eine Anspielung auf den Marner zu sehen ist, ist mehrmals in der Forschung erwogen worden; für eine Zusammenfassung siehe Runow (wie Anm. 1), S. 235. 11 Zum Motiv der Schelte vom „Typ des selbstgefälligen Nicht-Könners“ bei anderen Spruchdichtern siehe Obermaier (wie Anm. 2), S. 208 f. <?page no="260"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 259 6 die lützel kunnen, die ne gunnen mir nicht, daz ich lenge, breite, wîte mit kunsten von in rîten muoz. Wiederum endet der Spruch mit der Aufforderung an die Lästerzungen, es doch besser zu machen: ez schinfet sumelîcher mîne dœne unde mînen sanc: / her singe und tichte mê unde baz / denne ich, des wizzen im diu liute danc ( VII ,2, V. 16-18). 12 Was also lehrt der meister seine Schüler über die Ausübung und Wertschätzung von Kunst? Im Großen und Ganzen bleiben die Kriterien für Meisterschaft vage und unbestimmt. In den gerade zitierten Versen rühmt sich das Sprecher-Ich seiner technischen Kompetenz ( dœne ), des Umfangs und der Qualität seiner Dichtung ( mê unde baz ); und die Metapher des galoppierenden Dichters deutet an, dass Eigenschaften wie Schnelligkeit und Schlagfertigkeit wichtig sind. Eine eingehendere Beschreibung der Ware, die Rumelant Feil bietet, liefert er nicht, und eine detailliertere Warenbeschreibung ist wohl auch nicht nötig, stellt der Spruch selbst doch ein Warenmuster dar. Den zwei gerade zitierten Beispielen nach zu urteilen scheint es jedoch nur wenige echte Lehrinhalte zu geben, die die Zuhörerschaft ‚kaufen‘ könnte. Rumelants Sprüche versetzen die Zuhörerschaft offensichtlich nicht in die Lage, selbst zu dichten, und sie enthalten auch keine ernst gemeinte Ermutigung für den Amateur. Im Gegenteil, die Botschaft sowohl an Gönner wie Konkurrenten lautet: ‚Ihr werdet nie das können, was ich kann‘. So wird der didaktische Ansatz, Weisheit und Demut durch Reflexion über die Kunst vermitteln zu wollen, durch die hemmungslose Eigenwerbung gleichzeitig untermauert und untergraben. Die polemische Interaktion mit namentlich genannten Rivalen ist ein wichtiger Aspekt von Rumelants Markenzeichen. Folglich konzentriert sich der dritte Teil dieses Aufsatzes auf didaktische Elemente in Rumelants Auseinandersetzung mit Singauf. Im letzten Teil folgen eine Untersuchung der Beziehung zur Zuhörerschaft und eine Darstellung der Lehrinhalte, die Rumelants Produkt ausmachen. III. Rumelant und Singauf Die Eigenwerbung des Sprecher-Ichs in Rumelants Sprüchen wird dadurch verkompliziert, dass gelegentlich andere Dichter in das kommunikative Rahmenwerk eingeführt werden. Daraus resultiert einerseits die Förderung einer Gruppenidentität auf der Basis von literarischer Kollegialität, andererseits aber auch der offensichtliche Wunsch nach individueller Profilierung, der zu einer Distanzierung von genau diesen Kollegen führt. Generell sind Spannungen dieser Art in der Sangspruchdichtung sehr viel ausgeprägter als im Minnesang, wo man weder dieselbe ausgeprägte Gruppenidentität unter den Kunst- 12 Schimpfære , merkære oder nidære sind die topischen Verleumder bzw. Kritiker des auftretenden Sprecher-Ichs, sowohl im Minnesang als auch in der Spruchdichtung; zum Minnesang vgl. Stephanie Cain Van D’Elden, „Dark Figures of Minnesang: The merkære and huote “, in: The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature , hg. von Edward R. Haymes und Stephanie Cain Van D’Elden, Göppingen 1986 (GAG 448), S. 60-88. In der Spruchdichtung und vor allem in der meisterlichen Liedkunst treten die merkære / merker auch als objektive Kunstkenner und -richter auf, die in den Kontext der Prüfungen in der Singschule gehören; vgl. Wachinger, Sängerkrieg (wie Anm. 2), S. 277, 288, 315. <?page no="261"?> 260 Annette Volfing ausübenden findet noch die häufige Betonung von literarischer Rivalität. 13 Im Unterschied zur subjektiven Emotion der Minnesänger sind die Schlüsselrollen der Sangspruchdichter (bei Claudia Lauer in ‚Sänger‘, ‚Ratgeber‘ und ‚Prediger‘ ausdifferenziert) durchweg von öffentlicher und beruflicher Natur, was zum objektiven Vergleich von Profilen und Erfolgen einlädt. 14 Das Sprecher-Ich in der Sangspruchdichtung steht deutlich in einem Dialog mit seinen Kollegen - oder anders gesagt: Die textinterne Zuhörerschaft besteht zu einem gewissen Grad auch immer aus einem Expertenpublikum, den anderen meistern. Der Auslöser für den offensichtlichen Konflikt zwischen Rumelant und Singauf ist Singaufs Behauptung, er habe zwei miteinander verknüpfte Rätsel erdacht, zu deren Lösung es der vereinten Kräfte von vier meistern bedürfe: Swer ein durchgründic meister sî, / der neme ouch spaeher meister drî / zuo helfe ûf diz gediute (Singauf, I,3, V. 1-3). 15 Wie Burghart Wachinger bemerkt, können alle Rätsel als inhärent aggressiv angesehen werden, dieses jedoch nimmt eine Sonderstellung, weil es sich explizit an die „Herren Dichterkollegen“ wendet: „Hier geht es nicht mehr darum, zwischen wisen und tumben leien zu unterscheiden, auch nicht mehr darum, daß ein meister seine meisterschaft verteidigen und beweisen muß, sondern es geht um eine Rangordnung unter den vielen meistern “. 16 Wachinger sieht außerdem Parallelen zwischen dieser Herausforderung an die vier meister und der Herausforderung von Heinrich von Ofterdingen zu Beginn des Fürstenlobs im Wartburgkrieg . 17 Die Lösung von Singaufs erstem Rätsel ist ‚Schlaf ‘, von seinem zweiten ‚Weisheit‘. Schlaf ist das, was schwerer ist als Blei, jeden bezwingt, so alt wie der mutterlose Mann (Adam) ist, weder Hände noch Füße hat und die ganze Welt durchdringt. 18 Weisheit ist das wunder , das in der Welt existiert, höher steigt als die Sonne, in die Hölle herabsteigt, die himmlischen Heerscharen durchdringt und wieder in den Himmel zurückkehren wird, woher es gekommen ist. 19 Auf diese Herausforderung reagiert Rumelant mit einer zweifachen Entgegnung, die Irritation mit Singaufs vermeintlicher Überheblichkeit im Umgang mit Respektpersonen widerspiegelt. Die eine Erwiderung besteht aus zwei Strophen, die in Singaufs eigenem Ton gehalten sind ( J, Singauf 5 und 6); die andere aus zwei Strophen in Rumelants eigenem Ton ( J 87 und J 88). 13 Zum Reinmar-Walther-Verhältnis siehe Obermaier (wie Anm. 2), S. 77-89; Silvia Ranawake, „Gab es eine Reinmar-Fehde? Zu der These von Walthers Wendung gegen die Konventionen der hohen Minne“, in: Oxford German Studies 13 (1982), S. 7-35; Ricarda Bauschke, Die ‚Reinmar-Lieder‘ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung , Heidelberg 1999 (Beihefte zur GRM 15). 14 Lauer (wie Anm. 2), S. 257. 15 Kleinere Spruchdichter des dreizehnten Jahrhunderts. Der Hardegger - Höllefeuer - Der Litschauer - Singauf - Der Unverzagte , hg. von Esther Collmann-Weiß, Stuttgart 2005 (Beihefte zur ZfdA 5). 16 Wachinger, Sängerkrieg (wie Anm. 2), S. 172. 17 Ebd. 18 Singauf, I,3: Swer ein durchgründic meister sî, / der neme ouch spaeher meister drî / zuo helfe ûf diz gediute: / ez ist noch swerer wan ein blî / und wonet der werlt gemeine bî. / ez twinget alle liute. / es ist alsô alt alsô der man / der keine muoter nie gewan. / ez ist noch tumber wan ein kint. / ez slîchet durch ganze wende. / ez ne vürhtet regen noch den wint / ez ne hât weder vuoz noch hende / und vert durch manigen touben walt. 19 Singauf, I,4: Ein wunder wonet der werlde mite, / daz kan sô manigen spaehen trite, / ez stîget über die sunnen. / ez hât sô listeclîchen site, / daz ich ez dicke zuo mir bite, / und hât ouch prîs gewunnen. / ez sinket an der helle grunt, / ouch sint im alle koere kunt, / von abgrunde nimt ez war. / ez kan mit êren strîten. / ez dringet an der engele schar. / ez quam bî alten zîten / von himele her, dar muoz es wider. <?page no="262"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 261 Die zwei Strophen der ersten Erwiderung (in Singaufs Ton) sind chiastisch angeordnet und spiegeln die Struktur von Singaufs Rätsel wider, so dass eine übergeordnete Bewegung von Schlaf - Weisheit - Weisheit - Schlaf erzielt wird. Auf der Basis der Darstellung in der Jenaer Liederhandschrift wäre es leicht möglich, aber auch verwirrend, diese vier Strophen als einen einzigen Text zu betrachten. Nur die winzigen Buchstaben am Rand, die Rumelants Namen buchstabieren, machen deutlich, dass es sich bei der zweiten Strophe um eine völlig andere und antagonistische Stimme handelt ( J, fol. 44r). Hauptpunkt dieser Erwiderung ist Rumelants grundsätzliche Kritik am Wesen dieses Rätsels, während er zu Beginn der zweiten Strophe gleichzeitig Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass Singauf es gewagt hat, nicht nur einen, sondern gleich vier meister herauszufordern. Rumelants Strophen deuten an, dass es ein alternatives Lösungspaar für die zwei Rätsel gibt: Nach seiner Darstellung ist die Lösung zum ersten Rätsel nicht nur ‚Schlaf ‘, sondern auch ‚Sünde‘, und die Lösung zum zweiten nicht nur ‚Weisheit‘, sondern auch ‚Glaube‘. Durch die Kombination dieser vier Konzepte erhalten wir ‚den Schlaf der Sünde‘ und ‚die Weisheit des Glaubens‘. Ebron daz velt die erden truoc, dâ Got nam erden ûz gevuoc, dâ von machte her Adâmen. der vater ist mit wîsheit kluoc, 5 der einen sun ûz erden wuoc, dâ von wir alle quâmen. geschuof her in ûz erden doch, diu erde ist ouch sîn muoter noch. sie nam ir teil, dô Âdam starb, 10 der vater nam daz sîne, dô Got die sêle wider warb ûz herter helle pîne: mit dem gelouben ich hie bin. (Rumelant, XI ,1 = J, Singauf 5) Si<n>gûf vier meister hât bekürt, her hât in sînen sanc beschürt ze râten in dem sande. sô grôzer wort im nicht enbürt, 5 sîn liet ist valsch, daz ist gespürt, des hât er selben schande. Der slâf ist nicht sô vollen alt also der man. - wie ist daz gestalt? der man was ê ûf erden wîs 10 ê dan der slâf gewürde, dô brâchte in in daz paradîs Got. <dô er> sünden vürde gewuot, dâ wart der slâf geticht [ ]. (Rumelant, XI ,2 = J, Singauf 6) Doch noch während Rumelants Sprecher-Ich das Rätsel löst, „gleichsam en passant und ohne fremde Hilfe“, 20 indem es die beiden beabsichtigten Antworten nennt (‚Weisheit‘ im Vers XI ,1, 4: der vater ist mit wîsheit kluoc ; und ‚Schlaf ‘ in den Versen XI ,2, 7 f.: Der slâf ist nicht sô vollen alt / also der man ), drückt es Vorbehalte gegenüber der Prämisse aus, die dem 20 Obermaier (wie Anm. 2), S. 215. <?page no="263"?> 262 Annette Volfing ursprünglichen Rätsel zu Grunde liegt: Adam war nicht mutterlos, wie Singauf behauptet, weil die Erde seine Mutter war, und ‚Schlaf ‘ (hier allegorisch als Sünde interpretiert) ist jünger als Adam, weil er erst mit dem Sündenfall in die Welt kam. Singauf wird so implizit als theologisch und spirituell unzulänglich dargestellt, da er die tiefere, allegorische Bedeutung von Schlaf missverstanden habe. Der Schlussvers der ersten Strophe ( mit dem gelouben ich hie bin ) unterstreicht auf ähnliche Weise die theologische Kompetenz von Rumelants Sprecher-Ich im Kontrast zu Singaufs mangelnden Kenntnissen. Rumelant impliziert, dass es diese Kompetenz ist, die es ihm ermöglicht, Singaufs Rätsel tiefer zu ergründen als dieser selbst. Singauf wird so vom Kollegen zum Schüler herabgestuft. In den Strophen, die in Rumelants eigenem Ton geschrieben - und im Aufbau der Jenaer Liederhandschrift weit vom ursprünglichen Rätsel getrennt - sind, ist der Hauptgegenstand der Diskussion nicht die Struktur des Rätsels, sondern Singaufs vermeintliche Überheblichkeit, die durch die Assoziation mit Luzifers Fall eine theologische Dimension erhält. 21 In einer spöttischen Dekonstruktion von Singaufs Namen macht Rumelants Sprecher-Ich Anspielungen auf die lächerliche Art und Weise, wie diese aufgeblasene Figur sich aufspielt: Sing ûf, sing abe, sing hin, sing her! ( VIII ,2 = J 87, V. 9). In dieser Serie von Imperativen wird Singaufs Name im wahrsten Sinne des Wortes dekonstruiert. 22 In der nächsten Strophe wird sein Status als adäquater Gegenspieler jedoch zu einem gewissen Grade wiederhergestellt - er ist das du , demgegenüber Rumelants ich seine literarischen Muskeln spielen lässt : <I>ch sage dir, Singûf, waz du tuost ( VIII ,3, V. 1 = J 88). Trotzdem ist das Ziel dieser zweiten Strophe, den wieder aufgewerteten Singauf auf seinen Platz zu verweisen, indem in aller Deutlichkeit dargelegt wird, wie der Vergleich mit anderen Dichtern - denen, die Bücher lesen - zu einer Minderung von Singaufs prîs ( VIII ,3, V. 17) führen wird. Nach einer strategischen Betonung seiner eigenen Bescheidenheit nennt das Sprecher-Ich vier andere Meister (Konrad von Würzburg, Helleviur, den Unverzagten und den Meißner), die alle besser qualifiziert seien als Singauf (Rumelant, VIII ,3 = J 88): <I>ch sage dir, Singûf, waz du tuost des du zu iungest volgen muost: nu lobe den Mîsner, der kan mê wen du, her leset in buochen. 5 drî spæhe meister, die noch leben, wiltu im die ze helfe geben, ir kunst tuot dîner kunste wê, daz soltu wol versuochen: von Werzeburch meister Conrât, 21 Zu diesen Sprüchen siehe auch Wachinger, Sängerkrieg (wie Anm. 2), S. 170-179; Löser (wie Anm. 2); Burkard (wie Anm. 2), S. 237-255. 22 Singauf ist offensichtlich ein sprechender Name. Vgl. Löser (wie Anm. 2), S. 516: „Singûf nämlich, und er steht exemplarisch für die Sangspruchdichtung (mindestens die kleinen Meister), ist keine Person, sondern ein Name, nicht einmal ein wirklicher Eigenname. Es handelt sich um den Namen, den sich Singûf selbst gegeben hat, oder den er durch andere bekam. Dieser Name bezieht sich nicht zuvörderst auf ein geschichtliches Individuum, sondern auf Texte. Singûf ist die Bezeichnung einer Vertextungsinstanz. Sein Name hat eine intertextuelle Funktion, ist selbst Text und verweist auf seine Texte“. <?page no="264"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 263 10 der besten singer einer, der schrift in buochen kunde hât, dâ von ist sîn getichte vil die reiner; der Helleviur der ander sî; der Unverzagete, sô ist ir drî; 15 stân sie dem Mîsnære bî, mit helfe ich bin der sorge vrî: sie machent, daz dîn sanges prîs wirt kleiner [ ]. Indem er impliziert, dass Singaufs Impertinenz weniger eine Beleidigung ihm selbst gegenüber als ein Affront gegen den literarischen ordo an sich darstellt, macht er sich gewissermaßen zum Verteidiger und Sprecher der gesamten Berufsgruppe. Wenn Rumelant den Emporkömmling Singauf in die Schranken verweist, tut er folglich nur seine Pflicht der Sache gegenüber - frei nach dem Motto ‚Es ist nicht persönlich gemeint, aber es musste einmal gesagt werden‘. Indem Rumelant für sich die Rolle des Hüters des ordo beansprucht, unterstreicht er nicht nur sein Recht auf einen Anteil an der kollektiven Identität, sondern auch darauf, ihre Konturen generell zu definieren. Wenn er dem Emporkömmling Singauf eine - im übertragenen Sinne - schallende Ohrfeige versetzt, erteilt er ihm nicht nur eine Lektion in Bescheidenheit, er nimmt auch eine didaktische Position seinen Berufskollegen gegenüber ein: Er hält gewissermaßen einen Meisterkurs im Umgang mit unkollegialem Verhalten. IV. Rumelants Ware und die Ausrichtung des Publikums In der Singauf-Kontroverse lehrt Rumelants Sprecher-Ich anhand eines praktischen Beispiels, das der Zuhörerschaft zeigt, wie ein allgemein nachvollziehbares Problem zu lösen ist. Meist ist die didaktische Situation jedoch anders konfiguriert, da der Meister sich als Quelle einzigartiger Informationen und Ratschläge präsentiert. So tendieren die Sprüche inhaltlich zu unverfänglichen moralischen Allgemeinplätzen, wenn etwa das Sprecher-Ich die negativen Konsequenzen der untrûwe (X,1, V. 1) kommentiert oder eine Lebensweise ohne giricheit, nît unde haz (VIII,8, V. 11) vertritt. Gelegentlich wird angedeutet, der Zuhörer dürfe sich von der Darbietung gewisse Lebenskompetenzen erhoffen ( ich lêre in, daz er tôren unde affen mîde , IV ,28, V. 9), doch es findet sich wenig Konkretes darüber, wie dies in der Praxis aussehen soll. Die Sprüche thematisieren weniger tiefschürfende Erkenntnisse als vielmehr sich selbst und reflektieren oder unterstreichen gern die verschiedenen Aspekte des Lehrprozesses, der inszeniert wird, wie z. B. die Gesamtkompetenz des Lehrers oder die Empfänglichkeit bzw. fehlende Aufnahmebereitschaft der Zuhörer. Während der interaktive Aspekt der Darbietung oft im Vordergrund steht - Ich wil den herren singen unde sagen unde lachen, / daz sie gedenken mîner kunst, ich denke ir milde ( IV ,24, V. 1 f.) -, machen diese Verse auch deutlich, dass die herren für kunst zahlen und nicht für praxistaugliche Lehreinheiten oder Informationsmaterialien. Obwohl kunst eine Handelsware ist, wird sie selten als ein greifbares Objekt dargestellt, wie etwa die Perle in der Fabel des Strickers. Selbst in Rumelants allegorisch aufwendiger Polemik gegen den Marner ist nicht ganz klar, welches Element der Allegorie das künstlerische Werk des Rivalen darstellen soll. Die Allegorie zeigt den Marner als einen alten Müller, in dessen Mühle sich drei Räder befinden, die jeweils eine seiner intellektuellen <?page no="265"?> 264 Annette Volfing Stärken repräsentieren: seine fundierten Lateinkenntnisse, seine Fähigkeit, auf Schwäbisch zu schreiben, und seine allgemeine Lebenserfahrung. 23 Bei einer Mühle geht man davon aus, dass Mehl (für Brot) das Endprodukt bildet. Hier wird aber wenig davon gesprochen; stattdessen konzentriert sich Rumelant auf den Fluss, dessen ungewöhnlich starke Strömung die Mühle antreibt und als der sin ( IV ,5, V. 1) gedeutet wird, der aus Marners Herzen fließt. Dieser Ansatz mag zur Schlussfolgerung verleiten, dass nicht nur Brot, sondern auch Wasser die Erkenntnis darstellen kann, die vom Dichter an die Zuhörer weitergegeben wird - eine Lesart, die mit der traditionellen Darstellung der Diffusion theologischer Lehre in Einklang steht. 24 Die Identifikation von Wasser mit Kunst ergibt sich auch daraus, dass Rumelants Sprecher-Ich betont, hätte er nur die durch die drei Mühlräder bezeichneten Begünstigungen gehabt, sein wazzer wære ouch starcher mit gesange (IV,5, V. 10). Die starke Strömung des Wassers beim Marner ist jedoch nicht nur Grund für Lob: hât her vil starker vluot gewalt, waz mac uns daz gewerren? / sîn breiter wâch der stêt ouch nicht in ganzem prîse (IV,4, V. 3 f.). Vielmehr ist die übervlüete (IV,4, V. 5) so unmäßig, dass der Damm bricht, was dazu führt, dass die Mühle leer bleibt. Wenn also das Wasser die konkrete Erkenntnis darstellt, die vom meister an die Zuhörerschaft weitergegeben wird, scheint der Vorwurf gegen den Marner als Müller zu sein, dass er sein Publikum mit seiner Informationsflut überfordert, wobei der didaktische Prozess auf der Strecke bleibt. Das Übermaß an sin könnte sich allerdings auch auf die Gemütsverfassung des Marners beziehen. In diesem Fall ist das Problem nicht das Informationsvolumen, sondern die Vehemenz oder Intensität, mit der die Informationen vermittelt werden. Während der Marner dafür zur Rechenschaft gezogen wird, nicht das Maximum an Kommunikation zu erreichen, befassen sich andere Sprüche Rumelants mit der Vorstellung, dass ein Lehrer seine Schüler absichtlich in die Irre führt. Spruch X,2 thematisiert den Austausch zwischen meister und Schüler im Kontext von Ratschlägen, die allem Anschein nach moralisch zweifelhaft sind: Daz ein getrûwer, stæter man / vil schalkes list weiz unde kan, / des wil ich im wol gunnen (X,2, V. 1-3). Die Dynamik des didaktischen Prozesses wird durch den imaginären Einwand eines Zuhörers in den Vordergrund gerückt: „nicht, meister, tuo die sprüche hin! / mîn trûwer muot, min staeter sin / sol nimmer valscheit kunnen“ (X,2, V. 4-6). Diese inszenierte Unterbrechung stellt vorübergehend das Vorrecht des meisters in Frage, Ratschläge zu erteilen, und verschafft der Auffassung des Zuhörers Geltung, dass sein moralischer Kompass zuverlässiger sei als der des angeblichen meisters. Der didaktische ordo ist erst wieder hergestellt, als der meister seine Autorität geltend macht, indem er erklärt, dass die Tugendhaften die Wege der Schelme kennenlernen müssen, um ihnen Einhalt zu gebieten. Ein solchermaßen theoretisches Verständnis der schalkes list versetzt jedoch noch niemanden in die Lage, sie zu vereiteln. Es liegt natürlich in der Natur des Spruches, dass diese eher dubiosen Kompetenzen nicht Gegenstand der Unterweisung werden; sie stehen lediglich auf dem moralischen Lehrplan. 23 Rumelant, IV,5, V. 3-10: daz eine rat melet dir latîn, des vil dîn kunst geniuzet, / dar umme endanke ich dir nicht sêre grôzes wâges. / daz ander rat dir swæbesch melet: dîn diutsch ist uns ze dræte. / daz dritte rat / daz ist dîn alter, nû ist dîn kunst verkunstet. ob ich hæte / den selben phat / gegen ze latîn unde ze diutischen alsô lange / sô dû, mîn wazzer wære ouch starcher mit gesange. 24 So werden z. B. die vier Evangelisten mit den vier Flüssen des Paradieses verglichen oder der Evangelist Johannes schenkt die Gnade von Gottes Wort in der ganzen Welt aus. Zu diesem Motiv siehe Annette Volfing, John the Evangelist and Medieval German Writing , Oxford 2001, S. 45-47. <?page no="266"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 265 In diesem Fall ist die Umkehrung der normalen moralischen Werte nur zu offensichtlich. Im Gegensatz dazu ruft Spruch IV ,26 die Figur des Harald (oder Heralt) ins Leben, einen wahrlich paradoxen Sänger, der die Tugend anprangert und das Böse lobt: Heralt ein singer was genant, des muot was sô verkêret, / der sanc den bœsen herren lob unde schalt die guoten ( IV ,26, V. 1 f.). Der Spruch beschränkt seine Kritik an diesem Sänger auf die Bemerkung, Haralds muot sei verkêret , und greift stattdessen die Herren an, die sich als lobenswert in Haraldes wîse erweisen ( IV ,26, V. 10). Der Begriff des verkêren taucht jedoch schon in einem früheren Spruch im 4. Ton auf, wiederum im Kontext künstlerischer Unzulänglichkeit. In Spruch IV ,22 wird ein Maler dafür gescholten, dass er den Unterschied zwischen zwei- und dreidimensionaler Abbildung nicht verstünde. Eine freistehende Skulptur kann so gedreht werden, dass das Gesicht in alle möglichen Richtungen blickt, wenn aber ein Wandgemälde den Hinterkopf eines Mannes zeigt, ist es unmöglich, es so zu drehen, dass sein Gesicht sichtbar wird (Rumelant, IV ,22 = J 53): Man möchte ein bilde mâlen an die want mit eime nacke, daz sunder antlitz wære, wolte manz verkêren. âschaffen bilde mâler, unbederve snatersnacke, nû mâle selbe ein bilde. wer sol dich daz lêren, 5 daz dû im kêres zuo der want die nase, munt und ougen, stirne und kin, daz man antlitz und ôren sê? der kunst wil ich dich lougen, ich weiz den sin: gesniten antlitz mac man zuo der wende schicken, 10 gemâlte bilde müezen gegen ir meister blicken. Der fragliche Maler hat eine exzentrische Entscheidung getroffen, als er die menschliche Gestalt von hinten malte. Dadurch, dass sein bilde in die verkehrte Richtung zeigt, entlarvt er seine Gesinnung als ebenso verkêret wie die Haralds. Nur eine zweite ‚Verkehrung‘ könnte jetzt noch die Situation retten. Die Pointe des Spruches scheint über die reine Beobachtung hinauszugehen, dass Skulpturen sich von Wandmalereien unterscheiden oder dass es naiv wäre, eine gemalte Figur herumdrehen zu wollen. Wie Holger Runow bemerkt, handelt es sich hier um ein weiteres Beispiel von „Sängerpolemik“: Die bildenden Künste sind nicht wirklich Gegenstand der Diskussion, sondern dienen nur als eine Analogie für die Literatur. 