Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik
0717
2017
978-3-7720-5636-9
978-3-7720-8636-6
A. Francke Verlag
Miriam Preußger
Dr. Leonard Hofstadter und Dr. Dr. Sheldon Cooper (The Big Bang Theory) suchen eine Samenbank für Leute mit hohem IQ auf, um einen finanziellen Zuschuss für einen Breitband-Internet-Anschluss zu erhalten.
Neben Samenspende und Leihmutterschaft sind auch Begriffe wie Pränataldiagnostik medienkulturell von Bedeutung. Miriam Preußger beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit aktuellen und konflikthaften Fragen rund um die Familie im Zeitalter medizintechnologischer Möglichkeiten. Untersuchungsgrundlage sind Medien wie Literatur, Film, Dokumentation, TV-Serie, Facebook-Kommentar, Schaufenster, Kalender, Nachrichtensendung, Ausstellungsarchitektur und Theater. Es wird dargelegt, wie wichtig die Berücksichtigung medienkulturwissenschaftlicher Perspektiven bei komplexen Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik ist.
<?page no="0"?> Dr. Leonard Hofstadter und Dr. Dr. Sheldon Cooper (The Big Bang Theory) suchen eine Samenbank für Leute mit hohem IQ auf, um einen finanziellen Zuschuss für einen Breitband- Internet-Anschluss zu erhalten. Neben Samenspende und Leihmutterschaft sind auch Begriffe wie Pränataldiagnostik medienkulturell von Bedeutung. Miriam Preußger beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit aktuellen und konflikthaften Fragen rund um die Familie im Zeitalter medizintechnologischer Möglichkeiten. Untersuchungsgrundlage sind Medien wie Literatur, Film, Dokumentation, TV-Serie, Facebook-Kommentar, Schaufenster, Kalender, Nachrichtensendung, Ausstellungsarchitektur und Theater. Es wird dargelegt, wie wichtig die Berücksichtigung medienkulturwissenschaftlicher Perspektiven bei komplexen Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik ist. ISBN 978-3-7720-8636-6 Preußger Medienkulturelle Manifestationen Miriam Preußger Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik <?page no="1"?> Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik <?page no="3"?> Miriam Preußger Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver‐ lages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8636-6 <?page no="5"?> Meiner Familie, also Jan-Philipp, Linda und Henri, in Liebe gewidmet. <?page no="7"?> 0. 11 1. 46 2. 61 3. 73 3.1 75 3.2 82 3.3 92 3.4 105 3.5 129 139 4. 141 4.1 143 4.2 152 4.3 174 179 5. 181 5.1 181 Inhalt Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsüberblick und Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manege frei: Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation des Wunsches nach einem gesunden Kind als »natürliche« elterngemeinschaftliche Universalie . . . . . . . . . . Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge im Umfeld pränataler Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfigurationen von Unsicherheit (gedimmt, punktuell-verschleiernd, konzessiv, adversativ) . . . . . . . . . . . . Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel zum Lachen: Pränatale Läuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Brodeln der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiales Unbehagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfalt / Oxymorie - Anerkennung der Überblendung - ostentative Manifestation als medienkulturelle Realität . . . . . Diversität ist medienkulturell zeigbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monstrosität: Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 5.2 197 216 6. 218 235 237 241 258 258 259 262 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Lass uns VaterMutterKind spielen: Du bist die Mutter, ich bin der Vater - Kind haben wir einfach keins! « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onlineverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> Danksagung Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2016/ 2017 von der Fakultät für Sprach- und Literatur‐ wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Mein Dank gilt zuallererst meinem Betreuer Prof. Dr. Bernd Scheffer. Herr Scheffer ist in wissenschaftlicher und lebensweltlicher Hinsicht ein außerge‐ wöhnlicher Lehrer. Ich bin für jede einzelne Veranstaltung von Herrn Scheffer und für die Betreuung meines Promotionsprojektes sehr dankbar. Ich danke weiterhin PD Dr. Anja Gerigk für die Übernahme des Zweitgutachtens und die wertvollen Anmerkungen. Prof. Dr. Martin Zimmermann aus der Alten Ge‐ schichte danke ich besonders für die spannenden interdisziplinären Diskussi‐ onsbeiträge bei der Disputatio. Dem Oberseminar und ganz besonders Dr. Sabrina Eisele, Dr. Angelika Voigt, Dr. Stefanía Voigt und Dr. Nora Kessler danke ich für ihre Auseinandersetzung mit meinem Thema, aber auch für ihre Zuversicht und die lieben Worte. Der coolen Gang, also Martha & Alois, Margit & Andreas, Luisa & Vince sowie the one and onlies Paulina & Basti, danke ich für ihre bärenstarke Unterstützung. Valeria und Daniel Kalteis danke ich für ihre Freundschaft. Meiner ganzen Familie danke ich für ihre Unterstützung und ihr Dasein. Valeria und Daniel Kalteis danke ich für ihre wunderbare Freundschaft. Unserem geliebten Henri, der meinen Promotionsweg an den ent‐ scheiden-den Stellen unmittelbar begleitet hat und diesen körperlich nicht bis zum Abschluss mit mir gehen konnte, danke ich für alles und noch viel mehr! Auch wenn Henri jede einzelne Sekunde fehlt, ist er jede einzelne Sekunde bei uns. Unserer geliebten Linda aka Wildfang und Zimtzicklein danke ich für ihr Naturell. Linda ist Liebenswürdigkeit im Quadrat! Jan-Philipp danke ich dafür, dass er seit nunmehr 20 Jahren, in Freundschaft und in Liebe, mein konstitutives Gegenüber ist. Du bist alles, was zählt! München, im Mai 2017 Miriam Preußger <?page no="11"?> 1 Lange, Andreas und Alt, Christian: Die (un-)heimliche Renaissance von Familie im 21. Jahrhundert. Familienrhetorik versus »doing family«, in: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Sonderheft 9 (2009), S. 31-38, hier: S. 36. 2 Die Friedenspreisrede »Anfangen« von Carolin Emcke ist online einzusehen: http: / / www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/ 1244997/ (zuletzt aufgerufen am 04. 02. 2017). 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung In meiner Dissertation Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Famili‐ enpolitik werden aktuelle vorgeburtliche Leitideen, Geburtsparadigmen, Schwangerschaftskonzeptionen und »Herstellungsarrangements von Familie« 1 , also Familiendiskurse, analysiert. Die Zusammenfassung der untersuchten fa‐ milialen Arrangements (darunter fällt beispielsweise die gezielte Anordnung eines Kinderwagens in einem Schaufenster) unter dem Oberbegriff Familienpo‐ litik impliziert das nicht zu stornierende Spannungspotenzial derselben. Dass Familialität politisch ist, kommt deutlich und eindrucksvoll in Carolin Emckes Rede im Oktober 2016 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deut‐ schen Buchhandels zum Ausdruck. Jene politische Dimension von Familialität verbindet diese mit gesamtgesellschaftlich hoch umkämpften Termini wie etwa Religion und Volk: »Zur Zeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-re‐ ligiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom ›homogenen Volk‹, von einer ›wahren‹ Religion, einer ›ursprünglichen‹ Tradition, einer ›natürli‐ chen‹ Familie und einer ›authentischen‹ Nation. Sie ziehen Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht.« 2 Es ist kein Zufall, dass die natürliche Familie in einem Atemzug mit kontrovers diskutierten Termini wie homogenes Volk, wahre Religion, authentische Nation und ursprüngliche Tradition genannt wird. Ablesbar an Emckes Rede ist neben der Gegenwart von Familie, also der Aktualität und der Brisanz von Familie, eben auch die politisch-konfliktäre Dimension von Familialität. Aber ganz konkret. Was verbindet die scheinbar private Kategorie Familie mit den Großkategorien Nation, Volk, Tradition und Religion? <?page no="12"?> 3 Zur Konstitution von Familie als geschlossener Einheit, die sich nach außen und ge‐ genüber Andersartigkeit abgrenzt siehe Dreysse, Miriam: Mutterschaft und Familie. Inszenierungen in Theater und Performance, Bielefeld 2015, beispielsweise S. 152 oder S. 335. 4 Im Griechischen bedeutet das Wort Syntagma (σύνταγμα) Zusammengestelltes, siehe hierzu Clément, Danièle: Syntagma, in: Glück, Helmut (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache, 3., neubearb. Aufl. Stuttgart und Weimar 2005, S. 669. 5 Frietsch, Ute: Die Ordnung der Dinge, in: Kammler, Clemens; Parr, Rolf; Schneider Ul‐ rich J. (Hrsg.): Foucault Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Sonderausgabe, Stuttgart 2014, S. 38-50, hier: S. 43. 6 Ibid. Es ist das Zusammenspiel von Exklusion und Selbstvergewisserung. Familia‐ lität konstituiert sich wie etwa Nation und Volk stets entgegen etwas 3 . Familia‐ lität existiert nicht aus sich selbst heraus. Familialität braucht das Andere als Grenzmarkierung und Familialität braucht die Selbstvergewisserung. Die hier zugrunde liegende Annahme einer konstitutiven Verschachtelung von Medien im weiten Sinn (so ist etwa ein Kalender als Medium zu begreifen) und Kultur als Medienkultur (Siegfried J. Schmidt) kann nicht auf einen Ansatz hinauslaufen, der sich mit der Untersuchung verschiedener Aushandlungen »in den Medien« begnügt. Die Annahme einer Medienkultur führt zu neuen und anderen Erkenntnissen rund um Familienpolitik, indem konzeptionell vielfäl‐ tige, bisher noch nicht gemeinsam betrachtete, auch untypische Medien syn‐ tagmatisch zusammengedacht werden. Wenn ich unterschiedliche Medien syntagmatisch betrachte, dann bedeutet dies, dass disparate Medien nebeneinander, antihierarchisch und zusammenge‐ stellt 4 betrachtet werden. Damit ist erstens gemeint, dass aus der Analyseper‐ spektive Medien unter Stornierung ihres kulturellen Rufs schlichtweg funktio‐ nal als Medien betrachtet werden. Zweitens geht damit einher, dass im Hinblick auf die Objektebene Gemeinsames zwischen medialer Disparatheit herausge‐ arbeitet wird. Hierbei lässt sich nun der medienkulturwissenschaftliche Rekurs auf Foucault besonders gut verdeutlichen. Im Rekurs auf Die Ordnung der Dinge führt Frietsch an, dass es Foucault um Gemeinsamkeiten zwischen Disparatem geht: »Foucaults Analyse gilt den Zusammenhängen zwischen den unterschiedlichen Aus‐ sagen und Disziplinen, aber auch zwischen den Instrumenten, Techniken, Institutio‐ nen, Ereignissen, Ideologien und Interessen« 5 . Frietsch vermerkt dann auch hierin die konzeptionelle Nähe zum späteren Dis‐ positivbegriff 6 . So wie Foucault auf Zusammenhänge zwischen Unterschied‐ 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 12 <?page no="13"?> 7 Siehe dazu auch die Äußerungen von Giesen im Hinblick auf eine Verbindung von Medialität und Dispositivität; Giesen, Roman: Zur Medialität von Liebe, Würzburg 2014, S. 40-41, S. 150. 8 Dreysse hat Mutterbilder des 18. Jahrhunderts in der bildenden Kunst und im Theater verglichen und auf inhaltliche Diskrepanzen und darstellerische Gemeinsamkeiten verwiesen, Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 16-17, S. 200. 9 So kann einer Studie folgendes Verdikt entnommen werden: »Das digitale Netzwerk ist voller Hass. Auch die seriösen Medien forcieren dabei nicht selten eine unkritische, unreflektierte Übernahme und Weitergabe von Bedrohungsrhetorik […].Sie gaben und geben rechtspopulistischen Akteuren ein Forum und befördern damit die Strategie der Neuen Rechten, Positionen, die vormals von allen als eindeutig undemokratisch und rechtsextrem verstanden wurden, nun als eine legitime Möglichkeit im Meinungs‐ spektrum anzusiedeln. Den unbedarften Zuschauer erreichen dann zur besten Sendezeit menschenfeindliche und antidemokratische Botschaften, die ihm geadelt und abge‐ segnet durch die seriös erscheinende politische Debattenrunde, als offenkundig denk-, sag- und durchführbar erscheinen. So werden Meinungen gemacht und geformt - auch rechtspopulistische und rechtsextreme«, Zick, Andreas; Küpper Beate; Krause, Daniela: Gespaltene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016, Bonn 2016, S. 16-17. 10 Ich verwende den Gender Gap, um bezeichnungspraktisch Platz (entgegen altbekannter Zweigeschlechtlichkeit) für facettenreiche Vielfalt zu haben, siehe dazu auch Herr‐ mann, Steffen K.: Performing the gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneig‐ nung, in: arranca! (2003), in: http: / / arranca.org/ ausgabe/ 28/ performing-the-gap (zuletzt aufgerufen am 23. 12. 2015). Beziehe ich mich allerdings auf eine (beispielsweise als männlich oder weiblich) bereits eingeführte Instanz, sehe ich davon ab, den Gender Gap nachträglich zu setzen. 11 Zur bildlichen Präsenz und theatralen Absenz der Mutterbilder im 18. Jahrhundert siehe Dreysse: Mutterschaft und Familie, beispielsweise S. 16-17. lichem - vereint im Dispositiv - referiert, so geht es mir um das medienkulturell Gemeinsame zwischen medialer Disparatheit 7 - vereint in der Medienkultur. Indem unterschiedliche Medien miteinander konfrontiert werden 8 , kann der häufig vorhandene synekdochische Zugang, bei dem ein Medienformat zum Kronzeugen und Repräsentanten aller Medien verlängert wird, umgangen werden. Dies ist von Bedeutung, weil aktuell besonders prekär immer wieder »die Medien« mit reduktivem und demokratiefeindlichem Populismus ver‐ bunden werden. Ich leugne nun eine Verbindung von bestimmten Medienfor‐ maten und Populismus, auch Rechtspopulismus, keineswegs 9 . Gerade daher er‐ scheint eine Zusammenstellung disparater Medien nicht nur hilfreich, sondern sogar auch notwendig, um nicht reduktiv zu verfahren. Dies erweist sich nicht zuletzt mit Blick auf die mediale Präsenz Kulturschaffender als sinnvoll. Zahl‐ reiche Künstler_innen 10 kommunizieren nämlich fast ausschließlich über soziale Plattformen, wie beispielsweise YouTube, mit ihrem Publikum. Es ist nun leicht einsehbar, dass ein Verzicht auf die Zusammenstellung disparater Medien zu irrigen Schlussfolgerungen hinsichtlich Absenz oder Präsenz 11 der jeweiligen 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 13 <?page no="14"?> 12 Siehe hierzu den Eintrag Potpourri im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, in: https: / / www.dwds.de/ wb/ Potpourri (zuletzt aufgerufen am 06. 02. 2017). 13 Ibid. Künstler_innen käme. Um eine einseitige mediale Fokussierung zu vermeiden, werden also disparate Medien auf der Objektebene zusammenzustellen sein. Jene (in Anschluss an Foucault) dispositive Zusammenstellung disparater Medien mündet dann in ein Medien-Potpourri gegenwärtiger Familienpolitik. Ein Pot‐ pourri ist ja zunächst einmal etwas Diverses, Vermischtes, Verschiedenes, kurz Allerlei 12 . Seit dem 18. Jahrhundert dient es als Bezeichnung für ein ›aus be‐ liebten Melodien zusammengestelltes Musikstück‹. Dies leitet sich ab vom frz. pot-pourri, was so viel wie ›verfaulter Topf‹ bedeutet. Ein Pot-pourri ist also zunächst ein ›aus verschiedenen Fleisch- und Gemüsesorten zusammenge‐ kochtes Eintopfgericht‹ 13 . Mein Medien-Potpourri gegenwärtiger Familienpo‐ litik ist somit eine Zusammenstellung disparater Medien. Nicht verschwiegen werden soll, dass jene negative Konnotation, wie sie in der Metapher des ›ver‐ faulten Topfes‹ anklingt, im vorliegenden Ansatz produktiv umzuwenden sein wird, indem nämlich davon ausgegangen wird, dass die latent negativ konno‐ tierte Vermischung von Verschiedenem, also Hochkulturellem und teils durchaus läppischem Alltäglichem gerade neue und andere Erkenntnisse ermöglicht. Ich gehe davon aus, dass eine wissenschaftliche Fokussierung auf jene vor‐ dergründig unbedeutenden, in die Alltagskommunikation eingeflochtenen fa‐ milienpolitischen Arrangements wie etwa eine Messe-Topografie oder einen Kalender, und zwar als Medien betrachtet, einen bedeutenden Erkenntnisgewinn darstellt. Grundlage der vorliegenden Arbeit sind deshalb so disparate medien‐ kulturelle Arrangements wie Literatur, Film, Dokumentation, (Zeitungs-)Ar‐ tikel, TV -Serie, Flyer, Facebook-Kommentar, Schaufenster, Kalender, Nachrich‐ tensendung, Theater und Wunschkarten. Erst eine solche mediale Vielfalt der wissenschaftlichen Objektebene ermöglicht es, die familiale Diversität in un‐ serer gegenwärtigen Medienkultur aufzuspüren und nicht a priori - durch eine vorgängige Eingrenzung auf beispielsweise ›Familie in Spielfilmen‹ - zu do‐ mestizieren. Eine Zusammenstellung facettenreicher Medien, die Dichotomien (privat-öffentlich; faktisch-fiktional; Ernst-Unterhaltung u. a.) skeptisch be‐ gegnet, ist eingedenk gegenwärtiger familialer Vielfalt eo ipso gerechtfertigt. Was aber ist die Gegenwart? Es lohnt sich an dieser Stelle die Bedeutungsdi‐ mensionen von Gegenwart näher zu bestimmen, weil eine intuitive, rein zeitliche Dimension zu kurz greift. Jahraus etwa hat vermutet: »Aber vielleicht ist die 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 14 <?page no="15"?> 14 Jahraus, Oliver: Die Gegenwartsliteratur als Gegenstand der Literaturwissenschaft und die Gegenwärtigkeit der Literatur. Vortrag auf der Tagung des Literaturbeirats des Goe‐ theinstituts in München am 14. 1. 2010, in: Medienobservationen (2010), in: http: / / www.medienobservationen.lmu.de/ artikel/ allgemein/ allgemein_pdf/ jahraus_gegenwartsliteratur.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 06. 2016). 15 Krauthausen, Karin und Kammer, Stephan: Gegenwart, gegenwart. Für einen struktu‐ ralen Realismus, in: Neue Rundschau 1 (2016), S. 141-154, hier: S. 142. 16 Ibid., S. 141. 17 Ibid., S. 142. Diese kursiven Hervorhebungen und alle weiteren Hervorhebungen bei Zitaten - wenn nicht von mir anders gekennzeichnet - sind im Original vorhanden. 18 http: / / lexika.digitale-sammlungen.de/ adelung/ lemma/ bsb00009132_2_0_824 (zuletzt aufgerufen am 03. 07. 2016). 19 Krauthausen und Kammer: Gegenwart, gegenwart, S. 143. 20 Ibid., S. 142. Gegenwart gar keine Zeit, sondern selbst das Gegenteil der Zeit« 14 . Krauthausen und Kammer arbeiten im Rückgriff auf das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Bedeutungsdimensionen von Gegenwart heraus, die eingedenk der Dominanz der zeitlichen Bedeutung in unserer Gegenwartssprache gera‐ dezu erstaunlich sind 15 . Festgehalten wird eine Verbindung zwischen Gegenwart und Krise: »Sie [die Gegenwart, M. P.] ist als solche krisenaffin.« 16 Pointiert for‐ mulieren sie: »In diesem Sinne ist gegenwart dann eine gerichtete Bewegung (auf bzw. gegen ›mich‹ zu), impliziert also ein Ereignispotential, das ›mich‹ in‐ volviert. Ein Synonym dieser gegenwart wäre: Krise.« 17 Das Grammatisch-kri‐ tische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Adelung fokussiert im Hin‐ blick auf Gegenwart gerade auf den Aspekt der Wirkung: »Der Zustand, da man durch seine eigene Substanz ohne moralische Mittelursachen, ja ohne alle Werk‐ zeuge an einem Orte wirken kann« 18 . Gegenwart lässt sich demnach als eine ortsgebundene Krise auffassen, die weder einer fernen Vergangenheit noch einer fernen Zukunft zuzuordnen ist. Gegenwärtige familienpolitische Manifestationen zeichnen sich also dadurch aus, dass sie am Ort wirken, sich dort einfinden, sich richtungsorientiert den Zeitgenoss_innen zuwenden und einen krisenhaften Vorfall evozieren. Wenn ich von unserer gegenwärtigen Medienkultur spreche, dann beziehe ich mich eher auf eine räumliche Ausdehnung (»in situ«) denn auf eine zeitliche. Die Fokussierung auf die Gegenwart wird hier vor allem dadurch bewirkt, dass der mediale Ort der Aushandlung, die »mediale […] Vergegenwärtigung« 19 , sukzes‐ sive wechselt, wirkt und so stets auf mich und die Rezipient_innen herausfor‐ dernd hinzukommt. Die Analyse »medialer Vergegenwärtigung« ermöglicht also, problemorientiert das »antagonistisch Entgegenkommende« 20 von Fami‐ lialität wie etwa die konflikthafte Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik aufzuspüren. 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 15 <?page no="16"?> Es wird mannigfaltig und beispielorientiert gezeigt - und dies ist das Haupt‐ anliegen der Arbeit - wie wichtig bei theoretischen und praktischen Aushand‐ lungen rund um Familialität im Zeitalter medizintechnologischer Bedingungen die Berücksichtigung der medienkulturwissenschaftlichen Perspektive ist. Fokussiert wird mit der Annahme medizintechnologischer Bedingungen auf die gesellschaftliche Präsenz eines breiten Spektrums von Verfahrens- und Ar‐ gumentationsmodi, die sich stets wechselseitig konturieren und bedingen. Jene medizintechnologischen Bedingungen werden aufgrund der thematischen Ein‐ schränkung schlichtweg als familientechnologische bezeichnet. Dabei geht es mir bei jenen familientechnologischen Bedingungen gerade nicht um die konkrete Einordnung und Explikation von spezifischen Verfahren als Mittel der künstli‐ chen Befruchtung (beispielsweise In-vitro-Fertilisation) oder als Vor‐ sorge-Technik. Die in dieser Arbeit beobachteten familientechnologischen Be‐ dingungen, verstanden als Verfahrens- und Argumentationsmodi, bilden ein diskursives Mosaik, in welchem so verschiedene Signifikanten wie etwa Leih‐ mütter, Samenspender, Pränataldiagnostik, Regenbogenfamilien, biologische Mütter, Perfektion, Machbarkeit und Monitoring existieren. Der kritische und problemorientierte Impetus der vorliegenden Arbeit führt dazu, dass das Analysieren gegenwärtiger familienpolitischer Manifestationen seinerseits gleichsam zum Manifest werden kann. Dennoch: Niemals geht es um Kritik an einzelnen Protagonist_innen. Problematisiert wird hier nur das dis‐ kursive Feld (in Anlehnung an Foucault und Butler). Der kritische Impetus soll im Aufmerken auf das stets miteingeschriebene Problematische, in der Haltung des stets wachsamen Misstrauens Toleranz und Demokratie durchspielen. Dieses Vorgehen lässt entglättend Mehrdeutigkeit zu. Mit dieser Strategie kann an Butler angeknüpft werden, die in kritischer und problemorientierter Haltung ambivalentes, differenziertes, plurales, womöglich uneindeutiges und kom‐ plexes Mitdenken des stets Anderen im Kontext von Feminismus und Repro‐ duktionstechnologien präferiert: »Feministinnen, die die Reproduktionstechnologien kritisieren, weil sie letztlich den mütterlichen Körper durch einen patriarchalen Apparat ersetzen, müssen sich gleich‐ wohl mit der erweiterten Autonomie auseinandersetzen, die diese Technologien für Frauen gebracht haben. Feministinnen, die solche Technologien wegen der damit er‐ öffneten Optionen begrüßen, müssen trotz allem mit den Nutzungsweisen klar‐ kommen, zu denen sich diese Technologien gebrauchen lassen, Nutzungen, welche 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 16 <?page no="17"?> 21 Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2009, S. 24. 22 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main 1997. durchaus die kalkulierte Perfektionierung des Menschen oder die vorgeburtliche Se‐ lektion nach Geschlecht und Rasse beinhalten können.« 21 Das Gefahrenpotenzial der Reproduktionstechnologien und die durch diese er‐ öffneten Möglichkeiten sollen demnach gleichzeitig in den jeweiligen Betrach‐ tungskontext inkludiert werden. Die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit lautet daher antipräskriptiv: Wel‐ cherlei Familienpolitiken manifestieren sich in unserer gegenwärtigen Medien‐ kultur? Zur Beantwortung dieser Leitfrage werden in den einzelnen Kapiteln (3, 4, 5) jeweils Teilfragen diskutiert. Die argumentative Bewegung entfaltet sich ins‐ gesamt vom allgemein Diskursiven über ein spezielles Diskursphänomen hin zum konkreten Exemplum. Folgende Teilfragen können formuliert werden: Wie lassen sich die konflikthaft-problematisierten diskursiven Elemente in einem als familientechnologisch zu definierenden Zeitalter und Möglichkeits‐ raum über reine Deskription hinausgehend inhaltlich bestimmen und einordnen (Kapitel 3)? Wie arrangieren disparate Medien in unserer Medienkultur die wissenschaft‐ lich bereits intensiv thematisierte Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit bei aktuellen Fragen rund um Familie (Kapitel 4)? Welche Konfliktfelder und Konfliktkontexte werden medienkulturell im Zu‐ sammenhang mit Familienbildung und Familienzusammensetzung angeboten (Kapitel 5)? Wenn es um Manifestationen von Familialität geht, die in unserer gegenwär‐ tigen Medienkultur, also im Zusammenhang mit einer als grundlegend anzu‐ nehmenden Verschränkung von Kultur (Lebenspraxis) und Medien (in ihrer ganzen Disparatheit) zu beobachten sind, dann ist es heuristisch erforderlich, antipräskriptiv von jenen vielgestaltigen Observanzen auszugehen. Diese Ob‐ servanzen erhalten ihren Status als Observanzen von Gewicht (in Abwandlung zu Butlers Monografie Körper von Gewicht 22 ) dadurch, dass sie einen Familien‐ bezug aufweisen. Ich gehe davon aus, dass der familienpolitischen Vielfalt nur durch Beachtung diverser medienkultureller Arrangements wissenschaftlich be‐ gegnet werden kann. Noch einmal pointiert: Die Disparatheit der Familienbeispiele ist eine ge‐ wollte Strategie, um der gelebten familialen Mannigfaltigkeit gerecht werden 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 17 <?page no="18"?> 23 Frei Gerlach, Franziska: Schrift und Geschlecht. Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden, Berlin 1998, S. 138, Fuß‐ note 70. zu können. Den berechtigten Einwänden im Hinblick auf die facettenreiche Ob‐ jektebene, wonach das beispielorientierte Potpourri mich einholt, der rote Faden womöglich fehlt, oder (ich habe diese Kritik mehrfach gehört) infolgedessen die Objektebene unmöglich gezähmt, eingeordnet, ja sogar bestimmt werden kann, entgegne ich damit, dass Familialität nicht einzuholen ist. Aus dieser Uneinhol‐ barkeit von Familialität resultiert die intendierte Offenheit der Objektebene. Daneben soll darauf verwiesen werden, dass die vereinbarte Nichtunterschei‐ dung oder die Gleichberechtigung mannigfaltiger Medien eben durchaus dis‐ kursanalytisch ist. Die Arbeit zeichnet sich also durch eine mediensyntagmatische Herangehens‐ weise aus, indem disparate Medien nebeneinander stehen. Durch eine antiprä‐ skriptive, zum Teil anekdotische Fokussierung auf familienpolitische Aushand‐ lungen sind neue und andere Erkenntnisse rund um Familialität möglich. Observanzen von Gewicht generieren sich nicht durch ihren Status im Diskurs, der ihnen eine Einordnung als etwa fiktional oder lesenswert einräumt. Obser‐ vanzen erhalten Gewicht, indem sie unterschiedliche Facetten gegenwärtiger Familienpolitik illustrieren. Bevor die Gliederung und die zentralen Thesen der Arbeit am Ende dieses Kapitels zusammenfassend erläutert werden, erfolgen ein anekdotischer Ein‐ stieg und eine begriffliche Erfassung unserer »Medienkultur«. Mit Franziska Frei Gerlach kann von einer initiierenden Funktion von Intu‐ itionen ausgegangen werden: »Intuitionen tragen das Stigma der Unwissenschaftlichkeit und werden darum wohl‐ weislich in der Argumentation verschwiegen, nichtsdestotrotz bezeichnen sie meist den Beginn des Nachdenkens.« 23 Der Beginn des Nachdenkens ist im Folgenden völlig intentional an Impressi‐ onen in situ mit dem Ziel gebunden, auch subtile und unscheinbare Familien‐ bezüge zu illustrieren. Im Anschluss daran wird die Synchronizität von Media‐ lität und Familialität, von Medien und Familienpraxis exemplifiziert, wobei ausgeführt wird, was es bedeutet, in einer »Medienkultur« zu leben. Jene me‐ dienkulturelle Ausrichtung ist dabei hinreichend und notwendig an einen näher zu charakterisierenden Medienbegriff gebunden, der Erkenntnis ermöglicht. Nach einer modellhaften Verdeutlichung und Explikation zentraler Begriffe der Fragestellung (Familienpolitik, Manifestation, Medienkultur) können die daran 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 18 <?page no="19"?> 24 Siehe dazu richtungsweisend Jurczyk, Karin; Lange, Andreas; Thiessen, Barbara (Hrsg.): Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist, Weinheim und Basel 2014. 25 Finch, Janet: Displaying Families, in: Sociology 1 (2007), S. 65-81. 26 Zum performativen Herstellungscharakter von Familie siehe auch Nusser: »›Die Fa‐ milie‹ muss als eine diskursive Konstruktion begriffen werden, die erst performativ hergestellt wird«, Nusser, Tanja: »wie sonst das Zeugen Mode war«. Reproduktions‐ technologien in Literatur und Film, Freiburg im Breisgau u. a. 2011, S. 35. anknüpfenden disparaten Observanzen von Gewicht herangezogen werden, um den Diskussionsbedarf bei Fragen rund um Familialiät zu verdeutlichen. Der Mehrwert des nun folgenden anekdotischen Einstiegs besteht darin, dass familiale Gewöhnlichkeit hinterfragt wird. Das erste Beispiel zeigt anschaulich und praxisbezogen geschlechterstereotype Zuschreibungen im Kontext der Ge‐ burt eines Babys. Das zweite Beispiel dokumentiert erstens Familialität als Her‐ stellungsprozess (»Doing Family« 24 ) und zweitens die selbstvergewissernde, autokonstitutive Sichtbarmachung von Familie (»Displaying Family« 25 ). In meinem Bekanntenkreis kommt ein Baby zur Welt. Der Vater informiert mich, nachdem ich wider besseren Wissens das ›Geschlecht‹ des Kindes erfragt habe: »Es ist ein Junge, und deshalb werden wir nun die Hausratsversicherung erhöhen«. Ich möchte nicht leugnen, dass es sich bei diesem ulkigen Beispiel, in dem Geschlechtlichkeit hochgradig stereotyp codiert ist, um eine ganz ge‐ wöhnliche nichtwissenschaftliche Alltagskommunikation handelt. Dabei han‐ delt es sich jedoch insofern um eine Observanz von Gewicht, als deutlich zum Vorschein kommt, wie die Ankunft eines Jungen, wie Familialität ab ovo in kul‐ turelle Zuschreibungen eingebettet ist. Unlängst erhalte ich (nicht im Hinblick auf mein Dissertationsprojekt, rein zufällig) eine vermutlich mit dem Smartphone getätigte Aufzeichnung, die eine Familienkomposition medial festhält, begleitet, ja gerade konstituiert: Die Mutter und ihre zweijährige Tochter sitzen am Esstisch und nehmen eine Mahlzeit zu sich. Da der Vater filmt, ist er auf der Aufzeichnung nicht zu sehen, aber zu hören. Familialität erscheint als medial-performativer Signifikationsprozess 26 . Im Folgenden gebe ich den Dialog der Familie Müller [Namen geändert, M. P.] wieder, wobei zum Verständnis erforderliche Informationen in Klammern beigefügt und zentrale Elemente hervorgehoben sind: »Vater: Wo ist die Melanie Müller? Melanie [nach einem eher unverständlich singsanghaft-tonalem Gemurmel als Mi‐ schung aus dem Familiennamen und dem Vornamen sagt sie laut und durchaus selbst- und identitätsbezogen]: Melanie Vater: Melanie und weiter? 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 19 <?page no="20"?> 27 Lachen ist eine Affektäußerung der Distanzierung; Keck, Annette: Groteskes Begehren und exzentrische Deklamationen. Zur Eskamotage des Pathos in der Literatur des bür‐ gerlichen Realismus, in: Zumbusch, Cornelia (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer pro‐ blematischen Kategorie, Berlin 2010, S. 117-138, hier: S. 123-124. Melanie [erneut]: Melanie Vater: Müller! Mutter: Und wie heißt der Papa? Melanie: Auch Sven [Die erste Verwendung von Melanies auch erscheint aus einer Erwachsenenperspektive falsch, da kein Bezugssubjekt zuvor genannt worden ist. Melanies Kommunikation von einem referenzlosen auch ist aber insofern interessant, als wohl äußerst entschieden von einem allgemein-identitären Zusammenschluss ausgegangen wird, bei dem eben der Vater Sven auch dabei ist] Mutter: Genau Melanie: Müller Sven Mutter: Genau. Müller Sven Vater [zeitgleich zur Mutter]: Ja genau Mutter [Melanie isst gerade Salami]: Und wie heißt die Salami? Melanie: Auch Müller Sven [Mutter und Vater lachen] Vater [wohl eine Kontamination aus Müller und Salami]: Müllernami Vater: Wie heißt die Mama? Melanie: Auch Müller Mutter: Ja, genau Mutter: Und wie heißt die Stefi? Melanie: Auch Müller Vater: Sehr gut! Mensch, toll! « Das gerade zitierte alltägliche Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen wird ersichtlich, dass unter bestimmten Bedingungen (zumindest der Bedingung des gemeinsam-einheitlich rhetorischen Bezugnehmens, des kom‐ munikativen Gewahrseins der distinkten Existenz) sogar eine Salamischeibe in den Familienbund aufgenommen ist, und zwar in den Augen von Melanie ganz selbstverständlich (»Und wie heißt die Salami? Auch Müller Sven«). Dagegen erscheint die familiale Integration der Salami für die Eltern schon nicht mehr selbstverständlich - so zeigt es zumindest das Lachen an, das Distanz markiert 27 . Das von Melanie wiederholt verwendete Adverb »auch« drückt - initiiert durch die Eltern in einem freilich diskursiven Kontext - eine Form der Gleichheit, eine Zusammengehörigkeit, d. h. hier in Verbindung mit dem Nachnamen familiale Gemeinschaft aus. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass Familie hergestellt wird, und zwar mitunter bezeichnungspraktisch und konstitutiv medial. Es ist 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 20 <?page no="21"?> 28 Theunert, Helga und Lange, Andreas: »Doing Family« im Zeitalter von Mediatisierung und Pluralisierung, in: merz. Zeitschrift für Medienpädagogik 2 (2012), S. 10-20, hier: S. 18. 29 Jurczyk, Karin: Familie als Herstellungsleistung. Hintergründe und Konturen einer neuen Perspektive auf Familie, in: Jurczyk, Karin; Lange, Andreas; Thiessen, Barbara (Hrsg.): Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist, Weinheim und Basel 2014, S. 50-70. Zur Aushandlung von Zugehörigkeit in Pflegefa‐ milien auch über die Namensgebung siehe Helming, Elisabeth: Alltagspraxis in Pfle‐ gefamilien: Vulkane, Eisberge und der sanfte Sog der Beiläufigkeit, im selben Band, S. 71-94, besonders: S. 80-82. 30 Jurczyk: Familie als Herstellungsleistung, S. 61. 31 Schmidt, Siegfried J.: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivisti‐ sche Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, 3. Aufl. Münster 2003, S. 320. Zur Konturierung von Medienkulturwissenschaft siehe auch Zierold, Martin: Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissen‐ schaftliche Perspektive, Berlin und New York 2006. Darin entwickelt Zierold eine zwei‐ fellos fruchtbare »Variante des Medienkompaktbegriffs«, ibid. S. 163. Zierold ist voll‐ ends zuzustimmen, wenn er Studien ablehnt, die beispielsweise ›Vergangenheit in den Filmen von XY‹ isoliert untersuchen, ibid., S. 195. kein Zufall, dass die Familienkomposition medial begleitet wird; vielmehr kon‐ stituiert die Aufzeichnung Familie mit. Entsprechend konstatieren Theunert und Lange: »Nur durch ein aufwändiges Zusammenspiel von Routinen und Gemeinsamkeit, Ver‐ lässlichkeit und Flexibilität lässt sich noch ein gemeinsames Familienleben etablieren. In diesem Rahmen nehmen die Medien vielfältige unterstützende, zum Teil - so unsere These - konstitutive Funktionen für das Doing Family in symbolischer und prakti‐ scher Hinsicht ein« 28 . Der Terminus »Doing Family« rekurriert dabei auf »Familie als Herstellungs‐ leistung« 29 . Die damit anskizzierte aktive und agitatorische, konstruktive Vor‐ stellung von Familie »umfasst Prozesse, in denen in alltäglichen und biografi‐ schen Interaktionen Familie als sinnhaftes gemeinschaftliches Ganzes hergestellt wird.« 30 In der vorliegenden Arbeit wird konzeptionell von einer »Medienkultur« 31 ausgegangen - getreu dem berühmten Ausspruch Siegfried J. Schmidts: »Das Programm Kultur realisiert sich als Medienkultur, und man könnte fast hinzu‐ 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 21 <?page no="22"?> 32 Schmidt, Siegfried J.: Medien: Kultur: Medienkultur, in: Schmidt, Siegfried J.: Der Kopf, die Welt, die Kunst. Konstruktivismus als Theorie und Praxis, Wien u. a. 1992, S. 67-90, hier: S. 86. So ist Krotz vollends zuzustimmen, wenn er nahezu von medialer Omniprä‐ senz ausgeht; Krotz, Friedrich: Reality-TV: Unterschichtsfernsehen oder rationale Vor‐ bereitung auf eine Gesellschaft, die immer mehr zwischen oben und unten spaltet? , in: Hajok, Daniel; Selg, Olaf; Hackenberg, Achim (Hrsg.): Auf Augenhöhe? Rezeption von Castingshows und Coachingsendungen, Konstanz 2012, S. 71-83, hier: S. 80-81. Siehe auch Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 92. 33 Scheffer, Bernd: Medien als Passion (Einleitung), in: Medienobservationen (2004), in: http: / / www.medienobservationen.lmu.de/ artikel/ theorie/ scheffer_medienpassion.html (zuletzt aufgerufen am 29. 12. 2015). 34 Ibid. 35 Ibid. 36 Baumann, Marc: Doppelt gemoppelt, in: Süddeutsche Zeitung Magazin 6 (2016), in: http: / / sz-magazin.sueddeutsche.de/ texte/ anzeigen/ 44192 (zuletzt aufgerufen am 18. 02. 2016). 37 Im Folgenden abgekürzt mit P. setzen: und als nichts anderes.« 32 So ist auch mit Scheffer erstens davon auszu‐ gehen, dass »hauptsächlich Medien […] zur Subjektbildung bei[tragen]« 33 und zweitens zu betonen, dass »Realitätserfahrung […] überhaupt erst durch eine vorauslaufende mediale Bearbeitung erzeugt und ermöglicht [wird]« 34 , wobei der Terminus »›Medialität‹ im Sinne von ›grundsätzlich vermittelt‹« 35 zu ge‐ brauchen ist. Auszugehen ist also von einer Synchronizität von Medien / Media‐ lität und Lebenspraxis. Synchronizität von Medialität und Familialität kommt beispielsweise in einem Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung zum Ausdruck. Simultan zur Injektion von Samen in die Vagina bei einem assistiert reproduktiven Ver‐ fahren soll das Lied Eye Of The Tiger abgespielt werden: »Die Spritze mit dem Spendersperma, das sterile Behandlungszimmer, die sachliche Ärztin - das war alles so unromantisch, so wenig feierlich. Darum hatte Kate Elazegui ein Lied mitgebracht. Als die Ärztin ansetzte, den Samen in Kates Vagina zu injizieren, gab sie ihr das vereinbarte Handzeichen, Kate drückte auf die ›Play‹-Taste, lehnte sich zurück und hörte: Eye Of The Tiger.« 36 Besonders deutlich ist jene Synchronizität von Medien / Medialität und Lebens‐ praxis mit familienpolitischem Bezug in einer Sequenz aus Die Pinguine aus Madagascar 37 (Penguins of Madagascar, USA 2014, Regie: Eric Darnell und Simon J. Smith, DreamWorks Animation; DVD ) inszeniert. Vor einigen Jahren - so gibt es der Animationsfilm vor - rollte ein einzelnes Pinguin-Ei, zuvor vom Schnee verdeckt in seltsam anmutender Reminiszenz an Social Freezing (Ein‐ frieren von Eizellen), eine abschüssige eisige Landschaft in der Antarktis hi‐ 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 22 <?page no="23"?> 38 Ott, Michaela: Dividuationen. Theorien der Teilhabe, Berlin 2015, S. 8. Es verwundert denn auch nicht, dass sie diese Erkenntnis in Auseinandersetzung mit einem Film pro‐ filiert. nunter. Spuren, ja Lebensspuren im Schnee hinterlassend, atemberaubend schnell vorbei an der possentreibenden Pinguin-Karawane, darunter Skipper, Kowalski und Rico. Wie bei allen kulturell relevanten Ereignissen der Gegen‐ wart ist auch innerhalb der filmischen Diegese ein Kamerateam synchron zu den Vorgängen anwesend (P 00: 02: 25). Die diegetisch-sichtbare Synchronizität von Medien / Medialität und Lebens‐ praxis reflektiert unser medienbezogenes Handeln in unserer Medienkultur. Michaela Ott geht diesbezüglich davon aus, dass »unübersichtliche Durchdrin‐ gungsverhältnisse zwischen medialen Artikulationen und in sie verschlungenen menschlichen Handlungs- und Äußerungsweisen« 38 bestehen. Auf die (kindliche) Frage, ob das den Abhang hinabrollende Ei zurückgeholt werden solle, antwortet ein (erwachsener) Pinguin: »Tut mit echt leid, Kleiner. Jedes Jahr verlieren wir ein paar Eier - so ist das eben in der Natur« (P 00: 02: 27). Die (kindliche) Gegenrede lautet: »Oh klar, die Natur. Das macht irgendwie Sinn, aber irgendwas irgendwas tief in meinem Innern sagt mir, dass das überhaupt keinen Sinn macht. Wisst ihr was: Ich lehne die Natur ab« (P 00: 02: 31). Diegetisch folgt eine pinguineske Geburtshilfe: gefährlich, lebensgefährlich, aufregend, auf Eisbergs Schneide, emotional und medial angestoßen durch einen gewaltigen Stoß des Mikrofons vom Medienteam. Inszeniert wird eine perfor‐ mativ hergestellte Form von Familie, wobei die konventionelle duale und zwei‐ geschlechtliche Elternschaft (Mutter-Vater, männlich-weiblich) unterlaufen wird. Der Startschuss der Geburt, das Zerbrechen der Schale und das Schlüpfen des Pinguin-Babys (Private genannt) ist künstlich (obschon durch ein Missge‐ schick) herbeigeführt. Ein unabsichtlicher Flügelschlag (nicht etwa eine Bla‐ sensprengung oder die Verabreichung bestimmter Hormone) initiiert das »Wunder der Geburt« (P 00: 05: 52) - nicht ohne Ironisierung romantisch-ästhe‐ tisierender Geburtsvorstellungen. Abgelehnt wurde die Natur: Aber was nun? Wo ist die Mutter, der Vater, die Familie? Wer ist die Mutter, der Vater, die Fa‐ milie? Die Pinguine können sich wohl auf ein emotionales Band einigen, ver‐ mutlich eine Form der sozialen Elternschaft: 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 23 <?page no="24"?> 39 Hepp konstatiert, dass »Bedeutung nicht ›in den Kommunikaten‹ liegt, sondern erst in der Aneignung entsteht«, Hepp, Andreas: Medienkultur. Die Kultur mediatisierter Welten, 2., erw. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 64. 40 Zum ›panmedialen‹ Medienbegriff sowie zum Verhältnis von Medialität und Medium siehe Giesen, S. 32-50. Besonders deutlich: »Jene ontologische Relativität der Medien bedeutet aber im Umkehrschluss nicht nur, dass ›alles‹ zum Medium werden kann, sondern auch, dass jene Medien, deren Status als Medien herkömmlich gesichert gilt (wie z. B. Massen- und Verbreitungsmedien), nicht zwangsläufig als Medien konzipiert werden müssen«, ibid., S. 36. Zu Medium und Medialität grundlegend: Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003, besonders prägnant S. 264-267, zur Komple‐ mentarität von Mediennutzung und Bewusstseinsvollzug: »Denn so wie Mediennut‐ zung zugleich Bewußtseinsvollzug impliziert, impliziert gleichermaßen Bewußtseins‐ vollzug notwendigerweise Mediennutzung«, ibid., S. 109. Siehe auch die Abgrenzung von Jahraus gegenüber Schmidt, ibid., S. 216-218, S. 286-287, S. 310. Zu Medialität siehe beispielsweise auch Scheffer, Bernd: Zur InterMedialität des Bewusstseins, in: Lüdeke, Roger und Greber, Erika (Hrsg.): Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medienthe‐ orie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 103-122. »Du hast uns, wir haben einander, und wenn das keine Familie ist, dann weiß ich auch nicht« (P 00: 06: 37). Die hier zugrunde liegende Annahme einer konstitutiven Verschachtelung von Medien im weiten Sinn und Kultur als Medienkultur sensu Siegfried J. Schmidt kann nicht auf eine Haltung hinauslaufen, die sich mit der Untersuchung ver‐ schiedener Aushandlungen »in den Medien« begnügt. Eine solche Haltung würde nämlich erstens einer präjudizierten Einschränkung auf bestimmte Me‐ dien, häufig immer noch subtil durch Qualifikationen wie fiktiv, real, technisch, hoch und niedrig geprägt, Vorschub leisten. Zweitens impliziert der Ausdruck »in den Medien« ein latent inhärentes Verbot, Medien jedweden Status und Kultur konstitutiv zusammenzudenken. Angeknüpft werden kann vielmehr an diejenige Forschung zum Themenkomplex Geburt / Familie / Reproduktions‐ technologien, die stets auf Grenzverwischungen zwischen Realität und Fiktion, Wissenschaft und Kunst sowie auf die enorme Bedeutung der Medien, Media‐ lität, Diskursivität und Kulturalität verweist (siehe Forschungsüberblick, exemplarisch seien hier Dreysse und Nusser genannt), wobei über den Begriff Medienkultur und die mediensyntagmatische Haltung, in die auch unorthodoxe Medien inkludiert sind, dennoch zu bereits existierenden Untersuchungen eine erkenntnispraktische Verschiebung erfolgt, die noch erläutert wird. Drittens kann der Mediengebrauch nur aktiv sein 39 . Hier wird ein weiter Medienbegriff 40 präferiert. Die Annahme einer Medienkultur führt zu neuen und anderen Er‐ kenntnissen rund um Familienpolitik, indem konzeptionell vielfältige Medien und Kultur zusammengedacht sind. Auf der Grundlage eines konstitutiven Zu‐ 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 24 <?page no="25"?> 41 Speth, Melanie: Späte Schwangerschaftsabbrüche wegen fetaler Anomalien, in: Hum‐ boldt Universität Berlin (Hrsg.): Selbstbestimmung zwischen Lebensrecht und Sterbe‐ hilfe. Aktuelle ethische Grundfragen in den Rehabilitationswissenschaften, Aachen 2003, S. 79-173, hier: S. 145. 42 Scheffer, Bernd: Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Lite‐ raturtheorie, Frankfurt am Main 1992, S. 33. 43 Thomä, Dieter: Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform, 1., um ein Nach‐ wort erweiterte Aufl. München 2002, S. 47. Die bereits durch das Adverb »vielleicht« signalisierte Zurücknahme der Behauptung von Elternschaft als Theaterprobe wird von Thomä dann weiter expliziert. Gleichwohl erscheint mir die Theatermetaphorik tref‐ fend, weshalb sie hier übernommen wird. Im Spannungsfeld von Elternschaft und The‐ atralität erweist sich auch ein interdisziplinäres Projekt (Wunschkinder) in Freiburg als wegweisend. Das Theater Freiburg und das Institut für Ethik und Geschichte der Me‐ dizin starteten im November 2010 ein Projekt, in dem Bürger, Regisseure, Ärzte, Ethiker und Betroffene unterschiedliche Facetten der menschlichen Fortpflanzung im techno‐ logischen Kontext performativ und künstlerisch durcharbeiteten; siehe dazu Feindel, Ruth u. a.: Editorial, in: Theater Freiburg. Das Magazin Nr. 11, S. 1-28, hier: S. 2, in: http: / / www.theater.freiburg.de/ blog/ wpcontent/ uploads/ 2011/ 11/ TF_2297_Magazin_Wunschkinder_print.pdf (zuletzt aufgerufen am 05. 02. 2016). sammendenkens von Medien und Lebenspraxis kann gerade auf einer ersten Ebene weder eine qualitative Separation (»die Medien«) und Subordination (»indirekt«) noch eine kanalisierende Wirkung (»durch die Medien«) von Me‐ dien angenommen werden: »Die öffentliche Meinung spielt eine große Rolle im Zusammenhang mit der Ent‐ scheidung, ob eine Schwangerschaft fortgeführt oder beendet werden soll. Diese kann direkt vertreten werden durch den Partner, die Familie, die beratenden Genetiker‐ Innen / ÄrztInnen oder auch indirekt durch die Medien [Hervorhebungen M. P.].« 41 Grundlage der vorliegenden Arbeit sind hingegen medienkulturelle Arrange‐ ments. Dazu gehören neben Literatur und Filmen auch Facebook-Kommentare, eine Messe-Topografie oder ein Kalender. Mit Bernd Scheffer gehe ich davon aus, dass »Kunst und Literatur […] (bestenfalls) auf herausgehobener Bühne das Spiel [spielen], das überall stattfindet« 42 . Betont werden soll damit die stets kon‐ struktive Gestaltungspraxis, oder weniger neutral - keinesfalls aber kokett -, das buchstäbliche, stets vorhandene medial-performative Spiel, gerade auch im Kontext von Familie. Thomä konturiert beispielsweise Elternschaft als verlän‐ gerte Theaterprobe, als alltägliches Abenteuer: »Elternschaft hat vielleicht noch am ehesten - jedenfalls was die Unübersichtlichkeit betrifft - etwas von einer Theaterprobe, die nicht enden will; sie ist ein Abenteuer des Alltags.« 43 Für dieses Abenteuer, für familiale Identitätsentwürfe werden unterschiedliche Me‐ dien benötigt: 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 25 <?page no="26"?> 44 Görling, Reinhold: Medienkulturanalyse - Skizzen eines interdisziplinären Faches, in: Dietz, Simone und Skrandies, Timo (Hrsg.): Mediale Markierungen. Studien zur Ana‐ tomie medienkultureller Praktiken, Bielefeld 2007, S. 13-43, hier: S. 24. 45 Naturphilosophie ist die geistige Bemühung, die sich der Frage »Was ist Natur? « widmet, siehe Böhme, Gernot: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer techni‐ schen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1992, S. 35. 46 Bergmann, Sven: Ausweichrouten der Reproduktion. Biomedizinische Mobilität und die Praxis der Eizellspende, Wiesbaden 2014, S. 229. Thompson arbeitet in diesem Zu‐ sammenhang mit der Wendung »strategic naturalization and socialization«, Thompson, Charis: Making Parents. The Ontological Choreography of Reproductive Technologies, Cambridge und London 2005, S. 13. So arbeitet die Autorin vielfältige Verflechtungen und Entflechtungen bei der Konstitution von Verwandtschaft im Kontext der Repro‐ duktionsmedizin heraus. 47 Bergmann: Ausweichrouten, S. 229. Vollends plausibel ist auch Bettina Bock von Wül‐ fingens Einschätzung: »Meines Erachtens bleibt die Frage zentral, nicht wie die Dinge voneinander in ihrer ontologischen Beschaffenheit zu unterscheiden sind, sondern zu welchem Zweck sie mal unterschieden werden (als ›technisch‹ oder ›natürlich‹) und wann nicht«, Wülfingen, Bettina Bock von: Genetisierung der Zeugung. Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte, Bielefeld 2007, S. 172, Fuß‐ note 511. »Identitätsentwürfe brauchen Medien, um sich selbst zu entwerfen und um zu wirken. Medien bieten Bühnen für dieses Theater: die Straße, das Lokal, die Zeitung, das Radio, das Kino, das Fernsehen, das Internet. Und jedes dieser Medien bietet für sich selbst wieder eine Vielzahl an unterschiedlichen Bühnen, in denen Aspekte dieser Identi‐ tätsentwürfe artikuliert werden können. Jede Stadt hat Straßen ganz unterschiedlicher Funktion, die auch bestimmt, wie sich die Passanten verhalten.« 44 Neben der Erfassung der Bedeutung von Medien für die Identitätsbildung geht es demnach um die Betrachtung von so unterschiedlichen Arrangements wie etwa der Straße oder einem Lokal als Medien. Die Fokussierung auf medienkulturelle familienpolitische Arrangements um‐ geht bewusst naturphilosophische Fragen 45 . Dabei soll jedoch auch kein reiner Kulturalismus nach dem Motto ›Alles ist Kultur‹ ausgespielt werden. Das heißt nicht, dass Fragen nach Natur und Kultur sowie nach deren Verhältnis zuei‐ nander im Kontext von Familie nicht gestellt werden dürfen oder sollen. Es heißt aber, ich stelle sie nicht, und zwar a priori. Ich kann hier an Bergmann an‐ knüpfen, der stets mittelbar auf Argumentationen mit Natur und Kultur fokus‐ siert: »Es ist aufschlussreich zu verfolgen, wann mit Natur und wann mit Kultur argumentiert wird, wann die biologischen und wann die sozialen Grundlagen von Verwandtschaft herangezogen werden, wann von Substanz und wann von Prozessen gesprochen wird.« 46 Bergmann bezieht sich mit dem Begriff »assis‐ tierte Authentizität« 47 auf die performative Praxis der Authentifizierung, die zur 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 26 <?page no="27"?> 48 Ullrich, Charlotte: Marginalisiert, fragmentiert und technisiert? Der Körper in der me‐ dizinischen Behandlung von unerfülltem Kinderwunsch, in: Junge, Torsten und Schmincke, Imke (Hrsg.): Marginalisierte Körper. Zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers, Münster 2007, S. 187-204, hier: S. 191. 49 Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx, Bielefeld 2010, S. 158. Meißner hat hier im Kontext von Butler und Foucault »Generativität als histo‐ risches Dispositiv« im Blick. Ich komme darauf im Forschungsüberblick zurück. 50 Schmidt, Siegfried J.: Medienkulturwissenschaft, in: Nünning, Ansgar und Nünning, Vera (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven, Stuttgart und Weimar 2003, S. 351-369, hier: S. 362. 51 Ibid., S. 363. Zu »Kultur als Programm« siehe ibid., S. 355-359. 52 Ibid., S. 353. Naturalisierung führt (wobei der materielle und symbolische Aufwand genannt werden). Die Beobachtung einer Kommunikation von Natur und Kultur ist dann vollends kompatibel mit Ullrichs kritischer Einschätzung der Tragfähigkeit einer dichotomen Unterscheidung zwischen Natur und Technik aufgrund der langen Tradition von Eingriffen in den Reproduktionsprozess 48 und gemäß Meißners Klassifikation der Bestimmung des natürlichen Kerns eines gesell‐ schaftlichen Phänomens als »müßige[r] Spekulation« 49 . Durch die bisherigen Ausführungen und Beispiele wurde verdeutlicht, dass durch die Annahme einer Medienkultur von einer konstitutiven Verschachte‐ lung von Medien und Lebenspraxis ausgegangen wird. Damit ist freilich noch nicht vollends geklärt, wie - ausgehend von dieser Annahme - neue und andere Erkenntnisse bei Fragen rund um Familienpolitik gewonnen werden können. Wie ist es möglich, das theoriegeleitete Beobachten von familienpolitischen Manifestationen in unserer Medienkultur an die Profilierung neuer und anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse - an Medienkulturwissenschaft - zu binden? Unter der oben ausgeführten Voraussetzung ist es ja gerade nicht möglich zu behaupten, in den Medien werde etwas (Neues) gezeigt. Gleichsam ist damit die Annahme einer kanalisierenden Wirkung von Medien (»durch die Medien«) verunmöglicht. Einfach gefragt: Was ist dann aber gerade mit, und nur mit Me‐ dien in einem wissenschaftlichen Ansatz möglich? Wären Medien, und nur Me‐ dien zur Erkenntniserzeugung nicht nötig, dann wäre dieser Ansatz, der auf Medien rekurriert, obsolet. Sensu Siegfried J. Schmidt wird nun gerade Beobach‐ tung zweiter Ordnung von den Medien erleichtert oder sogar erzwungen 50 . Om‐ nipräsente, nicht zu stornierende, existente »Kultur als Programm materialisiert sich und ist entsprechend beobachtbar in Anwendungen wie Kunstwerken, Ar‐ chitekturen, Büchern oder Zeitungen« 51 . Daher fordert Schmidt gerade dazu auf, »möglichst genau die Rolle der Medien zu explizieren.« 52 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 27 <?page no="28"?> 53 Mann, Martin: Das Erscheinen des Mediums. Autoreflexivität zwischen Phänomen und Funktionen, Würzburg 2015, S. 243. 54 Ibid. 55 Ibid. 56 Ibid., S. 75. Mann bezieht sich im Hinblick auf die konstitutive Verschachtelung von Störung und Medium im Gewahrwerden des Mediums auf Rautzenberg, wobei er im Unterschied zu diesem allerdings äußerst fruchtbar zwischen Störung und Rauschen unterscheidet, ibid., S. 66-72, ebenso Fußnote 206, S. 75. Neben dem Rekurs auf Raut‐ zenberg konturiert Mann seine Thesen zu »Potenziale[n] und Kreativität« (S. 77) der Störung in Auseinandersetzung mit Jäger und von Foerster, ibid., S. 74-81. 57 Ibid., S. 118. 58 Ibid., S. 78. 59 Beispielsweise ibid., S. 57-60, S. 63. Erst jüngst ist nun eine Studie erschienen, die in medientheoretischer und medienhistorischer Aufarbeitung und Dekonstruktion einen neuen und äußerst fruchtbaren Medienbegriff konzipiert. Neues und Anderes, gerade Wissen‐ schaft, kann in der vorliegenden Arbeit auch deshalb erzeugt werden, weil hin‐ sichtlich des präferierten (weiten) Medienbegriffs auf die vor kurzem erschie‐ nene Studie Das Erscheinen des Mediums. Autoreflexivität zwischen Phänomen und Funktionen (2015) von Martin Mann zurückgegriffen wird. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit erweisen sich mindestens zwei miteinander verbundene Aspekte der Untersuchung von Mann als zentral. Der Autor zeigt, dass dem Kunstwerk Elemente aus dessen Außenraum einkopiert sind, wodurch es sich zu sich selbst verhält 53 . In Abkehr von der Transparenzthese geht er davon aus, dass »Medien ihr eigenes Medialisieren immer auch aus[stellen]« 54 und »ihr Erscheinen zum Erscheinen [bringen]« 55 . Zum Ausdruck kommt damit eine das Medium als solches im Vollzug stiftende Eigenwendung. Strenggenommen kann erst mit einem erkenntnisleitenden Medienbegriff Medienkulturwissenschaft, und damit die Produktion von Erkenntnissen via Beobachtung einer Medien‐ kultur, betrieben werden. Medienkulturwissenschaft kann sich erst dann er‐ kenntnisorientiert entfalten, wenn die Berücksichtigung der Eigenschaften von Medien, und nur von Medien, einen Mehrwert generiert, den es sonst nicht gäbe. Die Medienkulturwissenschaft könnte ansonsten einfach auf den Terminus Me‐ dien verzichten. Anders formuliert: Medienkulturwissenschaft benötigt sub‐ stantiell die Auseinandersetzung mit Medien als Medien, um einen Unterschied zu erzeugen, um Medienkulturwissenschaft zu sein. In Anlehnung an Mann kann gerade die selbstbedingende Passung der Medien, »nicht rein unauffällig (stö‐ rungsfrei)« 56 zu funktionieren, ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen 57 zu sein, medienkulturwissenschaftlich gewendet werden, und zwar insofern als »die Stö‐ rung konventioneller Medienprozesse [hochgradig produktiv] sein kann.« 58 Krämer, auf die Mann vielfach zurückgreift 59 , macht deutlich, dass Medien nicht 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 28 <?page no="29"?> 60 Krämer, Sybille: Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen. Zur Einführung in diesen Band, in: Krämer, Sybille (Hrsg.): Performativität und Media‐ lität, München 2004, S. 13-32, hier: S. 25. 61 Ibid. Dabei werden Performativität und Medialität über Aisthesis profiliert. Das Ais‐ thetische wird als das »in-Szene-setzende Wahrnehmbarmachen« konturiert, ibid., S. 25. 62 Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 60. 63 Zur Fotografie als strukturierender Schauplatz der Interpretation siehe Butler, Judith: Folter und die Ethik der Fotografie - Denken mit Susan Sontag, in: Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt am Main und New York 2010, S. 65-97, hier S. 68. 64 Es handelt sich bei der Episode Onkel Doktor Cooper (The Cooper Extraction) um die elfte Folge der siebten Staffel. Im Folgenden abgekürzt mit B. einfach Sinn und Bedeutung vermitteln 60 . Sie haben aber laut Krämer eine wich‐ tige Funktion: »Medien phänomenalisieren, sie machen wahrnehmbar.« 61 Mann formuliert denn auch in Anschluss an Krämer: »Sowohl Medium als auch Performanz sind in dieser Perspektive demnach erstens als Ereignis (also als Momente, die bei ihrem Entstehen schon wieder vergehen) und zweitens als Inszenierung (also als gerahmtes Geschehen) zu verstehen.« 62 Das Medium ist demnach ereigniskonstituierter Schauplatz 63 . Nach Konturierung des verwendeten Medienbegriffs kann nun der erkennt‐ nisleitende Terminus Manifestation erläutert werden. Wenn ich in der vorlie‐ genden Arbeit von familienpolitischen Manifestationen in unserer Medienkultur spreche, dann sind damit herausgehobene, als arrangiert-verdichtet zu kenn‐ zeichnende, konstruktiv-spielerische - dadurch nicht minder reale - Momente gemeint, welche die Medienkulturwissenschaft als ostentativ charakterisieren kann. Eine symptomatische familienpolitische Manifestation ist, und zwar in‐ sofern, als sie medienkulturwissenschaftlich gesehen als emphatisch gelten darf, eine Sequenz der Folge Onkel Doktor Cooper 64 aus der Sitcom The Big Bang Theory ( USA 2007-, CBS , Warner Bros. Entertainment; AMAZON VIDEO ). Als emphatisch kann nun gerade die plakative Ineinssetzung von ›Schwangerschaft und Krankheit‹ sowie die je perspektivisch-konträre Bewertung von Schwan‐ gerschaft und Geburt (ultranüchtern versus emotional) in der Konfligierung aufgefasst werden. Emphase zeigt sich auch durch den dargebotenen Zynismus, wenn ein Motorradunfall des Vaters als glücklicher Umstand kommuniziert wird, der Absenz bei der Geburt des eigenen Kindes erlaubt, oder in der vollends absurden Korrelation der Dauer der Geburt mit der Zeit auf der High School. Ich gebe nun den Dialog zwischen Sheldon ( Jim Parsons), Leonard ( Johnny Galecki), Amy (Mayim Bialik) und Penny (Kaley Cuoco) wieder: 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 29 <?page no="30"?> 65 Okkasionalismen sind Wortneubildungen, die im Unterschied zu Neologismen kurz‐ lebig sind. So führt etwa Wanzeck aus: »Wortneubildungen, die eine gewisse Haltbar‐ keit zeigen, verlassen die Stufe des Okkasionalismus und werden zum Neologismus«, Wanzeck, Christiane: Lexikologie. Beschreibung von Wort und Wortschatz im Deut‐ schen, Göttingen 2010, S. 42. So kann festgehalten werden: »Die Kennzeichen der Ok‐ kasionalismen sind ihre starke Kontextabhängigkeit, ihre seltene Verwendung und ihre Kurzlebigkeit«, ibid., S. 39. »Sheldon: Ich muss gleich weg. Leonard: Wohin? Sheldon: Nach Texas. Amy: Jetzt sofort? Wieso? Leonard: Ist jemand krank? Sheldon: Ja, der Uterus meiner Schwester brütet im Moment ein Baby aus. Penny: Oh, sie ist schwanger. Das ist ja toll. Dann wirst du ja Onkel - Onkel Sheldon. Sheldon: Was, nein. Ich bin dann Onkel Dr. Cooper. Amy: Warum hast du nie erzählt, dass sie schwanger ist? Sheldon: Ich hab dir auch nicht gesagt, dass mein Bruder Nierensteine hat. Willst du alles wissen, was aus den Genitalien meiner Familie kommt? Leonard: Ich gratuliere, schön für deine Schwester, dass du dabei sein wirst. Sheldon: Naja, ich springe für ihren Ehemann ein, der sich noch von einem ganz furchtbaren Motorradunfall erholt - der Glückliche. Penny: Wow. Und wie lange wirst du weg sein? Sheldon: Tja, der Geburtstermin soll morgen sein. Allerdings hat sie sechs Jahre für die High School gebraucht. Also, wer weiß« (B 00: 00: 30). Festgehalten werden kann also, dass eine Verstrickung von ›Schwangerschaft und Krankheit‹, konkurrierende normative Geburtsvorstellungen, eine be‐ stimmte väterliche Absenz-Position via Zynismus sowie Geburtsterminologie qua Absurdität als Echo widerhallen. Eine weitere familienpolitische Manifestation entfaltet sich herausgehoben durch ein intermediales Arrangement (etwa B 00: 03: 02 und B 00: 03: 46), in dem Sheldon innerhalb der Metadiegese via iPad abwertend-normativ die Geburts‐ konzeption seiner Schwester (»Hausgeburt«) erzählt, wobei diese erneut in der Gegenrede von Raj (Kunal Nayyar) konfligiert wird. Durch die serielle Verschaltung unterschiedlicher Darbietungen (vom Klin‐ geln bis hin zur Metadiegese) des iPad qua Einstellungsgrößen wird gerade die Aufmerksamkeit auf das iPad gelenkt, und zwar verstärkend, indem ein wun‐ derlicher Okkasionalismus 65 (»Fruchtwasserschlitterbahn«) installiert ist. Ich gebe nun den Dialog wieder: 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 30 <?page no="31"?> »Penny: Hey, wie geht’s deiner Schwester? Sheldon: Sie hat seit knapp einer Stunde ihre Wehen. Amy: Das ist wunderbar, seid ihr im Krankenhaus? Sheldon: Nein, sie wollte eine Hausgeburt. Ihr Lebensstil gleicht gewissermaßen dem in der Steinzeit, und eine Höhle ist gerade nicht verfügbar. Raj: Weißt du, viele Leute glauben, dass eine Hausgeburt besser ist, weil die Mutter in einer angenehmen, vertrauten Umgebung ist und ihre Liebenden [sic! ] sie pflegen können. Sheldon: Und dort den Schlafzimmerfußboden in eine Fruchtwasserschlitterbahn ver‐ wandeln« (B 00: 03: 22). Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Geburtskonzeptionen wie etwa eine Hausgeburt und kulturell damit verbundene Klischees (vertraute Um‐ gebung) sowie ihre konträre Kritik und damit einhergehende Konnotationen (wie etwa Fragen zum Lebensstil) als konfligierende herausgehoben sind. Ein‐ gedenk der konstitutiven Verschachtelung von Medien und Familienpraxis ist es demnach auch kein Zufall, dass Sheldon durch Aufforderung einer weiblichen Stimme aus dem Off, die zum Familienfoto während des Geburtsvorgangs ein‐ lädt, zu diesem Geburtsgeschehen zurückgeholt wird: »Sheldon, komm her! Der Muttermund deiner Schwester ist jetzt vollständig geöffnet und sie will ein schönes Familienfoto, bevor hier alles verblutet« (B 00: 03: 50). Durch die Insze‐ nierung eines skurrilen und hyperbolischen Vorgangs des Geburtsgeschehens ist die mitkonstituierende Funktion des Fotos markiert. Skurril ist die synchrone Kopplung des vollständig offenen Muttermunds mit einem als ästhetisch sich darstellenden fotografischen Festhalten. Hyperbolisch ist die gleitende Bewe‐ gung vom schönen Foto hin zur Szenerie des Verblutens. Im Kontrast zum klaren Bekenntnis des Pinguins aus dem Film Die Pinguine aus Madagascar (»Du hast uns, wir haben einander und wenn das keine Familie ist, dann weiß ich auch nicht«) manifestiert sich aktuell in unserer Medienkultur ein lebhafter Diskurs über Familialität (»Die neue Unübersichtlichkeit der Fa‐ 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 31 <?page no="32"?> 66 Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Alte Leitbilder und neue Lebensformen, 3., überarb. und erw. Aufl. München 2010, S. 17. Darin finden sich auch einige Informationen über die vielfältige Begriffsproblematik, ibid., S. 17-35. Zur Ent‐ wicklung von Familie ebenso Nusser: »Traditionelle Definitionen von Familie, Vater, Mutter und Kind, die auf biologischer und genetischer Verwandtschaft basieren, können heutzutage nicht mehr so einfach angewendet werden; sie unterliegen Vervielfälti‐ gungen und ständigen Anpassungen an die neuesten technischen Entwicklungen«, Nusser: Reproduktionstechnologien, S. 15-16; zur Familie als Konstrukt ibid., S. 35. Hofmann arbeitet auch »soziokulturelle Veränderungen« sowie eine erneute Natura‐ lisierung (von Sozialem) durch Reprogenetik heraus. Hofmann, Heidi: Reproduktions‐ technologien bedeuten soziokulturelle Veränderungen - Eine Skizze, in: Weber, Jutta und Bath, Corinna (Hrsg.): Turbulente Körper, soziale Maschinen. Feministische Stu‐ dien zur Technowissenschaftskultur, Opladen 2003, S. 235-250. Zu Naturalisierung und Disziplinierung siehe auch Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 156-158. 67 Mense, Lisa: Neue Formen von Mutterschaft. Verwandtschaft im Kontext der Neuen Reproduktionstechnologien, in: Lenz, Ilse; Mense, Lisa; Ullrich, Charlotte (Hrsg.): Re‐ flexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, Opladen 2004, S. 149-177, hier: S. 161. 68 Der Titel dieser Episode lautet: Penny und die Physiker (Pilot). milie« 66 ). Da ist medienkulturell beispielsweise die Rede von Regenbogenfami‐ lien (ihren Befürwortern und Gegnern), gespaltener Elternschaft (die Existenz von drei Müttern und zwei Vätern ist möglich 67 ), Single Parenting, Leihmüttern und Samenspendern. Die erste Folge der ersten Staffel der bereits zitierten Sitcom The Big Bang Theory 68 zeigt beispielsweise, wie Dr. Leonard Hofstadter und Dr. Dr. Sheldon Cooper eine Samenbank für Leute mit hohem IQ aufsuchen, um einen finanziellen Zuschuss für einen Breitband-Internet-Anschluss zu er‐ halten. Neben der grotesken Verknüpfung von Samenbank und Breitband-In‐ ternet wird auch der deterministisch-monokausale Glaube an Gene persifliert, indem Sheldon seine Bedenken äußert: »Wir begehen einen genetischen Betrug. Es gibt keine Garantie, dass unsere Spermien hochintelligente Nachkommen hervorbringen. Denk doch mal nach. Ich hab eine Schwester mit ziemlich der‐ selben DNA -Mischung, und sie serviert Fastfood« (B 00: 01: 31). Im nun folgenden Potpourri medienkultureller Diversität soll gezeigt werden, wie persistent in unserer Gegenwart Familienpolitik verhandelt wird. Nur durch jenen mediensyntagmatischen Zugang, nur durch das Zulassen einer weiten Ob‐ jektebene kann familienpolitischer Diversität begegnet werden. In unserer Gegenwart hat sich ein medienkulturelles Koordinatensystem he‐ rausgebildet, in dem - so wird vielerorts und allgemein angenommen - die Pa‐ rameter sozial und biologisch, sowie künstlich und natürlich vielfältig mitei‐ nander kombiniert sind. Zu beobachten sind eine Erweiterung der Familie als Sozialisation und eine Eventisierung von engster biologisch-leiblich-geneti‐ 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 32 <?page no="33"?> 69 https: / / www.youtube.com/ watch? v=FGkAgdFrt1A (zuletzt aufgerufen am 20. 04. 2016). 70 Dreysse; Mutterschaft und Familie, S. 266. Zu Elternschaft und Freundschaft siehe auch Haker, Hille: Hauptsache gesund? Ethische Fragen der Pränatal- und Präimplantati‐ onsdiagnostik, München 2011, S. 233-234, S. 239-240, S. 247-248. scher Konturierung der Familie sowie eine scharfe Konkurrenzsituation zwi‐ schen den rhetorischen Deklarationen von natürlicher und künstlicher Familie. In dem Sommerhit Hey Brother ( USA 2013, DJ / Produzent: Avicii, Label: Uni‐ versal Music und PRMD ; RADIO ), in dem expressis verbis Blutsverwandtschaft gefeiert wird (»Know the water’s sweet but blood is thicker«), wird grenzenlose brüderliche Solidarität, grenzenloses brüderliches Engagement besungen: »Oh, if the sky comes falling down, for you, there’s nothing in this world I wouldn’t do«. In dem Actionfilm Fast & Furious 7 ( USA 2015, Regie: James Wan, Universal Pictures) dagegen erhebt Dom (Vin Diesel) seine Freunde zur Familie. Konsti‐ tuens ist in diesem Fall eine sozial-familiale Verbindung. Bereits der Trailer zu Fast & Furious 7 69 (2015) beinhaltet das Aufgehen von Freundschaft in Familie: »Ich habe keine Freunde, ich habe Familie« (00: 01: 02). Ein Facebook-Nutzer erweist einem Freund auf seiner Facebook-Seite eine freundschaftlich-familiale Hommage: »Happy to see you, bro! Stay the way you are. God bless you! « Die Anrede »Bro« für einen sehr guten Freund erborgt für Freundschaftskonzepte den Nimbus gerade ›unleugbarer‹, also genetisch-bio‐ logischer Verwandtschaft, so dass nicht nur der »Brocode« in How I met your mother ( USA 2005-2014, CBS ; TV ( PRO 7)) zu einer Verflüssigung zumindest familialer Rhetorik-Konzepte führt. So stellt Dreysse eine sukzessive Ersetzung der biologischen Familie in der populären Kultur fest: »In der populären Kultur der Mehrheitsgesellschaft treffen wir […] zunehmend auf chosen families, die die biologische Familie er‐ setzen.« 70 Dabei verweist sie auch auf die Serie How I met your mother (ohne allerdings auf den »Brocode« einzugehen) und fasst zusammen: »Das Zerbrechen traditioneller Familienstrukturen in der gesellschaftlichen Realität ebenso wie das Bedürfnis nach nicht hierarchischen, nicht normativen Formen des Zusammenlebens bzw. der Zugehörigkeit scheint zu Vorstellungen von Familie, die selbst gewählt und frei gestaltbar sind, aber emotionale Qualitäten der bürgerlichen Kleinfamilie wie Zugehörigkeit, Verlässlichkeit, emotionale Nähe und Schutz garan‐ tieren, zu führen. Sie werden in den erwähnten Fernsehserien [u. a. Big Bang Theory M. P.] als dauerhaft, meist dauerhafter als jedwede durch Biologie, heterosexuelles Begehren oder die Ehe begründete Beziehung, dargestellt, zugleich aber auch als Effekt einer Praxis, eines alltäglichen Tuns, das die familiäre Gemeinschaft immer wieder 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 33 <?page no="34"?> 71 Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 266-267. 72 Lang, Susanne: Ziemlich feste Freunde. Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist, München 2014, S. 175-176. Zur allerdings herausragenden Bedeutung von Leiblichkeit im Umfeld von Familie siehe auch Funcke, Dorett: Die anonyme Samen‐ spende und ihre Folgen: Strategien des Umgangs mit Ungewissheit und Nichtwissen, in: Peter, Claudia und Funcke, Dorett (Hrsg.): Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin, Frankfurt am Main und New York 2013, S. 413-452, besonders S. 444. 73 Onnen-Isemann, Corinna: Ungewollte Kinderlosigkeit als Krise - Reproduktionsme‐ dizin als Hilfe? , in: Junge, Matthias und Lechner, Götz (Hrsg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens, Wiesbaden 2004, S. 123-140, hier: S. 130. 74 http: / / www.bmfsfj.de/ BMFSFJ/ familie,did=222614.html (zuletzt aufgerufen am 07. 01. 2016). aufs Neue kreiert und artikuliert. […] In diesem Sinne sind viele der Freundesgruppen in Film und Fernsehen als Formen der Verwandtschaft zu betrachten« 71 . Die Auflösung althergebrachter Vorstellungen von Familialität sowie der Wunsch nach egalitären Verbindungen bedingen nun Familienkonzeptionen, die sich nicht mehr biologisch aus sich selbst heraus rechtfertigen, sondern ge‐ rade willentlich gestaltet werden. Mediale Darbietungen illustrieren die Viabi‐ lität dieser neuen Formen der Verwandtschaft. Im Kontext der Sozialisation von Verbindungen ist wohl auch jüngst das Buch Ziemlich feste Freunde. Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist von Susanne Lang erschienen. Darin ist der Freundschaft ein zukünftiges Versiche‐ rungskonzept eingeschrieben: »So gesehen sind Freundschaften eine der größten Investitionen, die wir künftig ein‐ gehen werden - und eine der erstrebenswertesten. […] Ich sorge mit der Pflege meiner Freundschaften für ein ebenso gutes Zukunftsfundament wie mit meiner Riester-Rente. Denn vor allem für das Alter, so lautet eine der großen Gesellschafts‐ prognosen, würden gute, langjährige Sozialkontakte immer wichtiger.« 72 Daneben zeugen die zahlreichen neuen Reproduktionstechnologien allerdings auch vom großen Wunsch nach dem eigenen Kind. Der Wunsch nach einem (biologischen) Kind manifestiert sich je nach Konstellation unterschiedlich, wobei zu berücksichtigen ist, dass »[d]urch das neue Angebot ›Reproduktions‐ medizin‹ […] möglicherweise eine sinkende Bereitschaft ungewollt kinderloser Paare zur Adoption plausibel [wird]« 73 . Am 7. Januar 2016 tritt in Deutschland die geänderte Bundesförderrichtlinie in Kraft, gemäß der »erstmals auch unverheiratete Paare für reproduktionsme‐ dizinische Behandlungen eine finanzielle Unterstützung durch das Bundesfa‐ milienministerium [erhalten]« 74 . An jenem durchaus historisch zu nennenden 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 34 <?page no="35"?> 75 https: / / www.facebook.com/ ManuelaSchwesig/ ? fref=ts (zuletzt aufgerufen am 07. 01. 2016). Siehe dazu auch das Kapitel »Die Inszenierung der Mutter in der politi‐ schen Werbung« in Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 44-49, zur gleichzeitigen Anwesenheit von Stereotypen und Vielfalt bei familienpolitischen Kampagnen siehe insbesondere ibid., S. 48. Zu »Ambivalenzen der Sichtbarkeit« siehe auch Schaffer, Jo‐ hanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008. Tag stellt Manuela Schwesig auf ihre Facebook-Seite eine Abbildung, welche eine klassische (Vater, Mutter, Kind) und zugleich neuartig-technologische Famili‐ enkomposition in Bild und Schrift (»Wir wollen allen Paaren die Möglichkeit geben, sich den Wunsch nach einem eigenen Kind zu erfüllen, egal ob verhei‐ ratet oder unverheiratet.« 75 ) zitiert. Den Eltern steht das Glück buchstäblich ins Gesicht geschrieben, Familie erscheint als distinkter und ästhetischer Verbund, wobei zwischen Mutter und Baby ein inniger Augenblick festgehalten wird. Der Kind und Mutter umfassende Arm des Vaters fungiert als Schutzschild und Be‐ wahrer des Verbunds, in dem somit Mutter und Kind regelrecht eingeschachtelt sind. Die Abbildung entfaltet ein Familienszenario, indem eine tolerante Erwei‐ terung von Familialität suggeriert (alle Paare, Gleichgültigkeit gegenüber einer rechtlichen Verankerung) und gleichzeitig verengend wieder zurückgenommen wird, denn Familie ist - so der ›Subtext‹ des Bildes - eben doch ausschließlich Vater, Mutter und das eigene Kind. Kurze Zeit später erscheint ein kritischer Kommentar auf Facebook, der Fa‐ milialität und duale Elternschaft entkoppelt: »Frau Schwesig, das ist ein guter Ansatz, aber dass in Deutschland immer noch Fa‐ milienglück an eine Partnerschaft gebunden ist, ist ein Armutszeugnis! Auch allein‐ stehenden Frauen sollte das Recht auf künstliche Befruchtung gewährt werden. Aber da sieht man mal wieder, dass Deutschland immer noch in der Steinzeit tickt! « Ferner ist ein Kommentar zu lesen, der die Fokussierung auf Heterosexualität kritisiert: »Alle Paare? Nein, natürlich nicht. Homosexuelle unverheiratete Paare (die gar nicht heiraten dürfen) sind natürlich wieder ausgenommen.« Die beiden Facebook-Kommentare beanstanden mit unterschiedlicher Schwer‐ punktsetzung (alleinstehende Frauen; homosexuelle Paare) den gesellschaft‐ lich-politischen Ausschluss bestimmter Gruppen. Interessant ist dabei, dass so‐ wohl die Abbildung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als auch die kritischen Facebook-Kommentare an der gleichen Logik partizipieren. Der Mechanismus der Erweiterung und Öffnung des adressierten 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 35 <?page no="36"?> 76 Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, S. 92. Dabei resümiert Schaffer im Hinblick auf Hegemonie: »Hegemonie wird also grundsätzlich durch das Durchsetzen von Aus‐ sageformen produziert, und dadurch, dass spezifische Referenzrahmen samt dazugehö‐ rigem Vokabular als einzig gültige gelten, um an einer Verhandlung gesellschaftlicher Verhältnisse zu partizipieren«, ibid., S. 126. Daneben zeigt sie, »dass und wie sich He‐ gemonie grundlegend über ästhetische Formen herstellt und reproduziert«, ibid., S. 161. Ferner betont sie den performativen Charakter der Repräsentation, ibid., S. 104. 77 Ibid., S. 14. Weiterhin teile ich das antiautoritäre und antihierarchisierende Kunstver‐ ständnis der Autorin, siehe ibid., S. 29. Ihre Arbeit ist ferner ein Beispiel dafür, wie tolerant und demokratisch kritische Projekte sein können. 78 Ibid., S. 162. Festgehalten wird, dass »Sichtbarkeitsverhältnisse […] aus Verhältnissen zwischen Apparaturen des Sehens, Bildern, Repräsentationslogiken, Subjektkonstitu‐ tionen und Identitätsstrukturen gebildet [werden]«, ibid., S. 47. 79 Ullrich: Marginalisiert, S. 201. 80 Bergmann: Ausweichrouten, S. 25. 81 Ibid., S. 284. Zur Ambivalenz der Reproduktionstechnologien, die Familie und Biologie sowohl entkoppeln als auch verstärken siehe Kollek, Regine und Lemke, Thomas: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gen‐ tests, Frankfurt am Main und New York 2008, S. 161-162. Personenkreises ist jeweils verflochten mit einer Beschränkung von Familiali‐ tät auf ausschließlich das (biologisch) eigene Kind. Mit Schaffer ist von der Exis‐ tenz »hegemonialer Repräsentationsformen und -grammatiken« 76 auszugehen und zu erkunden, »was überhaupt denkbar, sagbar und daher anschaulich ist in dieser Ordnung [gemeint ist die Episteme im Sinne Foucaults, M. P.].« 77 Ihre Arbeit basiert auf der Annahme »der Notwendigkeit einer Analyse der Bedin‐ gungen der Sichtbarkeit.« 78 Die neuen Reproduktionstechnologien lassen sich hinsichtlich ihres Verhält‐ nisses zu gesellschaftlichen Normen nicht eindeutig bestimmen: »Die neuen Reproduktionstechnologien stabilisieren auf der einen Seite gängige Normen - des Kinderkriegens, der Blutsverwandtschaft, der Heterosexualität etc. -, auf der anderen Seite unterlaufen sie diese (wie z. B. die Vorstellung der Kindeszeu‐ gung in einer Liebesnacht ohne technische Hilfe).« 79 Auszugehen ist also mit Bergmann von einem »Spannungsverhältnis zwi‐ schen den aktiven, denaturalisierenden, alternativen und queeren Praktiken des Verwandtschaftmachens und einem biogenetischen Verständnis von Verwandt‐ schaft, in dem das Wissen von und um Verwandtschaft durch den Code der Substanz beschrieben wird« 80 . Pointiert resümiert er: »Der Prozess, Verwandt‐ schaft zu machen, wird gespiegelt von einer strukturierenden Praxis, Verwandt‐ schaft zu sein.« 81 Prozedurale und substantielle Verwandtschaftspraxen sind demnach miteinander verflochten. Die Reportage Das Geschäft mit Social Freezing (von Christiane Hawranek und Lisa Schurr, ausgestrahlt am 24. 03. 2015, ARD ) von Report München 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 36 <?page no="37"?> 82 Hasel, Verena F.: Lasse, Berlin 2015, S. 60. Im Folgenden abgekürzt mit L. 83 Davon zeugen u. a. die Sendung Eiskalte Karriereplanung - ist Kinderkriegen Chef‐ sache, moderiert von Günther Jauch am 26. 10. 2014; die Phoenix-Runde Eizellen ein‐ frieren auf Firmenkosten - Skandal oder Chance? , moderiert von Alexander Kähler am 22. 10. 2014. 84 Kohlenberg, Kerstin u. a.: Dürfen Firmen Familien planen? , in: Die Zeit 44 (2014), S. 19-20, hier: S. 19. (Deutschland 1962-, Bayerischer Rundfunk; TV ( ARD )) problematisiert facet‐ tenreich Risiken und Chancen dieser Technologie. Dargeboten werden Motive und Hintergründe, also Beweggründe von Frauen, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Ist einmal die Existenz der Reproduktionsmedizin akzeptiert, dann er‐ scheint ihre Einordnung interessant. Der Kommentator der Reportage infor‐ miert über eine Social-Freezing-Patientin: »Am liebsten würde sie aber trotz der eingefrorenen Eizellen auf natürlichem Wege schwanger werden« (00: 05: 43). Die Kategorien Natur und Technik werden deutlich geschieden. Demnach gäbe es eine natürliche Geburt und eine technische Geburt. Die Konkurrenz zwischen natürlicher und künstlicher Geburt, der Glaube an die Existenz zweier völlig unterschiedlicher Konzepte ist hyperpräsent. In dem Roman Lasse (2015) von Verena Friederike Hasel werden (personell und methodisch) natürliche Geburt und Kaiserschnitt dichotomisch arrangiert: »Und deshalb hat meine Beleghebamme mich auch gewarnt vor den Ärzten. Selbst in ihrer fortschrittlichen Klinik herrsche ein wahrer Sektiowahn, hat sie gesagt, und wer sich nicht in Acht nehme, erlebe nicht das Wunder einer natürlichen Geburt, sondern lande unterm Messer.« 82 Ein auf der Titelseite der ZEIT am 23. Oktober 2014 angekündigter Artikel Dürfen Firmen Familien planen? , der im Kontext einer lebhaft geführten Debatte um Social Freezing entstand 83 , reproduziert ebenso die Natur-Technik-Dicho‐ tomie: »Heute ist Frauke Holtmann 41 Jahre alt, hat einen neuen Partner, mit dem sie Kinder haben möchte. Aber auf natürlichem Wege hat es nicht ge‐ klappt.« 84 Wenn ich in meiner Studie beispielsweise von Natürlichkeit, Gesundheit, Krankheit oder Behinderung spreche, dann gehe ich stets davon aus, dass es sich um gesellschaftliche Zuschreibungen und Kategorisierungen handelt. Eine durchgängige Kursivierung dieser historischen Kategorien würde die Lese‐ freundlichkeit massiv einschränken. Die Kursivierung wird daher in den ein‐ zelnen Fällen unterschiedlich gehandhabt. Davon abgesehen wird insbesondere dort, wo die illokutive Qualität solcher Ausdrücke im Sinne eines zitierenden Handelns als geklärt gelten darf. 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 37 <?page no="38"?> 85 So konstatiert auch Meißner: »Mit Butler und Foucault kann die Spekulation über na‐ türliche Grundlagen selbst als ein konstitutives Moment der Phänomene und als ein wichtiger Stützpunkt zur Absicherung bestimmter (eben ›natürlicher‹) Notwendig‐ keiten - und damit auch einer bestimmten Rationalität gesehen werden; die vermeint‐ liche Natürlichkeit wird zur letzten Ursache und Begründung aller Phänomene«, Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 158. 86 Butler: Körper von Gewicht, S. 303. Butler bezieht sich hier konkret auf die Kategorie Frauen. 87 Villa, Paula-Irene: Judith Butler. Eine Einführung, 2., aktual. Aufl. Frankfurt am Main und New York 2012, S. 79. Ich weise darauf hin, dass der Originaltext bei Villa als Teil der Zusammenfassung durch eine andere Schriftart gegenüber dem Haupttext leicht hervorgehoben ist. Diese Hervorhebung übernehme ich nicht. Zum Themenkomplex um Materialität bei Butler siehe auch Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 41. In der vorliegenden Arbeit interessieren diejenigen familienpolitischen Ma‐ nifestationen in unserer Medienkultur, die ostentativ facettenreiche (insofern im weiten Sinne zu verstehende) Konnotationen der Kategorien Natur und Kultur / Technik arrangieren. Butler macht innerhalb eines dekonstruktivisti‐ schen Argumentationsgangs in Körper von Gewicht deutlich, dass ein iden‐ titär-problematischer Begriff oder eine ebensolche Kategorie - zu nennen wäre hier nicht zuletzt der Begriff oder die Kategorie Natur 85 - weder einseitig ver‐ bannt, noch unreflektiert verwendet werden sollte: »Daß der Begriff fragwürdig ist, bedeutet nicht, daß wir ihn nicht gebrauchen dürfen, aber die Notwendigkeit, ihn zu verwenden, bedeutet auch wiederum nicht, daß wir nicht andauernd die Ausschlüsse befragen müssen, mit denen er vorgeht, und wir haben dies genau deshalb zu tun, damit wir lernen, wie die Kontingenz des politischen Signifikanten in einer Kultur demokratischer Auseinandersetzung zu leben ist.« 86 Butlers Ansatz sieht also gerade nicht die Vermeidung identitär-problematischer Begriffe vor, sondern dessen Befragung auf ihr exklusives Potenzial hin, wobei zu berücksichtigen ist, dass Butler Materie nicht als rein diskursives Konstrukt versteht 87 . Mit Blick auf die vorliegende Arbeit wird die Berücksichtigung der Medien‐ kulturwissenschaft bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik gefordert und realisiert. Diese Forderung lässt sich freilich etwas schlichter for‐ mulieren: Es wird gezeigt - so das Hauptanliegen dieser Arbeit - wie wichtig die Berücksichtigung medienkulturwissenschaftlicher Problematisierungen bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik ist. Eingedenk der omnipräsenten kommunikativen Auseinandersetzung mit Re‐ produktionsmedizin (die oben zitierten Ausführungen von Manuela Schwesig und die Kommentare führen es vor), erscheint die medienkulturwissenschaft‐ liche Fokussierung umso virulenter, denn Humanwissenschaften - so Claus 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 38 <?page no="39"?> 88 Dahlmanns, Claus: Die Geschichte des modernen Subjekts. Michel Foucault und Nor‐ bert Elias im Vergleich, Münster u. a. 2008, S. 178. 89 Haker: Hauptsache gesund? , S. 12. Dahlmanns im Rekurs auf Foucault - »verbleiben im Grunde im Feld der klas‐ sischen Episteme der Repräsentation, ohne die erkenntnistheoretischen Konse‐ quenzen und Problemstellungen zu verarbeiten, welche die Philosophie seit Kant aufgeworfen hat.« 88 Allgemeinverbindliche und eindeutige, universelle Repräsentationen von Familienpolitik kann es nicht geben und gibt es auch nicht. Zu zeigen, wie sich jedoch die vielfältigen Familienpolitiken in unserer gegenwärtigen Medienkultur manifestieren, ist Teil der nun folgenden Unter‐ suchung. Die einzelnen Kapitel zeichnen nicht chronologisch die verschiedenen Phasen einer Familiengründung nach. Diese Entscheidung lässt sich hinrei‐ chend legitimieren, denn Familialität der Gegenwart lässt sich aus sich selbst heraus in kein intrinsisch-chronologisches Phasenmodell einbetten. Aus der wissenschaftlichen Perspektive soll daher auch keine Domestizierung erwirkt werden. Kapitel 3, 4 und 5 sind insofern miteinander verbunden, als sie jeweils problemorientiert und kritisch einen Schwerpunkt von Familialität der Gegen‐ wart zeigen, nämlich familientechnologische Gesundheitsmelancholie (Ka‐ pitel 3), ostentative Diversität (Kapitel 4) und Familienkonflikte (Kapitel 5). Der Gliederung ist eine argumentative Struktur inhärent, die sich vom allgemein Diskursiven über ein spezielles Diskursphänomen hin zum konkreten Beispiel entfaltet. Im folgenden Absatz werden die einzelnen Kapitel sowie die zentralen Thesen vorgestellt. Kapitel 1 gibt einen umfassenden Forschungsüberblick, um darauf aufbauend die eigene Fragestellung verorten zu können. Es ist wichtig, darauf zu verweisen, dass »[k]ein Buch über Elternschaft […] unpersönlich geschrieben werden [kann]« 89 . Teilhabe kann im Diskurs über Elternschaft nicht nicht heraustreten. Involviertheit erscheint somit virulent auf der Ebene der Autorin, anderer Dis‐ kursteilnehmer_innen, die als wissenschaftliche Stimmen rezipiert werden, und der Rezipient_innen der vorliegenden Arbeit. Kapitel 2 präzisiert die der Arbeit zugrunde liegende Methodologie. Dabei wird eine mediensyntagmatische Herangehensweise gewählt, die durch dis‐ kursanalytische Werkzeuge ergänzt wird. Kapitel 3 entfaltet über mehrere Schritte, aufbauend auf der Studie von Bruner und den Disability Studies sowie auf Butlers Konzept der Geschlechter‐ melancholie, die These, dass wir uns gegenwärtig in einer familientechnologi‐ schen Gesundheitsmelancholie befinden. Im deutlichen Rekurs auf die Doku‐ mentation Der Traum vom perfekten Kind von Patrick Hünerfeld, jedoch auch 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 39 <?page no="40"?> 90 Schmidt: Kognitive Autonomie, S. 83. 91 In diesem Zusammenhang sind neben dem Foucaultschen Diskurs- und Subjektver‐ ständnis auch insbesondere Elemente der »Pastoralmacht« zu nennen. Zur Pastoral‐ macht und ihrer Entwicklung siehe Foucault, Michel: Subjekt und Macht, in: Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Herausgegeben von Defert, Daniel und Ewald, François unter Mitarbeit von Lagrange, Jacques, Frankfurt am Main 2007, S. 81-104, hier: S. 88-90. Darin finden sich auch Erläuterungen zur machtförmigen »Führung«, »Regierung« und »Lenkung des Verhaltens von Individuen und Gruppen: von Kindern, Seelen, Gemeinschaften, Familien, Kranken«, ibid., S. 97. abstrahierend davon, durch zusätzliche beispielorientierte Heranziehung wei‐ terer »Medienangebote« 90 (Siegfried J. Schmidt), werden problematisierte dis‐ kursive Elemente im Umfeld von Pränataldiagnostik und Familienpolitik he‐ rausgearbeitet und über Deskription hinausgehend in einen größeren medienkulturellen Kontext gestellt. Bei aller Pluralität der Vorstellungen und Entwürfe rund um Schwangerschaft ist der Wunsch nach Gesundheit, also der‐ jenigen Gesundheit, die über basales Wohlergehen hinausgeht und nicht selten mit Perfektion (so suggeriert es der Titel Der Traum vom perfekten Kind) ver‐ wechselt wird, als einendes, die gesamte Elternschaft betreffendes Moment ar‐ tikuliert (Unterkapitel 3.1). In Differenz zu bekannten Narrationen, in denen die Exklusivität des Eigenen stolz und abgrenzend betont wird, erscheint die Arti‐ kulation des natürlichen Wunsches nach Gesundheit des Kindes als elternge‐ meinschaftliche Universalie konstruiert. Universalität wird aber dennoch nicht eingelöst. Es werden parallel diskursive Elemente dargeboten, die Eindeutigkeit, Klarheit im Umfeld von Pränataldiagnostik drastisch unterlaufen. Aus diesem Grund werden ferner Argumentationsfiguren und Begründungszusammen‐ hänge im Umfeld pränataler Diagnostik untersucht (Unterkapitel 3.2). Was be‐ deutet es nun aber, wenn vielerorts - sowohl wissenschaftlich in der For‐ schungsliteratur und praktisch in zahlreichen konkreten Beispielen - Unsicherheit integriert und kommuniziert ist? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst unterschiedliche Konfigurationen familienpolitischer Unsi‐ cherheit in unserer Medienkultur herauspräpariert (Unterkapitel 3.3). Anschlie‐ ßend werden die vielfältig zusammenspielenden Kategorien Unsicherheit, Schuld, Ich-Verarmung, Narzissmus und Schamlosigkeit in unserer Medienkultur gemeinsam in Anschlag gebracht (Unterkapitel 3.4). In Anlehnung an den dis‐ kursanalytischen Untersuchungsstil Foucaults 91 kann gefolgert werden: Mütter und Väter verweilen in der Rolle von Gesundheitsminister_innen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbstidentisch die Reziprozität zwischen Gesundheit und Krankheit verdrängen. Dieser Verdrängungsprozess ist unbetrauerbar und politisch. Wie begründet sich aber die Verwendung des Begriffs Gesundheitsmi‐ nister_innen? Minister_innen sind erstens Leiter_innen eines eigenständigen 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 40 <?page no="41"?> Geschäftsbereichs sowie einem übergeordneten Verbund (beispielsweise dem Bundestag) zugehörig und gegenüber diesem auch verantwortlich. Im Franzö‐ sischen und Englischen ist zweitens eine Verbindung zum religiösen Bereich vorhanden. Der ministre du culte und der minister sind Priester, Seelsorger, kurz Geistliche. Das Verb to minister bedeutet gerade dienen, betreuen oder einen Gottesdienst abhalten. Gesundheitsminister_innen üben demnach wie die Re‐ gierungsmitglieder eine (gesundheitliche) Führungsaufgabe aus und sind gleichzeitig einem übergeordneten Ganzen, nämlich den Gesundheitsidealen der Zeit, verpflichtet und verantwortlich. Wie die Priester betreiben sie Fürsorge und Betreuungsarbeit. Dabei dienen sie gleichzeitig einer autoritären Instanz respektive einem nicht zu hinterfragenden Ideal. Zudem sind sie Repräsen‐ tant_innen dieses Ideals und halten Gesundheitsdienste. Die Verleugnung jener konstitutiven Verbindung zwischen Krankheit und Gesundheit in unserer Ge‐ sundheitsmelancholie funktioniert aber nur vermeintlich. Gesundheitsmi‐ nister_innen werden nämlich von einem unbotmäßigen, gärenden Rest einge‐ holt. Dieser Rest zeigt sich in Form vehementer Unsicherheit, von Ich-Verarmung und in der Erfahrung von Schuldgefühlen. Zudem erscheint die Selbst-Thema‐ tisierung der Gesundheitsminister_innen narzisstisch und schamlos. Neben der Kommunikation von Trauer als subversivem Mittel zur Unterbrechung der Ge‐ sundheitsmelancholie wird anhand einiger Sequenzen aus Scrubs die ambivalen‐ te Potenzialität von Lachen konturiert (Unterkapitel 3.5). Kapitel 4 zielt darauf ab zu illustrieren, wie Medien familienpolitische Diver‐ sität / Komplexität / Mehrdeutigkeit und auch deren unterschiedliche Eingren‐ zung herausgehoben arrangieren. Das folgende Kapitel stellt demnach eine me‐ tapraktische Erweiterung derjenigen einschlägigen Studien dar, die Diversität und reduktive Einschränkung im Kontext von Familialität lediglich deskriptiv behandeln. Familiale Mehrdeutigkeit in unserer gegenwärtigen Medienkultur ist bestenfalls tolerante Vielfalt und schlechtestenfalls Oxymorie. Bevor die ge‐ genwärtige medienkulturelle Konfiguration familienpolitischer Vielfalt (und Eingrenzung) anhand verschiedener Medien dokumentiert wird (Unterkapitel 4.2 und 4.3), werden zunächst diejenigen Elemente herausgearbeitet, die auto‐ konstitutiv mit dem Diskursphänomen Familienpolitische Mehrdeutigkeit bis hin zu Oxymorie verbunden sind (Unterkapitel 4.1). Es sind die Elemente Unsicher‐ heit, Sorge und Angst, die für Unbehagen im Kontext von Familialität verant‐ wortlich zeichnen. Inwiefern aber, warum und auf welche Weise erscheint Fa‐ milialität der Gegenwart unbehaglich? Um familiale Malaise charakterisieren zu können, werden Begründungshorizonte im Umfeld von Pränataldiagnostik untersucht und analysiert. Als Grundlage hierfür dienen Erzählungen von El‐ tern und Experten im Dokumentarfilm Am Anfang - Vor der Geburt. Um aller‐ 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 41 <?page no="42"?> 92 Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht, Frankfurt am Main 1977, S. 105. Ich behaupte keinesfalls, dass Frischs Protagonist Walter Faber eine vollends durchsichtige, ambi‐ guitätsfreie und rein rational determinierte Figur ist. Was das Zitat jedoch exemplarisch verdeutlicht, ist die historische Existenz von Positionen, die im Hinblick auf Schwan‐ gerschaftsabbrüche eindeutige Lösungsansätze anbieten. 93 Die Beachtung und Analyse von Schaufenstern als Medien ist nicht neu, siehe etwa Schleif, Nina: Schaufensterkunst. Berlin und New York, Köln u. a. 2004. Neu ist aber der Einbezug eines Schaufenster-Arrangements in Fragen rund um Familienpolitik unter Berücksichtigung neuester Medientheorien. 94 Butler, Judith: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frank‐ furt am Main 2001, S. 127. So ist Antigone für Butler auch keine reine Figur, S. 46. dings einen diskursiven Einblick in familiales Unbehagen der Gegenwart ge‐ währleisten zu können, wird die Objektebene erweitert. Die Gemeinsamkeit der betrachteten Aushandlungen (Artikelüberschriften, Sachtexte und der Roman Angst) besteht darin, dass sie einen konstitutiven Bezug zu familialer Unbehag‐ lichkeit aufweisen. In Links’ Dokumentarfilm (Unterkapitel 4.2) wird Hybridität bei Fragen rund um Schwangerschaft ostentativ visualisiert. Welche filmischen Strategien und welche kommunikativen Elemente ermöglichen die Heraushe‐ bung von Hybridität? Um die familienpolitische Hybridität der Gegenwart in unserer Medienkultur besser fassen zu können, wird Bruno Latours Theorie in seinem Essay Wir sind nie modern gewesen herangezogen. Die von Frischs Pro‐ tagonisten Walter Faber kommunizierte Klarheit, seine eindeutige Positionie‐ rung im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch (»Schwangerschaftsunter‐ brechung: eine Konsequenz der Kultur, nur der Dschungel gebärt und verwest, wie die Natur will« 92 ) ist in unserer gegenwärtigen Medienkultur unter famili‐ entechnologischen Bedingungen unterlaufen. Aber was ist geschehen? - kann mit Latour gefragt werden? Eingetreten ist jene wissenschaftlich vielerorts kon‐ turierte Vermischung von Gegensätzen, die sich metapraktisch auch zeigt. So fokussiere ich im Rückgriff auf neueste Medientheorien auf den existenten, ma‐ nifesten, ja auf den ostentativen Charakter der familienpolitisch ambivalenten Zwischenräume in unserer Medienkultur. Ein interessantes zwischenräumliches Spektakel ist etwa das Schaufenster 93 im Seed Brand Store München. Weiterhin bildet die Babywelt-Messe ( MOC Veranstaltungscenter) eine Topografie mehr‐ deutiger Vielfalt. Die Babywelt-Messe ist somit ein Konzentrat der bunten kon‐ zeptionellen Diversität von Familialität. Diese komplexe Vielfalt zeigt sich gleichfalls, ist demnach augenfällig, ostentativ und herausgehoben. Butler zu‐ folge macht gelebte Familialität in komplexer Daseinsform die Idealität der Norm zunichte 94 . Familiale Komplexität mündet in Entgrenzung und impliziert (produktive) Mehrdeutigkeit. Abschließend (Unterkapitel 4.3) wird problemori‐ entiert ein Kalender mit Texten von der Ärztin Maya Fehling und Illustrationen 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 42 <?page no="43"?> 95 Die Formulierung »dass und wie«, also die Fokussierung auf das Verhandlungssujet als solches und dessen Darstellungsweise habe ich auch bei Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit (S. 161) und bei Diekämper, Julia: Reproduziertes Leben. Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik, Bielefeld 2011 (S. 86), gelesen. Bei Butler ist zu lesen: »Für die Kriegsfotografie geht es also nicht nur um das, was gezeigt wird, sondern auch darum, wie etwas gezeigt wird« (S. 71-72), siehe also Butler: Folter und die Ethik der Fotografie. von der Schauspielerin Ina Gercke zur Veranschaulichung der Manifestationen familienpolitischer Diversität und zur Vergegenwärtigung machtförmiger fa‐ milienpolitischer Reduktionismen herangezogen und analysiert. Dieser Ka‐ lender für das Jahr 2016 stellt »12 Wege zum kindlichen Glück« aus. Kapitel 5 zeigt in Familialität eingeschobenes Konfliktpotenzial, welches strenggenommen dramatisch ist. In den Unterkapiteln wundere ich mich dis‐ kuranalytisch darüber, dass und wie 95 persistent das Funktionieren von Familia‐ lität in unserer Medienkultur unterlaufen wird. Was sich anhand der jeweiligen Medienangebote illustrieren lässt, sind Konfliktfelder in ihren je spezifischen Kontexten. Kälter als der Tod, eine Episode der TV -Krimiserie Tatort entfaltet in mehrfacher Hinsicht Familiendramen (Unterkapitel 5.1). Er fungiert in einer Gesamtsicht als ein Medium, das familiale Problemhorizonte als Problemhori‐ zonte antinormativ verhandelt. Hinsichtlich der Analyse der Tatort-Episode lässt sich gerade kein Fazit formulieren: Weder lassen sich Aussagen über soziale Elternschaft noch über biologisch-leibliche Verwandtschaft machen. Jener schlussfolgernde Gestus bezüglich Familialität ist filminhärent ausgehebelt. Schmerzlich und narratologisch brillant dargeboten ist jedoch Familialität als katastrophales Monster. Familiale Monstrosität beinhaltet Ausgrenzung und Entgrenzung, Gewalt, Idealität, Naturalisierung, Macht, Verschleierung und Maskerade, Verleumdung, Perfektion und Bürgerlichkeit. Es wird filmanalytisch illustriert, dass die Tatort-Episode vordergründig diese Monstrosität als eine chiastisch-antithetische Familienkonstellation inszeniert, die in ihrer Tragik und Drastik verdeutlicht, dass familiale Positionen synchron eben nicht ein‐ deutig bestimmbar sind. Weiterhin zeigt sich, dass fehlende familiale Positio‐ nalität als katastrophal aushandelbar ist. Im Rekurs auf die Butlersche Lé‐ vinas-Lektüre wird die These formuliert, dass die visuelle Darstellung der Familienmitglieder (speziell von Lydia Sanders) deren erfahrenes (Familien)Leid verdeutlicht. Das Gewahrwerden des Gesichts des Anderen ermöglicht die Be‐ rücksichtigung der Verletzlichkeit des Lebens. Das Lévinassche Gesicht (kon‐ notiert mit Verletzlichkeit und Gefährdung) lässt keine direkte Darstellung zu. Wenn einige Familienmitglieder auf den Bildern gerade uneindeutig dargestellt werden - weitere Unschärferelationen sind im Übrigen ebenso inszeniert -, 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 43 <?page no="44"?> dann wird im Scheitern eindeutiger visueller Identifikation das Leid, die Qual und Gefährdung durch den Großvater, der dagegen deutlich konturiert ist, er‐ hellt. Weiterhin ist Kälter als der Tod ein Film über Adoption, soziale Elternschaft, generell über Familialität - wie sie eben nicht funktioniert. Es ist ein Struktur‐ merkmal dieser Tatort-Episode, uneindeutige Perspektiven auf Familialität an‐ zubieten. Es wird kein Familienkonzept (leiblich; sozial; Mischformen) als viabel inszeniert. Die Uneindeutigkeit des Kamerastandpunktes erhöht die Komple‐ xität und vermeidet das Fällen eines endgültigen Urteils. Jeder Schlusskom‐ mentar liefe dem filmischen Spiel facettenreichster Uneinholbarkeit (der Sub‐ jektivierung, Familialisierung, Beurteilung) und Mehrdeutigkeit zuwider. Als vollends inkommensurabel erscheinen familiale Konflikte in unserer Me‐ dienkultur, in denen Frauen ihre eigenen Kinder töten. Ausgelöst respektive motiviert wird die Katastrophe der Kindstötung im Roman Lasse von Ve‐ rena F. Hasel (Unterkapitel 5.2) - so meine These - durch die Kombination einer fehlenden Anrede und einer gewaltvollen Anrede, die die Protagonistin Nina erfahren muss. Ich werde ausführen, dass Kindstötung in diesem Werk ein Re‐ flexionsfeld eröffnet, welches weibliche Intelligibilität der Gegenwart problema‐ tisiert. Der Kindsmord im Roman ist eine Chiffre des Scheiterns einer weiblichen Intelligibilität, die ausschließlich verengt-abhängig ist. Ninas Identität ist inso‐ fern verengt-abhängig, als erst qua Schwangerschaft eine intelligible (nicht minder prekäre) Position eingenommen werden kann. Daneben - so die These - wird im Roman ein Modell der weiblichen Selbstkommunikation und Selbst‐ wahrnehmung problematisierend angeboten, das die verengt-abhängige Intelli‐ gibilität als Bedingung auch der Selbstanerkennung vollends internalisiert hat. Der Roman Lasse erweist sich nicht zuletzt wegen der dargebotenen Destruktion biologisch-leiblicher Vaterschaft als äußerst spannend. Jene Destruktion ist aber nicht als Emanzipation von biologistischen Familienkonzepten, sondern als Flucht vor Verantwortung zu verstehen. Das Schlusskapitel 6 resümiert die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Daneben wird noch einmal abschließend und zusammenfassend die Re‐ levanz der antipräskriptiven Beobachtung und Analyse von anekdotischen, eher ›läppischen‹ Medienereignissen im Umfeld von Familialität illustriert. Anhand einer Begebenheit auf einem Spielplatz kann gezeigt werden, dass beim Durch‐ spielen von Familie zwangsläufig auf akzeptierte Rollenmuster zitathaft zu‐ rückgegriffen wird und folglich von familialer Beliebigkeit nicht die Rede sein kann. Eine an Voraussetzungen gebundene familiale Variabilität in unserer Me‐ dienkultur ist aber beobachtbar und lebbar. Darüber hinaus erfolgt in Ausei‐ nandersetzung mit einer jüngeren Faust-Inszenierung eine kompakte und bei‐ spielorientierte Umsetzung der hier entwickelten neuen Methodologie. Es ist 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 44 <?page no="45"?> nicht zuletzt das Anliegen der vorliegenden Studie, einmal zu exemplifizieren, was mit einer solchen Herangehensweise möglich ist. 0. Impressionen in situ - Konturierung der Fragestellung 45 <?page no="46"?> 1 Aus Gründen der besseren Lesefreundlichkeit werde ich im Forschungsüberblick die Seitenzahlen im Fließtext anführen - sofern diese sich mehrfach hintereinander auf die gleiche Forschungsarbeit beziehen. 2 Landweer, Hilge: Das Märtyrerinnenmodell. Zur diskursiven Erzeugung weiblicher Identität, Pfaffenweiler 1990. Zur historischen Formierung von Mutterliebe siehe auch Schütze, Yvonne: Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters »Mutter‐ liebe«, 2., unveränd. Aufl. Bielefeld 1991; Badinter, Elisabeth: Die Mutterliebe. Ge‐ schichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, 3. Aufl. München und Zürich 1996. Zu Väterlichkeit siehe beispielsweise Drinck, Barbara: Vatertheorien. Geschichte und Perspektive, Opladen 2005. 1. Forschungsüberblick und Positionierung Im nun folgenden Forschungsüberblick 1 werden diejenigen Arbeiten vorgestellt, die für das vorliegende Projekt heuristisch wichtig sind, an die ich also an‐ knüpfen kann oder von denen ich mich verschiedentlich abgrenze. Hier wird ein separater Forschungsüberblick gegeben, damit basale Zusammenfassungen im Hauptteil sich vermeiden lassen. Hilge Landweer zeigt diskursanalytisch in ihrer Monografie Das Märtyrerin‐ nenmodell 2 , wie sich seit dem 18. Jahrhundert allmählich ein Rollenmuster he‐ rausgebildet hat, nach dem Mütter durch einen Gestus des Sichaufopferns in vielfältigen Formen zu charakterisieren sind. »Anders als die männlichen - historischen oder politischen - Märtyrer, die sich da‐ durch auszeichnen, sich für die ganze Gesellschaft oder für Ideale aufzuopfern, opfern sich Märtyrerinnen in erster Linie für ihre ›Familien‹ - Söhne, Töchter, und nicht zu vergessen: Männer. […] Märtyrerinnen sind nichts als Mütter - faktisch oder symbo‐ lisch« (S. 72-73). Ferner arbeitet sie heraus, wie Mütterlichkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker der Weiblichkeit zugeschrieben wird (S. 96), wobei weibliche In‐ dividualität aufgrund der Relationalität eher als »Dividualität« zu bezeichnen ist (S. 133). Historisch ist eine sukzessive Verschärfung der Anforderungen an die Mutter festzustellen, eine Steigerung ihrer Verantwortung, eine Ausweitung der Arbeit in direktem Bezug zum Kind (S. 98) und zum Fötus (S. 124). Die Arbeit von Landweer ist im Hinblick auf die vorliegende Studie von Interesse, weil die von dort profilierte Figur der Märtyrerin als Analysekategorie gegenwärtiger Problemhorizonte von Mütterlichkeit verwendet werden kann. Die identitäts‐ <?page no="47"?> 3 Samerski, Silja: Die verrechnete Hoffnung. Von der selbstbestimmten Entscheidung durch genetische Beratung, Münster 2002. 4 Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 158. 5 Kneuper, Elsbeth: Mutterwerden in Deutschland. Eine ethnologische Studie, Münster 2004, S. 219. stiftende Verschränkung von Mütterlichkeit und Weiblichkeit wird als tödliches Krisenphänomen etwa im Roman Lasse (siehe Unterkapitel 5.2) inszeniert. Silja Samerski fokussiert in Die verrechnete Hoffnung 3 auf die neuen Ent‐ scheidungssituationen, die sich durch die genetische Beratung ergeben. Sie zeigt, wie die bis ins 20. Jahrhundert existente Bedeutung von entscheiden im Sinne von »klären«, »bestimmen«, »verfügen« und »urteilen« sich seit den sechziger Jahren verschoben hat. So kann die allgemeine Bedeutung von Ent‐ scheidung nunmehr als »Wahl zwischen Möglichkeiten« verstanden werden (S. 87). Samerski zeichnet eine genetikbezogene Logik nach, die Hoffnung durch eine abstrakte Form des Wissens obsolet erscheinen lässt (S. 17-18). Die Thesen Samerskis sind für die hierher gehörende Fragestellung insofern bedeutend, als aktuell jene von ihr problematisierte Kategorie der Entscheidung im Kontext von Familienpolitik virulent und durchaus auch leidvoll verhandelt wird. Hanna Meißner konturiert besonders mit Blick auf Butler und Foucault »Ge‐ nerativität als historisches Dispositiv« 4 , wobei der Begriff Generativität ihr zu‐ folge allgemein als Sorge um nachwachsende Generationen (S. 156, Fußnote 3) zu verstehen ist. Generativität ist durch den funktionalen Imperativ der Opti‐ mierung des Menschen vorgeprägt (S. 163) und konstituiert sich gerade durch eine »Naturalisierung vermeintlicher Notwendigkeiten des Lebens« (S. 156-157). Zusammenfassend konzeptualisiert sie Generativität als ein mul‐ tidimensionales dispositives Gebilde, in dem jedweder sorgende Beziehungszu‐ sammenhang zum Nachwuchs normativ reguliert ist (S. 163-164). Die disposi‐ tive Erfassung von Optimierungsimperativen und Phänomenen der Sorge, allesamt häufig zu beobachten, unterstützt die auch hier zugrunde liegende An‐ nahme der Potenzialität zur (Norm)Veränderung. Meißner fokussiert demnach theoretisch auf ein dispositives Ordnungsschema der Sorge im Kontext von Re‐ produktion, welches hervorgebracht und wandelbar ist. Überwachung und Risiko von Schwangerschaft werden von Elsbeth Kneuper korrelativ in Anschlag gebracht: »Die Vorstellungen der Schwangeren von der Geburt sind gerade durch die engmaschige Überwachung des schwangeren und des kindlichen Körpers heute mehr denn je von Risiken geprägt.« 5 Dabei ver‐ weist die Autorin ferner auf die Reglementierung des Alltags durch Fokussie‐ rung auf Gesundheit (S. 195). Die Feststellung der alltagsbestimmenden Norm der Gesundheit im Umfeld von Familienpolitik erweist sich als äußerst wichtig 1. Forschungsüberblick und Positionierung 47 <?page no="48"?> 6 Wülfingen: Genetisierung der Zeugung. 7 Sie untersucht populärwissenschaftliche Werke, Berichte politischer Gremien sowie vor allem deutsche Printmedien, ibid., S. 77. Daneben bezieht sie beispielsweise auch Ge‐ setzestexte oder Richtlinien in ihre Studie mit ein, ibid., S. 80. 8 Eine knappe Zusammenfassung des dialektischen Beziehungsgefüges zwischen Szena‐ rien der Befreiung von der (eigenen) Natur und deterministisch-genetischen Konzepten findet sich in von Wülfingens Arbeit, ibid., S. 222-223. für die vorliegende Arbeit. Im Unterschied zu bisherigen Annahmen verfolge ich allerdings, ausgehend von einem disparaten Mediensyntagma, eine qualita‐ tive Einordnung und über Deskription hinausgehende Profilierung der prekären Einkapselung von Gesundheit in Familialität. Eingangs habe ich Sheldons Persiflage (The Big Bang Theory) eines einseitigen Gendeterminismus aufgezeigt (»Wir begehen einen genetischen Betrug. Es gibt keine Garantie, dass unsere Spermien hochintelligente Nachkommen hervor‐ bringen. Denk doch mal nach. Ich hab eine Schwester mit ziemlich derselben DNA -Mischung und sie serviert Fastfood«). Nichtsdestotrotz - eine Persiflage benötigt eine Folie. Dies ist hier nun gerade die Folie der Genetisierung der Zeu‐ gung 6 , die von Wülfingen herausarbeitet. Das Ziel ihrer Untersuchung ist es, zu zeigen, ob und wie seit Ende der 1990er Jahre diskursive Veränderungen ein‐ treten, die Sterilität normalisieren (S. 12). In ihrer an Foucault angelehnten ar‐ chäologischen Beobachtung der Veränderungen der Darstellungsweise Neuer Reproduktionstechnologien im Hinblick auf Infertilität und Fertilität (S. 15) geht es ihr weniger um harte Fakten als um faktenschaffende Möglichkeiten auf‐ grund von Visionen und Fiktionen (S. 9-10). Die Objektebene speist sich aus »Texte[n] in deutschen Publikumsmedien von 1995 bis 2003 […], die den An‐ gaben nach von Experten und Expertinnen aus dem Gebiet der Gen- und Re‐ produktionstechnologie stammen« 7 (S. 15). Sie zeigt u. a., wie es ab ca. 1998 in dem von ihr betrachteten Material verstärkt um Befreiung von Zwängen im Kontext von neuen Reproduktions- und Gentechnologien - im Unterschied zur Heilung - geht (S. 107). Als besonders bedeutsam erweist sich auch ihre Fest‐ stellung, dass Reproduktionsprozesse zunehmend ärztlich begleitet werden (S. 248). Von Wülfingens Metaphernanalyse hat ergeben, dass die Diskurs‐ stränge ›Unfreiheit durch naturgegebene Bedingungen‹ und ›Befreiung durch Neue Reproduktions- und Gentechnologien‹ zentrale Verhandlungsmomente sind (S. 108). Nur durch gesetzte respektive angenommene Biologisierung er‐ halten Neue Gen- und Reproduktionstechnologien den Status von ›Befreiungs‐ technologien‹ (S. 107). 8 Der sich manifestierende Argumentationsgang wird als dialektisch konturiert (S. 306). Ihre Studie ist von Interesse, weil sie den Stel‐ lenwert von Visionen und Fiktionen zum Ausdruck bringt sowie Strategien der 1. Forschungsüberblick und Positionierung 48 <?page no="49"?> 9 Ibid., S. 48. So heißt es: »[I]n dieser Analyse [wird] als existent, ernst zu nehmen und materiell realitätsverändernd erachtet, was diskursiv präsent ist.« 10 Die Autorin formuliert diese Zielsetzung im Rückgriff auf Philippe Ariès, ibid., S. 20, S. 24. Im zusätzlichen Rekurs auf Foucault fasst sie ihre Ausgangsthese wie folgt zu‐ sammen: »Diese Arbeit folgt mit Ariès und Foucault der Ausgangsthese, dass neue Denkbarkeiten entstehen, indem bisher vertraute Diskursstränge miteinander auf neu‐ artige Weise verknüpft werden«, ibid., S. 55. 11 Diekämper: Reproduziertes Leben, S. 40. Mit Diekämper ist davon auszugehen, dass »Phänomene der Gegenwart« (S. 128) diskursanalytisch dargestellt werden können. Zu diesem Themenkomplex siehe ihre problemorientierte Auseinandersetzung, ibid., S. 127-129. 12 Die Autorin resümiert: »Der Untersuchung liegt folglich die These zugrunde, dass nicht die Biowissenschaften an sich den Blick auf die Menschen verändern. Stattdessen sind es die öffentlichen Aushandlungen, die Normen bestimmen, sie wiederholen und ver‐ ändern und so aktuelle Anerkennungsverhältnisse neu ordnen«, ibid., S. 19. Zur Rolle der Medien in Aushandlungsprozessen siehe auch ibid., S. 84-87. Naturalisierung berücksichtigt. Mit der Autorin ist davon auszugehen, dass das, »was diskursiv präsent«, auch »ernst zu nehmen« 9 ist. Während von Wülfingen auf eine »Untersuchung neuer Denkbarkeiten« 10 (S. 23) abzielt, geht es mir um die Untersuchung von Elementen, die medial zeigbar sind. In deutlicher Diffe‐ renzsetzung zu von Wülfingens Arbeit fokussiere ich aber gerade auf eine wei‐ tere, funktional bestimmte Objektebene. Die hier erarbeitete mediensyntagma‐ tische Haltung konzentriert sich nicht vorweg auf Aushandlungen in Publikumsmedien und von Expertenstimmen. Die kulturwissenschaftliche Medienanalyse Reproduziertes Leben. Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik (2011) von Julia Diekämper fokussiert innerhalb einer klar abgegrenzten Objektebene diskursanalytisch auf ein zeit‐ lich und räumlich definiertes medial Sagbares: »Ich untersuche, was zu einer bestimmten Zeit (1995 bis 2010) an einem bestimmten Ort (Printmedien) an‐ lässlich von bestimmten Ereignissen (im weiteren Sinne: Reproduktionstech‐ nologien) sagbar war.« 11 In Auseinandersetzung mit Diekämpers Arbeit lassen sich nun explizit methodologische Säulen herauspräparieren, die meine Studie mit bereits existierenden kultur- und medienwissenschaftlichen Arbeiten teilt bzw. mit denen die vorliegende medienkulturwissenschaftliche Untersuchung andere und neue Wege geht. Wie Diekämper gehe ich davon aus, dass »Medien als Reflektions- und Initiationsorgan eine markante Schlüsselposition zu[kommt]« (S. 21). Ebenso ist ihrer Auffassung, dass mediale Aushandlungen Normen hervorbringen (S. 20), vollends zuzustimmen 12 . Daneben verweist die Autorin auf machtförmige Kräfteverhältnisse im Reproduktionsdiskurs (S. 21). Wenn sie ankündigt, »ganz vom Material auszugehen« (S. 20), dann ist darin wohl eine Ähnlichkeit mit meiner Analyse von »Impressionen in situ« auszu‐ 1. Forschungsüberblick und Positionierung 49 <?page no="50"?> 13 Ibid., S. 42. Betont werden soll, dass ich keine Kritik an Diekämper übe. Die Autorin betont ja gerade, dass nicht nur Printmedien über Biomedizin berichten, ibid., S. 44. Der hier vorliegende Ansatz ist schlichtweg in Teilen anders. 14 Ibid., S. 157, zu medialen Zeigeprozessen ibid., beispielsweise S. 241-242. Daneben spricht auch Diekämper von medialen, ereignisorientierten Schauplätzen, ibid., S. 219. Im Unterschied dazu habe ich allerdings das Verständnis vom Medium als ereignis‐ konstituiertem Schauplatz theorieorientiert im Anschluss an die Studie Das Erscheinen des Mediums von Martin Mann entwickelt. machen. Diekämpers »Grundannahme«, »dass es keine klare Trennlinie […] zwischen einer ›reinen‹ Wissenschaft und der in den Printmedien auftauchen‐ den vermeintlichen Populärwissenschaft [gibt]« (S. 15), liegt auch der vorlie‐ genden Untersuchung zugrunde. Und dennoch: Meine medienkulturwissen‐ schaftliche Haltung kann (in deutlicher Differenz zu Diekämpers Studie) auf keine homogene Objektebene fokussieren, schon gar nicht sich auf Printmedien beschränken. Der größte Unterschied besteht darin, dass in meiner Kopplung von Medienkulturwissenschaft und diskursanalytischen Werkzeugen nicht aus‐ sagenorientiert vorgegangen wird. Denn zu der zitierten Untersuchung »liefern Aussagen das Rohmaterial, weil sie die Möglichkeit einer systematischen Dar‐ stellung diskursiver Strategien bieten.« 13 Hier dagegen soll es nicht darum gehen, dass »sich in den manifesten Sagbarkeiten (und Unsagbarkeiten) Normen ablesen lassen« (S. 104), sondern darum, dass disparate mediale Manifestationen herausgehoben, arrangiert-verdichtet, letztlich ostentativ Familienpolitik zeigen. Anders formuliert: Nicht »[m]ediale Sagbarkeit« (S. 26), sondern mediale Zeigbarkeit interessiert hier. Zwar gibt es sicherlich Interpenetrationszonen zwischen medialer Zeigbarkeit und Sagbarkeit - so formuliert Diekämer: »Exemplarisch zeigt sich anhand der Medien dann etwa, was zu einer be‐ stimmten Zeit sagbar ist.« 14 Wenn Diekämper jedoch einigermaßen verwundert festhält, dass die »diskursiven Nebenwirkungen der Pille […] sogar bis in die Unterhaltungsindustrie hinein[wirkten]« (S. 56) und ein Lied als Beispiel dafür zitiert wird, dann frage ich mich schon, was daran - zumindest vor dem Hin‐ tergrund eines funktionalen Medienbegriffs - denn nicht zu erwarten war, so suggeriert es zumindest das Adverb sogar. Zeigbarkeit ist in der vorliegenden Arbeit funktional und unstornierbar an (disparate) Medien in dem für unsere Medienkultur als charakteristisch anzunehmenden Mediensyntagma gebunden. Auch in Diekämpers Arbeit ist zu lesen, dass printmediale Medienbeiträge etwas »veranschaulichen« (S. 166) und »Debatten« unterschiedliche Wahrneh‐ mungen sichtbar machen (S. 165). In meiner Studie sind aber die Zeigbarkeiten strikt methodologisch grundiert, an neue Medientheorien, an ein Mediensyn‐ tagma und an Medienkultur gebunden. 1. Forschungsüberblick und Positionierung 50 <?page no="51"?> 15 Rapp, Rayna: Testing Women, Testing the Fetus. The Social Impact of Amniocentesis in America, New York und London 1999. 16 Villa, Paula-Irene; Moebius, Stephan; Thiessen, Barbara (Hrsg.): Soziologie der Geburt. Diskurse, Praktiken und Perspektiven, Frankfurt am Main und New York 2011. 17 Villa, Paula-Irene und Thiessen, Barbara (Hrsg.): Mütter - Väter: Diskurse, Medien, Praxen, Münster 2009. 18 Wulf, Christoph; Hänsch, Anja; Brumlik, Micha (Hrsg.): Das Imaginäre der Geburt. Praktiken, Narrationen und Bilder, München 2008. Zur Bedeutung von Narrationen in Bezug auf Reproduktionstechnologien siehe auch Ettore, Elizabeth: Experts as ›story‐ tellers‹ in reproductive genetics: exploring key issues, in: Sociology of Health & Illness 5 (1999), S. 539-559. 19 Wulf, Christoph u. a. (Hrsg.): Geburt in Familie, Klinik und Medien. Eine qualitative Untersuchung, Opladen und Farmington Hills 2008. Die Überlegungen von Rapp fungieren als symptomatische Belege für (all) die wissenschaftliche Konturierung von Kontextualität (und all ihren Varianten wie Situativität, Interpretativität etc.) im Umfeld von Reproduktion. Es war Rayna Rapp, die mit Testing Women, Testing the Fetus 15 eine Untersuchung vor‐ gelegt hat, in der intervieworientiert facettenreichste, kontextbasierte, glau‐ bensspezifische, multiperspektivische, lokale und globale, kategorienabhängige (unter anderem class, age, gender) Diversität, Komplexität, Verflechtung, Diffe‐ rentialität bei Fragen rund um die Anwendung von Fruchtwasserpunktion be‐ leuchtet wird. So konstatiert sie: »To understand each negotiation, we would need a different, fuller context within which to situate the meaning of this particular pregnancy in light of community va‐ lues, reproductive histories, and the trajectory of each particular woman and her partner. Such a grounding would provide more ample space for examining the con‐ tradictory social relations and limits each pregnant woman faces, and the constrained agency she exercises in her reproductive choices« (S. 100). Dabei fokussiert sie auf Entscheidungsprozesse sowie verschiedene Grenzzie‐ hungen und fragt nach den basalen Konstitutionsbedingungen für die Notwen‐ digkeit entschiedenen Grenzziehens. Die Bedeutung etwa von Kontextualität, Situativität oder Interpretativität bei Fragen rund um Familie kann nicht über‐ schätzt werden. Dennoch gehe ich über die (bloße) Feststellung und Einforde‐ rung von Kontextualität, Situativität oder Interpretativität deutlich hinaus, indem ich mithilfe eines erkenntnisleitenden Medienbegriffs zeige, dass Kon‐ textualität in unserer Medienkultur ostentativ vorliegt. Insgesamt betrachtet erweisen sich die jüngeren Sammelbände Soziologie der Geburt. Diskurse, Praktiken und Perspektiven 16 ; Mütter - Väter: Diskurse, Medien, Praxen 17 ; Das Imaginäre der Geburt. Praktiken, Narrationen und Bilder 18 und Geburt in Familie, Klinik und Medien. Eine qualitative Untersuchung 19 sowie 1. Forschungsüberblick und Positionierung 51 <?page no="52"?> 20 Nusser: Reproduktionstechnologien. 21 Thiessen, Barbara und Villa, Paula-Irene: Mütter und Väter: Diskurse - Medien - Praxen. Eine Einleitung, in: Mütter - Väter, S. 7-21, hier: S. 14. 22 Bergermann, Ulrike; Breger, Claudia; Nusser, Tanja (Hrsg.): Techniken der Reproduk‐ tion. Medien - Leben - Diskurse, Königstein im Taunus 2002. 23 Bergermann, Ulrike; Breger, Claudia; Nusser, Tanja: Einleitung, in: Techniken der Re‐ produktion, S. 7-14, hier: S. 7. 24 Bernard, Andreas: Kinder machen. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie, Frankfurt am Main 2014. Tanja Nussers Monografie »wie sonst das Zeugen Mode war«. Reproduktionstech‐ nologien in Literatur und Film 20 als echte Meilensteine, insofern als dort diskur‐ sive, kulturell-symbolische, narrative, historisch-gesellschaftliche, rituelle, pra‐ xisbezogene und mediale Aspekte sowie ihre Verschränkungen beleuchtet und interpretiert werden. Barbara Thiessen und Paula-Irene Villa heben beispiels‐ weise hervor, dass TV -Formate wie nachmittägliche Talkshows »alles andere als unseriöse populärkulturelle Details« 21 sind. Explizit führt auch der Sammel‐ band Techniken der Reproduktion. Medien - Leben - Diskurse 22 »aktuelle bio‐ technologische und biopolitische Entwicklungen mit kultur- und medienwis‐ senschaftlichen Diskursen zusammen, die sich mit der Reproduktion von Texten und Identitäten befassen.« 23 Die jüngst erschienene Monografie Kinder machen 24 von Andreas Bernard fokussiert auf die Geschichtlichkeit assistierter Empfängnis und bezieht Literatur (Huxley: Schöne neue Welt, Zola: Fruchtbarkeit, Goethe: Die Wahlverwandt‐ schaften etc.) und Filme (etwa Cholodenko: The Kids Are All Right) in den Deu‐ tungshorizont mit ein. Dabei geht der Autor von familialer Kontinuität aus: »Die mit Unterstützung der Reproduktionstechnologien entstandenen Familien sind schlichtweg die zeitgenössische Ausprägung eines traditionellen Lebensmo‐ dells« (S. 482). Besonders beeindruckend erscheint mir die Berücksichtigung des topografischen Arrangements in Samenbanken: »In allen Samenbanken und Reproduktionszentren […] ist dieses Masturbations-Ensemble nahezu identisch zusammengestellt. Es ruft in Erinnerung, dass auch der leidenschaftslosesten, maschinellsten Gewinnung des männlichen Ejakulats so etwas wie Erregung des Mannes vorangehen muss« (S. 99). Bernards Arbeit ist von Bedeutung, weil durchwegs auf das historische Gewordensein von Familialität fokussiert wird. Ferner berücksichtigt sie mediale und räumliche Aushandlungen, ohne kultur‐ pessimistisch zu verfahren. Meine Studie stellt dennoch eine Erweiterung dar, indem topographische Arrangements wie etwa ein Messe-Aufbau stärker in das Mediensyntagma der Familialität integriert werden. 1. Forschungsüberblick und Positionierung 52 <?page no="53"?