25 Viel hängt von der Interpretation von bilde ab, einem Begriff mit einer umfangreichen semantischen Breite und einer großen Zahl von literarischen und didaktischen Assoziationen, von denen die vielleicht aussagekräftigste Thomasîns hülzîn bilde ist, das als Analogon zu den aventiuren dargestellt wird, von denen man lernen könne, waz ein ieglîch man tuon sol / der nâch vrümkeit wil leben wol . 26 Die grundlegende Bedeutung von bilde in Rumelants 25 Vgl. Runow (wie Anm. 1), S. 238. 26 Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria , hg. von Heinrich Rückert, mit Einleitung und Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965, V. 1127, 1133 f. Zu dieser Stelle (und zum damit verbundenen Integumentum-Problem) siehe Christoph Huber, „Höfischer Roman als Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere“, in: ZfdA 115 (1986), S. 79-100, besonders S. 94; Fritz Peter Knapp, „Integumentum und Âventiure. Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris? ) und Thomasin von Zerklaere“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 28 (1987), S. 299-307; Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200 , Berlin 1994 (Phil.Stud.u.Qu. 129), S. 103-112. <?page no="267"?> 266 Annette Volfing Spruch scheint die eines künstlerischen Erzeugnisses zu sein, das in seiner Nachahmung der Realität mangelhaft bleibt: Diese Darstellung der menschlichen Figur hat einen nacke , aber keine Gesichtszüge. Das hier thematisierte Problem ist aber nicht, ob Zwei- oder Dreidimensionalität vorzuziehen sei; die gemalte Abbildung ist nicht an sich der Skulptur unterlegen, solange ihre Ausrichtung passend ist. Man mag sich natürlich fragen, warum das Sprecher-Ich an der Idee einer von hinten abgebildeten Figur solchen Anstoß nimmt. Der nacke ist sicher in den meisten Fällen weniger interessant als das Gesicht, aber legitime konzeptuelle Gründe für eine solche Abbildung sind durchaus vorstellbar. Das Anliegen des Spruches ist jedoch nicht die Frage, was für den Betrachter erfreulicher oder ansprechender wäre. Die Schlüsselbeziehung - und der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Spruches - ist nicht die Beziehung zwischen dem Werk und seinem Betrachter, sondern zwischen dem Werk und seinem Schöpfer. Das Problem scheint darin zu liegen, dass der meister es unterlassen hat, das bilde auf sich selbst auszurichten, ein Versäumnis, das bei einem Gemälde, im Unterschied zur Skulptur, irreversibel ist. Die Vorstellung, dass ein bilde seinen meister eigentlich anblicken sollte, erzeugt eine merkwürdige Parallele zwischen dem Artefakt und dem idealen Zuhörer; auch er sollte mit ungeteilter Aufmerksamkeit dem meister zugewandt sein. Im Gegensatz dazu erscheint der im Spruch gerügte Künstler wie ein unzulänglicher Lehrer, der es versäumt, mit einer widerspenstigen Schulklasse Blickkontakt zu halten oder - noch schlimmer - der die Klasse mit Absicht in die falsche Richtung blicken lässt. Die Interpretation von bilde als Artefakt wie auch als Publikum ist natürlich nicht unproblematisch, aber in der mittelhochdeutschen Dichtung finden sich Präzedenzfälle für den raschen Bedeutungswandel dieses Terminus. Strophe 4 von Walthers Ir reinen wîp, ir werden man , in dem bilde nicht nur für die Geliebte steht, sondern auch für die Gattung Minnesang und für den Körper des Sprecher-Ichs, stellt ein eindeutiges Beispiel dar. 27 Der Bedeutungswandel in Rumelants Spruch ist vergleichsweise einfacher abgehandelt: Selbst wenn die primäre Bedeutung von bilde sich auf einen didaktischen Spruch (oder eine literarische Komposition) bezieht, nimmt der Begriff problemlos eine sekundäre Bedeutung an, die die Zuhörer mit einschließt, die durch den didaktischen Prozess gebildet wurden. Der höchste meister für Rumelant ist Gott, der nicht nur alle dinge geschaffen hat, sondern auch meisterschaft selbst: 28 Got aller scheffenunge list / kan unde weiz, her meister aller dinge ( VIII ,1, V. 16 f.). Obwohl es ein Topos ist, dass Dichter ihre Werke analog zu Gottes Schöpfungsakt kreieren, 29 geht die vorgeschlagene Lesart der meister- Parallele zwischen Gott und Künstler in Spruch IV ,22 noch einen Schritt weiter: Während Gott der ursprüng- 27 L 66,21-68,7, hier L 67,32-68,7 ( Die Gedichte Walthers von der Vogelweide , hg. von Karl Lachmann, 13., aufgrund der 10. von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu hg. von Hugo Kuhn, Berlin 1965; Walther von der Vogelweide, Leich. Lieder. Sangsprüche , 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns, hg. von Christoph Cormeau, Berlin / New York 1996, II,43, hier Strophe V). Vgl. Jan-Dirk Müller, „Walther von der Vogelweide: Ir reinen wîp, ir werden man “, in: ZfdA 124 (1995), S. 1-25, besonders S. 12-22; Timothy McFarland, „Walther’s bilde . On the Synthesis of Minnesang and Spruchdichtung in ‚Ir reinen wîp, ir werden man‘ (L. 66,21 ff.)“, in: Oxford German Studies 13 (1982), S. 183-205. 28 Rumelant, VII,1, V. 1-4: Got herre almechtich / vorbedechtich / aller meisterschaft und aller dinge / du eine meisterscheffer bist ; VIII,1, V. 1-3: Herre unde meisterscheffer mîn, / Got, alle crêatûre dîn / die hâstu dir ze lobe gedâcht . 29 Vgl. C. Stephen Jaeger, „Der Schöpfer der Welt und das Schöpfungswerk als Prologmotiv in der mhd. Dichtung“, in: ZfdA 107 (1978), S. 1-18. <?page no="268"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 267 liche Schöpfer der Menschen ist, erschafft der Spruchdichter sie neu, indem er sie in den didaktischen Prozess involviert. Noch während der Spruch seinen didaktischen Erfolg erzielt, werden die Zuhörer als vermeintliche Konsumenten des Artefakts zu einem Teil desselben. Dieses Modell, bei dem der Dichter bzw. Lehrer als Schöpfer seiner Zuhörer hervortritt, hat den Vorteil für den meister , dass es auch, oder sogar besonders, bei erfolgreichem Unterricht auf einer grundsätzlichen Hierarchisierung basiert und den Schülern keine Chance lässt, den Lehrer jemals einzuholen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Poetik Rumelants weitgehend auf aggressivem Rollenspiel basiert. Seine Sprüche beschäftigen sich wiederholt damit, dass das Sprecher-Ich sich gegenüber seinen Zuhörern behaupten muss, sich als Lehrer mit ihnen konfrontiert und sich durch diejenigen unterminiert sieht, die nicht lernen wollen. Herablassende Rügen an Kollegen stellen eine naheliegende Form der Selbstbehauptung dar. Abgesehen davon, dass es bestrebt ist, Kollegen zum Status von Schülern zu degradieren, verwischt Rumelants Sprecher-Ich jedoch auch die Unterscheidung zwischen Produzenten und Konsumenten, indem er alle Zuhörer herausfordert, ihre (eher theoretische) literarische Kompetenz mit der seinen zu messen. Spruch IV,22 schließlich befasst sich damit, inwiefern in dieser Gattung die erfolgreiche Ausrichtung - oder Bildung - der Zuhörerschaft als Teil der künstlerischen Gesamtleistung zu verstehen ist. Lehren, Lernen und Bilden sind hier Aspekte desselben Prozesses, der sich angeblich im literarischen Text vollzieht, wobei die metaphorische Anlehnung an die bildende Kunst eine normative Ästhetisierung des Vorgangs unterstreicht. Das erzeugte ‚Kunstwerk‘ reflektiert die absolute Machtposition der Lehrinstanz: Bei Rumelant, wie in der Gattung Sangspruchdichtung überhaupt, ist der scheinbare Wissenstransfer weder auf die Befähigung der Lernenden, noch auf die Erschaffung von intellektuellen Freiräumen ausgerichtet. Stattdessen ist der Themenkomplex Lehren - Lernen - Bilden poetologisch motiviert, indem er die Berechtigung des meisters bestätigt, besondere, gattungstypische Sprechmodi für sich in Anspruch zu nehmen, und für die grundsätzliche Depotenzierung des Publikums als moralisches Desideratum zu plädieren. <?page no="270"?> Kunst- und Wissenstransfer bei Rumelant von Sachsen 269 Fachsprache und Dialog <?page no="272"?> Geschrei oder Gesang 271 Geschrei oder Gesang Rosenplüts Beitrag zur Debatte um Leitbilder der Nürnberger Handwerkerdichtung im 15. Jahrhundert Heike Sahm und Stephanie Schott I. Einleitung Der vor allem von den städtischen Handwerkern und damit Dichterdilettanten geführte Diskurs über Leitbilder und Autoritäten für das eigene Gemeinwesen ist noch nicht hinreichend untersucht. Zwar ist mehrfach beschrieben, wie sich die Gattungen des Städtelobs, der Stadtchronik usw. im Zuge der Ausbildung der städtischen Identität ausprägen, aber der Diskussionsprozess selbst ist noch nicht hinreichend untersucht. 1 Dabei lässt die Überlieferung interessante Zusammenhänge erkennen, wenn etwa die Sag von Nürnberg in einer Sammelhandschrift überliefert wird, die sonst vor allem katechetische Texte enthält, oder wenn das die Judenpolitik des Rates kritisch diskutierende Märe Die Disputation gleichzeitig mit den antijüdischen Drucken von Folz als Broschüre käuflich zu erwerben war. Bei einer auf den diskursiven Beitrag der Texte fokussierten Lektüre rückt die Frage nach dem Anteil des jeweiligen Textes an der Konstitution eines Autorprofils oder -bewusstseins in den Hintergrund gegenüber der Frage, wie in der Stadt welcher Gegenstand in welchem Zeitraum debattiert werden kann. Im Folgenden möchten wir diese Frage an einem Beispieltext durchspielen und dabei für das Lied Lerche und Nachtigall von Hans Rosenplüt eine neue Lesart erproben. 2 Das bislang vor allem als Beitrag zum Gegensatz von Hof und Stadt gedeutete Lied möchten wir als Beitrag zu einer innerstädtischen Auseinandersetzung zwischen dem Meistergesang und anderen in der Stadt verfügbaren Formen von ‚Kunst‘ verstehen. 3 Deren Spektrum ist in Nürnberg im 15. Jahrhundert ausgesprochen vielfältig und wird nicht allein von den 1 Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters , München / Zürich 1986 (MTU 88); Klaus Garber, Stadt und Literatur im alten deutschen Sprachraum. Umrisse der Forschung - Regionale Literaturgeschichte und kommunale Ikonologie - Nürnberg als Paradigma , Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39.1), S. 3-89; Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 , Ostfildern 2009 (Mittelalter-Forschungen 26); Klaus Garber, „Literatur in der Stadt: Bilder der Stadt in der Literatur. Eine kleine europäische Revue“, in: Vielerlei Städte. Der Stadtbegriff , hg. von Peter Johanek und Franz Joseph Post, Köln u. a. 2004 (Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 61), S. 71-89. 2 Rosenplüt, Lerche und Nachtigall , in: Hans Rosenplüt, Reimpaarsprüche und Lieder , hg. von Jörn Reichel, Tübingen 1991 (ATB 105), Nr. 25, S. 262 f. Nach dieser Ausgabe werden Rosenplüts Texte im Folgenden zitiert. 3 Ingeborg Glier, „Hans Rosenplüt“, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit ( 1450 - 1600 ). Ihr Leben und Werk , hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 71-82; Jörn Reichel, Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg , Stuttgart 1985, S. 215 f. <?page no="273"?> 272 Heike Sahm und Stephanie Schott Meistersingern geprägt: Als Handwerkerdichter, die nicht zugleich Meistersinger sind, können etwa Hans Rosenplüt, der Panzerhemdmacher, Hans Widerstein, der Büchsenmacher, Hans Rosenstock, der Dachdeckermeister, Hans Kugler, der Färber, Kunz Has, der Tuchmachergeselle u. a. m. genannt werden. Dabei sind unterschiedliche Profilierungen der Handwerkerdichter auf Anhieb zu erkennen: Während sich der Nürnberger Meistergesang im 15. Jahrhundert auf eine alte Tradition und deren Autoritäten beruft und daraus seine Legitimation einer Literatur von Laien ableitet, bezieht etwa Rosenplüt einen Großteil seiner literarischen Typen aus der Literarisierung vormals mündlicher Formen. 4 In der Diskussion des Liedes Lerche und Nachtigall möchten wir zeigen, dass Rosenplüt diese gegenüber dem Meistergesang andere Ausrichtung und Legitimierung seiner Dichtkunst gerade in Abgrenzung vom Meistergesang entwickelt und in der Selbstbezeichnung des ‚Schnepperers‘ programmatisch zu fassen versucht: Wo andere ihre Lieder kunstgerecht und traditionsbewusst vortragen, da wird in Lerche und Nachtigall ein Recht auf das ‚Klappern‘ der an der Mündlichkeit von Laien orientierten, programmatisch ungelehrten Rede vertreten. II. Nutzen vs. Kunst Rosenplüt gibt in seinem fünfstrophigen Lied zunächst der Henne den Vorzug vor Lerche und Nachtigall (V. I,1-4): I,1 Die lerch und auch die nachtigal, Die treiben groß geschrei. Das peste gesangk, das ich da weiß, Das heist gacack ein ei. Mit solchen Antithesen geht es in den folgenden Strophen weiter. In der zweiten Strophe wird der kunstvolle Chorgesang mit dem Gesang des Bauern kontrastiert (V. II ,9-12): Man lobet uns den chorgesank, 10 Der ist hubsch und clug. Dafur lob ich den pawern singen Hinten an dem pflug. Und während, so heißt es in der dritten Strophe, der süße Klang des Saitenspiels gelobt wird, da bevorzugt das Sänger-Ich das Geblöke der Schafe beim Gebären (V. III ,17-20): Man lobet uns der seiten clang, Die also sueßlich clingen. Dafur lob ich das schafgeschrei, 20 Wenn sie die lemmer pringen. Der ländliche ‚Gesang‘ ist Begleiterscheinung von natürlichen Abläufen und Tätigkeiten: von Eierlegen, Aussaat und Geburt, deren Nützlichkeit für ‚uns‘ Rosenplüt nachdrücklich herausstellt: Die Bäuerin sammelt die Eier ein (V. I,7 f.: So steigt die pewerin zu dem nest / 4 Rosenplüts Œuvre umfasst die ursprünglich mündlich tradierten literarischen Formen des Reimpaarspruchs, Priamels, Fastnachtspiels, Klopfan-Spruchs und Weingrußes. Vgl. Ingeborg Glier, „Rosenplüt, Hans“, in: 2 VL , Bd. 8, Berlin / New York 1992, Sp. 195-211. <?page no="274"?> Geschrei oder Gesang 273 Und nimpt die eier auß ), der Kornkasten zur Aussaat ist schließlich leer (V. II ,15 f.: Der habern ist gar dahin, / Der kornkast ist ler ), die Lämmer bringen im Herbst weiße Wolle und Käse (V. III,23 f.: So geben sie uns die wollen weiß / Und die veisten keß ). Die Nützlichkeit eines von Gesang begleiteten Wirtschaftens ‚für alle‘ wird hier konfrontiert mit dem ästhetischen Genuss, wie er durch Saitenspiel, Chorgesang und die Vögel Lerche und Nachtigall repräsentiert wird, und diese Konfrontation von Nutzen und Ästhetik wird in der vierten Strophe noch einmal zugespitzt (V. IV ,25-30): 25 Gackack ein ei und schafgeschrei: Dem gesang, dem sullen wir neigen. So macht man awß den schafdermen Die seiten auf die geigen Und sneit awß iren hewten 30 Uns die nestelzehe. Musik auf Saiteninstrumenten - so wird es hier vorgeführt - ist ohne die Erzeugnisse der Landwirtschaft gar nicht möglich, denn die Schafdärme werden für die Herstellung der Saiten benötigt, und selbst noch eine solch alltägliche Kleinigkeit wie die Nestelzehe verdankt sich der Verarbeitung von Schafleder. 5 Aus „Nützlichkeitserwägungen“, so resümiert Ingeborg Glier, „gibt Rosenplüt spielerisch dem Gackern der Hennen und dem Blöken der Schafe den Vorrang vor dem Gesang der Vögel“. 6 Mit seinem Text schließt Rosenplüt, wie vermittelt auch immer, an die Gattung der Streitgedichte an, in denen zwei widersprüchliche Lebenshaltungen konfrontiert werden. In dieser Tradition stehen Texte wie Der Herbst und der Mai und die Gedichte des Königs vom Odenwald. In Der Herbst und der Mai werden Minne und Tafelfreuden gegeneinander ausgespielt, wobei der mit Blumen und Vogelgesang ausgestattete Mai schließlich dem Herbst unterliegt, der mit der ganzen Bandbreite im Herbst verfügbarer Leckereien aufwarten kann. 7 Wie Rosenplüt leitet der König vom Odenwald seine Gedichte zu Nutztieren antithetisch ein: 8 Während andere ihre Liebste besingen, bringt er das Lob der Kuh vor, deren vielfältigen Nutzen er in 238 Versen ausführt; oder er leitet das Gedicht vom Huhn mit einem Ausblick auf den Vogelgesang ein, darunter Lerchen, Drosseln, Nachtigallen (V. 41), die sich mit ihrem Gesang überall hören lassen. Gegen solchen Vogelsang wird nun in der Folge das Hühnergegacker als das eigentlich Lobenswerte abgesetzt: Der gesang wer gar enwiht, / Und getzten die huͤner niht! (V. 49 f.; ‚Der Gesang taugte aber gar nichts, wäre da nicht das Gackern der Hühner‘). 9 Es folgt die bekannte Auflistung von 5 Als Nestelzehe verstehen wir die lederne Spitze eines Nestelbandes, mit dem das Einfädeln des Bandes erleichtert wird, das zum Verbinden und Verschließen des Gewandes nötig ist. Anders versteht Reichel die nestelzehe als Sandale, vgl. den Kommentar in Ed. Reichel (wie Anm. 2), S. 339. Eine Anfrage beim Frühneuhochdeutschen Wörterbuch ergab keine abschließende Sicherheit in dieser Frage. 6 Glier (wie Anm. 4), Sp. 196. 7 Ausgabe des Textes in: Hanns Fischer, Die deutsche Märendichtung des 15 . Jahrhunderts , München 1966 (MTU 12), S. 462-470; vgl. ferner Rolf Max Kully, „Der Herbst und der Mai“, in: 2 VL , Bd. 3, Berlin / New York 1983, Sp. 1031 f. 8 König vom Odenwald, Gedichte. Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch , mit einer Einleitung zur Klärung der Verfasserfrage hg. und übertragen von Reinhard Olt, Heidelberg 1988 (Germanistische Bibliothek, 4. Reihe: Texte), darin Nr. 1 „Gedicht von der Kuh“, Nr. 2 „Vom Huhn und vom Ei“, Nr. 3 „Das Lob der Gänse“, Nr. 5 „Gedicht vom Stroh“, Nr. 6 „Rede vom Schaf “, Nr. 9 „Gedicht vom Schwein“. Vgl. auch Gisela Kornrumpf, „Der König vom Odenwald“, in: 2 VL , Bd. 5, Berlin / New York 1995, Sp. 78-82. 9 Text zitiert nach Ed. Olt (wie Anm. 8). <?page no="275"?> 274 Heike Sahm und Stephanie Schott 20 Eierspeisen. Während hier die „Spannung zwischen laudativem Gestus und alltäglicher Pragmatik einen parodistischen Zweck“ hat, „der noch dadurch gesteigert wird, dass der Autor selbst bekennt, er wolle damit ein bezzers brisen als vrowen und vogelsingen “, 10 verläuft die Spannungslinie bei Rosenplüt anders. Hier geht es bei allen komischen Kontrasten auch darum, mit Bäuerin, Bauer und Schäfer den dritten Stand, den der Produzenten, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Für solche Sozialkritik ist Rosenplüt bekannt. 11 Etwa in der Reimpaarrede Der Müßiggänger beklagt das Sprecher-Ich, dass Bauern und Handwerkern, die mit ihrer harten Arbeit die Existenzgrundlage der Gesellschaft sichern, nie gedankt werde: 12 Der hantwerkman und auch der pawer 5 Die zwen, die mussen in [den Müßiggänger] allzeit neren. Der bawer muß mit dem pflug ereren Und auch der hantwergkman mit kunst. Noch hat er weder lieb noch gunst Zu den, die im sein brot gewinnen. 10 Das oft der sweiß muß von in rinnen, Desselben er in selten dankt. Entsprechend sozialkritisch hat Jörn Reichel Lerche und Nachtigall auch verstanden: In dem zu Unrecht als ‚Schlemmerlied‘ bezeichneten Text würden der Adel und höfisches Leben verspottet, 13 „indem dem vom Hof geschätzten kunstvollen Gesang die einfachen, erdverbundenen Lebensäußerungen aus dem Umkreis der Bauern entgegen[ge]stellt [werden]. […] Zielscheibe des Spotts ist ein höfisch verfeinerter Kunst- und Lebensstil, der sich seiner Abhängigkeit von den Bauern nicht bewusst ist“. Aber geht es um die Verspottung des Adels? Nicht zufällig adressieren die Verweise auf jenen Lebensstil nicht das höfische Leben insgesamt, sondern beschränken sich auf die Ebene der Kunst. Von daher ist - bei aller enthaltenen Sozialkritik - die Stoßrichtung des Textes unseres Erachtens eine andere. III. Sozial- oder Kulturkritik? Rosenplüt zielt nicht in erster Linie auf eine Kontrastierung der Stände und ihrer Lebensformen, sondern auf die Gegenüberstellung ‚natürlicher‘ und ‚künstlicher‘ Arten von Klang und Gesang. Die Kritik Rosenplüts richtet sich auf die ungerechte Bewertung der beiden Sphären durch ‚uns‘, also durch Rosenplüts imaginiertes reichsstädtisches Publikum. Wäh- 10 Johannes Janota, Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit ( 1280 / 90 - 1380 / 90 ) , Tübingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit, Bd. 3: Vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, Teil 1), S. 309. 11 Reichel (wie Anm. 3), S. 215-220. 12 Rosenplüt, Der Müßiggänger , in: Ed. Reichel (wie Anm. 2), Nr. 12, S. 125-131, V. 4-11. 13 Reichel (wie Anm. 3), S. 215. Dagegen wird der Text von Hanns Fischer und Hansjürgen Kiepe als Schlemmerlied bezeichnet. Vgl. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung , 2., durchgesehene und erweiterte Auflage besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 153; Hansjürgen Kiepe, Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreib- und Druckwesen im 15 . Jahrhundert , München 1984 (MTU 74), S. 296. <?page no="276"?> Geschrei oder Gesang 275 rend ‚man uns‘ - wie es in den Eingangsversen der Strophen II und III heißt - Chorgesang und Saitenspiel lobt, während ‚man uns‘ auffordert, dass wir uns an diesen musikalischen Künsten orientieren, hält das Sänger-Ich dagegen: Hühnergegacker, Bauerngesang und Schafgeschrei gebe er allemal den Vorzug vor dem Geschrei der Singvögel, dem Chorgesang und dem Saitenspiel. Die wiederholten Antithesen münden in der indirekten Aufforderung an sein Publikum, sich ihm anzuschließen: Gackack ein ei und schafgeschrei: / Dem gesang, dem sullen wir neigen (V. IV ,25 f.). Worauf Rosenplüt sich mit seinem Lied bezieht, ist offensichtlich eine Kontroverse um die öffentliche Meinung, wer eigentlich mehr Anerkennung ‚durch uns‘ verdient hat. Das Sänger-Ich protestiert gegen das Postulat einer verfeinerten Kunstnorm und setzt die natürliche Geräuschkulisse des Landlebens dagegen. Es schlägt sich auf die Seite der Kunstlosen, der illiterati , und fordert deren Lob ein, einfach weil die illiterate Welt der literaten die Existenz sichert. Mit dieser Gegenüberstellung von Kunst und Einfachheit, von literat und illiterat ist ein bekannter literaturtheoretischer Topos angesprochen, dessen Parameter sich durch die Literaturgeschichte seit der Antike verfolgen lassen: der Gegensatz von schlicht und erhaben, von humilis und sublimis . 14 ‚Wahr‘ ist nach Auffassung des Sänger-Ichs, was sich einfach, im stilus humilis äußert. 15 Die Kunst dagegen wird von Rosenplüt dem Verdacht ausgesetzt, zu Unrecht so viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn der Text aber eine Reflexion nicht über Lebensformen, sondern über deren Bewertung anstößt, dann ist der sozialkritische Aspekt nachrangig; in erster Linie geht es um ‚Dichtung über Dichtung‘, um eine Kritik an den propagierten Normen für musikalische Kunst, und damit folgt die neu aufgemachte ästhetische Hierarchie nicht schlicht aus einer Umkehrung der sozialen. Denn auf wen zielt Rosenplüt mit seiner Kritik? Wer propagiert die von ihm kritisierte Kunstnorm, an der sich das reichsstädtische Publikum gerade nicht ausrichten soll? Man muss nicht lange suchen, um Teilnehmer an einer innerstädtischen Debatte zu benennen, in der die Frage nach dem Kunstanspruch auch von Laien diskutiert wird. Für ihr Postulat einer an der höfischen Tradition orientierten Kunstnorm sind die Nürnberger Meistersinger im 15. Jahrhundert bekannt. Ein Lied gilt dann als gelungen, wenn es die überwiegend von älteren ‚Meistern‘ erfundenen Töne korrekt verwendet. Für ihre Regelpoetik und ihren Konservativismus ernten die Meistersinger nicht nur Zustimmung. Der Barbier Hans Folz, selbst über Jahre seines Schaffens hin als Meistersinger tätig, setzt sich in seinen berühmten („kaum später als in den 60er Jahren“ entstandenen) Reformliedern des Zyklus Nr. 89-94 mit den Regeln der Meistersinger auseinander. 16 Darin kritisiert er die Forderungen aus 14 Walter Haug, Literaturtheorie des deutschen Mittelalters. Von den Anfängen bis zum Ende des 13 . Jahrhunderts , 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Darmstadt 1992, S. 7-24: „Die Voraussetzungen: Antike Rhetorik und christliche Ästhetik“. 15 Vgl. zum Lob der Laiengegenüber der höfisch-weltlichen Liedkultur auch den Preis von Leisen im Renner Hugos von Trimberg, der sich polemisch gegen die höfisch-weltliche Liedkultur richtet: Der leien leisen durch tiutschiu lant / Sint einveltic und doch baz bekant / Denne manic kunst, ûf die geleit / Ist grôziu kost und arbeit (V. 11 121-11 124). Hugo von Trimberg, Der Renner , Bd. 1-4, hg. von Gustav Ehrismann, mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Tübingen 1909, Nachdruck Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Texte des Mittelalters), hier Bd. 2, S. 70. 16 Frieder Schanze, Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs , Bd. 1: Untersuchungen , Bd. 2: Verzeichnisse , München 1983 (MTU 82 / 83), hier Bd. 1, S. 338. Die Lieder sind ediert von: August L. Mayer, Die Meisterlieder des Hans Folz aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q. 566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen , Berlin 1908, Nr. 89-94, S. 334-353; zum Status der Reformlieder mit intensiver Forschungsdiskussion vgl. Michael Baldzuhn, „Ein meisterliches Streitgedicht. Zum poetologischen Horizont der Lieder Nr. 89-94 des Hans Folz“, in: Lied <?page no="277"?> 276 Heike Sahm und Stephanie Schott dem Kreis der Meistersinger, „nach denen nur noch in den Tönen der zwölf alten Meister soll gedichtet werden dürfen, die Benutzung von Tönen der nachdichter aber und die Erfindung neuer Töne verboten sein soll“. 17 Folz polemisiert hier „in vollem Ernst“ 18 gegen Dummheit und Hochmut der Meistersinger. Ihr Beharren auf der Autorität der Tradition schließe einerseits jede Weiterentwicklung aus, und andererseits schüfen sich die Meistersinger mit dieser Sturheit nur Gegner. 19 Während Folz in diesem Zyklus eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kunstkriterien des Meistergesangs führt, macht er sich in einem anderen Zyklus, der Liedgruppe 39-49, 20 offen über den verfehlten Anspruch der Meistersinger lustig: Ein dörper aus Franken, der die Stadt Nürnberg gerade als Ursprung der Liedkunst aufsucht (V. 48,27 f.: Do docht ich wie der uresprung / Mitt kunst allein zu Nurnberg wer ), muss feststellen, dass die Meister auch die einfachsten Fragen (V. 48,24: Drey kindisch frag ) nicht beantworten können. Die Meister der Künste benehmen sich wie ‚Narren‘ (V. 49,9 f.) und sind auch nichts anderes als ‚grobe Laien‘ (vgl. V. 49,18), von denen ‚großes Geschrei‘ (vgl. V. 49,19) ausgeht und die Gefahr laufen, sich den Vorwurf des Hochmuts einzuhandeln (V. 39,68: Das euch nit ple [‚aufblähe‘] der hoffart dunst ). Der einfältige dörper erweist sich mit seinen stadelkunsten (V. 49,22: Scheunenkünsten) der Kunst der Meistersinger so weit überlegen, dass er den Sängerwettstreit für sich entscheiden kann. 21 Die beiden Lieder-Zyklen von Folz belegen, dass es eine intensive Debatte um die Ausrichtung des Meistergesangs bald nach der Jahrhundertmitte gegeben hat. Die in den Folz- Liedern polemisch zugespitzte Konfliktlinie zwischen dörper , stadelkunst und Verstand auf der einen und Meistersingern, Geschrei und Hochmut auf der anderen Seite prägt auch das Rosenplütsche Lied: Während das Sänger-Ich bei Folz die Rolle des illiteraten, aber siegreichen dörpers einnimmt, macht es bei Rosenplüt Werbung für die ‚natürliche‘, ungelehrte Kunst der ‚Kunstlosen‘. Vor diesem Hintergrund erscheint Rosenplüts Lied nicht als Abgrenzung nach außen, gegen den Adel, sondern als weiteres Zeugnis für die Diskussion um die Meistersinger. Freilich hat Rosenplüt diese Querelen von außen betrachtet, denn anders als Folz oder Sachs ist Rosenplüt nie Meistersinger gewesen. Sein Text aber zeigt an, dass die Diskussion um Kunst von Laien nicht nur im engeren Kreis der Meistersinger geführt wurde, sondern dass es durchaus Versuche gab, sich programmatisch von ihren Vorgaben abzusetzen. Dabei legt das Lied eine Abstufung nahe: Während der Chorgesang im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch , hg. von Cyril W. Edwards, Ernst Hellgardt und Norbert H. Ott, Tübingen 1996, S. 227-243. Zur Frage der Traditionsbindung vgl. ferner Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit , München 1975 (MTU 54). 17 Schanze, Bd. 1 (wie Anm. 16), S. 336. 18 Ebd., S. 339. 19 Vgl. ebd. Vgl. auch Michael Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift , Tübingen 2002 (MTU 120); Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung , hg. von Horst Brunner und Helmut Tervooren, Berlin 2000 ( ZfdPh 119, Sonderheft); Johannes Rettelbach, Variation - Derivation - Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger , Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 14). 20 Ed. Mayer (wie Anm. 16), Nr. 39-49, S. 180-192. 21 Schanze, Bd. 1 (wie Anm. 16), S. 339: „Reizvoll an diesen Liedern ist die Verbindung von dörperlicher Charakterisierung und sarkastischer Ironie in der Rolle des Sängers, der seinen Gegner mit heuchlerischer Bescheidenheit täuscht und ihn mit derbem Spott und grobianischen Beschimpfungen überwindet.“ <?page no="278"?> Geschrei oder Gesang 277 als Domäne der Geistlichkeit und das Saitenspiel als Domäne vermutlich des Patriziats (Hinweis von Volker Mertens auf der Tagung) als Gegenpole benannt werden, wird der Gesang von Lerche und Nachtigall als Geschrei bezeichnet und damit polemisch herabgesetzt. Wenn dann obendrein der Ausdruck des ‚Geschreis‘ für das Geblöke der Schafe wieder aufgenommen wird, dann mag man sich fragen, inwiefern hier von Rosenplüt nicht sogar auf eine Gleichsetzung von Schafen und Meistersingern angespielt werden soll? IV. Rosenplüt und Nachtigall Dass der Text keine unspezifische Kritik an der Übermacht eines aristokratischen Leitbildes formuliert, sondern seinen Ort in einer innerstädtischen Auseinandersetzung über Erwartungen an eine ‚Kunst von Laien‘ hat, dafür sprechen nicht nur die Parallelen zu den Texten von Hans Folz, sondern auch die Akteure, die Rosenplüt anbietet, die im ersten Vers genannten Vögel Lerche und Nachtigall. Reichel hat die Nennung gerade dieser im Minnesang omnipräsenten Vögel als metaphorische Umschreibung des höfisch verfeinerten Kunst- und Lebensstils gedeutet. 22 Aber der Topos wird gerade nicht schlicht übernommen, sondern umgekehrt: Lerche und Nachtigall ‚singen‘ nicht wie in Minnesang und Sangspruch, 23 sondern sie ‚treiben groß Geschrei‘, sie machen viel Aufhebens von sich und sind demnach Vertreter der bestrittenen Gegenposition. Wenn man diese Abweichung vom Topos ernst nimmt, sind Lerche und Nachtigall nicht Metaphern für die adlige Lebenswelt, sondern für Rosenplüts Kontrahenten. Die Wahl gerade der Nachtigallen-Metapher für einen Dichter wäre alles andere als erstaunlich. Sabine Obermaier hat gezeigt, dass die Nachtigall-Metapher auch außerhalb des Minnesangs vorkommt: In der Sangspruchdichtung „steht die Nachtigall nicht mehr für die Einheit von Liebendem und Singendem, ihr Bedeutungsspektrum wird ganz auf die Seite des Artisten eingeschränkt“. 24 Wenn also die Nachtigall als klassisches Bild für den artistisch anspruchsvollen Sänger gelten kann, darf man fragen, ob sich die Exponenten der Kontroverse nicht genauer bestimmen lassen. Denn die Nennung ausgerechnet der Nachtigall verdankt sich vermutlich nicht einer pauschalen Kritik am Meistergesang. Einer der berühmtesten Nürnberger Meistersinger des 15. Jahrhunderts, nach Folz mit gebührendem Abstand der nächstwichtige, ist Konrad Nachtigall. 25 Konrad Nachtigall, der Sohn des seit 1415 als Nürnberger Bürger und Meistersinger nachweisbaren Michel Nachtigall, ist noch vor der Mitte des 15. Jahrhunderts und 22 Reichel (wie Anm. 3), S. 215. 23 Vgl. Sabine Obermaier, Von Nachtigallen und Handwerkern. ‚Dichtung über Dichtung‘ in Minnesang und Sangspruchdichtung , Tübingen 1995 (Hermaea 75), S. 333: „Das Gros der Metaphern aus dem Bildfeld ‚Singvogel‘ stammt aus dem Minnesang. Keineswegs zufällig - so konnten wir sehen - greift die minnesängerische ‚Dichtung über Dichtung‘ zu diesem Bildfeld. Wie keine andere Metapher ist gerade die Nachtigall in der Lage, das, was den Minnesänger in seiner ganzen Komplexität ausmacht, mit einem Wort anzuzitieren: die Einheit von Produzierendem und Reproduzierendem, die Einheit von Liebe, Sang und Leid, die Virtuosität des Sängers und die künstlerische Qualität des Sangs“. 24 Ebd., S. 331. Auch im Lied von den Türken (Nr. 22) verwendet Rosenplüt Vogelnamen metaphorisch, hier freilich für verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Vgl. Ed. Reichel (wie Anm. 2), S. 241-248. 25 Vgl. das Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12 .- 18 . Jahrhunderts , hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger, Bd. 1-16, Tübingen 1986-2009, hier Bd. 4, S. 437-448; vgl. auch Horst Brunner, „Dichter ohne Werk. Zu einer überlieferungsbedingten Grenze mittelalterlicher Literaturgeschichte“, in: ders., Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit , Berlin 2008 (Phil.Stud.u.Qu. 210), S. 291-303 [zuerst 1989]. <?page no="279"?> 278 Heike Sahm und Stephanie Schott bis gegen 1484 / 1485 als Meistersinger bezeugt. Lieder und Töne Nachtigalls sind unter diesem nom de plume überliefert, und er hat seinen Namen auch selbst metaphorisch verwendet. So beschließt er seine Schulkunst mit der Sängernennung: diß hot gedicht ein Nachtigall (V. IV .5,19). 26 Neben anderen Liedern ist von ihm ein Dichterkatalog überliefert, den er mit einem Rekurs auf die Tradition meisterlichen Dichtens einleitet (V. II .B1,1-4): 27 1 Vil mancher si, der die meister nit kennet, die han gedicht weis unde wort, die werden euch kurzlich von mir genennet. Es folgen die Namen von 80 Meistersingern, der 81. ist dann Konrad selbst, an 82. Stelle nennt er seine Frau. Dieses fünfstrophige Lied wiederholt in ermüdender Weise, dass alle diese Meister ‚Kunst‘ vorgetragen hätten - dieser Begriff fällt vierzehnmal. Noch genauer vertritt Nachtigall die von Rosenplüt bestrittene Position einer höfischen Kunstnorm in der genannten Schulkunst , die er folgendermaßen einleitet (V. I,1-10): Gesanges kunst hat hohen breis und wer im recht nachgat. gesang macht hübsche wort und weis, klug sinn begriffen hat, 5 gesang beschleüst manch hohe kunst, durch gesang mancher lernen mag so kluge meisterschaft nach der mancher lei het kein frag, daß lohnt gesanges kraft 10 einfeltigen leien mit gunst. Auch dieser Text baut bereits einleitend die Unterscheidung von illiteraten Laien und kunstverständigen Meistern auf. Wer der Kunst meisterhaft nachgeht, kann die ‚einfältigen Laien‘ durch Gesang unterhalten. Diese freilich sind dort, wo allein kunstfertiger Gesang zugelassen wird, auf die Zuhörerrolle beschränkt. Die Differenzierung zweier Bildungswelten ist dieselbe wie in Rosenplüts Text: Während allerdings Rosenplüt den derben Tönen der Bauernwelt den Status von Gesang zuspricht, kommt dieser bei Nachtigall allein durch kluge Meisterschaft zustande. Rosenplüts Text erscheint vor diesem Hintergrund als Beitrag in einer Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des Meistergesangs. Ob er mit seinem Text Nachtigall und die von ihm mehrfach vertretene Position direkt anspricht oder aber auf das von ihm und den Meistersingern vertretene Konzept einer elitären Kunst zielt, ändert nichts an dem zentralen Einspruch Rosenplüts, dass auch ungelehrte Laien ein Recht auf Teilhabe an Gesang und Kunst haben. 28 26 Die Lieder Nachtigalls sind ediert in: Thomas Cramer, Die kleineren Liederdichter des 14 . und 15 . Jahrhunderts , Bd. 2, München 1979, S. 376-395, die Schulkunst ebd., S. 393-395. 27 Ebd., S. 385. 28 Die etablierte Chronologie der Texte lässt eine solche Diskussion immerhin möglich erscheinen: Die Folz-Gedichte zum Meistergesang werden von Schanze auf 1460 datiert, bis ca. 1460 ist Rosenplüt bezeugt, das Schaffen Konrad Nachtigalls wird in die Zeit zwischen 1436 und 1485 datiert, vgl. Schanze (Anm. 16), S. 333-339. - Für die Lerche freilich funktioniert dies nicht; es ist kein Nürnberger Meistersinger dieses Namens bekannt, allenfalls lässt sich auf Kunz Vogelsang verweisen. Warum im Eingangsvers ausgerechnet Lerche und Nachtigall zusammengestellt werden, lässt sich also nur vermuten: weil sie ein etabliertes Vogelpaar sind? <?page no="280"?> Geschrei oder Gesang 279 V. Der Schnepperer Unabhängig aber davon, ob es sich nun bei der Benennung von Lerche und Nachtigall in der ersten Strophe um eine persönliche Invektive Rosenplüts gegen diesen einen Nachtigall oder allgemein um Rosenplüts Protest gegen die ‚singenden‘ und sich von Laien abgrenzenden Meistersinger handelt, ist in der Diskussion um sprechende Namen ein weiterer interessant, nämlich der Rosenplüts selbst. Wie bekannt, führt Rosenplüt den Beinamen ‚Schnepper‘ oder ‚Schnepperer‘. Seine Texte sind unter dem Namen Hans Rosenplüt, Hans Schnepperer oder auch in kombinierter Form, „z.B. Schnepper Hans Rosenplüt oder Hans Schnepper Rosenplüt“ überliefert. 29 Dieser nom de plume aber scheint weniger leicht verständlich als der des Konrad Nachtigall. Die Forschung stützt sich bei ihren Deutungen maßgeblich auf die letzte Strophe von Lerche und Nachtigall , in der Rosenplüt seinen Beinamen zu erklären scheint (V. V,33-40): Der dieses liedlein hat geticht, Das uns die warheit geit, 35 Der trinkt vil lieber wein dann wasser, Und hetts der pabst geweiht. Hans Snepperer ist er genant, Ein halber biderbman. Der in einen großen swatzer heist, 40 Der tut kein sunde daran. Die letzte Strophe relativiert selbstironisch den Anspruch des Sänger-Ichs auf Lehr-Autorität: Der Text sei nur ein ‚Liedlein‘, er selbst nur halb biderbe , also ‚nützlich, tüchtig, brauchbar‘. 30 In seiner Vorliebe für Wein selbst gegenüber geweihtem Wasser gibt er sich als Trinker zu erkennen, 31 und schließlich könne man ihn mit gutem Grund als Schwätzer bezeichnen. Der erwartbare Demutstopos des Dichter-Ichs wird durch die „ironische Selbstherabsetzung“ parodiert 32 und das Gegenkonzept des gelehrten Sängers damit ein letztes Mal konterkariert. Zugleich aber entwirft das Sänger-Ich für sich eine andere Sprecherrolle, nämlich die des törichten illiteratus , der gerade aus seiner Naivität heraus die Wahrheit sagt (vgl. V. V,34). 33 29 Reichel (wie Anm. 3), S. 67. 30 Zur Bedeutung von biderbe vgl. Christa Baufeld, Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch , Tübingen 1996, hier S. 34, sowie das Deutsche Wörterbuch , ‚bieder‘, in: Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 1810-1812, hier Sp. 1810. 31 Die Streitfrage: Wasser oder Wein? ist ein beliebter Gegenstand der disputationes, vgl. Sabine Obermaier, „Scherz oder Ernst? Disputatio unter Tieren“, in: Disputatio 1200 - 1800 . Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur , hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert, Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 20), S. 311-330, hier S. 312. In seinem Bauernkalender spielt Rosenplüt wiederholt Kirche und Weinausschank gegen einander aus: Die fullet uns das weinhawß wider / Und macht die kirchen ler (V. 19 f.); Bei dem wein ist uns die weil gar kurz / Und in der kirchen langk (V. 79 f.); So laufen wir dann in das weinhawß palde / Und gen gein kirchen leiß (V. 123 f.). Vgl. Rosenplüt, Der Bauernkalender , in: Ed. Reichel (wie Anm. 2), Nr. 24, S. 256-261. 32 Reichel (wie Anm. 3), vgl. S. 77. 33 Auf dem Topos des klugen Narren baut auch Rosenplüts Reimpaarrede Der Kluge Narr auf (Ed. Reichel [wie Anm. 2], Nr. 3, S. 46-52): Nachdem der Narr den Bischof belehrt hat, schließt der Text mit der Lehre, dass mitunter gerade Narren die Wahrheit sprechen (vgl. V. 171-173, 182 f.). Zur Rolle des Narren vgl. Dieter Kartschoke, „Narrenrede bei Brant, Luther und Sachs“, in: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65 . Geburtstag , hg. von Silvia Bovenschen, Winfried Frey, Stephan Fuchs u. a., Berlin / New York 1997, S. 105-123; Michael Josef Aichmayr, Die Symbolgestalt der Eulen- <?page no="281"?> 280 Heike Sahm und Stephanie Schott Die Bezeichnung ‚Schnepperer‘ findet sich bei Rosenplüt auch in anderen Texten, in diesen drei Fällen freilich in der Kombination mit der Verfassersignatur: sneperer Hans Rosenplut etc. 34 Die meisten Texte aber signiert Rosenplüt mit der einfachen Autorennennung: so hat geticht Hans Rosenplut . 35 Der kuriose Befund nun, dass der Name Hans Sneperer in den Akten der Stadt Nürnberg sehr viel öfter belegt ist als der Name Hans Rosenplüt, ist in der Forschung viel diskutiert: Gibt es zwei oder einen Autoren mit einem in der Stadt anerkannten Künstlernamen? 36 In dieser Frage schließen wir uns Reichel an, der zur Begründung des in den Akten überwiegenden Namens ‚Schnepperer‘ Folgendes vorschlägt: 37 „Die Bedeutung [von Schnepperer] muss daher auf eine in der Bürgerschaft anerkannte Leistung bezogen werden, die mit der Tätigkeit des Sprechens zu tun hat, und dabei wird es sich wohl um die dichterische und Sprechertätigkeit handeln, für die R. in der Stadt bekannt war. Schnepperer, so kann geschlossen werden, bedeutet in diesem Fall ‚beredsamer Poet‘, einer, der die Dinge schnell und leicht in dichterische Worte kleidet“. Wenn man bereit ist, Lerche und Nachtigall in der von uns vorgeschlagenen Weise zu verstehen, dann ließe sich der von Reichel vermutete Mehrwert des Namens Schnepperer genauer begründen: Im Text wird der Gesang der Meistersinger als ‚Geschrei‘ ausgegeben, das Geschrei und Gegacker der Nutztiere hingegen als ‚Gesang‘: Gackgack ein ei und schafgeschrei: / Dem gesang, dem sullen wir neigen (V. IV,25 f.). Und diese Umkehrung von Gesang und Geschrei wird in derselben Strophe noch einmal aufgegriffen: Der schefer pfeifet vor, / So singen sie [also die Schafe] darein plee (V. IV . 31 f.). In dieser Umkehrung aber von Geschrei, das als ‚nützliche‘ Handlung Gesang ist, und kultiviertem Gesang, der nichts als leeres Geschrei bleibt, verortet sich Rosenplüt auf der Seite der ‚Krachmacher‘. Er macht sich die Deutungsoffenheit seines Namens zunutze und wird so - (im Lied! ) - zum Schwätzer, zum programmatischen illiteratus , der nicht Kunst, sondern Wahrheit gibt, und sich damit von jenen Dichterkollegen absetzt, die für sich Namen von Singvögeln wie Nachtigall oder Vogelsang reklamieren. Im Rahmen dieses Programms wäre auch die Wahl des Hildebrandstons zu verstehen, der zwar mit seinen fünf Strophen die Basisanforderung der Meistersinger erfüllt, sich aber als in den Liederbüchern weit verbreiteter, schlichter Ton im 15. Jahrhundert von den komplizierten Tönen des Meistergesangs deutlich unterscheidet. 38 spiegel-Figur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur , Göppingen 1997 (GAG 541); Hans Joachim Behr, „Narrenbilder. Rolle und Funktion des Narren im Eulenspiegel- und Lalebuch (Schiltbürgerbuch)“, in: Eulenspiegel-Jahrbuch 39 (1999), S. 13-32; Schelme und Narren in den Literaturen des Mittelalters. 27 . Jahrestagung des Arbeitskreises Deutsche Literatur des Mittelalters (Greifswald) , hg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok, Greifswald 1994 (Wodan 31 / 3/ 16). 34 Zur Bedeutung von schneppern vgl. Reichel (wie Anm. 3), S. 75-77. 35 Vgl. ebd., S. 79-103: „Das Zeugnis der Überlieferungsträger“. 36 Wir folgen in der Diskussion um die Identität Hans Rosenplüts Reichel, ebd.; des Weiteren: Jörn Reichel, „Handwerkerleben und Handwerkerdichtung im spätmittelalterlichen Nürnberg: Hans Rosenplüt genannt Schnepper“, in: Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15 . bis 17 . Jahrhunderts , hg. von Horst Brunner, Göppingen 1982 (GAG 343), S. 115-142, hier S. 120 f.; anders Kiepe (wie Anm. 13), S. 292-303, der von zwei unterschiedlichen Trägern dieser Namen ausgeht. 