> 25 Dreysse: Mutterschaft und Familie. Die vorliegende Arbeit kann an die im vorigen Abschnitt erwähnten Sam‐ melbände und Monografien in ihren sicherlich unterschiedlichen Schwerpunkt‐ setzungen deutlich anknüpfen, besonders aufgrund von deren Betonung dis‐ kursiver, medialer, kulturell-symbolischer, kurz performativer und konstruktiver Momente im Kontext von Familialität. Diese Arbeiten sind dem‐ nach grundlegend für mein Forschungsvorhaben. In diesem Zusammenhang soll auch auf die sehr wesentliche theater- und kulturwissenschaftliche Studie Mut‐ terschaft und Familie. Inszenierungen in Theater und Performance 25 von Miriam Dreysse, die ebenfalls Judith Butler heranzieht, verwiesen werden. Die Autorin verfolgt das Ziel, »Inszenierungen von Mutterschaft, Familie und Verwandt‐ schaft in der visuellen Kultur und den darstellenden Künsten der Gegenwart zu untersuchen« (S. 24). Ihre Studie zeichnet sich durch ein in mehrfacher Hinsicht facettenreiches Korpus aus: »Die Arbeit analysiert Inszenierungen von Mutterschaft und Familie in der zeitge‐ nössischen Kultur. Künstlerische Diskurse wie Theater, Tanz, Performance und bil‐ dende Kunst begreift sie als Teil der kulturellen Praxis, die Gesellschaft begründet. Sie geht mithin von einem kulturwissenschaftlichen Ansatz aus, demzufolge Gesellschaft als ein plurales Ensemble von Diskursen gesehen wird, die als Texte zu lesen und analysieren sind. Künstlerische Praktiken oder theoretische Texte haben diesem Ver‐ ständnis nach grundsätzlich denselben Stellenwert wie alltägliche oder massenme‐ diale Praktiken; […] Kultur wird als ständiger, performativer Prozess verstanden« (S. 25). Aufgrund der Betrachtung verschiedener Medien erfolgt in Dreysses Untersu‐ chung das Gewahrwerden einer »Medienspezifik des Mutterbildes« (S. 17). Die Autorin verweist darauf, dass das Theater im 18. Jahrhundert einen Sonderstatus im Hinblick auf Mutterfiguren besitzt. Im Unterschied zur Präsenz idealer Mut‐ terbilder in der bildenden Kunst, erscheint die Mutter in bürgerlichen Trauer‐ spielen bestenfalls randständig (S. 16). Diese Diskrepanz hängt Dreysse zufolge möglicherweise mit einer Ineinssetzung von Mutter und Natur zusammen, »die sie aus der symbolischen Ordnung ausschließt, und die zwar mit den Mitteln der bildnerischen Gestaltung, nicht aber im Medium des handlungs- und sprach‐ basierten Sprechtheaters darstellbar ist« (S. 150). Als Gemeinsames zwischen diesen beiden Medien werden Darstellungskonventionen, die der ersichtlichen Repräsentation entgegenlaufen (S. 200), ausgemacht. Mit Blick auf die Gegen‐ wart beobachtet die Autorin ein werbespezifisches Arrangement von Müttern und Vätern: »Während Mutterfiguren in der Werbung für Baby- und Kinder‐ 1. Forschungsüberblick und Positionierung 53 <?page no="54"?> 26 Lange und Alt verweisen darauf, dass »sich das Doing Family nicht immer zielgerichtet und intentional, sondern häufig beiläufig [vollzieht].«, Lange und Alt: Die (un-)heim‐ liche Renaissance von Familie im 21. Jahrhundert, S. 35. Zur Alltäglichkeit der Konfi‐ guration von Behinderung siehe Titchkosky, Tanya: Reading and Writing Disability Differently. The Textured Life of Embodiment, Toronto u. a. 2007, S. 137. produkte sowie Haushaltswaren inszeniert werden, kommen Vaterfiguren bei‐ spielsweise in der Kfz-Werbung vor, wenn ein Auto als Familienauto vermarktet werden soll« (S. 39). Sie zeigt anhand zahlreicher Beispiele die künstlerische Inszenierung pluraler und vielfältiger Familienformen. Inwiefern stellt nun mein medienkulturwissenschaftlicher, mediensyntag‐ matischer Ansatz eine methodologische und heuristische Erweiterung dar? Geht doch schon Dreysse davon aus, dass »Medien […] für die Alltagspraxis eine zentrale Rolle [spielen], gerade auch solche medialen Bilder, die Teil der Alltagsrealität sind, aber nur beiläufig rezipiert werden, wie etwa die Werbung« (S. 17). Sie untersucht u. a. »visuelle Konstruktionen von Mutterschaft in der gegenwärtigen populären Kultur«, wobei »Beispiele aus der kommerziellen Werbung, der Ratgeberliteratur sowie der politischen Kommunikation« (S. 17) herangezogen werden. Besonders beeindruckend ist auch Dreysses Berücksich‐ tigung der Geschichte eines geschlechtlich codierten Dingobjekts, nämlich des Puppenhauses (S. 249). Dreysse macht zwar theoretisch keine Rangunterschiede zwischen unter‐ schiedlichen Medien. Tatsächlich aber unterscheidet sie sehr wohl zwischen Kunst, die ihr zufolge dekonstruieren kann, und Manifestationen aus der Wer‐ bung, die beispielsweise Geschlechterrollenmuster bestätigen und verstärken: »So einseitig Bilder von Mütterlichkeit in der Werbung und der Ratgeberlite‐ ratur diese darstellen, so ambivalent und vielseitig wird Mutterschaft in den Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen inszeniert.« (S. 116) Der hier präfe‐ rierte Ansatz ermöglicht über die Annahme einer Medienkultur eine noch wei‐ tergehende Beobachtung von in gelebter Beiläufigkeit 26 verschachtelten medi‐ enkulturellen familienpolitischen Manifestationen der Gegenwart, indem hier andere Medien (etwa Babywelt-Messe, Kalender, Schaufenster, Nachrichtensen‐ dung etc.) zusammengestellt und schlichtweg funktional betrachtet werden. Die einzige Vorverabredung, und zwar funktional, ist die Annahme, dass es sich bei den beobachteten Manifestationen um mediale handelt. Indem hier von Medi‐ enkultur gesprochen wird, kann der ›kulturelle Ruf‹ der jeweiligen Medien leichter storniert werden. Dreysse geht zwar expressis verbis davon aus, dass künstlerische Praktiken, theoretische Texte und alltägliche oder massenmediale Praktiken den gleichen Stellenwert haben (S. 25). ›Hinterrücks‹ werden doch aber die Medienangebote mit kulturellem Wert versehen, wenn rhetorisch dif‐ 1. Forschungsüberblick und Positionierung 54 <?page no="55"?> 27 Siehe hierzu etwa folgende Feststellung: »Auch im Fall des Theaters gilt: Häufig lassen sich stereotype Muster beobachten, die gerade bei der Inszenierung von Mutterfiguren zu greifen scheinen«, Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 15; ebenso S. 348, oder auch mit Blick auf rassistische Klischees ibid., S. 233 28 Ibid., S. 27. ferenziert wird in »künstlerische Praktiken« oder »massenmediale Praktiken«. Der hier vorgeschlagene funktionale Medienbegriff im Mediensyntagma unter‐ läuft die Ordnung von Dreysse, in der ein Unterschied zwischen Alltagskultur und Kunst entgegen erklärten Absichten letztlich doch aufrechterhalten wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die rhetorische Einordnung in »künstlerische Praktiken« oder »massenmediale Praktiken« folgenreich ist. Ist es da nicht unvoreingenommener, ergebnisoffener, antipräskriptiver, von Medienkultur zu sprechen? Ich bevorzuge eine antipräskriptive(re) Erfassung von Medien in der Medienkultur (etwa eines Kalender als Medium, der Baby‐ welt-Messe als Medium, von Werbung als Medium) in Abgrenzung zu doch in‐ stitutionalisiert aufgefächerten Klassifikationen wie beispielsweise »popu‐ läre[r] Kultur«, bildende[r] Kunst« oder »Performance-Kunst« (S. 17). Zwar gehe ich ebenso wie Dreysse von kulturellen Ambivalenzen (beispiels‐ weise S. 10, S. 14), von familienbezogener Vielfalt und Stereotypen (S. 48), vom politischen Charakter von Familialität (S. 9), von Widersprüchlichkeit (S. 113), von der Herstellung im Sinne des »Doing Family« (S. 12), von Historizität (S. 14) und von Naturalisierungs- und Entnaturalisierungstendenzen (S. 9) aus, diffe‐ renziere jedoch funktional nicht zwischen »stereotype[r] Darstellung oder aber dem offensichtlichen Spiel mit stereotypen Familienbildern« (S. 17). Vielmehr soll im Rückgriff auf neueste Medientheorien funktional von medialen Osten‐ tationen (die bei Werbung und Theater strukturäquivalent sind) und im medi‐ enkulturwissenschaftlichen Rekurs auf Diskursanalyse von medienkulturellen Zeigbarkeiten (völlig unabhängig von Dekonstruktion und Reproduktion) die Rede sein. Damit sollen die Verdienste der Arbeit von Dreysse keineswegs in Abrede gestellt werden. Zugutezuhalten ist ihr, dass sie keine einseitige Ver‐ knüpfung von Theater und Dekonstruktion vornimmt 27 , aber gewahrt bleibt doch eine Vorrangstellung bestimmter institutionalisierter Medien, wenn kom‐ muniziert wird: »Der Raum des Theaters bietet die Möglichkeit, zwingende Wiederholungen von Identität zu verfehlen und aufs Spiel zu setzen und auf diese Weise naturalisierte An‐ nahmen über Mutterschaft und Familie zu dekonstruieren.« 28 Führen nicht auch andere, bisher in ihren ostentativen Funktionen weniger beachtete Medien (wie etwa eine Messe) »die historische, diskursive und immer 1. Forschungsüberblick und Positionierung 55 <?page no="56"?> 29 Ibid., S. 252. Dreysse bezieht sich hier auf Familienbande von Lola Arias. 30 Siehe erneut: »Medien phänomenalisieren, sie machen wahrnehmbar«, Krämer: Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? , S. 25. 31 Siehe hierzu etwa Pitzke, Mark: Donald Trumps Pressekonferenz »Ihr seid Fake News! «, in: http: / / www.spiegel.de/ politik/ ausland/ donald-trump-gibt-pressekonferenz-ihr-seid-fake-news-a-1129595.html (zuletzt aufge‐ rufen am 04.02. 2017). auch heterogene Konstruktion von Familie vor Augen« 29 ? Die Frage nach einer möglichen medialen Dekonstruktion und / oder Reproduktion von Stereotypen wird in meinem Ansatz nicht anhand des jeweiligen Mediums entschieden. Dieses macht (lediglich oder bzw. überhaupt erst) wahrnehmbar 30 . Die Frage nach Dekonstruktion oder Reproduktion wird schlichtweg an die Medienkultur delegiert. Damit geht einher, dass antipräskriptiv Qualifikationen vom Medium weg an die Medienkultur abgegeben werden. Diese Tage um den Jahreswechsel 2016 / 17 sind von Diskussionen um Fake News im Internet und der pauschalen Diffamierung der ›vierten Gewalt‹ als »Lügenpresse« geprägt. Innerhalb eines poststrukturalistischen Designs kann es zwar bestenfalls um ein mehr oder we‐ niger wahr gehen, gleichfalls leugne ich nicht die Feststellbarkeit der Falschheit bestimmter Aussagen. Jede diesbezügliche Feststellbarkeit lässt sich aber erst im Nachgang verorten, im medienkulturellen Nachgang. Das Medium spricht nicht aus: »Ich bin eine Fake News«. Der zu diesem Zeitpunkt noch designierte US -Präsident Donald Trump klassifiziert schlichtweg in einer Pressekonferenz den Fernsehsender CNN als »Fake News« 31 . Hätte das Medium interne Mecha‐ nismen zur (Selbst)Klassifikation als Falschnachricht oder Wahrnachricht (gleichsam zur Dekonstruktion oder Reproduktion) würde eine solche Behaup‐ tung überflüssig. Dass sie dies nicht ist, zeigt eindrucksvoll das Beispiel der deutschen Politikerin Renate Künast, die sich auf dem Rechtsweg gegen eine Falschnachricht zur Wehr setzen muss. Das folgende Zitat ist eine Nachricht über die Falschnachricht und damit eine Klassifikation der Falschheit des ver‐ meintlichen Statements im medienkulturellen Nachgang: »Seit dem vorigen Wochenende hatten […] mehrere Facebook-Seiten ein Foto der Politikerin samt einem vermeintlichen Zitat gepostet, wonach Künast über den Mord an der Studentin Maria und die Festnahme eines Verdächtigen in Freiburg gesagt habe: 1. Forschungsüberblick und Positionierung 56 <?page no="57"?> 32 http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ inland/ kampf-gegen-fake-news-kuenast-stellt-strafanzeige-wegen-falschnachricht-auf-face book-14568472.html (zuletzt aufgerufen am 04. 02. 2017). Es geht dabei um die tragische Ermordung einer 19-jährigen Medizinstudentin aus Freiburg im Oktober 2016. Es ist wohl so, dass sie von einem Geflüchteten aus Afghanistan vergewaltigt und ermordet wurde. Im Unterschied zu anderen Medien zeigte die Tagesschau der ARD um 20: 00 Uhr das Verbrechen zunächst nicht. Innerhalb der Programm-Architektur der Tagesschau war das Verbrechen nicht zeigbar. Was folgte war ein medialer Aufschrei. Die Netzge‐ meinde revoltierte. Was ist dann passiert? Der Chefredakteur begründete öffentlich seine Entscheidung und teilte mit, dass dieses Verbrechen nun doch in den Tagesthemen gezeigt werden solle. Insgesamt lösten die Ereignisse um den Mord und die anschlie‐ ßende Spezifik der medialen Berichterstattung eine heftige Kontroverse um die deut‐ sche Flüchtlingspolitik aus. 33 Graumann, Sigrid: Die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte zur Biomedizin, in: Schicktanz, Silke; Tannert, Christof; Wiedemann, Peter (Hrsg.): Kulturelle Aspekte der Biomedizin. Bioethik, Religionen und Alltagsperspektiven, Frankfurt am Main und New York 2003, S. 212-243. ›Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen.‹« 32 Künasts vermeintliche Stellungnahme (›Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen.‹) klassifiziert sich nicht selber als falsch. Diese prekären Beispiele illustrieren, dass zunächst einmal die mediale Aus‐ handlung etwas wahrnehmbar macht. Wie und vor allen auch wozu dies dann wahrgenommen wird (zur Dekonstruktion oder Reproduktion etwa), wird in der Medienkultur ausgehandelt. Mein Augenmerk liegt auf der Beobachtung von medialen Manifestationen in der Medienkultur, die sich signifikant von der Beobachtung von Manifesta‐ tionen in einem Film, in einem Theater oder »in den Medien« unterscheidet. Ich halte es nämlich für irreführend, einerseits eine umfassende Untersuchungs‐ ebene zu suggerieren und andererseits diese durch Fokussierung auf bestimmte Medien zurückzunehmen, wie dies indes in der Forschung immer wieder durchaus geschieht. So fokussiert der Titel des Aufsatzes von Sigrid Graumann Die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte zur Biomedizin 33 zwar auf ein weites Untersuchungsfeld, widmet sich dann aber ausschließlich Zeitungen und Zeitschriften, was nichtsdestoweniger als »Medienanalyse« (S. 212) deklariert wird. Ich übe keine Kritik an einer ausschließlichen Untersuchung der Bericht‐ erstattung in Presseerzeugnissen, schon gar nicht an ihren Untersuchungser‐ gebnissen. Ich halte jedoch den zugrunde liegenden Medienbegriff mit seinem synekdochischen Gestus für problematisch. Die im Titel angekündigte »Rolle der Medien« (S. 212), die »Medienanalyse«, die »Medienwirklichkeit« (S. 214), die 1. Forschungsüberblick und Positionierung 57 <?page no="58"?> 34 Zur Pluralität siehe auch ibid., S. 212, zu Kontroversen siehe ibid., S. 239. 35 Rose, Lotte und Schmied-Knittel, Ina: Magie und Technik: Moderne Geburt zwischen biografischem Event und kritischem Ereignis, in: Villa, Paula-Irene; Moebius, Stephan; Thiessen, Barbara (Hrsg.): Soziologie der Geburt. Diskurse, Praktiken und Perspektiven, Frankfurt am Main und New York 2011, S. 75-100. Zum Diskurs der Natürlichkeit siehe auch Kneuper: Mutterwerden, S. 236-255. Darin lotet sie auch das praktische Verhältnis von Natürlichkeit und Biomedizin aus. Ebenso Kneuper, Elsbeth: Die ›natürliche Ge‐ burt‹ - eine globale Errungenschaft? , in: Wolf, Angelika und Hörbst, Viola (Hrsg.): Me‐ dizin und Globalisierung. Universelle Ansprüche - lokale Antworten, Münster 2003, S. 107-128. 36 Ich verwende im Folgenden den Terminus hybride Verschleifungen (Rose und Schmied-Knittel) für diverse Verflechtungszusammenhänge. »mediale […] Problematisierung« (S. 227) ist synekdochisch verengt auf eben Massenmedien, die neben anderen Medien freilich auch Medien sind. Wenn der Autorin zufolge Pluralismus von Werten und Normen in den untersuchten Bei‐ trägen zur Geltung kommt, dann ist nicht klar, wie dieser in der Medienkultur zu verorten ist: »Der Pluralismus von Werten und Normen kommt in journalistischen Beiträgen da‐ durch zur Geltung, dass in der Regel Pro- und Kontra-Positionen, dem Anspruch einer ausgewogenen Darstellung von Problemen gemäß, gegenübergestellt werden« (S. 241) 34 . Roses und Schmied-Knittels Aufsatz 35 wird vorgestellt, weil er den wichtigen Terminus »hybride Verschleifungen« (S. 97) konturiert, der direkt auf Berg‐ manns Arbeit bezogen werden kann. Letzterer arbeitet die Gleichzeitigkeit scheinbar konträrer Momente assistierter Reproduktion heraus. Die Thesen von Lotte Rose und Ina Schmied-Knittel sind in mehrerlei Hinsicht für meine Über‐ legungen wichtig. Die Autorinnen arbeiten das ambivalente Zusammenspiel und Auseinanderspiel von zwei geburtlichen Konzepten heraus, und zwar ei‐ nerseits die noch nicht abgeschlossene Medikalisierung, Hospitalisierung und Technisierung des Geburtsgeschehens sowie andererseits eine De-Medikalisie‐ rung und Re-Naturalisierung seit den 70er Jahren (S. 75). »Re-Traditionalisie‐ rungen und Ent-Traditionalisierungen greifen auf eine paradoxe Weise inei‐ nander« (S. 86). Entscheidungssituationen expandieren (S. 89-90), wobei daraus ein Verlust an traditionellen Sicherheiten resultiert. Rose und Schmied-Knittel zufolge stellt das Natürlichkeits- und Traditionsdispositiv eine Entlastung von Entscheidungszwängen für das Individuum dar (S. 90). Sven Bergmanns Arbeit Ausweichrouten der Reproduktion. Biomedizinische Mobilität und die Praxis der Eizellspende kann im Kontext von »hybriden Ver‐ schleifungen« 36 als bahnbrechend bezeichnet werden. In dieser jüngst erschie‐ 1. Forschungsüberblick und Positionierung 58 <?page no="59"?> 37 Bergmann: Ausweichrouten, S. 52. 38 So lautet seine Frage: »Wie wird der Transfer fremder Keimzellen naturalisiert und reguliert? «, ibid., S. 16. 39 Zum Terminus Choreografie ibid., S. 15. Bergmann orientiert sich an Thompson, die den Terminus »ontological choreography« geprägt hat. Dieser wiederum rekurriert auf eine dynamische Koordination von verschiedenen Elementen, die für gewöhnlich als nicht zusammengehörig betrachtet werden: »The term ontological choreography refers to the dynamic coordination of the technical, scientific, kinship, gender, emotional, legal, po‐ litical, and financial aspects of ART clinics. What might appear to be an undifferentiated hybrid mess is actually a deftly balanced coming together of things that are generally considered parts of different ontological orders (part of nature, part of the self, part of society)«, Thompson: Making Parents, S. 8. 40 »Der Fokus auf Praxis ist ein Versuch, Techniken, Prozesse, Verfahren und Situationen detailliert zu beschreiben, um zu zeigen, was konkret ›aufgeführt‹ wird und entsteht (oder auch nicht)«, Bergmann: Ausweichrouten, S. 51. 41 Das Erleben einer Schwangerschaft ist bei IVF im Unterschied zu Adoption und Leih‐ mutterschaft möglich, ibid., S. 236. nenen Monografie nimmt der Autor hochgradig facettenreich verschiedene (vor allem profan-trivial alltägliche 37 ) Praktiken und Akteur_innen im topografi‐ schen Umfeld assistierter Reproduktion unter die Lupe. Im Hinblick auf die vor‐ liegende Arbeit sind vor allem die herausgearbeiteten Naturalisierungsstrate‐ gien von Unkonventionellem, von Ausweichrouten (etwa beim Transfer einer fremden Keimzelle 38 ) interessant (beispielsweise S. 50). In seiner Arbeit spürt Bergmann über den performativen Begriff der »Choreografie« 39 antiessentia‐ listisch und praxisorientiert transnationalen, mobilen Aushandlungsprozessen, ›Aufführungen‹ 40 nach, in denen De- und Renaturalisierungen zu beobachten sind. Entsprechend formuliert er: »Mein Augenmerk liegt dabei auf den verwobenen Choreografien von Naturen, Kul‐ turen, Kultivierung (nurture), Körpern, Geschlecht, Raum und Zeitlichkeit, Symboli‐ ken von Blut und Genen und dem Sozialen, die alle in diesem Feld versammelt sind und - manchmal in unerwarteter Weise - miteinander in Kontakt treten« (S. 230-231). Diese Beobachtung allgemeinen Verwobenseins exemplifiziert er an verschie‐ densten Situationen im Umfeld von Reproduktionsmedizin. Er zeigt beispiels‐ weise, dass im Kontext assistierter Reproduktion Strategien wie die klinische Inszenierung des Embryonentransfers als Beginn des ›Wunders der Schwan‐ gerschaft‹ oder die Betonung des leiblichen Erlebens von Schwangerschaft 41 in den Reproduktionsprozess integriert werden (besonders S. 231-240, S. 264). Un‐ konventionelles wird also naturalisiert. Mit Blick auf Bergmanns oben zitierte allgemeine Aussage interessiere ich mich vor allem für die unerwartete, para‐ doxe (S. 272) oder widersprüchliche (S. 266) Verwobenheit (beispielsweise Rati‐ 1. Forschungsüberblick und Positionierung 59 <?page no="60"?> 42 Wülfingen: Genetisierung der Zeugung. 43 Graumann: Die Rolle der Medien. 44 Diekämper: Reproduziertes Leben. 45 Kailer, Katja: Science Fiction. Gen- und Reproduktionstechnologie in populären Spiel‐ filmen, Berlin 2011. onalität und Mystik (S. 235)). In seiner Arbeit, die auch auf die Aktor-Netz‐ werk-Theorie rekurriert, erweist sich gerade die Fokussierung auf Gleichzeitigkeit (S. 229, S. 240, S. 266, S. 272), ein Wechselspiel (S. 266, zum Wech‐ seln und Pendeln siehe S. 238), einen Zwischenraum (S. 228) sowie auf Doppel‐ seitigkeit (S. 278) als äußerst fruchtbar. Bergmann macht deutlich, dass im Kon‐ text der Reproduktionsmedizin simultan zweierlei unterschiedliche (insofern ist dies mindestens paradox und unerwartet) Phänomene, und zwar substanzielle und prozessuale, gekoppelt werden (S. 240). Bergmann präpariert in seinem Pa‐ norama gegenwärtiger Reproduktionschoreografien demnach die gleichzeitige Kopplung verschiedener Phänomene heraus. Daneben charakterisiert er die »Schwellensituation des Labors« als »Zwischenraum«: »An allen bisher resümierten Dynamiken zeigt sich die Schwellensituation des Labors, in vielen Fällen auch als ein Zwischenraum, in dem sich die zukünftige Laufbahn von Keimzellen entscheidet. Die Praxis der Fürsorge für die Zellen operiert an einer fle‐ xiblen Schwelle von Naturen / Kulturen, an der De- und Renaturalisierungen gut cho‐ reografiert werden sollen« (S. 228). Ich werde in Kapitel 4 auf die von Bergmann skizzierte ›Gleichzeitigkeit‹ von Natur / Kultur zurückgreifen. Auf der Grundlage eines erkenntnisleitenden Me‐ dienbegriffs und eines medienkulturwissenschaftlichen Ansatzes kann jedoch in einer metapraktischen Erweiterung dazu gezeigt werden, dass sich die ›hyb‐ riden Verschleifungen‹ aus Natur und Kultur / Technik ostentativ in unserer Me‐ dienkultur manifestieren. Ich konzentriere mich demnach nicht wie von Wülfingen in ihrer Analyse ausschließlich auf Expertendiskurse 42 (1995-2003), nicht wie Graumanns 43 (1995-2001) und Diekämpers 44 (1995 und 2010) Medienanalysen ausschließlich auf Zeitungen und Zeitschriften, nicht wie Kailer auf populäre Spielfilme 45 , son‐ dern fokussiere gerade auch auf (bisher noch nicht in einer Untersuchung zu‐ sammengedachte) verschiedene und unorthodoxe medienkulturelle Aushand‐ lungen. 1. Forschungsüberblick und Positionierung 60 <?page no="61"?> 1 Foucault, Michel: Von den Martern zu den Zellen. Ein Gespräch mit Roger-Pol Droit, in: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 48-53, hier: S. 53. 2 Zeigbarkeit ist im vorliegenden Ansatz strikt methodologisch zugespitzt und an neue Medientheorien gebunden (Krämer, Zierold, Mann). 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge Die in der Einleitung (Kapitel 0) beispielorientiert profilierte mediensyntagma‐ tische Herangehensweise wird in der vorliegenden Arbeit durch diskursanaly‐ tische Werkzeuge ergänzt. Foucault selbst charakterisiert seine Bücher als »Werkzeugkisten«, aus denen man Sätze, Ideen oder Analysen herausgreifen kann: »Alle meine Bücher, sei es ›Wahnsinn und Gesellschaft‹ oder dieses da [Überwachen und Strafen, M. P.], sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute sie aufmachen wollen und diesen oder jenen Satz, diese oder jene Idee oder Analyse als Schraubenzieher verwenden, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu demon‐ tieren oder zu sprengen, einschließlich vielleicht derjenigen Machtsysteme, aus denen diese meine Bücher hervorgegangen sind - nun gut, umso besser.« 1 In den Formulierungen »diese oder jene Idee« und »Analyse als Schrauben‐ zieher« drückt sich die Vorstellung eines undogmatischen Umgangs mit dis‐ kursanalytischem Theoriedesign aus. In Anlehnung an diese Beschreibung von Foucault geht es in der vorliegenden Arbeit gerade auch um die Verwendung diskursanalytischer Sätze, Ideen und Analysen als Werkzeuge, also als ergän‐ zende Hilfsmittel. Die Arbeit versteht sich unzweifelhaft als eine medienkul‐ turwissenschaftliche, die erstens von einem weiten und erkenntnisleitenden Me‐ dienbegriff ausgeht, zweitens die Synchronizität von disparaten und unorthodoxen Medien und (familialer) Lebenspraxis betont und drittens nicht auf Aushandlungen in den Medien, sondern auf medienkulturelle Manifestati‐ onen fokussiert. Es geht darum herauszufinden, was medienkulturell manifest und daher zeigbar 2 ist. Die entscheidenden Interpenetrationsmomente von Diskursanalyse und Me‐ dienkulturwissenschaft liegen in ihrem Verständnis der Objektebene und ihren zentralen Annahmen begründet. Zu Letzteren gehören die uneinholbare Histo‐ <?page no="62"?> 3 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 293. 4 Ibid. 5 Giesen: Zur Medialität von Liebe, S. 40-41, S. 150. 6 Zum Dispositivbegriff siehe Foucault, Michel: Ein Spiel um die Psychoanalyse. Ge‐ spräch mit Angehörigen des Departement de Psychoanalyse der Universität Paris / Vincennes, in: Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 118-175, hier: S. 119-120. 7 So formuliert Giesen mit Bezug auf das Begriffspaar Medialität-Medium: »Medialität und Medium […] [werden] als relationale und autokonstitutive Begriffe angelegt«, Giesen: Zur Medialität von Liebe, S. 39. 8 Ibid., S. 40-41. rizität und machtförmige Aushandelbarkeit von Ordnungsmustern und der kräftezentrierte Effektcharakter von Positionen. Die historischen, machtför‐ migen und kräfteorientierten Prozesse lassen sich besonders gut in der Kopp‐ lung von Diskursanalyse und Medienkulturwissenschaft begreifen, weil Me‐ dien, und zwar disparate, an diesen Prozessen signifikant partizipieren. Bezüglich der Objektebene kann festgehalten werden, dass es sowohl Diskurs‐ analyse als auch Medienkulturwissenschaft um die »Entfaltung einer Streuung« 3 mit dem Ziel geht, »eine Dezentralisierung vorzunehmen, die keinem Zentrum ein Privileg zugesteht« 4 . Die mediensyntagmatische Herangehensweise ist ein Mittel par excellence zur Dezentralisierung. Diskursanalyse und Medienkulturwissenschaft begreifen Fa‐ milialität als Familienpolitik und dispersiv. Die Fokussierung auf Dispersionen bedeutet, dass der Gegenstand Familiali‐ tät - eingebettet in medienkulturelle und diskursive Zusammenhänge - facet‐ tenreich als Oberflächenphänomen analytisch beobachtet wird, ohne eine Tie‐ fendimension oder ontologische Dinglichkeit vorauszusetzen. Giesen hat bereits präfigurierende Medialität mit Foucaults Dispositivbegriff in Verbindung ge‐ bracht 5 . Foucaults Verständnis des Dispositivs, wonach dieses als ›Netz‹ aus verschiedenen ›Elementen‹ (beispielsweise architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen oder administrativen Maßnahmen 6 ) konfi‐ guriert wird, kann mit dem Begriffspaar ›Medialität‹ und ›Medium‹ korreliert werden. Die Einzelbegriffe jeder Paarung (Netz-Element; Medialität-Medium) sind laut Giesen wechselseitig und autokonstitutiv aufeinander bezogen 7 . Wei‐ terhin kann die Heterogenität der Elemente des Dispositivs mit jener medialen Disparatheit - Giesen nennt seinen weiten Medienbegriff einen panmedialen - verbunden werden 8 . Die Entsprechung zwischen Medialität und jenem netzar‐ tigen Dispositiv gilt auch für Medialität und Diskursivität. Jene medial-diskur‐ siven familialen Observanzen von Gewicht treten »an die Stelle des rätselhaften 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 62 <?page no="63"?> 9 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 72. 10 Ibid. 11 Krämer: Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? , S. 20. 12 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 68. 13 Ibid. Schatzes der ›Dinge‹ von vor dem Diskurs« 9 . Letztlich werden »diese Gegen‐ stände ohne Beziehung zum Grund der Dinge definier[t], indem man sie aber auf die Gesamtheit der Regeln bezieht [Hervorhebung M. P.], die es erlauben, sie als Gegenstände eines Diskurses zu bilden« 10 . Der Rückgriff auf Diskurs und Medi‐ enkultur suggeriert die autokonstitutive medial-diskursive Bezüglichkeit der Observanzen von Gewicht. Im Zusammenhang mit der autokonstitutiven Be‐ züglichkeit der Observanzen von Gewicht kann eine weitere produktive Pas‐ sung zwischen Diskursanalyse und Medienkulturwissenschaft verdeutlicht werden. Medial-diskursive Observanzen von Gewicht sind signifikant existent, und zwar ohne einen (essentialistischen) »Grund der Dinge« anzunehmen. Ich verfolge hier keineswegs eine Medien-Vergötzung. Krämer ist zuzustimmen, wenn sie im Zusammenhang mit Performativität, Medialität und Zeigen ein be‐ deutungsvolles Dahinterliegen ablehnt: »Doch wenn alles, worauf es ankommt, sich zeigt, so heißt das auch: Was ›von Be‐ deutung ist‹, liegt nicht hinter der Erscheinung, ist keine unsichtbare Tiefenstruktur, welche jenseits der Oberfläche des Wahrnehmbaren [Hervorhebung M. P.] durch Ver‐ fahren der Interpretation zu erschließen wäre.« 11 Das Augenmerk liegt also nicht auf einer zu erschließenden medialen Tiefen‐ dimension, sondern auf jener wahrnehmbar existenten Erscheinung an der Oberfläche. Was hier im Kontext von Medialität spezifiziert wird, kann unmit‐ telbar und produktiv auf Diskursivität bezogen werden. Foucault qualifiziert den diskursiven Gegenstand seiner Analyse nicht als ein Tiefenphänomen, das zu befreien wäre: »der Gegenstand wartet nicht in der Vorhölle auf die Ordnung, die ihn befreien und ihm gestatten wird, in einer sichtbaren und beredten Ob‐ jektivität Gestalt anzunehmen; er ist sich selbst nicht präexistent« 12 . Gegen‐ ständlichkeit existiert nicht aus sich selbst heraus und bedingungslos. Die Ver‐ neinung selbstbedingender Existenz des diskursiven Gegenstandes bedeutet aber nicht, dass Letzterer nicht existiert. Gegenteiliges kann gerade ange‐ nommen werden: »Er existiert [Hervorhebung M. P.] unter den positiven Be‐ dingungen eines komplexen Bündels von Beziehungen.« 13 In Verbindung mit relationalen Bezüglichkeiten ist der Gegenstand existent, und zwar an der Ober‐ fläche. 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 63 <?page no="64"?> 14 Ibid. Dreysse spricht beispielsweise im Rekurs auf Butler von »mannigfachen Erschei‐ nungsformen der Mutter«, siehe also Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 26. Zum In-Erscheinung-Treten von Claudia Galotti als begehrender Frau siehe ibid., S. 203. Bei Dreysse ist aber kein funktionaler Zusammenhang zwischen Medium im Allgemeinen und Erscheinen vorhanden. 15 Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 139. 16 Foucault, Michel: Was ist Kritik? , Berlin 1992, S. 15, wörtlich: »Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit.« 17 In Abgrenzung zu einer verallgemeinerbaren Methode resümiert Foucault: »Es [ge‐ meint sind Foucaults Bücher, M. P.] sind eher Einladungen, öffentliche Gesten«, Fou‐ cault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt am Main 1996, S. 33. Zusammenfassend hinsichtlich einer Methodologie der Medienkulturwis‐ senschaft, die diskursanalytische Werkzeuge integriert, kann demnach (im Rückgriff auf Krämer und Foucault) gesagt werden: Worauf es ankommt, zeigt sich, aber nicht als ontologische Innerlichkeit; das medial Bedeutsame zeigt sich wie das diskursiv Bedeutsame, bei dem es nicht um »innere Konstitution« geht, sondern um »das, was ihm gestattet, in Erscheinung zu treten« 14 . Martin Zierold verweist im Kontext von Erinnerung und einer Arbeit, die dezidiert medienkulturwissenschaftlich perspektiviert ist, auf eine Doppelrolle der Medien: »Sie [Medienangebote, M. P.] können selbst Resultate von Erinnerungsprozessen sein und formulieren oftmals, was gesellschaftlich als relevante Voraussetzungszusammen‐ hänge angesehen werden soll [Hervorhebungen M. P.].« 15 Die Doppelrolle von Medien besteht darin, dass sie eine Wirkung von Erinne‐ rungen sind und selber gesellschaftliche Konstitutiva bewirken. Diese mediale Doppelrolle kann auf Diskurselemente bezogen werden. Das Diskurselement mütterliche Schuldgefühle etwa ist ein Resultat von Sedimenten in unserer Ge‐ sellschaft und gleichzeitig ein Voraussetzungszusammenhang für gesellschaft‐ liche Prozesse. Noch einmal zugespitzt: In der vorliegenden Arbeit wird ein Zugang gewählt, der sich an eine an Foucault und Butler orientierte Diskursanalyse anlehnt und in actu zwangsläufig spezifisch konkretisiert und formt. Die Zugriffsart be‐ stimmt sich dann durch »reflektierte[…] Unfügsamkeit« 16 . Angenommen wird die von Foucault ausgesprochene »Einladung« 17 besonders im Hinblick auf das Analysemittel Kritik. Der kritische Gestus ist als eine ethische Zugriffsart zu verstehen, die zweiflerischen Vorbehalt geradezu forciert und katalysiert, um Überschreitungen zu begünstigen: 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 64 <?page no="65"?> 18 Foucault, Michel: Was ist Aufklärung? , in: Erdmann, Eva; Forst, Rainer; Honneth, Axel (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main und New York 1990, S. 35-54, hier: S. 53. 19 Kneuper: Mutterwerden, S. 193. 20 Siehe dazu auch Schmidt: Medienkulturwissenschaft, S. 368. 21 Zu den Begriffen Postmoderne, Poststrukturalismus und Postfeminismus siehe Villa, Paula-Irene: Poststrukturalismus: Postmoderne + Poststrukturalismus = Postfemi‐ nismus? , in: Becker, Ruth und Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Ge‐ schlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 3., erw. und durchg. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 269-273. Siehe auch Knapp, Gudrun-Axeli: Im Widerstreit. Feministische The‐ orie in Bewegung, Wiesbaden 2012, besonders S. 329-383. 22 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002. Erweiterte Aus‐ gabe, Frankfurt am Main 2007, S. 161. »Die kritische Ontologie unserer selbst darf beileibe nicht als eine Theorie, eine Doktrin betrachtet werden, auch nicht als ständiger, akkumulierender [sic! ] Korpus von Wissen; sie muß als eine Haltung vorgestellt werden, ein Ethos, ein philosophi‐ sches Leben, in dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen ist und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschrei‐ tung.« 18 Hier wird besonders die angesprochene Möglichkeit der Überschreitung von (familialen) Grenzen angestrebt. Durchgängig werden vielfältige Grenzen ver‐ schoben, was insofern wichtig ist, als »es für die meisten Eltern relativ enge Grenzen des Verhaltens gibt, innerhalb derer die optimale Versorgung des Kindes gewährleistet ist.« 19 Die vorliegende Arbeit lässt sich daher keiner ein‐ zelnen universitären Disziplin zuordnen. Ich verzichte auch auf eine Aufzählung von Disziplinen, an denen die Arbeit partizipiert, nicht zuletzt, um entgrenzend zu wirken 20 . Ich vertrete eine poststrukturalistische 21 Haltung sensu Butler und Foucault, um selbstverständliche Grenzen zu verschieben. Selbstverständlich‐ keiten basieren im Anschluss an Butler (und Foucault) auf einer Verleugnung ihrer Historizität. Es wird ein Preis gezahlt, um eindeutige Grenzen aufrecht‐ zuerhalten. In einer Auseinandersetzung mit den Annahmen Foucaults schreibt Butler über den zu zahlenden Tribut: »Damit scheint gesagt zu sein, dass die Formen der Rationalität, durch die wir uns verständlich machen, durch die wir uns selbst erkennen und uns anderen öffnen, his‐ torisch geprägt und nicht ohne einen Preis eingesetzt sind. Wenn sie natürlich, selbst‐ verständlich werden, wenn sie Gründungsfunktion übernehmen und anscheinend unverzichtbar werden, dann stellen sie nicht nur die Bedingungen dar, unter denen wir leben und zu leben haben, dann hängt unser Leben selbst von der Verleugnung ihrer Geschichtlichkeit, von der Verleugnung des Preises ab, den wir für sie zahlen.« 22 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 65 <?page no="66"?> 23 Siehe hierzu auch Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid be‐ klagen, Frankfurt am Main und New York 2010. 24 Im Folgenden abgekürzt mit A. Wenn nun Grenzen, Bewertungen, Ontologien historisch gewachsen sind, dann sind sie veränderbar. Nun kann angenommen werden, dass Medien in der Me‐ dienkultur nicht nur durchspielen, was diskursiv sagbar ist, sondern geradezu zeigen, was diskursiv möglich / unmöglich ist 23 . Als positive Grenzverwischung dienen beispielsweise die topografisch-be‐ zeichnungspraktischen Verschiebungen der Komödie Almanya. Willkommen in Deutschland 24 (Deutschland 2011, Regie: Yasemin Samdereli, Roxy Film Produk‐ tion in Koproduktion mit Infafilm, Concorde Home Entertainment; DVD ). Der kleine Cenk, dessen Großvater in der Nachkriegszeit als Gastarbeiter nach Deutschland kam, wird von seiner Lehrerin, die Fähnchen auf einer Landkarte platziert, die die ursprünglichen Familienherkunftsorte markieren, gefragt, wohin »Cenks Fähnchen« gesetzt werden solle (A 00: 04: 44). Nachdem Cenks erste kindliche Antwort (»Deutschland« (A 00: 04: 48)) von der Lehrerin indirekt verneint wird (»Ja, ja, das stimmt schon. Aber wie heißt das schöne Land, wo dein Vater herkommt? « (A 00: 04: 49)), sagt er: »Anatolien« (A 00: 04: 54). Die Karte endet allerdings vor Anatolien. Cenks Fähnchen wird auf einem abge‐ grenzten, verworfenen, unbestimmt-leeren, nicht-intelligiblen Außen platziert (Abb. 1). Sein Herkunftsort wird als solcher unsichtbar und verleugnet. Der Preis für eine klare Grenzziehung, topografische Identität ist die Verleugnung der gemachten Grenzziehung und der Ausschluss des Anderen. Ein Klassenkamerad Cenks gibt - wie im Laufe des Films aufgedeckt wird - fälschlicherweise Istanbul (europäischer Teil) anstelle von Anatolien an und verhindert somit eine Exklu‐ sion, und in Folge dessen eine normative Diffamierung oder Verleugnung. Er erhält so einen sichtbaren »Körper von Gewicht« (Butler). 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 66 <?page no="67"?> Abb. 1 (A 00: 05: 12) Platzierung von Cenks Fähnchen zur Kennzeichnung des Herkunftsortes im undefinierten Außenbereich im Unterschied zum definierten Innenbereich Im Abspann des Films bittet nun Cenk seine Lehrerin, die Landkarte durch eine Karte, die Anatolien umfasst, zu ergänzen (Abb. 2). Nach dieser Ergänzung der historisch gemachten Grenzen befindet sich Cenks Fähnchen im inneren Be‐ reich und nicht mehr im äußeren, abgegrenzten weißen »Nichts«, und auch Engin, der zunächst seine Heimat fälschlich angegeben hat, um einen Platz zu bekommen, kann seinen wahren Herkunftsort preisgeben, ohne der Schmach des Nicht-Teilnehmenden ausgesetzt zu sein. 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 67 <?page no="68"?> 25 Kammler, Clemens: Archäologie des Wissens, in: Kammler, Clemens; Parr, Rolf; Schneider Ulrich J. (Hrsg.): Foucault Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Sonderaus‐ gabe, Stuttgart 2014, S. 51-62, hier: S. 55. Abb. 2 (A 01: 33: 31) Grenzverschiebung durch Erweiterung des definierten Innenraumes und sukzessive Sichtbarmachung und Inklusion der ehedem undefinierten Herkunftsorte Identitäten - im konkreten Fall der vorliegenden Arbeit: familiale Identitäten, und damit Familienpolitiken - sind also grundsätzlich verschiebbar. In Vertiefung zum diskursanalytischen Theoriedesign sensu Foucault richtet sich die medienkulturwissenschaftliche Perspektive auf medienkulturelle Zeig‐ barkeiten und nicht (nur) auf die Erfassung von diskursiven Aussagen respektive Sagbarkeiten, wie sie Diskursanalyse ausmacht. In diesem Sinne konstatiert Kammler: »Das Geschäft der Archäologie ist es, […] einzelne Aussagegruppie‐ rungen (›diskursive Formationen‹) zu beschreiben, die den Bereich des Sagbaren in konkreten Feldern des Wissens begrenzen [Hervorhebungen M. P.].« 25 Eine medienkulturwissenschaftliche Vertiefung diskursanalytischen Theoriedesigns findet insbesondere dort statt, wo ganz explizit die Eigenschaften von Medien in Anlehnung an jüngere Medientheorien (Mann, Zierold, Krämer) angewendet werden. Nun mag zugegebenermaßen die Annahme, Diskursanalyse sei ausschließ‐ lich beschreibend, etwas zu kurz greifen. Weiterhin lässt sich kritisch ins Feld 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 68 <?page no="69"?> 26 Jahraus, Oliver: Im Spiegel: Subjekt - Zeichen - Medium. Stationen einer Auseinan‐ dersetzung mit Velázquez’ Las Meninas als Beitrag zu einem performativen Medienbe‐ griff, in: Lüdeke, Roger und Greber, Erika (Hrsg.): Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 123-142, hier: S. 137. Görling betrachtet Medien und Denkweisen im Zusammenhang mit dem von Foucault geprägten Begriff ›Episteme‹, Görling: Medienkulturanalyse, S. 20. 27 Bührmann, Andrea D.: Der Diskurs als Diskursgegenstand im Horizont der kritischen Ontologie der Gegenwart, in: Bublitz, Hannelore; Bührmann, Andrea D.; Hanke, Chris‐ tine; Seier, Andrea (Hrsg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt am Main und New York 1999, S. 49-62, hier: S. 56. Diskurse bei Foucault sind ihr zufolge als »(Re-)Konstruktionen« zu begreifen, ibid., S. 60. 28 Geisenhanslücke, Achim: Wahnsinn und Gesellschaft, in: Kammler, Clemens; Parr, Rolf; Schneider Ulrich J. (Hrsg.): Foucault Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Sonderaus‐ gabe, Stuttgart 2014, S. 18-31, hier: S. 26. 29 Butler: Raster des Krieges. 30 Butler, Judith: Einleitung: Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben, in: Butler, Judith: Raster des Krieges, S. 9-38, hier: S. 9 31 Ibid. 32 Ibid., S. 13. führen, dass Foucault zwar nicht expressiv verbis einen vollends theoretisch ausgearbeiteten Medienbegriff konturiert, aber doch in hohem Maße mit Medien arbeitet. Jahraus hält fest: »Man kann das gesamte Foucaultsche Projekt einer Diskursanalyse als Proto-Medientheorie lesen« 26 . Gegen eine Identifikation von Diskursanalyse und Beschreibung von Sag‐ barkeiten lässt sich Bührmanns These anführen, dass »Foucault Diskurse nicht rekonstruiert, sondern zuerst konstruiert« 27 . Hinsichtlich einer proto-medien‐ theoretischen Perspektive bereits bei Foucault kann überdies in der Tat gesagt werden, dass künstlerische und literarische Manifestationen der jeweils inte‐ ressierenden Epochen gerade einschneidende, markante, schwellenmarkie‐ rende Aufgaben übernehmen: »Schon in Wahnsinn und Gesellschaft deutet sich […] an, dass Foucault dazu tendiert, Epochenschwellen über künstlerische und literarische Manifestationen einzuführen. Insofern übernimmt die Interpretation von Rameaus Neffe in Wahnsinn und Gesell‐ schaft eine ähnliche Funktion wie die des Don Quijote oder des Werkes des Marquis de Sade in Die Ordnung der Dinge.« 28 Wesentlich deutlicher als Foucault referiert Butler in Raster des Krieges 29 auf mediale Sichtbarkeit und das heißt: auf Zeigbarkeit. Sie fokussiert auf »Bedin‐ gungen der Wahrnehmbarkeit« 30 , »die Begrenzung der Sphäre des Erschei‐ nens« 31 , »Möglichkeitsbedingen des Sichtbarwerdens« 32 , »visuelle und diskur‐ 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 69 <?page no="70"?> 33 Butler: Folter und die Ethik der Fotografie, S. 77. 34 Ibid., S. 73. 35 Ibid., S. 73. Mit Blick auf Fotografie und Zeigen konstatiert Butler: »Die Fotografie zeigt etwas, sie besitzt eine repräsentierende und referentielle Funktion«, ibid., S. 84. 36 »Die fünf hier versammelten Essays sind vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kriege entstanden und befassen sich vor allem mit der Art und Weise, wie affektive und ethische Haltungen durch eine ganz bestimmte Art der selektiven Rahmung [framing] von Gewalt kulturell in bestimmte Bahnen gelenkt werden«, Butler: Einleitung: Ge‐ fährdetes Leben, betrauerbares Leben, S. 9. 37 Ich danke an dieser Stelle Prof. Stephan Kammer für die methodologische Diskussion über Verschränkungen von Diskursanalyse und Medienkulturwissenschaft (im Haupt‐ seminar Kybernetik und Literatur im SoSe 2016). Insbesondere danke ich Herrn Kammer für sein Verweisen darauf, dass keine Symmetrie zwischen Medienkulturwissenschaft und Diskursanalyse anzunehmen ist. Für Diekämper besteht zwischen den von ihr be‐ trachteten Printmedien und Foucaults Quellen Vergleichbarkeit im Hinblick auf Funk‐ tion und Wirkungsweise, Diekämper: Reproduziertes Leben, S. 85, Fußnote 3. Die Au‐ torin bezieht sich auf die von Foucault in Der Gebrauch der Lüste als »Operatoren« bezeichneten Texte. Foucault formuliert: »Der Bereich, den ich analysiere, wird von Texten konstituiert, die Regeln, Hinweise, Ratschläge für richtiges Verhalten geben wollen: ›praktische‹ Texte, die selbst Objekt von ›Praktik‹ sind […]. Diese Texte waren als Operatoren gedacht, die es den Individuen erlauben sollten, sich über ihr eigenes Verhalten zu befragen, darüber zu wachen, es zu formen und sich selber als ethisches Subjekt zu gestalten«, Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahr‐ heit 2, Frankfurt am Main 1986, S. 20-21. sive Rahmen« 33 , (mediale) »Repräsentierbarkeit« 34 . Die Arbeiten von Butler und Foucault sind besonders gut medienkulturwissenschaftlich anwendbar, und Butler fokussiert dezidiert in Raster des Krieges auf mediales Zeigen / Nicht-Zeigen: »Daher lässt sich das Feld der Repräsentierbarkeit nicht verstehen, indem wir einfach seine expliziten Inhalte untersuchen, denn es wird grundlegend gerade durch das Ausgesparte konstituiert, durch das, was außerhalb des Rahmens bleibt, innerhalb dessen Repräsentationen in Erscheinung treten. […] Den innerhalb des Rahmens ge‐ zeigten Geschehnissen und Handlungen geht eine aktive, wenn auch unbemerkte Abgrenzung des Feldes selbst und damit ganz bestimmter Inhalte und Perspektiven voraus, die nie in Erscheinung treten und die auch nicht gezeigt werden können.« 35 Auf der anderen Seite muss jedoch auch hinzugefügt werden, dass doch Butlers Überlegungen in Raster des Krieges buchstäblich in die Form eines Essays 36 und eben nicht in die Form einer reinen Diskursanalyse gebracht werden. Es lässt sich nicht behaupten, dass Medienkulturwissenschaft als Diskursanalyse und vice versa betrieben wird. Die Annahme einer Symmetrie zwischen den beiden Konzeptionen wäre ein theorielogischer Kurzschluss 37 . Damit geht einher, dass hier gelegentlich abschnittsweise ein je medienkulturwissenschaftlicher oder 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 70 <?page no="71"?> 38 Siehe dazu Kammler: Archäologie des Wissens, S. 55. 39 Krämer: Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? , S. 25. 40 Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 75. 41 Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 139. 42 Ach, Johann S.: Reproduktionsmedizin. Einführung, in: Wiesing, Urban (Hrsg.): Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch, 4., erw. und vollst. durchg. Aufl. Stuttgart 2012, S. 419-426, hier: S. 425. 43 Krämer: Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? , S. 25. diskursanalytischer Fokus vorhanden ist. Zwar ist wohl Diskursanalyse in der Umsetzung nicht ausschließlich deskriptiv im Sinne einer reinen Feststellung von Sagbarem. Weiterhin werden selbstverständlich auch mediale Aspekte in einer Diskursanalyse aufgearbeitet. Gleichwohl verschiebt die medienkultur‐ wissenschaftliche und mediensyntagmatische Perspektive die diskursanalyti‐ sche Tendenz der beschreibenden Feststellung von Aussagegruppierungen 38 zugunsten der Zusammenstellung von medial-performativen Zeigbarkeiten in der Medienkultur. Der Mehrwert der medienkulturwissenschaftlichen Perspek‐ tive im Methodendesign wird darin festgemacht, dass dezidiert neuere Medien‐ theorien (Mann, Zierold, Krämer) und daran anschließende Potenziale verar‐ beitet werden. So geht es explizit darum, dass Medien wahrnehmbar machen 39 . Im Rekurs auf Mann ist darüber hinaus die selbstbedingende Passung der Me‐ dien, »nicht rein unauffällig (störungsfrei)« 40 zu funktionieren, me‐ dienkulturwissenschaftlich anwendbar. Schließlich können in Anlehnung an die von Zierold konturierte Doppelrolle von Medien als erinnerungsbasierte Resul‐ tate und Formulierungen von Voraussetzungszusammenhängen 41 , die medien‐ kulturell zeigbar sind, gesellschaftliche Konstitutiva ermittelt werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Arbeit sich zum Ziel setzt, in einer an Foucault und Butler angelehnten Diskursanalyse familienpolitische Manifestationen der Gegenwart in unserer Medienkultur herauszuarbeiten, wovon auch andere Disziplinen profitieren könnten, und zwar insofern, als die betrachteten vielfältigen medialen Arrangements »Kontroversen um Gesell‐ schaftsentwürfe und Menschenbilder« 42 durchspielen, herausheben und insbe‐ sondere wahrnehmbar machen 43 . Der Medizinethiker Johann S. Ach betont ge‐ rade die Notwendigkeit, über die Technologien (an sich) hinauszugehen und gesellschaftliche und anthropozentrische Konzeptionen zu berücksichtigen: »Man versteht die - zum Teil sehr heftig ausgetragenen - bioethischen Kontroversen über Reproduktionsmedizin, Gentechnologie, Embryonenforschung etc. vermutlich erst dann richtig, wenn man erkennt, dass sie zugleich immer auch Kontroversen um 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 71 <?page no="72"?> 44 Ach: Reproduktionsmedizin, S. 425. Zum Verhältnis von Ethik und Literatur siehe auch Hansen, Solveig L.: ›Und was lernt man aus dieser Geschichte? ‹. Literarische Werke als Szenarien zur Bewertung von Fortpflanzungstechnologien, in: Maio, Giovanni; Eich‐ inger, Tobias; Bozzaro, Claudia (Hrsg.): Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin. Ethische Herausforderungen der technisierten Fortpflanzung, Freiburg im Breisgau und München 2013, S. 475-499. Gesellschaftsentwürfe und Menschenbilder sind und letztlich um die zentrale Frage kreisen, welche Aspekte des Menschseins uns wirklich wichtig sind.« 44 Gesellschaftliche und anthropozentrische Apriori sowie Grenzen werden be‐ sonders gut sichtbar, wenn Medienkulturwissenschaft und Diskursanalyse ver‐ bunden werden. 2. Methodologie: Medienkulturwissenschaft und diskursanalytische Werkzeuge 72 <?page no="73"?> 1 Im Folgenden abgekürzt mit T. 2 Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin 1996, S. 179. 3. Manege frei: Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie Das folgende Kapitel nimmt seinen Ausgang in der Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind 1 (Deutschland 2013, Autor / Regie: Dr. Patrick Hünerfeld, Südwestrundfunk; DVD ), um beispielorientiert in den Diskurs um pränatale Untersuchungen einsteigen zu können. Wenn die Dokumentation als Ausgangs‐ basis thematisiert und analysiert wird, dann sind damit zwei Aspekte ver‐ bunden. Zum einen kann die Dokumentation hinsichtlich diskursiver Elemente untersucht werden, was sich insofern als besonders fruchtbar erweist, als sie gerade spannungsreiche Antagonien über unterschiedliche Perspektivierungen bietet. Zum anderen kann ihr Design selbst wiederum beleuchtet werden. Die Dokumentation fungiert demnach sowohl als Objektebene, die verschiedene dis‐ kursive Elemente integriert, als auch als Metaprodukt. Im Hinblick auf Der Traum vom perfekten Kind als diskursive Objektebene richtet sich die Frage auf die dargebotenen Elemente innerhalb eines Wirkungszusammenhangs. Ganz basal stelle ich mit Foucault folgende Frage: »Welches sind die für eine gegebene ›Problematisierung‹ relevanten Elemente? « 2 Dargeboten werden in der Dokumentation im Kontext der pränatalen Untersu‐ chungen verschiedene diskursive Elemente. Kommuniziert werden Elemente, die den Wunsch nach einem gesunden Kind als natürliche elterngemeinschaft‐ liche Universalie nahelegen (Unterkapitel 3.1). So lauten die Worte einer Mutter: »Ich wünsche mir natürlich wie alle Eltern auch ein gesundes Kind.« In der Artikulation einer elterngemeinschaftlichen Universalie innerhalb einer vor‐ dergründig individuierten Welt werden Konstanten ins natürlich-unbezweifelte Abseits hineingeschoben, die gerade aufgrund der universell-natürlichen Absei‐ tigkeit unhintergehbar erscheinen. Die Annahme unhintergehbarer Universa‐ lien, hier etwa des gesunden Kindes, sollte strenggenommen eo ipso Bedenken entgegenwirken. Allerdings werden in den Argumentationssträngen werdender Eltern im Umfeld von Pränataldiagnostik diskursive Elemente sichtbar, die Be‐ denkenlosigkeit drastisch unterlaufen. Aus diesem Grund untersuche ich Ar‐ <?page no="74"?> 3 Im Folgenden abgekürzt mit S. gumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge im Umfeld pränataler Diagnostik (Unterkapitel 3.2). Der in den Diskursen um Pränataldiagnostik durchwegs unreflektiert verwendete Begriff Ratsuchende wird dabei kritisch in einen religiösen Kontext gestellt, wobei die Diskrepanz zwischen Ideal und Ist-Zustand in Verbindung mit Schuld und Unsicherheit zu konturieren sein wird. Aufgrund der Persistenz von Unsicherheit werden konkrete Spielarten derselben aufgezeigt (Unterkapitel 3.3). Neben den Konfigurationen von Unsicherheit (ge‐ dimmt, punktuell-verschleiernd, konzessiv, adversativ) werden auch wissen‐ schaftliche Stimmen eingeflochten, die auf die Existenz von Unsicherheit ver‐ weisen. Die problematische Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität im Umfeld von Familialität wird an zwei zusätzlichen, über die Dokumentation hinausgehenden medienkulturellen Beispielen (Zeitungsartikel und Werbung) expliziert. Beide referieren auf gegenwärtige medienkulturelle Ausformulie‐ rungen von Mutterschaft (und indirekt von Vaterschaft). Zwar zeichnen sich die Beispiele nicht durch eine Nähe zur Pränataldiagnostik aus; allerdings sind über die diskursiven Elemente Unsicherheit und Schuld durchaus Anschlussmöglich‐ keiten gegeben. Der Rekurs auf weitere Beispiele soll gewährleisten, dass fa‐ cettenreich Manifestationen von Familienpolitik beleuchtet werden. Über Un‐ sicherheit / Schuldgefühle sind eben mehrere Wirkungskreise verbunden. Bisher existieren zwar zahlreiche Klassifikationen des diskursiven Feldes, wobei das Wort Unsicherheit wohl dasjenige ist, welches am häufigsten zu lesen ist. Eine diskursorientiert-inhaltliche Einordung der Deskription Unsicherheit steht je‐ doch noch aus. Die Frage lautet deshalb: In welchem diskursiven Rahmen er‐ weisen sich Unsicherheit und Schuld als wirkmächtig? Aufbauend auf Bruner und anderen Vertreter_innen der Disability Studies werden die Diskurselemente Unsicherheit, Schuld, Ich-Verarmung, Narzissmus und Schamlosigkeit zusammen betrachtet (Unterkapitel 3.4). Unter Zuhilfenahme von Butlers Konzept der Geschlechtermelancholie wird die These entfaltet, dass wir in einer Medienkultur familientechnologischer Ge‐ sundheitsmelancholie leben. Im deutlichen Rekurs auf die Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind und auch auf Butler kann Trauer als Mittel konturiert werden, das Gesundheitsmelancholie unterbrechen kann. Neben Bewusstheit für Trauer soll aber auch ein anderer Weg, der progressiv Veränderung ermöglichen kann, ausgearbeitet werden: Lachen (Unterkapitel 3.5). Ein knapper Exkurs zur Krankenhausserie Scrubs - die Anfänger 3 (Scrubs, USA 2001-2010, NBC , Buena Vista Home Entertainment und Touchstone Te‐ levision; DVD ) lädt dazu ein, über diskursive Ideale und Entwicklungen rund 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 74 <?page no="75"?> 4 Zur diskursiven Position siehe Foucault: Archäologie des Wissens, S. 167 um Schwangerschaft und Geburt zu lachen, freilich im Modus des Toleranten. Ich zeige, wie in den betreffenden Sequenzen Lachen durch persiflierende Mo‐ mente evoziert wird. Verlacht werden mindestens sechs Hintergrundfolien: Dis‐ kursive Echtheits- und Authentizitätsansprüche rund um Geburt - dargeboten ist nämlich gerade die Medialität von Geburt (1). Tradiert-verklärende Vorstel‐ lungen von Geburt in artifiziellen Kontexten - inszeniert und herausgehoben ist dementsprechend die unromantisch-anstrengende und unangenehme Di‐ mension der Geburt (2). Schamlose Veröffentlichung von intimen Angelegen‐ heiten in einschlägigen Medienangeboten - fokussiert wird auch auf die mediale Persistenz intimer Rhetorik und Visualisierung (beispielsweise von Befruch‐ tungsvorgängen oder Geburten) (3). Die Naturalisierung von Geschlechtlichkeit und politischer Gesinnung - exponiert wird nämlich der Herstellungscharakter (4). Schließlich erscheint allgemein unser Medizinsystem als Folie - welches in Scrubs facettenreich persifliert und dadurch sichtbar gemacht ist (5). Zuletzt wird auch omnipräsente Unsicherheit desavouiert - ausgestellt wird diese viel‐ mehr als diskursives Produkt denn als objektives Gebot (6). 3.1 Kommunikation des Wunsches nach einem gesunden Kind als »natürliche« elterngemeinschaftliche Universalie Die kritisch-problemorientierte Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind konstatiert einen radikalen fortpflanzungsbezogenen Wandel, und zwar in situ. Traummetaphorik ist bekanntlich mehrdeutig. Der Traum kann als Wunsch, Ziel und teleologische Referenz verstanden werden, als Vision in enger Kopp‐ lung mit der Sorge, als Motor des Handelns, aber auch als Hirngespinst oder als traumatischer Alptraum. In der Dokumentation werden fünf Paare begleitet und interviewt. Ich spreche von den Paaren jeweils in der Chronologie der Doku‐ mentation von Mutter 1, Mutter 2 und entsprechend Vater 1 etc. Die Entschei‐ dung für schematisierende Rollenbezeichnungen ist unter anderem dadurch ge‐ rechtfertigt, dass sich auf diese Weise die Potenzialität diskursiver Praktiken leichter sichtbar machen lässt. Ferner sollen die Termini Mutter und Vater nicht auf real (bereits) gelebte Mutterschaft / Vaterschaft oder auf mütterliche / väter‐ liche Bindung (was normativ und politisch wäre) zum Ungeborenen verweisen, vielmehr geht es um die diskursive Position als werdende Mutter und werdender Vater 4 . Die jeweiligen Äußerungen (dialektal und mündlich) werden in der 3.1 Kommunikation des Wunsches nach einem gesunden Kind 75 <?page no="76"?> 5 Kowal, Sabine und O’Connell, Daniel C.: Zur Transkription von Gesprächen, in: Flick, Uwe; Kardorff, Ernst von; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, 9. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2012, S. 437-447, hier: S. 441. 6 Ibid., S. 440. 7 Ibid., S. 442-443. 8 Beck-Gernsheim: Was kommt nach der Familie? , S. 116. Standardsprache wiedergegeben, einer möglichen Form der Verschriftung 5 . Hierbei ist zu berücksichtigen, »dass die Herstellung und die Verwendung von Transkripten theoriegeladene, konstruktive Prozesse sind.« 6 Wenn ich nun also die Zitate standardsprachlich anpasse, dann zeigt sich darin auch die Zurecht‐ legung der Objektebene meiner Analyse. Prosodische Merkmale (Sprechpausen, Betonung etc.), parasprachliche Merkmale (Lachen, Seufzen etc.) sowie außer‐ sprachliche Merkmale (Gesten, Blickzuwendung etc.) - so klassifizieren es Kowal und O’Connell 7 - sind sicherlich wichtige Momente in einem Gespräch. Zudem sollen dialektale Färbungen durch die standardsprachliche Umformung keineswegs herabgesetzt werden. Wenn ich mich dennoch für eine Wiedergabe in Standardsprache entscheide, dann weil sich dies meines Erachtens am besten mit dem diskursanalytischen Theoriedesign verträgt. Innerhalb eines diskurs‐ analytischen Rahmens kann es nicht um psychologische, oder gar tiefenherme‐ neutische Bedeutungsdimensionen beispielsweise einer Pause gehen, womög‐ lich einer Pause, die zwei Sekunden und nicht vier Sekunden dauert oder um dialektal-individuelle Äußerungen. Dennoch behalte ich es mir aber vor, gele‐ gentlich parasprachliche Merkmale zu erwähnen. Der Voice-Over-Erzähler (Patrick Blank) der Dokumentation fungiert als nar‐ ratives Bindeglied und kritischer Kommentator. Außerdem kommen Ex‐ pert_innen wie Humangenetiker_innen und Medizinethiker_innen zu Wort. Explikativ-bildhafte Einschübe visualisieren plastisch die unsichtbaren Vor‐ gänge im Körper. Die nun folgende Analyse wendet sich nicht gegen Pränatal‐ diagnostik an sich, nicht gegen etwaige persönliche Entscheidungen, auch nicht gegen »Optimale Förderung als Gebot« 8 . Vielmehr wird der gegenwärtige Raum, das diskursive Feld kritisch beleuchtet. Es geht im Anschluss keinesfalls um eine Kritik an den Argumentationsfiguren der jeweiligen Eltern, auch nicht an denjenigen der Expert_innen. Vielmehr sollen diese als diskursive Praktiken betrachtet werden. Menschliche Handlungen sind stets eingelassen in nicht immer bekannte Relationen: »In der Summe erscheint der Anthropos heute als eine durch vielfältige Andere be‐ sessene, verwaltete und mitkonstituierte Größe, deren Mitläuferperspektive sich in 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 76 <?page no="77"?> 9 Ott: Dividuationen, S. 18. 10 Im Verlauf der Dokumentation wird dieser Satz erneut eingeblendet und fortgeführt (T 00: 03: 07). Die Klarheit des Wunsches nach einem gesunden Kind kommuniziert auch eine Beraterin in der Analyse von Samerski: Die verrechnete Hoffnung, S. 178. Argu‐ mentiert wird mit einer universellen und allgemeinen Verbindlichkeit des Wunsches nach einem gesunden Kind. 11 Katz Rothman, Barbara: Schwangerschaft auf Abruf. Vorgeburtliche Diagnose und die Zukunft der Mutterschaft, Marburg 1989, S. 161. 12 Auch folgender Satz erscheint später und diesmal situativ eingebettet (T 00: 17: 13). teils unbekannte bio- und sozio(techno)logische Dispositive verschiedener Größen‐ ordnungen eingelassen erkennen muss.« 9 Die Exposition der Dokumentation, die auch spätere Sequenzen ohne spezifi‐ sche Situierung antizipiert, führt zunächst kommentarlos-visuell in medias res in die Thematik um Babys und Familialität ein. In schleppender Schnittfolge sind verschiedene Babys in anmutiger Atmosphäre von der Kamera fokussiert. Der Raum, in dem sich die Babys befinden, wird nicht gezeigt. Die Babys als solche sind de facto im Mittelpunkt. Die ersten verbalen Äußerungen (Mutter 1, Mutter 2 und Expertin) werden von der Erzählerstimme gerahmt. Mutter 1 (in der Exposition wird niemand namentlich eingeführt, eine Re‐ präsentanzstrategie, die in ihrer Verallgemeinerung kulturelle Symbolkraft sug‐ geriert) verbalisiert ihren natürlichen Wunsch nach einem gesunden Kind: »Wir hoffen natürlich auf ein gesundes Kind« 10 (T 00: 00: 12). Kulturelle und diskursive Repräsentativität dieser Äußerung kann auch deshalb angenommen werden, da ich einen ähnlichen Satz andernorts gelesen habe: »Man hofft natürlich auf ein gesundes Baby mit 46 Chromosomen.« 11 Mutter 2 kategorisiert die etablierte Kommunikation über ein mögliches Vor‐ liegen eines positiven Testergebnisses (demnach einer Krankheit) als vollends natürlich: »Wir haben natürlich darüber geredet, was wir machen würden, aber ich weiß nicht, ob ich es abgetrieben hätte« 12 (T 00: 00: 15). Eine Expertin (als solche erkennbar durch den weißen Kittel und die medizini‐ sche Gerätschaft) rekurriert auf die Ereignishaftigkeit einer Schwangerschaft und die gewiss vorhandene Beispiellosigkeit (T 00: 00: 20). Die drei anschließenden Statements des Erzählers (»Sehnsucht nach Sicher‐ heit«; »jede Menge Untersuchungen«; »und jetzt die Revolution«) werden kor‐ relativ bebildert. Die »Sehnsucht nach Sicherheit« (T 00: 00: 28) wird mit einem 3.1 Kommunikation des Wunsches nach einem gesunden Kind 77 <?page no="78"?