37 Reichel (wie Anm. 3), S. 77. 38 Glier (wie Anm. 3), S. 78. <?page no="282"?> Geschrei oder Gesang 281 Über die in seinen Marienlob-Texten verwendeten typischen Demutsformeln wie grober pawer , 39 ungelerter 40 oder kunstloser leie 41 geht Rosenplüt in diesem Text dann deutlich hinaus. Auch Laien, so lautet das Programm, können und dürfen dichten, selbst wenn sie sich nicht an tradierte Regeln halten. Was auf den ersten Blick als ‚herabsetzende‘ Selbstbezeichnung erscheinen mag, erweist sich als ironischer Programmbegriff, mit dem der Schnepperer, der Schwätzer, in einen Wettstreit um ‚wahren Gesang‘ und ‚eigentliches Geschrei‘ eintritt. Die Entscheidung, was Geschrei und was Gesang ist, überlässt Rosenplüt dem Publikum. 42 - Handwerker, die sich am literarischen Diskurs beteiligten, ohne zugleich Meistersinger zu sein, gab es ja - so hatten wir einleitend gesehen - in Nürnberg genug. VI. Schneppern oder singen? Rosenplüts Lied Lerche und Nachtigall ist nicht eigentlich Schlemmerlied oder Sozialkritik, sondern Dichtung über Dichtung. 43 Das Sänger-Ich grenzt sich darin von kunstvoller Musik ab, zugunsten von Klängen des obendrein nützlichen Landlebens. Da sich in Nürnberg in der Mitte des 15. Jahrhunderts in den Liedern von Hans Folz eine entsprechende Kontroverse fassen lässt, haben wir versucht, die Konfliktlinien dieser Kontroverse genauer nachzuzeichnen. Es erscheint aufgrund der auffälligen begrifflichen Gemeinsamkeiten (Kunst, Gesang, Geschrei, Laie, Meister etc.) denkbar, dass Rosenplüt im ersten Vers seines Liedes auf den Meistergesang und damit auf dessen nach Folz berühmtesten Exponenten Konrad Nachtigall abzielt. Rosenplüt selbst nimmt dabei die Rolle des „Gegenvogels“ ein. 44 Freilich richtet sich seine Polemik nicht nur gegen Lerche und Nachtigall, sondern auch gegen ‚geistlichen Chorgesang‘ und ‚süßliches Saitenspiel‘, also gegen jede Form der gelehrten und verfeinerten Musikkunst. Die in diesem Lied von Rosenplüt eingenommene Oppositionsrolle spielt Kunst und Wahrheit gegen einander aus. Dabei behauptet der Laie sein Recht auch auf ungelehrte Autorschaft. Dass ein solches Konzept mitnichten geeignet ist, Rosenplüts Œuvre umfassend zu beschreiben, liegt auf der Hand. Rosenplüt zeichnet sich gerade durch seine geblümten Texte, 45 das Anzitieren von Wissen aus dem Bereich der artes mechanicae , ja dadurch aus, dass er überraschend genau Literaturtraditionen überblickt, ohne dass wir sagen könnten, auf welchen Vermittlungswegen er an dieses Wissen gelangt ist. Im Lied von Lerche und Nachtigall aber leugnet das Sänger-Ich zugunsten der Aussageabsicht solche Rekurse. 46 39 Rosenplüt, Die Turteltaube , in: Ed. Reichel (wie Anm. 2), Nr. 4, S. 53-62, V. 100. 40 Rosenplüt, Unser Frauen Schöne , ebd., Nr. 5, S. 63-73, V. 65. 41 Rosenplüt, Die Turteltaube (wie Anm. 39), V. 118. 42 Zum Typus des ‚offenen‘ Streitgesprächs vgl. Obermaier (wie Anm. 31), S. 322. 43 Vgl. zum Begriff auch Sabine Obermaier, „Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von ‚Dichtung über Dichtung‘ als Schlüssel für eine Poetik mittelhochdeutscher Lyrik. Eine Skizze“, in: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik , hg. von Thomas Cramer und Ingrid Kasten, Berlin 1999 (Phil. Stud.u.Qu. 154), S. 11-32; vgl. auch Manuel Braun, „Zwischen ars und ‚Kunst‘. Zum Verhältnis der ‚Künste‘ in der Spruchdichtung und im Meistergesang“, in: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur , Berlin 2009 ( ZfdPh 128, Sonderheft), S. 69-92. 44 Der Begriff bei Obermaier (wie Anm. 23), S. 332. 45 Vgl. die Texte mit geistlichem Schwerpunkt, die sich durch Diminutiva, Genitivkonstruktionen und ausschweifende Beschreibungen auszeichnen, wie Die Turteltaube oder Unser Frauen Schöne , in: Ed. Reichel (wie Anm. 2), S. 52-73. 46 Dass Rosenplüt mit der Funktionalität von Sprecherrollen vertraut ist, zeigt sich auch an anderen Stellen seines Œuvres. So nimmt er im Lobspruch auf Nürnberg die Rolle eines Berichtenden ein, der <?page no="283"?> 282 Heike Sahm und Stephanie Schott Der Name Schnepperer ist vor dem Hintergrund dieser Deutung weder Zufall noch Bescheidenheitsgeste, sondern Programm, das sich aus dem Œuvre Rosenplüts stützen lässt. Rosenplüt verdanken wir - wie bekannt - die Literarisierung vormals mündlicher Formen wie Fastnachtspiel, Priamel oder Klopfan. Die hier vorgeschlagene Deutung des Liedes Lerche und Nachtigall erweist diesen Rückgriff auf illiterate Typen als bewusste Gegenbewegung zum Autoritäten und Tradition verpflichteten Meistergesang. Dem Gesang / Geschrei ihrer Vertreter setzt er das ‚Geklapper / Geschepper‘ der eigenen Dichtkunst entgegen. Dass er als Vertreter dieser Position geschätzt wurde, dafür spricht die Aufnahme des Schnepper-Namens in das offizielle Schriftgut. Wenn aber der Name in diesem Sinne Programm ist, dann ist durchaus denkbar, dass er als sprechender Name in der Überlieferung als Sammelbecken verwendet werden konnte für alles, was sich diesem Programm zuordnen ließ, dass also der Name Schnepperer zur Legitimation von Dichtung auch durch andere Laien genutzt wurde. 47 Die schwierige Überlieferungsfrage Rosenplütscher Texte bietet dafür durchaus Anhaltspunkte. So ist die Sammlung geistlicher Priameln in der Münchner Handschrift (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 713) mit Etliche geistliche Sneperer überschrieben, 48 oder die Münchner Fastnachtspielhandschrift (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 714) trägt die Überschrift Vasnacht Spil Schnepers . 49 In diesen Fällen ist durchaus denkbar, dass unter dem Autornamen ähnliche Texte anderer Herkunft versammelt wurden. Auch das Märe Die Disputation , für das Rosenplüts Urheberschaft als ungesichert gilt, mag weniger dem Autoren Rosenplüt als vielmehr seinem Programm des Schnepperns, des illiteraten und gerade deshalb belehrenden Poeten, zugeordnet worden sein. 50 Die Auseinandersetzungen innerhalb der Meistersinger sind durch die Reformlieder des Hans Folz gut belegt und intensiv erforscht. Mit Rosenplüts Lied Lerche und Nachtigall lässt sich zeigen, dass diese Auseinandersetzungen durchaus weitere Kreise zogen. Der elitären Kunst der Meister setzt Rosenplüt die ‚wahrhaftige‘ Kunst der Laien gegenüber. In dem hier kondensierten Dialog geht es nicht nur um die Frage, wer besser dichten kann (wie etwa in den Singschulen), sondern um einen konzeptionellen Richtstreit, welche Ästhetik überhaupt als Orientierung dienen soll. Darin ist die radikale Zuspitzung, die Wagner in seinen Meistersingern von Nürnberg dem Richtungsstreit zwischen Beckmesser und Walther von Stolzing verleiht, bereits vorweggenommen. kein Nürnberger ist, wohl um auf diesem Weg dem Vorwurf der Befangenheit vorzubeugen. Siehe Rosenplüt, Lobspruch auf Nürnberg , in: Ed. Reichel (wie Anm. 2), Nr. 20, S. 220-234. 47 So bislang bekannt für den Teichner und Freidank, die wir freilich nur als ‚Haltungen‘, nicht als historisch verbürgte Personen fassen können. Vgl. zur Problematik von Autorname und Überlieferung Burghart Wachinger, „Autorschaft und Überlieferung“, in: Autorentypen , hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6), S. 1-28; Klaus Grubmüller, „Freidank“, in: Kleinstformen der Literatur , hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1994 (Fortuna vitrea 14), S. 38-55. 48 Glier (wie Anm. 3), Sp. 207. Online auf dem Server der BSB. 49 Ingeborg Glier, „Rosenplütsche Fastnachtspiele“, in: 2 VL , Bd. 8, Berlin / New York Sp. 211-232, hier Sp. 217. Online auf dem Server der BSB. 50 Vgl. Reichel (wie Anm. 3), S. 102 und 260, zu Überlieferung und Verfasserfrage der Disputation . <?page no="284"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit in der Messkunst Heinrich Lautensacks Christina Lechtermann Die volkssprachigen fachthematischen Druckschriften aus dem Bereich der praktischen Geometrie, die im 15. und 16. Jahrhundert entstehen, bieten Anknüpfungspunkte für sehr verschiedene Fragestellungen. Sie stehen im Schnittpunkt von Forschungsinteressen der Kunst-, Kultur-, Wissens- und Fachsprachengeschichte und nicht zuletzt der Medien- und Literaturwissenschaften. Die variantenreiche Faktur dieser Schriften, ihre multiple Adressierung, die verschiedenen Arten an Traditionen anzuknüpfen und solche durch intertextuelle Bezüge selbst auszubilden, verweisen auf eine Polyfunktionalität dieser Druckwerke, die unter Stichworten wie ‚Lehrschriften‘ oder ‚Fachliteratur‘ zum Teil nivelliert wird. Auch Heinrich Lautensacks Des Circkels vnnd Richtscheyts […] kurtze doch gruͤndtliche vnderweisung deß rechten gebrauchs , die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen wird, ließe sich daraufhin befragen, inwiefern das Druckwerk nicht nur als belehrende Unterweisung fungiert, sondern zugleich etwa den gesellschaftlichen Aufstieg seines Verfassers vorantreiben sollte oder in einer Druckerstadt, in der etwa Das Kunst vnd Lere Buͤchlin Sebald Behams seit 1546 mehrfach und oft in Kombination mit der Schrift über die Proporcion der Ross nachgedruckt wurde, in der seit 1531 die Geometrien sowie Mess- und Jacobsstab-Lehren Jacob Köbels immer wieder neu kombiniert wurden und in der 1546 die Zirckel- und Richtscheidt- Lehre des Johannes II . von Pfalz-Simmern erneut erschien, das Programm einer bestimmen Offizin ergänzen sollte. Lautensacks Vnderweisung ließe sich daraufhin befragen, inwiefern an diese Bücher sowie auch an die Schriften Albrecht Dürers oder an Erhard Schöns Unnderweissung der proportion vnnd stellung der possen von 1540 explizit angeschlossen wird und inwiefern bestimmte Figurentypen, Formulierungen oder die Auswahl der vorgestellten Verfahren stillschweigend von dort übernommen worden sind. Ferner ließe sich fragen, inwiefern Text und Bildprogramm von Lautensacks Schrift einer Ästhetik gehorchen, die bestimmte Formen - etwa die komplexen Polyeder und Polygone - favorisiert und bestimmte Argumente und Formeln immer neu variiert. Entsprechend dem hier gestellten Thema soll jedoch der Akzent auf den Strategien liegen, die die Vermittlung geometrischen Wissens organisieren. Mithin wird das Büchlein auf seine Funktion als Lehrbuch für Praktiker hin befragt - eine Funktion, die sich alle volkssprachigen Schriften der Geometria practica selbst explizit zuschreiben (wenngleich sie sie in auffällig unterschiedlichem Maße einlösen) und die in Lautensacks Widmung sowie in der Vorrede an den Leser, im Verweis auf seinen Züricher Lehrmeister Jacob Stampfer und schließlich auch in einem dem Buch vorangestellten Gedicht überdeutlich hervorgehoben wird. <?page no="285"?> 284 Christina Lechtermann I. das aller kleinest / reinest vnnd subtilest stuͤpfflein Viele Mess- und Reißkünste der frühen Neuzeit beginnen mit dem Punkt. Übernommen aus der euklidischen Geometrie stellt dieser, so Gottfried Boehm, seit Leon Battista Albertis De pictura (1435) nachgerade einen ‚Topos des Anfangs‘ dar und ist dabei nicht nur für konstruktive Geometrie und Perspektive grundlegend, sondern besitzt gleichermaßen „breite Explikationskraft“ 1 für die Belange der Philosophie und Mathematik. Er bildet einen Anfang aller Formen, fließen doch aus seiner Erstreckung Linie, Fläche und Körper. 2 Im Rahmen einer „analogen Wissensrevolution“, die Wolfgang Schäffner ins 13. Jahrhundert datiert und mit der „Ausbreitung der Geometrie als Basiscode des Wissens“ verbindet, 3 wird der Punkt in der Mediengeschichte neuerdings im Sinne einer ‚geometrischen Null‘ relevant, die als selbst unteilbare Grenzmarke das Diskrete und damit letztendlich auch das Digitale ermöglicht. Beide, Boehm wie Schäffner, beziehen sich bei ihren Überlegungen vorwiegend auf Alberti, der den „operative[n] Charakter“ des Punktes als eines gegebenen Zeichens wieder „in Gang gesetzt“ und die logische und zeichenhafte Dimension des Punktes besonders hervorgehoben habe. 4 Auch in den deutschen fachthematischen Schriften der frühen Neuzeit finden sich Realisationen dieses ‚Topos des Anfangs‘: So bietet etwa der Apotheker Walther Hermann Ryff in einer dem Vitruvius Teutsch (1548) vorausgeschickten Lehrschrift von 1547 eine Adaptation von Albertis Formulierung, wenn er beschreibt: 5 Nach Mathematischer abteilung ist ein punckt / oder puͤncklein / das aller kleinest / reinest vnnd subtilest stuͤpfflein / oder gemerck / so man im sin[n] verstehn oder mercken mag / vnd weiter nit zerteylet werden kan […] EIn lini / ist ein strich oder riß/ von eine[m] punckt zum andern/ […] als ob ein puͤncktlein nach ordnung / auß dem andern flusse / dann alle Geometrische figuren iren vrsprung haben / von dem obgesetzten puncktlein […]. 1 Gottfried Boehm, „Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance“, in: Visuelle Topoi . Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance , hg. von Ulrich Pfisterer und Max Seidel, München / Berlin 2003 (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, vierte Folge, 3), S. 48-59, hier S. 54. 2 Leon Battista Alberti, Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei , hg. von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, Darmstadt 2 2011, De Pictura I,2: Itaque principio novissse oportet punctum esse signum, ut ita loquar, quod in minime queat in partes dividi. […] Puncta quidem si continenter in ordine iungantur lineam extendent. Linea plures quasi fila in tela adacta si cohaereant, superficiem ducent . 3 Wolfgang Schäffner, „Euklids Zeichen. Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit“, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 7,2 (2010), S. 62-73, hier S. 67. 4 Ebd., S. 68; vgl. ders., „Punkt. Minimalster Schauplatz des Wissens im 17. Jahrhundert (1585-1665)“, in: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne . Schauplätze des Wissens im 17 . Jahrhundert , hg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig, Berlin 2003, S. 56-74; Sybille Krämer, „The Productivity of Blanks. On the Mathematical Zero and the Vanishing Point in Central Perspective. Remarks on the Convergences between Science and Art in the Early Modern Period“, in: Instruments in Art and Science. On the Architectonics of Cultural Boundaries in the 17 th Century , hg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig, Berlin / Boston 2008, S. 457-478. Die Monographie von Robert Felfe ( Naturform und Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16 . und 17 . Jahrhunderts , Berlin / Boston 2015) diskutiert die verschiedenen Konzeptualisierungen des Punktes zwischen abstraktem Konzept und ‚physischer Realität‘ unter dem Begriff der Verkörperung (ebd., S. 165-177). 5 Walther Ryff, Der furnembsten / notwendigsten / der gantzen Architectur angehoͤ rigen Mathematischen vnd Mechanischen kuͤ nst / eygentlicher bericht / vnd vast klare / verstendliche vnterrichtung […] , Nürnberg: Johann Petreius, 1547, fol. ar. Bei sämtlichen Zitaten aus den fachthematischen Schriften ist das Schafts zu einfachem s normalisiert; Kürzel sowie Nasalstriche sind aufgelöst und durch eckige Klammern angezeigt worden. <?page no="286"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 285 Eine durchgezogene und eine fein gepunktete Linie, die unter diese Erklärung gesetzt sind, zeigen den Sachverhalt entsprechend an. 6 Albrecht Dürer hebt in der Underweysung der messung hervor, Dreyerley ding seien überhaupt messbar, nämlich Linien, Flächen und Körper, und [d]iser aller ding anfang vn[d] end sind punckte[n] ; er betont dabei den virtuellen Charakter des Punktes, der selbst keinerlei Ausdehnung in Länge und Breite habe. 7 Dennoch, so fährt er fort, wolle er ihn, damit die iungen verstendig in gebreuchlicher arbeyt werden […] als ein gemel mit eym tupff / einer federn fürsetzen (ebd.). Wolfgang Schmid, ein Bamberger Rechenmeister, hingegen konstatiert in seiner Geometrie-Lehre von 1539 lediglich die nicht weiter reduzierbare Kleinheit des Punktes. 8 Wenngleich das ausdrückliche Anliegen dieser Texte, nämlich eine Circkel- und Richtscheydt -Lehre als Anfang der konstruktiven Messkunst geben zu wollen, übereinstimmt, 9 variieren sie bei der Präsentation des Punktes und akzentuieren manchmal mehr seine abstrakten und virtuellen Qualitäten, manchmal mehr seine konkrete Gestalt, manchmal seine Bedeutung als Figur der Grundlegung, manchmal seine operative Funktion. Besonders prägnant erscheint diese Variation bei derjenigen Messkunst, die ich im Folgenden vorstellen möchte, nämlich der 1564 erschienenen Schrift des Goldschmieds, Malers, Kupferstechers und Formschneiders Heinrich Lautensack. Der bei Georg Rab d.Ä. und in Verlegung Sigmund Feyerabends gedruckte Text titelt: Des Circkels vnnd Richtscheyts / auch der Perspectiua / vnd Proportion der Menschen vnd Rosse / kurtze / doch gruͤndtliche vnderweisung / deß rechten gebrauchs. 10 Die Druckschrift stellt sich mit diesem Titel ostentativ in die Tradition der Underweysung Albrecht Dürers und empfiehlt sich dem Leser als Mit vil schoͤnen Figuren / aller anfahenden Jugent / vnd andern 6 Ein Digitalisat des Textes findet sich u. a. in der Sächsischen Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden ( VD16 R4001): http: / / digital.slub-dresden.de/ werkansicht/ dlf/ 7814/ 1/ cache.off (Stand 15. 8. 2015). Eine kommentierte Teilausgabe bietet: Die Bibliothek der Kunstliteratur , Bd. 1: Renaissance und Barock , hg. von Thomas Cramer und Christian Klemm, Frankfurt a. M. 1995, S. 117-301 und 692-756. 7 Albrecht Dürer, Underweysung der messung / mit dem zirckel vn[d] richt scheyt / in Linien ebnen vnnd gantzen corporen / durch Albrecht Duͤ rer zů samen getzoge[n]/ vnd zů nutz alle[n] kunstlieb habenden mit zů gehoͤ rigen figuren / in truck gebracht / im jar M. D.XXv ., Nürnberg: Hieronymus Andreae, 1525, fol. Aiir, ebd.: Aber eyn punckt ist ein solch ding / das weder Groͤ ß Leng Breyt oder Dicken hat. Digitalisat: http: / / digital.slub-dresden.de/ id27778509X (Stand 15. 8. 2015). 8 Wolfgang Schmid, Das erst buch der Geometria , Nürnberg: Johann Petreius, 1539, fol. Br: Ein Punct / ist ein groͤ ß also klein / das sie nit kleiner gemacht werden moͤ cht. Solchen punct wil ich anzeygen mit einem stüpffle beim a. a. Ein Digitalisat des Büchleins findet sich u. a. bei der Bayerischen Staatsbibliothek München ( VD16 S3115): http: / / reader.digitale-sammlungen.de/ resolve/ display/ bsb10164586.html (Stand 15. 8. 2015). 9 Viele dieser konstruktiven Geometrien tragen einen entsprechenden Hinweis bereits im Titel oder explizieren ihr Anliegen im Rahmen einer personalisierten Widmung an einen bestimmten Förderer oder der anonymen Zueignung an den Leser. So etwa legt Ryff seine Lehrschrift den Fürsichtigen Erbarn vnd Weisen Herren / Buͤ rgermeistern vnd Rath / der Stadt Nuͤ rnberg / meinen Gebietenden vnd Guͤ nstigen Herren (Ryff [wie Anm. 5], fol. 2r) mit der Begründung vor, er wolle dem vngeuͤ bten vnd vnuerstendigen Leser / auffs aller einfeltigst / klerlichst vnnd verstendlichst / aus dem rechten gewissen grund / zu gemeiner einleitung der scharpffen hochverstendigen Buͤ cher Vitruuij (fol. 4r) in Fragen der konstruktiven Geometrie und anderer dazu gehöriger Künste unterrichten. Schmids Titelblatt fasst ein entsprechendes Anliegen in einen Vers: Die kunst so im Euclide steckt / Gar manchem alzu ser verdeckt / Wirt hie gar leicht vnd liecht gemacht / Durch dise anleytung / wol betracht (Schmid [wie Anm. 8], Titelblatt). Vgl. zu Dürer grundlegend: Jeanne Peiffer, „Dürers Geometrie als Propädeutik zur Kunst“, in: Wissenschaft - Technik - Kunst. Interpretationen - Strukturen - Wechselwirkungen , hg. von Eberhard Knobloch, Wiesbaden 1997, S. 89-103; Peter O. Müller, „ Allen Künstbegirigen zu Güt . Zur Vermittlung geometrischen Wissens an Handwerker in der frühen Neuzeit“, in: ZGL 21 (1993), S. 261-276. 10 Im Folgenden kurz Vnderweisung. <?page no="287"?> 286 Christina Lechtermann liebhabern dieser Kunst / als Goldschmiden / Malern / Bildhauwern / Steinmetzen / Schreinern / etc. eigentlich fuͤrgebildet. 11 In der Vorrede, die sich an die anfahenden / liebhabenden Schuͤler der konstruktiven Messkunst wendet, setzt Lautensack explizit sein eigenes Büchlein zu den Schriften seiner Vorgänger in Bezug. Während den Kunstverstendigen […] viel andere herrlichere Buͤcher […] als den Vitruuium / Item des Albrechts Duͤrers / vnd denn die Buͤcher von der Architectur - gemeint sind hier wohl die Vitruv-Übersetzung und das Lehrbuch Ryffs - zur Verfügung stünden, die alle gewaltig von dieser Kunst am tag sind / aber der jugent im anfang zu schwer , bietet er sein Büchlein, das doch schlecht ist / aber auß rechtem grund beschrieben , den Anfängern, Ungelernten und Jungen an. 12 Das Buch ist abseits der Widmung an den geometrisch interessierten Raimund Pius Fichhart 13 und einer Vorrede an den Leser, die beide die didaktische Absicht Lautensacks betonen, in drei Abschnitte gegliedert: Der erste, nur elf Blätter umfassende Teil (fol. Ar-Ciiir) handelt von der Underweysung des Circkels und Richtscheyts , der zweite, mit rund 20 Blatt deutlich längere Teil handelt von der Perspectiff (fol. Ciiiv-Hivr), der dritte, mit 19 Blatt ähnlich umfangreiche Abschnitt schließlich handelt von der Proportion der Menschen (fol. Hivv-Niiir). Diesem Abschnitt ist eine kurze Passage über die Proportz deß Rossz oder Pferdts auf vier Blättern angeschlossen (ab fol. Niiir). 14 II. der puncten fleissig acht haben Auch Lautensacks Unterweisung beginnt mit dem Punkt. Anstatt jedoch auf dessen virtuellen Charakter zu verweisen, seine Funktion als Anfang aller Linien, Flächen und Körper zu akzentuieren, oder ihn schlicht als stüpflin (siehe oben) abzubilden, betont seine Einführung vor allem die Operativität des Punktes als Teiler und als Markierung eines Unterschieds. 15 11 Dürers Widmung an Pirckheimer bildet eine vergleichbare Reihe: nicht alleyn den maleren / sonder Goldschmiden Bildhaweren Steynmetzen Schreyneren vnd allen den so sich des maß gebrauchen […] , soll die Underweysung der messung nützen (Dürer [wie Anm. 7], fol. Av). 12 Heinrich Lautensack, Des Circkels vnnd Richtscheyts / auch der Perspectiua / vnd Proportion der Menschen vnd Rosse / kurtze / doch gruͤ ndtliche vnderweisung / deß rechten gebrauchs , Frankfurt a. M.: Georg Rab d.Ä., 1564, fol. iiiiv. ( VD16 L728, verwendetes Digitalisat: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0002/ bsb00029482/ images/ , Stand 17. 8. 2016). 13 Vgl. Andreas Kühne, „Heinrich Lautensack und seine ‚Kurtze, doch gründtliche vnderweisung‘ des rechten Gebrauchs von Perspektive und Proportion (1564)“, in: Arithmetische und algebraische Schriften der frühen Neuzeit , hg. von Rainer Gebhardt, Annaberg-Buchholz 2005 (Schriften des Adam-Ries- Bundes Annaberg-Buchholz 17), S. 49-66, zu Fichard als Förderer und Liebhaber der Geometrie S. 55. 14 Vgl. zur Messkunst Lautensacks ebd., S. 53-64, sowie: Birgit Seidenfuß, ‚Daß wirdt also die Geometrische Perspektiv genandt‘ . Deutschsprachige Perspektivtraktate des 16 . Jahrhunderts , Weimar 2006, S. 163-172; Andreas Kühne, „Heinrich Lautensack“, in: Zählen, Messen, Rechnen. 1000 Jahre Mathematik in Handschriften und frühen Drucken. Ausstellung der Staatsbibliothek Bamberg zum Jahr der Mathematik 2008 , Katalog, Petersberg 2008, S. 123-126; Robert Keil, „Die Rezeption Dürers in der deutschen Kunstbuchliteratur des 16. Jahrhunderts“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 38 (1985), S. 133-150; Annegritt Schmitt, Hans Lautensack , Nürnberg 1957 (Nürnberger Forschungen 4). Vgl. zu den Proportions-Darstellungen: Steffen Siegel, Tabula. Figuren der Ordnung um 1600, Berlin 2009, bes. S. 49-57; ders., „Vom Bild zum Diagramm. Bildmediale Differenz in Heinrich Lautensacks ‚Gründlicher Unterweisung‘“, in: Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen einer interdisziplinären Bildwissenschaft, hg. von Klaus Sachs-Hombach, Köln 2006, S. 115-134. 15 Lautensack (wie Anm. 12), fol. Ar: ANfenglich wil ich von dem Puncten reden / Denn so man etwas wil abtheilen / mustu den puncten haben / dan[n] sunst wirstu nicht wissen was kurtz oder lang ist / Der Punct aber ist weder lang noch kurtz / sondern er macht ein vnderscheidt zwischen kurtzen vnd langen / wie ein Marckstein / er ist nicht zu theilen / sondern er ist ein vnderscheidt eins theils / denn ein Punct ist <?page no="288"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 287 Die diesem Abschnitt beigestellte Abbildung (Abb. 1) zeigt ihn dementsprechend als Begrenzungsmarke, die es ermöglicht, etwas in zwei, sechs oder zehn Teile zu unterteilen. Verbunden mit dieser Funktion eines besonders präzise gesetzten Marckstein[s] ist eine Empfehlung die Wahl des Werkzeugs betreffend: 16 Denn je reiner deine puͤnctlein im abtheilen sind / je besser es ist / darumb so du gute Circkel hast mit einem gewissen gang / die nit im zu oder auffthun sich stossen oder stolpern / vnd dieselbige als scharpff sind als ein nadel / so sind sie gut zum abtheilen. Lautensack verbindet diesen Fingerzeig bezüglich der Werkzeugwahl mit einer Mahnung: 17 AL so mustu in allem deinem abtheilen […] der puncten fleissig acht haben / vnd sie auch alle mal gar scharpff an ir ort setzen / denn sunst wuͤrde dich dein machen bald in ein verdruß bringen / denn wie ich vor gemeldt hab / mustu dich vmbsehen vmb gute Circkel / die fein staͤt sind / das macht denn ein noch so lustig wen[n] sie so fein sanfft vnd gleich gehen. Die konkrete Praxis des Punktsetzens steht im Zentrum dieses ersten Absatzes von Lautensacks Vnderweisung - und zwar nicht als Moment der Verdeutlichung seitens des belehrenden Ich, das ein Objekt, das als ausdehnungslos gedacht werden muss, dennoch zum besseren Verständnis mit eym tupff einer federn (siehe oben) anzeigen will, wie etwa Ryff, Dürer und Schmid dies tun, sondern als auszuführende Übung seitens des zu Belehrenden. Lautensack bemüht sich damit weit weniger um die Einführung des Punktes als einer logisch-theoretischen Größe, als um die Implementierung einer sehr konkreten Handhabung. Diese ist bestimmt durch die Geste des fleissig acht haben[s] und des scharpff setzen[s] - also durch ‚Fleiß‘, im Sinne von Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Genauigkeit ( diligentia ). Was dieser Einführung folgt, ist - und hier beziehe ich mich zunächst nur auf den ersten der drei Teile der Vnderweisung Lautensacks - eine Lehre des Machens und der Übung. 18 Michael Giesecke hat in den 80er Jahren die mit solchen Texten verbundenen Präsentationsformen als Strategien beschrieben, die antreten, die „mündlich und vorwiegend mit sprachlichdeiktischen Mitteln übertragenen Erfahrungen“ aus dem Bereich handwerklichen Könnens „den sprachlich-begrifflichen Bedingungen der schriftsprachlichen Kommunikationssituation“ anzupassen. 19 Für die Vermittlung von Handlungswissen unterstrich er dabei vor allem die Notwendigkeit der sprachlichen Segmentierung von Vorgängen, des Einsatzes deiktischer Partikel, der Gewinnung einer einheitlichen Fachbegrifflichkeit sowie einer neuen, engeren Verbindung von Text und Bild, die er gerade in der Fachliteratur des das reinest stuͤ pflein so man mit einer Nadel thun kan[n] . - Robert Felfe (wie Anm. 4, S. 171) hebt die „Negativität“ eines solchen Einstiches hervor. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Dazu Kühne (wie Anm. 13), S. 56; vgl. auch Jeanne Peiffer, „Adapter, simplifier et mettre en pratique la perspective. Les ‚Kunstbücher‘ du XVIe siècle“, in: L’artiste et l’oeuvre à l’épreuve de la perspective . / L’artista, l’opera e la sfida della prospettiva , hg. von Marianne Cojannot-Le Blanc, Marisa Dalai Emiliani und Pascal Dubourg-Glatigny, Rom 2006, S. 123-151; Sibylle Gluch, „The Craft’s Use of Geometry in 16th c. Germany: A Means of Social Advancement? “, in: Anistoriton Journal 10 (2007,3), Essays, S. 1-16. 19 Michael Giesecke, „‚Volkssprache‘ und ‚Verschriftlichung des Lebens‘ im Spätmittelalter - am Beispiel der Genese der gedruckten Fachprosa in Deutschland“, in: Literatur in der Gesellschaft des Mittelalters , hg. von Hans U. Gumbrecht, Heidelberg 1980, S. 39-67, bes. S. 47. Vgl. ders., Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien , mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe 1998, Frankfurt a. M. 1998, besonders S. 522-531, 560-590, 597-639. <?page no="289"?> 288 Christina Lechtermann 16. Jahrhunderts realisiert sah. Giesecke markierte im Rahmen seiner Argumentation bereits eine spezifische Leerstelle dieser Transkriptionsbemühungen, die etwa in einem Zitat aus dem Bergwerckschatz des Elias Montanus von 1618 zum Ausdruck kommt - nämlich: „ […] daß kein Buch auff dieser Welt kan beschrieben werden / darinnen die Handgrieffe möchten gebraucht werden / dann das ist vnmůglichen / dieselbigen muß ein jeder selbst lernen / vnd in die handt nehmen. “ 20 Einige volkssprachliche Lehrschriften der Geometria practica jedoch versuchen immer wieder, gerade solche Handhabungen in die unmittelbare Nähe des Buches zu rücken und das Üben in die Rezeptions- und Verstehensprozesse, die sie anleiten, zu integrieren. In besonderer Weise scheint dies für Lautensacks Vnderweisung zu gelten. Hier werden im Anweisungsstil oder als Deskription eigenen Vorgehens zunächst geometrische Basisoperationen in schrittweise zu erfüllende Vorschriften zerlegt. Die einleitenden Formeln lauten entsprechend: So man dir nun auffgebe / zwo linien zu machen […] dem thu also (ebd., fol. Aiir); oder: Item ich hab ein gantz gevierdt Corpus […] und ich wolt gern diesem gantz gemeß nach ein Corpus haben das noch so viel hielt […] dem thu ich also (ebd., fol. Br). Auf diese Weise werden Geraden parallel übereinander gestellt, rechte Winkel konstruiert, Linien geteilt, Figuren und Flächeninhalte vergrößert und verkleinert, der Kreismittelpunkt bestimmt und regelmäßige Polygone aus dem Zirkelriss konstruiert. Ein wesentliches Moment dieser Aufgaben und Übungen ist der genaue Einstich des Zirkels in einen vorgegebenen Punkt oder die präzise Abnahme von ermittelten Längen in den Zirkel als Instrument der Speicherung und Übertragung. Besonders diejenige Figur, mit der der erste Teilabschnitt der Vnderweisung endet, zielt auf diese beiden Gesten (Abb. 2). Die Figur, die als Handreichung zur Konstruktion verschiedener Polygone denjenigen Teilabschnitt von Lautensacks Schrift abschließt, der mit dem genauen Setzen des Punktes begonnen worden ist, scheint aus der Geometria Augustin Hirschvogels übernommen worden zu sein, die 1543 in Nürnberg bei Johann vom Berg und Ulrich Neuber gedruckt worden ist. 21 Hirschvogel, der seine Geometria in zwei Bände unterteilt, von denen der erste den Text und der zweite die dazugehörigen Holzschnitte präsentiert, erklärt ihre Konstruktion in zwei Schritten und schließt diese - auch hier stimmen Lautensack und Hirschvogel überein - an die Messung verschiedener Polygone aus dem Zirkelriss an. Das Verfahren, dem die Figur beigestellt ist, wird von Hirschvogel als Möglichkeit offeriert, auffs kürtzist alle Polygone (bis zum Zehneck) durch die mehrfache Einteilung eines einzigen Zirkelrisses zu finden und zwar so: d[a]z du den zirckel nit mer als ein mal darfst verwexlen oder verrucken . 22 Er 20 Zitiert nach: Giesecke, „Volkssprache“ (wie Anm. 19), S. 48. Vgl. ders., „ Den brauch gemein machen . Die typographische Erfassung der Unfreien Künste“, in: Schleier und Schwelle I, Geheimnis und Öffentlichkeit , hg. von Aleida und Jan Assmann, München 1997, S. 291-311, bes. S. 308 und Anm. 35 (mit Hinweis auf weitere Belegstellen). 21 Ein aigentliche vnd grundtliche anweysung / in die Geometria / sonderlich aber / wie alle Regulierte / vnd Vnregulierte Corpora / in den grundt gelegt / vnd in das Perspecktiff gebracht / auch mit iren Linien auffzogen sollen werden. Durch Augustin Hirschuogel / einen liebhaber der freyenkunst / auffs getrewlichst / vnd mit der kurtz am tag gegeben. Im jar der geburt Christi 1543 . Ein zweiter, im selben Jahr erschienener Band mit den zugehörigen geometrischen Figuren trägt den Titel: Geometria. Das Bvch Geometria ist mein Namen / All Freye Kvnst avs mir zvm ersten kamen / Ich bring Architectvra vnd Perspectiva zvsamen. Verwendet wurde ein Digitalisat, das beide Teile umfasst [VD16 H 3843] : http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0002/ bsb00024646/ images/ (Stand 17. 8. 2015). Vgl. Andreas Kühne, „Augustin Hirschvogel und sein Beitrag zur praktischen Mathematik“, in: Verfasser und Herausgeber mathematischer Texte der frühen Neuzeit , hg. von Rainer Gebhardt, Annaberg-Buchholz 2002 (Schriften des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholz 14), S. 237-251, Seidenfuß (wie Anm. 14), S. 151-162. 22 Hirschvogel (wie Anm. 21), fol. Aivv, Nr. 9. <?page no="290"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 289 empfiehlt es also sowohl als vereinfachtes und beschleunigtes, als auch - durch die Arbeit mit unverrückter bzw. nur einmal zu verrückender Zirkelöffnung - als besonders genaues Verfahren. Zwei Konstruktionsdiagramme ( Geometria , Bd. 2, Nr. I.9 und I.10) und zwei Textabschnitte ( Geometria , Bd. 1, Nr. 9 und 10) führen schrittweise aus, wie die entsprechende Figur konstruiert wird, und erklären genau, wie sich die dermaßen ermittelten Strecken zu den Kantenlängen der verschiedenen Polygone verhalten. Lautensack übernimmt jedoch nur dasjenige Diagramm, das das fertige Schema zeigt, und er druckt es spiegelverkehrt und ohne die in lateinischen Buchstaben ausgeführte Markierung der einzelnen Punkte ab, die für eine Konstruktionsanleitung nötig wären - eine solche allerdings bietet Lautensack auch gar nicht an. Die Art und Weise, wie diese Figur hier eingeführt wird, unterscheidet sich damit deutlich von der einlässigen Erläuterung Hirschvogels. Lautensack kommentiert das Schema nur mit einem einleitenden Satz: NUN wil ich dir noch ein Ruͤnde auffreissen / darinn du alle seiten oder schnitt soͤlcher gleicher vnd vngleicher seiten finden kanst / Vnd wil also den Ersten theil vom Circkel vnnd Richtscheyt beschlissen. 23 Damit endet der erste Abschnitt. Die ‚Handreichung‘ zur Konstruktion verschiedener Polygone erscheint durch diese Veränderungen in der Vnderweisung als Figur, die sich der Geste der „erklärende[n] Expansion“, der Sequenzierung, Explizierung von Wissen, wie sie als dominante Vermittlungsform für die fachthematischen Texte der frühen Neuzeit beschrieben worden ist, 24 völlig verweigert. Als Abbreviatur ( auffs kürtzist , siehe oben) geometrischer Konstruktionen behauptet sie zwar, ein Hilfsmittel für eine ganze Reihe von Verfahren zu bieten, doch gelangen diese hier gerade nicht zur Anschrift. Anstelle der explikativen Expansion findet sich nur eine Leerstelle, und dies gilt sowohl für die Verwendung der Figur als Konstruktionshilfe für regelmäßige Polygone als auch für ihre eigene Konstruktion bzw. Modifikation. Weder wird erklärt, wie man das Schema - etwa in anderem Format - herstellt, noch wird erklärt, wie man es für die Produktion verschiedener Polygone benutzt. Nur letzteres, der Gebrauch der Figur als Konstruktionshilfe, kann jedoch vom Rezipienten aus den vorhergehenden Übungen zu den Mehrecken selbständig abgeleitet werden. Dort wird erklärt, wie aus bestimmten Punkten in einem Zirkelriss diejenigen Streckenlängen zu gewinnen sind, die, mit dem Zirkel auf denselben Kreisbogen abgetragen, die Eckpunkte verschiedener Polygone kennzeichnen. 25 Hat man diese Operation erlernt, so bietet die Figur 25 ein Instrument an, das die Kantenlängen der Drei-, Vier-, Fünfbis Neunecke alle in einer Figur anzeigt, ihre geometrische Ermittlung somit überflüssig macht und es erlaubt, auf einem Kreisriss Polygone ähnlicher Größe zu konstruieren. Dazu können 23 Lautensack (wie Anm. 12), fol. Ciiir. 24 Giesecke, ‚Volkssprache‘ (wie Anm. 19), S. 51: „Es findet eine kommunikativ-pragmatische Aufbereitung der propositionalen Gehalte statt, wozu die Antizipation des Wissensreservoirs des vermutlichen Kommunikationspartners notwendig wird. Im Gegensatz zu den Situationen der gesprochenen Sprache, wo dasjenige Wissen, welches vom Instrukteur zur Handlungsausführung bereitzustellen ist, mit dem Mechanismus von Nachfrage und Antwort ausgehandelt werden kann, muß in der schriftsprachlichen Kommunikationssituation der Erfahrungsraum des Lesers durch den Autor von vornherein möglichst genau eingeschätzt und entsprechend der Informationsfluß verteilt werden. In dieser Situation ist der Instrukteur in viel stärkerem Maße darauf angewiesen, daß sein Gegenüber der Handlungserklärung ‚verstehend‘ folgen kann. Wenn die logische Struktur der Handlungsabfolge, der innere Mechanismus des darzustellenden Handlungsablaufs verstanden ist, dann können die in der Beschreibung gelieferten Daten durch den Leser in Zweifelsfällen eher selbständig ergänzt werden. Man findet deswegen in der Fachprosa jener Zeit - und zwar zunehmend - erklärende Expansionen neben den beschreibenden Teilen“. 25 Lautensack (wie Anm. 12), fol. Cv-Ciiv. <?page no="291"?> 290 Christina Lechtermann die Strecken etwa direkt aus dem Buch oder von einer Durchzeichnung der Figur abgegriffen werden. Das geometrische Diagramm böte dann eine Schablone, die ausgerechnet diejenigen Arbeitsschritte ersetzt, die gerade zuvor erklärt wurden. Mit der schlichten Applikation des geübten Verfahrens können allerdings lediglich Polygone in genau derjenigen Größe konstruiert werden, die von der Figur bereits vorgegeben ist. Um Polygone in anderen Formaten zu erzeugen, müsste die Schablone selbst vergrößert oder verkleinert werden, doch ihre (Re-)Konstruktion lässt sich aus den zuvor eingeführten Verfahren nicht ableiten. Während etwa Dreieck und Sechseck in den vorhergehenden Übungen nämlich durch die Unterteilung der Kreislinie mit unverrücktem Zirkel gewonnen werden, sind sie hier mittels der auf den Durchmesser gestellten Senkrechten ermittelt worden, die ihrerseits Produkt der beiden mit doppeltem Radius aus den jeweiligen Enden des Diameters gezogenen Kreisbögen ist, und mittels der Sekante, die aus der Halbierung dieser neuen Senkrechten gezogen wurde. Dies jedoch wird - anders als bei Hirschvogel - nicht expliziert, sondern wäre lediglich aus der Figur selbst zu erschließen. Die Figur 25 würde dann zweierlei ‚Anwendungen‘ des bereits eingeübten geometrischen Wissens und Könnens einfordern: zum einen die relativ simple händische Fertigkeit, mittels des Zirkels Streckenlängen abzugreifen und zu übertragen, zum anderen die kognitive Fähigkeit, aus einer gegebenen geometrischen Figur auf die verschiedenen Verfahren ihrer Konstruktion zurück zu schließen. Denn die Rekonstruktion der Schablone in anderen Größen, als den vom Buch selbst präsentierten, verlangt ein Verständnis derjenigen Verfahren, die als geometrische Grundlagen vorher eingeführt worden sind, also: das Finden des Kreismittelpunkts aus einem beliebigen Zirkelriss, das Aufsetzen einer Senkrechten auf eine Waagerechte, die Teilung einer bestimmten Strecke. Nur dort, wo diese ‚Messverfahren‘ erkannt werden, ist die Modifikation der Figur und damit ihr Gebrauch über den konkreten Fall hinaus als Schablone unterschiedlich großer Polygone möglich. In dieser letzten Übungsfigur des ersten Abschnitts würden somit Anforderungen an händisches Können und an kognitives Erkennen bestimmter Verfahren zusammenfallen; während sie der Hand erneut einfache Übungsmittel anbietet, fordert sie vom geometrisch geschulten Auge, dass es fertige Konstrukte auf die ihnen zu Grunde liegenden operativen Regeln zurückführt. Was allerdings die fachthematische Druckschrift an dieser Stelle kennzeichnet, ist gerade keine ‚erklärende Expansion‘, sondern vielmehr die Verweigerung einer solchen. Soll die Figur 25 nicht nur als Schablone, sondern als Werkzeug für das Verstehen Verwendung finden, so geschieht dies bei Lautensack nicht auf der Basis einer sequenzierenden sprachlichen Präsentation ihrer Konstruktion, sondern vielmehr in Form einer Leerstelle, als Überlassung an den übenden Rezipienten. In diesem Fall fordert sie nicht nur die Einübung dessen heraus, was als knowing how beschrieben worden ist, nämlich die Fähigkeit, regelgeleitete Handlungen in den ihnen entsprechenden Situationen erfolgreich durchzuführen, 26 sondern ebenso die Einübung dessen, was man mit Ian Versteegen als cognitive habitus oder mit 26 Zur dieser Unterscheidung grundlegend: Gilbert Ryle, „Knowing How and Knowing That: The Presidential Address“ in: Proceedings of the Aristotelian Society 46 (1954), S. 1-16; Horst Bredekamp und Sybille Krämer, „Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur“, in: Bild, Schrift, Zahl , hg. von dens., München 2 2009, S. 11-22, besonders S. 15-18; Sybille Krämer, „Mathematik zwischen ‚knowing how‘ und ‚knowing that‘. Überlegungen zu zwei Innovationsschwellen des mathematischen Denkens“, in: Dynamiken des Wissens , hg. von Klaus W. Hempfer und Anita Traninger, Freiburg i. Br./ Berlin / Wien 2007, S. 43-60, besonders S. 58 f.; dies., „Technik als Kulturtechnik. Kleines Plädoyer für eine kulturanthropologische Erweiterung des Technikkonzepts“, in: Technik - System - Verantwortung , hg. von Klaus Kornwachs, Münster 2004, S. 157-164; Pamela H. Smith, „Science on <?page no="292"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 291 the Move: Recent Trends in the History of Early Modern Science“, in: Renaissance Quarterly 62 (2009), S. 345-375, besonders S. 361 f. Abb. 1: Lautensack, Vnderweisung , fol. Ar. Anfang des ersten Teilabschnitts (Bayerische Staatsbibliothek München, Res / 2 J.publ.g. 14#Beibd.4, fol. Ar, urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00029482-1). <?page no="293"?> 292 Christina Lechtermann Abb. 2: Lautensack, Vnderweisung , fol. Ciiir. Ende des ersten Teilabschnitts (Bayerische Staatsbibliothek München, Res / 2 J.publ.g. 14#Beibd.4, fol. Ciiir, urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00029482-1). <?page no="294"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 293 Michel Baxandall als period eye beschreiben könnte, also die Fähigkeit, gegebene Figuren oder Körper entsprechend eines eingeübten und internalisierten Regelsystems zu ‚durchschauen‘. 27 Was sich damit am ersten Abschnitt der Vnderweisung Lautensacks beobachten lässt, sind sehr spezifische Verschiebungen hinsichtlich der Umgangs- und Rezeptionsformen, die einem Buch, das in der Explizierung seines didaktischen Anliegens in Widmung und Zueignung sein Telos als Vermittler von geometrischem Wissen und Können absteckt, eingeschrieben sind. Denn während geometrisches Wissen erläutert und konstruktives Messen eingeübt wird, wird zugleich ein neuer Umgang mit dem Buch selbst implementiert, der Lesen, Schauen und Machen, Genauigkeit des Blicks und der Geste fordert und der in der Öffnung von explikativen Leerstellen Verstehens- und Erfahrensarbeit in einen Bereich außerhalb des Buches verschiebt. Gelernt wird damit zugleich eine Art der Rezeption, die auch den zweiten Teil von Lautensacks Vnderweisung dominiert. III. Du must die linien gar fleissig ziehen von puncten zu puncten Stärker noch als der erste Teil baut der zweite, der von der Perspektive handelt, auf der Verbindung von genauem Machen und verstehendem Erkennen auf. Er beginnt erneut grundlegend und daher wieder beim Punkt: 28 Wie du inn dem ersten Theil bist gelehrt worden des Puncten halben zum abtheilen / also mustu auch in der Perspectiff am ersten des Augpuncten acht nem[m]en / denn ohn den puncten kanstu nichts in die Perspectiff bringen / diesen puncten magstu nach deinem gefallen hoch oder nider stellen / wie du wilt / wie ich es dir dan[n] hernacher weisen wil / In disen puncten lauffen alle linien / so in der Perspectiff gebraucht werden zum verjuͤngen […]. Entsprechend seinem Namen ist dieser Punkt nicht als mit spitzer Nadel gestochenes Pünktchen präsentiert, sondern als Auge gezeichnet, auf das Linien zulaufen (ebd.). Auf seine Einführung folgt die Festlegung der Grundlinien, von denen aus diese Linien gezogen werden. Dann werden Möglichkeiten der Verschiebung des Augpunktes durchgespielt und wird in einem Diagramm gezeigt, wie sich die jeweilige Veränderung des Augpunktes auf den Verlauf der Fluchtlinien und besonders auf die Konstruktion des Grundes auswirkt. Daraufhin beginnt die Festlegung des ‚Grundes‘, also der Stellfläche oder Unterseite eines perspektivisch zu konstruierenden Körpers. 