> dicken Babybauch parallelisiert. Die zahlreichen Untersuchungen (»jede Menge Untersuchungen« (T 00: 00: 30)) werden durch ein Ultraschallgerät visualisiert. Den thematisierten temporalen Einschnitt, den revolutionären Bruch (»und jetzt die Revolution« (T 00: 00: 32)) in der Pränataldiagnostik drücken zwei kontrastive Bilder gemäß der Logik eines »Damals« und »Jetzt« aus: Zu Ende sind die Zeiten der Fruchtwasseruntersuchung, jetzt gibt es den »Gen-Check des Ungeborenen aus dem Blut der Mutter« (T 00: 00: 34). In den darauffolgenden Sequenzen wird ein neues Zeitalter proklamiert (T 00: 00: 37) und die Frage nach der Rechtmä‐ ßigkeit des Wissens (»Wissen-Dürfen«) gestellt (»Ist eigentlich die Schwangere berechtigt, das ganze Wissen um Veränderungen im Erbgut ihres Kindes wirk‐ lich wissen zu dürfen? « (T 00: 00: 44)). Im Anschluss daran wird das Entsetzen über die drohende »Ausrottung« solcher Menschen, die den natürlichen Ge‐ sundheitsnormen nicht entsprechen, zum Ausdruck gebracht (»Das gab es in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht, dass einfach eine Art Mensch - wenn man so will - ausgerottet wurde« (T 00: 00: 52)). Bereits der Anfang der Dokumentation zeichnet die Komplexität des Themas Pränataldiagnostik durch die perspektivische Vielfalt nach. Das letzte Wort in‐ nerhalb der Exposition hat der Erzähler aus dem Off, der eine rhetorische Frage nach dem Ausschluss von Krankheit durch die Technologien stellt: »Nur noch gesunde Kinder dank der neuen Technologie? « (T 00: 01: 01) und einen fulmi‐ nanten Umbruch festhält (T 00: 01: 04).Worin besteht aber nun dieser Umbruch? Mutter 1 und Mutter 2 zitieren (wohl unbewusst) in ihren ersten Äußerungen ein Natürlichkeitsparadigma an, in dem natürlich durch selbstverständlich er‐ setzt werden kann. Es ist glasklar, unhinterfragt, normal, gang und gäbe, auf ein gesundes Kind zu hoffen oder über Eventualitäten, über konjunktivische Mo‐ dalitäten mit Bezug auf Gesundheit zu reden. Es ist kein Zufall, dass beide Mütter ihre Gedanken in eine natürliche Spur legen, die in ihrer normativen Qualität unsichtbar ist, da sie unhinterfragt, eben natürlich, selbstverständlich, unhin‐ tergehbar und stimmig erscheint. Stimmigkeit korrespondiert dabei mit Nor‐ malität, wobei Letztere wiederum in ihrer Selbstverständlichkeit als blinder Fleck unhinterfragt funktioniert: »Akzeptierte Aussagen, die zu Erwartungen (Strukturen) kondensiert werden können, führen ihre Wahrheitsqualität als Stimmigkeit mit sich, das heißt, sie passen in das Ensemble von Erfahrungen, die Aktanten mit diesen Aussagen in ihren bisherigen Geschichten&Diskursen gemacht haben. Diese Stimmigkeit resultiert aus der Verein‐ barkeit mit den im Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm konstituierten Normal‐ itätsstandards, die wie ein System blinder Flecken das Selbstverständlichkeitsprofil 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 78 <?page no="79"?> 13 Schmidt, Siegfried J.: Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 132-133; siehe auch Schmidt: Kognitive Autonomie, S. 234. Siehe auch Kailer: Science Fiction, S. 127, S. 129. Kailer setzt sich in den ent‐ sprechenden Passagen mit dem Film Gattaca auseinander. Der vom Reproduktionsme‐ diziner als natürlich angesehene Wunsch nach Beseitigung genetischer Prädispositi‐ onen markiert Kailer zufolge das gesellschaftlich Denkbare und Selbstverständliche als Automatismus, S. 127. Der Bezug zur gesundheitlichen Perfektion im Modus des Selbst‐ verständlichen ist ebenso gegeben: »Auffallend ist, dass der Reproduktionsmediziner ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass es dem Wunsch der Freemans [derjenigen Familie, anhand von deren Situation sich der Problemhorizont des Films entfaltet, M. P.] entspricht, die Dispositionen für Kahlheit, Kurzsichtigkeit, Alkoholismus et cetera zu entfernen. Er unterstellt offensichtlich einen von der Mehrheit der Gesellschaft ge‐ teilten und in der Regel unhinterfragten Wunsch nach vollkommen perfekten bezie‐ hungsweise makellosen Kindern, der - so zumindest das Versprechen - mithilfe von Gentherapie realisiert werden kann«, S. 129. Zum Zusammenhang von Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit siehe auch Kneuper: Mutterwerden, S. 171. Kneuper bezieht sich in ihren Ausführungen auf Brigitte Jordan. des Wissens einer Gesellschaft konstituieren - sozial verbindlich und unabhängig von einzelnen Aktanten.« 13 Bei aller Pluralität der Vorstellungen rund um Schwangerschaft ist der Wunsch nach Gesundheit, also derjenigen Gesundheit, die über basales Wohlergehen hinausgeht und nicht selten mit Perfektion (so suggeriert es der Titel Der Traum vom perfekten Kind) verwechselt wird, als die gesamte Elternschaft einendes Moment artikuliert. In Differenz zu bekannten Narrationen, in denen von Ei‐ genem mit stolz abgrenzender Exklusivität berichtet wird, etwa: »Wir (als Fa‐ milie) haben bewusst keinen Fernseher«; »Bei uns wird immer um acht ge‐ meinsam gegessen«; »Unsere Tochter konnte schon mit zwei Jahren alleine spielen«, erscheint hier eine Artikulation als elterngemeinschaftliche Univer‐ salie konstruiert, wobei die Konstruktion im Natürlichkeitsparadigma un‐ sichtbar gemacht ist. Hille Haker profiliert in Hauptsache gesund? den verständlichen Wunsch nach Gesundheit als Sorge für und um ein Kind, relativiert jedoch gleichermaßen diese Verständlichkeit: »Es ist der verständlichste Wunsch, den Eltern überhaupt haben können: dass ihr Kind gesund auf die Welt kommen und gesund bleiben möge. Der Wunsch drückt die Sorge aus, die die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern prägt, sind sie es doch, die für einen langen Zeitraum für das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Kinder Verant‐ wortung tragen. Eltern wissen, dass es keine Garantie für die Gesundheit ihrer Kinder gibt. Elternschaft bedeutet daher nicht nur die aktive Sorge für ein Kind, sondern eben 3.1 Kommunikation des Wunsches nach einem gesunden Kind 79 <?page no="80"?> 14 Haker: Hauptsache gesund? , S. 9. 15 Ibid., S. 10. auch die Sorge um ein Kind. Dies drückt sich in dem immer wieder zu hörenden Satz schwangerer Frauen aus: Hauptsache, es ist gesund! « 14 Die relationale Bewegung ist in einer Art Beziehungshaftigkeit, die den Wert der Gesundheit anders betrachten lässt, begründet: »Hauptsache gesund - dieser Satz stimmt nicht immer. Wenn erst einmal eine Bezie‐ hung zu einem Menschen besteht, dann tritt unter Umständen der Wert der Gesund‐ heit hinter dem Wert dieser Beziehung zurück. Dann sagen Eltern womöglich: ›Wir schaffen das schon irgendwie.‹ Dies ist ebenfalls ein sorgenvoller Satz, und er zeugt neben dem Selbstvertrauen auch von Ungewissheit und Unsicherheit - ganz gleich, ob er nun mit Blick auf die Belastungen der Paarbeziehung, im Kontext einer repro‐ duktionsmedizinischen Unfruchtbarkeitsbehandlung gesagt wird, oder ob es um die Entscheidung geht, eine Schwangerschaft nach Feststellung eines Krankheitsbefunds fortzusetzen.« 15 Auffällig ist, dass auch im Paradigma der Beziehungshaftigkeit Unsicherheit und Ungewissheit vorhanden ist. Mutter 1 konturiert aus einer eindeutigen Positionalität heraus: »Ich wünsche mir natürlich wie alle Eltern auch ein gesundes Kind. Ich habe ja zwei fantastische gesunde Kinder und hoffe, dass es so gut geht wie die zwei Male zuvor« (T 00: 02: 12). In Anbetracht der Äußerungen des natürlichen Wunsches, gesunde Kinder zu bekommen und zu haben, ist entscheidend, dass der situative Kontext der be‐ treffenden Paare bisher noch nicht relevant erscheint (insofern er nicht einbe‐ zogen wird), wodurch die Annahme eines diskursiven natürlichen Wunsches nach Gesundheit als artikuliert-konstruierter elterngemeinschaftlicher Univer‐ salie untermauert wird. Erwähnung und Beachtung als kommunikative Arti‐ kulation findet das Paradigma der Natürlichkeit des Wunsches nach Gesundheit unabhängig von der jeweiligen Entscheidung, technologische Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Warum aber ist es natürlich, Gesundheit (eingedenk des Titels der Dokumen‐ tation wohl auch Perfektion) als elterngemeinschaftliche Universalie zu artiku‐ lieren? Spezifisch mit Butler orientiert sich die Frageperspektive auf den implemen‐ tierten Nutzen allgemein angenommener Grundlegungen: 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 80 <?page no="81"?> 16 Butler: Macht der Geschlechternormen, S. 290. 17 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 24. Zur Bedeutung des Universellen siehe Butler: Macht der Geschlechternormen, S. 306-308. »Welche Art von Garantie vermittelt die Fixierung von Grundlagen und welche Art Schrecken verhindert sie? « 16 Das Statement »Sehnsucht nach Sicherheit« könnte eine erste vorläufige Ant‐ wort sein, obschon damit noch nicht geklärt ist, wodurch die Sehnsucht moti‐ viert ist und weshalb sie als einende Universalie (»Ich wünsche mir natürlich wie alle Eltern auch [Hervorhebung M. P.] ein gesundes Kind.«) artikuliert wird. Die Universalität ist dreifach abgesichert durch die Kommunikation einer Na‐ türlichkeit als selbstverständlicher Normalität, durch einen Vergleichstopos (wie) und die Annahme einer Korrespondenz mit allen Eltern (auch). In der Ar‐ tikulation einer elterngemeinschaftlichen Universalie innerhalb einer vorder‐ gründig individuierten Welt werden in einem natürlich-unbezweifelten Abseits Konstanten festgelegt, die aufgrund solcher universell-natürlicher Abseitigkeit unhintergehbar erscheinen. Durch Abseitigkeit wird etwas zum Fakt. Eine Logik, die Butler hinsichtlich der Konstruktion von Vordiskursivem nachge‐ zeichnet hat: »Die Geschlechtsidentität umfaßt auch jene diskursiven / kulturellen Mittel, durch die eine ›geschlechtliche Natur‹ oder ein ›natürliches Geschlecht‹ als ›vordiskursiv‹, d. h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich die Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird.« 17 Die verschiedenen Konstanten, die hergestellt und etabliert wurden, erscheinen im Modus des Neutralen. Festgehalten werden kann also, dass die Kommunikation eines natürlichen Wunsches nach einem gesunden Kind ein problematisiertes, also virulent the‐ matisiertes diskursives Element ist. Diesen Umstand - im Gewand einer Kom‐ munikation nicht als einfach Vorhandenes - gilt es zu berücksichtigen. In Un‐ terkapitel 3.4 soll dann erneut die Frage aufgegriffen werden, warum die Kommunikation eines natürlichen Wunsches nach einem gesunden Kind (res‐ pektive Perfektion) als elterngemeinschaftliche Universalie überhaupt manifest ist. Universalität sollte strenggenommen zu bedenkenlosen und eindeutigen Standpunkten führen. Gleichsam werden aber diskursive Elemente dargeboten, die Eindeutigkeit im Umfeld von Technologien drastisch unterlaufen. Aus diesem Grund sollen im folgenden Abschnitt Argumentationsfiguren und Be‐ 3.1 Kommunikation des Wunsches nach einem gesunden Kind 81 <?page no="82"?> gründungszusammenhänge im Umfeld pränataler Diagnostik untersucht werden. 3.2 Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge im Umfeld pränataler Diagnostik Im folgenden Unterkapitel zeige ich, dass trotz und vielleicht auch wegen dif‐ ferierender Begründungs-, Argumentations- und Wissenszusammenhänge in‐ nerhalb der Dokumentation das diskursive Element Unsicherheit existiert. Auf‐ merksam gemacht werden soll darauf, dass im Kontext von Pränataldiagnostik das diskursive Element Unsicherheit nahezu unstornierbar ist. Familie 1 entscheidet sich gegen den Einsatz von Pränataldiagnostik, wäh‐ rend die restlichen Familien grosso modo die Fortsetzung der Schwangerschaft an die Ergebnisse dieser Verfahren binden. Welche Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge werden von Eltern und Expert_innen angewen‐ det? Die Dokumentation inszeniert anhand kontrastiver Montagen die jeweiligen Leitkonzepte der einzelnen Familien (besonders deutlich bei Familie 1 und Fa‐ milie 2), die durch den Erzähler verbunden werden, indem das exponierte Leit‐ konzept von Familie 1 (Verzicht auf pränatale Untersuchungen) auch als hin‐ führende Frage zum davon abweichenden Konzept von Familie 2 (Anwendung pränataler Untersuchung) dient. Die zu Familie 2 hinführende Frage lautet: »Wird sie [Mutter 1, M. P.] ihre Entscheidung bereuen, es einfach drauf ankommen zu lassen? « (T 00: 03: 25). Nach einem Ortswechsel und der nun beginnenden Fokussierung auf die andere Familie teilt der Erzähler mit: »Tanja und Thomas [Familie 2, Name geändert, M. P.] können sich das [Verzicht auf PND, M. P.] nicht vorstellen. Sie erwarten auch ein Kind. Sie wollen dabei aber - wie die meisten werdenden Eltern - auf Nummer Sicher gehen« (T 00: 03: 34). Durch die strukturell-narrative Verbindung drängt sich an dieser Stelle ein Ver‐ gleich auf, die Dokumentation verfährt hier nicht deskriptiv. Verzicht auf tech‐ nologische Maßnahmen (bei Familie 1) wird nicht etwa damit umschrieben, dem Gang der Dinge Entfaltungsspielraum zu gewähren und Vertrauen zu haben; vielmehr ist Verzicht vierfach negativ konnotiert. Die Möglichkeit des Bereuens scheint auf (1), eine mögliche Fehlentscheidung wird demnach suggeriert; »ein‐ 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 82 <?page no="83"?> 18 Zum Thema Leid und Leiden siehe auch - ein Blick auf die Überschrift reicht - fol‐ genden Artikel: Mutter wählt den Tod, damit ihr Baby leben kann, http: / / www.stern.de/ panorama/ fruchtwasser-embolie--mutter-stirbt--damit-ihr-baby-leben-kann- 3244546.html (zuletzt aufgerufen am 04. 03. 2015). Vgl. Landweer: Das Märtyrerinnen‐ modell; Bruckner, Pascal: Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne. Eine Streit‐ schrift, Weinheim und Berlin 1996. Siehe auch in Bezug auf Reproduktionsmedizin: »Der ›Nutzen‹ - d. h. endlich schwanger zu werden - wird offenbar immer erstrebens‐ werter, je mehr ›Kosten‹ investiert wurden - also je mehr sich das Paar den organisa‐ torischen und strukturellen Zwängen unterworfen hat.«, Onnen-Isemann: Kinderlo‐ sigkeit, S. 136. Im Hinblick auf Dokumentarfilme konstatiert Nusser: »Dokumentarfilme fokussieren auf den körperlichen und finanziellen Aufwand sowie das Leiden der unfruchtbaren Eltern«, Nusser: Reproduktionstechnologien, S. 24. 19 Beck-Gernsheim, Elisabeth: Risikodramaturgie - das Beispiel Pränataldiagnostik, in: Beck, Ulrich; Hajer, Maarten A.; Kesselring, Sven: Der unscharfe Ort der Politik. Em‐ pirische Fallstudien zur Theorie der reflexiven Modernisierung, Opladen 1999, S. 113-128, hier: S. 120. 20 Ibid., Im Kontext von einer bestehenden Verpflichtung zur Verantwortung wird auf das Schuldmotiv referiert: »So viele Ebenen der Verantwortung, so viel mögliche Schuld. So viele Ansatzpunkte für Vorwürfe und Selbstvorwürfe, für sozialen und moralischen Druck«, ibid., S. 121. fach« lässt sich leicht assoziieren mit dem Vorwurf, ›sich etwas (zu) einfach zu machen‹ (2), also mit fehlender Leidens- und Leistungsbereitschaft; »es drauf an‐ kommen zu lassen« umgeht Selbstreflexion und widerspricht der allgemeinen Norm des Sicherheitsbewusstseins (3); der Eindruck der Normativität wird ferner dadurch verstärkt, dass Familie 2 dreifach leistend-leidend 18 auf den PraenaTest zurückgreift (4). Obwohl der Test nicht von den Kassen bezahlt wird, teuer ist und die werdenden Eltern eigentlich Geld für ihren Umzug benötigen, über‐ winden sie die Hindernisse und partizipieren so an der »sittliche[n] Verpflich‐ tung« 19 und damit an der diskursiven »Verantwortungsrhetorik« 20 . Mutter 1 bindet ihren Status als Risikopatientin an ihr Alter (35 Jahre), da die »magische Grenze« (T 00: 02: 54) überschritten ist. Ihre Wortwahl (»diesen Fruchtwasseruntersuchungen« (T 00: 02: 45) und »pränatalen Diagnostik Sa‐ chen« (T 00: 02: 47)) lässt auf eine unbestimmte Skepsis, eine ungewisse Distanz gegenüber Pränataldiagnostik schließen. In ihrer Argumentation schwingt in‐ sofern Unsicherheit mit, als die pränatalen Untersuchungen »eigentlich abge‐ lehnt« werden. Mutter 1 hält fest, dass sie und ihr Partner sich nach reiflicher Überlegung gegen die neuesten Methoden entschieden haben: »Wir haben das alles eigentlich abgelehnt« (T 00: 03: 01). Die Unsicherheit (dargeboten als ›eigentliche‹ Absage) kann als Zeichen (des Unterlaufens) der bestehenden gesellschaftlichen Verpflichtung zur Rationalität 3.2 Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge 83 <?page no="84"?> 21 Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 172. Bestimmend für den Rahmen sind laut Meißner Dualismen wie beispielsweise Gesundheit / Krankheit und Norm / De‐ vianz, ibid. 22 Zur Verbindung von Natürlichkeit und Ideologie siehe Nadig, Maya: Körperhaftigkeit, Erfahrung und Ritual: Geburtsrituale im interkulturellen Vergleich, in: Villa, Paula-Irene; Moebius, Stephan; Thiessen, Barbara (Hrsg.): Soziologie der Geburt. Dis‐ kurse, Praktiken und Perspektiven, Frankfurt am Main und New York 2011, S. 39-73, hier: S. 66. Zur Deklaration von Natürlichkeit und der Gleichsetzung von Natürlichem und Gewöhnlichem siehe Heyder, Clemens: Die normative Relevanz des Natürlich‐ keitsarguments. Zur Rechtfertigung des Verbots der heterologen Eizellspende, in: Maio, Giovanni; Eichinger, Tobias; Bozzaro, Claudia (Hrsg.): Kinderwunsch und Reprodukti‐ onsmedizin. Ethische Herausforderungen der technisierten Fortpflanzung, Freiburg im Breisgau und München 2013, S. 214-232. aufgefasst werden. Diese Verpflichtung, Freiheit und Bürde zugleich, resümiert Meißner wie folgt: »Die Subjekte sind aufgefordert, ihre autonomen Lebensvorstellungen vor dem Hin‐ tergrund von bestimmten Bedingungen eigenverantwortlich zu gestalten; sie sind frei und zugleich verpflichtet, Entscheidungen zu treffen, wobei ihnen allerdings eine be‐ stimmte Konfiguration der Rationalität vorgegeben ist.« 21 Näher bestimmen lässt sich die Unsicherheit im Falle von Familie 1 als gedimmte Unsicherheit. Das Bild eines Dimmers kann herangezogen werden, um eine Un‐ sicherheit zu kennzeichnen, die wie gedimmte Beleuchtung im Hintergrund vorhanden ist und prinzipiell die Extrema (An-Aus) erreichen kann. Gedimmte Unsicherheit in der Begründung (nicht in der Entscheidung) ist dann vorhanden, wenn Vater 1 die Natur als Mitspielerin zitiert. Die Natur greift ihm zufolge vielleicht während der Schwangerschaft ein (T 00: 14: 19). Hier der genaue Wortlaut: »Wir bekommen ein Kind, und ob das Kind dann gesund ist oder krank ist, [dabei, M. P.] wird vielleicht [Hervorhebung M. P.] auch die Natur miteingreifen während der Schwangerschaft. Und wenn wir erfahren hätten: das Kind ist krank, dann hätten wir es trotzdem zur Welt gebracht, und von daher hat das jetzt für uns keine Rolle gespielt« (T 00: 14: 10). In seiner Zitation der Natur wird eine unsichtbare diskursive Verabredung re‐ produziert: Die hypostasierte eigenwillige Natur als Agentin. Die Anrufung der Natur ist politisch und ideologisch 22 . Nicht zuletzt scheint jedoch strengge‐ nommen das Natürlichkeitsparadigma erneut auch Unsicherheit zu prolongieren (»vielleicht«). Hat bereits in der Exposition eine Expertin die Frage nach dem Wissen-Dürfen gestellt, spricht Mutter 1 von sinnlosem Wissen, da sie das Kind 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 84 <?page no="85"?> 23 Die Sinnlosigkeit der Durchführung eines vorgeburtlichen Tests ohne Erwägung eines Schwangerschaftsabbruches klingt auch bei Samerski an, Samerski: Die verrechnete Hoffnung, S. 142-143. 24 Schmidtke, Jörg: »Nur der Irrtum ist das Leben, und das Wissen ist der Tod.« Das Di‐ lemma der Prädiktiven Genetik, in: Beck-Gernsheim, Elisabeth: (Hrsg.): Welche Ge‐ sundheit wollen wir? Dilemmata des medizintechnischen Fortschritts, Frankfurt am Main 1995, S. 25-32, hier: S. 29. Zum Themenkomplex Wissen (in all den unterschied‐ lichen Ausprägungen), Ungewissheit und Unsicherheit siehe den Sammelband Peter, Claudia und Funcke, Dorett (Hrsg.): Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Unge‐ wissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin, Frankfurt am Main und New York 2013. 25 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971, S. 384. 26 Foucault, Michel: Räderwerke des Überwachens und Strafens. Ein Gespräch mit J.-J. Brochier, in: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 31-47, hier: S. 45. in jedem Fall bekomme (T 00: 13: 53) 23 . Der Wissenskomplex ist ein zentrales Motiv im Umfeld von Schwangerschaft. So ist mit Schmidtke von einem je spe‐ zifischen Wissen-Wollen auszugehen, das jedoch an der konkreten Umsetzung oftmals scheitert: »Jeder muß für sich entscheiden dürfen, was für ihn gut zu wissen ist, womit er sinn‐ voll umgehen kann. Aus dieser Überlegung heraus ist das Postulat vom ›Recht auf Nicht-Wissen‹ entstanden. Ein solches Recht impliziert jedoch die Fähigkeit, aus in‐ dividueller Freiheit heraus zwischen Wissen, dosiertem Wissen und Nicht-Wissen wählen zu können. Es muß aber ernsthaft bezweifelt werden, daß dies jedem Men‐ schen ohne weiteres gelingt.« 24 Wissen codiert gerade Ratlosigkeit (T 00: 28: 32) und eine verlockende Qual der Wahl (T 00: 43: 00). Andererseits gewährleistet Wissen auch Legitimation und Begründung, sich für oder gegen ein behindertes Kind zu entscheiden (T 00: 28: 44). Berücksichtigt werden muss, dass Subjekt und Objekt des Wissens und der Erkenntnis der Mensch ist, worauf der Terminus »empirisch-transzen‐ dentale Dublette« 25 (Foucault) zielt. Mit Foucault ist von der Kopplung von Wissen und Macht auszugehen 26 . Welche Wissenssemantiken werden in der Dokumentation im Zusammen‐ hang mit Pränataldiagnostik weiterhin sichtbar? Das bereits erwähnte sinnlose Wissen, da die Entscheidung für die Schwangerschaft (unabhängig von Be‐ funden) bereits gefallen ist. Dann das Wissen, mit dem geplant werden kann, das also Kontingenzen / Unsicherheiten vermindern soll. Gleichzeitig ist Wissen im »Persönlichkeitsmodus« mit Neugierde konnotiert (T 00: 05: 57). Eine Art partielles Wissen wird bei Familie 2 konstruiert, indem gewisse Krankheiten 3.2 Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge 85 <?page no="86"?> 27 Zu einem mechanistisch-medizinischen Konzept mit 0 / 1-Unterscheidung, Schicksals‐ haftigkeit ohne soziale Faktoren, Heilsorientierung und Leiden gelangt auch von Wül‐ fingen: Genetisierung der Zeugung, S. 288-289. 28 So verweist auch Kneuper darauf, dass »[d]ie Alltagslogik […] stochastische Relationen in einen deterministischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang [überführt]«, Kneuper: Mutterwerden, S. 196. 29 Huxley, Aldous: Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft (Brave New World), Frank‐ furt am Main 2013, S. 36. durch pränatale Untersuchungen ausgeschlossen werden (deren Risiko alters‐ bedingt erhöht ist). Das partielle Wissen korrespondiert mit zahlreichen kon‐ junktivischen Äußerungen. Besonders virulent erscheint die konjunktivische Argumentation, wenn Mutter 2 im Möglichkeitsfall einer Krankheit von einer wiederum möglichen Handlungsfähigkeit spricht (T 00: 04: 23). Vater 3 artikuliert im Unterschied dazu ein an Entscheidung gekoppeltes totales Wissenskonzept, denn ihm zufolge wird alles entweder in Ordnung oder schlecht sein im weiteren Leben (T 00: 22: 24). Es handelt sich dabei also um eine Form der wissens- und entscheidungsbasierten immanenten Heilsgewissheit. Mechanistisch 27 -informationslogisch ist hier eine binäre Einordung in »+« oder »-« möglich, weshalb auch Mutter 3 (deterministisch 28 ) Sorge und Ergebnis pa‐ rallelisiert: »Diese Sorgen sind noch da, weil ich habe noch kein Ergebnis« [Lächeln] (T 00: 35: 24). Argumentationslogisch begründet sie ihre Entscheidung unter Hinweis auf das Leid einer bekannten Familie mit einem behinderten Kind (T 00: 22: 33). Jene oben sich zeigende mechanistische und bipolare, stark vereinfachte Ka‐ tegorisierung findet sich auch in Huxleys Text Brave New World. Starre und einfache, vor allem abgegrenzte Kategorisierungen und abgrenzbare Identitäten sind Kennzeichen der »schönen neuen Welt«. Im Schlafsaal wird den schla‐ fenden Jungen und Mädchen über Lautsprecher das sogenannte »Grundklas‐ senbewusstsein« ›eingeflüstert‹. Es handelt sich dabei um eine suggestive mo‐ ralische Erziehung der Jungen und Mädchen während des Schlafs. Diese Erziehung konditioniert die Schlafenden auf strikte verhaltensorientierte Ab‐ grenzung zwischen den verschiedenen Gruppierungen: »Alpha-Kinder tragen Grau. Sie arbeiten viel härter als wir, weil sie so furchtbar schlau sind. Ich bin wirklich heilfroh, dass ich Beta bin, denn ich muss nicht so hart arbeiten. Und immerhin sind wir viel besser als Gammas und Deltas. Gammas sind dumm. Sie tragen alle grün, und Delta-Kinder tragen Khaki. Nein, nein, ich will nicht mit Delta-Kindern spielen. Und Epsilons sind noch schlimmer. Die sind so dumm …« 29 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 86 <?page no="87"?> 30 Zu Euphemismen als Teil der »Rettungsrhetorik« siehe Beck-Gernsheim: Risikodra‐ maturgie, S. 118. 31 Achtelik hat in ihrer Monografie vorgeführt, dass es möglich ist, gleichzeitig für ein Recht auf Abtreibung und gegen selektive Abtreibung einzutreten, siehe Achtelik, Kirsten: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Berlin 2015. Siehe dazu auch Degener, Theresia und Köbsell, Swantje: »Hauptsache, es ist gesund«? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle, Hamburg 1992. Vermögen nun Abgrenzungen und Kategorisierungen tatsächlich, wie in diesem literarischen Beispiel vermittelt, derart restriktiv Ordnung und Gewissheit zu garantieren? Bevor Familie 3 interviewt wird, stellt eine Expertin fest, dass durch PND meistens Ängste beseitigt werden (T 00: 18: 31). Die Behauptung, Ängste ließen sich »meistens« beseitigen, ist schlicht eu‐ phemistisch 30 , und daher zeige ich in Unterkapitel 3.3 verschiedene Konfigura‐ tionen von Unsicherheit auf. Die Logik - Angst ausräumen, Optimierung, mehr Gesundheit - ist nichtsdestotrotz verführerisch. Die Anbindung von Sorge / Sorgsamkeit an das Ergebnis des Tests und die daraus abgeleiteten Konsequenzen stellen letztlich auch im mechanisch-deter‐ ministischen Wissenskonzept keine Entbindung von Unsicherheit dar. Mutter 3 äußert sich im Zusammenhang mit einer Abtreibung im Falle eine Krankheit höchst unsicher. Sie formuliert: »Wenn es wirklich krank [ist, M. P.], dann muss ich [mir, M. P.] wahrscheinlich um einen Abbruch Gedanken machen« (T 00: 35: 40). So fallen die Ausdrücke »wahrscheinlich« und »muss«, Letzteres ein Verb, das aus der Analyseperspektive letztlich wieder auf diskursive Rillen, auf einen Zwang deutet. Abgebogen wird die Drastik der Entscheidung, indem Mutter 3 mitteilt, sich über einen Abbruch (gegebenenfalls) »Gedanken« machen zu müssen. »Sich Gedanken machen« ist semantisch etwas anderes als »etwas konkret zu tun«. Indirekt werden dadurch die Konsequenzen verbal verschleiert. Ein Analyseergebnis, das nicht als konservatives Statement von mir zu Schwan‐ gerschaftsabbrüchen generell zu verstehen ist 31 ; vielmehr soll es um das Auf‐ zeigen von unsichtbaren Machtmechanismen gehen. An jenen umkämpften Technologien zeigt sich gerade die Existenz von Macht: »Bei jedem dieser Kämpfe sehen wir, dass die Technologie ein Ort der Macht ist, an dem das Menschliche produziert und reproduziert wird - nicht nur das Menschsein 3.2 Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge 87 <?page no="88"?> 32 Butler: Macht der Geschlechternormen, S. 25. Zur Stornierung des Gedankens Abtrei‐ bung bei der Werbung für den Praena-Test siehe Achtelik: Selbstbestimmte Norm, S. 131. 33 Beck-Gernsheim, Elisabeth: Im Zeitalter des medizintechnischen Fortschritts. Neue Handlungsmöglichkeiten, neue Entscheidungskonflikte, neue Fragen, in: Beck-Gerns‐ heim, Elisabeth (Hrsg.): Welche Gesundheit wollen wir? Dilemmata des medizintech‐ nischen Fortschritts, Frankfurt am Main 1995, S. 7-21, hier: S. 14-15. Zu sprachlichen Unschärfen und Umwegen siehe auch Beck-Gernsheim, Elisabeth: Von der Bastelbio‐ graphie zur Bastelbiologie. Neue Handlungsräume und -zwänge im Gefolge der Medi‐ zintechnologie, in: Peter, Claudia und Funcke, Dorett (Hrsg.): Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin, Frankfurt am Main und New York 2013, S. 81-108, besonders S. 89-90. 34 Beck-Gernsheim: Im Zeitalter des medizintechnischen Fortschritts, S. 15. 35 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 172. des Kindes, sondern auch das Menschsein derer, die Kinder bekommen, und derer, die sie aufziehen, Eltern wie Nichteltern.« 32 Die Unsicherheit, die sich in diesem Beispiel zeigt, kann als punktuell-verschlei‐ ernd beschrieben werden. Letztlich wird ein Ausgangspunkt (das pränatale Fest‐ stellen einer Krankheit) gesetzt, ausgehend von welchem verschleiernd Konse‐ quenzen artikuliert werden. Beck-Gernsheim erkennt in dieser rhetorischen Diskrepanz (umgehen, umschreiben, mit Euphemismen verdecken) zwischen tatsächlichem Töten und kommunizierten Alternativen, den »Spiralen des Schweigens«, eine ständig wachsende Kluft zwischen technischem Wissen und den gesellschaftlich sowie individuell vorhandenen Fähigkeiten, mit den darin angelegten Dilemmata umzugehen 33 . In der problematischen Bezeichnungs‐ praxis manifestieren sich zahlreiche Verwirrungen, welche durchaus mit Schuldgefühlen in Verbindung stehen: »Nicht zuletzt in den sprachlichen Leistungen / Fehlleistungen kommt zum Ausdruck, welches Ausmaß an emotionalen, kognitiven, moralischen Irritationen von den tech‐ nischen Möglichkeiten und ihrem Handlungspotential ausgeht, wie bedrohlich sie sind, welche Schuldgefühle sie anrühren.« 34 Die Konfigurationen von Unsicherheit bei allen Paaren, auch bei denjenigen, die scheinbar »auf Nummer Sicher« gegangen sind, indem sie Pränataldiagnostik angewendet haben, lassen sich im Lichte der Existenz normativ-diskursiver Ideale deuten, die nicht erreicht werden können: »Den Idealen, nach denen das Ich sich beurteilt, kann es eindeutig nicht genügen« 35 , so Butler - was umso tragischer ist, als alle Paare liebevoll, arbeitsintensiv und höchst mühselig nach dem verführerischen Ideal streben. 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 88 <?page no="89"?> 36 Mutter 4 und Mutter 5 lassen einen Bluttest aus Amerika in Belgien durchführen. 37 Zur problematischen und vielschichtigen Einschätzung einer Reduzierung des Wohls von Familien bei Krankheit und Behinderung siehe Stroop, Barbara: Vorgeburtliche Wohlergehenstests? Diagnostische Verfahren vor der Geburt und die Antizipation des zukünftigen Wohls, in: Maio, Giovanni; Eichinger, Tobias; Bozzaro, Claudia (Hrsg.): Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin. Ethische Herausforderungen der techni‐ sierten Fortpflanzung, Freiburg im Breisgau und München 2013, S. 168-192. 38 Insgesamt erweist sich der je spezifische Erfahrungskontext als eine Art Entschei‐ dungsmatrix. So konstatiert Diekämper, dass die Entscheidung möglicher zukünftiger Eltern nach einem »positiven« Befund in Abhängigkeit zur Projektion steht, die mit der Behinderung verbunden wird, wobei Wissen und Erfahrung eine wichtige Rolle zukommt, Diekämper: Reproduziertes Leben, S. 80. Mutter 4 36 expliziert im Zusammenhang mit einer möglichen Krankheit des Ungeborenen und einer Logik des Selbstverständlichen Egoismus und einfaches Wissen-Wollen aufgrund des Alters (T 00: 38: 07). Selbstverständlich ist jene Logik, da Pränataldiagnostik an sich nicht hinterfragt wird. Unterschieden und entschieden wird lediglich zwischen Fruchtwasserpunktion und Bluttest. Mutter 5, deren Schwester das Down-Syndrom hat, würde das Ungeborene ebenfalls abtreiben, weil sie erfahrungsbasiert ein solches Kind nicht möchte (T 00: 38: 46). 37 Sogar bei Mutter 5, die erfahrungsorientiert 38 bei einem positiven Befund abtreiben würde, kann vorsichtig Unsicherheit (aufgrund verlegenen Lächelns) angenommen werden. Festgehalten werden kann demnach, dass in fast allen Argumentationszu‐ sammenhängen Unsicherheit zum Ausdruck kommt. Die »eigentliche« Ableh‐ nung der Pränataldiagnostik durch Mutter 1 kann als Relativierung der Aussage begriffen werden. Vater 1 zitiert die Natur als Begründungsinstanz, jedoch eben‐ falls im Modus der Unsicherheit, da seine Begründung nur »vielleicht« zutrifft. Familie 2 greift dreifach-leidend auf den Praenatest zurück. Trotz der Anwen‐ dung einer pränatalen Untersuchung verbleiben Argumentation und Begrün‐ dung konjunktivisch als Spielarten der Unsicherheit. Familie 3 bindet vollends kausallogisch Sorge und Sorgsamkeit an das Ergebnis des Tests. Dennoch ist auch im mechanisch-deterministischen Kontext Unsicherheit vorhanden, indem die Konsequenzen der Entscheidung verschleiernd mitgeteilt werden. Auch bei Mutter 5, die erfahrungsorientiert bei einem positiven Befund abtreiben würde, kann vorsichtig Unsicherheit festgestellt werden. Als Resümee lässt sich dem‐ nach herausfiltern, dass das diskursive Element Unsicherheit nahezu einend (außer bei Mutter 4) vorhanden ist. Zwar wird in der Dokumentation stets die persönlich-intime Entscheidung respektive Entscheidbarkeit (T 00: 13: 43) erwähnt, allerdings zeigen die Unsi‐ cherheiten eine unsichtbare diskursive Verabredung, im Bewusstsein der ei‐ 3.2 Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge 89 <?page no="90"?> 39 Zur Logik, das Beste für das Kind zu wollen, zur Logik der Perfektion siehe auch Köbsell, Swantje: Humangenetik und pränatale Diagnostik: Instrumente der »Neuen Eugenik«, in: Degener, Theresia und Köbsell, Swantje: »Hauptsache, es ist gesund«? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle, Hamburg 1992, S. 11-66, hier: S. 24-25. Zu Perfektion und Gesundheit, und zwar sowohl in ihrer Kopplung als auch in ihrer nunmehr latent vorhandenen Loslösung siehe Kickbusch, Ilona: Die Gesundheits‐ gesellschaft. Megatrends der Gesundheit und deren Konsequenzen für Politik und Ge‐ sellschaft, Gamburg 2006. 40 http: / / www.perfektegesundheit.de (zuletzt aufgerufen am 10. 03. 2015). 41 http: / / www.fitforfun.de/ beauty-wellness/ gesundheit/ gesund-leben-der-perfekte-tag_aid_14380.html (zuletzt aufgerufen am 26. 09. 2015). 42 Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, Mün‐ chen 1995, S. 57. genen Verantwortung stets das Beste für das werdende Kind zu tun. Das Beste ist eben einmal Perfektion, perfekte Gesundheit (so suggeriert es kritisch der Titel der Dokumentation 39 ). Es lassen sich zahlreiche medienkulturelle Beispiele anführen, die eine metaphorische und reale Synonymisierung von Gesundheit und Perfektion vollziehen. Der Perfekte Gesundheit Shop 40 , ein Online-Versand für Küchenzubehör und vitalstoffreiche Ernährung, koppelt Perfektion und Gesundheit schon im Titel. Gesundheit und Perfektion sind außerdem in einer gemeinsamen Aktion von Fit For Fun und der DAK -Gesundheit zusammengebracht 41 . In einer Bezugnahme des Inhalts der behandelten Dokumentation auf deren Titel Der Traum vom perfekten Kind deutet sich eine Gleichsetzung von Ge‐ sundheit und Perfektion kritisch und mehrdeutig an, als Vision und Utopie, als Wunsch und deterministischer Irrweg. Für das Beste und Perfektion muss aber auch Einsatz gezeigt werden: die Übernahme immenser Kosten, tapferes Aus‐ halten und Ausharren im Schmerz (ein Nadelstich durch die Bauchdecke), banges Abwartenmüssen. Die infantile Logik schimmert durch: »Wenn ich lieb bin, bekomme ich ein Stück Schokolade, sagt meine Mami«, oder »Wenn ich nur viel leide und gebe, dann wird alles gut«. Diese Logik wird in der Dokumentation kritisch gebrochen - ein Umstand, der weiter unten noch näher diskutiert wird. Wenn man die fraglos gewandelte Bedeutung religiöser Weltanschauung im gegenwärtigen abendländischen Denken berücksichtigt, darf man sagen, dass der gängige Terminus Ratsuchende (T 00: 06: 48) - im allerweitesten Sinne - auf religiös konnotiertes Empfinden verweist. Die Ratsuchenden alias die Gläu‐ bigen, »Gesundheitsgläubigen« 42 , verinnerlichen die heilsversprechenden Lehren ratgebender Autoritäten, ganz ähnlich tradiert-praktizierter Religiosität, und zwar deshalb, weil »[m]edizinische Verfahren […] zu einer Kranken-Reli‐ 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 90 <?page no="91"?> 43 Ibid., S. 82. 44 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es, in: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke 13, London 1940, S. 235-289, hier: S. 265. 45 Villa, Paula-Irene; Moebius, Stephan; Thiessen, Barbara: Soziologie der Geburt: Dis‐ kurse, Praktiken und Perspektiven - Einführung, in: Soziologie der Geburt, S. 7-21, hier: S. 11. 46 Ibid., S. 12. 47 Siehe dazu auch Maio, Giovanni: Auf dem Weg zum Kind als erkauftes Dienstleistungs‐ produkt? Eine ethische Kritik der modernen Reproduktionsmedizin, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 3 (2010), S. 194-205. Zur Fortpflanzung als Geschäft siehe Kapitel 5 in: Diekämper: Reproduziertes Leben. gion [werden], wenn sie als Rituale zelebriert werden, die alle Hoffnung des Kranken auf die Wissenschaft und deren Funktionäre lenken« 43 . In einem Vorgriff kann bereits hier festgehalten werden, dass die Existenz religiös anmutender Ideale psychoanalytisch mit Freud gewendet problemati‐ sche Konsequenzen zeichnet, zumal das Gesundheitsideal nicht erreicht werden kann: »Das Urteil der eigenen Unzulänglichkeit im Vergleich des Ichs mit seinem Ideal ergibt das demütige religiöse Empfinden, auf das sich der sehnsüchtige Gläubige beruft. […] Die Spannung zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ichs wird als Schuldgefühl empfunden.« 44 Das Missverhältnis zwischen den Ansprüchen und Leistungen des Ichs mündet in Schuldgefühle. Neben einer zeitgenössisch angepassten Religiosität im Umfeld von Schwan‐ gerschaft durchdringen auch ökonomische Imperative jenen Diskurs. Wenn au‐ ßerdem die Expertin in der Dokumentation davon spricht, dass Personen ent‐ weder etwas »unternehmen« oder eben nicht-unternehmen müssen (T 00: 08: 11), dann zeigt sich darin die »Geburt als Projekt« 45 , als rationalisiertes Unterfangen: »Eine Geburt als Projekt also wird (be)rechnet, abgewogen, Kosten und Nutzen werden evaluiert, ebenso Risiken und erwartete ›outputs‹. Dies geschieht inmitten von hochgradig normativen, zugleich politischen und wiederum nicht selten im engen Sinne ökonomisch kalkulierenden Deutungen« 46 . Kritisch berichtet auch der Erzähler der Dokumentation von einem Geschäft 47 , das gut laufe (T 00: 38: 01). 3.2 Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge 91 <?page no="92"?> 48 Bogner, Alexander: Das individualisierte Risiko und die Grenzen des Wissens: Unge‐ wissheit und Gewissheitsäquivalente im Bereich der vorgeburtlichen Diagnostik, in: Peter, Claudia und Funcke, Dorett (Hrsg.): Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin, Frankfurt am Main und New York 2013, S. 341-366, hier: S. 355. 49 Ibid., S. 352. 50 Ibid., S. 354. 51 Ibid., S. 355. 3.3 Konfigurationen von Unsicherheit (gedimmt, punk‐ tuell-verschleiernd, konzessiv, adversativ) Nun werde ich unterschiedliche Konfigurationen von Unsicherheit profilieren und über die Diskrepanz von Anspruch und ›Wirklichkeit‹ im poststruktura‐ listischen Rekurs auf Freud (wie ihn Butler unternommen hat) von einer me‐ lancholischen Ich-Verarmung ausgehen. Das verarmte Ich lässt sich u. a. durch existenzielle Selbstvorwürfe charakterisieren. Im Unterschied zu Bogner, der Entlastungskonstruktionen (im Kontext der Unerreichbarkeit von absoluter Si‐ cherheit 48 ) im Beratungsgespräch herausfiltert und von »Mechanismen der In‐ formationsschließung« 49 spricht, kann im vorliegenden Untersuchungsmaterial keinesfalls davon die Rede sein, dass sich Informationsschließung, Entlastung und Beruhigung einstellen. Es lässt sich gerade eine gegenläufige Logik zu Bog‐ ners folgenden Beobachtungen erkennen, die hier im Wortlaut wiedergegeben seien: »Weil die Thematisierung sämtlicher Ungewissheiten mit einer Vervielfachung der Verunsicherung verbunden wäre, wird die Reflexion an einer bestimmten Stelle ab‐ gebrochen. Dieser Reflexionsabbruch ist in dem vorliegenden Beispiel durch den nor‐ malen Ultraschallbefund induziert. Die Feststellung einer normalen, durchschnittli‐ chen Anatomie ist hier das medizinische Kriterium für das erfolgreiche Erreichen des Untersuchungsziels ›Beruhigung‹.« 50 Das, was konjunktivisch eingebettet ist, eine »Vervielfachung der Verunsiche‐ rung« erscheint in den hier vorliegenden Fällen manifest, wiewohl Bogner zu‐ zustimmen ist, wenn er festhält: »Über die Unerreichbarkeit von Sicherheit zu reden, macht in der Praxis wenig Sinn.« 51 Deutlich ist erkennbar, dass alle Paare aus der Dokumentation einen hohen reflexiven Aufwand bei Themen rund um Schwangerschaft betreiben. Thiessen 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 92 <?page no="93"?> 52 Thiessen, Barbara und Villa, Paula-Irene: Die »Deutsche Mutter« - ein Auslaufmodell? Überlegungen zu den Codierungen von Mutterschaft als Sozial- und Geschlechterpo‐ litik, in: Brunner, José (Hrsg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs, Göttingen 2008, S. 277-292, hier: S. 283. 53 Beck-Gernsheim spricht gar von einer »Bedrohungsrhetorik«, die unerbittlich sei. »Wir sind von Feinden umzingelt, der Feind ist allgegenwärtig«, Beck-Gernsheim: Risiko‐ dramaturgie, S. 115. 54 Samerski, Silja: The unleashing of genetic terminology: how genetic counselling mo‐ bilizes for risk management, in: New Genetics and Society 2 (2006), S. 197-208, hier: S. 206. Siehe dazu auch: Kollek und Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. 55 Katz Rothman: Schwangerschaft, S. 14 sowie das Kapitel 4. 56 Ibid., S. 104. und Villa verwenden für solche Aushandelbarkeit den Terminus »reflexive Mo‐ dernisierung und Individualisierung von Mutter- und Vaterschaft« 52 . Unsicherheit konfiguriert sich neben der bereits aufgezeigten gedimmten und punktuell-verschleiernden auch als konzessive und adversative. Konzessive Unsi‐ cherheit geht aus einräumenden Textbausteinen hervor. Adversative Unsicherheit zeigt sich an entgegnenden Anmerkungen. Mutter 2 ist sich konzessiv der Tatsache bewusst, dass auch nach dem Bluttest Risiken bestehen bleiben: »Das ist natürlich nicht alles, was sein könnte« (T 00: 05: 13). 53 Die Adversation zeigt sich beispielsweise in der Rede einer Expertin. Dem aus‐ geschlossenen kleinen Teil (Trisomie 13 18 21) wird ein größeres, durch Tests nicht auszuschließendes erbliches Krankheitspotenzial gegenübergestellt: »Es ist so, dass dieser Test natürlich nicht alle erblichen Erkrankungen erfasst, sondern wirklich nur einen ganz kleinen Teil, diese Trisomie 13 18 21« (T 00: 07: 41). Nach der Bekanntgabe des Testergebnisses wird ebenso ein konzessiver Be‐ gründungszusammenhang artikuliert: »Ich freue mich natürlich, dass ich Ihnen das Ergebnis so mitteilen kann. Ich möchte trotzdem noch einmal darauf hinweisen, dass ja auch im weiteren Verlauf das be‐ obachtet werden sollte« (T 00: 16: 48). Das unauffällige Ergebnis wird konzessiv verunsichert, indem sofort eine weitere Drohkulisse aufgebaut wird. Aufgrund eines »forward-looking gaze« 54 wird ge‐ genwärtiges Sein (der werdenden Mutter) suspendiert. Mutterschaft - es war Barbara Katz Rothman, die von »Schwangerschaft auf Abruf« 55 sprach, wobei durch Amniozentese Vorläufigkeit 56 inkorporiert wird - ist, besser echot pas‐ sivisches Beobachtetwerden. So spricht auch Armstrong von einer »Surveil‐ 3.3 Konfigurationen von Unsicherheit 93 <?page no="94"?> 57 Armstrong, David: The rise of surveillance medicine, in: Sociology of Health & Illness 3 (1995), S. 393-404. 58 Kneuper: Mutterwerden, S. 30-31. 59 Ibid., S. 121. 60 Ibid, S. 191. Dort ist zu lesen: »Auch von Fachleuten werden die Eltern oft in ihren Bedenken bestärkt und eher verunsichert als beruhigt«, Siehe auch ibid., S. 199-200. Siehe auch Haker: Hauptsache gesund? , S. 103. Professionelle Kommunikation von un‐ vollständigen, falschen Ergebnissen nach der Fruchtwasseruntersuchung wird auch thematisiert bei Katz Rothman: Schwangerschaft, S. 48, S. 56. 61 Kneuper: Mutterwerden, S. 220. lance Medicine« 57 , die im 20. Jahrhundert aufkommt. Das Verb echoen ist hier methodologisch gebraucht und bedeutet, dass bestimmte Phänomene als Ereig‐ nisse widerhallen. Das Phänomen der unter Beobachtung stehenden und stets prekarisierten Mutterschaft ereignet sich in unserer Medienkultur und ist als mediale Manifestation zeigbar. Die Konfiguration konzessiver Unsicherheit aufgrund des trotzdem Beobach‐ tens ist ein Paradebeispiel für die facettenreiche Unsicherheit(srhetorik). Im folgenden Abschnitt kommen wissenschaftliche Stimmen zu Wort, die allesamt Unsicherheit im Zusammenhang mit Familialität deskriptiv erläutern. Die Wiedergabe der wissenschaftlichen Annahmen erfolgt, um verdeutlichen zu können, dass Unsicherheit ein vielerorts herauspräparierter Parameter ist. Und dennoch: Was in der Forschung bisher nicht erfolgte, ist die über die aus‐ sagenorientierte Feststellung hinausgehende Einordung von Unsicherheit, und zwar in unserer Medienkultur. Eine weiterreichende, facettenreiche Begrün‐ dung familienpolitischer Unsicherheit erfolgt in Unterkapitel 3.4. Dort soll näm‐ lich die These entfaltet werden, dass wir in einer Medienkultur familientech‐ nologischer Gesundheitsmelancholie leben. Kneuper zeigt die Kommunikation von Vorläufigkeit bei der Erstuntersu‐ chung 58 . Sie geht davon aus, dass auf die Geburt vorbereitende Maßnahmen von Hebammen die Spannung erhöhen und den Vorlauf auf die Geburt dramatisieren können 59 und verweist auf Verunsicherung von Eltern durch Fachleute 60 . Durch die Verunsicherung wird Kneuper zufolge das Bedürfnis nach medizinischer Kontrolle eher größer 61 . Entsprechend konstatiert auch Samerski eine selbst‐ produzierende Steigerungslogik: 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 94 <?page no="95"?> 62 Samerski: genetic terminology, S. 201. Siehe dazu auch Köbsel: Humangenetik und prä‐ natale Diagnostik, S. 30-38, S. 62. Zur verschärften Unsicherheit im Zusammenhang mit genetischer Beratung siehe Zuuren, F. J. van; Schie, E. C. M. van; Baaren, N. K. van: Uncertainty in the information provided during genetic counseling, in: Patient Educa‐ tion and Counseling 32 (1997), S. 129-139, besonders S. 129. Ebenso Samerski: »Die Suche nach ›Sicherheit‹ bringt also neue Verunsicherungen mit sich«, Samerski: Die verrechnete Hoffnung, S. 207. 63 Werner-Felmayer, Gabriele: Frauenkörper - im Topos von Fruchtbarkeit und Heilung, in: Hochleitner, Margarethe (Hrsg.): Gender Medicine. Ringvorlesung an der Medizi‐ nischen Universität Innsbruck 1, Wien 2008, S. 37-53, hier: S. 46-47. Zu Unsicherheit im Kontext von Pränataldiagnostik siehe auch Bogner: Das individualisierte Risiko, S. 347. Zu individuell-existenzieller und epistemologischer Unsicherheit siehe auch Kollek und Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 298-299 und S. 274. 64 Rose und Schmied-Knittel: Magie und Technik, S. 85. »The fear of risk produces service consumers whose needs can never be met: all a geneticist can offer is to perpetuate the genetic fortune-telling by means of genetic testing, and to calculate new risks.« 62 Gabriele Werner-Felmayer attestiert der pränatalen Diagnostik ein markt- und produktwirtschaftlich organisiertes Management und kategorisiert die Zeit der Schwangerschaft als eine Zeit der großen Unsicherheit 63 . Grundsätzliche Gefahr erscheint konstitutiv in den Alltag inkludiert: »Die Vorstellung von der grundsätzlichen Gefährdungslage von werdender Mutter und Kind wird auf diese Weise veralltäglicht, unhinterfragbar und unhintergehbar gemacht. Zugleich werden Unsicherheiten und Konfliktmöglichkeiten durch die Ri‐ sikokommunikation erst (iatrogen) aufgebaut, wenn eine Risikoschwangerschaft als der Normalfall betrachtet wird« 64 . Wie geht nun die Expertin in der Dokumentation mit Ungewissheit und Unsi‐ cherheit um? Letztlich sei das Ergebnis des Bluttests, so sagt sie, kein »Freifahrtschein« für ein gesundes Kind (T 00: 17: 05). Hier manifestiert sich konzessive und adversative Unsicherheit. Wie lässt sich aber Unsicherheit präziser fassen? 3.3 Konfigurationen von Unsicherheit 95 <?page no="96"?> 65 Krondorfer, Birge: Gesundheit und Moderne Frauen. Notate zum Körperregime, in: Mauerer, Gerlinde (Hrsg.): Frauengesundheit in Theorie und Praxis. Feministische Per‐ spektiven in den Gesundheitswissenschaften, Bielefeld 2010, S. 129-143, hier: S. 135, ferner bezeichnet sie Risikovermeidung und Prävention als Leuchtreklamen unserer Zeit, S. 131. Siehe auch: »Ein Haushaltungs- und Versorgungsdrama des ›nie genug‹ läßt sie tagtäglich zu Schuldnerinnen werden, die nie geben oder abdecken können, was als ständiger Mangel re-/ produziert wird«, Mauerer, Gerlinde: Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal, Wien 2002, S. 122, ebenso: »Schuldgefühle sind im mütterlichen Ge‐ wissen, gemessen an der hohen, unerfüllbaren und widersprüchlichen Norm von Müt‐ terlichkeit, stets präsent«, ibid., S. 129, zum Themenkomplex Schuld und Risiko (sowie Forschungsliteratur dazu) siehe auch Kneuper: Mutterwerden, S. 206; und Haker: Hauptsache gesund? , S. 156. Ebenso: Achtelik: Selbstbestimmte Norm, S. 130, 138. 66 Pränataldiagnostik ist dabei gerade ambivalent: »Die Pränataldiagnostik scheint […] eine hochambivalente Wirkung zu entfalten, denn sie steht nicht nur für das Verspre‐ chen, die Denormalisierungsangst zu bannen, sondern sie ist zugleich eine der In‐ stanzen, die diese Angst hervorbringen und schüren«, Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007, S. 138. 67 http: / / www.gfhev.de/ de/ leitlinien/ LL_und_Stellungnahmen/ 2011_S2-LL-Humangenetik.pdf (zuletzt aufgerufen am 14. 01. 2016). 68 Ibid., Gliederungspunkt 10.17. 69 Speth: Späte Schwangerschaftsabbrüche, S. 126. Aufgrund der Konfigurationen von Unsicherheit befindet sich die Einzel‐ person in der Rolle eines »Selbstals Schuldverhältnisses« 65 . Das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst ist also konstitutiv, ja nahezu identitätsstiftend durch Schuldzuschreibungen geprägt. Hier soll also - und darauf habe ich schon persistent verwiesen - keine Kritik an einzelnen Personen, werdenden Eltern oder Expert_innen, unternommen werden. Die Kritik als Erkenntnisinstrument fokussiert auf das diskursive Feld, in dem sich Unsicherheit konfiguriert und Pränataldiagnostik sich entsprechend entfaltet 66 . Eine Kritik an Einzelpersonen wäre nicht zuletzt deshalb vermessen, weil Unsicherheitsbeteuerungen reglementiert sind. So hat die Deutsche Gesell‐ schaft für Humangenetik e. V. in den bis Juni 2016 gültigen Leitlinien S2-Leitlinie Humangenetische Diagnostik und genetische Beratung 67 diese festgeschrieben: »Bei einem unauffälligen pränataldiagnostischen Befund muss auf die unabhängig vom Befund weiter bestehenden Gesundheitsrisiken für das Kind hingewiesen werden« 68 . So konturiert Speth »eine Pflicht zu desillusionierender Beratung« 69 , wobei die »Rechtsprechung […] in den letzten Jahren dazu beigetragen [hat], dass Ärz‐ tInnen genetische Risiken selbst dann, wenn ihre Realisierungswahrscheinlich‐ keit gering ist, benennen und über die Konsequenzen nicht durchgeführter Un‐ 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 96 <?page no="97"?> 70 Ibid. 71 Samerski: Die verrechnete Hoffnung, beispielsweise S. 164, S. 165, S. 200. 72 Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, in: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke 10, Frankfurt am Main 1946, S. 427-446, hier: S. 431. 73 Ibid. 74 Berndt, Christina: Klinik für Mütter mit Burn-out-Erscheinungen. Die Botschaft: Lass es dir gut gehen, in: http: / / www.sueddeutsche.de/ leben/ klinik-fuermuetter-mit-burn-out-erscheinungen-die-botschaft-lass-es-dir-gut-gehen-1.2097156 (zuletzt aufgerufen am 03. 03. 2015), »Zuletzt hat das Burn-out-Syndrom Menschen in allen Berufen getroffen. Und jetzt ist eine ganz neue Klientel davon bedroht: die Mütter.« tersuchungen aufklären müssen.« 70 Zudem zeigt sich die spannungsgeladene Argumentationsfigur in der genetischen Beratung, die sowohl auf Evidenz als auch auf Relativierung setzt, noch in der Analyse von Beratungssitzungen, die Samerski unternommen hat 71 . Im (poststrukturalistischen) Rekurs auf Freud kann davon ausgegangen werden, dass sich das Ich in einer melancholischen Ich-Verarmung befindet: »Der Melancholiker zeigt uns noch eines, was bei der Trauer entfällt, eine außeror‐ dentliche Herabsetzung seines Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungsunfähig und moralisch verwerflich, er macht sich Vorwürfe, beschimpft sich und erwartet Ausstoßung und Strafe.« 72 In deutlicher Differenz zum traurigen Ich zeichnet sich das melancholische Ich dadurch aus, dass es sich selbst kontinuierlich erniedrigt. Zentral ist außerdem, dass der Schauplatz der Armut und Leere buchstäblich das Ich und nicht etwa seine Umwelt ist. Selbstvorwürfe und Selbstbeschimpfungen werden in der Melancholie per‐ formiert: »Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstim‐ mung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Lie‐ besfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstge‐ fühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.« 73 So kann der im August 2014 erschienene Artikel über Burn-out-Erscheinungen von Müttern 74 im Zusammenhang mit Ich-Verarmung gelesen werden. Norma‐ tive Perfektion, existenzieller Selbstzweifel, dilemmaartige Adversation, Ich-Verarmung und Ich-Herabsetzung im Sinne Freuds, Leere, Versagensängste 3.3 Konfigurationen von Unsicherheit 97 <?page no="98"?> 75 Ibid. 76 Ibid. 77 Ibid. 78 Ibid. als konstitutive Diskrepanz zwischen Anspruch und Realisation erweisen sich als diabolische Strukturelemente. So informiert die Geschäftsführerin des Müt‐ tergenesungswerks: »Fast alle Frauen wollen unbedingt besonders gute Mütter sein. Und angesichts dieses Dilemmas haben sie immer öfter das Gefühl, individuell zu versagen.« 75 Die Freudsche Beschreibung der Ich-Verarmung, Ich-Herabsetzung und Leere lässt sich auf die mütterlichen und elterlichen Selbstzweifel beziehen: »Burn-out, das ist diese innere Leere, diese Freud- und Lustlosigkeit, die fehlende Kraft, der gestörte Schlaf und die Angst, im Alltag nicht zu bestehen. Es ist ein Er‐ schöpfungssyndrom mit depressivem Mitklang. […] Die Lasten des Familienlebens, sie bleiben weiterhin großenteils an den Frauen hängen, weil das alte Mutterbild, wonach Frauen rund um die Uhr für ihre Familie zu sorgen haben, in den Köpfen bestehen bleibt. Zugleich sind die Ansprüche an die Bildungserfolge der Kinder ge‐ stiegen - und auch an die Qualität der Erziehung: Während die heutige Großeltern‐ generation ihre Kinder irgendwie großgezogen hat, plagen die Eltern von heute oft Selbstzweifel.« 76 Im Teaser des Artikels werden Überforderung und Perfektion gekoppelt, wobei die Leere jene Ich-Verarmung markiert: »Nicht nur Manager trifft Burn-out - immer mehr Mütter fühlen sich überfordert und leer. Wie hilft man Frauen, die alles perfekt machen wollen und Angst haben, im Alltag nicht zu bestehen? « 77 Wettbewerb und Mutterschaft sind zusammengewachsen. Erfolg wird als por‐ tionierte Qualität hierarchisch nach außen getragen. Elternschaft erscheint als kostspieliges Gewand, je nach quasi-messbarem Erfolg: Discounter oder Prada - das ist die Frage. Nun trägt aber auch der Teufel Prada, und Einsatzbereitschaft ist unendlich, Garantie bleibt konjunktivisch oder illusorisch, das Ideal kann sich eben nicht einstellen: »Es ist so zwar nicht wie in der Rama-Werbung. Aber das war es, was die Stimmung betraf, vorher schließlich auch nicht.« 78 - konstatiert eine an Burn-out erkrankte Mutter im genannten Zeitungsartikel. Der Beitrag liest sich 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 98 <?page no="99"?> 79 Jürgens, Kerstin: Deutschland in der Reproduktionskrise, in: Leviathan 4 (2010), S. 559-587. 80 Ibid., S. 577. 81 Ibid., S. 580. 82 Ibid. 83 Ibid. als traurige Bestätigung der von Jürgens postulierten »Reproduktionskrise« 79 in Deutschland. Gesteigerte Erwartungen und Ansprüche, unendliche Selbst-The‐ matisierung, Optimierung und Leistungsdruck kulminieren: »Sozialer Wandel bringt jedoch nicht lediglich neue Formationen von Partnerschaft und Familie hervor, sondern auch veränderte Erwartungen - sowohl seitens der Ge‐ sellschaft als auch der Beteiligten selbst. Ehe und Partnerschaft werden romantisiert, das Kind dient als Medium der Selbstverwirklichung, die Ansprüche an (früh)kindliche Förderung kennen im Zuge von Arbeitsmarktkrise und PISA-Debatte kaum noch eine Grenze. Die Fülle an Therapieangeboten, populärer Beratungsliteratur und medialen Evaluationsarenen lässt erahnen, dass Intimbeziehung und Elternschaft kaum noch intuitiv gelebt werden (können), sondern Gegenstand permanenter Selbst-Themati‐ sierung sind. ›Feed Back‹-Runden, die aus beruflichen Kontexten bestens bekannt sind, halten auf diese Weise auch im Privaten Einzug und werden als ›Beziehungs- und Liebesarbeit‹ institutionalisiert. Sie sind zum einen Ausdruck einer Psychologi‐ sierung von Gesellschaft, in der Problemlösekompetenzen zunehmend an Be‐ rater / innen abgetreten werden. Zum anderen sind sie Indiz für die wachsende Verbreitung einer Logik der Optimierung, die keineswegs nur entlastende Momente mit sich bringt, sondern ihrerseits auch im Privaten Leistungsdruck [Hervorhe‐ bungen M. P.] nach sich zieht - und auch die Entscheidung zur Familiengründung bzw. -erweiterung negativ beeinflussen kann.« 80 Der in dem Zeitungsartikel zur Sprache kommende Widerspruch erscheint grundsätzlich virulent: »Im Privaten wollen die Menschen einerseits emotional aufgefangen werden, erfahren aber dort inzwischen auch massive Belastungen durch die schwierige Aufgabe, widersprüchliche Selbst- und Fremdansprüche mit den widrigen Lebensbedingungen harmonisieren zu müssen.« 81 Als Burnout verstanden wird jene »Überforderung« 82 , jene »Diskrepanz zwischen Hand‐ lungserwartungen und -möglichkeiten« 83 . Welche Handlungserwartungen werden in unserer gegenwärtigen Medien‐ kultur kommuniziert? 3.3 Konfigurationen von Unsicherheit 99 <?page no="100"?> 84 Der Werbespot ist online einzusehen: https: / / www.youtube.com/ watch? v=ehCN4RZdSTw (zuletzt aufgerufen am 19. 02. 2016); im Folgenden abgekürzt mit W. Siehe auch Dreysse, Miriam: Mutterbilder in der zeitgenössischen Kunst. Auseinan‐ dersetzungen mit einem Ideal, in: Villa, Paula-Irene und Thiessen, Barbara (Hrsg.): Mütter - Väter: Diskurse, Medien, Praxen, Münster 2009, S. 290-306, besonders S. 290-295, ebenso Dreysse: Mutterschaft und Familie. Darin analysiert und interpre‐ tiert die Autorin u. a. Mutterbilder und Familienbilder der Werbung und der Ratgeber‐ literatur, S. 33-44. 85 Jürgens: Reproduktionskrise, S. 580: »Elternschaft scheint somit kaum mehr intuitiv gestaltbar zu sein, sondern vielfach sehen sich Eltern in einer permanenten Rechtfer‐ tigungsspirale hinsichtlich aller Entscheidungen rund ums Kind.« 86 So arbeitet Jürgens die problematischen Verknüpfungen von Erwerbsarbeit und Pri‐ vatleben heraus: »Koordinations- und Synchronisationsprobleme in Folge der struktu‐ rellen Widersprüchlichkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben müssen in der alltägli‐ chen Lebensführung bewältigt werden«, Jürgens: Reproduktionskrise, S. 578. Insbesondere erwachsen für Frauen Probleme: »Die ›Vereinbarkeit‹ von Mutterschaft und beruflicher Karriere gleicht jedoch nach wie vor einem individuellen Drahtseilakt, ibid., S. 575. Es ist jene Widersprüchlichkeit, die sich als prekär erweist: »Diese ver‐ stärkte Erwerbsintegration von Frauen steht - ebenso wie das emanzipatorische Leit‐ bild - in Widerspruch zur anhaltenden Ungleichverteilung von Haus- und Familienar‐ beit«, ibid. Siehe dazu auch ibid., S. 572-573. Die Firma WICK wirbt gegenwärtig für ein Produkt mit dem Spruch: »Mütter nehmen sich nicht frei« 84 . Die Mutter informiert innerhalb einer Logik der »Rechtfertigungsspirale« 85 ihre Tochter Anna: »Anna, ich muss mich heute leider krank melden. Bin mobil erreichbar, okay? « (W 00: 00: 01) Daraufhin lässt die Tochter ihren Prinzessinnen-Stab fallen und eine er‐ haben-mächtige Stimme aus dem Off ergänzt: »Mütter nehmen sich nicht frei«. Der Slogan ist ebenso eingeblendet, demnach akustisch und visuell realisiert. Einer Auszeit setzt WICK ein Medikament entgegen: »Mütter nehmen das neue WICK DuoGrippal (W 00: 00: 09)«. Es fällt auf, dass Erwerbsarbeit, bzw. eine Rhetorik aus derselben, und Mutter‐ schaft eine noch bis vor wenigen Jahren ideologisch kaum denkbare Verschrän‐ kung erfahren. Zwar kann die dargebotene Kontamination als Metapher für die ›irren‹ Anforderungen 86 an Mutterschaft (gegen den Strich) gelesen werden; allerdings geht es mir eher um die Betonung einer unsichtbaren, und daher pro‐ blematischen Vermischung bei der WICK -Werbung. Kritisches Potenzial lässt die Werbung vermissen, und zwar insofern, als die Disparatheit nicht zur Gel‐ tung kommt, wie beispielsweise bei einer Katachrese. Unter Katachrese wird allgemein eine »Vermischung uneigentlicher Wendungen, die der wörtlichen 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 100 <?page no="101"?> 87 Schlösser, Christian: »Katachrese«, in: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moen‐ nighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart und Weimar 2007, S. 376. 88 Zum Schattendasein privat geleisteter Arbeit siehe Jürgens: Reproduktionskrise, S. 574. 89 Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 163. 90 Zum Verhältnis von Mutterschaft und Erwerbsarbeit, der Disqualifikation von erwerbs‐ tätigen Müttern (auch in historischer Aufarbeitung) siehe Correll, Lena: Anrufungen zur Mutterschaft. Eine wissenssoziologische Untersuchung von Kinderlosigkeit, Münster 2010. Bedeutung nach aus disparaten Bereichen stammen« 87 , verstanden. Das Poten‐ zial einer Katachrese, die Sichtbarmachung zweier disparater Bereiche, die Pro‐ blematik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, wird in der Werbung weder realisiert noch überhaupt angestrebt. Denkbar wäre beispielsweise eine wie auch immer geartete Anerkennung der mütterlichen Leistung in der Familie 88 durch die Referenz auf Erwerbsarbeit - freilich ohne essentialistische Normie‐ rung von Mütterlichkeit und polemisch-konservative Kontrastierung zur Mutter, die ganz in ihrer Vollzeitbeschäftigung aufgeht. Problematisch ist an der dargebotenen Kontamination die Tatsache, dass die unsichtbare Überlagerung von Mutterschaft mit einem Vokabular aus dem Kontext von Erwerbstätigkeit erstens nicht der Anerkennung von Mutterschaft als Arbeit dient und zweitens sodann ein Konkurrenzverhältnis zur Erwerbsarbeit andeutet. Die Unsichtbar‐ keit der Kontamination (im Unterschied beispielsweise zur Katachrese »das Blaue vom Ei«) impliziert die Selbstverständlichkeit ständigen mütterlichen Pflegens. Stabilisiert und verschleiert wird im Mütterlichkeitsmodus normales Pflegen ohne Vergütung und ohne gesellschaftliche Anerkennung. Noch einmal pointiert: Sicherlich könnte die Werbung auch als Polemik gegen die gegenwärtigen Anforderungen an Mütter aufgefasst werden. Allerdings scheint in der Werbung eher ein bestimmter Typus von Mutter, nämlich die ›Karrierefrau‹, die Beruf und Familie nicht mehr trennen kann, karikiert zu sein. Die (kritische) Stoßrichtung fokussiert dann auch nicht auf die problematische gesellschaftliche Situation, sondern auf die problematischen Mütter. Dargeboten ist demnach eine heteronormativ vergeschlechtlichte Rollenzu‐ weisung 89 . Zementiert wird ferner ein Konkurrenzverhältnis zur Erwerbsarbeit 90 . Wenn man berücksichtigt, dass das inszenierte grenzenlose und omnipräsente Pflegen mit zeitlichem Aufwand verbunden ist, und dann ein dichotomisches Konkur‐ renzverhältnis zwischen der Arbeit als Mutter und Erwerbsarbeit suggeriert wird, dann ergeben sich daraus hochproblematische Konsequenzen. Gute Mut‐ terschaft speist sich heute nämlich aus der omnipräsenten Fürsorge und gleich‐ zeitiger Erwerbsarbeit: 3.3 Konfigurationen von Unsicherheit 101 <?page no="102"?