29 In der sechsten Figur werden dazu mittels 27 Ian F. Verstegen, „Tacit Skills in the Perspective Treatise of the Late Renaissance“, in: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period , hg. von Karl A. E. Enenkel und Wolfgang Neuber, Leiden / Boston 2005, S. 188-213; Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance [ Painting and Experience in Fifteenth Century Italy , 2. verbesserte Auflage 1988], Berlin 1999. 28 Lautensack (wie Anm. 12), fol. Ciiiv, erster Abschnitt von Der ander Theil von der Perspectiff. 29 Begriffe wie Grund oder Superficies scheinen im Rahmen der volkssprachlichen Messkünste begrifflich noch nicht genau festgelegt zu sein: Vgl. Christina Lechtermann, „Grund, Haut und Estrich in fachthematischen Schriften des 16. Jahrhunderts“, in: Das Wissen der Oberfläche. Episteme des Horizontalen und Strategien der Benachbarung , hg. von C. L. und Stefan Rieger, Berlin 2015, S. 169-192. Zur geometrischen Begrifflichkeit siehe jetzt auch: Dagmara Špotáková, „Die Geometrie und ihre Sprache im 16. Jahrhundert am Beispiel der deutschen volkssprachlichen Werke“, in: Slowakische Zeitschrift für Germanistik 5 (2016: 2), S. 37-54. <?page no="295"?> 294 Christina Lechtermann der gestrichelten Hilfslinien gleich drei Vierungen durch verschieden hoch angesetzte Aug- und Seitenpunkte jeweils unterschiedlich tief ‚in den Grund‘ gelegt (Abb. 3). Abb. 3: Lautensack, Vnderweisung , fol. Dr (Ausschnitt), Abschnitt II , Figur 6 (Bayerische Staatsbibliothek München, Res / 2 J.publ.g. 14#Beibd.4, fol. Dr, urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00029482-1). <?page no="296"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 295 Dieser Einführung folgt - als Anweisung - das Aufziehen einer in den Grund gelegten Vierung zu einem gevierdten Stein . Dazu soll auf jede Ecke eine Senkrechte gesetzt werden, deren Höhe mittels der Diagonalen gefunden wird. Bei diesem Verfahren ist es das punktgenaue Anlegen des Richtscheits, auf das eigens hingewiesen wird: [D]arnach lege das Richtscheyt vber zwerg fleissig auff die zween hindern puncten / vn[d] zihe ein linien von einem puncten zu dem andern / so hastu ein gevierdten stein / wie du es hie sihest auffgerissen. Die Figur 8 bietet den fertigen gevierdten stein (Abb. 4) und verzichtet weitgehend auf die Hilfslinien, die nicht im, sondern neben dem Buch gezogen werden sollen. Die Übung endet mit der Figur 9 (Abb. 4), die drei übereinander gesetzte Steine präsentiert, und der Mahnung: 30 HI eher hab ich dir drey stein zusammen gestellt / daß du sihest wie sie sich verendern nach dem Augpuncten / wen[n] du dise stein oder Wuͤrffel also alle nach einander machst / wirstu denn hernacher die andern / so hernach folgen / desto besser koͤnnen machen / denn also kanst du es desto baß lehrnen verstehen / denn es wirdt sich nicht schicken wenn du ein stiegen hinauff solt gehen / das du gleich auff die oͤberst traͤppen woͤlst springen / sonder du must vnden anfahen / vnd ein trapp nach der andern allgemach hinauff steigen / biß du hinauff kommest. Abb. 4: Lautensack, Vnderweisung , fol. Div und Diir, Abschnitt II , Figuren 7-9 (Bayerische Staatsbibliothek München, Res / 2 J.publ.g. 14#Beibd.4, fol. Div und Diir, urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00029482-1). Auch in dieser ersten Übung der Perspectiff kreuzen sich die Genauigkeit und Geläufigkeit der Hand - nun im Umgang mit dem Richtscheit, das die richtigen Schnittpunkte der we- 30 Lautensack (wie Anm. 12), fol. Dv-Diir. <?page no="297"?> 296 Christina Lechtermann nigen im Buch gezeigten und der vielen selbst zu ziehenden Linien treffen muss - mit der Einschulung des Auges. Mit Fleiß anlegen, alle Figuren nacheinander einüben und genau beobachten lauten die entsprechenden Empfehlungen. Dabei geht besonders die Figur 6 (Abb. 3), die verschiedene Grundlegungen ineinander stellt, mit einer Mahnung einher, an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit walten zu lassen: 31 Doch wil ich hernachmals / so ich ein grund mach / vnd denselben alßdann in die Perspectiff wil bringen / die linien nit also zum augpuncten gehen lassen / wie in der jetzigen Figur / darumb du denn dieser Figur desto mehr acht solt haben / damit du hernach wissest wie ich es meine. Dieser Hinweis bereitet auf die spezifische Gestalt der Diagramme vor, die der zweite Teil der Vnderweisung verwendet, wenn verschiedene Polygone in Aufsicht konstruiert und dann in perspektivischer Verkürzung ‚in den Grund‘ gelegt werden. Hierbei jedoch wird auf ein Anzeigen der Fluchtlinien gänzlich verzichtet, und auch die Position des Augpunktes wird nicht erneut markiert. Allerdings liegt er bei allen Beispielen an der Stelle, an der er für die achte Figur - den Kubus, der die Anfangsübung bildete - einmal gezeigt worden ist. Die besonders empfohlene Übung bestimmt damit auch die Ausrichtung die folgenden Konstruktionen. Abb. 5: Lautensack, Vnderweisung , fol. Fiv und Fiir, Abschnitt II , Figuren 28-30 (Bayerische Staatsbibliothek München, Res / 2 J.publ.g. 14#Beibd.4, fol. Fiv und Fiir, urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00029482-1). Die erste Hälfte von Lautensacks Perspektivlehre im zweiten Buch seiner Vnderweisung wiederholt also gleichsam die Flächenkonstruktionen des ersten Buchs in der einzufüh- 31 Ebd., fol. Dr. <?page no="298"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 297 renden Darstellungsform: aus Dreieck, Viereck, Fünfeck usw. werden ‚Steine‘ (Körper) aufgezogen. Erklärt wird jedoch jeweils nur, wie man überhaupt etwa ein Fünfeck aus einem Quadrat entwickelt und ‚in den Grund‘ legt - also noch ein weiteres Verfahren zur Konstruktion regelmäßiger Polygone, denn die ersten Konstruktionen verlaufen ja auf Basis des Zirkelrisses. Das ‚Aufziehen‘ dieser Polygone in die Perspektive hingegen, also die Prozedur, die sie zu perspektivierten Polyedern werden lässt, wird weder im Einzelnen gezeigt noch angewiesen, sondern immer wieder als zu erledigende Übung vorausgesetzt und an den Rezipienten delegiert. Lediglich an die nötige Genauigkeit beim Aufsetzen der (Hilfs-)Linien wird erinnert: Du must die linien gar fleissig ziehen von puncten zu puncten / dann sonst wirdt es dir im auffziehen auß dem grund gar bald weit fehlen (ebd., fol. Diiiv). Immer mehr gerät so der Durchgang durch die Polygone und Polyeder zur Präsentation von Schaustücken, deren Konstruktion kaum mehr erklärt wird, die dafür aber mit anderen geometrischen Formen in zunehmend komplexer Kombination gezeigt werden (etwa Abb. 5). 32 Die ästhetische Qualität der Diagramme, die sich hier immer neu im und als Übergang zum Bild präsentieren, weist auf eine denkbare zweite Bestimmung des Büchleins als Schauwerk hin, 33 ist aber im hier diskutierten Zusammenhang deswegen nicht notwendig funktionslos. Befragt man diesen Abschnitt der Vnderweisung auf seine ‚didaktischen‘ Qualitäten, so lassen sich vor allem drei dominante Gesten beobachten. Zum einen zeigt sich eine immer stärkere Delegierung des lernenden Nachvollzugs an die übende Hand und die eigene Wahrnehmung. Diese geht einerseits einher mit der Aussparung der meisten Flucht- und Hilfslinien in den Diagrammen, die Lautensack mit dem Hinweis auf größere Übersichtlichkeit begründet, wobei er den Leser erneut auf Genauigkeit in der je eigenen Ausführung verpflichtet. 34 Andererseits geht sie mit einer grundsätzlichen Aussparung von Diagrammen und Erklärungen einher. Stattdessen wird auf als bereits absolviert gedachte Konstruktionen verwiesen: 35 ZU m andern / wil ich dir den grund zu diesem viereck nit machen / denn wenn du die acht Figur kanst / vnd darnach den grund der viertzehenden Figur / dieselbe[n] vier stein nur hinauß setzst bis an die vierecken / vnd als dann acht hast der 15. Figur / die denn in diesem durchsichtigen stein die gantz foͤrder wand ist / hab nur fleissig acht / das du mit den linien zu dem augpuncten recht ferest / so wirstu selber sehen wie es sich so fein ordentlich zusammen tregt. So wird - zum zweiten - durch eine spezifische Lenkung der Aufmerksamkeit der Rezeption des Buches ein eigener Rhythmus und eine eigene Struktur verliehen, die von der Linearität der Schrift und der numerischen Abfolge der Kapitel abweicht. Zwischen wiederholendem Rückgriff, verweilender Konzentration und ‚stufenweisem‘ (siehe oben) Nach- 32 Vgl. ebd., fol. Diiv-Fivr (Figuren 10-34). 33 Zu entsprechenden Überlegungen für die Messlehre Sebald Behams vgl. Christina Lechtermann, „Schneckenstile. Albrecht Dürers Underweysung der Messung (1525) und Hans Sebald Behams Kunst und Lere Buͤ chlin (1546)“, in: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf , hg. von Elizabeth Andersen, Ricarda Bauschke- Hartung, Nicola McLelland und Silvia Reuvekamp, Berlin / New York 2015, S. 489-512. Vgl. zur Rolle der regulären Polyeder als ‚Schaustücke‘, ‚Elemente der Natur‘ und Modelle für eine bestimmte ‚Logik der Formbildung‘: Felfe (wie Anm. 4), S. 212-230. 34 Lautensack (wie Anm. 12), fol. Ev: Ich wolte dir in gern mit allen blindlinien gemacht haben / so hettestu gar nit darauß moͤ gen kommen / aber hie mustu acht nemmen der Creutz auff allen seiten / die dir alle eck fein ordentlich nach einander abschneiden . 35 Ebd., fol. Er / v. <?page no="299"?> 298 Christina Lechtermann einander der zu absolvierenden Übungen erhält der Umgang mit dem fachthematischen Buch eine eigene Temporalität. Drittens schließlich - und an dieser Stelle bekommen Ästhetik und Faszinationskraft geometrischer Figuren und Verfahren ihre funktionale Valenz für didaktische Kommunikation - appelliert der Text, der sich einen Liebhaber der Geometrie heranziehen will und der einem solchen gewidmet ist, an das Begehren. Die den komplexen geometrischen Schaustücken beigestellte Begründung liest sich entsprechend: damit du je von einem zum andern in ein groͤssern lust moͤgst kommen (fol. Fiv). IV. wenn du acht darauff hast […] so muͤssen dieselben linien an einen ort ir end haben / dahin setzt man den puncten Während die erste Hälfte der Perspektivlehre geometrische Körper im Verhältnis zu einem nur kurz eingeführten und dann unverrückt verwendeten Augpunkt präsentiert, widmet sich die zweite Hälfte der Perspektivlehre diesem Punkt genauer und zeigt im Zusammenhang mit der Verschiebung des Augpunkts seine Operativität auf - diejenige Option also, die in der sechsten Figur (Abb. 3) bereits angelegt und zur besonders aufmerksamen Beobachtung empfohlen worden ist. Dazu wird auf die erste Erläuterung zurückverwiesen und diese zugleich mit Verweis auf die 41. Figur (Abb. 6) präzisiert: 36 Wie ich dich aber im anfang des Buͤchleins der Perspectiff in den ersten fuͤnff Figuren nach einander gelehret hab deß Augpuncten halb / so du etwas in die Perspectiff wilt bringen / wiewol dasselb nicht dein Aug ist / aber dein Aug stehet gleichwol dagegen vber / oder darvon / aber von deinem Aug gehn wol streimen oder linien / wenn du acht darauff hast / die haben auch kein end / aber so du etwas wilt in ein gewissen grund fassen vo[n] deim gesicht / so muͤssen dieselben linien an einem ort ir end haben / dahin setzt man den puncten / die heißt man den[e] die Aug puncten […]. Was die 41. Figur (Abb. 6), die dermaßen eingeleitet wird, zeigt, sind vier verschiedene Standpunkte einer Person, die in ein groß gebeuw oder Kirchen (fol. Gv) mit zahlreichen Säulen und Wänden hineinschaut. Diese kann und soll der Leser selbst ermitteln, indem er vor einem eben solchen Gebäude Aufstellung nimmt und weiter hindersich geht, bis er einen idealen Blickwinkel in den Raum bekommt. Auf vergleichbare Weise soll beim Aufriss der Augpunkt solange verschoben werden, bis die linien vom Aug weit in alle geng oder gemach gehn (fol. Giir) - wie es die Linien in Figur 41 andeuten. Während also zu Beginn des zweiten Teils die Möglichkeit beliebiger Setzung des Augpunkts angesichts kleiner Objekte akzentuiert wurde, wird hier die Grundlegung zu einer präzisen Bestimmung des Augpunkts angesichts großer Objekte gegeben - so präzise, dass nun auch genaue Maßangaben das Beispiel begleiten: 120 Schuh lang sei der Grund, 60 breit, die markierten Standpunkte stünden je 50 Schuh auseinander, ferner werden die genaue Breite der drei Gänge, die Dicke der Pfeiler und Wände angezeigt. 37 Die 39. Figur ist als Reminiszenz an die 6. Figur (Abb. 3) beigestellt, die ja bereits verschiedene Formen der mehr oder weniger tiefen Grundlegung exemplifiziert und sich zur besonders aufmerksamen Beobachtung empfohlen hatte 36 Ebd., fol. Gv. 37 Ebd., fol. Giir: Nun hab ich in mit drey gengen gemacht / vn[d] ist der mittler gang im liecht weit sechß vnd zwentzig schuch / vn[d] hoch zween vnd fuͤ nfftzig schuch / vnd die zween neben geng ist einer weit im liecht dreyzehen vnd ein halben schuch / vnd hoch siben vnd zwentzig schuch / vnd die zwo wende oder pfeiler so durch den gantzen grundt hinauß gehn / ist eine dick drey schuch / vn[d] die eusserst wandt deß Bauwes dick vier schuch . <?page no="300"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 299 (siehe oben). Die genaue Höhe des Augpunktes wird jedoch noch durch eine weitere Größe präzisiert: die Manns hoͤhe nämlich soll genommen werden nach deim schuch / so du in deine[m] messen brauchst , denn damit werde es dem Conterfehten am gleichsten (fol. Giiv). In die Lehre der konstruktiven Messkunst ist damit an dieser Stelle eine zweite, nämlich die Höhen, Längen und Breiten quantifizierende Messkunst eingetragen. Ihr entstammt das Konzept eines möglichst genau festgelegten Augpunkts, der ein Element der geometrischen und arithmetischen Verfahren quantifizierender Messungen ist, wie sie etwa Jacob Koebel in seiner ausgesprochen erfolgreichen Geometria aus dem Jahr 1535 vorlegt. 38 Die Perspektiv-Lehre, die auf diese Einführung folgt, ist eine Übung für das Sehen, die vor allem diejenigen Unterschiede in Bild und Text inszeniert, die sich aus der jeweils messgenauen Setzung verschiedener Augpunkte ergeben (Abb. 7). Abb. 7: Lautensack, Vnderweisung , fol. Giiv und Giiir. Teilabschnitt II , Figuren 42 und 43 (Bayerische Staatsbibliothek München, Res / 2 J.publ.g. 14 Beibd.4, fol. Giiv und Giiir, urn: nbn: de: bvb: 12bsb00 029482-1). [D]amit du sehest oder so siehst du und ähnliche Formulierungen bilden dementsprechend die häufigsten Formeln in diesem zweiten Abschnitt der Perspectiff , der immer wieder darauf abzielt, einen bestimmten Punkt einem Gebäude gegenüber einzunehmen, bzw. sich die optischen Effekte einer solchen Autopsie vorzustellen. Möglicherweise übernimmt 38 Jacob Koebel, GEometrei / Von künstlichem Messen vnd absehen / allerhand hoͤ he / fleche / ebene / weite vnd breyte / Als Thürn / Kirchen / baͤ w / baum / velder vnd aͤ cker […] , Frankfurt a. M.: Christian Egenolff, 1535. Digitalisat: http: / / digital.slub-dresden.de/ werkansicht/ dlf/ 8076/ 5/ (Stand 15. 8. 2015) [ VD16 K 1610]. <?page no="301"?> 300 Christina Lechtermann Lautensack die Anregung zu diesem Beispiel der 1531 in der Offizin Hieronymus Rodlers in Simmern auf dem Hunsrück herausgegebenen und 1546 in Frankfurt erneut aufgelegten Lehrschrift: Eyn schoͤn nuͤtzlich buͤchlin und underweisung der kunst des Messens / mit dem Zirckel / Richtscheidt oder Linial. 39 Diese nämlich eröffnet ihre Belehrung mit eben jener Anweisung zur Autopsie: Gehe in[n] eyn grosse kirch / die mit seulen vnd hohen fenstern (wie in[n] Stetten gwonlich) geziert vnd gemacht ist […] (fol. Aijv). Dort soll sich der Leser der nachfolgenden Kapitel mit dem Rücken mitten an die hinterste Wand stellen, still stehende nach oben schauen und selbst beobachten, wie die Säulen und Kragsteine in der Nähe viel höher erscheinen als in der Ferne, wie sich die Abstände zwischen den Säulen immer mehr reduzieren und wie auf dem Boden die Pflastersteine immer schmaler zu werden scheinen und sich gleich eynem drechter verlieren (fol. Aijv). Danach soll er um den seiten puncten zu ergruͤnde[n] in gleicher Weise nun jedoch näher an einer Säulenreihe oder an einer Seitenwand Stellung beziehen, um zu erkennen, wie bei verschobenem Seitenpunkt nun eine Wand oder Säulenreihe länger erscheint als die andere. In gerade dieser Form ist auch bei Lautensack der zweite Blickpunkt eingetragen - nur eben messgenau. Denn während die 42. Figur schlicht die vierte Blickpunkt-Position der Diagramme 40 und 41 ins Bild setzt, bietet die 43. Figur den Standpunkt des Mannes nicht nur in der ersten Position, sondern zugleich seitlich verschoben: Ich hab aber den Man[n] von der mittel linien gegen der lincken hand vier schuch weit auff ein seiten gestelt / da sihet er die ein wand mehr dann die ander […] (fol. Giiir). Zusätzlich sind, so wird erklärt, in die Seitenwände vier Türen eingefügt worden, die diese Blickübung noch einmal fundieren: da sihestu das der Man[n] nit mehr dann das halb nebentheil in das Portal sihet (ebd.) - was eben besonders gut zu erkennen ist, wenn man Türen hat, die diesen Unterschied markieren. V. das macht denn ein noch so lustig Die Vnderweisung Heinrich Lautensacks setzt in ihren ersten beiden Teilabschnitten gleich dreimal beim Punkt an, um von ihm aus verschiedene Aspekte der Messkunst zu entwickeln. Als Teiler und Begrenzer von Strecken dient er im ersten Buch der Konstruktion von Linien und Polygonen, als fixer Richtpunkt der Fluchtlinien und ‚Schnittpunkt‘ gezogener Hilfslinien dient er in der ersten Hälfte des zweiten Buchs dem Aufziehen geometrischer Körper und schließlich dient er in der zweiten Hälfte des zweiten Buchs als variabler Standpunkt für die Repräsentation architekturaler Objekte, dessen messgenaue Bestimmung die perspektivische Konstruktion insgesamt, in Lautensacks Worten, ihre liebligkeit (ebd., fol. Giiiv) bestimmt. Verbunden mit der jeweiligen Operativität des Punktes sind Genauigkeitsforderungen, die einmal auf den sorgfältigen Einstich des Zirkels, einmal auf das fleißige Anlegen des Lineals auf Schnittpunkten und schließlich auf die numerisch bestimmbare Festsetzung des Standpunktes zielen. Mit letzterer ist zugleich eine Genauigkeit in der Körperhaltung verbunden - ‚stehe still, richte den Blick in dieser oder jener 39 Johann II. von Pfalz-Simmern, Eyn schoͤ n nuͤ tzlich buͤ chlin und underweisung der kunst des Messens / mit dem Zirckel / Richtscheidt oder Linial. Zu nutz allen kunstliebhabern / fuͤ rnemlich den Malern / Bildhawern / Goldschmiden / Seidenstickern / Steynmetzen / Schreinern / auch allen denen / so sich der kunst des Augenmeß (Perspectiva zuo Latin gnant) zugebrauchen lust haben. Darin[n] man auch solche Kunst leichter / dan[n] auß etzlichen hieuorgetruckten buͤ chern / begreiffen vn[d] lernen mag / mit vil schoͤ nen darzuo dienenden figuren , Siemeren uff dem Hunessrucke: Hieronymus Rodler, 1531. Verwendetes Digitalisat: http: / / www.e-rara.ch/ doi/ 10.3931/ e-rara-8785 (Stand: 17. 8. 2016) [ VD16 ZV 30 341] <?page no="302"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 301 Weise aus‘ -, was im Rückgriff auf die Simmernsche Messkunst leicht erkennbar ist und sich ebenso an den Messlehren Koebels exemplifizieren ließe, die seit 1535 in immer neuen Auflagen in Frankfurt gedruckt wurden. In all diesen Abschnitten ist die Präsentation und Einführung der einzelnen Figuren dergestalt angelegt, dass sie immer wieder neben der händischen Übung auch eine Einschulung des Blicks fordern, der den Körpern, Flächen und Figuren die Messverfahren abschauen soll. Fertigkeit der Hand und Fähigkeit des Blicks hängen unmittelbar über das Moment des Prozeduralen zusammen, denn sie zielen ja beide nicht auf das (positive) Wissen anschreibbarer Axiome ab, sondern auf den Umgang mit anwendbaren Regeln - einem knowing how , das sich im „gelingenden Vollzug einer gegenständlichen Handlung“ aktualisiert, während das knowing that in der „Kohärenz eines (symbolischen, sprachlichen) Aussagesystems“ gründet. 40 Für Lautensacks Messkunst würde sich das kommunikative Problem, Handlungswissen schriftsprachlich zu vermitteln, dann beschreiben lassen als die Notwendigkeit, den erfolgreichen Umgang mit semantischen Anordnungen und symbolischen Formen zu bearbeiten und zwar dergestalt, dass Verstehen nicht allein durch diese Anordnungen selbst und ihre sprachlich und visuell vermittelten Inhalte ermöglicht werden soll, sondern dass darüber hinaus Verstehensprozesse einsetzen, die von Text und Bild zwar initiiert, nicht aber bis 40 Krämer, „Mathematik“ (wie Anm. 26), S. 58. Mit dieser Bestimmung begründet Sybille Krämer ihr Anliegen, die beiden wohl nur heuristisch zu trennenden Wissensformen nicht unüberbrückbar von einander zu scheiden, sondern zu zeigen, dass sie sich lediglich auf „je unterschiedliche Verkörperungsformen von Wissen“ beziehen. Abb. 6: Lautensack, Vnderweisung , fol. Giiv (doppelte Blattgröße, aufgefaltet) (Bayerische Staatsbibliothek München, Res / 2 J.publ.g. 14#Beibd.4, fol. Giiv, urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00 029482-1). <?page no="303"?