> 91 Thiesen und Villa: Auslaufmodell, S. 286. Darin wird auch die Unsichtbarkeit der proble‐ matischen Aspekte medial inszenierter entgrenzter Arbeit dargelegt, ibid., S. 287-288. 92 Badinter, Elisabeth: Der Konflikt. Die Frau und die Mutter, München 2012, S. 110. 93 Vinken, Barbara: Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos, 2., erw. und aktual. Aufl. Frankfurt am Main 2011, S. 69. »Mütter stehen zwischen der verblassenden, aber immer noch wirksamen Rhetorik der vollzeitlichen Verfügbarkeit für die Kinder und der gleichzeitigen Anforderung, sich bei Bedarf selbst zu ernähren, um eine ›gute Mutter‹ sein zu können.« 91 Ist diese Doppelbelastung an sich schon an der Grenze des Erträglichen, so er‐ scheint sie mit Blick auf die WICK -Werbung, in der gerade und ausschließlich Mütterlichkeit, Muttersein, die mütterliche Rolle schlechthin profiliert wird, in‐ sofern desaströs, als die häufig notwendige Erwerbsarbeit unter der Prämisse (omnipräsentes Muttersein) nicht funktioniert, niemals funktionieren kann. Wenn man sich - und es ist grausam - auf diesen Deutungshorizont einlässt, dann wird für mütterliche Omnipräsenz trotz Krankheit geworben. Zitiert wird damit das »Märtyrerinnenmodell« (Landweer), die »Tyrannei der Mutter‐ pflichten« 92 , die »Rund-um-die-Uhr-Bezugsperson-Mutter« 93 , Machbarkeit und in der Konsequenz auch Disziplin: Sei gefälligst bedingungslos für dein Kind da - trotz Krankheit. Das zentrale Strukturelement ist somit konzessiver Qua‐ lität: bedingungsloses Aufopfern trotz persönlicher Hindernisse. Daneben zeigt sich in den jeweiligen Figurationen der Mutter und der Tochter eine positionale Dichotomisierung. Während das Kind als Prinzessin inszeniert ist, wirkt die Mutter deutlich unscheinbarer. Die jeweiligen Semantiken sind weitschweifend: Macht - Ohnmacht, Besonderheit - Gewöhnlichkeit, Präsentabilität - Unsicht‐ barkeit. Innerhalb der Semantik des Werbespots glänzt der Vater durch Abwesenheit. Ergänzt werden soll nun die dargebotene väterliche Absenz der WICK -Werbung durch drei Zusatzbemerkungen. Alle drei Ergänzungen sind Zeugnisse für die medienkulturelle Aushandlung und Präsenz der väterlichen Position. Als ich einen Workshop auf der Babywelt-Messe in München (mehr dazu weiter unten) besucht habe und die Sitzmöglichkeiten in der dafür vorgesehenen Binnenräumlichkeit in Relation zu den Teilnehmer_innen zu knapp bemessen waren, überließen alle, ausnahmslos alle Männer den (schwangeren) Frauen die Sitzplätze. Eine Art kollektives männliches Aufstehen folgte. Die Väter glänzten gerade durch fürsorgliche Anwesenheit. Erinnert werden soll in diesem Zusammenhang auch an die medial-politische väterliche Inszenierung des Vizekanzlers und Bundesministers für Wirtschaft und Energie Sigmar Gabriel. Im Februar 2016 erscheinen mehrere Artikel, die 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 102 <?page no="103"?> 94 http: / / www.focus.de/ politik/ deutschland/ seine-frau-muss-die-praxis-offenhalten-weil-seine-tochter-krank-ist-sigmar-gabrielnimmt-sich-frei_id_5270126.html (zuletzt aufgerufen am 09. 02. 2016). 95 http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ sigmar-gabriel-nimmt-sich-fuer-kranke-tochter-frei-a-1076329.html (zuletzt aufge‐ rufen am 09. 02. 2016). Gabriels väterliche Präsenz herausstellen. So lautet ein Titel: Seine Frau muss die Praxis offenhalten. Weil seine Tochter krank ist: Sigmar Gabriel nimmt sich frei 94 , ein weiterer: Familie und Karriere: Tochter krank - Vizekanzler Gabriel nimmt sich frei 95 . Beide Artikel zitieren folgendes Statement von Gabriel: »Ich bin in den nächsten Tagen häufiger zu Hause, weil meine Frau den Spruch, dass ich immer ganz Wichtiges zu tun hätte, wenn’s zu Hause mal Probleme gibt, nur begrenzt erträgt.« Ferner hat es nicht lange gedauert, bis auf Facebook über die besagte WICK -Werbung in bekannter Manier debattiert wurde. Kurz und bündig greife ich einen der Kommentare heraus: »Zum Kotzen diese Werbung! « Es ist also durchaus ein kritisches Problembewusstsein, ein umcodierendes Echo aktuell vorhanden, nicht zuletzt deshalb, weil die inszenierte väterliche Absenz in einem weiteren Kommentar als Makel der Werbung aufgefasst wird und die dargebo‐ tene Leerstelle in eine Neuartikulation der Werbung umcodiert, resignifiziert wird: »Der Anfang der Werbung war gut. Dann hätte aber was kommen müssen wie: ›Aber Papa ist ja erreichbar.‹« Was zeigen also das männliche Aufstehen auf der Babywelt-Messe, Sigmar Gabriels väterliche und häusliche Positionierung sowie die Einforderung der väterlichen Position im Facebook-Kommentar? Erst einmal kann festgehalten werden, dass die methodologische Fokussierung auf andere Medien (etwa Messe und Facebook) auch zu anderen und neuen Erkenntnissen führt. Auf der Baby‐ welt-Messe waren die Väter nicht nur anwesend, sondern auch fürsorglich. Sigmar Gabriel profiliert sich zumindest als sorgsam. Im kritischen Face‐ book-Kommentar wird die väterliche Position eingefordert, und ist daher auch nicht vollends absent. Eingedenk des durchaus medienkulturell manifesten Kritikpotenzials kann nun wieder an die Dokumentation angeknüpft werden. Diese erweist sich näm‐ lich in mehrfacher Hinsicht als intelligentes Reflexionsmedium. Wiewohl die Mehrzahl der befragten Paare pränataldiagnostische Verfahren präferieren (4: 1), wogegen sich die vorliegende Arbeit auch nicht richtet, wird die allgemeine 3.3 Konfigurationen von Unsicherheit 103 <?page no="104"?> 96 Die Dokumentation ist insofern kritisch-problemorientiert, als expressis verbis thema‐ tisiert wird, dass es de facto um Schwangerschaftsabbruch (T 00: 30: 27) geht, und einer Verschleierung demnach entgegengewirkt wird; als eine Expertenstimme auf die Pro‐ blematik einseitig-mechanischer Denkattitüden verweist (wenn ich Geld zahle, dann ist das Kind automatisch gesund) (T 00: 25: 38). Zur Kritik an Verschleierungstaktik, ein‐ seitigen Schreckensszenarien sowie Tötung als Fakt siehe: Beck-Gernsheim: Risikodra‐ maturgie, S. 117-120, S. 124. Zur Problematik um die Vorhersage des Krankheitsverlaufs ebenso Haker: Hauptsache gesund? , S. 99-100 sowie: Waldschmidt, Anne: Risiken, Zahlen, Landschaften. Pränataldiagnostik in der flexiblen Normalisierungsgesellschaft, in: Lutz, Petra u. a. (Hrsg.): Der [Im-]Perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Für die Aktion Mensch und die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Bonn 2003, S. 95-107. Richtungsweisend im Hinblick auf fehlende Konkretheit statis‐ tischer Ergebnisse siehe Samerski: Die verrechnete Hoffnung. 97 Nusser verweist darauf, dass die zahlreichen Referenzen auf diesen Roman in den ver‐ schiedenen - allgemein gesprochen - bioethischen Diskursen inhaltliche Momente desselben ausblenden, Nusser: Reproduktionstechnologien, S. 212, oder insgesamt: S. 211-220. Logik, in die die Technologien eingebettet sind, kritisch 96 von verschiedenen Seiten beleuchtet, und zwar beispielhaft, inhaltlich, antinormativ-frageorien‐ tiert und aufdeckend. Beispielhaft, und zwar im mehrdeutigen Sinne kommen facettenreiche »Körper von Gewicht« (Butler) zu Wort - so etwa auch Mütter von Kindern mit Down-Syndrom. Inhaltlich verweist der Erzähler auf die öko‐ nomischen Aspekte, antinormativ fragt er, wie wir mit den humanwissenschaft‐ lichen Erkenntnissen umgehen wollen (T 00: 42: 32). Aufgedeckt wird ebenso antimechanistisch, dass »Verfahren wie der neue Bluttest in Wahrheit nur sehr wenig gegen das Risiko einer Behinderung beim Kind ausrichten« (T 00: 34: 26), auch deshalb, weil die meisten Behinderungen nicht angeboren sind (T 00: 35: 12). Es ist kein Zufall, dass die Dokumentation (intermedial) auf zwei andere Medien sich bezieht, und zwar auf Huxleys Brave New World 97 , die unbemerkt begonnen hat, wie es in der Dokumentation heißt (T 00: 41: 42), und die auch von Ex‐ pert_innen in der Dokumentation z. T. kritisch beäugt wird, sowie auf das The‐ aterstück Mongopolis mit Juliana Götze, in erster Linie ein Mensch, eine sehr erfolgreiche Schauspielerin, ein »Körper von Gewicht«. Antiapokalyptisch er‐ zählen zwei Mütter von ihren Erfahrungen mit ihren Kindern, bei denen das Down-Syndrom diagnostiziert wurde. Bisher existieren zwar zahlreiche Klassifikationen des diskursiven Feldes, wobei das Wort Unsicherheit wohl dasjenige ist, welches am häufigsten zu lesen ist. Allerdings steht eine diskursorientiert-inhaltliche Einordung der Deskrip‐ tion Unsicherheit noch aus. Eine wichtige Ausnahme stellen die Überlegungen Kirsten Achteliks dar. Ihre Untersuchung ist eine der wenigen Arbeiten, die über das Feststellen von Unsicherheiten und Ambivalenzen tatsächlich hinausgeht. 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 104 <?page no="105"?> 98 Achtelik: Selbstbestimmte Norm, S. 140-141. So ist es auch kein Zufall, dass Achtelik diskursanalytisches Verbleiben in der Deskription kritisiert, ibid., S. 133, Fußnote 55. Achtelik verwendet das Gender-Sternchen »für Personen, die nicht in die zweige‐ schlechtliche Matrix von ›Frauen‹ und ›Männern‹ passen (wollen)«, ibid. S. 13. Ich da‐ gegen habe mich für den (älteren) Gender Gap entschieden. Zu Achteliks Bezeich‐ nungspraxis siehe auch ibid., S. 12-13. 99 Maskos, Rebecca: Was heißt Ableism? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft, in: arranca! (2010),in: http: / / arranca.org/ 43/ was-heisst-ableism (zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016). 100 Haraway, Donna: »Wir sind immer mittendrin«. Ein Interview mit Donna Haraway, in: Hammer, Carmen und Stieß, Immanuel (Hrsg.): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main und New York 1995, S. 98-122, hier: S. 112. Messerscharf stellt Achtelik fundamentale Fragen, die sie in einen größeren Kontext einordnet: »Aber wovor haben die Schwangeren* eigentlich Angst? Warum können und sollen die Schwangeren*, gesellschaftlich akzeptiert und befördert, ihrer Angst vor einer Behinderung ihres zukünftigen Kindes so viel Raum geben? Was heißt es, wenn Frauen* bereit sind, Unsicherheit und Wartezeit, die Nadel im Bauch sowie die Gefahr eines Spontanabortes auf sich zu nehmen, um die Bestätigung zu bekommen, dass ihr erwartetes Kind keine genetisch feststellbare Behinderung hat? […] Die Antworten auf diese Fragen geben Aufschluss über Behindertenfeindlichkeit und Ableism.« 98 Angst (u. a. vor Behinderung) und Unsicherheit im Zusammenhang mit präna‐ talen Untersuchungen sind demnach im Kontext von Behindertenfeindlichkeit und Ableism zu verorten. Ableism bezeichnet »die einseitige Fokussierung auf körperliche und geistige Fähigkeiten einer Person und ihre essentialisierende Be- und Verurteilung« 99 . Im Rahmen der Medienkulturanalyse soll nun nach dem diskursiven Rahmen, in dem Unsicherheit und Schuld als wirkmächtig erscheinen, gefragt werden. 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie »Man kann niemals das haben, worauf man nicht verzichten kann.« 100 »Gesundheit ist heute das Zauberwort, um Zustimmung zu gewinnen - in Medien und Politik, beim Mann und der Frau auf der Straße. Gesundheit, genauer die Gesund‐ 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 105 <?page no="106"?> 101 Beck-Gernsheim: Bastelbiologie, S. 96. 102 Focus online am 21. 09. 2014, der Titel lautet: Hormon beeinflusst Rechentalent. Schlecht in Mathe? Daran ist die Mutter schuld, in: http: / / www.focus.de/ familie/ rechnen-ist-eine-frage-der-gene-muetter-beeinflussen-mathematik-begabung_id_‐ 4146586.html (zuletzt aufgerufen am 09. 04. 2015). Christina Mundlos zeigt beispielori‐ entiert-sozialpsychologisch derart luzide schlechtes Gewissen, Schuldgefühle, Angst, Sorgen, mütterliche Verantwortung, dass es einem bei der Lektüre - wie in einem Hor‐ rorfilm - eiskalt den Rücken herunterläuft. Beim »Schulkind-Terror« geht es ihr zufolge immer um langfristige beängstigende Konsequenzen, Mundlos, Christina: Mütterterror. Angst, Neid und Aggressionen unter Müttern, 2., erw. Aufl. Marburg 2013, S. 104. 103 Wunschkinder - Der Traum vom Babyglück (00: 42: 31), ausgestrahlt am 25. Februar 2015 auf RTL 2. Es handelt sich dabei um die erste Folge der zweiten Staffel. heitsverheißung, öffnet Türen, schiebt Wi‐ derstände beiseite, bringt öffentliche Unter‐ stützung und Gelder.« 101 Der folgende Abschnitt widmet sich einer über Deskription hinausgehenden Einordung der Parameter Unsicherheit, Schuld, Ich-Verarmung, Narzissmus und Schamlosigkeit im Umfeld von Familienpolitik. Im Rekurs auf die Dokumenta‐ tion wird Trauerarbeit als subversives Mittel funktionalisiert. Letztlich wird über Unsicherheit, Schuld, Ich-Verarmung, Narzissmus, Schamlosigkeit und Trauer die These entfaltet, dass wir uns in situ in einer Medienkultur der fami‐ lientechnologischen Gesundheitsmelancholie befinden. Unsicherheit, persistent mit Schuld konnotiert, ist ein allgegenwärtiges Dis‐ kurselement. Focus online berichtet von einer möglichen Schuldzuweisung an Mütter bei schlechten Noten, die ihren Ausgang pränatal findet: »Wer mit Winkeln, Kreisen und Algebra nicht klar kommt und in Mathe schlechte Noten hat, kann künftig seiner Mutter die Schuld dafür geben. Die Ergebnisse einer niederländischen Studie deuten darauf hin, dass Frauen bereits im Mutterleib die spä‐ tere Rechenfähigkeit ihrer Kinder beeinflussen.« 102 In der Doku-Soap Wunschkinder - Der Traum vom Babyglück (Deutschland 2009-, Imago TV ; TV ( RTL 2)) sorgt sich eine Teilnehmerin nach ihrer überaus freudigen Reaktion im Anschluss der Bekanntgabe einer geglückten künstlichen Befruchtung sofort über potenzielle Gefährdungen aufgrund ihrer Freude 103 . Nochmals deutlich soll betont werden, dass es um potenzielle Gefährdung durch Freude ging, nicht etwa um Folgen negativer Gefühle. Es handelt sich dabei um eine verschärfte Neuauflage des Phänomens der mütterlichen Einbildungskraft. Ein Phänomen, welches - wie Andreas Bernard nachzeichnet - eine lange Tra‐ dition hat, im frühen 18. Jahrhundert relativiert wurde, aber bis heute unter‐ 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 106 <?page no="107"?> 104 Bernard: Kinder machen, S. 292-295, der gesamte Themenkomplex zu »mütterlicher Einbildungskraft« S. 290-301. Siehe auch die Überlegungen zur Einbildungskraft in Nusser: Reproduktionstechnologien, S. 49-82, auch diejenigen zur Pränatalpyscho‐ logie: Kneuper: Mutterwerden, S. 224-233. 105 Ibid., S. 233. 106 Bruner, Claudia F.: KörperSpuren. Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen, Bielefeld 2005, S. 77. schwellig vorhanden ist. 104 Tendenziell wird alles reflexiv umsorgt und zum po‐ tenziellen Fehler. Das Beispiel aus der Doku-Soap Wunschkinder, in dem Freude zur potenziellen Gefahr wird, zeigt deutlich einen Zusammenhang von Psycho‐ logisierung, Schuld und Selbstvorwürfen 105 . Ich verweise darauf, dass ich den Abschnitt Medienkultur der familientech‐ nologischen Gesundheitsmelancholie bewusst über die inhaltlichen Parameter Schuld und Unsicherheit einleite. Ausgangspunkt meiner anschließenden Über‐ legungen zu Gesundheitsmelancholie ist die Beobachtung der konsistenten und persistenten Empfindungen von Schuld und Unsicherheit in ihren je spezifi‐ schen Konfigurationen. Claudia F. Bruner überträgt Butlers Konzept der heterosexuellen Melancholie auf Behinderung. Dreh- und Angelpunkt ist die Annahme einer Verlustge‐ schichte: »Tritt die Behinderung im Verlauf der Biografie auf, ist der Verlust, der mit der An‐ rufung ›behindert‹ verbunden ist, kaum zu verdrängen. […] Aber auch im Falle einer Behinderung von Geburt an, bleibt die andere Seite - der Status des Nichtbehin‐ dert-Seins - stets präsent als das unerreichbare, verlorene Andere.« 106 Im Zusammenhang mit Behinderung wird also Nichtbehinderung als verlorene Qualität betrachtet. Dabei konstituiert sich melancholische Erinnerung einer‐ seits darin, wie es sein könnte, andererseits in der persistenten Befürchtung, behindert zu werden. Dabei flimmert diese »gesperrte und dennoch präsente Angst« immer wieder im Alltag auf: »Diese melancholische Erinnerung ist auf der einen Seite der Gedanke daran, wie es sein könnte, wäre man nicht behindert - und auf der anderen Seite die Unbehagen verursachende und nicht zum Schweigen zu bringende Befürchtung [Hervorhe‐ bung M. P.], dass es auch anders kommen und man sich flugs auf der Seite der Be‐ hinderten wiederfinden könnte. Diese gesperrte und dennoch präsente Angst wird im Alltag immer wieder manifest (so zum Beispiel in den Gesichtern der nichtbehinderten Besucher und Besucherinnen, die in den Körperweltenausstellung mit mir als Roll‐ 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 107 <?page no="108"?> 107 Ibid. 108 Butler: Psyche der Macht, S. 125. 109 Ibid. 110 Ibid., S. 128-129. 111 Ibid., S. 127. stuhlfahrerin konfrontiert werden, etwa gar vor dem Anblick missgebildeter Föten‐ präparate).« 107 Es geht demnach um eine konstitutive Reziprozität zwischen er‐ wünschtem / gefürchtetem Zustand und Sein. Die diskursiven Elemente Unsicherheit und Schuld können nun als eine Spielart einer wie Bruner es in Anlehnung an Butlers Konzept der »melancho‐ lischen Geschlechterformierung« 108 ausdrückt, »nicht zum Schweigen zu brin‐ gende[n] Befürchtung« und »präsente[n] Angst« vor Behinderung verstanden werden. Die Elemente Unsicherheit und Schuld werden in der vorliegenden Ar‐ beit allerdings mit weiteren Elementen in Zusammenhang gebracht, und zwar mit Ich-Verarmung, Narzissmus, Schamlosigkeit und Trauer. So kann aufbauend auf Bruner und den Disability Studies die These formuliert werden, dass wir in situ in einer Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie leben. Butler thematisiert mehrfach in Auseinandersetzung mit Freud Melancholie. Im Folgenden fasse ich ihre Ausführungen zur »melancholischen Geschlech‐ terformierung« knapp zusammen. Butler zeigt, wie melancholische Identifizie‐ rung zentral für geschlechtsspezifische Ich-Konstitution ist 109 . Die eindeutige Geschlechtszugehörigkeit des Ich ist sensu Butler prozessuales und performa‐ tives Resultat einer melancholischen Identifizierung mit dem kulturell verbo‐ tenen Objekt der Begierde: »Denken wir daran, daß Geschlechtszugehörigkeit zumindest teilweise erworben wird durch die Abweisung homosexueller Verhaftungen; das Mädchen wird Mädchen, indem sie einem Verbot unterworfen wird, das ihr die Mutter als Objekt des Begehrens versperrt und dieses gesperrte oder barrierte Objekt in einer melancholischen Iden‐ tifizierung zu einem Teil des Ich macht. Die Identifizierung enthält also in sich sowohl das Verbot wie das Begehren und verleibt sich somit den unbetrauerten Verlust [Her‐ vorhebung M. P.] der homosexuellen Besetzung ein.« 110 Eine vormalige Verhaftung, Bindung zu einem Objekt wird nicht aufgelöst, die Verbindung reißt in der »melancholischen Verinnerlichung« 111 nicht ab: »Vom Objekt lassen bedeutet, wie wir hier sehen können, paradoxerweise kein voll‐ ständiges Verlassen des Objekts, sondern seine Übertragung von außen nach innen. 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 108 <?page no="109"?> 112 Ibid., S. 126-127. 113 Ibid., S. 127. 114 Butler, Judith: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der »Postmo‐ derne«, in: Benhabib, Seyla u. a. (Hrsg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Post‐ moderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 31-58, hier: S. 44. 115 Butler: Psyche der Macht, S. 131. 116 Ringler, Marianne: Zur Schuldfrage in der psychosomatischen Betreuung bei pränataler Diagnostik, in: Kentenich, Heribert; Rauchfuß, Martina; Diederichs, Peter (Hrsg.): Psy‐ chosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe 1993 / 94, Berlin u. a. 1994, S. 106-113, hier: S. 110. Darin wird auch im Kontext von pränataler Diagnostik das Problemfeld um Schuld und Trauer beleuchtet. 117 Butler: Psyche der Macht, S. 32-33. Das Objekt aufzugeben, wird nur unter der Bedingung einer melancholischen Verin‐ nerlichung möglich, oder, was sich für uns als noch wichtiger erweisen könnte, unter der Bedingung einer melancholischen Inkorporation oder Einverleibung.« 112 Nicht zu vernachlässigen ist für die Argumentation, dass der erlittene Verlust unbetrauert, ja kulturell unbetrauerbar ist. Es geht nach Butler um »Ableugnung des Verlusts« 113 , um das Gegenteil von Anerkennung und Bewusstheit. Die Au‐ tonomie des Subjekts ist das illusorische Ergebnis der verleugneten Abhängig‐ keit 114 . Gleichsam wird ein Pakt geschlossen: Naturalisierte, evidente und damit un‐ hintergehbare heterosexuelle Identität wird durch melancholische, also ver‐ leugnete Inkorporation der Verbindung zum begehrten Objekt erwirkt 115 . Eine Zusammenfassung der Überlegungen Butlers, bereits mit Blick auf Ge‐ sundheit ergibt folgendes Muster: Melancholie bedeutet, dass das, was abgelehnt wird, unbetrauerbar, aber zweifellos vorhanden, nämlich eingekapselt, gärt, und zwar konstitutiv für das Subjekt. Damit ist die Wahrnehmung jenes Anderen und Fremden gemeint, welches jedoch gerade auch Eigenes betrifft: »Wahrgenommene Behinderung bedeutet aber immer auch das Wahrnehmen eigener Beschränkungen, also ungeliebter Selbst-Anteile.« 116 Was melancholisch gärt, ist jener unbotmäßige Rest, der das Subjekt ›heim‐ sucht‹: »das als kontinuierlich, sichtbar und lokalisiert hervorgebrachte Subjekt [wird] nichtsdestoweniger von einem nicht anzueignenden Rest heimgesucht […], einer Me‐ lancholie, die die Grenzen der Subjektivation markiert« 117 . Le Blancs pointierte Zusammenfassung von Butlers Konzept der Geschlechter‐ melancholie lässt sich gewinnbringend auf Gesundheitsmelancholie um‐ wenden, wenn »die Nichtunterschiedenheit des Lebens« als »Nichtunterschie‐ 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 109 <?page no="110"?> 118 Le Blanc, Guillaume: »Etre assujetti: Althusser, Foucault, Butler«, in: Actuel Marx 2 (2004), S. 45-62, hier: S. 58. Aufmerksam wurde ich auf den Text dadurch, dass Hanna Meißner in ihrer Monografie zu Widerstandsformen bei Butler, Foucault und Marx auf diesen Text referiert; Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 67. Um eine adäquate Auseinandersetzung mit dem Text zu gewährleisten, wurde Dr. Martin Weidlich mit der Übersetzung beauftragt. 119 Siehe dazu auch Dederich: Körper, beispielsweise S. 139. Diese Ansicht findet sich auch sehr deutlich in Nagode, Claudia: Grenzenlose Konstruktionen - konstruierte Grenzen? Behinderung und Geschlecht aus Sicht von Lehrerinnen in der Integrationspädagogik, Münster u. a. 2002, beispielsweise S. 282-283. Ebenso: Tervooren, Anja: Der verletzliche Körper. Überlegungen zu einer Systematik der Disability Studies, in: Waldschmidt, Anne (Hrsg.) im Auftrag des bifos e. V.: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Di‐ sability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, S. 37-48, hier: S. 43. Bei Pohlen ist zu lesen: »Behinderung ist ohne Bezug auf Nichtbehinderung nicht denkbar, genau wie Nichtbehinderung ohne Verweis auf Behinderung keinen Sinn ergibt«, Pohlen, Ca‐ rola: Kategorien, die fiesen Biester. Identitäten, Bedeutungsproduktionen und politische Praxis, in: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hrsg): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010, S. 95-111, hier: S. 100. Pohlen knüpft ferner über den Begriff regulatorischer Apparat an Butler an, ibid. 120 Franke, Alexa: Modelle von Gesundheit und Krankheit, 2., überarb. und erw. Aufl. Bern 2010, S. 91. denheit von Gesundheit und Krankheit« verstanden wird. Die Melancholie offenbart sich »als unmöglicher Verlust des Verlustes, wobei sie aufscheinen lässt, dass das, was beim Eintritt in die Rollen des Geschlechtes getilgt wurde, die Nichtunterschiedenheit des Lebens, doch bleibt, und zwar als Wiederkehr einer Abwesenheit, eines weißen Flecks, der nicht aufhört, das Subjekt heimzusuchen.« 118 Dasjenige, was abgelehnt wird, ist dann entweder ein unerwünschter möglicher Zustand als Befürchtung (Bruner) oder ein Ist-Zustand, der (noch) nicht der erwünschte ist, als unendliches Streben. Es gibt kein A ohne ein B (diese Auffassung vertreten u. a. Lévinas, Butler und Foucault, und sie ist fundamental in den kulturwissenschaftlich vorgehenden Disability Studies 119 ), was konkret bedeutet, dass »Gesundheit […] ohne Krank‐ heit nicht denkbar [ist] - und umgekehrt.« 120 Realiter wird jedoch dieses kon‐ stitutive Reziprozitätsverhältnis melancholisch verleugnet. Dabei avancieren die Verdrängenden zu selbstidentischen Gesundheitsminister_innen, ja, identifi‐ zieren sich als selbstidentische Gesundheitsminister_innen. So erweist sich diese Reziprozität als tatsächliche »Einverleibung des Verhaftetseins«, die das Andere (in unserem Falle Krankheit) bewahrt: 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 110 <?page no="111"?> 121 Butler: Psyche der Macht, S. 126. So schreibt auch Le Blanc: »Melancholie ist das, was das Subjekt auf sich selbst hin abschließt, während sie tatsächlich durch die Einverlei‐ bung der äußeren Formen von Macht entsteht«, Le Blanc: Althusser, Foucault, Butler, S. 59. 122 Butler: Psyche der Macht, S. 126. »Was es gibt, ist vielmehr die Einverleibung des Verhaftetseins als Identifizierung, wobei die Identifizierung eine magische, eine psychische Form der Bewahrung des Objekts wird.« 121 Dennoch, also trotz oder gerade in der Existenz selbstidentischer Gesundheits‐ minister_innen erscheint das andere Objekt Krankheit vorhanden. Es bewohnt und verfolgt das Ich und die Gesundheitsminister_innen: »Soweit Identifizierung die psychische Bewahrung des Objekts ist und solche Iden‐ tifizierungen das Ich bilden, bewohnt und verfolgt das verlorene Objekt weiterhin das Ich als eine seiner konstitutiven Identifizierungen. In diesem Sinn wird das verlorene Objekt koextensiv mit dem Ich selbst.« 122 Das Zwischenfazit lautet: Gesundheitsminister_innen verdrängen selbstiden‐ tisch die Reziprozität zwischen Gesundheit und Krankheit. Den Verdrängungs‐ prozess habe ich als politisch bezeichnet und in diesem Zusammenhang von Minister_innen gesprochen. Die Verleugnung jener konstitutiven Verbindung zwischen Krankheit und Gesundheit in unserer Gesundheitsmelancholie funk‐ tioniert aber nur vermeintlich. Gesundheitsminister_innen werden nämlich von einem unbotmäßigen Rest eingeholt. Dieser gärende Rest zeigt sich beispiels‐ weise in Form vehementer Unsicherheit und in der Erfahrung von Schuldge‐ fühlen. Begründen lässt sich die Analogisierung von Geschlechtermelancholie und familientechnologischer Gesundheitsmelancholie demnach durch die in‐ korporierende Verleugnung der Abhängigkeit im identitären Formierungspro‐ zess, der indes permanent zu scheitern droht. Nicht verschwiegen werden soll, dass im Gegensatz zu dem hier verfolgten Ansatz die von Butler in deren Kon‐ zept der Geschlechtermelancholie erläuterte ursprüngliche und dann verbotene Reziprozität als homosexuelles Begehren und als Liebe behandelt wurde. Zuge‐ gebenermaßen erscheint diese Form von Beziehungsmäßigkeit - übertragen auf Krankheit und Gesundheit - zumindest problematisch. Selbstverständlich kann nicht von Liebe zur Krankheit oder von Begehren nach Krankheit gesprochen werden. Betont werden soll jedoch, dass eine Reziprozität im Sinne gegensei‐ tiger Abhängigkeit zwischen Krankheit und Gesundheit besteht und dass diese Reziprozität melancholisch verleugnet wird. Sie wird hier eher allgemein als 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 111 <?page no="112"?> 123 Haker: Hauptsache gesund? , S. 10. 124 Tervooren: Der verletzliche Körper, S. 45. 125 Davis, Lennard J.: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness, and the Body, London und New York 1995, S. 4. 126 Freud: Das Ich und das Es, S. 265. In Unterkapitel 3.2 habe ich dieses Freud-Zitat bereits angebracht, um im Vorgriff Grundlagen für Unterkapitel 3.4 zu generieren. 127 Butler: Psyche der Macht, S. 106. In entsprechender Passage setzt sich Butler mit Alt‐ husser auseinander. 128 Ibid., S. 27. Beziehungsmäßigkeit, und daher abstrahierend vom konkreten Butlerschen Modell, betrachtet. Gesundheitsminister_innen verleugnen demnach ihre autokonstitutive Be‐ züglichkeit. Hille Haker betont entsprechend auch die normale Existenz von Abhängigkeiten 123 . Tervooren verweist mit Blick auf Lacan auf die Vertrautheit aller Menschen mit dem zerstückelten Körper, der Verletzlichkeit des Körpers, wobei der normale und ganze Körper ihr zufolge lediglich imaginiert wird 124 . Lennard J. Davis konturiert binäre Abgrenzungslogik als ideologisch und poli‐ tisch, wobei analog verschiedene Kategorien betrachtet werden 125 . Die normale, normorientierte Abgrenzung, Unabhängigkeit, Ganzheit, das Agieren als selbst‐ identische Gesundheitsminister_innen, ist rhetorisch-kulturell-diskursiv vermit‐ telt und politisch. Die Logik Gesundheit versus Krankheit ist politisch, wobei aber die Konstruktion als Politikum verschleiert ist. Das, was verschleiert wird, taucht andersartig und diffus u. a. als Schuld und Unsicherheit wieder auf. Freud verknüpft die Wendebewegung von einem Ist-Zustand, der noch nicht der erwünschte ist, als unendliches Streben, mit Schuld: »Das Urteil der eigenen Unzulänglichkeit im Vergleich des Ichs mit seinem Ideal ergibt das demütige religiöse Empfinden, auf das sich der sehnsüchtige Gläubige beruft. […] Die Spannung zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ichs wird als Schuldgefühl empfunden.« 126 Für Butler manifestiert sich Schuld in, durch und mit Verwerfungsgesten. Schuld ermöglicht gerade den Fortbestand des Subjekts 127 . Dass Schuld (verbunden u. a. mit intensiviertem Gewissen und Selbstvorwurf 128 ) und Unsicherheit medien‐ kulturell im Zusammenhang mit Familienpolitik manifest sind, wurde ja hin‐ länglich durch wissenschaftliche Stimmen und konkrete Beispiele weiter oben expliziert. Ein Verweilen bei den Disability Studies ist hier erforderlich. Diese gehen - insbesondere wenn sie kulturwissenschaftlich vorgehen - von der Ef‐ 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 112 <?page no="113"?> 129 Dederich: Körper, S. 41. Dementsprechend sieht der Autor »[e]ine der zentralen Auf‐ gaben der Disability Studies« in der »Analyse der Herstellung kognitiver und physi‐ scher, am Individuum festgemachter Differenz«, S. 82. Zur Konstruktion von Krankheit auch mit Bezug auf ökonomische Aspekte siehe: Werner-Felmayer: Frauenkörper. 130 Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne: Disability History: Einleitung, in: Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 7-10, hier: S. 7. 131 McRuer, Robert: Crip Theory. Cultural Signs of Queerness and Disability, New York und London 2006, S. 6. 132 Ibid., S. 31. 133 Köbsell, Swantje: Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht und Körper, in: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hrsg): Gendering Disability. Intersektionale As‐ pekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010, S. 17-33, hier: S. 21. 134 Ibid., Siehe auch Köbsell, Swantje: »Passives Akzeptieren« und »heroische Anstren‐ gung« - zum Zusammenspiel von Behinderung und Geschlecht. Vortrag am 03. 02. 2009 im Rahmen der ZeDiS-Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte! ? Perspektiven der Disability Studies«, in: http: / / www.zedis-ev-hochschule-hh.de/ files/ koebsell_geschlecht_behinderung.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. 11. 2015). fekthaftigkeit von Behinderung aus 129 . Bösl, Klein und Waldschmidt nehmen daher an, dass der Behinderungsbegriff eine diskursive und eine materielle Di‐ mension aufweist 130 . McRuer arbeitet mit dem kontaminierten Terminus »Able-Bodied Heterosexuality« 131 gerade die Parallelität von erzwungener, kul‐ turell konstruierter Heterosexualität und ebensolcher Nichtbehinderung he‐ raus: »Compulsory heterosexuality is intertwined with compulsory able-bodiedness; both systems work to (re)produce the able body and heterosexuality. But precisely because these systems depend on a queer / disabled existence that can never quite be contained, able-bodied heterosexuality’s hegemony is always in danger of collapse.« 132 Köbsell unterstreicht, dass »[s]owohl Geschlecht als auch Behinderung […] ge‐ sellschaftliche Konstrukte [sind].« 133 So gilt: »Sie enthalten nicht nur jeweils ›in sich‹ eine hierarchische Bewertung (männlich / weiblich - nichtbehindert / be‐ hindert), sondern auch untereinander. Beide werden im Alltag, im Austausch mit anderen Menschen und Institutionen ständig hergestellt.« 134 Claudia Nagode hält schließlich in direktem Bezug zu und aufbauend auf Butler den konstitutiven Verweisungscharakter von Gegensätzen fest und rekurriert über das Moment der »Drohung« auch auf die Konvergenz von Homosexualität und Behinderung: »Die Entmündigung Anderer konstituiert damit die eigene Mündigkeit. Wie Homo‐ sexualität auch wird Behinderung als ›Drohung‹ nie ganz verworfen, aber sie verbleibt 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 113 <?page no="114"?> 135 Nagode: Grenzenlose Konstruktionen, S. 84. 136 Ibid., S. 290. 137 Haker: Hauptsache gesund? , S. 123. 138 Siehe etwa Reiss, Kristina: Behinderung von Geschlecht - Zur Exklusion von Ge‐ schlecht durch Behinderung und Produktion des Anderen, in: Jacob, Jutta und Wollrad, Eske (Hrsg.): Behinderung und Geschlecht - Perspektiven in Theorie und Praxis. Do‐ kumentation einer Tagung, Oldenburg 2007, S. 51-63. Zu Feminist Disability Studies siehe fundamental und prominent: Garland-Thomson, Rosemarie: Integrating Disabi‐ lity, Transforming Feminist Theory, in: NWSA Journal 3 (2002), S. 1-32. 139 McRuer: Crip Theory, S. 10. Siehe dazu auch seine eigene Bewertung der Adaption von Butlers Annahmen, S. 212, Fußnote 11. 140 Raab, Heike: Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Be‐ hinderung, Heteronormativität und Geschlecht, in: Waldschmidt, Anne und Schneider, Werner (Hrsg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 127-148, hier: S. 128. Siehe umfassend zu einer Geschlecht und Behinderung betrachtenden Forschungshal‐ tung den Sammelband Gendering Disability von Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hrsg): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Ge‐ schlecht, Bielefeld 2010. 141 Raab, Heike: Shifting the Paradigm: »Behinderung, Heteronormativität und Queer‐ ness«, in: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hrsg): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010, S. 73-94, hier: S. 79. Zur Konvergenz von Homosexualität und Behinderung siehe auch McRuer: Crip Theory, S. 92, mit Bezug auf den Nationalsozialismus Davis: Enforcing Normalcy, S. 184, Fußnote 85. im Bereich der unlebbaren Zone und bildet somit die Grenze zur Idee des vollkom‐ menen, unverletzlichen Körpers.« 135 Pointiert fasst sie die Subjektkonstitution hinsichtlich Geschlechtlichkeit und Gesundheit zusammen. Dabei hält sie fest, dass bestimmte Identifizierungen - etwa der behinderte Körper - verworfen werden 136 . Unsicherheit und Schuld (als Spielarten von Befürchtung (Bruner) und Drohung (Nagode, Davis, Haker)) sind konstitutive Momente der Gesundheitsmelancholie. Verworfen, verleugnet und abgewiesen wird die konstitutive Verbindung zwischen A und B, Gesundheit und Nicht-Gesundheit, die stets vorhandene »Beziehungskomponente« 137 . Ich verweise darauf, dass in den Disability Studies (dass diese ihrerseits he‐ terogen sind, versteht sich von selbst) facettenreich mit Butler gearbeitet wird 138 . Einer der deutlichsten Rekurse auf Butler in den Disability Studies findet sich bei McRuer, der in Analogie zu gender trouble von »ability trouble« spricht 139 . Heike Raab berücksichtigt Behinderung, Heteronormativität und Ge‐ schlecht gemeinsam 140 . Raab arbeitet in ihrer hochgradig produktiven Ausei‐ nandersetzung mit Butler Interpenetrationen gewinnbringend hervor und spricht von »Analogien« zwischen Homosexualität und Behinderung 141 . 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 114 <?page no="115"?> 142 Tremain, Shelley: On the Subject of Impairment, in: Corker, Mairian und Shakespeare, Tom (Hrsg.): Disability / Postmodernity. Embodying disability theory, London und New York 2002, S. 32-47, hier: S. 34. So betont Waldschmidt, dass insbesondere Shelley Tre‐ main in den Disability Studies für einen dekonstruktivistischen Ansatz steht; Wald‐ schmidt, Anne: Das Mädchen Ashley oder: Intersektionen von Behinderung, Normalität und Geschlecht, in: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hrsg): Gendering Di‐ sability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010, S. 35-60, hier: S. 47. Sie fasst zusammen: »Die Werkzeugkästen von Michel Foucault und Judith Butler benutzend, geht es ihr darum zu zeigen, dass ›impairment‹ ähnlich wie der als natürlich wahrgenommene ›sex‹ - mittels diskursiver Praxis naturalisiert wird, um als nichthistorisches, biologisches Merkmal des menschlichen Körpers zu er‐ scheinen«, ibid. 143 Nagode: Grenzenlose Konstruktionen, S. 84. 144 Haker, Hille: Biofakte - Prolegomena zum Selbst-Verhältnis zwischen Cyberspace und genetischer Kontrolle, in: Karafyllis, Nicole C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Men‐ schen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S. 61-84, S. 74. Siehe zur Kopplung von Behinderung und Narzissmus auch Köbsell: »Die Angst vor einem be‐ hinderten Kind beinhaltet darüber hinaus noch die Angst vor einer narzißtischen Krän‐ kung, davor, kein perfektes Abbild seiner selbst zu produzieren«, Köbsell: Humange‐ netik und pränatale Diagnostik, S. 32. Shelley Tremains Beobachtung einer »simultaneous historical emergence of natural impairment and natural sex as discursive objects« 142 untermauert dann die funktionale Analogie der Kategorien. Deutlich sollte geworden sein, dass mit Butler in den Disability Studies (unterschiedlich) gearbeitet wird, besonders gewinnbringend für die vorliegende Arbeit von Bruner, Nagode, Raab und McRuer. Bruner wendet Butlers Konzept der »melancholischen Geschlechter‐ formierung« auf Behinderung an. Im Unterschied zu Bruner werden hier die bisher vornehmlich deskriptiv herauspräparierten Parameter Schuld und Unsi‐ cherheit in den medienkulturellen Kontext der familientechnologischen Ge‐ sundheitsmelancholie gestellt, wobei im folgenden Abschnitt zusätzlich Ich-Ver‐ armung, Narzissmus und Schamlosigkeit sowie Trauer (dargeboten in der Dokumentation) als subversive Strategie in das Themenfeld Gesundheitsmelan‐ cholie inkorporiert werden. Nagode arbeitet mit der (scheiternden) ausschlie‐ ßenden Ausgrenzungsfigur des »vollkommenen Körpers, der sich durch stän‐ dige und umfassende Funktionsfähigkeit auszeichnet.« 143 Anders als Nagode arbeite ich mit der Reflexionsfigur selbstidentische_r Gesundheitsminister_in. Zwar streben auch Gesundheitsminister_innen nach körperlicher Vollkommen‐ heit und Funktionsfähigkeit, allerdings konnotiert das Wort Minister_in stärker die inhärente politische Dimension. Es ist die beschriebene Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie, in der die mit einem »narziß‐ tischen Selbstideal« 144 ausgestatteten selbstidentischen Gesundheitsmi‐ nister_innen agieren - und das ist eben ein Politikum. Hille Haker konturiert die 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 115 <?page no="116"?> 145 Haker: Biofakte, S. 74-75. 146 Ibid, S. 75. 147 Schmidtke: Dilemma, S. 30. 148 Freud: Trauer und Melancholie, S. 434. 149 Butler: Psyche der Macht, S. 152. 150 Ibid., S. 173. Dort finden sich auch Ausführungen zu Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Melancholie. Ablehnung des kranken und gealterten Körpers als narzisstisch. Die existierende Abhängigkeit in all den Facetten wird verleugnet 145 . Gleichzeitig versteckt sich hinter der scheinbaren Souveränität eine Bedrohung, »die darin besteht, das herrschende Ideal und die sozialen Standards, die ein Körper erfüllen muß, nicht erfüllen zu können« 146 . Die in der Dokumentation dargebotenen Konfigurationen von Unsicherheit sind eine Folge des »Zwang[s] zur Gesundheit« 147 , eine Folge der medienkultu‐ rellen Gesundheitsmelancholie, die unbetrauerbar (weil verleugnet) ein Element ihrer Selbstkonstitution verwirft und aufgrund der nicht zu nivellierenden ein‐ gekapselten Gärung als Unsicherheit und Schuld (Spielarten von Befürchtung und Drohung) stellvertretend auftaucht. Schuld und Unsicherheit manifestieren sich, weil das konstruierte erwünschte Ideal, gesunde Identität, aufgrund des stets anwesenden Anderen nie frei erreichbar ist. Entsprechend ordnet Freud in Trauer und Melancholie die Selbstvorwürfe als Vorwürfe gegen ein Liebesobjekt, »die von diesem weg auf das eigene Ich gewälzt sind.« 148 Hervorzuheben ist hier, dass die Beanspruchung von Melancholie sensu Freud und Butler für Gesund‐ heitsdiskurse, wie weiter oben bereits angeklungen ist, keine Eins-zu-eins-Über‐ nahme von deren Konzepten bedeutet. Selbstverständlich wäre die Vorstellung von Krankheit als Liebesobjekt eher abwegig. Dennoch scheint eine inhaltliche Analogie möglich. Krankheit ist jenes ursprünglich notwendige Firmament der Definition von Gesundheit. Schuld und Unsicherheit manifestieren sich, weil der konstruierte uner‐ wünschte Zustand stets auch anwesend ist. Gesundheitsideale erhalten sich performativ selbst aufrecht. Der Moment des idealen Zustands zerplatzt jedoch wie eine Seifenblase, zerschellt, wie Butler es ausdrückt, »in Form innerpsychi‐ scher Selbstvorwürfe« 149 . Dabei gilt es zu sehen, dass Gesundheitsmelancholie einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil enthält. Unsichtbar-verworfen er‐ scheint das konstitutiv Andere der Gesundheit, während Gesundheit omniprä‐ sent inszeniert und thematisiert wird, denn: »So privat und unwiederbringbar der Verlust auch scheint, geht der Melancholiker doch merkwürdig aus sich heraus« 150 , und zwar - eingedenk der einschlägigen Medienangebote im sog. Reality-Bereich - nahezu schamlos: 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 116 <?page no="117"?> 151 Freud: Trauer und Melancholie, S. 433. 152 Bröckling, Ulrich: Über Feedback. Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechno‐ logie, in: Hagner, Michael und Hörl, Erich (Hrsg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt am Main 2008, S. 326-347, hier: S. 336. »Es fehlt das Schämen vor anderen, welches diesen letzteren Zustand [der Reue, des Selbstvorwurfs, der Zerknirschung, M. P.] vor allem charakterisieren würde, oder es tritt wenigstens nicht auffällig hervor. Man könnte am Melancholiker beinahe den gegenteiligen Zug einer aufdringlichen Mitteilsamkeit hervorheben, die an der ei‐ genen Bloßstellung eine Befriedigung findet.« 151 Gesundheitsmelancholiker_innen sind wir demnach auch, weil wir schamlos Gesundheit thematisieren. Was ist an den hier in Frage stehenden Thematisie‐ rungen von Gesundheit schamlos? Zur Beantwortung der Frage werden nun unterschiedliche Beispiele aus unserer Medienkultur herangezogen. Eine Facebook-Nutzerin informiert auf ihrer Facebook-Seite über ein Produkt, das den Stoffwechsel anregt: »Kennt ihr schon XXX [Streichung des Produkts, M. P.]? Ich liebe XXX in allen Va‐ riationen […] Statt YYY [Streichung des Produkts, M. P.] gibt es bei mir den XXX, der kurbelt den Stoffwechsel auch auf dem Sofa richtig an [Smile Emoticon, M. P.]. Mit dem Gutscheincode […] bekommt ihr 10 % Rabatt! « Ungeachtet einer wahrscheinlichen Verbindung zu einer Werbeaktion fällt zu‐ nächst die öffentliche Mitteilung des eigenen gesundheitsbewussten Verhaltens auf. Vorstellbar wäre etwa auch der nicht kommunizierte Genuss von XXX . In dieser öffentlichen Mitteilung offenbart sich nun gerade jenes »Ethos rückhalt‐ loser Selbstöffnung« 152 . Die eigene Gesundheit (als wichtiger Teilaspekt des Selbst) wird zum Gegenstand performiert und in, mit und durch Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Dabei wird Gesundheit mehrdimensional funktionalisiert. Gesundheit demonstriert symbolisch jene gegenwärtigen Ideale wie Autonomie, Verantwortlichkeit und Kontrolle: »Bei dem Streben nach Gesundheit geht es oft nicht allein oder hauptsächlich um Gesundheit als solche; ein gesunder Körper mag um seiner selbst willen angestrebt werden, er ist aber auch ein demonstratives Mittel, um soziale Werte und moralische Präferenzen auszudrücken. […] In den Gegenwartsgesellschaften ist Krankheit als ein Verlust an Kontrolle und als Zeichen von Abhängigkeit vielleicht mehr als je zuvor ein Problem. In dem Maße, in dem Autonomie und Selbstsorge als gesellschaftliche Primärtugenden etabliert sind, wird Krankheit zur anderen, dunklen Seite der Vision eines rationalen, autonomen und unabhängigen Subjekts. Gesundheit und Körper sind 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 117 <?page no="118"?> 153 Kollek und Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 125. Zu »Gesundheit als moralische Kompetenz und als ökonomisches Gut« siehe ibid., S. 122-126. 154 Bröckling geht davon aus, dass das Feedback sich in ein Alltagskonzept verwandelt hat, Bröckling: Über Feedback, S. 343. 155 Ibid., S. 336. Zum Körper als Feedback-System siehe auch Kollek und Lemke: Der me‐ dizinische Blick, S. 120-121. Zu Feedback-Methoden in Verbindung mit sozialen Netz‐ werken siehe Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontroll‐ gesellschaft, Hamburg 2013, S. 44-45. 156 Katzenberger, Nadja: Richtig selbst messen. Die Werte im Blick behalten, in: Apotheken Umschau 2 (2015), S. 38-40. Keinesfalls möchte ich hier die Autorin persönlich an‐ greifen, vielmehr geht es hier um ein Diskursphänomen. Zur »Ratgeberliteratur, die Ängste um die Gesundheit kultiviert«, siehe Lemke, Thomas: »Du und deine Gene« - Subjektivierungsprogramme und Verantwortungskonzepte in Gesundheitsratgebern, in: Pflege und Gesellschaft 4 (2006), S. 293-306, hier: S. 305. 157 Lemke: »Du und deine Gene«, S. 294. 158 Ibid. 159 Katzenberger: Richtig selbst messen, S. 38. Die farbigen und verdickten Markierungen als Teile des Schriftbildes werden in der Zitation mit einer Ausnahme der Einfachheit halber nicht wiedergegeben. nicht nur biologische Tatsachen, sondern angefüllt mit symbolischen Bedeutungen dessen, was es heißt, eine gute, respektable und verantwortliche Person zu sein.« 153 Gesundheit avanciert aber auch zum Medium der Selbsterkenntnis, und zwar innerhalb der Logik des in den Alltag 154 eingeflochtenen Feedback-Modells: »Das Fenster wechselseitiger Sichtbarkeit kann gar nicht groß genug sein. Erkenne dich selbst, lautet die Maxime, offenbare dich den anderen und sorge dafür, daß du auch von ihnen möglichst viel über dich erfährst.« 155 In einer Ausgabe beispielsweise der Apotheken Umschau (Februar 2015) er‐ scheint in der Kategorie Rat & Hilfe ein Artikel, der gesundheitliche »Selbst‐ kontrolle« 156 behandelt. Berücksichtigt werden muss, dass in »medizinischen Ratgebern […] häufig das ideale liberale Subjekt skizziert [wird], das bereit und willens ist, ›Verantwortung‹ für die eigene Gesundheit zu übernehmen« 157 . Das verantwortliche Subjekt wird gleichzeitig vorausgesetzt und produziert 158 . Be‐ reits der Titel und der / die Untertitel sind im Zusammenhang mit sowohl nor‐ mativer als auch disziplinarischer gesundheitspolitischer Selbst-Fokussierung in mehrfacher Hinsicht interessant: »Richtig selbst messen. Die Werte im Blick behalten. Kontrolle daheim. Blutdruck, Gewicht, Puls und Körpertemperatur lassen sich zu Hause leicht überprüfen, wenn die Geräte auf dem neuesten Stand sind.« 159 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 118 <?page no="119"?> 160 Rimke, Heidi M.: Governing citizens through self-help literature, in: Cultural Studies 1 (2000), S. 61-78, S. 68. 161 Katzenberger: Richtig selbst messen, S. 38. 162 Ibid. 163 Samerski: Die verrechnete Hoffnung, S. 20. 164 Ibid. 165 Rimke: Governing, S. 72. Es ist daher kein Zufall, dass Rimke kybernetisch von ›self-steering capacities‹ spricht, ibid. 166 Bröckling: Über Feedback, S. 345. 167 So halten Lemke und Kollek fest: »dem Verantwortungsimperativ [haftet] etwas Un‐ abschließbares an, denn man tut nie genug, um künftige Schäden abzuwenden«, Kollek und Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 225. Qualitativ richtig, also vorgegeben, stets konditional und nicht irgendwie soll das Selbst sich selbstreflexiv beobachten, sich privat kontrollieren: »the self becomes an object of knowledge and a subject / object of governance, not simply under the gaze of an expert acting at a distance but, most importantly, under the ever-present gaze of one’s self« 160 . Nicht nur paradox, sondern auch prekär erscheinen die Überlegungen, wenn Handlung und Kontrolle im Spannungsfeld zwischen Eigenverantwortung und konditionaler Leichtigkeit oszilliert: »Zur Selbstkontrolle gehört deshalb auch ein hohes Maß an Eigenverantwortung« 161 , jedoch verheißt der Untertitel Leich‐ tigkeit - wenn die neuesten technischen Geräte verwendet werden. Ferner wird von der Angst vor Ärzt_innen berichtet: »Manche Menschen sind aber so nervös, dass ihre Blutdruckwerte in die Höhe schnellen, sobald sie den weißen Kittel des Doktors sehen.« 162 Gemäß der Logik gegenwärtiger Gesund‐ heitsdiskurse wird nicht danach gefragt, warum Menschen vor Ärzt_innen nervös werden, sondern optimierte Verantwortung wird als selbstreflexiver Prozess prolongiert. So geht Samerski im Verweis auf systemtheoretische Ein‐ flüsse davon aus, dass »›Gesundheit‹ […] zum individuell angepaßten Funkti‐ onieren innerhalb vorgegebener Lebensbedingungen [wird]« 163 . Die Konse‐ quenz ist ihr zufolge eine Verdrängung der Kontrolle und Führung durch Autoritäten aufgrund der Stimulation zur flexiblen Selbst-Steuerung und zum Selbst-Management 164 . Das Beispiel aus der Apotheken Umschau dokumentiert (nahezu überdeutlich) die Komponente der Selbst-Fokussierung: »›Good‹ citizens should undertake to govern their own conduct for their own benefits and rewards« 165 . Grenzver‐ wischt ist das Gerät an das Selbst rückgekoppelt und erscheint als Feedback-Ma‐ schine. Gleichfalls schimmert äußerst prekär die »Entgrenzung« 166 durch, indem das gesundheitspolitische Ziel strenggenommen nie zu erreichen ist 167 . 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 119 <?page no="120"?> 168 Jenny, Zoë: Das Blütenstaubzimmer, Frankfurt am Main 1997. 169 Ibid., S. 118. 170 Aus der kulturellen Praxis des Erfragens des Geschlechts und der Gesundheit im ge‐ burtlichen Kontext leitet Vera Moser ab, dass Behinderung und Geschlecht ein tiefgrei‐ fendes kulturelles Zuordnungsschema abgeben, Moser, Vera: Geschlecht: behindert? Geschlechterdifferenz aus sonderpädagogischer Perspektive, in: Behindertenpädagogik 2 (1997), S. 138-149, hier: S. 139. 171 Siehe dazu Kollek und Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Zu Gesundheit und Fitness als Selbsttechnologien (im Sinne Foucaults) siehe Diekämper: Reprodu‐ ziertes Leben, S. 64. Im Roman Das Blütenstaubzimmer 168 (1997) beinhalten die ersten Informati‐ onen über das Ungeborene dessen Gesundheit und Geschlecht. Beides Merk‐ male, die qua Ultraschall ermittelt wurden: »Ich wollte es dir nicht im Brief schreiben. Es wird wahrscheinlich ein Mädchen, gerade gestern erst haben wir es im Ultraschall gesehen, der Arzt meint, es sei völlig gesund.« 169 Die schamlose Präponderanz hypostasierter Gesundheit und Geschlechtlichkeit zeigt, wie tief verankert Normen um Gesundheit und biologisch-sichtbare Ge‐ schlechtlichkeit sind 170 . Die oben wiedergegebenen Thematisierungen von Ge‐ sundheit sind schamlos, weil zu der Gesundheit fremden Zwecken die Kommu‐ nikation von Gesundheit und die Zurschaustellung des eigenen, aufwendigen Gesundheitsverhaltens funktionalisiert werden. Die Fokussierung auf Gesund‐ heit wird erstens instrumentalisiert, um die Möglichkeit grenzenloser Auto‐ nomie, Verantwortung und Kontrolle 171 zu suggerieren. Der Rekurs auf Gesund‐ heit partizipiert zweitens an gegenwärtigen Authentizitätsversprechen. Gesundheitsverhalten konstruiert und festigt drittens, ohne dass dies zu Be‐ wusstsein käme, ein normatives Verständnis von Gesundheit. Gesundheitsdis‐ kurse stellen viertens paradox das Erfolgspotenzial jener selbstreflexiven Ver‐ antwortungsprozesse in Aussicht, prolongieren allerdings diese Prozesse, weil das Ziel nie erreicht werden kann. Letztlich wird die nie zu erreichende absolute Gesundheit zum Maß aller Dinge erhoben. Es ist klar, dass Gesundheit wün‐ schenswert ist; allerdings bedeutet das schamlose Insistieren auf Gesundheit gewaltvolle Konstruktion und den Ausschluss anderer körperlicher und see‐ lischer Momente. Hier soll das Wettern gegen Gesundheit nicht überstrapaziert werden, denn auch ich wünsche Personen, die beispielsweise Geburtstag haben, Gesundheit. Gesundheit und Wohlbefinden sind Güter in unserer Gesellschaft, jedoch wäre ein flexiblerer Umgang mit Normbegriffen, ein veränderter Umgang mit Mythen 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 120 <?page no="121"?> 172 Siehe dazu beispielsweise Hammerl, Elfriede: Was ist Gender? Geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen und ihre alltäglichen Auswirkungen, in: Hochleitner, Margarethe (Hrsg.): Gender Medicine. Ringvorlesung an der Medizinischen Universität Innsbruck 2, Wien 2009, S. 9-37. Zu »Biopolitische[n] Mythen« siehe auch Feyerabend, Erika: Verdächtige Frauenkörper - biomächtige Leitbilder, in: Lenz, Ilse; Mense, Lisa; Ullrich, Charlotte (Hrsg.): Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Repro‐ duktion, Opladen 2004, S. 179-202, hier: S. 200-201. Zu einer gewinnbringenden Pro‐ blematisierung von »Gesundheit als höchstes Gut« siehe Franke: Modelle, S. 47-49. Zu Mythos und Krankheit siehe auch wegweisend: Illich: Nemesis, beispielsweise S. 122. 173 Bachmann, Ingeborg: Malina, Frankfurt am Main 2004, S. 96. Ich weise darauf hin, dass ich die Klammern zur Kennzeichnung editorischer Kommentare entfernt habe. 174 Freud: Trauer und Melancholie, S. 437. 175 Ludwig-Körner, Christiane: Das fehlende Kind - Unerfüllter Kinderwunsch in der Re‐ produktionsmedizin, in: Wulf, Christoph; Hänsch, Anja; Brumlik, Micha (Hrsg.): Das Imaginäre der Geburt. Praktiken, Narrationen und Bilder, München 2008, S. 216-228, hier: S. 221. rund um Gesundheit (Herzinfarkt als »Männerproblem« 172 ), ein vor‐ sichtig-schamhafter Umgang mit Gesundheit auch und besonders in sprachli‐ cher Hinsicht wünschenswert. Denn Sprache ist - wie in Ingeborg Bachmanns Roman Malina (1971) kommuniziert wird - politisch: »Ich werde Ihnen ein furchtbares Geheimnis verraten: die Sprache ist die Strafe. In sie müssen alle Dinge eingehen und in ihr müssen sie wieder vergehen nach ihrer Schuld und dem Ausmaß ihrer Schuld.« 173 So ist die starre sprachlich-rhetorische Trennung zwischen Gesundheit und Krankheit sowie basaler die schamlose Kommunikation von Gesund‐ heit(sthemen) eben nicht unschuldig. Neben Schamlosigkeit, Ich-Verarmung, Unsicherheit und Schuld erweist sich Narzissmus 174 als Merkmal von Melancholie, also auch der familientechnologi‐ schen Gesundheitsmelancholie. So sind Ludwig-Körner zufolge sowohl Zeu‐ gungsunfähigkeit als auch Zeugung narzisstisch codiert 175 . Narzissmus konfiguriert sich sodann als die bereits herausgearbeitete Kon‐ ditionalität (wenn man die neuesten Geräte besitzt), die letztlich wiederum me‐ lancholisches Warten / Aufschieben ist. Der melancholische Gestus des Wartens speist sich aus der Uneinholbarkeit des Ziels. Es ist der selbstverweisende, ich‐ bezogene Aufschub, der narzisstisch ist. Maaz zeichnet ein Muster der Konditi‐ onaliät nach und deklariert es als Narzissmus: »Die illusionäre Phantasie wirkt wie ein innerseelischer Antreiber: Wenn ich ›das‹ nur geschafft und erreicht haben werde, wenn ich mir ›das‹ werde leisten können, dann wird alles gut sein, dann wird sich endlich das entbehrte Glück einstellen. Die Erfolge, die damit zu erreichen sind, sind tatsächlich real, stehen aber im Dienste der 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 121 <?page no="122"?> 176 Maaz, Hans-Joachim: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, 4. Aufl. Mün‐ chen 2013, S. 44. 177 Zur Moralisierung siehe Butler: Psyche der Macht, S. 174, zur inneren Teilung und Re‐ flexivität ibid. S. 168-169, und zum verarmten Ich auch S. 174. 178 Maaz: Die narzisstische Gesellschaft, S. 94-95. 179 Butler: Psyche der Macht, S. 135. Es geht in der Konzeptualisierung von Melancholie um Grenzen: »Die Melancholie bietet einen Einblick in das Geschehen der Festsetzung und Aufrechterhaltung sozialer Grenzen, die nicht nur auf Kosten des psychischen Le‐ bens gehen, sondern das psychische Leben in Formen melancholischer Ambivalenz einbinden«, ibid., S. 157. 180 Siehe hierzu Dederich: Körper, S. 51. 181 Katz Rothman: Schwangerschaft, S. 180. 182 Ibid. Zur Trauer siehe auch ihr Kapitel 7 »Trauer um den genetischen Defekt«. Achtelik zufolge wäre individuelle Trauerarbeit leichter, wenn die Idee von gesunden, unendlich belastbaren, nicht alternden Leistungsträger*innen verabschiedet würde, Achtelik: Selbstbestimmte Norm, S. 191. narzisstischen Regulation. Gut ist in diesem Fall nie gut genug, und statt einer ent‐ spannten Zufriedenheit und eines berechtigten Stolzes machen sich Zweifel und Be‐ fürchtungen geltend, ob man es nicht noch besser hätte machen können […] So ist die erreichte Kompetenz bei aller nachweisbaren realen Leistungsfähigkeit häufig nur der Als-ob-Zustand eines falschen Lebens.« 176 Im Unterschied zu Maaz differenziere ich aufgrund der diskursanalytischen Haltung nicht zwischen falschem und richtigem Leben (diese Unterscheidung wird gerade diskursiv bestimmbar und nicht auf der Objektebene). Was bleibt in unserer Gesundheitsmelancholie, ist das gesundheitsmorali‐ sierte, reflexiv-gespaltene und verarmte Ich 177 , das in starren binären Kategorien argumentiert. Maaz nennt interessanterweise als kompensatorisches Abwehr‐ mittel gegen den narzisstischen Makel zwanghafte Bemühungen um Gesund‐ heit 178 . So konfiguriert analog Butler starre (kompensatorische) Geschlechtszu‐ gehörigkeit als Folge der Melancholie 179 . Entsprechend haben sich die Disability Studies den Abbau der binären Logik zum Ziel gesetzt 180 . In Der Traum vom perfekten Kind werden Elemente aufgegriffen, die das Zu‐ rückspringen in diskursive Bahnen verhindern oder die Bahnen verschieben könn(t)en, wie beispielsweise die Kommunikation von Traurigkeit: »Mich macht das enorm traurig und auch wütend« (T 00: 27: 37). So hat nicht nur Katz Rothman im Hinblick auf Verluste wie beispielsweise denjenigen eines ›defekten‹ Fötus im Anschluss an die Frage »Warum müssen wir eigentlich die Trauer, die existiert, verleugnen, während wir die Trauer, die vermieden wurde, anerkennen? « 181 vehement konstatiert: »Trauer ist durchaus angebracht.« 182 Es ist gerade Trauerarbeit, die auch Butler als Mittel der Auf‐ 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 122 <?page no="123"?> 183 Butler: Psyche der Macht, S. 139. So formuliert Villa: »Butler greift […] systematisch an die von Freud formulierte Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie zu‐ rück […] Wesentlich ist dabei, dass Melancholie sich dann bildet, wenn es einen psy‐ chisch wirksamen Verlust gibt, der aber nicht gewusst wird und deshalb der Person selbst unerkannt bleibt - der Verlust bleibt virulent, da gewissermaßen psychisch ge‐ sperrt. Er kann nicht betrauert werden. […] In ethischer Perspektive stellt Trauer in diesem Sinne einen wichtigen Anfangs- und Fluchtpunkt dar«, Villa: Judith Butler, S. 139. Zur Trauer siehe auch Maaz: Die narzisstische Gesellschaft, S. 207. Gleichwohl gehe ich nicht wie Maaz von einem »authentischen Kern« aus, der durch Trauer erreicht werden kann, ibid. 184 Butler: Psyche der Macht, S. 182. 185 Das Etikett Schuld benennt in der vorliegenden Arbeit etwas eher Diffuses. Es rekurriert in Verbindung mit Unsicherheit mehr auf die diskursive omnipräsente Potenzialität des persönlichen Fehlermachens im weiten Umfeld von Familialität als auf konkrete Zu‐ sammenhänge wie sie von Schmidt, Wolff und Jung thematisiert werden. Siehe dazu Schmidt, Ulrike; Wolff, Gerhard; Jung, Christine: Verarbeitung des Schwangerschafts‐ abbruchs nach pathologischem Amniozentesebefund: Schulderleben und Schuldge‐ fühle, in: Kentenich, Heribert; Rauchfuß, Martina; Diederichs, Peter (Hrsg.): Psychoso‐ matische Gynäkologie und Geburtshilfe 1993 / 94, Berlin u. a. 1994, S. 158-167. 186 Zu Ungewissheit, Unsicherheit und Wissen in einem umfassenden Sinn siehe den Sam‐ melband von Peter und Funcke: Wissen an der Grenze. 187 Butler: Psyche der Macht, S. 169. 188 Davis: Enforcing Normalcy, S. 132, S. 139, S. 148. 