> 302 Christina Lechtermann zum Ende ausgesteuert und ausbuchstabiert werden können. Dazu wird allererst der Umgang mit dem Buch selbst neu strukturiert. Das betrifft zunächst ein genuin anderes Zeitregime: Lehre und Lernen treffen sich hier weder in der Logik mehr oder weniger linear ablaufender oder gar dialogisch, in fingierter ‚Echtzeit‘, präsentierter Belehrung durch das geschriebene Wort, noch folgen sie dem blätternden Zugriff, der, gegebenenfalls durch ein Register angeleitet, nach eigenem Bedarf bestimmte Stellen oder Rezepte nachschlägt. Vielmehr legen sie einerseits den Benutzer auf das Nacheinander der Konstruktionsaufgaben fest, andererseits jedoch lösen sie seine Aufmerksamkeit vom Nacheinander der Worte, akzentuieren sie um, rhythmisieren sie als Wechsel von Lektüre und Übung, oder beharren auf dem Verweilen bei ganz bestimmten Figuren und Sachverhalten. ‚Fleiß‘ greift hier - erstens - als Stichwort einer spezifischen Temporalität, die dort eingefordert ist, wo Lesen und Lernen auseinander treten. Zugleich realisiert im Fall der Vnderweisung das Fachbuch in einer sehr eigenen Weise seine doppelte mediale Gestalt als Wissensspeicher einerseits und andererseits als Mediator in Richtung eines Wissens, das außerhalb seiner selbst liegt - etwa in der Autopsie eines Ortes oder in der Beobachtung, wie sich die ‚Linien zur Perspektive zusammenziehen‘. ‚Fleiß‘ greift hier - zweitens - als Stichwort einer spezifischen Ausrichtung der Aufmerksamkeit, die immer wieder auch vom Buch als Wissensspeicher wegzuführen scheint, bzw. genauer, die seine Mediosphäre, hier im Sinne eines spezifischen medialen Mikro-Milieus, 41 um Instrumente und Kulturtechniken erweitert, die dem Umgang mit dem Buch nicht genuin angehören, die dessen Status als Wissensvermittler jedoch stören oder eben fördern können. ‚Fleiß‘ greift hier somit auch als Stichwort eines erfolgreichen Umgangs mit anderen Medien sowie den ihnen eigenen Speicher- und Übertragungsleistungen - etwa dem Zirkel. Schlechte Zirkel können die Vermittlungsbemühungen stören, weil sie, wie mangelnde Genauigkeit im Abteilen, verdruß bringen , doch sie machen ein noch so lustig wen[n] sie so fein sanfft vnd gleich gehen (siehe oben). In der Vermittlung von prozeduralem Wissen potenziert sich, so scheint es, die immer schon zu konstatierende Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und zumal von didaktischer. 42 Die Asynchronität von Lesen und Verstehen, der eigene Rhythmus der Übung und die Abhängigkeit der skriptographischen Vermittlungsstrategien von einem zweiten medialen Mikro-Milieu implementieren ja nicht nur händisches Wissen im Bereich der Geometrie, sondern verändern den Umgang mit dem Buch selbst, indem sie, während sie Bildung durch das Buch versprechen, Lesen und Lernen zugleich prozedural immer wieder ein stückweit entkoppeln. Um die Transmission von Wissen dennoch zu sichern, appellie- 41 Der Begriff des Mikro-Milieus wird hier im Anschluss an das Konzept des medialen Milieus in der Mediologie vorgeschlagen (vgl. Frank Hartmann, Mediologie: Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften , Wien 2003, bes. S. 100-104). Er soll auf die Nahumgebung des Buches zielen, auf die Praktiken und Objekte also, in die der Umgang mit ihm eingelassen ist und die seine Rezeption beeinflussen oder gar bedingen, bzw. denen - durchaus auch im Gestus kommunikativer Utopien - eine Wirkung auf die Rezeption zugeschrieben wird. Vgl. Régis Debray, Einführung in die Mediologie , Bern 2003, bes. S. 56-65, 108-119. 42 Niklas Luhmann, „Was ist Kommunikation? “, in: Information Philosophie 1 (1987), S. 4-16; ders., „Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“, in: ders., Soziologische Aufklärung 3 . System, Gesellschaft, Organisation , Opladen 1981, S. 25-34. Die Unmöglichkeit jedweden Belehrtwerdens wird bereits seit Augustinus’ De magistro diskutiert, vgl. Johannes Giesinger, „Die Unmöglichkeit des Lehrens - Augustin und Wittgenstein“, in: Philosophie des Lehrens , hg. von Hans-Christoph Koller, Roland Reichenbach und Norbert Ricken, Paderborn 2012, S. 31-45. <?page no="304"?> Fleiß. Übung und Genauigkeit 303 ren sie an den Fleiß und setzen zugleich - wie im gegebenen Zitat über die Genauigkeit des Zirkels und die seiner Handhabung - auf Versprechen der ‚Lust‘ und auf Maßnahmen gegen den Verdruss. Der ‚Verdruss‘ ist in diesen Formulierungen der ‚Erlustigung‘, dem Anreiz, dem lustig oder lüstig sein, also dem Begehren, etwas zu tun, bzw. der munteren, rührigen Beschäftigung mit etwas, oder ganz grundsätzlich der ‚Lust‘, etwas zu lernen oder etwas zu machen, gegenübergestellt. Die Begriffe, die in den Messkünsten die potenzierte Unwahrscheinlichkeit in der Transmission von knowing how umstellen, kreisen, und dies gilt nicht nur für Lautensacks Vnderweisung , immer wieder um das Moment des ‚Begehrens‘. Immer sind es liebhaber der Kunst, die künstbegierigen , die erlüstigt sein sollen, um dann - in den Worten Walther Ryffs - mit großer Aufmerksamkeit gleich als die hefftigen Buler vor solchen gedancken weder rast noch rhue haben / dan[n] wa[ß] sie fuͤr sich genommen / dem selbigen allein obligen / mit freud der hoffnung zuerlangen . 43 Fleiß greift damit schließlich als Haltung eines Verlangens: insofern er als gerichtete Aufmerksamkeit ein Ziel, nämlich die Geometrie, ins Auge fasst, und insofern er sich, wie es Thomas von Aquin für die diligentia (von diligere , Lieben) gezeigt hat, als eifrige, unermüdliche Zuwendung zur Messkunst artikuliert. 44 Mit dem Fleiß der genau arbeitenden Hand und der Lust des genau arbeitenden Zirkels beginnt darum die Sicherung der kommunikativen Vermittlung der Lehre dort, wo auch die Geometrie ihren Ausgang nimmt - beim Punkt. 43 Walther Hermann Ryff, Vitruvius Teutsch , Nürnberg: Johann Petreius, 1548, Kommentar zum ersten Buch Vitruvs, fol. i2v. Digitalisat: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ vitruvius1548 (Stand 17. 8. 2015) [ VD16 V 1765]. 44 Otto Friedrich Bollnow, „Der Fleiß. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Tugendbegriffe“, in: Philosophische Studien 1 (1949), S. 536-548, online verfügbar unter: http: / / www.otto-friedrich-bollnow.de/ schriften/ detail/ der_fleisz-330.html (Stand 17. 8. 2016), hier S. 2: „Schon Thomas von Aquino definiert die diligentia als gleichbedeutend mit der sollicitudo, dem Eifer, indem er zugleich auf ihre sprachliche Herkunft aus dem diligere, dem Lieben, hervorhebt: ‚Der Fleiß scheint mir dasselbe zu sein wie der Eifer, weil wir auf das, was wir lieben, größeren Eifer verwenden. Darum ist Fleiß, wie auch Eifer, zu jeder Tugend erforderlich, insofern zu jeder Tugend die notwendigen Akte der Vernunft erforderlich sind.‘ (Summa Theologica, IIa IIae qu. 54 art. 1 ad primum)“. <?page no="306"?> Anweisung und Lehre 305 Anweisung und Lehre Zur Funktionalisierung von St. Anselmi Fragen an Maria Simone Schultz-Balluff I. Einleitung darnach hebit sich vil guter vragin das der werde lehrer anshelmus hat gevrait der koninginen marie vmb vnser anwysunge willen vnd er vort beschrebin hat in der heyligin schriefft vns geloubigin zcu eyner gotlichin lehren (D3, fol. 103r,8-16) Der in der Dessauer Handschrift (D3) vor Beginn des einzigen deutschsprachigen Passionsdialogs des Mittelalters, St. Anselmi Fragen an Maria , platzierte Passus bietet in mehrfacher Hinsicht Auskunft: über den Text und seine Grundlage, über den handschriftlichen Kontext - darnach verweist darauf, dass dem Text zumindest ein weiterer vorausgeht - und den Nutzen des Textes für die Rezipierenden. 1 Referiert wird auf die Heilige Schrift, die vns geloubigin zcu eyner gotlichin lehren gereicht, als Intention wird die anwysunge genannt, d. h. der Text soll dem Rezipienten als Anweisung bzw. Anleitung dienen. In dem betreffenden Text, dem dieser Passus vorgesetzt ist, geht es um die Schilderung der Passion Jesu vom Abendmahl bis zur Grablegung. 2 Diese ist dialogisch aufgebaut - Anselm von 1 An die Marienklage ( Unser vrouwen klage ) schließt sich (wohl) in roter Farbe ein Text an, der den Übergang zu St. Anselm bietet, beide Texte aber auch deutlich trennt: das lyden der koninginnen maria hat hir eyn ende darnach hebit sich vil guter vragin […] (D3, fol. 103r,6-9). - Die Überlieferung des Textes St. Anselmi Fragen an Maria wird seit 2010 im Rahmen eines von der DFG geförderten Projektes (DFG- Förderzeichen SCHU 2524 / 2-1 und SCHU 2524 / 2-2) mit dem Ziel der linguistischen Annotation, Auswertung und digitalen Edition der gesamten deutschsprachigen Überlieferung erschlossen. - Im Folgenden werden die projektinternen Siglen verwendet, vgl. hierzu die nach Sprachräumen sortierte Liste am Ende des Beitrags. Für Datierungen und weitere Informationen vgl. die Projektseite: https: / / www.linguistics.rub.de/ anselm/ - Zu den Editionsprinzipien vgl. https: / / www.linguistics.rub. de/ anselm/ pub/ Editionsprinzipien.pdf. Für den vorliegenden Beitrag wurden zudem das Schafts als rundes s und übergeschriebene Buchstaben linear wiedergegeben. Der Zeilenfall der Handschriften wurde - mit Ausnahme von M8 - beibehalten. 2 Die Darstellung beginnt mit dem letzten Abendmahl und dem Verrat durch Judas und endet je nach Fassung mit der Auferstehung Jesu und seiner Erscheinung bei Maria oder der Rache durch Titus und Vespasian 40 Jahre später. <?page no="307"?> 306 Simone Schultz-Balluff Canterbury stellt Fragen, auf die Maria als Himmelskönigin antwortet -, enthält jedoch auch längere, rein darstellende Passagen. Am konkreten Ort im Überlieferungsträger wird durch die hinzugefügte, einleitende Passage dem Text in seiner Gesamtheit die Funktion des Anweisens und Lehrens zugeschrieben. Mit ganz anderen Worten eröffnet der Text im Quedlinburger Codex (H, fol. 1r,1-5): von sancte anshelmus frage Ein nuecze vnde gute betrachtunge vnsersz hern lieden vnd die groszen bekumnernisz der mutter gotesz alsz ir lieber son gemartert warth Die Feststellung, es folge Ein nuecze vnde gute betrachtunge , ist konkret und abstrakt zugleich: Der nun folgende Text biete eine nützliche und gute Betrachtung der Passion - doch was genau ist der Nutzen für den Lesenden? Eine Antwort kann ein Blick auf die unterschiedlichen Zusätze am Ende des Textes liefern: Swe dit het lest de vordenet seszdusentseshundertvndsesvndsestindich iar afflates. (Wo, fol. 81r,1 f.) Vnd wer daz puchl list der hat gelück czu aller frist. (Me, fol. 368,30 f.) vnd den frawen die do schwanger sein vnd swarlig kinder gepern den ist dysz büchlen alsz nuͤz als ob sy andere ding theten dy den frawen hylff geben. (M8, fol. 96r,10-96v,5) Ablass, Lebensglück oder eine leichte Geburt: Wie der kleine Querschnitt zeigt, enthalten die dem Passionsdialog angefügten Textelemente ein breites Spektrum hinsichtlich des Nutzens und der Intention. Während also der Haupttext, bestehend aus Einleitung, Passionsdarstellung in Dialogform und Nachsatz, auf die Vergegenwärtigung der Passion Jesu und die compassio mit der Gottesmutter ausgerichtet ist, können zusätzliche Elemente diese Intention zwar betonen, sie können aber auch neue Aspekte bieten, die den im Kern gleichbleibenden Text modifizieren. Die Basis der folgenden Untersuchung bildet die Gesamtüberlieferung des Passionsdialogs St. Anselmi Fragen an Maria , sodass mit dem Beitrag der Versuch vorgelegt wird, den Befund zu strukturieren. Zwei Beobachtungen dienen als Ausgangpunkte: zum einen die markante Gestaltung von Textbeginn und Textende durch hinzugefügte Textelemente und zum anderen der deutliche, aber sehr unterschiedliche Einbezug des Rezipienten. Insgesamt wird der Frage nach der Funktionalisierung des Textes nachgegangen, die von einfachem Informieren über konkretes Anweisen bis hin zu Lehrhaftigkeit reicht und die über die Paratexte erreicht wird. Grundlegend wird zunächst eine Kategorisierung der Vor- und Nachsätze nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten im Sinn einer Bestandsaufnahme vorgenommen. <?page no="308"?> Anweisung und Lehre 307 In einigen Fällen sind Vor- und Nachsätze so konzipiert, dass sie den Text geradezu einrahmen; an ausgewählten Beispielen wird die Rahmung als ein Prinzip kreativer Textgestaltung näher beleuchtet. Den Abschluss bilden Überlegungen zur Funktionalisierung spätmittelalterlicher Literatur, die sich im vorliegenden Fall zwischen Privatandacht und Prachtcodex aufspannt. II. St. Anselmi Fragen an Maria - Forschung, Überlieferung, Textgestalt Seit dem Hochmittelalter werden das unglaubliche Leiden und der unermessliche Schmerz der Gottesmutter Maria über die Marter und die Leiden Jesu literarisch dahingehend verarbeitet, dass die Figur Marias letztlich zentral im Fokus steht. So findet die Ausformung ihres Leidens als Mutter in Marienklagen, Passionstraktaten, Marienleben und Passionsspielen ihren literarischen Raum. Diese Zentralstellung bleibt nicht unkritisiert, und im Zuge der Reformation wird die Marienverehrung und damit die Tradierung entsprechender Texte weitgehend aufgegeben. Aus der Fülle der die Passion beschreibenden Texte aus der Reformzeit bzw. der vorreformatorischen Zeit sticht St. Anselmi Fragen an Maria (im Folgenden St. Anselm ) deshalb besonders hervor, da die Zentralstellung Marias und die außerordentliche Betonung ihres Leidens geradezu zu regulieren versucht wird: Dem inbrünstig bittenden und betenden Anselm von Canterbury erscheint schließlich die Gottesmutter Maria, und durch das gezielte Fragenstellen ist er es, der den Blick auf das Passionsgeschehen lenkt. Die derzeitig bekannte Überlieferung umfasst 204 Handschriften und 34 Drucke in lateinischer (164), deutscher (69), niederländischer (4) und englischer (1) Sprache und macht St. Anselm bzw. die Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini zu einem der am reichsten überlieferten religiösen Texte des Spätmittelalters. 3 Die derzeit vorliegende und aufbereitete Überlieferung der deutsch- und niederländischsprachigen Handschriften und Drucke erstreckt sich vom 14. bis zum 16. Jahrhundert: In das 14. Jahrhundert sind 12 deutschsprachige und 1 mittelniederländische Handschrift zu datieren, in das 15. Jahrhundert 40 deutschsprachige und 2 mittelniederländische Handschriften sowie 6 deutschsprachige Drucke, in das 16. Jahrhundert 4 deutschsprachige Handschriften sowie 1 mittelniederländischer und 6 deutschsprachige Drucke. St. Anselm liegt in zwei unterschiedlichen Typen vor: in einer Vers- und einer Prosaversion, die sich je von der formalen und auch inhaltlichen Ausgestaltung so deutlich voneinander unterscheiden, dass hier von zwei Textversionen gesprochen werden kann. Die Prosaversion lässt sich weiter in unterschiedliche Fassungen mit Redaktionen 4 dif- 3 Der mittelenglische, in das 15. Jahrhundert zu datierende Text ist überschrieben mit Here begynneth the dyalog of Seynt Anselme and of our lady. of the passion of our lord ihesu cryst. seynt Anselme speryng and our lady answeryng (Oxford, Bodleian Library, Cod. Laud. Misc. 38, fol. 1). Stand aller Zahlen ist September 2016; mit weiteren Funden ist jederzeit zu rechnen. 4 Die Terminologie wird seit langem in der Textphilologie debattiert, mit Blick auf die spezielle Form spätmittelalterlicher geistlicher Literatur wird hier noch eine Diskussion erfolgen müssen; vgl. grundlegend Joachim Bumke, „Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert“, in: Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit , hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart / Weimar 1996, S. 118-129; Hans-Jochen Schiewer, „Fassung, Bearbeitung, Version und Edition“, in: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1 .- 3 . April 2004 , hg. von Martin Schubert, Tübingen 2005, S. 35-50; Ralf-Henning Steinmetz, „Bearbeitungstypen in der Literatur des Mittelalters. Vorschläge für eine <?page no="309"?> 308 Simone Schultz-Balluff ferenzieren (lange, mittlere und kurze Prosafassungen). Bei den Versbearbeitungen, die formbedingt dichter beieinander liegen, sind zunächst eine Handschriftenfassung und eine Druckfassung mit je zwei Redaktionen anzunehmen. Der Erhaltungszustand ist recht gut - 43 Handschriften und acht Drucke überliefern den Text vollständig, neun Handschriften und zwei Drucke fragmentarisch -, sodass auch die Paratexte und der Überlieferungsverbund untersucht werden können. Der mit einem Gesamtumfang von ca. 4500 bis ca. 9000 Wortformen vergleichsweise kurze Text ist bis auf wenige Ausnahmen in Sammelhandschriften überliefert; dies macht es möglich, die Kontextualisierung von St. Anselm mit zu erfassen. Die Codices sind entweder als Einheit konzipiert und haben ein einheitliches Layout, oder es handelt sich um Neu-Zusammensetzungen bereits geschriebener Texte zwischen zwei Buchdeckeln (damit wird eine gängige Praxis der spätmittelalterlichen Zeit widergespiegelt 5 ). In allen Varietäten des Deutschen abgefasst, zeichnet sich - auch wenn noch lange nicht alle Provenienzen geklärt sind - eine breite Rezeption ab: in Männerwie in Frauenklöstern aller Ordensrichtungen sowie im weltgeistlichen und im weltlichen Bereich des deutschsprachigen Raums. Das Textgebilde St. Anselm setzt sich aus einem zentralen Haupttext und den rahmenden Textelementen zusammen: Der Haupttext besteht aus einer dem Dialog vorangehenden, zum Teil erzählenden, zum Teil schon dialogischen Einleitung, dem Dialog zwischen Anselm und Maria, und einem nicht mehr zum Dialog gehörenden, sich aber auf die unmittelbar vorausgehenden Inhalte beziehenden Nachsatz. In diesem agieren die Figuren entweder noch - mit mehr oder weniger Distanz zum eigentlichen Geschehen - oder es wird von weiteren Geschehnissen berichtet. Je nach Fassung beinhaltet der Nachsatz Unterschiedliches, z. B. in den Prosatexten die Schilderung der Rache durch Titus und Vespasian, in den Verstexten Marias Auftrag, Anselm möge das Gesagte aufschreiben und verbreiten; hierzu zählt auch die Erscheinung Jesu im Haus des Johannes, die zwar zeitnah erfolgt, aber nach dem Passionsgeschehen im engeren Sinne zu verorten ist. An diesen aus Einleitung, Dialog und Nachsatz bestehenden Hauptteil gliedern sich fakultative Textelemente an: Überschrift und / oder Vorsätze sowie Zusätze mit und ohne Textbezug. III. Die Passion ist nicht genug: zusätzliche Textelemente Die Darstellung der Passion scheint, wie die eingangs gezeigten Beispiele nahelegen, den zeitgenössischen Schreibenden und Rezipierenden nicht ausgereicht zu haben. Zwischen Titel bzw. Überschrift und Textbeginn 6 finden sich Textabschnitte, die entweder eine kurze Klärung der Begriffe“, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Elizabeth A. Andersen u. a., Berlin / New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 1-64. 5 Die Komposition der gelegentlich auch gemischtsprachigen Codices ist vielfältig: So steht St. Anselm bei Texten zur Vorbereitung auf das Osterfest, neben Passionstraktaten und Predigten, in Gebetbüchern (insbesondere bei Mariengebeten), neben Legenden, in singulären Fällen aber auch zusammen mit Chronik, Witterungsregel, Arzneibuch oder Fürstenspiegel. Vgl. hierzu die Fallstudie zum Wolfenbütteler Rapiarium Cod. Guelf. Helmst. 1082: Simone Schultz-Balluff, „Auf dem Wandbord einer Nonne. Ein Passionstraktat in täglichem Gebrauch“, in: Rosenkränze und Seelengärten. Bildung und Frömmigkeit in niedersächsischen Frauenklöstern. Ausstellung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 3 . März bis zum 25 . August 2013 , hg. von Britta-Juliane Kruse, Wolfenbüttel 2013 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 96), S. 147-155. 6 Dieser beginnt z. B. bei den langen Prosatexten in der Regel nach dem Muster Sant anshelmus der pat vnser frawen […] , Hk, fol. 118r,1 f. <?page no="310"?> Anweisung und Lehre 309 Vorbemerkung liefern oder in längerer Form, z. B. als Vorrede, den folgenden Text einleiten. Diese zugefügten Textelemente zeichnen sich durch eine steigende Komplexität aus, die sich auch in der syntaktischen Struktur widerspiegelt - kurze und prägnante Formen stehen neben Halbsätzen und erläuternden oder anweisenden Satzgefügen. Inhaltlich, funktional und auch formal lassen sich die Vorsätze recht eindeutig fassen und klassifizieren, sodass im Folgenden bei dem Befund angesetzt wird und daraus funktionale Gruppen entwickelt werden. Die Grundlage bilden 51 Texte, deren Anfang überliefert ist. Der Einsatz der vor den Beginn des Haupttextes gesetzten Elemente ist vielfältig: Bei 21 Texten ist der Einleitung des Haupttextes eine Überschrift vorgesetzt, bei sieben Texten beginnt St. Anselm mit einer Vorbemerkung, Überschrift und Vorbemerkung kombinieren sechs Texte, 17 Mal beginnt der Text unvermittelt. Von den 46 Textzeugen, deren Ende erhalten ist, haben nur vier gar keinen Zusatz, 12 beschließen den Text formal mit einer Akklamationsformel o. ä., ganze 30 bieten individuelle Zusätze. Zehn Textzeugen verfügen über Vorwie Nachsatz, d. h. dort erfolgt eine Rahmung. Insgesamt ist weniger der Textbeginn als mehr das Textende ein Ort für ergänzende Zusätze. Im Folgenden werden die Zusätze nach ihren Funktionen besprochen. Erg änz e n und S p e zifiziere n. In der Troppauer Handschrift (T) wird die Überschrift Daz pvehel ist von vnsers herren marter um eine Vorbemerkung ergänzt, die das den folgenden Text kennzeichnende Merkmal des Dialogs und die Hauptfiguren nennt: wie sand Anshelm vnser vrawen vrait wi er gemartert waer. vnd wi im vnser vrawe des antwurte (fol. 121r,12-17). Damit wird die allgemeinere Überschrift, die lediglich auf die Passion als Gegenstand verweist, spezifiziert. Überschrift und Vorbemerkung befinden sich nicht direkt über dem Textbeginn (der oben auf einer Versoseite beginnt), sondern auf der vorhergehenden Seite unten. Dies zeigt, dass das Textgebilde grundsätzlich ohne vorgesetzte Elemente auskommen kann, es scheint aber die deutlichere Auszeichnung des Textes ein Anliegen gewesen zu sein, wie auch weitere Beispiel aus der Handschrift belegen. 7 Einb e zie h e n. Die Vorbemerkung in der Sankt Galler Handschrift ( SG ) ist dem Textbeginn auf selber Seite vorgesetzt, in kleinerer Schrift und von derselben Hand, und dient neben der Spezifikation der Überschrift auch der Bewertung: Von Sant anshelms frag ain nutzi guoti betrachtung vnsers herren liden vnd die groszen bekummernüsz vnser lieben frowen alls ir lieber sun gemarteret ward (fol. 406,1-5). 8 Mit der Einstufung des Passionsdialogs als ‚nützlich‘ und ‚gut‘ wird ein deutlicher Hinweis an den Lesenden gegeben. In der Berliner Handschrift (B2) wird der Lesende als Teil der Christenheit einbezogen und die Kenntnis des folgenden Textes indirekt angemahnt: Disz buche sij allen cristenlüden wol bekant (fol. 48r,1). 9 7 Durchgängig erfolgen Spezifizierungen in der gesamten Handschrift, vgl. fol. 25v (rubriziert) Von dem dritten Nam Gotes , Textbeginn auf fol. 26r DEr Dritte Nam gotes leichnam haizzet in der Latein Albus . Zudem sind die im hinteren Teil befindlichen Gebete gekennzeichnet, z. B. überschreibt Ein lob von Vnser frowen nam den Textbeginn Maria ist ein rainer nam (fol. 173v); vgl. auch die deutsche Anweisung vor einem lateinischen Gebet: Daz pet hat gemacht ein pabst der haizzet Celestinus vnd swer daz spricht vnder der wandlung der hat xl. tag antlaz (fol. 178r). 