189 Le Blanc: Althusser, Foucault, Butler, S. 58. lehnung in der Melancholie erwähnt 183 . Dreh- und Angelpunkt der Trauer ist eine Haltung des Eingestehens des konstitutiven Anderen 184 . Wie bereits weiter oben angemerkt, steht die Beobachtung der auch schon in der Forschungsliteratur thematisierten vielfältigen Schuld 185 und Unsicherheit 186 (beispielsweise Kneuper; Samerski; Krondorfer; Mauerer; Werner-Felmayer; Kollek und Lemke; Zuuren, Schie, und Baaren; Katz Rothman, Haker, Rose und Schmied-Knittel, Beck-Gernsheim, Achtelik, Köbsel) in ihren unterschiedlichen Konfigurationen (gedimmt, punktuell-verschleiernd, konzessiv, adversativ) rund um Familienpolitik am Beginn meiner Überlegungen. Die Elemente Schuld und Unsicherheit als eine Form des potenziell potenzierten Selbstvorwurfes (»Schadet Freude dem Baby«? ), als »schamlose Verlautbarung von Selbstvor‐ würfen« 187 , als Form konstitutiver Unmöglichkeit, als Form unter- und tief‐ gründiger Bedrohung (ein Moment, das bei Davis 188 , Nagode und Haker aufge‐ zeigt wird) und persistenter Befürchtung (Bruner) sind eine Konsequenz der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie, in der wir leben, wobei ebenso Ich-Verarmung und Narzissmus integriert werden. Die Elemente Schuld und Unsicherheit erweisen sich dann als »Wiederkehr einer Abwesenheit, eines weißen Flecks, der nicht aufhört, das Subjekt heimzusuchen.« 189 Schuld und Unsicherheit sind die sichtbaren Elemente der melancholischen Verdrängung. 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 123 <?page no="124"?> 190 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, S. 47. Zu Autonomie und Selbstverwirklichung siehe ibid., S. 58. 191 Ibid., S. 259. 192 Ibid., S. 90-94. Bröckling setzt sich darin intensiv mit Gary S. Becker und Foucault aus‐ einander. 193 Ibid., S. 203-204. Zur Gesundheit siehe beispielsweise auch ibid., S. 61. 194 Ibid., S. 11. 195 Ibid., S. 126. Subversion hingegen gewährleistet die Kommunikation von Trauer - ein Ele‐ ment, welches in der Dokumentation profiliert wird. Anders als bei einem Kippbild, das stets nur eine Perspektive (beispielsweise Ente oder Hase) zulässt, erscheint der_die Gesundheitsminister_in im Modus des Zugleich. Ideal und Scheitern, Ziel und Aporie werden im Konglomerat er‐ kennbar. So grausam es nun klingt, aber eine Verbildlichung von Gesundheits‐ minister_innen ergäbe wohl eine angeschossene Mannscheibe, wie sie Poli‐ zist_innen und Soldat_innen zur Übung dient. Die Mannscheibe ist eine durch Konturierung klar abgegrenzte distinkte Form. Hier kann sie für das imaginierte Bild der vollständigen, geschlossenen, abgegrenzten und selbstidentischen Ge‐ sundheitsminister_innen stehen, die jedoch nur vermeintlich selbstidentitär sind. Die Einschusslöcher in der Mannscheibe versinnbildlichen, was an solcher Iden‐ tität strenggenommen löchrig ist. Getroffen sind die Gesundheitsminister_innen nämlich durch Abhängigkeit, was verleugnet wird. Schuld und Unsicherheit sind die unbotmäßigen, wiederkehrenden Reste dieser Verdrängung. Schuld und Un‐ sicherheit sind die gärenden Elemente der scheinbar ganzen Gesundheitsmi‐ nister_innen in unserer Gesundheitsmelancholie. Die Krankheit als das notwen‐ dige Firmament der Gesundheit wird verdrängt, also unsichtbar gemacht. Dieser Verdrängungsprozess lässt sich aber nicht vollständig aufrechterhalten. Sicht‐ bare Reste davon sind die Parameter Unsicherheit und Schuld. Diese Überlegungen können nun mit der von Bröckling gezeichneten Figur des »unternehmerischen Selbst« verbunden werden. In dieser Figur ver‐ schränken sich Normvorstellungen, Selbst- und Sozialtechnologien sowie dis‐ kursive Anrufungen 190 . Es ist kein Zufall, dass die Konturierung »unternehmerischer Tugenden« 191 auch auf Gesundheit, Familialität, Familienplanung und Diagnostik bezogen werden 192 . Gesundheitsprotektive Faktoren werden in das »unternehmerische Selbst« eingeflochten 193 . Die von Bröckling herausgearbeiteten »Mikropolitiken des Alltags« 194 dienen als nachträgliche Rahmung für die oben dargelegten Überlegungen. In Bröcklings Konfiguration des »unternehmerischen Selbst« als Leitbild und drohendes Schreckbild 195 tauchen jene an verschiedenen medien‐ 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 124 <?page no="125"?> 196 Ibid., beispielsweise S. 9, S. 71, S. 244, S. 289. 197 Ibid., S. 9. 198 Ibid., S. 12. 199 Ibid., beispielsweise S. 212. 200 Ibid., S. 244-245, ebenso S. 70-71. 201 Ibid., S. 88. 202 Ibid., S. 95. 203 Ibid., S. 126. 204 Ibid., S. 238. 205 Ibid., S. 17. 206 Ibid., S. 290. 207 Ibid., S. 289. 208 Ibid., S. 238. kulturellen Beispielen aufgezeigten Elemente auf. Neben der konkreten Refe‐ renz auf Gesundheit und Famililiatät gestaltet er das zeitgenössische Unterneh‐ mertum als Arrangement von Überforderung 196 , Exklusion und Schuldzuschreibung 197 , aus Erfolgsversprechen und Absturzdrohungen 198 sowie der Pflicht zur permanenten Optimierung und Selbstoptimierung 199 , zur wider‐ sprüchlichen Kopräsenz der Extreme 200 und zu Wahlhandlungen 201 . Inhärent sind ferner umfassendes Informieren 202 , Wettkampf 203 , Panoptismus 204 . Es sind gerade jene Schattenseiten des Unternehmertums wie »die Unabschließbarkeit der Optimierungszwänge, die unerbittliche Auslese des Wettbewerbs, die nicht zu bannende Angst vor dem Scheitern« 205 , die problematisiert und (in Referenz auf Alain Ehrenberg) im Zusammenhang mit Depression und Burnout 206 the‐ matisiert werden: »Gebremst wird die Kraft der unternehmerischen Anrufung zunächst durch die von ihm ausgehende konstitutive Überforderung: Das unternehmerische Selbst ist ein ›erschöpftes Selbst‹. Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück.« 207 Im bereits weiter oben analysierten Zeitungsartikel Klinik für Mütter mit Burn-out-Erscheinungen von Berndt kulminieren demnach die Elemente Über‐ forderung, Pflicht zu permanenter Optimierung, Kopräsenz der Extreme, Wett‐ bewerb und schließlich Burnout. Die Wunschkinder auf RTL 2 können als Über‐ wachungs- und Kontrollmechanismen betrachtet werden. Voyeurismus und Exhibitionismus 208 spielen bei den Wunschkindern zusammen. Die von der wer‐ denden Mutter kommunizierte Angst davor, dass Freude dem Ungeborenen schadet, zeugt genau von jenem Idealbild als drohendem Schreckensbild. In welchem Verhältnis stehen nun der_die Gesundheitsminister_in und das »unternehmerische Selbst«? 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 125 <?page no="126"?> 209 Ibid., S. 289-290. 210 Ibid., S. 289-290. 211 Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, 2., erw. Aufl. Frankfurt am Main 2015, S. 223, wörtlich: »In normativer Hinsicht ergänzt die persönliche Initiative die psychische Befreiung; in pathologischer Hinsicht ver‐ bindet sich die Schwierigkeit, eine Handlung zu beginnen, mit der Unsicherheit der Identität [Hervorhebung M. P.]«, zur Unsicherheit siehe auch ibid., S. 176, S. 187, S. 226, S. 300, S. 306. 212 Ibid., S. 31. Zur Einschätzung von Schuld siehe auch ibid., S. 169, S. 300, S. 305. 213 Ibid., S. 177. Siehe dazu wörtlich auch: »Die Neurose ist das Resultat eines Konflikts, bei dem man schuldig ist (auch, wenn die depressiven Symptome überwiegen), wohin‐ gegen die Depression als ein Fehler verstanden wird, für den man sich schämt«, ibid., S. 176. Gesundheitsminister_innen partizipieren an der Logik des unternehmerischen Selbst, besonders auch hinsichtlich der problematischen Seiten, des »Anforde‐ rungsprofil[s] des unternehmerischen Selbst als Negativfolie« 209 . Der_die Ge‐ sundheitsminister_in könnte demnach ein vergrößerter Ausschnitt des »unter‐ nehmerischen Selbst« sein. Der_die Gesundheitsminister_in weicht allerdings in einem entscheidenden Punkt vom »unternehmerischen Selbst« ab. Der_die Ge‐ sundheitsminister_in unserer familientechnologischen Gesundheitsmelancholie ist ja gerade nicht traurig und depressiv, wie Bröckling das unzulängliche Indi‐ viduum zeichnet 210 . Gesundheitsminister_innen zeichnen sich zusammenfassend dadurch aus, dass sie selbstidentisch die Reziprozität zwischen Gesundheit und Krankheit verdrängen. Dieser Verdrängungsprozess ist unbetrauerbar und politisch. Bröckling rekurriert bei der Konturierung der »Negativfolie« des »unterneh‐ merischen Selbst« auf Alain Ehrenbergs Studie zur Depression Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. »Das Regime« der famili‐ entechnologischen Gesundheitsmelancholie darf nicht mit dem Setting der De‐ pression (nach Ehrenberg) kurzgeschlossen werden. Zweifelsohne lassen sich Interpenetrationszonen (etwa die Unsicherheit 211 ) auffinden - aber es kann keine Rede von absoluter Gleichheit oder Identität sein. In Ehrenbergs Arbeit wird nun gerade das »erschöpfte Selbst« der Gegenwart in Abgrenzung zum für die vorliegende Arbeit so relevanten Parameter Schuld gezeichnet. Die ent‐ scheidenden Parameter der Depression sind nicht Schuld und Disziplin, sondern Verantwortung und Initiative 212 . Neben Trauer / Traurigkeit und Schuld erscheint im Feld der Depression, wie es Ehrenberg herausarbeitet, die Kategorie Scham verändert: »Darum manifestiert sich diese Art Depression nicht durch Schuld, sondern durch Scham.« 213 Scham war in den von mir ausgewählten Beispielen jedoch virulent unterminiert, nahezu storniert. 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 126 <?page no="127"?> 214 Paiuk, Cara: Bekenntnis einer erschöpften Mutter, in: http: / / www.huffingtonpost.de/ 2016/ 03/ 01/ mutter-erschoepft-erziehung-kinder_n_9353494.html (zuletzt aufgerufen am 05. 03. 2016). Dieser Artikel ist zuerst erschienen in HuffPost US; übersetzt aus dem Amerikanischen. 215 Ibid. 216 Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, S. 226. 217 Ibid., S. 32. 218 Betreffende Folgen: überwiegend März 2016, zum Schuldmotiv dezidiert: Folge 5948 am 03. März 2016. Zweifelsohne findet sich in unserer Medienkultur einiges, was die Thesen Ehrenbergs zur Depression zu stützen und zu veranschaulichen vermag. Anfang März 2016 erschien ein Artikel, der bereits im Titel auf Erschöpfung rekurriert: Bekenntnis einer erschöpften Mutter 214 . Die darin zum Ausdruck gebrachte Er‐ schöpfung als Lähmung (»Ich habe scheinbar nie für etwas Zeit. Und wenn sich plötzlich ein Gelegenheitsfenster öffnet, fühle ich mich wie gelähmt. Ich bin unfähig, die Dinge auf die Reihe zu kriegen - aus Erschöpfung, und weil ich nicht weiß, was ich zuerst machen soll« 215 ) kann als jene depressive Dimension der Hemmung gedacht werden, die Ehrenberg postuliert: »Es gibt zwei Haupt-Dimensionen: die Hemmung und die Impulsivität. Die eine ist die Kehrseite der anderen, sie sind die beiden Seiten einer Pathologie des Handelns: Bei der Hemmung fehlt das Handeln, bei der Impulsivität wird es nicht kontrol‐ liert.« 216 Befinden wir uns womöglich gar nicht (mehr) in einer Medienkultur der fami‐ lientechnologischen Gesundheitsmelancholie, sondern in einer der Gesund‐ heitsdepression? Habe ich ein altes Relikt ausgegraben? Ehrenberg selber räumt ein, dass die Verschiebung von Schuld zur Verantwortung in Verbindung mit einem Interpretationsraster steht: »Die Verschiebung von der Schuld zur Ver‐ antwortung kann man in der Psychiatrie hervorragend beobachten, wenn man sich mit einem entsprechenden Interpretationsraster versieht.« 217 Die einfachste Antwort wäre nun, dass die vorliegende Arbeit im Unterschied zu Ehrenbergs Studie eben von einem anderen Interpretationsraster ausgeht. Zur Bestätigung meiner These der Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsme‐ lancholie soll jedoch erneut auf die Kategorie Schuld fokussiert werden. Schuld ist existent. In der auf RTL ausgestrahlten Serie Gute Zeiten Schlechte Zeiten (Deutschland 1992-, UFA Serial Drama; TV ( RTL )) wird Anfang März 2016 ein Inzest-Drama hochgradig mit Schuld 218 aufgeladen. Der vermeintliche tödliche Unfall des Va‐ ters (es ist eigentlich ein Mord), der eine (sexuelle) Beziehung zu seiner Tochter eingegangen ist (zunächst unwissentlich, danach wissentlich) wird in der In‐ 3.4 Medienkultur der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie 127 <?page no="128"?> 219 Paiuk: Bekenntnis. 220 Jürgens: Reproduktionskrise, S. 561. 221 Ibid. 222 Le Blanc: Althusser, Foucault, Butler, hier: S. 57. 223 Ibid., S. 58. terpretation seiner Schwester zum Selbstmord umgedeutet. Ihr zufolge resultiert der »Selbstmord« letztlich daraus, dass er sich schuldig gefühlt hat. Für den letztlich fingierten Unfall respektive Selbstmord gibt sich dann weiterhin seine Tochter die Schuld. Zusätzlich zeigt sich an dem bekenntnishaften Artikel über die eigene Er‐ schöpfung auch ein weiteres Moment der Distanz zur Depression sensu Ehren‐ berg. Storniert ist im Hinblick auf die »außergewöhnlichen Umstände« jed‐ wedes Schämen (was ich nicht normativ abwerte). Das von der erschöpften Mutter abgegebene Bekenntnis zur Übermüdung ist nicht schamhaft: »Die Wahrheit ist, ich bin ein normaler Mensch in außergewöhnlichen Umständen. Bringen Sie die beiden Dinge nicht durcheinander. Es ist einfach so: Ich bin die meiste Zeit zu übermüdet und zu überarbeitet, als dass ich etwas anderes tun könnte, als auf der Stelle zu treten.« 219 Wie bereits erwähnt, ist mit Jürgens von einer »Reproduktionskrise« auszu‐ gehen. Dabei handelt es sich um eine Krise der Belastbarkeit, Überforderung, Verunsicherung und des Anstiegs psychosomatischer Erkrankungen 220 . Jene Krise, jene »Arbeits- und Lebensbedingungen« 221 , die Normen und Verbote sind nun aber gerade dadurch sichtbar und angreifbar, dass sie sich als familientech‐ nologische Gesundheitsmelancholie offenbaren: »Melancholie ist folglich die unmögliche Trauer um nicht gelebte Möglichkeiten, die im Umkehrschluss die psychische Bedeutung gesellschaftlicher Verbote offenbart.« 222 Melancholie lässt vergessen und erinnert: »Die Melancholie legt Zeugnis ab von beiden Formen der Entäußerung. Sie ist das Vergessen des ungeschiedenen Lebens […] und zugleich die Erinnerung an jenes un‐ geschiedene Leben« 223 . Die Erinnerung kann nun Anlass für die Bewegung aus der »Reproduktions‐ krise« geben. 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 128 <?page no="129"?> 224 Nicht mehr als eine pragmatische Arbeitsdefinition ist folgende Minimalverabredung im Hinblick auf die Termini Lachen, Komisches und Humor: »Es lässt sich also sagen, dass das Lachen durch etwas Komisches provoziert wird, das selbst mit und durch Humor geschaffen ist. Und umgekehrt: Humor ist die Voraussetzung, um etwas Komi‐ sches zu erzeugen, das sich in Lachen niederschlägt«, Mann: Das Erscheinen des Me‐ diums, S. 181. 225 Benjamin, Walter: Der Autor als Produzent. Ansprache am Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften II. 2, Frankfurt am Main 1977, S. 683-701, hier: S. 699. 226 Bezüglich der Umstrittenheit von komischem Lachen als Normen festigendem oder überschreitendem Mittel mit Blick auf Behinderung siehe Gottwald, Claudia: Ist Be‐ hinderung komisch? Lachen über verkörperte Differenz im historischen Wandel, in: Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Disability History. Konstrukti‐ onen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 231-251. Siehe insbesondere zur komischen Ambivalenz auch die Arbeit von Gerigk, Anja: Li‐ terarische Hochkomik in der Moderne. Theorie und Interpretationen, Tübingen 2008. Darin resümiert die Autorin: »Für die weitere Konzeptualisierung muss aber deutlich sein, dass nach der Formel komische Ambivalenz nicht schon in der internen Gegen‐ läufigkeit der Subversion liegt; komisch ist eine Praxis nur dann, wenn sie aufgrund ihrer Formen gleichzeitig anti-gesellschaftlich und sozial-kommunikativ gerichtet ist«, ibid., S. 73. Gerigk fokussiert im Rückgriff auf Luhmanns Systemtheorie darauf, »[d]ass es Komik generell mit der fundamentalen Verfasstheit des Sozialen zu tun hat statt bloß mit gesellschaftlich-politischen Ordnungen und den sie stabilisierenden Normen«, ibid., S. 116. Zur Problematik von entnormalisierenden Selbstermächtigungspolitiken bei medialen Darstellungen siehe Raab: Shifting the Paradigm. Die Autorin bindet Queerness an Kontextualität, ibid. S. 92. 227 Zur Unmöglichkeit der Befreiung der Subjekte bei Foucault siehe Le Blanc: Althusser, Foucault, Butler, S. 59. 3.5 Beispiel zum Lachen: Pränatale Läuse Neben Bewusstheit für Trauer soll aber auch ein anderer Weg, der progressiv Veränderung ermöglichen kann, herausgearbeitet werden: Lachen 224 . Letzteres fungiert als fruchtbarer Startschuss für kognitive Vorgänge: »Nur nebenbei sei angemerkt, daß es fürs Denken gar keinen besseren Start gibt als das Lachen. Und insbesondere bietet die Erschütterung des Zwerchfells dem Ge‐ danken gewöhnlich bessere Chancen dar als die der Seele.« 225 Mit Benjamin gehe ich zunächst davon aus, dass Lachen Denkvorgänge initi‐ ieren kann. Dennoch ist Lachen nicht per se und einseitig als subversives Mittel 226 zu betrachten. Nicht zuletzt aus diskursanalytischen Gründen ist die Annahme einer emanzipatorischen Befreiungsrhetorik in Verbindung mit La‐ chen unmöglich 227 . Im Anschluss an den Kinostart von Til Schweigers Honig im Kopf initiiert Hart aber fair (Deutschland 2001-, Gemeinschaftsproduktion der Produktions‐ 3.5 Beispiel zum Lachen: Pränatale Läuse 129 <?page no="130"?> 228 Die Sendung wurde am 02. 02. 2015 in der ARD ausgestrahlt. 229 Ich beziehe mich auf die erste Staffel, und zwar auf die elfte Folge Mein Weihnachts‐ wunder (My Own Personal Jesus). Der Serientitel Scrubs wird im Folgenden mit S ab‐ gekürzt. 230 Zum Begriff Verfremdung siehe Bernstorff, Wiebke von: »Verfremdung«, in: Metzler Lexikon Literatur, S. 801. 231 Delabar, Walter: »Verfremdungseffekt«, in: Metzler Lexikon Literatur, S. 801-802, hier: S. 801. 232 Ibid. firmen »Ansager & Schnipselmann« (A&S) und klarlogo im Auftrag des WDR ; TV ( ARD )) mit Frank Plasberg eine Sendung 228 mit dem Titel Alzheimer als Ko‐ mödie - hilft Lachen gegen die Angst? Damit wird implizit in Aussicht gestellt, dass Lachen über einen gegenwärtig problematisierten Gegenstand in seiner ›komödienhaften‹, wohl komischen Ausgestaltung progressiv wirken kann. Er‐ weist sich diese Annahme als stichhaltig? Im Folgenden zeige ich, wie in den betreffenden Sequenzen aus der Kran‐ kenhaus-Sitcom Scrubs - die Anfänger 229 Lachen provoziert wird. Scrubs ent‐ faltet ein mehrdimensionales Szenario, das durchaus im Brechtschen Sinne als Verfremdung 230 gelten kann. Und dem Verfremdungseffekt attestiert die Litera‐ turwissenschaft für gewöhnlich eine Rezeptionshaltung, die über das Moment der Distanz 231 funktioniert: »Zuschauer und Leser sollen sich nicht in die Situation von Figuren einfühlen, sondern sie - lustvoll und unterhalten - analysieren, um dann zu handeln.« 232 Der Mechanismus der Verfremdung in Scrubs ist mehrdimensional, weshalb sich jeweils kreuzende Hintergrundfolien, die in der Sitcom persifliert werden, vorab zu identifizieren sind: 1. Die erste Referenzfolie speist sich aus rhetorisch kommunizierten Echt‐ heits- und Authentizitätsansprüchen von geburtlichen Konzepten (ent‐ gegen der Medialisierung und Medialität von Geburt). 2. Die zweite Referenzfolie bildet die romantische Mythisierung des Kin‐ derkriegens. 3. Die dritte Referenzfolie konstituiert sich aus einem Diskurs der scham‐ losen Veröffentlichung intimer Angelegenheiten in einschlägigen Medi‐ enangeboten (zu denken wäre an die Wunschkinder ( RTL 2)). 4. Die vierte Referenzfolie stellt die Naturalisierung von Geschlechtlichkeit und politischer Gesinnung dar. 5. Zudem erscheint fünftens ein Medizinsystem als Folie, das Illich ein‐ dringlich beschrieben hat. Es ist ein Medizinsystem, in dem beispielsweise 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 130 <?page no="131"?> 233 Illich: Nemesis, S. 32. 234 Ibid., S. 36. 235 Ibid., S. 55. 236 Beispielsweise auch Samerski: Die verrechnete Hoffnung. 237 So schreibt Illich: »Heute ›wissen‹ nur die Ärzte, was Krankheit ist, wer krank ist, was mit den Kranken und mit den besonders Gefährdeten geschehen soll«, Illich: Nemesis, S. 36. 238 Köbsell: Humangenetik und pränatale Diagnostik, S. 26. 239 Gerigk: Literarische Hochkomik in der Moderne, S. 93. 240 Ibid. Zum Terminus Groteske siehe auch Meyer, Urs: »Groteske«, in: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moennighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Be‐ griffe und Definitionen, 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart und Weimar 2007, S. 297-298. 241 Zum unterschiedlichen Status der kombinierten Gegenstände siehe Gerigk: Literarische Hochkomik in der Moderne, S. 93. »Gesundheitspflege sich in eine standardisierte Massenware verwan‐ delt« 233 , »Krankenhäuser […] zu Monumenten eines narzißtischen Wis‐ senschaftsglaubens [werden]« 234 und »Diagnostischer Imperialismus« 235 vorherrscht. Vielerorts ist von einer Verschiebung des Medizinsystems hin zu einem Dienstleistungssystem 236 die Rede. Nicht zuletzt ist in seinem Kontext eine an Naturwissenschaft und Objektivität gebundene gottähn‐ liche und ideelle Autorität der ärztlichen Position zu erwähnen 237 . Refle‐ xionsgrundlage ist auch die zunehmende Pathologisierung, Medizinisie‐ rung und Technisierung von Schwangerschaft und Geburt 238 . 6. Die sechste Referenzfolie speist sich aus der Unsicherheitsrhetorik (vgl. Unterkapitel 3.3). Festgehalten werden kann, dass in Scrubs diese Referenzfolien verfremdet und verlacht werden. Dr. Cox ( John C. McGinley) bittet seinen Assistenzarzt J. D. (Zach Braff), die Entbindung einer Freundin zu filmen. Das Filmen einer Geburt durch einen Arzt erscheint als Grenzverwischung, gehört doch die Funktion eines Kameramannes grundsätzlich nicht zu den Aufgaben eines professionellen Arztes im Dienst. Der Beruf des Kameramannes und des Arztes sind in unserer Lebenspraxis nicht miteinander verbunden. In dieser Sequenz aus Scrubs werden also heterogene Bereiche vermischt. Es ist die Verbundenheit von »Objekte[n] verschiedener Klassen« 239 , die für einen »groteske[n] Effekt« 240 verantwortlich zeichnen. Der ideelle und autoritäre Status von Ärzt_innen kollidiert etwa mit jener ›die‐ nenden‹, subalternen Funktion des Kameramannes 241 . Letztlich werden in dieser Verfremdung die mit der ärztlichen Position verbundene Autorität, Idealität und Exzeptionalität desavouiert (Referenzfolie 5). Im Hinblick auf die wiederholt 3.5 Beispiel zum Lachen: Pränatale Läuse 131 <?page no="132"?> 242 Zur Geburt als Medienereignis siehe auch Foltys, Julia: Geburt als körperliches und mediales Ereignis. Zur Bedeutungszuschreibung von Schwangerschaft und Geburt, in: Wulf, Christoph u. a. (Hrsg.): Geburt in Familie, Klinik und Medien. Eine qualitative Untersuchung, Opladen und Farmington Hills 2008, S. 127-143. Zur Geburt, die »wie im Film« abläuft, siehe auch Kneuper: Mutterwerden, S. 139-142. 243 Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 189. 244 Rose und Schmied-Knittel: Magie und Technik, S. 88-89. Zu Narzissmus und Eltern‐ schaft siehe auch Maaz: Die narzisstische Gesellschaft, S. 102-104, S. 119-127, S. 139-143, S. 182-188. 245 Pellengahr, Astrid: Von der ›programmierten‹ zur ›natürlichen‹ Geburt. Zur kulturellen Konstruktion von Geburtsvorstellungen und deren Wandel in der Gegenwart, in: Bred‐ nich, Rolf W.; Schneider, Annette; Werner, Ute (Hrsg.): Natur - Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Welt. 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volks‐ kunde in Halle vom 27.9 bis 1. 10. 1999, Münster u. a. 2001, S. 269-279, hier: S. 269. 246 Fischer, Joachim: Gesellschaftskonstitution durch Geburt - Gesellschaftskonstruktion der Geburt: Zur Theorietechnik einer Soziologie der Geburt, in: Villa, Paula-Irene; Moebius, Stephan; Thiessen, Barbara (Hrsg.): Soziologie der Geburt. Diskurse, Praktiken und Perspektiven, Frankfurt am Main und New York 2011, S. 22-37, hier: S. 31. 247 Ibid. 248 Bergmann: Ausweichrouten, S. 233-234. kritisierte Verschiebung des Medizinsystems in ein Dienstleistungssystem, ma‐ nifestiert sich das ausgestellte Filmen der Geburt durch einen Arzt als höhnische Verspottung desselben (Referenzfolie 5). Das diegetische Filmen der Geburt ver‐ weist darüber hinaus jede Verklärung kontakarierend auf die Geburt als Medi‐ enereignis 242 , auf die potenzielle Grenzverwischung zwischen Realität und Fik‐ tion (Referenzfolie 1). Unabhängig von der verlachenden Verfremdung der Referenzfolien kann im Hinblick auf die Inszenierung des Filmens medienthe‐ oretisch davon ausgegangen werden, dass »[j]ede Form der Selbsteinkapselung und der reflexiven Selbstausstellung […] Lachen erzeugen [kann].« 243 Sichtbar und hörbar gemacht werden Medialität, Medialisierung, romanti‐ sche Verklärung und narzisstische Codierung der Geburt. Rose und Schmied-Knittel konstatieren, dass Entbindung narzisstisch aufgeladen und als biographische Klimax mit orgiastischen Anklängen stilisiert ist 244 ; Pellengahr spricht von »Geburtserlebnis« 245 . Scrubs macht die Inszenierung der Geburt als Erlebnis / Ereignis, die Geburt als »Eräugnis« 246 , sichtbar. Wenn nun einem Er‐ eignis die visuelle Dimension überproportional eingeschrieben ist, und zwar dadurch, dass es vielfach beäugt wird, dann partizipiert jene dergestalt am Eventcharakter, dass es zum »Eräugnis« 247 wird. Ein Eräugnis wäre dann auch das Beispiel, welches Bergmann konturiert. Er berichtet davon, dass während eines Embryonentransfers in die Gebärmutter eine Live-Übertagung dieser Embryonen angeschaut werden kann, wobei er auf die »Verwobenheit von Ma‐ terialität und Imagination« 248 verweist. 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 132 <?page no="133"?> 249 Ich orientiere mich hier an Kuhn, der verschiedene Formen der Gedankenrepräsenta‐ tion definiert. Ein »Filmischer innerer Monolog« zeichnet sich dadurch aus, dass »zu sehen [ist], dass eine Figur nicht spricht (keine Lippenbewegung), während ihre Stimme ihre Gedanken formuliert«, Kuhn, Markus: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin und Boston 2013, S. 191. 250 Ibid., S. 112-113. Zum gemeinsamen und abhängigen Auftreten von Komischem und Autoreflexivität siehe Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 190, besonders das ganze Kapitel 6, also S. 179-212. Wie werden die gerade herausgearbeiteten Hintergrundfolien weiterhin fil‐ misch umgesetzt? Nachdem der werdende Vater sich bei J. D. für die Übernahme des Filmens bedankt hat, werden die Gedanken des unverhofft zum Kamera‐ mann Avancierten über einen »filmischen inneren Monolog« 249 inszeniert, wobei die romantische Mythisierung des Kinderkriegens desavouiert wird (Re‐ ferenzfolie 2): »Kinderkriegen wird zu romantisch verklärt. Ich glaube, wenn die Leute wüssten, wie es in Wirklichkeit ist …« (S 00: 09: 28). In einem Schwarz-weiß-Einschub sichtbarer und hörbarer (Geräusch des Film‐ projektors) Medialität, werden die Überlegungen von J. D. weitergeführt, wobei nun tatsächlich gesprochen wird, was einen Bruch markiert. Medialität ist durch das Laufen eines Filmprojektors, das Schwarz-weiß-Bild sowie durch J. D.s Blick- und Augenkontakt mit den Rezipient_innen überdeterminiert. Metadie‐ getisch »auf die Bühne gebracht« werden J. D.s entzaubernde Worte, die bei‐ spielsweise die Fokussierung auf die Vagina durch Fremde bei der Geburt the‐ matisieren: »Sie werden kotzen, pinkeln, kacken und pupsen. Und das vor mindestens zehn wild‐ fremden Menschen, die wie gebannt auf Ihre Vagina starren, die nebenbei gesagt mit 80 % Wahrscheinlichkeit einreißen wird« (S 00: 09: 42). Die brisante Fokussierung auf tabuisierte Geburtselemente wird von einer künstlich-hohen, nahezu clownesk-grotesken Stimme und entsprechender Gestik begleitet (etwa S 00: 09: 52). Die überzeichnete Komik wird bewirkt durch den plakativen Einsatz der Daumen-nach-oben-Geste und jenen hochexpressiven Gesichtsausdruck von J. D. Zudem ist die metaleptische Anrede an die Rezipient_innen, also das ›Ge‐ spräch mit der Kamera‹ 250 , komisch. Laut Emily Martin wird in unserer Gesellschaft von Frauen erwartet, dass sie ihre äußeren und inneren Geschlechtsorgane der peinlich genauen Untersu‐ 3.5 Beispiel zum Lachen: Pränatale Läuse 133 <?page no="134"?> 251 Martin, Emily: Die Frau im Körper. Weibliches Bewußtsein, Gynäkologie und die Re‐ produktion des Lebens, Frankfurt am Main und New York 1989, S. 95. 252 Siehe dazu in einem weiten Sinn auch das Kapitel »Vom Diktat der Geburt«, in: Lüt‐ kehaus, Ludger: Natalität. Philosophie der Geburt, Kusterdingen 2006, S. 66-79. 253 Butler: Körper von Gewicht, S. 317. chung aussetzen. 251 Die männliche und machtförmige Fokussierung auf die Va‐ gina wird karikiert. Insgesamt erweisen sich J. D.s Beschreibungen der Geburt auch als ironische Replik auf einschlägige Medienangebote aus dem Reality-Be‐ reich (auch zu Geburt), die geradezu schamlos Körperteile und körperliche Vor‐ gänge buchstäblich unter die Lupe nehmen (Referenzfolie 3). Daneben sind auch die Äußerungen des Vaters interessant, der sein Kind mit der Erwartung begrüßt, es werde gegen den Kommunismus kämpfen: »Es ist ein strammer Stammhalter und ein weiterer Soldat im Kampf gegen den Kom‐ munismus« (S 00: 10: 04). Dargeboten ist also ein grandios-politisches Beispiel für Butlers Thesen kultu‐ reller Zuschreibungen und deren Materialisierung 252 . Geschlechtlichkeit als »Anweisung« 253 wird somit persifliert (Referenzfolie 4). Hier scheint eine spe‐ zifische Form der Subjekt- und Identitätsgenese ab ovo desavouiert zu werden, wie sie wohl für konservative Amerikaner nicht untypisch ist. Nach der buchstäblichen reflexiven Medialisierung, der Filmisierung des Ge‐ burtsgeschehens zeigt sich, dass es keine Filmaufnahmen von der Geburt gibt. Es ist ein Fehler unterlaufen, weshalb die Geburt innerhalb der filmischen Die‐ gese nicht gefilmt wurde, was bisher aber nur Dr. Cox, J. D. und die Rezi‐ pient_innen wissen. Ersatzweise wird ein anderer Film einer anderen Geburt untergeschoben. Es handelt sich dabei um einen Fehler im Film der Diegese, der wiederum im Film, in der Sitcom erscheint. Die gemeinsame Rezeption des (falschen) Geburtsfilms ist gebrochen-ver‐ fremdet inszeniert. Wahrheit und Fiktion werden wohl am deutlichsten vom Vater verwechselt, der trotz ironischer Einschübe von Cox’ Ex-Ehefrau Jordan (Christa Miller) in Bezug auf die Kameraführung freudig vom Köpfchen seines Sohnes spricht: »Da kommt er. Ich seh das Köpfchen« (S 00: 13: 58). Sein Film im Kopf überlagert das Geschehen. Auf den Einwand von Jordan, das Ersatz-Baby habe viele Haare, entspinnt sich eine weitere Groteske, denn das echte Baby ist vollkommen kahl, wie seine Mutter feststellt. Die brüderliche Erklärung von Cox und J. D. ist grotesk auf der Begründungsebene, denn - so die Erklärung - sie hätten das Baby rasiert (S 00: 14: 07), und in der Darstellung der 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 134 <?page no="135"?> 254 http: / / www.brigitte.de/ frauen/ stimmen/ cytomegalie-1233924/ (zuletzt aufgerufen am 04. 03. 2015). 255 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frank‐ furt am Main 1988, S. 121. Begründung. Auf die verstörende Frage von Jordan: »Ihr habt das Baby rasiert? « (S 00: 14: 08), antworten Cox und J. D., sich gegenseitig verbal und gestisch be‐ stärkend: »Eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der drastischen Zunahme von pränatalen Läusen« (Cox, M. P. (S 00: 14: 11)). »Ja. Standardprozedur. Rasieren und Haareschneiden - ein Aufwasch« ( J. D., M. P. (S 00: 14: 15)). Grotesk ist die Vorgabe einer Standardisierung von etwas, das nicht bekannt ist - und angesichts der Informationsflut rund um Schwangerschaft ist ja oh‐ nehin eine ganze Menge bekannt. Zur allgemeinen Illustration der Bedeutung von Information im Zusammen‐ hang mit Familienpolitik soll kurz ein anschauliches Beispiel erwähnt werden: In einem autobiographischen Bericht spricht eine Frau im Kontext von präna‐ talen Tests und einer riskanten Situation während der Schwangerschaft in einem Online-Artikel von sich selbst als »Informations-Junkie« 254 . Eingedenk der medienkulturellen Informationsflut und der dieser entsprech‐ enden Bereitschaft zur Aufnahme von Information erweist sich die groteske Standardisierung von Unbekanntem als Verfremdungseffekt. Verwischt wird die Grenze zwischen Bekanntem und Unbekanntem, und zwar auch im Wie der Begründung. Vollkommen ernst, im Modus ärztlicher Autorität sprechen zwei Kollegen verbrüdert und unisono von der ratzekahlen Rasur (S 00: 14: 10) als Si‐ cherheitsmaßnahme, nicht ohne in ein infantil-verlegenes »Summen« einzu‐ stimmen (S 00: 14: 37) - die nächste Grenzverwischung, zu verstehen als Kollision zwischen ärztlichem Ausdrucksvermögen und kindlichem Summen. Desavouiert wird über die ernste bis hin zur infantil-verlegenen Kommuni‐ kation der Existenz von pränatalen Läusen und einer angeblich standardisierten Prozedur des Rasierens derjenige Diskurs, der gemeinhin mit wissenschaftlicher Autorität, Objektivität und Souveränität assoziiert wird (Referenzfolie 5), be‐ sonders angesichts der Tatsache, dass der in Scrubs offerierte ärztliche Blick keineswegs - wie Foucault in Die Geburt der Klinik aufgezeigt hat - stumm und ohne Geste ist 255 . Dargeboten werden in dieser Sequenz infantil anmutende Figurationen (S 00: 14: 21). Das Vorhandensein einer Babyflasche (links im Bild) verstärkt die 3.5 Beispiel zum Lachen: Pränatale Läuse 135 <?page no="136"?> 256 Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke VI, London 1940, S. 1-269, hier: S. 59. 257 Ibid. 258 Ibid., S. 61. 259 Zum Verhältnis von Witz und Komik siehe ibid., S. 206-260. 260 Ibid., S. 239. 261 Ibid., S. 244. 262 Ibid., S. 228. 263 Ibid. 264 Ibid., S. 217. 265 Ibid., S. 216. 266 Ibid., S. 256. Verlustigung der beiden Ärzte (durch Verschränkung der von ihnen repräsen‐ tierten Männlichkeit mit kulturellen Attributen der Mütterlichkeit). Die Annahme der Existenz pränataler Läuse ist schlichtweg unsinnig. Mit Freud kann gefragt werden: »Wodurch wird also der Unsinn zum Witz? « 256 Es ist der Sinn im Unsinn, der Letzteren zum Witz macht 257 . Die Vorgabe von prä‐ natalen Läusen ist nämlich die »Anbringung von etwas Dummem, Unsinnigem, dessen Sinn die Veranschaulichung, Darstellung von etwas anderem Dummen und Unsinnigen ist.« 258 Gespiegelt und veranschaulicht werden durch die prä‐ natalen Läuse jene standardisierten Vorsichtsmaßnahmen und eine häufig vor‐ schnell kommunizierte Unsicherheitsrhetorik (Referenzfolie 6), die vielmehr den gegenwärtigen Zeitgeist beschreiben als wissenschaftlich objektiv Gebo‐ tenes. Zusammenfassend kann mit Freud gesagt werden, dass sich in der Evo‐ zierung der pränatalen Läuse Witz und Komik wechselseitig durchdringen 259 . Die »komische Lust« resultiert laut Freud aus einer »Vergleichung« 260 . Aus welchen Elementen speist sich hier die Komik? Im Falle der Inszenierung der pränatalen Läuse ergibt sie sich aus der »Entlarvung« 261 der Scheinautorität des ärztlichen Personals. Komische Wirkung kommt nämlich zustande durch »Entlarvung, [die] sich gegen Personen und Objekte, die Autorität und Respekt beanspruchen, in irgend einem Sinne erhaben sind« 262 , richtet. Es handelt sich bei Komik also um eine Form der »Herabsetzung« 263 . Komisch wirken ferner die übertrieben weit »[a]ufgerissene[n] Augen« 264 von Dr. Cox. Mit Freud ist davon auszugehen, dass wir über einen unangemessenen Bewegungsaufwand la‐ chen 265 . Daneben ist das Komische stets Seite an Seite mit dem Infantilen zu sehen 266 , was ja oben bereits angeklungen ist. Die Darstellung der Unglaubwürdigkeit der pränatalen Läuse ist verfremdet, indem eine lustige Umkehrung von wörtlicher und metaphorischer Bedeutung 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 136 <?page no="137"?> 267 Im Original, also im Englischen, funktioniert der idiomatische Phraseologismus »I am not buying it« wie im Deutschen. Beide Phraseologismen bedeuten im übertragenen Sinne ›nicht glauben‹. 268 Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, S. 37. 269 Ibid., S. 134. 270 Ibid. 271 Zur Kategorisierung doppelsinniger Witze siehe ibid., S. 42. Zur Charakterisierung des »Doppelsinn[s] mit Anspielung« siehe ibid., S. 80-81. 272 Keck: Groteskes Begehren, S. 123-124. Zum Lachen siehe auch Bröckling: Das unter‐ nehmerische Selbst, S. 291-293. 273 Foucault: Gebrauch der Lüste, S. 15. des Phraseologismus »jemandem etwas nicht abkaufen« 267 einmontiert ist, wobei der Referenzbereich (rasierte Babys) des Phraseologismus ebenso ver‐ fremdet materialisiert ist. Es wird gezeigt, wie Jordan in einem Supermarkt der Kassiererin mitteilt: »Das kaufe ich Ihnen nicht ab« (S 00: 14: 27). Das, was nicht abgekauft wird, ist materialiter das Buch Die Geschichte vom rasierten Baby. Die (übertragene) Bedeutung des Phraseologismus, also ›jemandem etwas nicht glauben‹, wird auf der Handlungsebene kurzgeschlossen mit der buch‐ stäblichen Bedeutung (›etwas nicht abkaufen‹). Gespielt wird hier also mit dem »Doppelsinn der sachlichen und metaphorischen Bedeutung« 268 . Sensu Freud er‐ scheint die durch den »Kurzschluß« 269 evozierte Lust umso größer, je fremder die beiden durch dasselbe Wort verbundenen Vorstellungskreise (hier: kaufen versus glauben) einander sind 270 . Die Bedeutung ›nicht glauben‹ ist nicht aus den einzelnen Bestandteilen des Phraseologismus zu erschließen, der somit idio‐ matisch ist. Zu der Distanz zwischen den beiden kurzgeschlossenen Vorstel‐ lungskreisen tritt eine grenzverwischte Materialisierung der problematisierten Thematik (rasiertes Baby) als Geschichte. Dabei wird wiederum doppelsinnig 271 auf eine weitere Bedeutungsdimension des Wortes Geschichte, nämlich die des Lügenmärchens, angespielt. Wie an den analysierten Sequenzen aus Scrubs deutlich geworden ist, scheint Lachen Distanz 272 zu ermöglichen. Lachen erweist sich damit als Mittel, das an‐ deres Denken katalysieren kann: »Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Wei‐ terdenken unentbehrlich ist.« 273 Deutlich soll darauf hingewiesen werden, dass die witzigen und komischen Ele‐ mente aus Scrubs distanzierendes Potenzial bieten können, aber nicht zwingend müssen. Anja Gerigk problematisiert Äußerungen in der neueren Komikfor‐ schung, die »Gefahr [laufen], in einen naiven Dekonstruktivismus zu verfallen, 3.5 Beispiel zum Lachen: Pränatale Läuse 137 <?page no="138"?> 274 Gerigk: Literarische Hochkomik in der Moderne, S. 35. 275 Ibid., S. 101. Die Autorin expliziert, dass der Terminus ›Organisationsform des Sozialen‹ für die historisch veränderliche Differenzierung der Gesellschaft steht, ibid. Siehe hierzu auch ibid., S. 59. 276 Butler: Körper von Gewicht, S. 177. 277 Gerigk: Literarische Hochkomik in der Moderne, S. 36. 278 Zur impliziten Affirmation statt zur Selbstreflexion des Theoretischen siehe ibid., S. 42. 279 Zutiefst tolerant und friedlich hält Schaffers Konzept des Übersetzens Ambivalenz und Unvollständigkeit aus, siehe also Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, besonders S. 154-157. Die Autorin plädiert für ein Üben im Mehr-Sehen (im Unterschied zu Mehr-Sichtbarkeit), das reflexiv ist, ibid., S. 162. der dem lange vorherrschenden Ontologismus in seinem Reflexionsdefizit ver‐ gleichbar ist.« 274 Jenem naiven Dekonstruktivismus - wie er nicht zuletzt in der eingangs dieses Abschnitts erwähnten Hart aber fair-Folge zum Thema Alz‐ heimer als Komödie anklingt - wird hier eine Absage erteilt, indem klargestellt wird, dass innerhalb des dieser Studie zugrunde liegenden methodologischen Designs, also Medienkulturwissenschaft ergänzt um diskursanalytische Instru‐ mente, die witzigen und komischen Elemente in Scrubs nie per se subversiv sein können. Gerigk fokussiert innerhalb einer an Luhmanns Systemtheorie orien‐ tierten Arbeit gerade auf die Ambivalenz von Komik. Sie resümiert: »Komik ist Ambivalenz gegenüber der Organisationsform des Sozialen.« 275 Bezüglich Am‐ bivalenz lässt sich hier diskursanalytisch besonders gut mit Judith Butler argu‐ mentieren. Entgegen der einseitigen und unterkomplexen Instrumentalisierung vermeintlich subversiver Mittel geht Butler nicht zuletzt von der »Ambivalenz von drag« 276 aus. Damit ist auch klar: »Das theoretische Objekt entgeht keines‐ wegs allen ›Diskursivierungen‹« 277 und kann auch nicht wie Personen in Ha‐ giografien per se verherrlicht werden 278 . Es scheint hier angebracht, trotz der wissenschaftlichen Prämisse der Eindeutigkeit, sich im Aushalten von Ambi‐ valenzen 279 zu üben. Das ambivalente Verhältnis zwischen Dekonstruktion und Konstruktion, zwischen Persiflage und Reproduktion wird erneut weiter unten (Unterkapitel 4.3) aufgegriffen, und zwar wenn es um die Inszenierung von Leihmutterschaft geht. Vorweg kann bereits gesagt werden, dass jeweilige Ent‐ scheidungen für subversive oder affirmativ-reproduktive Gesten explizit be‐ gründet werden. Ebenso wird deutlich artikuliert, dass ein affirmativer oder subversiver Gestus nicht bedeutet, dass ein bestimmtes Medium per se ein Dis‐ kursphänomen affirmativ festschreibt oder dekonstruktiv unterläuft. Was hier gerade interessiert, ist die medienkulturelle Zeigbarkeit bestimmter Umgangs‐ formen mit bestimmten Referenzfolien. Damit geht einher, dass die verfrem‐ deten Referenzfolien - sucht man nach einer Gattung, ergäbe sich somit die 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 138 <?page no="139"?> 280 Zu einer ersten und allgemeinen Orientierung im Hinblick auf den Begriff Parodie siehe Weidhase, Helmut und Kauffmann, Kai: »Parodie«, Burdorf, Dieter; Fasbender, Chris‐ toph; Moennighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Defini‐ tionen, 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart und Weimar 2007, S. 572. 281 Das Augenmerk liegt also darauf, dass bestimmte Phänomene zeigbar sind. So hat bei‐ spielsweise Raab pointiert formuliert, dass »nur bestimmte Darstellungsweisen von Behinderung in die Medien und damit in die Öffentlichkeit [gelangen]«, Raab: Shifting the Paradigm, S. 46. Parodie 280 - nicht einfach weggefegt werden. Hier kündigt sich bereits etwas an, was explizit im folgenden Kapitel behandelt wird. Herauspräpariert werden in meiner Arbeit keine verborgenen und eigentlichen Phänomene, die ›in den Me‐ dien‹ verhandelt, meinetwegen reproduziert oder dekonstruiert werden. Auf‐ merksam gemacht werden soll hier anhand von Scrubs darauf, dass medienkul‐ turell bestimmte Referenzfolien durchgespielt werden und diese somit medienkulturell zeigbar sind 281 . Zusammenfassung Die zentrale Frage lautete: Wie lassen sich die konflikthaft-problematisierten dis‐ kursiven Elemente in einem als familientechnologisch zu definierenden Zeitalter und Möglichkeitsraum über reine Deskription hinausgehend inhaltlich bestimmen und einordnen? Aufbauend auf der Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind, ver‐ standen als Objektebene und Metaprodukt, ist deutlich geworden, dass zwar der Wunsch nach einem gesunden Kind als elterngemeinschaftliche Universalie kommuniziert wird, dennoch aber universalistische Allgemeingültigkeit und Sicherheit bei den werdenden Eltern drastisch unterlaufen ist. Der konkret er‐ fahrenen Form von Familialität sind unterschiedliche Konfigurationen von Un‐ sicherheit (gedimmt, punktuell-verschleiernd, konzessiv, adversativ) einge‐ schrieben. Der in den Diskursen um genetische Beratung unreflektiert verwendete Fachbegriff Ratsuchende impliziert ein hierarchisches und womög‐ lich religiös-demütiges Verhältnis der potenziellen Elternschaft zur Ärzteschaft und zu Familientechnologien. Mütter und Väter habe ich in Anlehnung an den diskursanalytischen Untersuchungsstil Foucaults als Gesundheitsmi‐ nister_innen charakterisiert, die eine kräfte-, spannungs- und machtförmige, kurz politische, Führungsaufgabe im Hinblick auf die Gesundheit ihrer Nach‐ kommen ausüben und gleichzeitig selbst dem von ihnen vertretenen Werte‐ system Unterworfene sind. Gesundheitsminister_innen verdrängen selbstiden‐ tisch die konstitutive Relationalität zwischen Gesundheit und Krankheit. Zusammenfassung 139 <?page no="140"?> 282 Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 243. Im Rekurs auf Butler und die Disability Studies (besonders die Arbeit von Bruner) lässt sich festhalten, dass naturalisierte, vermeintlich evidente gesunde Identität durch melancholische, also verleugnete Inkorporation des Anderen, hier der Krankheit, konstituiert wird. Die eingangs gestellte Frage kann nun beantwortet werden: Wir leben gegen‐ wärtig in einer familientechnologischen Gesundheitsmelancholie. Parameter der familientechnologischen Gesundheitsmelancholie sind Unsicherheit, Schuld, Ich-Verarmung als Selbsterniedrigung, narzisstische und schamlose Thematisie‐ rung der eigenen Gesundheit. Deutlich habe ich mich gegen Kritik an einzelnen Subjekten (Expert_innen, Müttern, Vätern) ausgesprochen. Wie aber lassen sich innerhalb eines diskurs‐ analytischen Designs widerständige Potenziale finden? Wenn von Widerstand die Rede sein kann, dann stets diskursimmanent. Trauer bietet die Möglichkeit, konstitutive, aber verdrängte Relationalität zu stärken. Deutlich wurde darauf verwiesen, dass nicht vorschnell Lachen als dekonstruktive Strategie festzu‐ schreiben ist. Einseitige Annahmen einer Möglichkeit vollständiger Befreiung vom Unterworfensein sind mit Diskursanalyse unvereinbar. Die Krankenhaus‐ serie Scrubs - so die neutrale Feststellung - macht zumindest anhand der Pseu‐ doprophylaxe gegen pränatale Läuse Elemente wie »standardisierte Unsicher‐ heitsrhetorik« sichtbar. Bereits an dieser Stelle kann im Rückgriff auf den neuen Medienbegriff von Martin Mann, der davon ausgeht, dass Medien »ihr eigenes Erscheinen zum Vorschein bringen« 282 , gesagt werden, dass sich anhand von Scrubs erkennen lässt, worüber in unserer Medienkultur gelacht werden kann. Medienkulturell zeigbar (im ganz emphatischen Sinn) ist, dass (bereits) über Unsicherheitsrhetoriken und wissenschaftliche Autoritätsgläubigkeit gelacht werden kann. Hier kommt es also gerade nicht darauf an, dass das Medium Scrubs die Medizindiskurse verlacht, sondern darauf, dass medienkulturell zeigbar ist, dass über diese Diskurse gelacht werden kann. 3. Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie 140 <?page no="141"?> 1 Diekämper: Reproduziertes Leben, S. 84. 2 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977, S. 23. 3 Ibid., S. 24. 4 Ibid., S. 37. 5 Ibid., S. 60. 6 Über Kräfteverhältnisse und Wahrheiten im Reproduktionsprozess schreibt Diekämper: »Indem ich davon ausgehe, dass im Reproduktionsdiskurs Wahrheiten (und an sie ge‐ bundene Normen) ausgehandelt, erstritten und wiederholt werden und dies nicht im luftleeren Raum stattfindet, nehme ich ferner an, dass durch eben diesen Mechanismus Kräfteverhältnisse wirksam werden, die ich Macht nenne«, Diekämper: Reproduziertes Leben, S. 21. 4. Das Brodeln der Elemente Die beispielorientierte Einleitung (Kapitel 0) hat deutlich gezeigt, dass Familia‐ lität in unserer Medienkultur facettenreich problematisiert wird. Dabei ist nicht zu übersehen und zu überhören, dass Fragen rund um Familialität die Gemüter emotional erregen. Es wird um jede Entscheidung gerungen, zumal da es unter familientechnologischen Bedingungen buchstäblich um Leben und Tod gehen kann. Diekämper zufolge hat sich durch das Reden über Fortpflanzung eine ›diskursive Explosion‹ gezündet, wobei sie gerade auf die Komplexität und Wucht dieser Explosion aufmerksam macht. 1 Allgemein lässt sich formulieren: So wie sich um den Sex herum eine diskursive Explosion gezündet hat 2 , so auch um Familialität. Foucaults inhaltliche Argumentation in Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 beruht darauf, die monokausale Vorstellung der un‐ terdrückten Sexualität zugunsten einer Vorstellung, die von einer »Gärung« 3 ausgeht, zu verabschieden: »hier wie dort ist der Sex zu einer Sache des Sagens geworden« 4 . Das entscheidende Moment ist die Verbindung von Sex und Wahr‐ heit: »kurz, daß der Sex zum Einsatz im Wahrheitsspiel geworden ist.« 5 Analog zu den Ausführungen Foucaults über Sexualität kann davon ausgegangen werden, dass auch Familialität »zu einer Sache des Sagens« geworden ist. Fa‐ milialität ist ein Diskursgegenstand, der stets kräfteorientiert 6 thematisiert wird. Der Rekurs auf Wahrheit ist insofern mit Familialität verkapselt, als es bei ei‐ genen familienpolitischen Entscheidungen um scheinbar zutiefst authentische Entscheidungen, um eben wahre Überzeugungen geht. Was ist aber, wenn der Anspruch auf wahre Überzeugungen in der Praxis, in unserer Medienkultur nicht funktioniert? Dass uneingeschränktes Überzeugt‐ <?page no="142"?> 7 Die Dokumentation wird im Folgenden abgekürzt mit G. Ich beziehe mich im Folgenden auf die (gekürzte) Fassung des Dokumentarfilms (2014) von Josephine Links. Diese Fassung wurde auf ARTE ausgestrahlt. Die längere Fassung wurde im Jahr 2013 reali‐ siert. 8 Harris, Robert: Angst (The Fear Index), München 2011, S. 119. Im Folgenden abgekürzt mit A. sein bei Fragen rund um Familialität nicht gewährleistet ist, zeigen neben der Flut an Thematisierungen auch einzelne Argumentationszusammenhänge etwa werdender Eltern. Das Unbehagen bei familienpolitischen Aushandlungen in der Gegenwart lässt sich damit umschreiben, dass unter familientechnologi‐ schen Bedingungen Potenzialitäten von Familialität am Gären sind, ohne dass ein allgemeingültiges Fundament diese domestiziert. Das Diskursphänomen Familienpolitische Mehrdeutigkeit bis hin zu Oxymorie speist sich aus den Ele‐ menten Unsicherheit, Sorge und Angst. Wahrgenommen werden deshalb zu‐ nächst (Unterkapitel 4.1) Angst-Aushandlungen im Zusammenhang mit Fami‐ lialität, und zwar in Josephine Links’ Dokumentarfilm Am Anfang - Vor der Geburt 7 (Deutschland 2014, Regie: Josephine Links, Produzentinnen: Anne‐ katrin Hendel und Maria Wischnewski, eine Produktion von IT WORKS ! Me‐ dien, der HFF »Konrad Wolf« und Josephine Links. In Koproduktion mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit mit ARTE . Gefördert von Medienboard Berlin-Brandenburg und Filmförderungsanstalt; TV ( ARTE )), in zwei Überschriften von Online-Artikeln und in Robert Harris’ Roman Angst (2011). Angst ist omnipräsent, und so geht der Protagonist Dr. Alex Hoffmann des Romans Angst davon aus, dass diese die Welt »wie noch nie zuvor« 8 be‐ herrscht. Um die familienpolitische Logik der Gegenwart besser illustrieren zu können, greife ich auf Bruno Latours Konzept in seinem Essay Wir sind nie modern gewesen zurück (Unterkapitel 4. 2). Die Theoriekonzeption von Latour (1997) wurde berücksichtigt, weil diese auf Hybride programmatisch fokussiert. Der entscheidende Mehrwert dieses Unterkapitels besteht darin, dass mithilfe eines erkenntnisleitenden Medienbegriffs und einer mediensyntagmatischen Haltung gezeigt wird, dass mehrdeutige bis paradoxe Strukturen von Familiali‐ tät (auf die in der Forschung mehrfach verwiesen wird) sich in unserer Medi‐ enkultur ostentativ zeigen. Damit wird gerade nicht (wieder) gesagt, dass Fami‐ lialität im Zeitalter medizintechnologischer Bedingungen eigentlich vielfältig und mehrdeutig ist. Was dokumentiert wird, ist, dass familienpolitische Vielfalt (etwa die spezifische Kontextualität und Situativität von Begründungszusam‐ menhängen) sich in unserer Medienkultur zeigt. Es lassen sich zahlreiche Me‐ dien, die unterschiedlicher nicht sein könnten (Dokumentation, Schaufenster, Babywelt-Messe, Nachrichtensendung), analysieren, die allesamt die These be‐ 4. Das Brodeln der Elemente 142 <?page no="143"?> stätigen, dass medial familiale Verschleifungs- und Entschleifungsprozesse (Schärfung von Grenzen) vorgeführt werden. Im Anschluss (Unterkapitel 4.3) soll ein weiteres Beispiel zur Illustration solcher Manifestationen herangezogen werden: der Kalender 12 Wege zum kindlichen Glück (2016), dessen Texte von der Ärztin Maya Fehling und Zeichnungen von der Schauspielerin Ina Gercke stammen. 4.1 Familiales Unbehagen In Links’ Dokumentarfilm Am Anfang - Vor der Geburt kommen (werdende) Eltern, Experten, die Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom und ein Paar, das sich gegen die Fortführung der Schwangerschaft entschieden hat, zu Wort. Neben dem Element Unsicherheit sind in der hier zu untersuchenden Doku‐ mentation Angst und Sorge unterschiedlich in die Narrationen inkludiert. Es ist verwunderlich, dass Fehlerhaftigkeit (Angst / Sorge vor Fehlern) als Ausgangs‐ punkt der Überlegungen werdender Eltern dienen kann. Die Situation vor der Geburt erscheint unbehaglich. Im Folgenden werden Begründungszusammen‐ hänge im Umfeld von Pränataldiagnostik herausgearbeitet. Eine Mutter spricht, grob skizziert, von einem auf Erfahrung basierenden Wissen, welches noch - da es sich für beide um das erste Kind handelt - un‐ vollständig ist. »Es ist ja für uns beide das erste Kind, das heißt, wir wissen noch nicht, [wir, M.P.] wussten vorher noch nicht so richtig, was eigentlich alles an Untersuchungen, an Sachen gemacht wird. Und wir haben irgendwie aus Sorge, weil wir irgendwie nichts falsch machen wollten, […] eigentlich alles, alles machen lassen« (G 00: 02: 27). Vordergründig scheint fehlende Erfahrung für die Unsicherheit verantwortlich zu zeichnen. Wie wird aber Sorge artikuliert? Wer ist Agens und wer Patiens? Auf welchen Referenzbereich richtet sich die Sorge? In welchem Verhältnis stehen Sorge und fehlerorientierte Ereignisse? Warum kollaborieren Sorge und falsches Handeln so persistent, über Basalität hinausgehend? Der Teilsatz »Und wir haben irgendwie aus Sorge, weil wir irgendwie nichts falsch machen wollten [Hervorhebung M. P.]« benennt die Sorge als Angst davor, etwas falsch zu machen, wobei die Möglichkeit des Falschmachens als Aus‐ gangspunkt und Letztbegründung in die Argumentation eingeschrieben ist. Die Möglichkeit, etwas falsch zu machen, ist kausallogisch überdeterminiert. Im Zusammenhang mit der Feststellung, dass diese Untersuchungen gemacht werden (»was eigentlich alles an Untersuchungen, an Sachen gemacht wird«) - 4.1 Familiales Unbehagen 143 <?page no="144"?> 9 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 93. Eine nicht personalisierte Begründung nach dem Muster ›man macht es halt einfach so‹ findet sich auch in den Interviews von Katz Rothman wieder: Schwangerschaft, S. 167. 10 Ich verweise darauf, dass Elsbeth Kneuper in ihrer Untersuchung, die auf Interviews basiert, das Moment des (mütterlichen) omnipräsenten Fehlermachens ebenso heraus‐ präpariert, Kneuper: Mutterwerden. 11 Rapp: Testing Women, S. 70-71. Zum Themenkomplex um Angst siehe auch die Aus‐ führungen von Achtelik: Selbstbestimmte Norm, S. 136-140, ebenso S. 131, S. 153. Zur systematischen Angstproduktion im Sicherheitsversprechen siehe auch Lemke: »Du und deine Gene«, S. 304. Zur Historizität von Angst und Geburt in einer Angstkultur siehe Reiger, Kerreen und Dempsey, Rhea: Performing birth in a culture of fear: an embodied crisis of late modernity, in: Health Sociology Review 4 (2006), S. 364-373. eine seltsame passivische Konstruktion (Wer macht was, warum und wieso? ) - schimmert die diffuse diskursive Verabredung einer Anpassung an alle Unter‐ suchungen auf, der man sich bedingungslos zu unterziehen hat. Es ist die Dif‐ fusheit, die hier verwundert. Diffusheit speist sich aus der Unbestimmtheit der vorgeburtlichen Untersuchungen im Modus einer ebenfalls unbestimmten Ganzheitlichkeit, der kommunizierten Agenslosigkeit und der unbestimmten, aber potenzierten Angst / Sorge vor Fehlern. Hier sind genau jene diffusen For‐ mationsregeln dokumentiert, von denen Foucault wiederholt gesprochen hat 9 . Begriffe wie pränataldiagnostische Untersuchung sind eingebettet in Formati‐ onsregeln und nicht bewusstes Resultat individueller Operationen. Zu stellen ist dennoch die Frage, was es bedeutet, dass Untersuchungen gemacht werden. In welche Begründungszusammenhänge sind die Untersuchungen eingebettet? Sorge, neutral als Vorsicht und verantwortungsvolle Aufsicht verstanden und auch als Vorsorge, erscheint in einigen Begründungszusammenhängen völlig vereinnahmt von der Angst, etwas falsch zu machen 10 . Nicht basale Sorge ist das Antriebsmoment, sondern Angst, und zwar nicht basale Angst, sondern las‐ tende, gewichtige, belastende Angst als Präfiguration eines statistisch begrün‐ deten Worst-Case-Szenarios. Rapp macht eine neue Qualität statistikbezogener Angst im Zeitalter der Medizintechnologien und eine Art Relationalität zwischen Angst und Technologie aus. Die autokonstitutive Beziehung zwischen Angst und Technik speist sich daraus, dass diejenigen Arbeitsgebiete, die Risiken der Ab‐ weichung bemessen, gleichzeitig auch Abhilfe versprechen 11 . Sorge und Angst sind keine ausschließlichen Diskurselemente der Gegenwart, obschon die beiden Parameter aktuell prekär konnotiert sind. Die Fokussierung auf die Gesundheit des Kindes kann als rekursiv bezeichnet werden: 4. Das Brodeln der Elemente 144 <?page no="145"?> 12 Kneuper: Mutterwerden, S. 205. 13 Maio, Giovanni: Wenn die Technik die Vorstellung bestellbarer Kinder weckt, in: Maio, Giovanni; Eichinger, Tobias; Bozzaro, Claudia (Hrsg.): Kinderwunsch und Reprodukti‐ onsmedizin. Ethische Herausforderungen der technisierten Fortpflanzung, Freiburg im Breisgau und München 2013, S. 11-37, hier: S. 22. »Die Gesundheit vor allem des ›Kindes‹ ist ein Gegenstand permanenter Sorgen der werdenden Mutter, den diese nicht nur empfinden, sondern auch jederzeit artikulieren kann und der die öffentliche Kommunikation über das Thema regiert.« 12 Sorge ist eine Folge der Angst, etwas falsch zu machen - so dokumentieren es die Sätze von einer Mutter. Es ist verwunderlich, dass Fehlerhaftigkeit den Aus‐ gangspunkt der Überlegungen werdender Eltern bildet, eher Startschuss als oh‐ nehin niemals zu stornierende Gefahr. Maio spricht in diesem Zusammenhang von der Unterminierung des »Selbstverständlichste[n] des Selbstverständli‐ chen«: »Ab dem Moment, da das Selbstverständlichste des Selbstverständlichen - nämlich dass ein Leben einfachhin da ist, ohne dass man fragen kann, wozu - außer Kraft gesetzt wird, kann es keine Ruhe mehr geben, keine [sic! ] angstfreies Ankommen eines neuen Menschen, weil man selbst dann, wenn man ja zu diesem Menschen sagt, man dennoch alles falsch gemacht haben könnte.« 13 Es kann wohl von einer Verschiebung des Selbstverständlichen ausgegangen werden. Während, wie Maio es formuliert, das ›Dasein des Lebens‹ seine Selbst‐ verständlichkeit einbüßt, können die Untersuchungen selbstverständlich werden. Selbstverständlich wird dann das Unselbstverständliche (des Lebens). Diese Mutter reproduziert die diskursive Logik der ›Selbstverständlichkeit des Unselbstverständlichen‹, indem sie mitteilt, völlig unhinterfragt feindiagnosti‐ sche Untersuchungen gemacht zu haben: »In die Feindiagnostik bin ich auch so reingeschlittert. Ich habe das so einigen Leuten erzählt, dass ich das mache und dann haben auch ganz viele gefragt: ach ja, du machst das? Und ich so: Ist das nicht selbstverständlich? Gehört das nicht dazu? « (G 00: 12: 13) Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine selbstverständliche und automatische Inanspruchnahme der Feindiagnostik. Um die unterschiedlich entfaltete Unbehaglichkeit im Kontext von Familiali‐ tät allgemeiner fassen zu können, soll nun die Objektebene erweitert werden. Verunsicherung / Angst wird regelrecht medial-diskursiv angeheizt (freilich auch persifliert, wenn das Szenario um die »pränatalen Läuse« aus Scrubs be‐ rücksichtigt wird). Die folgenden medialen Beispiele nehmen ihren Ausgang in 4.1 Familiales Unbehagen 145 <?page no="146"?> 14 http: / / www.heftig.co/ walter-joshua-fretz/ (zuletzt aufgerufen am 16. 03. 2015). 15 http: / / www.heftig.co/ drillingswunder-nach-unfall/ (zuletzt aufgerufen am 20. 04. 2015). 16 Foucault: Gebrauch der Lüste, S. 18. der Feststellung angstproduzierender Wirkungen. Sie dokumentieren die Exis‐ tenz solcher Wirkungen und illustrieren deren mediale Verarbeitung in der ge‐ genwärtigen Medienkultur. Beobachtet werden kann beispielsweise eine antithetische Strukturierung fa‐ milienpolitischer Aushandlungsprozesse. So lautet die Überschrift eines On‐ line-Artikels: »Die Freude auf das Baby war riesengroß. Doch dann schrie sie vor Schmerz und Trauer.« 14 Die Drift von einem Moment der großen Freude hin zu furchtbarem Leid pro‐ duziert antithetisch und abrupt Angst im Kontext von Familialität. Auf derselben Internetseite www.heftig.co, die sich auf wundersame und emotionale Angele‐ genheiten spezialisiert hat, erscheint ein Artikel, dessen Überschrift ähnlich an‐ tithetisch strukturiert ist: »Die Mutter kitzelt ihre jüngste Tochter am Fuß. Eine Minute später ist die 2-jährige tot.« 15 Ich leugne keineswegs die Existenz von Augenblicken, in denen sich abrupt das ganze Leben ändert. Das Augenmerk richtet sich hier jedoch diskursanalytisch auf das Herauspräparieren von Problematisierungen. In Anlehnung an Foucault geht es hier nicht darum, Verhaltensweisen oder Vorstellungen herauszufinden, sondern vielmehr gilt es, »die Bedingungen zu bestimmen, in denen das Men‐ schenwesen das, was es ist, was es tut, und die Welt, in der es lebt, ›problema‐ tisiert‹« 16 . Die beiden antithetisch strukturierten Überschriften können als Pro‐ blematisierungen verstanden werden. Was wird problematisiert? Wie wird problematisiert? Es ist die durchaus exzessiv (schon fast pervers) betriebene (Pseudo)Kausallogik, die hier auffällt. Die folgeorientierte Kopplung etwa von sinnlich-harmloser Alltäglichkeit (Kitzeln) und plötzlichem Tod binnen kür‐ zester Zeit (»Eine Minute«) bewirkt voyeuristisch ein irrationales Moment, dem innerhalb eines irdischen Kontextes wohl nicht begegnet werden kann. Wer rechnet bei einer harmlosen Alltagshandlung rational schon mit Tod? Noch einmal: Was wird also problematisiert? Dargeboten ist jeweils eine all‐ tägliche und sinnlich schöne Familienhandlung (Kitzeln, Freude), die tödlich und schmerzlich konterkariert wird, und zwar abrupt und unerklärlich. Die Kopp‐ lung von Sinnlichkeit und sukzessivem Leid (als Strafe) zitiert damit Erzähl‐ muster, die auf das Jüngste Gericht fokussieren. Angst und Unbehaglichkeit ist 4. Das Brodeln der Elemente 146 <?page no="147"?> 17 Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter, München 1997. Ich danke Dr. Martin Weidlich für den Hinweis auf das Buch Der Struwwelpeter. 18 Kraus, Josef: Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung, 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 27. 