8 So auch von sancte anshelmus frage Ein nuecze vnde gute betrachtunge vnsersz hern lieden vnd die groszen bekunnernisz der mutter gotesz alsz ir lieber son gemartert warth (H, fol. 1r,1-5). 9 Vom eigentlichen Textbeginn entfernt, der deutlich mit einer zehn Zeilen hohen verzierten Fleuronné- Initiale auf der Seitenmitte die Aufmerksamkeit auf sich zieht, befindet sich der vorgesetzte Text oben auf der Seite. <?page no="311"?> 310 Simone Schultz-Balluff Anrufen und B eten. Mit einem Dankgebet wird der Rezipient in der Straßburger Handschrift (St) aktiv eingebunden: Hyr hait sant anselmus frage eyn anebefanck / Des wyr ihesum vnd mariam sagen danck / Amen (fol. 32r,13 f.; siehe Abb. 1). Diese Zeilen stehen in roter Farbe und mit größeren Buchstaben direkt über dem Textbeginn, die reimenden Zeilenenden sind über Striche verbunden und münden in das Wort Amen . Da sie nachträglich eingefügt wurde, steht die Vorbemerkung knapp zwischen dem Nachsatz des vorhergehenden Textes und dem Textbeginn, ist aber Teil des Konzeptes, da sich im Folgenden die Anfänge der Fragen und Antworten (später dann nur noch die Namen ‚Anselmus‘ und ‚Maria‘) in gleicher Farbe und Type direkt in den Text eingepasst finden. Die in der Nürnberger Handschrift (N2) über den Schriftspiegel und sogar noch über die Kapitel- und Seitenzählung gesetzte Formel In dem namen vnsers herren Jesu cristi (fol. 195r,1) ist zwar weit knapper, die bekannte Anrufung motiviert aber zum Mitsprechen und bezieht wiederum den Rezipierenden ein. Weitaus umfangreicher ist das eigens kreierte und vor dem Textbeginn eingefügte Gebet Anselms an Maria in der Dessauer Handschrift (D), in dessen Mittelteil unvermittelt alle Menschen zum Handeln aufgerufen werden 10 und abschließend der Übergang zu St. Anselm erfolgt: Nu moge gi hoern rede wo ancelmus de guode dede (fol. 1v,13 f.). Die dann folgende Überschrift ( Anshelmus frage , fol. 1v,15) befindet sich abgesetzt und zentriert unter dem Gebet auf derselben Seite (wohl nachträglich gesetzt), der Text beginnt auf der folgenden Rectoseite mit dem üblichen Wortlaut der Verstexte ( Ancelmus was en hillich man , fol. 2r,1). Durch die zweimalige Nennung Anselms und das Anspielen auf die Erscheinung Marias ist der Bezug des Gebets zum Haupttext eindeutig, dennoch wird die Eigenständigkeit durch die Platzierung der vorgesetzten Elemente auf der vorhergehenden Seite bewahrt. Zeigt die Platzierung oder farbliche Hervorhebung der Vorbemerkungen die Abgrenzung zum vorherigen Text und damit eine Betonung des folgenden Textbeginns, wird in einer weiteren Dessauer Handschrift (D3, fol. 103v,1-17) ein Mariengebet nicht nur vorgesetzt, sondern auch direkt nahtlos in die Einleitung von St. Anselm eingearbeitet: Maria du hymmilkoninginne vorlye mir sulche synne das ich betrachten vnd tychten müsse dyne not frauwen szuesse vnd dynis liebin kindis not dy er leit vor das sunders tȯt also das is ym vnd dir behage vnd vmmb euch beidiu dang beyage nu mogit ir horen vnd merckin das vns an ynnigkeit mag sterkin das anshelmus mit stetigkeit Mit weynen vnd mit bitterkeit Mit vasten vnd mit groessir andacht. vnsirs herren lyden hat betracht Er bat marian […] 10 Ik bydde yw kynder al ghe meyne. / Beẏde groet vnde kleyne. / Papen leyen vrowen vnd man. / dat gy my marian helpen ruopen an / vnd knelen yw nedder vp dye erde / dat zye mẏ apenbaer werde (D, fol. 1r,21-26). <?page no="312"?> Anweisung und Lehre 311 Das Gebet geht in den eigentlichen Textanfang über. Der sonst mit einem Hauptsatz beginnende Text ist hier als Nebensatz syntaktisch an das Gebet angefügt und St. Anselm in dieser Handschrift mit den Worten Maria du hymmilkoninginne eröffnet; dies wird zusätzlich durch eine dreizeilige M-Initiale verdeutlicht. Die über das Mariengebet Angesprochenen sollen sich zunächst die Aufopferung Jesu vergegenwärtigen und dann schließlich ein Beispiel an Anselm nehmen. Zusammenfassend zeigen die vorgesetzten Elemente folgende Funktionen: Spezifikation des Textes oder des allgemein gehaltenen Titels; Bewertung und Relevanz des Textes (z. B. als ‚nützlich und gut‘); Einbezug des Rezipienten über die Aufforderung, ein Dankgebet oder eine Formel zu sprechen; ‚Verschiebung‘ bzw. Neugestaltung des Textanfangs z. B. durch ein vorgesetztes Gebet mit dem Ziel der verinnerlichenden Einstimmung. Die Zusätze bieten in unterschiedlicher Ausgestaltung und Kombination allgemeine Schlussformeln, Bitten an Gott, Textnennung und Androhung von Strafen. Wie diese Vielfalt auf engstem Raum gestaltet wird, verdeutlicht der Nachsatz in der Kopenhagener Handschrift (Kh, fol. 252r,25-29): hijr hebbet de rede en ende God mote vns synen vrede senden Dijt is sunte ansylmus vrage weme se nicht en behage De blyue en schalk al syne daghe. Die allgemeine Formel hijr hebbet de rede en ende beschließt endgültig den Hauptteil (hier: den dialogischen Teil) und markiert damit das Ende der gesamten Texteinheit. Die sich direkt anschließende Bitte um Frieden ist an Gott adressiert und bildet das gebetsartige Ende des Textes. Angefügt wird die Spezifikation des Textes als sunte ansylmus vrage , und an den Rezipienten richtet sich schließlich der Hinweis, dass derjenige, dem der Text nicht gefalle, sein ganzes Leben hindurch ein Schalk bleiben möge. Lo bpreis e n und Danke n. Ganz ohne Erwartung eines Lohnes sind ein beschließendes Amen oder Gebetsanfänge ein Signal, durch das der Rezipient zum Mitsprechen oder zumindest zum Verinnerlichen angeregt und damit aktiv einbezogen wird, wie z. B. die Aufforderungen Amen sprechet alle gar (B, fol. 31v,16), etwas umfangreicher In gotes namen Amen (Stu, fol. 102va,16) oder auch das Anzitieren Aue maria gratia plëna dominus tecum et cetera (N2, fol. 214r,15 f.). 11 Wie die Akklamationsformel oder das Anzitieren des Ave Maria, sind auch reine Lobpreisungen erwartungsfrei, die sich auf Gott, die Dreifaltigkeit, Jesus und Maria beziehen, so z. B. Got sy gelouet in der ewicheyt ( KÄ 1492, fol. DV r,30), Des ymmer sey gelobt got der vater gott der sun gott der heilig geist Amen (M7, fol. 25v,1-4), cristus ende sine lieue moeder maria moeten eweliken sijn ghebenedijt Amen (Le, fol. 87v,19-21; Am, fol. 308vb,13 f.), laus et gloria Christe (O, fol. 20v,20). Auch Danksagungen beziehen den Rezipierenden als denjenigen, der den Dank aussprechen soll, mit ein und bleiben ebenfalls erwartungsfrei: Deo gratia (N3, fol. 47v,13), des danke ic di here (Wo, fol. 81r,16). 11 Ohne weitere Zusätze enden auch SP, fol. 177v; T, fol. 158r,19; We, fol. 31v,17; M3, fol. 126v,20 und in knappster Form nur mit A. Ba, fol. 58v,12 mit der Akklamationsformel. - Für den kritischen Blick auf die lateinischen Textstellen, deren Diskussion und die Entzifferung teils verderbter Buchstaben ist an dieser Stelle Daniel Pachurka zu danken. <?page no="313"?> 312 Simone Schultz-Balluff Aufford ern. Handlungsaufforderungen in wir-Form oder in imperativischer Form wirken besonders nachdrücklich, wie z. B. dat wi di louen vnd bedenken muten to allen tiden dat wi ewichliken mit dẏ blẏuen So enscheide wi nummermer van dẏ (D, fol. 21v,9-11; D2, fol. 91r,9-11). Besonders betont wird dabei der Wille, zu dienen: Minen willighen denst to voren wetten scul (O, fol. 20v,25) und In irem dienst hab got lieb (N4, fol. 75r,6 f.). Deutlich formuliert werden auch die Aufforderungen, für den Schreiber zu beten: pet dem schreiber ein aue maria (M5, fol. 14r,5), Orate pro scriptore (St, fol. 39v,29), da pitt alle vmbe bzw. da pitt ouch alle gemainchleich vmbe (M, fol. 138v,33-35). Bitte n, Er warte n, F ord ern. Indirekte und zurückhaltende Formen ( God vns synen vrede sende Amen , StA1495, fol. EVr,15 f.) finden sich ebenso wie direkte ( nūn hilf vns lieber herr Ihesu christe , SG , fol. 486,1 f.). Die Forderungen richten sich dabei an göttliche Instanzen, fast immer wird ausschließlich Gott angesprochen, daneben gelegentlich Jesus, Maria und die Dreifaltigkeit. Eine wegen des Inhalts von St. Anselm erwartbare häufigere Anrufung Jesu oder Marias erfolgt nicht. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Zusätze, so individuell und wenig formelhaft sie auch erscheinen mögen, dennoch nicht eigens auf den vorliegenden Text zugeschnitten sind, sondern Vorlagen oder Usus folgen und diese Gott (als Vater) in den Mittelpunkt stellen. Die indirekten Ansprachen enthalten eindeutige Wünsche, die entweder das irdische oder das himmlische Leben betreffen: Frieden, 12 Hilfe, 13 Gnade, 14 Freude, 15 Verminderung bzw. Abwenden irdischen Leids (D, fol. 21v,4) und der Sorgen (M10, fol. 92v,7 f.), Umwandlung von Trauer in Freude (N4, fol. 75r,4 f.), Abwenden von Sünden (B2, fol. 66r,20), ein seliges Ende bzw. Beistand, 16 Auferstehung (St, fol. 39v,28) und ewige Seligkeit (D, fol. 21v,4; D2, fol. 91r,4). Das Ziel auf Erden wird klar formuliert: Vp dat wyr mit eren leuen ( KÄ 1492, fol. DV r,20). 17 Ebenso ist das Ziel nach dem Tod eindeutig: Dat wyr komen in dat hymmelrijch ( KÄ 1492, fol. DV r,24) 18 bzw. das vns dy engele vroelich ffuren in das hymmilriech (D3, fol. 130r,18 f.). Lohn erhalt. Für seine Leistung erwartet den Rezipienten ganz Unterschiedliches: Zwischen Ablass, 19 Behütung vor myssedait (B2, fol. 66r,22), immerwährendem Glück (Me, fol. 368,29 f.) und sogar der Teilhabe an der Dreifaltigkeit als Lohn für die compassio für diejenigen, die dese passie scriuen of doen scriuen. lesen of horen lesen (Le, fol. 88r,2-4), 20 spannt sich ein weites Feld auf. Die innere Haltung bei der Rezeption des Textes ist dabei grundsätzlich entscheidend: wer nu ist an dissir schär vnd hat gehort offinbar vnsers herren martir mit ynnigkeit vnd ruwe (D3, fol. 130r,3-6) oder we se mit innicheit hort edder sprekt amen (D, fol. 21v,21 f.). 12 StA1495, fol. EVr,15 f.; HA1521, fol. DVr,17. 13 D, fol. 21v,12; D2, fol. 91r,12; SG, fol. 486,1; St, fol. 39v,29; Be, fol. 96b,12; H, fol. 60r,4; D3, fol. 130r,15 und fol. 130v,1; M8, fol. 98r,10; B, fol. 31v,13. 14 KÄ1492, fol. DVr,19; KJ1499, fol. DVIr,19; Ba2, fol. 115v,12 f.; St, fol. 39v,31. 15 KÄ1492, fol. DVr,18; KJ1499, fol. DVIr,18; N1500, fol. EIIIv,26; N1509, fol. EIVr,18; N1514, fol. EIVr,20. 16 D, fol. 21v,19; D2, fol. 91r,19; M8, fol. 98r,2-6. 17 So auch KJ1499, fol. DVIr,20; N1500, fol. EIIIv,28; N1509, fol. EIVr,20; N1514, fol. EIVr,22. 18 KJ1499, fol. DVIr,24; N1500, fol. EIIIv,32; N1509, fol. EIVr,24; N1514, fol. EIVr,26; B, fol. 31v,11-15. 19 Wo, fol. 80v,30 f.; D, fol. 21v,21; D2, fol. 91r,21. 20 Nv moet god hem allen gheuen die dese passie scriuen of doen scriuen. lesen of horen lesen dat doghen der menscheit ihesu cristi end dat medeliden sijnre lieuer moeder innichlic ende mit bitteren bigheerten in horen harte altoes te draghen op dat die hemelsche vader ten ionxten daghe moet segghen […] (Le, fol. 88r,1-10). <?page no="314"?> Anweisung und Lehre 313 Besonders komplex zeigt sich der Zusammenhang zwischen Aufforderung, Leistung und Lohn zwischen dem Rezipienten, der Erzählautorität und göttlicher Instanz in der Münchner Handschrift (M, fol. 138v,27-35): […] vnd swer den Anshelm hoert lesen. der hat grozzen loen davon. daz wizzet fuerwar. Swer wissen gern welle wie groezze marter vnser herre von himelreich erliten hat. der les daz puech. Da mit sprechet alle nach mier. AmeN. Daz puech hat gemacht Latein vnd Deutze ein brueder der haist brueder. Fridreich. da pitt alle vmbe. vnd swer ez Schreibet oder haist schreiben oder list da pitt ouch alle gemainchleich vmbe […] Jeweils durch ein Alinea-Zeichen abgetrennt sind drei Abschnitte unterschiedlichen Inhalts und mit unterschiedlicher Zielsetzung: Zunächst wird der Zusammenhang zwischen der hörenden Aufnahme des Textes und einem zu erwartenden großen Lohn, der allerdings nicht spezifiziert wird, hergestellt und bekräftigt ( daz wizzet fuerwar ). Der angenommene Wissensbedarf ( Swer wissen gern welle ) kann mit dem Lesen des Buches gedeckt werden; geschlossen wird mit der Aufforderung, die Akklamationsformel zu sprechen. Abschließend folgen der Schreibervermerk und die Aufforderung zu einem Gebet für den Schreiber von den Lesenden und denjenigen, die das puech abschreiben oder es zum Abschreiben in Auftrag geben. Die hinzugefügten Textelemente haben häufig mehr als nur eine verbindende Funktion zwischen dem Haupttext und dem Rezipienten, wenn sie gewissermaßen aus dem Textbzw. Buchmedium herausgreifen und sich an die Rezipierenden richten. Sie bedienen sich des Mediums der Schrift, zeigen aber mit ihrer direkten, oft direktiven Art einen sehr mündlichkeitsnahen Duktus. 21 Der Einsatz der Vor- und Zusätze kann als aktiver Brückenschlag zwischen einem autoritativen Text und dem Rezipienten verstanden werden; es offenbart sich ein Gestaltungsspielraum, der zulässt, vollkommen losgelöst, in lockerer Anknüpfung oder sogar in den Haupttext eingreifend zu agieren. IV. Kreative Gestaltung: das Prinzip der Rahmung In zehn Handschriften wird der Text von einer Vorbemerkung und einem Zusatz geradezu eingerahmt. 22 Die Textelemente zeigen ein mehr oder weniger enges inhaltliches Zusammenspiel, sodass sich das Spektrum zwischen lediglich angefügten, losen Informationen und kreativer Gesamtkomposition der rahmenden Textelemente aufspannt. So gehören nicht zur ursprünglichen Konzeption der Handschrift der Vorsatz und der Zusatz in der heute in München aufbewahrten, ins Kloster Tegernsee zu verortenden Handschrift (M2). Mit dem Verweis auf die Textsorte, dem inhaltlichen Bezug auf die Passion, 21 Zur rhetorischen Performanz, die im Rahmen sog. lehrhaften Sprechens auf die mündliche Sphäre verweist, vgl. Henrike Lähnemann und Sandra Linden, „Was ist lehrhaftes Sprechen? Einleitung“, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von dens., Berlin u. a. 2009, S. 1-10, hier S. 2. 22 D, D3, B2, H, Le, SG, St, M2, M8 und M9. <?page no="315"?> 314 Simone Schultz-Balluff Explicit, Datierung und würdigem Abschluss durch Amen wird mit den vor- und nachgesetzten Elementen vor allem der Text spezifiziert: Ayn Tractat von vnseres herren leyden vnd marter. vnd vnser frauen clag Daz ist vnsers herren marter vnd vnser frawen chlag (M2, fol. 199r,1-3) […] AMEN Explicit vnsers herren leÿden vnd marter Datum sabathi ante dominicam Terciam ante Anunciacionem beate marie virginis anno xxvij […] debet. (M2, fol. 230r,13-21) Hier werden Informationen zur Textsorte ( Tractat ) und ganz allgemein zum Inhalt gegeben, rahmend wirkt der zweimalige Hinweis auf die Leiden und die Marter des Herrn. Da der Rezipient nicht aktiv eingebunden wird, haben die Zusätze lediglich informierende Funktion. Deutlich in das Gesamtkonzept eingebunden präsentiert sich der vom Haupttext abgesetzte Vor- und Nachsatz in der Berliner Handschrift (B2), wie auch Schriftbild und Layout bestätigen. Neben der Titelnennung (die auch der Spezifikation dient) werden hier vor allem Mahnung und in Aussicht gestellter Gewinn für den Rezipienten hervorgehoben: Disz buche sij allen christenlüden wol bekant Sand anshelmüs frage ist isz genant vnd saget aüch gancze üff dieser fard Wie vnser here Ihesüs christus gemartelt ward. (B2, fol. 48r,1-4) […] Nve hait sante anselms frage eyn ende Got vns alle von sünden wende vnd wer esz mit eren haid den behude goid vor myssedait amen. (B2, fol. 66r,19-22) Die Anknüpfung an das eigentliche Textgebilde erfolgt durch die zweimalige Nennung von ‚St. Anselms Frage‘, auch hier wird der Haupttext eingerahmt und durch die Titelnennung und den Hinweis auf die Marter des Herrn Jesus Christus expliziert. Der Lesende wird durch die passivischen Konstruktionen sehr subtil und implizit einbezogen, intendiert sind die Aufforderung zum Lesen des vorliegenden Buchs und die Anweisung, es ehrenvoll ( mit eren ) zu halten. Nicht nur gerahmt, sondern auch in das vorhergehende Gebet integriert wird St. Anselm in der oben bereits erwähnten Dessauer Handschrift (D3), die mit dem vorgesetzten Mariengebet den Textbeginn ändert bzw. verschiebt. Dies geschieht zwar zu Ungunsten von St. Anselm , aber mit dem längeren Zusatz wird zu Vergegenwärtigung der Passion und zu Dank angeregt: <?page no="316"?> Anweisung und Lehre 315 Maria du hymmilkoninginne vorlye mir sulche synne das ich betrachten vnd tychten müsse dyne not frauwen szuesse vnd dynis liebin kindis not dy er leit vor das sunders tȯt […] (D3, fol. 103v,1-7) wer nu ist an dissir schär vnd hat gehort offinbar vnsers herren martir mit ynnigkeit vnd ruwe vmb syne sunde treit weme er vint mit synir muter weynen Mit dem wil er sich voreynen vnd wil dem syne sunde vorgebin vnd furen zcu dem ebigin lebin Nu bitten wir alle den werdin got der vor vns leit den bitteren tot das wir syne martir so gedencken muessen das wir al vnser sunde buessen das vns syne bitteren marter hart Czu hulffe kommen an vnser letczten hynnefart das vns dy engele vroelich ffuren in das hymmilriech das das an vns gesche alremeist das helffe vns der vater der sohen vnd der heilige geist amen (D3, fol. 130r,3-130v,2) Die direkte Ansprache mit mahnendem Charakter ( Nu mogit ir horen vnd merckin, D 3 , fol. 103 v, 9 f. ) stellt einleitend eine Stärkung durch die Rezeption des Textes in Aussicht, auf die abschließend noch einmal Bezug genommen wird. Allerdings verheißt erst das richtige Zuhören den Erlass der Sünden und die Aussicht auf ein ewiges Leben. Die Gebetsaufforderung rundet den Zusatz ab, inhaltlich spitzt sich das Anliegen auf das nach dem Leben erhoffte Engelsgeleit in das Himmelreich zu. Die Rahmung erfolgt recht umfangreich über eigenständige Textelemente in Gebetsform mit direkter Aufforderung ( Nu mogit ir , Nu bitten wir ) an den Rezipienten und konjunktivischen Formulierungen in den Bitten an Maria und Jesus. Diese aufwändig gestalteten Textelemente wollen anregen, auffordern und einbeziehen, sie wollen aber auch unterweisen und bieten in Ansätzen lehrhafte Elemente, wenn die bekannten Eigenschaften und Ereignisse (z. B. dass Jesus den Tod für die Menschen erlitt, dass dem büßenden Sünder die Auffahrt in den Himmel gewährt wird) zur Verinnerlichung noch einmal aufgeführt werden. Insgesamt zeigen sich die Rahmungen durch Vor- und Zusätze entweder relativ unspezifisch und weitgehend losgelöst vom Text, inhaltlich mit deutlichem Textbezug bei formaler Eigenständigkeit oder inhaltlich wie syntaktisch sehr eng mit dem Haupttext verbunden <?page no="317"?> 316 Simone Schultz-Balluff und auf diesen ausgerichtet. In jedem Fall korreliert auch die jeweilige Intention: lediglich informierend, subtil auffordernd und anweisend oder direkt auffordernd und unterweisend. V. Zwischen Privatandacht und Prachtcodex - Anpassung spätmittelalterlicher geistlicher Literatur Sehr individuell umgestaltet sind auch Anfang und Ende des Textes in einer im Oktavformat angelegten Textsammlung, die in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel unter der Signatur Cod. Guelf. 1082 Helmst. aufbewahrt wird. Dort beginnt St. Anselm mit dem ins Niederdeutsche übersetzten Incipit des Responsoriums Quis dabit capiti meo aquam et oculis meis fontem lacrimabilem et plorabo die ac nocte (Wo, fol. 71r,1-7): Swe gift dat mi dat min houet wul wateres si vppe dat mine oghen vleten hen van tranen nat vppe dat mi tu wetende werde van der keyserinne des hemelrikes. wat min leue sute herre got let an siner bitteren martere. Tulest erscen vnse vrowe anselmus Vnd sprac […] Die Wolfenbütteler Fassung endet mit den Worten (Wo, fol. 80v,27-81r,16): […] do wart maria bracht to iohannes hus vnd nam erer groter war wan siner moder vnd dar blef maria want se starf. amen Swe dit het lest de vordenet seszdusentseshundertvndsesvndsestindich iar afflates. De himmelsche koning vnse herre Jesu Cristi de hangede in dem cruce alleẏne mit minnender gotheyt mit sampter sele mit drouigeme sinne mit verwundeme herten mit kracheden leden mit tohowedeme liue mit blodigen wnden mit vletende backe mit vtreckeden armen mit todenenden aderen mit ropendeme mude mit heẏcer stempne mit blekeme antlate mit dotliker verwen mit wenenden ogen mit swindelme herne mit trorigeme ghebere mit emme bernende ernste mit eyscheneme herten mit suftenden kelen mit vorseredeme houede mit dotliken liue mit vorstedeme ende mit vpgedaneme herten vnd siden daͤrvt blot de orsprinch vt dem bornen des leuendigen waters in minne brach eme sin herte des danke ic di here Nachdem allen Lesenden 6666 Jahre Ablass in Aussicht gestellt werden, folgt eine verdichtete und detailreiche Darstellung der körperlichen Leiden Jesu beim Kreuzestod. Jesu Gesinnung, aus der letztlich alles Lebendige entspringt, da er sich in Liebe opferte, steht im Mittelpunkt. Nach der Lektüre des Textes sollen noch einmal Jesu Leiden und Opferbereitschaft vergegenwärtigt und es soll dafür gedankt werden - gebetsartig endet die Passage <?page no="318"?> Anweisung und Lehre 317 mit den Worten des danke ic di here . Der Akt der Verinnerlichung und Bewusstmachung der Bedeutung des Passionsgeschehens schließt die betont aktive Textrezeption ab. Der Codex beinhaltet eine Mischung aus lateinischen und deutschen Texten auf der einen, aus Gebet, Gesang, Predigt und Prosaerzählungen auf der anderen Seite und wirft die Frage danach auf, wo und wie die kleine Handschrift ihren Einsatz fand. Da bei gemeinsamen Gebeten und im liturgischen Dienst andere Texte und großformatige Bücher benutzt wurden, ist ein Gebrauch im Rahmen der Privatandacht denkbar: 23 Die markante Zusammenstellung der in das 14. Jahrhundert zu datierenden Handschrift spiegelt ein seit dem Hochmittelalter verbreitetes „neues Bedürfnis nach Verinnerlichung und Spiritualisierung“ 24 wider, das sich zum Spätmittelalter hin in der Konzentration auf das Sich-Einfühlen in die Akte und die Worte der Passion Jesu zeigt. Da die Gesamtkonzeption des Codex ein intensives Interesse an der Reinigung der Seele durch das Nachempfinden der Passion und an der Feier der Eucharistie erkennbar macht, lässt sich ein privat von einer Nonne genutztes Buch zur Vor- und Nachbereitung der Messfeier vermuten. 25 Neu zusammengesetzte Codices liegen bei einer ganzen Reihe weiterer Anselmushandschriften vor, und deren Inhalte weisen in ähnlicher Form in eindeutige Richtungen; da die Provenienzen aber bei weitem nicht aufgearbeitet sind, bleibt hier