19 So schreibt beispielsweise Joeres: »Die Tage meiner deutschen Freundinnen gleichen einem Marathon«, Joeres, Annika: Vive la famille. Was wir von den Franzosen übers Familienglück lernen können, Freiburg im Breisgau u. a. 2015, S. 97. Es ließen sie viele weitere anschauliche Deskriptionen zitieren. also im Kontext von Familialität dadurch bedingt, dass Erzählmuster das scheinbar unaufhaltsame Wirken von (Gottes)Kräften in Aussicht stellen, denen innerhalb eines irdischen Kontextes nicht beizukommen ist. Das ›Irrationale‹ solcher Diskursphänomene speist sich darüber hinaus auch aus bekannten ge‐ sellschaftlichen Erzählmustern, die persönliches Leid kausallogisch als Folge eines Glücksgefühls determinieren. Das empfundene Glück - ein Zustand der Entrücktheit und Pflichtvergessenheit - mündet kausallogisch in unendlich großes Leid. Zu denken wäre dabei beispielsweise an das berühmte Buch Der Struwwelpeter (1845) von Heinrich Hoffmann 17 . Die Pflichtvergessenheit der Kinder zeichnet kausallogisch für großes Leid verantwortlich. Einem Kind, das entgegen der Mahnungen seiner Mutter leidenschaftlich am Daumen lutscht, wird dieser Finger vom Schneider abgeschnitten. Der leidenschaftliche Be‐ trachter des Himmels Hans Guck-in-die-Luft fällt ins Wasser. Robert, der sich hingebungsvoll bei Sturm und Regen im Freien aufhält, wird schließlich weg‐ geweht. Eingedenk solcher Erzählmuster wird dann auch der als glücklich und entrückt empfundene Zustand der Pflichtvergessenheit der Mütter bestraft. Die strafende Instanz ›hinter‹ den Phänomenen ist wohl hierbei jener Diskurs, der weibliche Sorglosigkeit und Selbstvergessenheit als kindliche Pflichtvergessen‐ heit drastisch maßregelt. Neben Erzählungen über unerwartete und unabwendbare Schicksalsschläge produzieren auch Deskriptionen über Problemhorizonte im Modus der Exper‐ tise Angst und Unbehagen im Zusammenhang mit Familialität. Josef Kraus informiert beispielsweise über Helikopter-Eltern (lokalisiert in Deutschland). Dabei wird im gleichnamigen Buch die Flut an Ratgeberliteratur thematisiert: »Über 5000 Buchtitel zum Thema ›Baby‹ findet man bei Amazon - darunter DVD-Programme des Disney-Konzerns für Kinder von drei Monaten bis drei Jahren mit so bezeichnenden Namen wie ›Baby Einstein‹ oder ›Baby Bach‹.« 18 Deskriptiv 19 werden ferner auch Förderwahn, Leiden, unerreichbare Perfektion, Sorge, Angst, Aufopferung und Schuldgefühle im deutsch-französischen Ver‐ 4.1 Familiales Unbehagen 147 <?page no="148"?> 20 Becker, Claudia: Nein sagen zum Perfektionswahn. Nicht zu Kindern, in: http: / / m.welt.de/ vermischtes/ article139486122/ Nein-sagen-zum-Perfektionswahn-Nicht-zu-Kindern.html (zuletzt aufgerufen am 15. 04. 2015). 21 Ibid. 22 Mundlos: Mütterterror, S. 120-121. Zur historischen Einschreibung von »Schuld« in »Mutterliebe« siehe Landweer: Das Märtyrerinnenmodell. 23 Ibid., S. 6. 24 Ibid. gleich in Annika Joeres Viva la famille. Was wir von den Franzosen übers Fami‐ lienglück lernen können konturiert. In dem Artikel Nein sagen zum Perfektionswahn. Nicht zu Kindern 20 ist ex‐ pressis verbis von den irrealen Anforderungen (aus verschiedenen Kontexten! ) an die Mutter die Rede: »Aufräumen. Einkaufen. Essen kochen. Aufräumen. Schön sein. Sexy. Gebildet. Ver‐ ständnisvoll. Kommunikativ. Schlank. Fröhlich. Geistreich. Glücklich. Erfolgreich. Und immer schön pünktlich. Zu Hause. Im Beruf.« 21 Die Soziologin Mundlos spricht sich für eine Veröffentlichung, eine Kommuni‐ kation der mütterlichen Konflikte aus: »Mütter müssen Konflikte ansprechen, statt sie zu tabuisieren und nur mit sich selbst auszumachen. Sie müssen Ansprüche, die an sie gestellt werden, zurückweisen. Sie dürfen nicht länger vertuschen, dass es unmöglich ist [sic! ] dem Mutterbild zu ent‐ sprechen und dabei glücklich zu sein. […] Erst wenn sie ein gesundes Verhältnis zu den eigenen Bedürfnissen entwickeln und diese ansprechen und durchsetzen, können sie verhindern, täglich ein Gefühl des Scheiterns zu erleben. Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen kann so aktiv entgegengetreten werden.« 22 Aber kaum eine_r macht sich darüber Gedanken, dass qua überbordender (auch theoretischer und metatheoretischer) Diskussion (häufig enthalten diese näm‐ lich Wörter wie »normal«, »sollte«, »müssen« etc.) geradezu Ängste geschürt, Probleme produziert und Unsicherheiten verstärkt konfiguriert werden. So hat doch Landweer eindeutig gezeigt, in welch hohem Maße sich Diskurs und Ge‐ gendiskurs interpenetrieren. 23 Die Elemente des »Mütterlichkeitsdiskurs[es]« sind auch dort vorhanden, wo sie eigentlich gebrochen werden wollen 24 . Das redliche »Nein« im Artikel fungiert also nicht als Entlastungsindex, vielmehr produziert, prozessiert und steigert es Belastung, und zwar als Leverage-Effekt. 4. Das Brodeln der Elemente 148 <?page no="149"?> 25 Butler, Judith: Für ein sorgfältiges Lesen, in: Benhabib, Seyla u. a. (Hrsg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 122-132, hier: S. 126. 26 Ähnlich skeptisch äußert sich auch Mauerer im Hinblick auf einen Ausstieg aus der »patriarchal zugedachten Mutterschaft«, Mauerer: Medeas Erbe, S. 130. In einem all‐ gemeinen Sinn konturiert auch Bröckling eine Haltung, die ein absolutes Aussteigen ausschließt, Bröckling: Das unternehmerische Selbst. 27 Butler: Macht der Geschlechternormen, S. 284-285. Butler geht hinsichtlich Widerstandspraktiken lediglich oder gerade von der Möglichkeit des diskursiven Durcharbeitens aus 25 . Aktives Aussteigen - so gut es gemeint ist - kann es nicht geben. Man kann nicht einfach aussteigen 26 . Wo‐ raus überhaupt? Wenn es einfach nicht möglich ist, voluntaristisch am gleichen Ort die gängigen Elternschafts-Diskurse zu verlassen, dann ist die Beanspru‐ chung einer solchen Möglichkeit, auch in der Spielart des Thematisierens dem Projekt »Befreiung aus sozialen Zwängen« hinderlich. Was Butler bezüglich Geschlechterdifferenz sagt, gilt im gleichen Maße für Normen der Elternschaft: »Und wer gegen sie anzugehen versucht, argumentiert in genau der Struktur, die sein Argument möglich macht.« 27 Argumentationen, die sich demnach dem »Perfektionswahn« (Becker) oder der Verbreitung von Schuldgefühlen (Mundlos) aktiv entgegenstellen, sind parado‐ xerweise an der Verstärkung, ja an der Produktion jener Antipoden beteiligt. Sie suggerieren nämlich eine Position im Außen, von der ausgehend Emanzipation erreicht werden kann. Daher kann festgehalten werden, dass familiales Unbehagen sowohl durch irrationale Erzählmuster als auch durch Argumentationen, die eine kritische Position in einem vermeintlichen Außen einnehmen, produziert und gesteigert wird. Es verwundert nicht, dass laut Aussagen eines Experten im Dokumentarfilm auch Ärzte davor Angst haben, etwas zu übersehen (G 00: 05: 52). Unterschied‐ liche Spielarten der Angst sind medienkulturell eben weit verbreitet. Um eine weitere Facette familialer Angstkontexte ermitteln zu können, wird im Fol‐ genden Robert Harris’ Roman Angst herangezogen. Angst erklärt der Protagonist Dr. Alex Hoffmann schlichtweg mit Digitali‐ sierung. Er geht davon aus, »dass die Digitalisierung an sich eine epidemische Angst hervorruft und dass Epiktet recht hatte: Wir leben nicht in einer Welt aus realen Dingen, sondern aus Meinungen und Fantasien. Die zunehmende Marktvolatilität ist eine Funktion der Digitalisierung, 4.1 Familiales Unbehagen 149 <?page no="150"?> 28 http: / / www.zeit.de/ angebote/ buchtipp/ harris/ index (zuletzt aufgerufen am 09. 06. 2016). was heißt: überspitzte menschliche Stimmungsschwankungen durch beispiellose In‐ formationsverbreitung per Internet« (A S. 119-120). Angst erscheint als unmittelbare Folge der Digitalisierung. Wir sind im Zuge dessen nicht von konkreten Objekten umgeben, sondern leben im Internetzeit‐ alter mit abstrakten Informationsströmen. Der Roman reflektiert die in ihrer Tragweite noch kaum absehbaren Folgen der Digitalisierung in der Finanzwelt, in der - so gibt es der Roman vor - Agens und Patiens, Mensch und Maschine bis zur Ununterscheidbarkeit und mit bedrohlichen Konsequenzen ver‐ schwimmen. Gleichwohl kann der Algorithmus Vixal-4 (und darin spiegelt sich die Ambivalenz der Digitalisierung und der Angst) für unglaublichen Reichtum sorgen: »Es ist uns zum Beispiel gelungen, aktuelle Marktschwankungen mit der Häufig‐ keitsrate von angstbesetzten Wörtern in den Medien in Beziehung zu setzen - Terror, Alarm, Panik, Horror, Entsetzen, Grauen, Furcht, Anthrax, Atom« (A S. 119). Der Algorithmus Vixal-4 sucht und analysiert mit künstlicher Intelligenz Angst‐ parameter im Internet und kann darauf aufbauend die Vorgänge der Finanz‐ märkte vorhersagen 28 . Zwar scheint es nicht ohne weiteres möglich zu sein, die Finanzwelt mit der gegenwärtigen Elternwelt zu verbinden; nichtsdestoweniger lese ich das Setting auch als kritische Problematisierung unseres technologi‐ schen Zeitalters im Allgemeinen und demnach auch als auf Elternschaft unter familientechnologischen Bedingungen beziehbar. Hervorzuheben ist, dass viele Vorgänge dort ablaufen, wo sie nicht sichtbar sind. Im Roman heißt es: »Die meisten Menschen sind sich dessen, was passiert ist, kaum bewusst. Warum auch? « (A S. 116) Was ist aber passiert? Mit abstrakten Werten, mit Indices und volatilen Stim‐ mungen wird die Zukunft scheinbar objektiv vorhergesagt, obwohl diese Zahlen gerade (wie auch im Roman betont wird) hochgradig an (historische) Vorstel‐ lungen, oder zumindest an Interpretation gebunden sind, auch im naturwissen‐ schaftlichen Bereich. Anhand des Romans Angst kann eine weitere zeitgenössische Komponente herausgearbeitet werden, die Unbehaglichkeit bedingt: Der volatile, nicht minder folgenschwere Rekurs auf abstrakte Informationen und technologische Werte. Berücksichtigt man die Tatsache, dass Familiengründungen in hohem Maße durch abstrakte und technikorientierte Werte (beispielsweise beim Blut‐ 4. Das Brodeln der Elemente 150 <?page no="151"?> 29 Diekämper: Reproduziertes Leben, S 77. 30 Bergmann: Ausweichrouten. 31 Rose und Schmied-Knittel: Magie und Technik. test) geprägt sind, dann erscheint die Verallgemeinerung des in Robert Harris’ Roman Angst entfalteten Problemhorizont durchaus gerechtfertigt. Mit der Angst vor einer Behinderung wird Politik gemacht 29 , genauso wie im Roman mit der Angst ein bombastisches Geschäft gemacht wird. In diesem Unterkapitel wurden nun verschiedene Elemente herausgearbeitet, die für familiale Malaise verantwortlich zeichnen. Um tatsächlich diskursive Zusammenhänge ausmachen zu können, wurde die Objektebene erweitert. Die Analyse der zwei antithetisch strukturierten Online-Artikel-Überschriften, der ausgewählten ›emanzipatorischen‹ Sachtexte und des Romans Angst hat weitere Faktoren zum Ausdruck gebracht, die Familialität der Gegenwart als unbehag‐ lich erscheinen lassen, und zwar: irrationale Narrationen, die Einnahme kriti‐ scher Positionen ›im Außen‹ und die Objektivierung undurchschaubarer ab‐ strakter Werte, die tatsächlich nicht minder situativ und interpretativ eingebettet sind. Die in diesem Abschnitt herausgearbeitete familienpolitische Unbehaglich‐ keit lässt sich noch allgemeiner zusammenfassen. Die Unbehaglichkeit bei fa‐ milienpolitischen Aushandlungen in der Gegenwart ist damit zu umschreiben, dass Potenzialitäten von Familialität unter familientechnologischen Bedin‐ gungen gären, ohne dass ein allgemeingültiges Fundament diese domestiziert. Die erwähnten irrationalen Narrationen suggerieren die Möglichkeit einer gött‐ lichen Schicksalsmacht, der man ausgeliefert ist; gleichzeitig besteht die Mög‐ lichkeit, ›rational‹ auf die Technik zu setzen. Die nicht einzuschränkende Po‐ tenzialität ist demnach eine Facette von familientechnologischer Vielfalt. Im Forschungsüberblick habe ich bereits die Studien von Bergmann 30 sowie Rose und Schmied-Knittel 31 vorgestellt, die »hybride Verschleifungen« (Rose und Schmied-Knittel) im Kontext von Familialität herausarbeiten. Der entschei‐ dende Mehrwert des nun folgenden Unterkapitels besteht darin, dass mithilfe eines erkenntnisleitenden Medienbegriffs und einer mediensyntagmatischen Haltung gezeigt wird, dass jene vielfältigen bis paradoxen Strukturen (auf die in der Forschung mehrfach verwiesen wird) sich in unserer Medienkultur osten‐ tativ zeigen. Was dokumentiert wird, ist, dass jene familienpolitische Mehrdeu‐ tigkeit sich in unserer Medienkultur zeigt bzw. zeigbar ist. 4.1 Familiales Unbehagen 151 <?page no="152"?> 32 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthro‐ pologie, Frankfurt am Main 2008, S. 87. 33 Ich danke an dieser Stelle Herrn Prof. Stephan Kammer für die gewinnbringenden Dis‐ kussionen über Bruno Latour im Hauptseminar Kybernetik und Literatur im SoSe 2016 an der LMU. Die Klassifikation jener realen Dinge als »Black Boxes« innerhalb der Methodologie der vorliegenden Arbeit geht auf Herrn Kammer zurück. 34 Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 8. Entsprechendes gilt für Biologie und Ge‐ sellschaft, ibid., S. 7-8. 4.2 Vielfalt / Oxymorie - Anerkennung der Überblendung - ostentative Manifestation als medienkulturelle Realität Im Folgenden wird nicht nur auf vielfältige familiale Vermischungen, die sich ins Oxymorische steigern können, rekurriert, sondern herausgearbeitet, dass sich diese Verflechtungen in unserer gegenwärtigen Medienkultur metaprak‐ tisch zeigen, manifestieren und damit zeigbar sind. Es lassen sich viele Medien, die unterschiedlicher nicht sein könnten (Dokumentation, Schaufenster, Baby‐ welt-Messe, Nachrichtensendung), analysieren, die allesamt die These bestä‐ tigen, dass medial familiale Verschleifungs- und Entschleifungsprozesse (Schär‐ fung von Grenzen) vorgeführt werden. Dabei greife ich auf Bruno Latours Konzept in dessen Essay Wir sind nie modern gewesen zurück. Dieser fokussiert gerade auf Hybride oder Quasi-Objekte, die »gleichzeitig real, diskursiv und sozial« 32 sind. Eine Abweichung von Latour besteht darin, dass ich aus diszi‐ plinären Kompetenzgründen keine Aussagen zu jenen realen Dingen (die sensu Latour kulturell eingebettet sind) treffen werde. Ich gehe mit Latour davon aus, dass es kulturell-diskursiv codierte, dennoch aber physiologisch-reale Prozesse (beispielsweise bei der Befruchtung) gibt. Jene Vorgänge werden hier aber als Black Boxes 33 integriert. Beobachtet wird in der vorliegenden Arbeit über den Begriff Manifestation der Bezug in unserer Medienkultur und nicht die Qualität des Referenzobjektes. Bei einer Manifestation von Natur und / oder Kultur geht es darum, dass auf Natur und / oder Kultur respektive Technik herausgehoben Bezug genommen wird. In Latours Essay geht es um die Annahme einer hybriden Vernetzung von Natur und Kultur: »Die ganze Kultur und die ganze Natur werden hier Tag für Tag neu zusammenge‐ braut.« 34 Latour behandelt Natur und Gesellschaft als längst nicht mehr voneinander iso‐ liert zu betrachtende Phänomene: 4. Das Brodeln der Elemente 152 <?page no="153"?> 35 Ibid., S. 191. 36 Ibid., S. 19. 37 Ibid., S. 47. Ebenso S. 56. 38 Ibid., S. 12, S. 13, S. 14, S. 48. 39 Ibid., S. 48-49. 40 Ibid., S. 53. 41 Ibid., S. 61. 42 Ibid., S. 49. »Die Naturen sind präsent, aber mit ihren Repräsentanten, den Wissenschaftlern, die in ihrem Namen sprechen. Die Gesellschaften sind präsent, aber mit den Objekten, die ihnen schon immer Gewicht gegeben haben.« 35 Die gemeinsame Betrachtung von Natur und Gesellschaft erhöht die Komple‐ xität von Begründungszusammenhängen. Latour geht davon aus, dass »mo‐ dern« zwei verschiedene Praktiken bezeichnet (wobei seit kurzem genau diese strikte Verschiedenheit derselben nicht mehr vorhanden ist). Während das erste Ensemble von Praktiken durch ›Übersetzung‹ Mischwesen, demnach Hybride in einem Netz schafft, sorgt das zweite Ensemble von Praktiken als Kritik durch ›Reinigung‹ für zwei differente ontologische Zonen. 36 Zur Charakterisierung der Verfassung der Moderne sind sensu Latour Vorgänge der »Verdopplung« 37 , der »Gleichzeitigkeit« 38 , und eine Art »Wechsel« 39 von Bedeutung. Die Stärke der Modernen liegt darin, dass sie in einer Art Verdopplung und Gleichzeitigkeit, einem Wechselspiel zwischen Extrema immer »zwei Eisen im Feuer« 40 haben. Es handelt sich um das Wechselspiel zwischen Transzendenz und Immanenz: »Was wäre ein Moderner, der sich nicht mehr auf die Transzendenz der Natur stützte, um den Obskurantismus der Macht zu kritisieren? Auf die Immanenz der Natur, um die Trägheit der Menschenwesen zu kritisieren? « 41 Ein moderner Mensch bezieht sich demnach gleichzeitig auf die Uneinholbarkeit der Natur und auf die gesellschaftliche Aneignung der Natur. Es kann also die Natur zugleich begrenzt und entgrenzt werden. Die moderne Konstruktion operiert im Modus von Gleichzeitigkeiten mit den Referenzen Natur, Gesellschaft und Gott: »Dreimal hintereinander wird auf denselben Wechsel zwischen Transzendenz und Immanenz gesetzt; damit ist es möglich, die Natur zu mobilisieren, das Soziale zu verdinglichen und die geistige Anwesenheit Gottes zu empfinden. Und gleichzeitig wird unerschütterlich daran festgehalten, daß die Natur uns entgeht, die Gesellschaft unser Werk ist und Gott nicht eingreift. Wer hätte einer solchen Konstruktion wider‐ stehen können? « 42 4.2 Vielfalt / Oxymorie 153 <?page no="154"?> 43 Ibid., S. 45. 44 Wörtlich: »In dieser doppelzüngigen Sprache liegt die kritische Macht der Modernen: Sie können die Natur inmitten der sozialen Beziehungen mobilisieren und trotzdem unendlich von den Menschen entfernt halten; sie sind frei, ihre Gesellschaft zu schaffen und abzuschaffen, und machen trotzdem aus den gesellschaftlichen Gesetzen etwas Unausweichliches, Notwendiges und Absolutes«, ibid., S. 52. 45 Wülfingen: Genetisierung der Zeugung, S. 178-179. 46 Siehe hierzu beispielsweise die Phoenix-Runde: Eizellen einfrieren auf Firmenkosten - Skandal oder Chance? ; 22. 10. 2014. Siehe auch Wülfingen: Genetisierung der Zeugung, S. 128. Zu emanzipatorischen Bezügen bei gleichzeitiger Biologisierung der Gegeben‐ heiten siehe ibid., S. 226. Es ist also möglich, gleichzeitig und paradox von der Verfügbarmachung und Uneinholbarkeit der Natur, Irreduzibilität und Produktion des Sozialen sowie von der Mitwirkung und Teilnahmslosigkeit Gottes auszugehen. Hinzu kommt die bereits erwähnte Reinigungsarbeit: Natur und Gesellschaft werden absolut getrennt 43 . Nach dieser kurzen Zusammenfassung der Latourschen Annahmen kann nun ein konkreter Bezug zur Familienpolitik der Gegenwart unternommen werden. Die doppelzüngige Rede der Modernen 44 manifestiert sich aktuell in den Dis‐ kursen um Geburt, Schwangerschaft und Familiengründungen, und zwar indem verdoppelt argumentiert wird. Bergmann hat die ›Gleichzeitigkeit‹ von Mystik und Labor im Umfeld der modernen Reproduktion praxisorientiert gezeigt (siehe Forschungsüberblick, Kapitel 1). Bettina Bock von Wülfingen hat gezeigt, dass im Kontext von Neuen Gen- und Reproduktionstechnologien etwa die Natur, die Technologie oder die Gesellschaft als verantwortlich handelnde Fi‐ guren personifiziert werden 45 . Ich werde nun die Begriffskaskaden der para‐ doxen ›Gleichzeitigkeit‹, wie sie Bruno Latour verwendet, etwas verändert in einen größeren medienkulturellen Zusammenhang stellen, wobei als Ergebnis festgehalten wird, dass unserer Medienkultur ostentative Manifestationen der Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz eingeschrieben sind. Medi‐ enkulturell manifest, herausgehoben, sichtbar ist eine Verschleifung von Imma‐ nenz und Transzendenz. Jeder Gedankenstrich illustriert eine Verschleifung: • Zu sehen und zu hören ist die Rede von der Natur, die überlistet werden soll (Immanenz), in der Debatte um Social Freezing 46 und von der Natur, die alles richten werde (Transzendenz), und zwar in den Diskursen um natürliche Hausgeburten. • Medienangebote wie Babys! Kleines Wunder - Großes Glück (Deutschland 2012-, sagamedia. Film- und Fernsehproduktion; TV ( RTL 2)) tendieren zur rhetorischen Überschreitung des irdischen Systems (Transzendenz) 4. Das Brodeln der Elemente 154 <?page no="155"?> 47 So konstatiert auch Haker: »Die Begriffe des ›Wunders‹ und des ›Geheimnisses‹ spie‐ geln einen Gefühlszustand wider, der insbesondere bei den ›Wunschkindern‹ domi‐ niert«, Haker: Hauptsache gesund? , S. 154. 48 Villa, Paula-Irene; Moebius, Stephan; Thiessen, Barbara: Einführung, S. 10-11. 49 Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 67. und gleichzeitig wird in unserer Medienkultur von Entscheidungs‐ zwängen (Immanenz) gesprochen. • Von technologischen Verfahren (beispielsweise In-vitro-Fertilisation), menschlicher Machbarkeit, Planbarkeit über Altersgrenzen und Sterilität hinaus (Immanenz) ist allerorts zu hören, und auch die Präsenz des gött‐ lich anmutenden Phraseologismus vom »Wunder des Lebens« 47 ist nach wie vor virulent vorhanden (Transzendenz). In diesen Verschleifungen ist also wahrlich für jede_n etwas dabei, auch deshalb weil »Geburt eine den ganzen Menschen betreffende bio-physio-soziale außer‐ alltäglich-sakrale Erfahrung der Selbsttranszendenz ist« 48 . Die moderne Reinigungsarbeit funktioniert in der Gegenwart nicht mehr. Symptomatisch für die ›Krise‹ der Reinigungsarbeit ist die gleichzeitige Kom‐ munikation von Unvereinbarem. Mit Latour kann gefragt werden: »Was ist passiert, daß die Arbeit der Reinigung nicht mehr gedacht werden kann, während noch vor einigen Jahren die Entfaltung der Netze absurd oder doch skandalös schien? « 49 Konkret auf meinen Untersuchungsgegenstand bezogen lautet die Frage: Was ist passiert, dass man zu Familialität, Schwangerschaft respektive Schwanger‐ schaftsabbrüchen und, im Zuge der sukzessiven Entwicklungen, zu Familien‐ technologien nicht mehr eindeutig Position beziehen kann oder vielmehr dass jede eindeutige Positionierung hierzu unweigerlich in ihrer Fragwürdigkeit of‐ fenbar wird? Eine mögliche Antwort findet man in Latours Essay: »Sagen wir, daß die Modernen Opfer ihres Erfolgs geworden sind. […] Die moderne Verfassung ist unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen. […] Der Dritte im Bunde wurde schließlich zu zahlreich, um in der Ordnung der Objekte oder Subjekte noch zuverlässig repräsentiert werden zu können. Solange sie nur in Form von ein paar Luftpumpen auftauchten, ließen sich die Mischwesen noch getrennt in zwei Dossiers unterbringen […] Wenn man aber von Embryonen im Reagenzglas [Hervor‐ hebung M. P.], Expertensystemen, digitalen Maschinen, Robotern mit Sensoren […] überschwemmt wird […] wenn diese Chimären sich weder auf der Seite der Objekte 4.2 Vielfalt / Oxymorie 155 <?page no="156"?> 50 Ibid., S. 67-68. 51 Zur eigentlich »unmöglichen« Entscheidung siehe auch Waldschmidt: Risiken, Zahlen, Landschaften, S. 107. Eine Problematisierung der eindeutig-richtigen Entscheidbarkeit findet sich auch in: Rommelspacher, Birgit: Weibliche Autonomie und gesellschaftliche Normierung, in: ReproKult (Hrsg.): Reproduktionsmedizin und Gentechnik. Frauen zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Normierung. Dokumentation der Fachtagung 15. bis 17. November 2001 in Berlin, in: http: / / www.akf-info.de/ reprokult/ vortrag1.pdf (zuletzt aufgerufen am 09. 11. 2015). 52 Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, 2. Aufl. Frankfurt am Main und New York 2009, S. 101. noch auf der Seite der Subjekte, noch in der Mitte zu Hause fühlen, muß wohl oder übel irgend etwas geschehen.« 50 Eine eindeutige Grenze zwischen Subjekten und Objekten ist aufgrund der Fülle von Hybridwesen nicht mehr möglich. Es existieren zahlreiche wissenschaftliche Stimmen, die unterschiedliche Spielarten entscheidungsbeeinflussender Verschleifungen und Entschleifungen konstatieren 51 . Diese werden nun exemplarisch wiedergegeben. Dabei sollen die zahlreichen Zitate, in denen Vermischungen und Trennungen thematisiert werden, gleichfalls als Objektebene betrachtet werden. Achim Landwehr klas‐ sifiziert die Fähigkeit des Wunderns als eine wichtige Voraussetzung für Dis‐ kursanalysen: »Dabei gilt es die Fähigkeit zu trainieren, sich zu wundern - zu wundern darüber, dass bestimmte Aussagen in bestimmten Texten auftauchen, andere hingegen nicht, dass bestimmte Motive in Bildern immer wiederkehren, andere jedoch offensichtlich von weniger Interesse waren, dass bestimmte Handlungen als normal akzeptiert wurden, andere hingegen undenkbar schienen.« 52 Diskursanalytisch kann man sich darüber wundern, dass in der Forschung so persistent auf Vermischungen und Trennungen verwiesen wird. In der vorlie‐ genden Arbeit wird vorgeführt, dass Verschleifungen / Entschleifungen sich os‐ tentativ und zahlreich in unserer Medienkultur zeigen. Vermischungen und Ent‐ mischungen sind daher medienkulturell zeigbar. Bevor aber jene ostentativen Manifestationen hybrider Verschleifung und politischer Entschleifung in un‐ serer Medienkultur herausgearbeitet und analysiert werden, folgt nun die exemplarische Wiedergabe von Zitaten, in denen familienpolitische Vermi‐ schung und Trennung thematisiert werden. Angesprochen wird dabei ein Akzeptanzproblem hinsichtlich unlösbarer Konfliktsituationen: 4. Das Brodeln der Elemente 156 <?page no="157"?> 53 Haker: Hauptsache gesund? , S. 171. 54 Beck-Gernsheim: Im Zeitalter des medizintechnischen Fortschritts, S. 11-12. 55 Katz Rothman: Schwangerschaft, S. 57. 56 Beck-Gernsheim: Im Zeitalter des medizintechnischen Fortschritts, S. 11. 57 Thomä: Eltern, S. 23. 58 Gehring, Petra: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt am Main 2006, S. 148-149. »Zugleich haben wir es aber auch noch immer nicht gelernt, zu akzeptieren, dass es moralische Konflikte gibt, die vielleicht in der Theorie, gewiss aber nicht in jeder praktischen Konfliktsituation aufgelöst werden können.« 53 Eindeutig richtige Problemlösungsverfahren verschwimmen vielmehr in viel‐ schichtig paradoxe Begründungshorizonte: »Da gibt es in vielen Fällen nicht die eine und einzige, moralisch saubere Antwort, vielmehr erzeugt jede Entscheidung Folgeprobleme eigener Art […] Da gerät der / die einzelne in Dilemmata, die kaum auflösbar sind« 54 . Klare Positionalität (eingedenk der Verschleifung) stimmt eher skeptisch: »Aber hier und da kann man eine ganz klare Stimme hören, eine Frau, die sich absolut sicher ist. Diese wenigen Frauen beunruhigten mich. Während alle anderen um eine Entscheidung ringen, scheinen diese selbstsicheren Frauen in ihrer Eindeutigkeit fast arrogant.« 55 Die Entscheidungsdynamik skaliert zwischen Unmöglichkeit und Unumgäng‐ lichkeit: »Im Extremfall, im medizinischen Ernstfall sind die Betroffenen vor das gestellt, was man vielleicht ›unmögliche Entscheidungen‹ nennen könnte. Gemeint sind Entschei‐ dungen, die im Grunde niemand fällen, niemand verantworten kann - denn wo gäbe es Regeln, um über Leben oder Tod zu richten? - und die dennoch gefällt werden müssen, so oder so.« 56 Den wissenschaftlichen Statements ist gemein, dass sie alle eine Skepsis gegen‐ über Eindeutigkeit und klaren Entscheidungen zum Ausdruck bringen. Im Hinblick auf das Kinderbekommen stellt ferner Thomä ein Ineinander‐ greifen von Altem und Neuem fest, das in einer Zwischenzeit mündet 57 . Petra Gehring beschreibt das Subjekt der Bioethik als fluktuierend zwischen ›Natur‹, ›Kultur‹ und ›Autonomie‹. 58 Gleichzeitig dokumentiert sie auch die Existenz von Reinigungsprozessen: 4.2 Vielfalt / Oxymorie 157 <?page no="158"?> 59 Ibid., S. 8-9. 60 Ibid., S. 112. 61 Ibid. 62 Titchkosky: Reading, S. 87 63 Ibid., S 87-88. 64 Ibid., S. 105. 65 Ibid., S. 94. 66 Haker: Hauptsache gesund? , S. 14. Siehe auch ihre Überlegungen zu ›privater Auto‐ nomie‹, beispielsweise S. 52-55. Ferner ist auch bei ihr zu lesen: »Wenn wir die Erfah‐ rungen ernst nehmen, dann ist ein eindeutiges ethisches Urteil, das für alle Fälle in gleicher Weise gelten kann, kaum möglich«, S. 169. Zur Konturierung von Rechts- und Ethikfragen als Machtfragen sowie zur konstitutiven gesellschaftspolitischen Einbet‐ tung von Pränataldiagnostik und selektiven Abbrüchen siehe auch Achtelik: Selbst‐ bestimmte Normen, S. 10-11. »Aussagen zu Biotechnologie und Biomedizin gruppieren sich ›pro‹ oder ›kontra‹. Ist dies nicht von selbst der Fall, dann werden sie so gruppiert - durch die Filter der Medien und der Zitatwahl. Es ist, als werde nur wahrgenommen, was der einfachen Polari‐ sierung dient: Das Für und Wider. Dritte, vierte, fünfte oder ›ganz andere‹ Sichtweisen finden keinen Platz - es sei denn um den Preis der Zuordnung zu einem der beiden Lager.« 59 Die Bioethik - so Gehring problemorientiert - suggeriert in ihren »Problemlö‐ sungsdiskurse[n]« 60 die Möglichkeit rationaler Entscheidbarkeit: »Diesseits wie jenseits der überschrittenen Grenze scheint allein die rationale (Wahl-) Entscheidung zu bleiben« 61 . So hat auch Titchkosky gezeigt, wie »Making Disability a Medical Matter« auf Separationen basiert 62 . Die Macht der Technologie Ultraschall fußt ihr zufolge auf einer Entflechtung von sozialer Kontextualität 63 . Die Autorin verweist wei‐ terhin auf die vielfältige Verwobenheit der Kategorie Behinderung 64 und auf stets vorhandene interpretative Vorgänge 65 . In der Forschung rekurrieren viele Wissenschaftler_innen auf die Problematik der Grenzziehungen und auf die Existenz von Zwischenphänomenen, die Eindeutigkeit unterlaufen. Einprägsam verneint Haker die Möglichkeit eindeutiger Begründungen im Kontext von as‐ sistierter Reproduktion: »In den Fragen zur assistierten Fortpflanzung, Präimplantationsdiagnostik, Pränatal‐ diagnostik und erst recht in Schwangerschaftskonflikten gibt es keine so eindeutigen Begründungen, wie es eine klare und rationale Ethik - oder die katholisch-theologi‐ sche Ethik - erwarten lässt.« 66 4. Das Brodeln der Elemente 158 <?page no="159"?> 67 Beck-Gernsheim: Bastelbiologie, S. 86. 68 Funcke, Dorett und Peter, Claudia: Das Vexierbild (Nicht-)Wissen: Eine epistemologi‐ sche Herausforderung, der nicht beizukommen ist? , in: Peter, Claudia und Funcke, Do‐ rett (Hrsg.): Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin, Frankfurt am Main und New York 2013, S. 11-40, hier: S. 38. 69 Katz Rothman: Schwangerschaft, S. 175. Zu »unentscheidbaren Entscheidungen« siehe auch Beck-Gernsheim: Bastelbiologie, S. 103. 70 Schicktanz, Silke: Fremdkörper: Die Grenzüberschreitung als Prinzip der Transplanta‐ tionsmedizin, in: Karafyllis, Nicole C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S 179-197, hier: S. 189. Medizin und Biologie (hier mit Referenz auf Hirntod) sind nicht die alleinigen Autoritäten bei Grenz‐ ziehung: »Medizin und Biologie können anhand inhärenter, durchaus valider Methoden und Theorien den Hirntod durch medizinische Parameter beschreiben und messen, die Definitionsmacht für die moralische relevante Grenzziehung haben sie aber nicht al‐ leine«, S. 188. Von universeller Eindeutigkeit kann dabei nicht einmal innerhalb eines defi‐ nierten Kontextes (wie etwa desjenigen des Grundgesetzes) ausgegangen werden. Stets klafft jener Spalt auf, dem nur über konkrete Auslegung begegnet werden kann. Antworten differieren inter- und intrakontextuell (kulturell, re‐ ligiös, gesellschaftlich), wobei sowohl Extrema als auch Hybride skaliert werden können: »Ob Koran, die Zehn Gebote oder das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, nie wird man darin die eine und eindeutige Antwort finden. Stets bleibt eine Lücke, ein Zwischenraum, der nur auf dem Weg der Auslegungen gefüllt werden kann. In der Folge finden wir in den Stellungnahmen zur Reproduktionsmedizin komplizierte Argumentationsketten, ja zum Teil eine Akrobatik des Auslegens mit bizarren Sprüngen und Schlussfolgerungen. Und vielfach kommt es zu voneinander abweich‐ enden, ja gegensätzlichen Antworten, innerhalb wie zwischen verschiedenen Kul‐ turen und Religionen, innerhalb wie zwischen verschiedenen Gesellschaften und Wissenschaftsdisziplinen. Da steht Überzeugung gegen Überzeugung, vehemente Zu‐ stimmung gegen radikale Ablehnung, und zwischen den Extrempositionen gibt es vielerlei Varianten und Mischformen.« 67 Problematisiert wird deshalb auch der gegenwärtige Konflikt zwischenphäno‐ menaler Bewertungsmöglichkeiten 68 . Katz Rothman vertritt die These, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht über eindeutige Grenzen entschieden werden kann 69 . Die in der Forschung geforderte und herausgearbeitete Offenheit (in den verschiedenen Spielarten) zielt nicht auf eine Vernichtung aller Grenzen ab, sie gesteht jedoch antiuniversell Komplexität ein 70 . Komplexität, Kontextualität, Diversität, Vielfalt, Pluralität, Uneindeutigkeit, Interpretativität, Multiperspek‐ tivität, Werte- und Glaubensorientierung, Situativität, Spezifität, Prozeduralität, 4.2 Vielfalt / Oxymorie 159 <?page no="160"?> 71 Peter und Funcke: Wissen an der Grenze. Der Sammelband Kulturelle Aspekte der Bio‐ medizin fokussiert ebenso dezidiert auf Phänomene wie Kulturalität, Kontextualität, Heterogenität, Spezifität und all die verschiedenen Ableitungen wie beispielsweise Pra‐ xisbezug, Differentialität und Situativität bei Fragen rund um Biomedizin und Bioethik, siehe demnach Schicktanz, Silke; Tannert, Christof; Wiedemann, Peter (Hrsg.): Kultur‐ elle Aspekte der Biomedizin. Bioethik, Religionen und Alltagsperspektiven, Frankfurt am Main und New York 2003. Kontextualität, Komplexität und Situativität ist auch virulent thematisiert bei Kollek und Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft, zusammenfassend: S. 289. Kurz und präzise lautet demnach auch eine Binnenüberschrift in einem Aufsatz von Krones und Richter: »Kontextuelle Ambivalenz statt logisch-dog‐ matische Eindeutigkeit«, Krones, Tanja und Richter, Gerd: Lebenswelt, Bioethik und Politik. Das demokratische Defizit in der deutschen bioethischen und biopolitischen Diskussion zur »Reprogenetik«, in: Mietzsch, Andreas (Hrsg.): Kursbuch Biopolitik, Berlin 2006, S. 87-105, hier: S. 101. 72 Folgende Zwischenfiguren werden in der Forschung u. a. genannt: Zwischenraum (Bergmann), Zwischenzeit (Thomä), Zwischentöne (Haker: Hauptsache gesund, S. 146). Daneben werden folgende Parameter genannt: Uneindeutigkeit (Haker, Katz Rothman), hybride Vermischungen (Thompson, Beck-Gernsheim), Situativität, Lokalität, Inter‐ pretativität (Titchkosky, Achtelik, Rapp, Peter und Funcke u. a.). Temporalität, Flexibilität, Antiuniversalismus und Reflexivität werden ausführ‐ lich und facettenreich in den Beiträgen des Sammelbandes Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin 71 ent‐ faltet und erläutert. In einer metapraktischen Erweiterung soll verdeutlicht werden, dass die viel‐ fältigen Zwischenfigurationen 72 sich eben ostentativ, metpraktisch in unserer Medienkultur zeigen und damit medienkulturell zeigbar sind. Medien, und zwar nicht nur diejenigen, die gemeinhin als avanciert gelten (! ), führen die Vermi‐ schung und Entmischung performativ vor. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, dass Medien wie beispielsweise Links’ Dokumentarfilm die gegenwärtige Logik der Überblendung, Komplexität und Uneindeutigkeit bei Fragen rund um Familialität ostentativ zur Schau stellen. In Links’ Dokumentarfilm wird Hybridität - bestenfalls Vielfalt, schlechtestenfalls Oxymorie - von Problemfeldern rund um Schwangerschaft visualisiert, und zwar ostentativ. Hybridität wird herausgehoben und daher sichtbar. Der Dokumentarfilm ist ein medienkulturelles Beispiel der Distanzie‐ rung von dem partitiven, diskursiven Etikett gereinigter, eindeutiger und ein‐ heitlich-dichotomer Positionen. Ich frage zunächst danach, wie der Dokumentarfilm Am Anfang - Vor der Geburt die Fragen »Wie weit kann / soll / darf / muss man gehen? « verhandelt. Mit Butler ist dabei von einer Reziprozität zwischen Entscheidung und ent‐ schiedenem Feld auszugehen: 4. Das Brodeln der Elemente 160 <?page no="161"?> 73 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 2006, S. 221. Zur Hie‐ rarchisierung von »Wollen, Können, Sollen« siehe auch Haker: Hauptsache gesund? , beispielsweise S. 56-62 oder S. 186. Ferner betont die Autorin, dass die Ethik die Frage nach dem richtigen Handeln an die Gesellschaft zurückgeben könne, ibid., S. 170. Zur konstitutiven Abhängigkeit der Entscheidungen von zeithistorischen, gesellschaftli‐ chen und ökonomischen Bedingungen siehe auch Achtelik: Selbstbestimmte Norm, beispielsweise S. 169-170. Ebenso verweist Meißner im Anschluss an Butler und Fou‐ cault auf die Wichtigkeit einer Fokussierung auf die jeweiligen Bedingungen techno‐ logischer Entwicklungen, Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 159, Fußnote 6. »Entscheidungen sind nur innerhalb eines entschiedenen Feldes möglich, das nicht ein für allemal entschieden ist.« 73 Dass sich Fragen rund um Geburt im seltsamen Zwischenraum befinden, lässt sich anhand von Links’ Dokumentarfilm illustrieren. Zu Beginn (noch vor Ein‐ blendung des Titels) erscheint der weite Themenkomplex um Geburt im span‐ nungsgeladenen Zwischenbereich zwischen Natur und Technik, und zwar seriell über Natur-Technik-Abfolgen (etwa Wolken, Ultraschall, Wasser, Ähren). Da‐ rüber hinaus markieren strukturelle Überblendungssequenzen (beispielsweise Wolken / Wasser und schützende Hand auf einem Bauch, der eine Schwanger‐ schaft sichtbar macht) Verschleifungstendenzen im Umfeld von Schwanger‐ schaft / Geburt. Der bekannte Spruch »Bilder sagen mehr als tausend Worte« ist in diesem einen konkreten Beispiel richtig. Die Filmbilder eröffnen auf tolerante Weise Reflexionsräume im Modus des politisch Offenen, im Zulassen von Zufällen und Elementen, die brodeln. Links’ Dokumentarfilm verfährt gerade antireduzie‐ rend, er lässt die Elemente brodeln. Der Dokumentarfilm von Josephine Links illustriert demnach - so die These - das Brodeln der Elemente rund um Fami‐ lialität. Familiale Elemente brodeln in vielerlei Hinsicht. Fragen rund um Fami‐ lialität erregen emotional und heftig die beteiligten Gemüter. Familialität selbst scheint zu brodeln, indem sie (wie beim Kochen / Brodeln das Wasser) ihren bisherigen Aggregatzustand verlässt oder schon verlassen hat. Wenn man sich das Brodeln des Wassers in einem Topf vorstellt, dann hat man es gewöhnlich mit zwei Aggregatzuständen des Wassers zu tun, nämlich Wasser und Wasser‐ dampf. Während die Existenz der beiden Aggregatzustände Wasser und Was‐ serdampf wohl ganz gelassen betrachtet werden kann, erscheint familiales Bro‐ deln manchmal prekär. Jenes familiale Brodeln bedeutet nämlich auch Veränderung und Bewegung, Komplexität und Unklarheit, Uneindeutigkeit und Unbeantwortbarkeit, kurz Ambivalenz. Es handelt sich dabei also um Momente, die schwer einzuordnen sind. Links’ Dokumentarfilm spürt diesen schwer ein‐ 4.2 Vielfalt / Oxymorie 161 <?page no="162"?> zuordnenden familialen Momenten im Zeitalter familientechnologischer Be‐ dingungen nach und lässt ihnen ihre Komplexität, indem das Brodeln nicht do‐ mestiziert wird. Akzeptiert man einmal diese Haltung, dann verlieren jene brodelnden Elemente teilweise ihren prekären Status. Symptomatisch für den gegenwärtigen Zeitgeist beschreibt ein Pränataldi‐ agnostiker die komplexe und oxymorische Situation hinsichtlich der Thematik um Schwangerschaftsabbrüche (nach Pränalatdiagnostik): »Aber ich habe nicht den Eindruck, dass ich einem Baby das Leben raube oder so. Auch wenn es so ist, ja, aber es ist nicht so« (G 00: 45: 52). Die Zuschreibungen an Pränataldiagnostiker_innen bewegen sich zwischen Himmel und Hölle, Retter_innen und Mörder_innen. So erwähnt er einen Vorfall auf einem Kongress, auf dem ein Arzt einen Kollegen, der Schwangerschafts‐ abbrüche (wohl im Kontext von Pränataldiagnostik) vorgenommen und davon berichtet hatte, als Mörder bezeichnet hat (G 00: 42: 57). Wenn ich hier mit dem Terminus Oxymoron arbeite, dann beziehe ich mich weniger auf die rhetorische Figur denn auf eine Denkfigur der Koexistenz von scheinbar Unvereinbarem. In diesem Sinne verstanden ist das Oxymoron eine Erkenntnisfigur zur Markierung gegenwärtiger Verschleifungen von Gegen‐ sätzen. Eine stark abstrahierende Paraphrasierung des Statements des Experten ergibt (paradox): Etwas ist und ist auch wieder nicht. Die gereinigten Extrema ( Ja-Nein, Richtig-Falsch) sind in der Krise (die wissenschaftlichen Stimmen weiter oben haben das auch zum Ausdruck gebracht). Bevor der Experte seine oxymorische Einschätzung zum Schwangerschaftsabbruch mitteilt, sagt er, dass die Schwierigkeit in den zwei Wegen liege (G 00: 45: 50), die damit umschrieben werden können, ob man ein Leben »raubt« oder nicht. Eine Antwort darauf führt wohl in die ethische Debatte um den Status des Embryos. Meine These ist nun, dass die Behauptung »Auch wenn es so ist, ja, aber es ist nicht so« (höchst produktiv) die Aussage von den zwei säuberlich zu tren‐ nenden Wegen strenggenommen unterminiert. Ich bin der Ansicht, dass die These von den »zwei Wegen« eher als ein partitives medienkulturelles, diskur‐ sives Etikett funktioniert, denn als Wahrnehmungshorizont in toto und / oder medienkulturelles Arrangement schlechthin. Ein Bewusstmachen dessen - wie es beispielsweise der Dokumentarfilm leistet - erscheint als Movens und Ent‐ lastungsindex. Der Dokumentarfilm holt Komplexität ein, indem beispielsweise eine Erzäh‐ lung respektive Erfahrung und Meinung eines Experten, die umschrieben werden kann mit der Vorstellung, dass Pränataldiagnostik Leid verhindern kann, unkommentiert (weder berichtigt noch falsifiziert), rein musikalisch und 4. Das Brodeln der Elemente 162 <?page no="163"?> 74 Dreysse verweist auf eine Milupa-Werbung aus dem Jahr 1932, in der auch Ähren ar‐ rangiert sind. Sie klassifiziert diese als ein »Setting, das Fruchtbarkeit und Erdnähe der deutschen Mutter betont«, Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 38-39. 75 Mann, Thomas: Joseph, der Ernährer, Frankfurt am Main 1991. 76 Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament, Genesis 41, Stuttgart 1980, S. 42-44 Zu Bibelzitaten im Umfeld von Reproduktionsmedizin siehe Diekämper: Reproduziertes Leben, S. 192-193. Zu religiösen Einschreibungen in Familialität siehe Daly, Kerry: Family Theory Versus the Theories Families live by, in: Journal of Marriage and Family 4 (2003), S. 771-784, siehe auch Nusser, Tanja: Was verbindet Dolly mit Jesus? Zu christlichen Metaphoriken in der Klonierungsdebatte, in: Bergermann, Ulrike; Breger, Claudia; Nusser, Tanja (Hrsg.): Techniken der Reproduktion. Medien - Leben - Diskurse, Königstein im Taunus 2002, S. 213-226. Zur Verwobenheit von Mythos, Re‐ ligion und Technik auch Werner-Felmayer: Frauenkörper, S. 37, S. 44. Im Hinblick auf den Einfluss von Religion auf technologisch codierte Entscheidungsprozesse siehe auch Rapp: Testing Women. bebildert begleitet, also offen inszeniert ist (G 00: 08: 16). Gewiss können Musik und Bilder den Deutungshorizont grundsätzlich einengen, dies erfolgt im Do‐ kumentarfilm aber nicht. Der musikalische Hintergrund etwa speist sich nicht aus Melodien, mit denen bestimmte Konnotationen einhergehen müssen. Bei den Bildern handelt es sich lediglich um Ultraschall-Aufnahmen, die Pränatal‐ diagnostik erneut, eben bildlich, verdeutlichen, ohne eine Wertung vorzu‐ nehmen. In diesem Film wird gerade die emotionale Komplexität auch für die behan‐ delnden Ärzt_innen deutlich, wenn etwa ein Experte davon spricht, dass er an einer Supervision teilgenommen hat (G 00: 44: 29). Links’ Dokumentarfilm entfaltet Unentscheidbarkeit, indem - das zeigen die Überblendungen, die Natur-Technik-Abfolgen sowie ferner das Statement des Experten (»Auch wenn es so ist, ja, aber es ist nicht so«) - die Hybridität von Problemfeldern rund um Schwangerschaft visualisiert wird, und zwar osten‐ tativ. Betrachtet man die Objektebene, das Medium, speziell die einführenden Sequenzen, dann wird herausgehoben ersichtlich, dass Fragen rund um Schwan‐ gerschaft im Zwischenraum angesiedelt sind, deren Extrema nicht weiter aus‐ einander sein könnten. Die Bilder der Ähren, Zeichen der Fruchtbarkeit 74 , ver‐ weisen auf einen biblisch-sakralen Kontext im Problemfeld der Vorsorge. In der biblischen Geschichte (später von Thomas Mann in Joseph, der Ernährer 75 über‐ nommen) erzählt der Pharao Joseph von seinem Traum der sieben schönen Ähren, denen kümmerliche Ähren folgten (in der Deutung des Traumes sieben fruchtbare und sieben magere Jahre). Das Management Josephs zielt dann auch folgerichtig und vorsorgend auf das Speichern von Getreide ab 76 . Auf der anderen Seite des Zwischenraumes finden sich qua Ultraschall die Technik-Assoziationen. Herausgehoben ist demnach jener Zwischenraum, der 4.2 Vielfalt / Oxymorie 163 <?page no="164"?> 77 Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 69. 78 Gehring: Biomacht, S. 121. Gehring konstatiert kritisch, dass bioethische Überlegungen auf Verallgemeinerbarkeit angelegt sind. 79 Ibid., S. 122. 80 Butler: Haß spricht, S. 146. Unbehaglichkeit evoziert, und der seinen Ausdruck in der von einer Mutter als wünschenswert bezeichneten Problematisierung der Grenzen findet: »Ja, und das ist halt diese Debatte, die eigentlich zu wenig geführt wird; zum Ansetzen schon, aber nicht wirklich: so, wo sind die Grenzen? Und Grenzen Finden ist natürlich schwer. Wo ist die Grenze? Wann ist, ab wann verliert ein Fötus sein Recht, geboren zu werden. Und ab wann nicht, ja? « (G 00: 40: 52). Im antiautoritativen Bewusstmachen, im ostentativen »Über-die-Bühne-Bringen« als Heraushebung des Zwischenraums entfaltet sich das Aktionspotenzial von Links’ Dokumentarfilm, der als eine praktische Umsetzung von Latours Vorschlag der Simultanität verstanden werden kann: »Wenn wir die beiden Dimensionen gleichzeitig entfalten, können wir die Hybriden vielleicht aufnehmen und ihnen einen Platz geben, einen Namen, ein Haus, eine Phi‐ losophie, eine Ontologie und, wie ich hoffe, eine neue Verfassung.« 77 Die Dokumentation stiftet produktive ›Unordnung‹, lässt die Elemente bro‐ deln, unterminiert »Verallgemeinerbarkeit« 78 , »Standard-Blicke« 79 und die Er‐ folgsaussicht einer eindeutigen Entscheidung. Pointiert: Die Äußerung des Experten (»Auch wenn es so ist, ja, aber es ist nicht so«) und die darstellerische ›Unordnung‹ entbehren fixierender Univer‐ salität, eröffnen Möglichkeiten - in der Nomenklatur Butlers - Möglichkeiten der Neuschreibung: »Diese mangelnde Finalität ist genau das interpretative Dilemma, das positiv einzu‐ schätzen ist, weil es die Notwendigkeit eines letzten Urteils zugunsten einer gewissen sprachlichen Angreifbarkeit oder Verletzbarkeit aufhebt, die sich wiederaneignen läßt.« 80 Mangelnde Finalität wird in der Dokumentation dadurch erwirkt, dass Ambi‐ valenz nicht glättend aufgelöst wird. Entscheidend ist nun, dass sich viele Medien, die unterschiedlicher nicht sein können (Dokumentation, Schaufenster, Babywelt-Messe, Nachrichtensendung), analysieren lassen, um die These zu bestätigen, dass medial familiale Verschlei‐ fungs- und Entschleifungsprozesse vorgeführt werden. Ein zwischenräumliches 4. Das Brodeln der Elemente 164 <?page no="165"?> 81 Seed Brand Store München (Schaufenster) - Belgradstraße 2, 80 796 München. 82 Schleif: Schaufensterkunst, S. 11. 83 Ibid. 84 Aufmerksam wurde ich auf die Schaufenster-Gestaltung im April 2015 in der Belgrad‐ straße in München. Die Abbildung ist online einsehbar, siehe https: / / www.seed-stroller.com/ media/ image/ SeedBrandStore80796Munchen.jpg (zuletzt auf‐ gerufen am 30. 08. 2016). Spektakel ist etwa das Schaufenster (2015) im Seed Brand Store München 81 . Han‐ delt es sich bei diesem Schaufenster-Arrangement um eine beliebige Ausnahme oder kann gar von Repräsentativität gesprochen werden? Nina Schleif hält in ihrer Arbeit über Schaufenster fest, dass diese Gegensätze nebeneinander stehen lassen und soziale, geschlechtliche, kommunikative und architektonische Grenzen hinterfragen 82 . Ihr zufolge versammelt das Schaufenster konstitutiv Polaritäten: »Im Zusammenhang des großstädtischen Lebensraumes vereint das Schaufenster die Polaritäten von Transparenz und Reflektion, Geschwindigkeit und Ruhe, Innovati‐ onsbereitschaft und Nostalgie, von permanentem geistigen und materiellen Austausch und Stagnation im Altmodischen.« 83 Wie verhandelt nun das Seed-Schaufenster familienpolitische Polaritäten? Abb. 3 Schaufenster 84 - bestehend aus einer ›technischen‹ und einer ›emotionalen‹ Seite Eine Analyse der Außenperspektive des Schaufensters (Abb. 3) zeigt, dass die linke Seite - bestehend aus einem hochmodernen Kinderwagen respektive Buggy (eine Transformation ist leicht möglich) ein völlig anderes Setting orga‐ nisiert als die rechte Seite - bestehend aus mehreren schmuckhaften Utensilien. 4.2 Vielfalt / Oxymorie 165 <?page no="166"?> 85 Scholz, Susanne und Ecker, Gisela: Einleitung: Umordnungen der Dinge, in: Scholz, Susanne und Ecker, Gisela (Hrsg.): Umordnungen der Dinge, Königstein im Taunus 2000, S. 9-17, hier: S. 10. 86 Kirkham, Pat und Attfield, Judy: Introduction, in: Kirkham, Pat (Hrsg.): The gendered object, Manchester und New York, 1996, S. 1-11, hier: S. 1. Darin werden auch Überle‐ gungen zu binären Oppositionen unternommen: »In our society today, the main visual oppositions which cluster around that of male / female include light / dark, pink / blue and large / small, although others such as geometric / organic, smooth / rough and hard / soft also apply.«, ibid., S. 4. 87 In einem Interview erwähnt Anders Berggreen, der »Vater des Seed« (so heißt es auf der Homepage), Mobilität und Flexibilität als Antriebsmomente für die Kreation des Kinderwagens, http: / / www.seed.dk/ de/ unsere-story (zuletzt aufgerufen am 23.04 2015). Während die linke Seite funktional, rational und reduziert erscheint, zeichnet sich die rechte Seite durch Schmuck, Zierde und Niedlichkeit aus. Es lassen sich mehrere Ebenen qualitativer und quantitativer Differenz ausmachen. Die linke Seite lässt sich mit dem jüngsten Zeitalter technologischer Errungenschaften in Verbindung bringen. Zumindest auf den ersten Blick scheint der Kinderwagen zu schweben, er ragt (phallisch) in die Luft. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die Sales Directorin diese Seite mit Väterlichkeit in Zusammenhang gebracht hat. Der zunächst gewissermaßen seltsam anmutende ›phallische Kinderwagen‹ wird umso plausibler, als im Umgang mit Dingen die Geschlechterordnung ver‐ handelt wird 85 . Wir nehmen die geschlechtliche Markierung jedoch nur selten wahr: »Relationships between objects and gender are formed and take place in ways that are so accepted as ›normal‹ as to become ›invisible‹. Thus we sometimes fail to ap‐ preciate the effects that particular notions of femininity and masculinity have on the conception, design, advertising, purchase, giving and uses of objects, as well as on their critical and popular reception.« 86 Dagegen scheint die rechte Seite ohne Technologie auszukommen und eher Zeitlosigkeit oder Tradition zu kommunizieren. Bestickte Decken haben eher ästhetisch-emotionalen als praktischen Wert. Sie evozieren verstärkt (individu‐ elles) Handwerk (auch wenn sie maschinell erzeugt sind). Der Kinderwagen verweist gerade auf Mobilität, auf Ortswechsel, symbolisiert ein wie auch immer geartetes Außen, Bewegung und vielleicht Reisetätigkeit 87 . Die andere Seite im‐ pliziert Häuslichkeit, Innenleben, Heimat, Geborgenheit. Hoch stereotypisch (! ) könnte intrafamiliär differiert werden in eine technisch-rationale väterliche Seite und in eine warme, klangvolle, emotionale mütterliche Seite. In einem weiten und interpretativen Sinn könnten auch interfamiliär unterschiedliche Elternkonzepte formuliert sein, auch deshalb, weil die linke Seite offen, seman‐ 4. Das Brodeln der Elemente 166 <?page no="167"?> 88 Babywelt. Die Messe rund um ihr Kind - MOC Veranstaltungscenter 2015. 89 https: / / www.google.de/ webhp? sourceid=chrome-instant&ion=1&espv=2&ie=UTF-8#q=babywelt%20m %C3%BCnchen (zuletzt aufgerufen am 12. 10. 2015). 90 Um nur eine kleine Auswahl zu nennen: Familienhotels, Babyartikel, Krankenkassen, Nahrungsmittel, Spielzeug. 91 Siehe hierzu: https: / / www.youtube.com/ watch? v=nUwCfCYrm0I (zuletzt aufgerufen am 12. 10. 2015). tisch unbeschrieben erscheint, wohingegen die rechte Seite viel stärker ge‐ schlossen anmutet, bereits beschrieben, ein Konzept zitierend. Das konstellative Setting zeigt einerseits in der räumlichen Separation die Trennung zweier Sphären, inszeniert aber auch fulminant im physischen Hindurchgehen, im Pas‐ sieren des Zwischenbereichs deren gegenwärtige Überblendung als Potenzia‐ lität. Neben der Analyse eines Schaufensters kann auch eine Messe-Topografie in der Argumentation berücksichtigt werden. Die Babywelt-Messe 88 (Babywelt. Die Messe rund um ihr Kind) im Jahr 2015 wird mit geradezu bunter Vielfalt be‐ worben: »Das Einkaufserlebnis für Schwangere und junge Eltern: namhafte Aussteller, Exper‐ tentipps und bunte Unterhaltung für Klein und Groß.« 89 Als ich am 09. 10. 2015 in München die Babywelt-Messe ( MOC Veranstaltungs‐ center) besucht habe, erschien mir tatsächlich »bunte Unterhaltung« als augen‐ fällig, als ostentativ und herausgehoben. Erkenntnispraktische Relevanz kommt der Messe aufgrund der topografischen Nähe unterschiedlicher Konzeptionen rund um Familialität zu. Ich grenze nun das vielfältige und facettenreiche Feld 90 der Messe auf Geburt ein. Besucher_innen geraten etwa zu einem Stand einer Klinik mit schwerpunktmäßig technischer Ausrichtung. Ein Video der Klinik im Internet (das ich im Nachhinein rezipiert habe 91 ) stellt die Technisierung und die Übergabe geburtsrelevanter Aufgaben an professionelle Ärzt_innen geradezu aus (Chirurgenschere; Mundschutz und Doktorhaube, die menschliche Mach‐ barkeit suggerieren; Technisches Inventarium, hier EKG ; EKG -Linie). Innerhalb der Messe-Topografie befindet sich unweit vom Stand der Klinik - und genau diese Nähe ist der entscheidende Punkt - ein Stand für HypnoBir‐ thing. Auf der entsprechenden Homepage ist zu lesen: 4.2 Vielfalt / Oxymorie 167 <?page no="168"?> 92 http: / / www.hypnobirthing.de/ index.php? topnavi=hypnobirthing (zuletzt aufgerufen am 12. 10. 2015). 93 http: / / www.tragenetzwerk.de/ index.php/ verein (zuletzt aufgerufen am 12. 10. 2015). Zur Vermischung von Risiken und Optimierungen am Beispiel des Tragens siehe Kneuper: Mutterwerden, S. 192-193. »HypnoBirthing ist die sanfte Geburt unter einer Form der Selbsthypnose. Hypno‐ Birthing ist eine natürliche Methode, Geburtsschmerzen ganz oder teilweise zu ver‐ meiden und die Geburt entspannt, und bewusst zu erleben und zu genießen.« 92 Das Geburtskonzept HypnoBirthing beruht also darauf, autosuggestive Kom‐ petenzen zu trainieren, um im Modus der Natürlichkeit Schmerzen zu vermin‐ dern oder gar zu vermeiden. Letztlich kann dadurch - so der Text - die Geburt als solche wahrgenommen und empfunden werden. Eine Betrachtung des Flyers lässt erkennen, dass sich HypnoBirthing gerade durch Abwesenheit von Technik auszeichnet. HypnoBirthing profiliert sich ge‐ rade in Abgrenzung zur Technik. Die Abbildungen auf dem Flyer suggerieren reine und natürliche Familialität. Letztere ist scheinbar Familialität aus sich selbst heraus. Es zeigt sich also, dass Aushandlungen rund um Familialität tatsächlich »bunt« »unter einem Messedach« versammelt sind, obwohl sie sich in strikter Abgrenzung konstituieren, inszenieren, definieren und vor allem rheto‐ risch-kommunikativ performieren. Die Babywelt-Messe ist somit ein Kon‐ zentrat der bunten konzeptionellen Vielfalt von Familialität. Die entscheidende Beobachtung des Besuchs auf der Babywelt-Messe lässt sich dahingehend resümieren, dass alle dort feilgebotenen Konzeptionen als eindeutige und wählbare Identitäten »verkauft« werden. Es geht gerade nicht darum, einfach eine bestimmte Konzeption zu leben, sondern es geht darum, diese Entscheidung als solche argumentativ und identitär, verbürgt, überzeugt und ausschließlich, vor allem kommunikativ-rhetorisch, eindeutig abgegrenzt, zu performieren. Besonders freundlich hat mich beispielsweise eine Frau angesprochen, die im Auftrag vom Tragenetzwerk auf der Messe war: »Tragenetzwerk e. V. ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Trageberaterinnen und Trageberatern mit dem Ziel, das Tragen von Babys und Kleinkindern [am Körper, M. P.] bekannter und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Verein wurde im Oktober 2010 in Limburg gegründet.« 93 4. Das Brodeln der Elemente 168 <?page no="169"?> 94 Butler: Macht der Geschlechternormen, S. 290. Es wird offensichtlich eine den Unterschied machende Subjektposition tragen‐ der, umarmender Menschen generiert. Mit Butler lautet nun (erneut) die ent‐ scheidende Frage: »Welche Art von Garantie vermittelt die Fixierung von Grundlagen und welche Art von Schrecken verhindert sie? « 94 Welche Garantien profilieren sich, indem man sich als tragende Person rheto‐ risch absichert? Zum einen suggeriert die klare Positionierung Eindeutigkeit - das wirkt wie ›Balsam auf die überforderte Seele‹. Zum anderen scheint das Tragen weitreichende Möglichkeiten zu eröffnen (Abb. 4). Abb. 4 Flyer des Tragenetzwerks Ein Blick auf den Text des Flyers ist aufschlussreich: »Der Alltag mit einem Baby ist eine einzige Umarmung und dennoch warten immer noch zusätzliche Aufgaben auf Mama und Papa. Trag’ dein Baby doch einfach und … Geh auf Tuchfühlung mit den Wollmäusen. 4.2 Vielfalt / Oxymorie 169 <?page no="170"?> 95 Schmidt, Siegfried J.: Systemflirts. Ausflüge in die Medienkulturgesellschaft, Weilers‐ wist 2008, S. 45. 96 Das Zitat stammt aus der ersten Staffel. Es handelt sich dabei um die neunte Folge Der Cooper-Hofstadter-Antagonismus (The Cooper-Hofstadter Polarization). Der Witz wird ohne Verzögerungslaute wiedergegeben. Füttere die großen Raubtiere. Versetze Berge (z. B. aus Wäsche). Sammle Nahrung für die nächsten Tage. Eile zum Einsatz als Puppendoktor. Sei ein lebendes Trostpflaster.« Axiomatisch wird der Alltag mit einem Baby als »Umarmung« dargestellt. Auf der Grundlage dieses Axioms erscheinen dann alle anderen Aufgaben als Stör‐ faktor (»dennoch«) und Widerpart. Die Zusatzaufgaben werden durch das Tragen von einem Konzessiv-Verhältnis (»dennoch«) zu einem Koordi‐ nativ-Verhältnis (»und«) verschoben. Neben der Absicherung einer eindeutigen Subjektposition (»tragende Menschen«) vermittelt die Positionierung demnach auch die Integration unterschiedlicher Aufgaben, und gewährleistet aufgaben‐ orientiertes Leben in Umarmung. Die metonymisch-metaphorische Darstellung (Raubtierfütterung; Puppendoktorat) zusätzlicher Aufgaben (was ist eigentlich mit Erwerbsarbeit? ) prozessiert, exklusiviert und verengt im Modus der tra‐ genden Subjektposition wohl den Terminus Alltag auf bestimmte elterliche Aufgaben. Insgesamt erweist sich in dieser Lesart die Forcierung der Tragehilfe auch als Disziplinierung und Unterwerfung unter bestimmte Normen. Betrachtet man nun das Schaufenster, die Babywelt-Messe und Links’ Doku‐ mentarfilm als Medien, dann kann formuliert werden, dass die in der Forschung deskriptiv erörterte Hybridität (Spielarten hierzu sind beispielsweise die spezi‐ fische Kontextualität und Situativität von Begründungszusammenhängen rund um Familialität) ausgestellt ist, denn »Medien sind Beobachtungsinstrumente par excellence« 95 . Neben der Darbietung von Hybridität werden medial (in Anlehnung an La‐ tour) auch bereinigte Reduktionen arrangiert und persifliert: Leonard Hof‐ stadter erzählt in The Big Bang Theory einen Witz, der neutralisierte Bedin‐ gungen desavouiert: »Da ist ein Farmer und der hat viele Hühner, aber die legen nicht ein einziges Ei. Also holt er sich einen Physiker zu Hilfe. Der Physiker stellt sofort einige Berechnungen an und sagt dann: ›Ich habe eine Lösung, aber sie funktioniert nur bei kugelförmigen Hühnern in einem Vakuum‹« (B 00: 13: 14). 96 4. Das Brodeln der Elemente 170 <?page no="171"?> 97 Schmidt: Systemflirts, S. 123. 98 Landwehr: Historische Diskursanalyse, S. 70. Siehe hierzu auch Wülfingen: Genetisie‐ rung der Zeugung, S. 29. 99 Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 190. 100 Ibid., S. 139. Die eine Lösung ist also an bereinigte Bedingungen gebunden. Es ist nun we‐ niger die Pointe des Witzes ausschlaggebend (diese ist eingedenk zahlreicher wissenschaftlicher Stimmen hierzu nicht neu), als vielmehr die mediale Aus‐ stellung der Pointe. Neu ist sie gegenüber wissenschaftlichen Stimmen insofern, als sie bereinigte Bedingungen so verbildlicht, dass deren Absurdität (Wirklich‐ keitsferne) greifbar wird. Wenn ostentative Manifestationen sowohl der Reduktion respektive Reini‐ gungsarbeit als auch der Vielheit als solche in unserer Medienkultur herausge‐ hoben ausgestellt sind, dann ist von mehr als lediglich einer deskriptiven Re‐ kurrenz auf Reinigungsarbeit und / oder Verflechtung auszugehen. Inhärent ist dem deskriptiven Gestus des Verweisens auf Vermischung auch eine Differenz‐ setzung nach folgendem Muster: ›Eigentlich‹ sind wir kulturell eingebettet, aber viele sehen es nicht. Betont werden soll weniger ein eigentlich vermischtes (und / oder bereinigtes) Sein, als vielmehr das mediale Ausstellen eines vermischten (und / oder berei‐ nigten) Seins in unserer Medienkultur. Auszugehen ist von einem (sensu Schmidt) selbstreferentiellen Netzwerk von Beziehungen zwischen öffentlicher Meinung und Medien 97 . Hybridität, Mehrdeutigkeit und Vielfalt sind nicht ›ei‐ gentlich‹ da, sondern medienkulturell herausgehoben, und zwar ostentativ. Die Suche nach eigentlichen Strukturen wäre auch nicht mit einer Diskursanalyse vereinbar: »Foucault will - in einer deutlich anti-hermeneutischen Wendung - nicht wissen, was mit dem Geäußerten ›eigentlich‹ gemeint war« 98 . Pointiert formuliert lautet die These: Medienkulturelle Angebote stellen Di‐ versität und / oder Reinigungsarbeit im Zeitalter familientechnologischer Be‐ dingungen als solche aus. Familientechnologische Zwischenräume sind als solche arrangiert. Keiner würde ja schließlich behaupten, ein Schaufenster exis‐ tiert nun mal - einfach so. Die familienpolitischen Manifestationen von Diver‐ sität und Verengung existieren »im Zwischen von Produktion und Rezeption« 99 . Zierold geht, wie bereits in Kapitel 2 erläutert, von einer Doppelrolle der Medien aus, wonach Medien Resultate von Erinnerungsprozessen sind und Vorausset‐ zungszusammenhänge zum Ausdruck bringen 100 . In Anlehnung an Zierold kann daher behauptet werden: Das Schaufenster formuliert die familialen Vorausset‐ zungszusammenhänge, also Diversität, Verflechtung und Trennung. Gleich‐ zeitig ist das Schaufenster die Wirkung von gesellschaftlichen Prozessen. Hepp 4.2 Vielfalt / Oxymorie 171 <?page no="172"?> 101 Hepp: Medienkultur, S. 52. 102 Ibid., S. 55. 103 Ibid. 104 http: / / www.tagesschau.de/ multimedia/ sendung/ tt-4243.html (zuletzt aufgerufen am 02. 02. 2016). Im Folgenden abgekürzt mit TT. 105 »Unter Genome Editing (manchmal auch: Gene Editing) versteht man eine Reihe von neuen molekularbiologischen Methoden, mit denen gezielt Veränderungen im Genom vorgenommen werden können«, http: / / www.transgen.de/ lexikon/ 1844.genome-editing.html (zuletzt aufgerufen am 12.06. 2016). betrachtet Medien nicht etwa als transparent und neutral, sondern demnach als erkennbar gesellschaftlich: »Es geht darum, Medien nicht als ›transparente‹ oder ›neutrale‹ Instanzen von Kom‐ munikation zu erfassen, sondern als institutionalisierte und verdinglichte ›Objekte‹, die den Kommunikationsprozess beeinflussende Momente haben.« 101 Das Schaufenster als erkennbares Medium ist damit eine Observanz von Ge‐ wicht. Gleichzeitig - so Hepp - geht es nicht darum, »Spezifika zu beschreiben, die ein Medium ›von selbst‹ entfaltet.« 102 Entsprechend sind »Prägkräfte von Medien […] stets im Geflecht mit menschlicher Praxis zu untersuchen« 103 . Jene menschliche Praxis ist nun gerade diskursiv vermittelt. Neben dem Schaufenster, der Messe-Topografie, Links’ Dokumentarfilm und dem Witz aus The Big Bang Theory kann auch eine Sequenz aus den Tages‐ themen 104 (Deutschland 1978-, ARD -aktuell; ARD MEDIATHEK ) vom 01. 02. 2016 zur Genmanipulation an Embryonen in Großbritannien als medien‐ kulturelles Beispiel herangezogen werden, das insbesondere Kontextualität und Situativität illustriert. Anfang Februar 2016 erscheinen mehrere Medienange‐ bote, die »Genome Editing« 105 in Großbritannien thematisieren. Ich konzen‐ triere mich im Folgenden auf die Thematisierung und Konturierung desselben bei den Tagesthemen. Zunächst erfolgt in den Tagesthemen eine knappe Einleitung und Hinführung zum Thema auf einer ersten Ebene (diese könnte als Diegese oder Rahmen be‐ zeichnet werden). Der Nachrichtensprecher informiert einführend und rahmend über das Thema »Genome Editing«, was bildhaft unterlegt wird (im Hinter‐ grund ist das Bild einer Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion zu sehen). Der im Vordergrund stehende Nachrichtensprecher deutet anschaulich und augen‐ fällig eine rahmende Zeigegeste an. Die auch gestische Hinwendung zum Thema ist weitaus mehr als nur ein intuitiver Habitus. Es handelt sich dabei um einen Habitus, der gerade perfor‐ mativ ein Verweisen vollzieht. Performativ und rhetorisch verwiesen wird dem‐ 4. Das Brodeln der Elemente 172 <?page no="173"?> nach vom Nachrichtensprecher - wohlgemerkt medial - auf die jüngsten Vor‐ gänge in Großbritannien: »Ein ganz anderes Thema: Bislang war es ein Tabu, doch das ist in Großbritannien nun gebrochen worden. Einem Forscherteam wurde erlaubt, an menschlichen Embry‐ onen zu forschen und dabei auch das Erbgut gezielt zu verändern. Die Wissenschaftler wollen so mehr herausfinden - zum Beispiel über die Ursachen von Unfruchtbarkeit oder von Fehlgeburten. Aber obwohl dies ein großer medizinischer Fortschritt wäre - vieles, was im Labor mittlerweile möglich ist, bleibt ethisch hoch umstritten. Kritiker fürchten sogar einen Dammbruch und eine Entwicklung, an deren Ende dann das gentechnisch manipulierte Designerbaby steht, das ganz nach den Wünschen der El‐ tern geschaffen werden würde. Claudia Buckenmaier« (TT 00: 19: 21). Der diegetische Rahmen für das »Genome Editing« ist demnach durch ein rhe‐ torisch-thematisches (»Ein ganz anderes Thema« sowie die Vorstellung der Be‐ richterstatterin als eine Art Metadiegese) und ein habituell-gestisches Verweisen installiert. Innerhalb der Berichterstattung wird nun expliziter über das Verfahren und die Methode informiert, wobei die verantwortliche Molekularbiologin zu Wort kommt und eine bildliche Symbolik als vereinfachte Illustration des Verfahrens bedient wird ( TT 00: 21: 19). Die grafische Illustration kann als ein verbildlichtes und vereinfachtes »Über-die-Bühne-Bringen« des komplexeren Sachverhalts beschrieben werden, den Buckenmaier erläutert: »Besonders ist die Methode, die [die Molekularbiologin, M. P.] an dafür gespendeten Eizellen anwenden will, CRISPR-Cas9, eine quasi-chirurgische Bearbeitung von Genen. Manche sagen, das Verfahren funktioniere wie eine Gen-Schere. Präziser als bisher können Forscher Teile der DNA herausschneiden oder einsetzen, wie wenn ein falscher Buchstabe ausgetauscht wird. Die Methode ist bisher nur für die Forschung an Tieren und Pflanzen erlaubt« (TT 00: 20: 56). Ich zeige nun, dass insbesondere Kontextualität und Situativität im Zusammen‐ hang mit der Embryonenforschung herausgehoben sind. Nach der methodolo‐ gischen Erläuterung liegt der Fokus auf einer Frau, die (entgegen der auch in der gesamten Erörterung der Tagesthemen deutlich geäußerten Kritik und Skepsis: »Designerbaby«; »Dammbruch« etc.) die jüngste Erforschung begrüßt: »Diese Mutter hat vier Fehlgeburten erlebt, bevor sie ihre Tochter bekam. Niemand konnte ihr sagen, woran es lag. Sie begrüßt daher die Erlaubnis für das Forschungs‐ projekt« (TT 00: 21: 24). 4.2 Vielfalt / Oxymorie 173 <?page no="174"?> 106 Es handelt sich dabei um eine leicht zeitversetzte Übersetzung, die von Buckenmaier vorgetragen wird. 107 Ebenfalls als Übersetzung wiedergegeben von Buckenmaier. Durch die Verwendung des Demonstrativpronomens (»diese Mutter«) wird ein‐ deutig eine spezifische Frau, eine spezifische Mutter, ihre spezifische Erfahrung und Geschichte betont. Aufgrund der an den Kontext angeschlossenen Begrün‐ dung (»daher«) für die Begrüßung des Verfahrens erscheint ihre Haltung voll‐ ends nachvollziehbar - eben kontextualisiert. Daneben ist ein weiteres wich‐ tiges Teilmoment von Kontextualität und Situativität erkennbar: Die herausragende Bedeutung von Emotionen in Begründungs- und Bewertungs‐ zusammenhängen. Frust und Leid sind zentrale Marker bei Entscheidungsvor‐ gängen: »Für mich war es frustrierend, nicht zu wissen, warum ich immer wieder Fehlgeburten hatte. Wäre diese Forschung früher gekommen und hätte mir Antworten geben können - mir wär vielleicht viel Leid erspart geblieben« 106 (TT 00: 21: 37). Das Tagesthemen-Beispiel ist also ein erneutes medienkulturelles Indiz für die Manifestation eben jener wissenschaftlich proklamierten Elemente wie Kon‐ textualität und Situativität. Es ist mit Blick auf die buchstäbliche Alltäglichkeit der Tagesthemen ein Indiz für die alltägliche Manifestation von Kontextualität und Situativität in unserer Medienkultur. Eingedenk der hohen Anzahl und Disparatheit medialer Aushandlungen von Kontextualität und Situativität kann formuliert werden, dass situative Kontextualität bei Fragen rund um Fortpflan‐ zung medienkulturell zeigbar ist. Eine weitere Expertenstimme, die Grenzsetzungen an »lebhafte Diskus‐ sion« 107 ( TT 00: 22: 19) bindet, hört sich nun wie ein plastischer Metakommentar zum gesamten Kapitel Das Brodeln der Elemente an, denn die Metapher des Bro‐ delns verbildlicht ja gerade die lebhafte Vielfalt, Vermischung und Mehrdeutig‐ keit familienpolitischer Aushandlungen. 4.3 Diversität ist medienkulturell zeigbar Im vorigen Abschnitt habe ich anhand von Analysen einer Messe-Topografie, eines Schaufensters, einer Nachrichtensendung und eines Dokumentarfilms von Josephine Links gezeigt, dass familienpolitische Hybridität nicht nur im Modus des Eigentlichen, sondern medienkulturell als Heraushebung manifest sein kann. In Anlehnung an neuere und neueste Medientheorien konnte postuliert werden, dass sich die vielfältigen Verschleifungen metapraktisch zeigen. Sie sind 4. Das Brodeln der Elemente 174 <?page no="175"?> 108 Fehling, Maya und Gercke, Ina: 12 Wege zum kindlichen Glück - Kalender 2016. Im Folgenden abgekürzt mit WKG. 109 Zur Verstrickung in unterschiedliche Geschichten, zur konstitutiven Verspätung siehe Schmidt: Systemflirts. 110 Zum Erzählen als »elementare[r] Operation bewusst vollzogener Sinngebung durch Ordnungsbildung im kognitiven wie im kommunikativen Bereich des Menschen« (S. 89), siehe ibid., S. 89-99. Im Erzählen wird unstornierbare Medialität zugleich voll‐ zogen und dokumentiert, ibid., S. 89-90. demnach markiert und somit herausgehoben in unserer Medienkultur. Neben familienpolitischen Manifestationen entgrenzender Vermischung war auch die erkenntnisfördernde Ostentation begrenzender und machtförmiger Reduktionis‐ men zu beobachten (beispielsweise die Trennung in eine technische und eine traditionelle Seite beim Schaufenster; der Physiker-Witz aus The Big Bang Theory). Im Folgenden soll ein weiteres Beispiel zur Illustration solcher familienpoli‐ tischer Manifestationen herangezogen werden: ein Kalender, dessen Texte von der Ärztin Maya Fehling und Zeichnungen von der Schauspielerin Ina Gercke stammen 108 . Der Kalender für das Jahr 2016 stellt die (verschiedenen) »12 Wege zum kindlichen Glück« aus (beispielsweise Leihmutterschaft, Adoption, One-Night-Stand, In-vitro-Fertilisation). Dabei werden zwölf Bilder mit zwölf verschiedenen Geschichten untermauert, wobei dadurch - so die These - die je spezifische, kontextbedingte Konkretheit von Familialität konturiert wird. Jede_r ist und hat eine eigene Familiengeschichte 109 ; Medienkulturell manifest sind verschieden-spezifische Raum-Zeit-Kontinua im Umfeld von Familialität. Herausgehoben ist eine wohl jüngere Form von Familialität, bei der »Kinder dank Tinder« ( Januar) geboren werden. Bei Tinder handelt es sich um eine App, mithilfe derer Kontakte zu Menschen hergestellt werden können. Eine Korrelation von Chat / Medium und Sexualität sowie in der Folge Fami‐ lialität ist - dem Kalender zufolge - existent: »Sie verspricht sich einiges davon, es war ein netter Chat, vielleicht sogar direkt ins Bett. Es läuft gut. Einige Bars später gehen sie zu ihm. Sie kennt mittlerweile seinen richtigen Namen. Er ist auch Student, irgendwas mit Geschichte oder Mathematik oder doch Informatik. Eine schöne Nacht. Es bleibt in der Regel bei einer. Diesmal bleibt ihre Regel aus. Kinder dank Tinder« (WKG). Neben der Korrelation von Sexualität und Medialität ist die je spezifisch-kon‐ textuelle, narrativierte 110 Historizität von Familiengründung ausgestellt. Die Herausgehobenheit (beispielsweise der Korrelation von Medialität und Sexua‐ lität) zeigt sich in der plastisch-materiellen Überbetonung des Smartphones. Die Größenverhältnisse, wie sie auf dem Bild konturiert werden, markieren gerade 4.3 Diversität ist medienkulturell zeigbar 175 <?page no="176"?> 111 Zum üblen Nachgeschmack und zur Gefahr der Affirmation rassistischer Klischees trotz des Inszenierungscharakters und der Übertreibung siehe Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 233. die konstitutive Rolle des Mediums. Das Medium ist die Grundlegung von Vor‐ gängen, die sich erst vor respektive auf dem Hintergrund eines Mediums ab‐ spielen können. Neben Single Parenting (Februar) wird auch Leihmutterschaft (März) ausge‐ stellt. Es fällt auf, dass die Leihmutter als ethnisch ›Andere‹ markiert ist. Die ins Bild integrierten Phrasen lauten: »special offer special offer« und »buy one get one free« ( WKG ). Ich gehe davon aus, dass die Problematisierung von Leih‐ mutterschaft in diesem Kalender medial eingeholt wird. Ich zeige an diesem Beispiel jedoch das prekäre Verhältnis zwischen der Reproduktion einschrän‐ kender, verletzender und stereotyper Diskursphänomene (Reinigungsarbeit) und medialen Operationen der Dekonstruktion von Reinigungsarbeit und damit der Hervorhebung von hybriden Verschleifungen. Verhandelt ist nämlich äußerst problematisch, und zwar plakativ und stereo‐ typ, mindestens kolonialistisch über die unterschiedliche Ethnizität, Größe und Positionalität der Leihmutter (links oben) und der Mutter (rechts unten), die unterschiedliche Ausgangssituation der beteiligten Personen. Der Eindruck ko‐ lonialistischer Ausgrenzung wird ferner in höchstem Maße dadurch verstärkt, dass davon die Rede ist, dass »weiße […] Zellbündel […] in den schwarzen Uterus [Hervorhebung M. P.] eingesetzt [wurden]« ( WKG ). 111 Während das krude di‐ chotome und heteronome Schema in seiner schwarz-weiß-Ausführung äußerst einschränkend, stereotypisierend, verletzend und ausgrenzend ist, wird den‐ noch auch die eigentümliche und schwierige Position der Leihmutter problema‐ tisiert. Unmittelbar evident ist, dass jene in Deutschland verbotene Form der Familiengründung über einen Flug ins Ausland und den Kauf einer »Gebär‐ mutterleihenden« ( WKG ) unterschiedliche finanzielle Möglichkeiten der betei‐ ligten Personen voraussetzt. Was sich hier hochgradig problematisch als Di‐ chotomie zwischen weißen Auftraggeber_innen und schwarzen Leihmüttern darbietet, existiert überwiegend aufgrund dichotomer ökonomischer Positi‐ onen, die wohl in den Diskursen um die illegale Praxis der Inanspruchnahme von Leihmüttern verdrängt werden. So ist etwa ein Auge der Auftraggeberin im Bild geschlossen, was auf die Gewohnheit hindeuten kann, die Augen zu ver‐ schließen. Die Ökonomisierung der Fortpflanzung mit ökonomisch unter‐ schiedlich potenten Protagonist_innen wird auch im beigefügten Text deutlich, wo die Frage des Arztes nach der Anzahl der einzupflanzenden Embryonen eindeutig innerhalb eines ökonomischen Nutzenkalküls situiert ist: »Buy one, get one free! « ( WKG ). Die herausstechende Leihmutter kann erst ›auf Augen‐ 4. Das Brodeln der Elemente 176 <?page no="177"?> 112 Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 75. 113 Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. 114 Ibid., S. 51, siehe hierzu das gesamte Kapitel 2 ihrer Arbeit. 115 Ibid., S. 21. 116 Ibid., S. 60. 117 Ibid., S. 100. 118 Ibid., S. 127. 119 Schaffer expliziert die Taktiken anhand fotografischer Arbeiten von Catherine Opie und Del LaGrace Volcano, ibid., S. 128-135. höhe‹ betrachtet werden, wenn der Kalender haptisch-performativ gedreht wird. Die Anwesenheit von zwei Frauen innerhalb des Bildes verdeutlicht aber auch die tatsächliche Positionalität der Leihmutter. In anderen Worten: Es gibt die Position der Leihmutter in unserer Medienkultur. Diese Position verdreht, ver‐ rückt, ändert den scheinbar klaren Umgang mit Mütterlichkeit. Eingeholt wird somit die Frage nach der Mutter, denn § 1591 BGB (»Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat« ( WKG )) gerät zumindest in der Praxis ins Wanken. Die Frage lautet nun: Kann angesichts der verletzenden Rhetorik, der un‐ übersehbaren machtförmigen Reinigungsarbeit und der Ausgrenzungstopik wirklich formuliert werden, dass familienpolitische Diversität hier manifest ist? Reproduziert oder dekonstruiert der Kalender? Meine Antwort lautet: Nur mit‐ hilfe eines Medienbegriffs, der davon ausgeht, dass Medien »nicht rein unauf‐ fällig (störungsfrei)« 112 sind, kann zunächst einmal davon ausgegangen werden, dass der Kalender gesellschaftliche Stereotype, Verletzungen, Ausgrenzungen und Hierarchiegefälle ausstellt. Letztlich kann so gesagt werden, dass verlet‐ zende Reinigungsarbeit und auch hybride Verschleifungen sich zeigen. Die Frage nach den reproduktiven oder dekonstruktiven Gesten habe ich damit noch nicht beantwortet. Schaffer hat eindringlich die »Ambivalenzen der Sichtbarkeit« 113 herausgearbeitet und deutlich gemacht, dass mehr Sichtbarkeit nicht gleichzu‐ setzen ist mit mehr politischer Macht, Durchsetzungsvermögen und Privile‐ gien 114 . Mit Schaffer kann davon ausgegangen werden, dass die Inszenierung der Leihmutter eine »Anerkennung im Konditional« 115 ist. Die Konditionalität bedeutet, dass »nur dann, wenn die Bestätigung des Souveränitätsgefühls ma‐ joritärer Subjektpositionen nicht zur Disposition steht, […] Anerkennung ver‐ liehen [wird].« 116 (Überdeutlich) arrangiert ist eine »Wahrnehmung visueller Differenz« 117 . Schaffer nennt jedoch gerade hypostasierende Überdeutlichkeit und Überdehnung 118 als Mittel verändernder Umcodierung herrschender Lo‐ giken. Dabei nehmen die Taktiken »Besetzen« und »Auffalten« 119 eine wichtige, zu begrüßende Rolle ein. Ich wende Schaffers Einsichten nun auf den Kalender an. Der Raum, der für gewöhnlich Leihmütter unsichtbar macht, ist im Kalender und daher medienkulturell mit der Leihmutter besetzt. In jener Inszenierung ist 4.3 Diversität ist medienkulturell zeigbar 177 <?page no="178"?> 120 Zur Reflexion von Verwickeltheit in kulturelle Weiblichkeitsmuster und in Medialität am Beispiel Entwicklung mit Julia von Ulrike Rosenbach siehe die Ausführungen von Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 81-83. Gleichzeitig soll hier betont werden, dass jene situative Verwicklung in Muster und Medialität auch von alltäglichen und unor‐ thodoxen Medien durchgespielt wird und daher ohne Beschränkung auf bestimmte institutionell herausgehobene Medien medienkulturell zeigbar ist. Zur Betonung von Medialität und Inszeniertheit und damit zur Sichtbarmachung der Konstruktion von Mutterschaft und Mutterliebe in Rosenbachs Mutterliebe siehe ibid., S. 84-85. Zur Ver‐ wobenheit in kulturelle Referenzsysteme in einer künstlerischen Bearbeitung siehe ibid., S. 304. Im Gegensatz dazu geht es in der vorliegenden Arbeit darum, dass jene kulturelle Verwobenheit auch in einem so ›läppischen‹ Medium wie dem Kalender aus‐ gestellt wird. auch mütterliche Vielheit, besser Uneindeutigkeit aufgefaltet. Eingedenk der Ambivalenzen werde ich mich hinsichtlich des reproduzierenden oder dekon‐ struierenden Status des Kalenders nicht entscheiden. Vielmehr besteht der hier erarbeitete Erkenntnisgewinn darin, dass offensichtlich Eingrenzungen und Entgrenzungen medienkulturell zeigbar sind. Im Kalender sind ferner Kontextbedingtheit und Medialität ausgestellt, und zwar, wenn Adoption (April) konturiert wird. Im narrativen Modus der Mittel‐ barkeit wird von einem Mann berichtet, der sich nach einer Sendung über Adoption diese zunächst nicht vorstellen könnte: »Für mich kommt das nicht in Frage, hatte Er gesagt, als sie irgendwann eine Sendung über Adoption sahen. So viel Verzicht und Anstrengung würde Er nur für ein eigenes Kind auf sich nehmen« (WKG). Ausgangspunkt ist also eine Ablehnung von Adoption via Differenzierung, Grenzsetzung zu einem leiblichen Kind. Nach einer Situationsveränderung - jahrelange Fehlversuche, ein Kind zu zeugen, sowie eine Erzählung über zwei adoptierte Kinder - und nach einer intensiven medialen Auseinandersetzung (»Zwei Tage später waren mehrere Bücher über Adoption im Briefkasten und Er erzählte ihr, was Er bereits über Adoption herausgefunden hatte und wie man vorgehen musste« ( WKG )) beginnen die Vorbereitungen auf die Adoption: »Sie lasen alles, um perfekte Eltern zu werden« ( WKG ). Neben der Illustration von Situativität 120 als Spielart von Diversität liegt abermals auch eine reduktive Ein‐ schränkung vor, und zwar indem hier das Personalpronomen »Er« im Gegensatz zu den weiblichen Pronomina regelwidrig groß geschrieben wird. Fokussiert wird damit auf die Festschreibung und Überhöhung einer eindeutig männlichen Identität, die dadurch reproduziert oder dekonstruiert wird. 4. Das Brodeln der Elemente 178 <?page no="179"?> 121 Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 139. Zusammenfassung Die zentrale Frage lautete: Wie arrangieren disparate Medien in unserer Medien‐ kultur die wissenschaftlich bereits intensiv thematisierte Mehrdeutigkeit und Wi‐ dersprüchlichkeit bei aktuellen Fragen rund um Familie? Auf der Grundlage von Erzählungen von (werdenden) Eltern und Experten im Dokumentarfilm Am Anfang - Vor der Geburt und ergänzend hierzu im Rückbezug auf Artikelüberschriften, Sachtexte und den Roman Angst wurde familienpolitische Unbehaglichkeit näher bestimmt. Allgemein lässt sich fest‐ halten, dass familiale Malaise ein Potenzialitätsphänomen ist: Diverse familien‐ politische Potenzialitäten gären, und zwar ohne intersubjektive Einfriedung. Theoretisch kann mit Bruno Latour davon ausgegangen werden, dass die mo‐ derne Reinigungsarbeit aufgrund der Expansion der Hybride nicht mehr funk‐ tioniert. Ein prekärer Beleg für die ›Krise‹ der Reinigungsarbeit ist die gleich‐ zeitige Kommunikation von Unvereinbarem. Das Diskursphänomen Familienpolitische Mehrdeutigkeit bis hin zur Oxymorie macht sich verschiedent‐ lich bemerkbar. Manifest ist bestenfalls tolerante Vielfalt und schlechtestenfalls gewaltförmige Oxymorie (wenn etwa ein Pränataldiagnostiker als Mörder be‐ zeichnet wird). Das Hauptanliegen war zu illustrieren und anhand disparater Medien (Dokumentarfilm, Schaufenster, Nachrichtensendung, Messe-Topo‐ grafie, Kalender) zu veranschaulichen, dass Spielarten von Diversität / Vielfalt (etwa Kontextualität und Situativität) sowie Reduktionismen medienkulturell zeigbar sind. Der Mehrwert besteht darin, dass mithilfe eines erkenntnisleitenden Medi‐ enbegriffs und auf Basis einer mediensyntagmatischen Haltung herausgear‐ beitet worden ist, dass jene vielfältigen bis paradoxen Strukturen (auf die in der Forschung mehrfach verwiesen wird) sich in unserer Medienkultur ostentativ zeigen. Vielfalt und Eingrenzung sind familienpolitische Voraussetzungszusam‐ menhänge 121 , die medial formuliert werden (können). Diversität und Redukti‐ onismen sind in unserer Medienkultur Parameter, die zeigbar sind. So zeigt (im emphatischen Sinne) der Dokumentarfilm Am Anfang - Vor der Geburt das Bro‐ deln familientechnologischer Elemente. Fehlende Finalität und Normativität wird in der Dokumentation dadurch evoziert, dass keine Erzählstimme die Ge‐ schehnisse klassifiziert, die Simultanität von Natur- und Technik-Assoziationen unentschieden beibehalten wird und Ambivalenz nicht glättend aufgelöst wird. Eingedenk eines Medienbegriffs, der davon ausgeht, dass Medien »nicht rein Zusammenfassung 179 <?page no="180"?> 122 Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 75. unauffällig (störungsfrei)« 122 sind, sondern als ereigniskonstituierte Schauplätze wirken, kann demnach also gesagt werden, dass sich Vielfalt und Ambivalenz medial manifestieren. Medien, und zwar nicht nur diejenigen, die gemeinhin als avanciert gelten (! ), führen die Vermischung und Entmischung performativ vor. Das Setting des Schaufensters (Seed Brand Store in München) arrangiert ei‐ nerseits die Trennung in eine technologische und eine natürliche Familienkon‐ zeption mit all ihren Konnotationen (beispielsweise Mobilität versus traditio‐ nelle Häuslichkeit). Im Passieren des Durchgangs erscheint aber auch eine mögliche Vermischung der Sphären herausgehoben und damit zeigbar. Erinnert man sich an das Tagesthemen-Beispiel, indem Genome Editing buchstäblich me‐ dial gerahmt worden ist, also emphatische Zeigegesten in den medialen Ver‐ weisungszusammenhang integriert waren, dann wird ersichtlich, dass Kontex‐ tualität, Situativität, Emotionalität und Interpretativität metapraktisch, also innerhalb eines verdeutlichenden autoreflexiven Zusammenhangs vorhanden und damit medienkulturell zeigbar sind. Die eingangs gestellte Frage kann prägnant beantwortet werden: Neben fa‐ milienpolitischen Manifestationen entgrenzender Vermischung sind auch Reduk‐ tionismen medial arrangiert. 4. Das Brodeln der Elemente 180 <?page no="181"?> 1 Zur Haltung des Wunderns als Schritt in der Diskursanalyse siehe Landwehr: Histori‐ sche Diskursanalyse, S. 101. 2 Die Sendung wurde am 17. 05. 2015 in der ARD um 20: 15 Uhr ausgestrahlt. Bei den Zeitangaben wurde die Titelmusik mitberücksichtigt. Es handelt sich dabei um die Tatort-Folge 947. Im Folgenden abgekürzt mit K. 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur Im vorliegenden Kapitel wundere 1 ich mich darüber, dass und wie persistent das Funktionieren von Familialität in unserer Medienkultur unterlaufen wird. Was sich anhand der jeweiligen Medienangebote illustrieren lässt, sind Konflikt‐ felder in ihren je spezifischen Kontexten. In den folgenden Abschnitten frage ich danach, wie die Geburt des Nachwuchses, wie Familienbildung und Familien‐ zusammensetzung inszeniert werden und welche familialen Konflikte und Kon‐ fliktpotenziale sichtbar werden. Die nachfolgenden Unterkapitel bringen zum Vorschein, dass fehlende familiale Positionalität und auf Reproduktion verengte weibliche Intelligibilität der Gegenwart als katastrophal aushandelbar sind. 5.1 Monstrosität: Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität Die Tatort-Episode Kälter als der Tod 2 (Deutschland 2015, Regie: Florian Schwarz, Hessischer Rundfunk; TV ( ARD )) entfaltet in mehrfacher Hinsicht ein Familiendrama, genauer: Familiendramen. Gestörte Familialität in verschie‐ denen Facetten ist das Thema eines Tatorts, der auch seine eigene Fiktionalität thematisiert. Dabei interessiere ich mich weniger für die kriminalistische (Er‐ mittlungs)Arbeit des neuen Teams Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) aus Frankfurt denn für die dargestellte Monstrosität von Familialität. Familiale Monstrosität beinhaltet - ausgehend vom analysierten Tatort - Ausgrenzung und Entgrenzung, Gewalt, Idealität, Naturalisierung, Macht, Verschleierung und Maskerade, Verleumdung, Perfektion und Bürger‐ lichkeit. <?page no="182"?> 3 Zum Tatort Kälter als der Tod als Theaterstück siehe auch Gasteiger, Carolin: Nachlese zum Frankfurter »Tatort«. Erst mal einen Schluck Kaffee, in: http: / / www.sueddeutsche.de/ medien/ nachlese-zum-frankfurter-tatort-erst-mal-einen-schluck-kaffee-1.2476489 (zuletzt auf‐ gerufen am 10. 08. 2015). Vordergründig inszeniert der Tatort, wie ich zeigen werde, diese Monstrosität als eine chiastisch-antithetische Familienkonstellation, die in ihrer Tragik und Drastik verdeutlicht, dass familiale Positionen synchron eben nicht eindeutig bestimmbar sind. Daneben zeigt sich, dass fehlende familiale Positionalität ka‐ tastrophal ist. Da es, wie bereits erwähnt, nicht vorwiegend um kriminalistische Pointen geht, fasse ich die Handlung und deren sukzessive zu erschließende Logik zusammen: Die beiden Schwestern Silke Kern (Carina Wiese) und Lydia Sanders (Olga Lisitsyna) wurden von ihrem Großvater Franz Rudolph mehrfach vergewaltigt, wobei Lydia mit 15 Jahren schwanger wurde und ihre Tochter (Miranda) 1989 bei einer Einrichtung ohne Angabe ihrer Personalien abgab res‐ pektive zur Adoption freigab. Während Silke und ihr Ehemann Martin Kern (Roman Knizka) (ungewollt) kinderlos blieben, bekommen Lydia und Peter Sanders (Marc Oliver Schulze) einen Sohn, Tobias (Valentin Wilczek), und eine Tochter, Jule (Charleen Deetz). Die Adoption stellt in der Tatort-Episode keine viable Alternative zu leiblicher Elternschaft dar, denn das Adoptivkind Miranda (Emily Cox) wird weder akzeptiert noch geliebt. Miranda (25 Jahre) findet ihre leibliche Mutter und fängt ohne, dass ihre Herkunft bekannt würde - ein häu‐ figes Strukturelement in Dramen 3 - als Nachhilfelehrerin und Babysitterin bei den Sanders an. Die Situation eskaliert - aufgrund der Monstrosität von Fami‐ lialität - vollends, und Miranda tötet ihre leibliche Mutter, deren Ehemann und den gemeinsamen Sohn. Jule ist letztlich die einzige Überlebende. Miranda wird schließlich von Kommissar Brix erschossen, da sie den gemeinsamen Fami‐ lien-Tod mit Jule plant. Zuvor hatte sie Martin Kern, der seinen Frau Silke getötet hat, erschossen. Um eine erkenntnisleitende Analyse von Kälter als der Tod ausarbeiten zu können, werden im Anschluss folgende Fragen beantwortet: Woraus speist sich die Monstrosität von Familie in der Tatort-Episode? Wie wird Familie insze‐ niert? Welche Familien werden dargestellt? Wie funktioniert Familie nicht? Wie werden Familiendramen filmisch und perspektivisch dargestellt und motiviert? Welche Problemfelder werden skizziert? Was ist Miranda für eine Figur? Zu Beginn des Films werden die Rezipient_innen mit einer zum Teil rötlich unterlagerten Unschärfe konfrontiert, die sich sukzessive verringert. Die Un‐ schärfe korreliert mit einer Kamerafahrt nach unten, die das Thema Macht / Ohnmacht anzitiert. Erkennbar ist eine Wand mit Bildern, die wohl auf‐ 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 182 <?page no="183"?> grund unserer (Medien)Sozialisation als Familienbilder gedeutet werden können, wodurch Macht / Ohnmacht und Familialität gekoppelt werden. Ein gerahmtes Anwesen in einer Landschaft mit eingefügter Traueranzeige für einen Mann gerät am deutlichsten ins Visier. Die anderen Bilder - darunter beispielsweise das Gesicht einer Frau - können nicht eindeutig bestimmten Protagonist_innen zugeordnet werden, weshalb nur rückwirkend (aufgrund der Topografie: die Wand im Haus der Familie Sanders) darauf geschlossen werden kann, dass genau diese Frau auf den Bildern zu sehen ist. Innerhalb der Diegese sind demnach mehrere Rahmungen integriert. Die folgenden Eindrücke wie beispielsweise eine blutbespritze Hand deuten allesamt auf ein Verbrechen hin. Thematisch wird durch die intermediale Ein‐ gangssequenz, Detailaufnahmen von Eheringen, die das ganze Filmbild einneh‐ mende Traueranzeige sowie durch die wiederholte Fokussierung auf die Wand mit den Familienbildern, die letztlich durch die Erweiterung des Raumes qua Kamerarückfahrt erneut in den Wahrnehmungshorizont geraten, ein noch vages Problemfeld im Kontext von Familialität angedeutet. Dass es sich um eine Fa‐ milientragödie handelt, wird auch durch einen sichtbaren Kinderschuh, der aus einem Schrank ragt, erkennbar. Insgesamt werden in der Tatort-Episode folgende Themen im Umfeld von Fa‐ milialität anzitiert: (sexuelle) Gewalt und Mord innerhalb der Familie, Erb‐ schaftsstreit, Ehebruch, Ehestreit, ungewollte Kinderlosigkeit und Masochismus innerhalb der Ehedynamik. Bis zum ersten Ortswechsel ist ein eindringliches Lied, welches als Leitmotiv betrachtet werden kann, zu hören. Besondere Aufmerksamkeit verdient die to‐ nale Ausgestaltung des ersten Ortswechsels. Während zeitgleich zur Kamera‐ fahrt über die Familienbilder ein rhythmisch und klanglich eindeutig identifi‐ zierbares Lied zu hören ist, wird dieses kurz vor dem Ortswechsel von einem hallenden, künstlichen, allerdings an ein persistentes Bienensummen erin‐ nernden, nicht eindeutig bestimmbaren Geräusch unterlegt, und zwar gerade, als auf den Kinderschuh gezoomt wird. Geräusch und Lied enden mit dem Orts‐ wechsel. Nach dem Ortswechsel, also im unterirdischen Raum, fehlt dieses vor‐ malige Hintergrundgeräusch. Das tonale Arrangement, das Wechseln von Musik-Geräusch-Stimme / angstvollem Atmen prozessiert metonymisch kon‐ fliktäre Reibungsmomente. Dabei ist zu beachten, dass das Lied (was sich erst im weiteren Verlauf der Episode erschließen lässt) und das Atmen (was sofort erkennbar ist) innerhalb der filmischen Diegese zu verorten sind, wohingegen das unbestimmte Geräusch extradiegetisch arrangiert ist. Das unbestimmbare Geräusch und dessen Rücknahme fungieren als Fiktionalitätsmarker. Daneben 5.1 Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität 183 <?page no="184"?> 4 Zur Interpretation der Zurücknahme der Geräuschkulisse in Filmen siehe Keutzer, Oliver u. a. (Hrsg.): Filmanalyse, Wiesbaden 2014, S. 133. 5 Es geht hier nicht um einen konkreten Apfel, sondern um den Apfel als Chiffre. So wird innerhalb der Diegese der Apfel auch aufgegessen, weshalb es sich nicht mehr um den‐ selben Apfel handeln kann, wenn er erneut innerhalb der Diegese auftaucht. 6 Richter, Gerhard R.: Kunst- und kulturgeschichtliche Aspekte des Apfels, in: http: / / www.lwf.bayern.de/ mam/ cms04/ wissenstransfer/ dateien/ w73_kunst-und_kulturgeschichtliche_aspekte_zum_apfel_bf_gesch.pdf (zuletzt aufge‐ rufen am 19. 08. 2015). 7 Zu metaleptischen Elementen siehe Kuhn: Filmnarratologie, S. 358. wird durch das tonale Spiel, besonders im Zusammenhang mit einem Übergang vom Hellen ins Dunkle, Spannung erzeugt 4 . Neben dem Lied fungiert der Apfel 5 als Leitmotiv. Während die ambivalenten Konnotationen des Liedes handlungslogisch und narrativ aufgedeckt werden, funktioniert die Leitmotivik des Apfels wesentlich subtiler. Es ließe sich nun sehr viel über die Kulturgeschichte des Apfels sagen. So zeigt Richter das facet‐ tenreiche Vorkommen des Apfels in beispielsweise Sprichwörtern wie »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, im Altertum und im Christentum sowie in Kunst, Literatur, Märchen, Realgeschichte (Reichsapfel) und Mediengeschichte (Apple). 6 Der Apfel ist in der Tatort-Episode einige Male zu sehen und erweist sich als mehrfach codiert. Als (mythologischer) »Zankapfel« etwa steht der Apfel für einen Streitgegenstand. Daneben steht er in Anlehnung an die bibli‐ sche Geschichte von Adam und Eva mit Begierde und Erkenntnis in Verbindung. Denkt man an das schöne Aussehen und die giftige Wirkung des Apfels im Märchen Schneewittchen, dann ist Diskrepanz zwischen Sein und Schein aufge‐ rufen. Insbesondere wird mit dem Apfel in Rekurrenz auf den Reichsapfel als Herrschaftssymbol auch Macht evoziert. In diesem Zusammenhang erscheint der Apfel, wenn er auf einer CD platziert ist, die unmittelbar mit Macht in Re‐ lation steht. Auf der CD ist nämlich das Lied gespeichert, das der Großvater immer im Hintergrund abgespielt hat, während er seine Enkelinnen vergewal‐ tigt hat. Der Apfel entfaltet weiterhin eine über den konkreten Fall hinausge‐ hende Bedeutung. Kurz vor dem Ende des Tatorts - der eigentliche Fall ist schon gelöst - ist der Apfel erneut zu sehen. Dort fungiert er als inszenatorisches und arrangiertes Medium, das die Gemachtheit des Films akzentuiert, und zwar in‐ sofern, als er als metaleptisches Element 7 angesehen werden kann. Bereits der Anfang des Films - vor den Credits - stellt seine eigene Fiktionalität deutlich aus: erkennbare Anwesenheit der Kamera(führung) beispielsweise durch den kontrastiven Ortswechsel, die Detailaufnahmen in harten Schnitten, das künst‐ liche Geräusch, InterMedialität und Autoreflexivität (Filmen durch ein Fenster, dessen Rahmen erkennbar ist). Im weiteren Verlauf des Films kommen zahl‐ 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 184 <?page no="185"?> 8 Martin Mann hat das wechselseitige Verhältnis von Autoreflexivität und komischen Dimensionen gezeigt, siehe Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 189, besonders S. 179-212. 9 Krause, Walter H.: Das Ethische, Verantwortung und die Kategorie der Beziehung bei Levinas, Würzburg 2009, S. 11. reiche andere Fiktionalitätsmarker hinzu: Metalepsen unterschiedlichster Kom‐ plexität, (bewegte) Schrift innerhalb der Diegese und Intertextualität. Ein be‐ sonders gutes Beispiel stellt die autoreflexive und intermediale, performative Begrüßung des neuen Teams dar. Nachdem der Dezernatsleiter Riefenstahl die Kommissarin Janneke und den Kommissar Brix offiziell begrüßt hat, fotografiert Janneke ihren neuen Chef, der wohl nicht zufällig, sondern erneut autoreflexiv den Namen der umstrittenen Filmregisseurin des Dritten Reiches trägt. Hier spiegelt die Tatort-Episode autoreflexiv die eigene Medialität. Daneben wird wohl auch kritisch-spielerisch auf die politische Instrumentalisierbarkeit von Medien verwiesen, indem Kommissar Riefenstahl lediglich knapp mitteilt, dass er mit Leni Riefenstahl nicht verwandt ist. Die eher beiläufige Darbietung des Themenkomplexes um die sicherlich arrangierte Namensidentität verwundert. Der lakonische Verweis auf den berüchtigten Namen Riefenstahl verhandelt kri‐ tisch-spielerisch einen antipopulären Umgang mit medial Populärem. Das Miss‐ verhältnis zwischen der Bekanntheit und Bedeutung des Namens Riefenstahl und dem lapidaren filmischen Vorkommen des Homonyms provoziert autore‐ flexiv ein Verlachen 8 insbesondere der mit den Filmen Leni Riefenstahls in Ver‐ bindung zu bringenden politischen Instrumentalisierung von Medien. Das Foto des Dezernatsleiters Riefenstahl sowie weitere Fotos, auf denen der Kommissar und die Kommissarin zu sehen sind, werden daraufhin eingeblendet. Die diegetische Begrüßungsszenerie wird autoreflexiv fortgeführt, indem die Fotos von Janneke, Brix und Riefenstahl das auch für die Tatort-Zu‐ schauer_innen neue Ermittlungsteam vorstellen. Die These lautet nun, dass in der hier interessierenden Tatort-Episode die visuell verunmöglichte oder nicht restlos eindeutige Identifizierung der Fami‐ lienmitglieder auf den eingangs gefilmten Familienbildern (auch im Zusam‐ menhang mit der Unschärfe), speziell der weiblichen Person (Lydia Sanders), erfahrenes (Familien)Leid illustriert. Im Rekurs auf Lévinas widmet sich Butler dem Terminus Gesicht. Bei Lévinas steht laut Krause »die Beziehung im Mittel‐ punkt« 9 . Ich kann hier nicht im Detail auf Lévinas eingehen. Um jedoch Miss‐ verständnissen vorzubeugen und groben Vereinfachungen entgegenzuwirken, sollen kurz drei Grundannahmen im Hinblick auf Lévinas als Vorverabredungen festgehalten werden. Wenn ich hier von Gesicht und nicht von Antlitz spreche, 5.1 Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität 185 <?page no="186"?> 10 Karin Wördermann hat die Essays aus Butlers Buch Gefährdetes Leben aus dem Engli‐ schen übersetzt, siehe hierzu Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main 2005, Anmerkung auf Seite 156-157. 11 Der Übersetzer von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Thomas Wiemer, hält fest, dass es im deutschsprachigen Raum nahezu selbstverständlich geworden ist, vom Antlitz des Anderen zu sprechen, wo im Original auf visage referiert wird. Dieser Übersetzung hält er jedoch entgegen: »Sie versieht, gewollt oder ungewollt, die Lévinas‐ sche Diktion mit einer - zusätzlichen - Aura der Erhabenheit, die ihr nur zum geringeren Teil gerecht wird, während sie wichtigere andere Teile verdeckt. Zwar ist visage in Lévinas’ Beschreibungen par excellence der ›Ort‹, an dem Transzendenz einbricht und spurhaft begegnet. Dieser Umstand verschafft dem Begriff jedoch keineswegs das Sonntagskleid einer spiritualisierten Semantik, er indiziert vielmehr eine der Konkretionen von Trans‐ zendenz. Gerade an der ›Materialität‹ des visage versucht Lévinas zu entziffern, was über sie hinausweist«, zu dieser Entscheidung siehe Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg im Breisgau und München 1992, S. 43, Fußnote 1. 12 Siehe dazu beispielsweise Lévinas im Interview: »The approach to the face is the most basic mode of responsibility. […] My ethical relation of love for the other stems from the fact that the self cannot survive by itself alone, cannot find meaning within its own being-in-the world, without the ontology of sameness. […] To expose myself to the vulnerability of the face is to put my ontological right to existence into question«, Lévinas, Emmanuel: Dialogue with Emmanuel Levinas. Emmanuel Levinas and Richard Kearny, in: Cohen, Richard A. (Hrsg.): Face to Face with Levinas, Albany 1986, S. 13-33, hier: S. 23-24. 13 Butler, Judith: Gefährdetes Leben, in: Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Es‐ says, Frankfurt am Main 2005, S. 154-178, hier: S. 158-159. Wenn ich im Folgenden Stellen aus Butlers Gefährdetes Leben zitiere, dann ist damit der Essay im gleichnamigen Buch gemeint. dann orientiere ich mich dabei an Karin Wördemann 10 , die sich diesbezüglich wiederum dem Lévinas-Übersetzer Thomas Wiemer 11 angeschlossen hat. Hin‐ sichtlich der komplexen Lévinasschen Konzeption des Gesichts interessieren in der vorliegenden Arbeit zusammenfassend die mit dem Gesicht verbundene Einforderung von Verantwortung für den Anderen, die Erinnerung der Bezüg‐ lichkeit zum und Verbundenheit mit dem Anderen sowie fundamental die Ver‐ letzlichkeit des Anderen 12 . Butler verweist auf Textstellen bei Lévinas, in denen zum Ausdruck kommt, dass das Gesicht nicht ausschließlich ein Gesicht sein muss, sondern auch als Katachrese fungieren kann 13 . So wie die Computermaus keine echte Maus ist, so ist auch das Gesicht nicht buchstäblich und ausschließ‐ lich ein Gesicht. Wenn die Bedeutungsdimensionen des Lévinasschen Gesichts nicht schlichtweg mit dem buchstäblichen Gesicht gleichzusetzen sind, dann heißt dies andererseits nicht, dass das buchstäbliche Gesicht in den Deutungs‐ horizont des katachretischen Gesichts nicht einbezogen werden könnte. Im Fol‐ genden sollen diejenigen Facetten des Gesichts deutlich werden, die Butler für ihre Überlegungen zum Verhältnis von Darstellung und Vermenschlichung ex‐ 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 186 <?page no="187"?> 14 Ibid., S. 160-161. 15 Ibid., S. 167. 16 Ibid., S. 169. 17 Ibid., S. 170. 18 Ibid., S. 171. Dreysse führt in ihrer Arbeit im Rekurs auf Butler aus, dass die Theater‐ inszenierung Gardenia das »Scheitern der Darstellung [zeigt]« und so »die Möglichkeit einer Verkörperung von Identität« hinterfragt, siehe Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 286. Dass dieses Scheitern auch durch wissenschaftlich bisher weniger anerkannte Medien ausstellbar ist, versuche ich anhand der Tatort-Episode zu zeigen. Gleichzeitig soll darauf verwiesen werden, dass eben auch gängige, vermeintlich unscheinbare All‐ tagsmedien in unserer Medienkultur philosophische Inhalte aushandeln. 19 Butler: Gefährdetes Leben, S. 171. pliziert, damit sie im Hinblick auf die Darstellung von Gesichtern in Kälter als der Tod nutzbar werden. Das Gesicht des Anderen trägt dabei die Bedeutung von Gefährdetheit 14 . Butler vertritt die Ansicht, dass eine Darstellung des Gesichts per se nicht zwangsläufig vermenschlicht 15 , und sie führt indirekt an, dass das Lévinassche Gesicht gerade eine Artikulierung von Trauer oder Qual, ein Gefühl für die Gefährdetheit des Lebens 16 , für Szenen des Schmerzes 17 impliziert. Wichtig ist, dass das Lévinassche Gesicht (u. a. als menschliches Leiden) keine direkte Dar‐ stellung zulässt. Menschlich ist eine Darstellung sensu Butler also dann, wenn sie der Ganzheit entbehrt, wenn sie geradezu disjunktiv verfährt und wenn sie das Scheitern zeigt 18 . Im Hinblick auf Kälter als den Tod kann nun gerade gefolgert werden, dass der Fernsehfilm in mehrfacher Hinsicht das Scheitern der Darstellung zeigt. Die Disjunktion wird geradezu aufgeführt, ja performativ, intermedial und autore‐ flexiv inszeniert: Der ›Inhalt‹ der / des Fotos wird nicht expliziert, Uneindeutig‐ keit wird vermehrt, Statik wird abgewehrt. In diesem Scheitern offenbart sich (im Anschluss an Butler und Lévinas) menschliche Potenzialität 19 . Im Gesamtkontext des Films werden in dieser disjunktiven Bewegung das Leid, die Qual und die konkrete Gefährdung durch den Großvater, der deutlich konturiert ist, erhellt. Ebenfalls kann die (darstellerische) Unschärfe zu Beginn des Tatorts funktional bestimmt werden. Die Unschärfe illustriert die der Fa‐ miliengeschichte eingeschriebene Verdunkelung, also die rhetorische Verschlei‐ erung der Taten des Großvaters und die verdrängte Adoption von Lydias leib‐ licher Tochter. In einem Gespräch mit Anna Janneke entfaltet Silke ein Lügenmärchen über ihre Schwester: »Silke Kern: Unsere Mutter ist früh gestorben. Und Großvater hat uns quasi über‐ nommen und hat Lydia nicht in den Griff gekriegt. Sie war sehr wild als Teenager. 5.1 Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität 187 <?page no="188"?> 20 Es ist davon auszugehen, dass die wortlosen Lippenbewegungen von Silke nicht zufällig sind, sondern gezielt arrangiert wurden. Anna Janneke: Wild? Was heißt wild? Ne Stunde zu spät ins Bett? Oder Schokolade nachm Zähneputzen oder in der Dorfkneipe aufm Tisch tanzen? Silke Kern: Eher Letzteres. Lydia hat sich allen möglichen Männern an den Hals ge‐ worfen und mit 15 war sie schwanger, hat aber das Baby verloren. Anna Janneke: Wir ham uns ein ganz anderes Bild von ihrer Schwester gemacht. Silke Kern: Mm, ja, sie hat dann Peter kennengelernt. Peter war ein toller Mann und ein toller Vater« (K 00: 27: 09). Erstens wird rhetorisch Verantwortung und Schuld verschoben, indem das ei‐ gentliche Opfer (Lydia) von Silke (ebenfalls ein Opfer des Großvaters) zur Tä‐ terin stilisiert wird. Zweitens werden die Vergewaltigungen verschwiegen. Drit‐ tens wird der Tod des Babys behauptet. Das Baby Miranda ist aber nicht tatsächlich gestorben; vielmehr wurde es zur Adoption freigegeben. Die innere Zerrissenheit von Silke Kern zeigt sich in einer Art dualen Stimmmodulation und Sprechweise. Am Anfang des Gesprächs und besonders während des Satzes »Lydia hat sich allen möglichen Männern an den Hals geworfen, und mit 15 war sie schwanger, hat aber das Baby verloren« klingt nahezu eine weiche Melodik, eine friedliche Intonation an, die abrupt, aggressiv und laut unterbrochen wird, als Janneke das Gespräch auf Silkes Mann lenkt. Silkes sanfte Sprechweise wirkt an dieser Stelle aber wenig empathisch, sie lässt sich eher mit der Redewendung Text abspulen / herunterbeten assoziieren, was an ein gezieltes Arrangement denken lässt. Die zum Teil noch vorhandenen lautlosen Mundbewegungen nach einem gesprochenen Satz von Silke können weiterhin mit noch ausstehenden, bisher Verschwiegenes zur Sprache bringenden Erzählakten in Verbindung ge‐ bracht werden 20 . Silkes Lügen werden ferner darstellerisch sowohl durch Vorhänge (K 00: 27: 56) als auch durch ein kontrastives Raum- und Lichtspiel, das zwischen gleißendem Licht und Raumtiefe (K 00: 26: 30) sowie dunkleren Licht- und flächi‐ geren Raumverhältnissen (K 00: 26: 45) arrangiert ist, betont. Die Vorhänge und das auffällige Raum- und Lichtspiel verbildlichen die Maskerade, also die insze‐ natorische Verstellung Silkes. Einen wesentlichen Teil der der Familiengeschichte eingeschriebenen Ver‐ dunkelung machen die Vorgänge um Lydias leibliche Tochter, Miranda, aus. Of‐ fiziell wurde kommuniziert, dass Lydia das Baby Miranda verloren hätte. Die tatsächliche Adoption und Existenz Mirandas werden geleugnet. Letztlich wurde Lydias ungewolltes Kind dadurch rhetorisch und performativ getötet. Das lässt - auf der Basis des Films - den Schluss zu, dass nicht Adoption generell 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 188 <?page no="189"?> 21 Zur »Backstorywound« siehe Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Holly‐ wood erzählt, Frankfurt am Main 2004, S. 30-31. 22 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 114. 23 Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 7. 24 Zur Spur und zum Spurenlesen siehe Kessler, Nora H.: Dem Spurenlesen auf der Spur. Theorie, Interpretation, Motiv, Würzburg 2012. zum Scheitern verurteilt ist, sondern in einem spezifischen Kontext, hier im Kontext der sexuellen Gewalt, der Lüge und der Asozialität der Adoptiveltern. Es ist daher ein Film über Adoption, soziale Elternschaft, letztlich über Familia‐ lität - wie sie eben nicht funktioniert. In diesem Kontext entwickelt sich bei Miranda ein problematisches Verhältnis von Eigenständigkeit und familialer Partizipation. Die zweifach erfahrene Ver-Einzelung (Trennung von ihrer lei‐ blichen Mutter; erneute Gewalt durch ihre Adoptivmutter), die »Backstory‐ wound« 21 , führt zu einem gesteigerten Wunsch nach familialer Partizipation, der zitathaft eine gemeinsame Verbindung mit Jule (ihrer Halbschwester) im Tod vorsieht: »Nicht alleine sterben. Als Familie sterben« (K 01: 21: 07; Anna Janneke). »Wären wir im Keller gestorben, wären wir wenigstens im Tod vereint« (K 01: 03: 03; Miranda Kador). Als zu Beginn der Ermittlungsarbeiten - die wahren Familienverhältnisse sind noch unklar - Mirandas Handtasche im Müll gefunden wird, deutet sich bereits die Zeichnung Mirandas als transgressive Figuration an. Miranda, die im Handy ihrer Mutter unter »Miranda Nachhilfe« gespeichert ist, ist rhetorisch schon tot, bevor sie von Brix getötet wird. Sie bewegt sich also zwischen Leben und (rhe‐ torischem und echtem) Tod, denn erfahren hat sie in ihrer Vergangenheit »eine Anrede oder eine Benennung, die plötzlich und unerklärlich tötet, auch wenn man weiterlebt, seltsam weiterlebt als dieses getötete Wesen, weiter spricht.« 22 Die Nähe zum Müll, der stinkt, verwest, weggeworfen wird und transgressiv Verdinglichung als Entmenschlichung suggeriert, korrespondiert mit dem Ekel, den Lydia Sanders für ihre Tochter empfindet, und zwar als sie Miranda (streng‐ genommen irreversibel) weggegeben hat und als sie ihr ungewolltes Kind wie‐ dererkennt (Anagnorisis - will man im theatral-dramatischen Bilde bleiben). Wenn Menninghaus den Ekel u. a. als »eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit« 23 konturiert, dann ist darin das Ver‐ hältnis von Lydia gegenüber Miranda exakt beschrieben. In diesem Fall ist die »unassimilierbare Andersheit«, gegen welche die »Krise der Selbstbehauptung« sich richtet, die ungewollte Tochter als Beweis, ja, als Spur 24 erlittener Gewalt. 5.1 Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität 189 <?page no="190"?> Rhetorisch ist keine Verbindung (kein »Wir«) zwischen leiblicher Mutter und Tochter möglich, was ein Movens der Tragödie darstellt. Die folgenden Zitate zum Hintergrund der Katastrophe sind in ein komplexes metaleptisch-analeptisches Schauspiel integriert: »Anna Janneke: Wie kam es dann zu der Katastrophe? Miranda Kador: Letzten Donnerstag, ich saß hier in der Küche und hab mit Lydia über Gott und die Welt gequatscht. Das Radio lief nebenbei. Plötzlich läuft im Radio unser Lied. Sie war plötzlich ganz durcheinander und hat das Radio ausgestellt, und ich hab sie gefragt, warum sie das Lied ausgemacht hat, und sie hat gesagt, weil es sie an wen erinnert, und ich hab sie gefragt: an wen denn? Und sie hat gesagt: an ein Kind, das bei der Geburt gestorben ist [Hervorhebung M. P.]. Aber ich wusste ja die Wahrheit. Plötzlich sah ich die Möglichkeit über die Vergangenheit zu reden, über uns zu reden, und ich hab nen Trick benutzt. Ich hab behauptet, dass ich praktisch auch n Kind verloren hätte. Ich wär mit 15 schwanger geworden und hätte das Kind zur Adoption freigegeben, weil ich überfordert war. Ob ich in ihren Augen ein schlechter Mensch bin, hab ich sie gefragt. Ich wünschte mir, dass sie mir alles erzählen würde, sie in‐ zwischen bereuen würde, ihre erste Tochter weggegeben zu haben, und ich wünschte mir, dass es für meine Mutter das größte Glück der Erde wäre, diese Tochter zu finden und in die Arme zu schließen« (K 01: 15: 03). Lydia vollzieht analog zu ihrer Schwester die gleiche rhetorische Tötung Mi‐ randas. Beide behaupten fälschlicherweise Mirandas Tod (»Und sie hat gesagt: an ein Kind, das bei der Geburt gestorben ist«). Transgressiv nimmt Miranda die Mutterrolle von Lydia ein (als sie diese tröstet: »Sie lag dann in meinem Arm und weinte« (K 01: 16: 47)), transgressiv fühlt sie sich entkörpert (»Ich konnte nichts sagen, mein Körper war taub« (K 01: 16: 50)), transgressiv wird sie zum »Kind des Monsters«: »Sie [Lydia, M. P.] erzählte mir, dass ihr Großvater sie jahrelang vergewaltigt hat, dass sie auch mit 15 schwanger geworden ist und das Kind dieses Monsters weggegeben hat [Lachen, M. P.] und ich [Hervorhebung M. P.] … Sie lag dann in meinem Arm und weinte. Ich konnte nichts sagen, mein Körper war taub. Ich war ihre Tochter, aber gleichzeitig die Schwester ihres Vaters, mein Urgroßvater war auch mein Vater« (K 01: 16: 29). Nach den Worten »und ich« in Mirandas Erzählung über sich, in ihrer Rechen‐ schaft, die innerhalb der Diegese eine außerordentliche, nahezu überdetermi‐ nierte Rolle spielt, folgt darstellerisch ein Split Screen (K 01: 16: 46): Linksbündig ist Miranda lächelnd zu sehen, wobei akustisch vor »und ich« ein Lachen zu 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 190 <?page no="191"?> 25 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 56-57. Butler verwendet Termini wie »von An‐ fang an gespalten«, »unbegründet«, »inkohärent«, »sich selbst undurchsichtig«, S. 30; »eingeschränkte […] Transparenz«, S. 57; »Teilblindheit«, S. 59; »grundlegende Unter‐ brechung«, S. 72; »etwas Nicht-Narrativierbare[s]«, S. 113; »eigene Fremdheit mir selbst gegenüber«, S. 114. 26 Ibid., S. 74, wörtlich: »Auf die eine oder andere Weise scheint man immer angesprochen zu sein, auch wenn man verlassen oder missbraucht wird, da auch die Leere und die Verletzung einen in bestimmter Weise rufen.« 27 Ibid., S. 30. Butler spricht wörtlich von Abhängigkeitsbeziehungen. hören war. Auf der rechten Seite ist Miranda vollkommen verzweifelt zu sehen. Der Schmerz und die Verzweiflung sind ihr ins Gesicht geschrieben. Folgende Strukturmerkmale sollen nun in einen interpretatorischen Zusam‐ menhang gestellt werden: Split Screen; Unterbrechung der Erzählung: hörbar war zuletzt nur ein Lachen; »Aufspaltung« Mirandas in zwei Teile. Der Spalt zwischen linkem und rechtem Bild des Split Screens markiert die Diskontinuität zwischen zwei Ichs einer und derselben Person. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Bildschirmspaltung an den nicht zu kommuni‐ zierenden, den uneinholbaren Teil jeder Biographie erinnert. Annehmen lässt sich nämlich, dass es sich bei dieser Doppelung in einer Person sensu Butler einerseits um ein ›Ich‹ (konstruiertes Ich) und andererseits ein narratives ›Ich‹ handelt. Beim Erzählen seiner Geschichte fügt das sich rekonstruierende Ich dem gewollten Rekonstrukt ein diesem Zugrundeliegendes hinzu. Dieses grund‐ legende, nicht minder konstruierte, aber niemals vollständig einholbare narra‐ tive Ich durchzieht konstitutiv jede Ich-Erzählung: »Immer bin ich dabei, etwas einzuholen, zu rekonstruieren, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als jene Ursprünge, die ich nicht kennen kann, zu fiktionalisieren und zu fabulieren. Während ich an meiner Geschichte arbeite, erschaffe ich mich selbst in neuer Form, weil ich dem ›Ich‹, dessen vergangenes Leben ich zu erzählen versuche, ein narratives ›Ich‹ hinzufüge. Jedes Mal, wenn es zu sprechen versucht, tritt das narrative ›Ich‹ zu der Geschichte hinzu, weil es als Erzählperspektive wiederkehrt, und diese Hinzufügung kann in dem Moment, wo sie die fragliche Erzählung per‐ spektivisch verankert, nicht vollständig erzählt werden.« 25 Kontraintuitiv - Miranda hat eigentlich niemand Anderen und keine Bindung, was letztlich nicht bedeutet, nicht angesprochen zu sein, da auch Leere und Verletzung einen rufen 26 - zeigt sich im Split Screen die stets vorhandene un‐ durchsichtige Abhängigkeit 27 . Das hörbare Lachen, die Unterbrechung der Narration kann nun als antinor‐ mativer Gestus betrachtet werden, der das Projekt einer anfänglichen und ganz‐ heitlichen Erzählung ad absurdum führt: 5.1 Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität 191 <?page no="192"?> 28 Ibid., S. 111-112. 29 Siehe dazu eine Zusammenfassung, ibid., S. 55-56. 30 Prantl, Heribert: Kindheit. Erste Heimat. Gedanken, die die Angst vertreiben, 2. Aufl. 2015 München, S. 50-51. »Wenn ich also am Anfang - und an dieser Stelle müssen wir lachen, denn wir können diesen Anfang in gar keiner Weise autoritativ erzählen, ja, bei einer solchen Erzählung büßen wir gerade jede narrative Autorität ein, die wir ansonsten vielleicht ge‐ nießen -, wenn ich also am Anfang nur in der Adressierung an dich bin, dann ist das ›Ich‹, das ich bin, ohne dieses ›Du‹ gar nichts, und es kann sich außerhalb des Bezuges zum Anderen, aus dem seine Fähigkeit zur Selbstbezüglichkeit überhaupt erst ent‐ steht, nicht einmal ansatzweise auf sich selbst beziehen.« 28 Ausgelacht wird bei Butler (und bei Miranda) jene unmögliche autoritativ-ur‐ sprüngliche, selbstidentische Erzählung von und über sich zugunsten einer Re‐ lation der Konstitution von Identität durch Alterität, einer Relation also, die nicht einholbar ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass verschiedene Elemente (Split Screen, Lachen, Unterbrechung der Narration) auf denjenigen konstitutiven Teil der Subjektformation hindeuten, der nicht kommunizierbar ist. Dabei ist dieser Teil durchaus facettenreich 29 . Ich habe bereits angedeutet, dass der Film verhandelt, wie Familie gerade nicht funktioniert. Losgelöst von der Frage, inwieweit die vorliegende Arbeit sich auch als Filmkritik versteht, soll darauf verwiesen werden, dass es sich meines Erachtens um eine äußerst fruchtbar-emanzipatorische Strategie han‐ delt, auf die Darstellung eines positiven Ideals zu verzichten, und zwar insofern, als dadurch keiner normativen Einholung prätentiöser Ideale Vorschub geleistet wird. Letztlich werden gerade Problemfelder inszeniert, wobei sich die einge‐ schriebene Dramatik als mehrfach potenziert erweist: der frühe Tod der Mutter von Lydia und Silke, die sexuelle Gewalt des Großvaters, eine ungewollte Schwangerschaft, die Aufnahme Mirandas in eine gewaltvolle und asoziale »Fa‐ milie«. Es schimmern lediglich Familienideale durch wie beispielsweise der Schutz durch Familie, wobei die Schutzbedürftigkeit an Prantls Definition von Familie erinnert: »Familie ist jeder Ort, an dem ein Kind verlässlich erfahren kann: ›Ich bin wertvoll‹ und ›Ich kann dem Leben vertrauen‹. Familie ist ein Ort, an dem ein Kind in seiner Entwicklung geschützt und gestützt wird. Es gibt viele dieser Orte, an denen Kinder diese wichtigste aller Lebenserfahrung [sic! ] machen können« 30 . 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 192 <?page no="193"?> 31 Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 249. Es ist ein Strukturmerkmal von Kälter als der Tod, uneindeutige Perspektiven anzubieten. Es wird kein Familienkonzept in Reinform (leiblich; sozial) als viabel inszeniert. Für Miranda wäre mit Jule, der Halbschwester, Familialität möglich. Familialität wäre dann beispielsweise zur Hälfte leiblich, zur Hälfte sozial. »Wie eine Familie« (K 00: 42: 37) waren die Sanders auch für Miranda in deren Position als Nachhilfelehrerin. Familialität durch Adoption ist gescheitert. Leibliche Ver‐ wandtschaft begründet für Miranda (allerdings nicht-reziprok) Familialität. Ins‐ gesamt bleibt im betrachteten Tatort »richtige Familie« ungelebt. Richtige Fa‐ milialität aus der Perspektive Mirandas bleibt undeutlich, auch deshalb, weil die innige (halb)schwesterliche, familiale Liebe zwischen Miranda und Jule erotisch aufgeladen ist. Betrachtet man die Familienszene kurz vor der erinnerten Mordtat Mirandas, fällt auf, dass die Topografie unnatürlich erscheint. Das Arrangement erinnert an ein Puppenhaus. Die Figuren, Vater und Mutter, sehen wie Plastikfiguren aus (K 01: 17: 47). Dreysse expliziert, dass Puppenhäuser mit der Geschichte des Bür‐ gertums und der Naturalisierung der Geschlechterrollen verbunden sind 31 . Dass es sich allerdings um echte, (im Unterschied zu Puppen) verletzliche Figuren handelt, wird bei den tödlichen Schüssen sichtbar. Getötet werden nicht nur Mutter-Vater-Kind, ausgelöscht wird ein ganzes Puppenhaus-Arrangement. Zum Ende kommt damit ein Familiensystem, welches auf Lüge, Gewalt, Ver‐ leumdung und Perfektion nach außen beruht - vielleicht hat man deshalb auch so wenig Mitleid. Bezieht man die von Dreysse dargelegte Verbindung der Pup‐ penhäuser mit Bürgerlichkeit ein, dann erscheint Mirandas Angriff auch gegen Bürgerlichkeit gerichtet. Die Katastrophe wird vordergründig durch eine chiastisch-antithetische Konstellation mitbedingt, die sich besonders deutlich in der unterschiedlichen Bewertung der CD von Miranda und Lydia zeigt. Im Folgenden wird das Ge‐ spräch zwischen der Ermittlerin und Miranda wiedergegeben. Interessant ist auch, wie Geschlechterrollenmuster in den Tatorten fortgeschrieben werden. Nicht selten handelt es sich dort bei Ermittlerfiguren, die bei ihrer Arbeit Em‐ pathie beweisen, um Ermittlerinnen. »Anna Janneke: Dann hast du dich entschlossen, deine richtige Mutter zu suchen. Miranda Kador: Ja, ich war überzeugt, dass meine Adoptiveltern nur gelogen haben, dass meine Mutter nen guten Grund gehabt hat, mich wegzugeben. Ich hab die Adop‐ tionsunterlagen gefunden, dann bin ich nach Mainz gefahren, an den Ort, an den meine richtige Mutter mich gebracht hat. Meine Mutter hab ich da nicht gefunden und eine der Frauen hat mir eine CD gegeben. Ich wusste sofort, dass meine Mutter 5.1 Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität 193 <?page no="194"?> mich nur weggegeben hat, weil sie sich gerade nicht um mich kümmern konnte. Weißt du, wie die Prinzessinnen in den Märchen, die von einer Hexe verzaubert werden. Ich wusste, dass diese CD ein Zeichen meiner Mutter war für ihre ewige Liebe. Kannst du das verstehen [Hervorhebungen M. P.]? Anna Janneke: Ja, das kann ich verstehen [Hervorhebung M. P.]. Miranda Kador: […] Und dann hab ich die CD gehört, ganz oft. Ich hab mir sogar ne Kopie machen lassen, so oft hab ich die CD gehört, weil ich Angst hatte, dass sie kaputt geht. Wenn das Lied spielte, konnte kein Monster mir was antun. Es war wie ein Schutzzauber meiner Mutter. Ich wusste, dass sie irgendwo da draußen war, gerade auch das Lied hörte und an mich denkt« (K 01: 11: 35). Während für Miranda das Lied / die CD Medium der Liebe, der Nähe und des Schutzes ist, codiert dasselbe Lied für Lydia Ekel, Trauer, Schmerz, Gewalt und sexuellen Missbrauch, da der Großvater es während der Vergewaltigungen im Hintergrund laufen ließ. Während Miranda die CD hegt und pflegt, gibt Lydia die CD zusammen mit Miranda ab. Sie verwirft beide. Diese chiastisch-antithe‐ tische Konstellation bedingt vordergründig die Katastrophe und wird nicht nur narrativ bezüglich Lydia, sondern auch visuell mit Jule inszeniert, indem die Figurationen überkreuzt positioniert sind (K 00: 28: 53). Beobachtet werden kann ferner, dass die Tragik durch den doppelten Aus‐ schluss Mirandas aus Familie als Ort des Schutzes gemäß Prantls Definition ausgelöst wird. Soziale Elternschaft funktioniert (auch) nicht, weil die Adoptiv‐ eltern vollends versagen. Miranda nimmt keinen Platz in der Adoptivfamilie ein. Man erfährt durch Flashbacks, dass sie verletzend und vernichtend angespro‐ chen wurde: »Du bist vollkommen nutzlos. Außerdem bist du nicht meine richtige Tochter und deine richtige Mutter wollte dich auch schon nicht. Du bist einfach nur ein Stück Scheiße« (K 01: 11: 25). Kommuniziert wird in mehrfacher Hinsicht die familiale Ortlosigkeit Mirandas. »Als ich klein war, konnte ich nicht verstehen, warum meine Eltern mich nicht lieb hatten« (K 01: 11: 23). Es gibt den Ort des Schutzes bzw. Familie in Mirandas Leben nicht, sie ist aus‐ gesetzt, zeitlich, örtlich und emotional desorientiert. Miranda wird auf einen Platz verwiesen, der keiner ist: »Auf verletzende Weise angesprochen zu werden bedeutet nicht nur, einer unbe‐ kannten Zukunft ausgesetzt zu sein, sondern weder die Zeit noch den Ort der Verlet‐ zung selbst zu kennen und diese Desorientierung über die eigene Situation als Effekt 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 194 <?page no="195"?> 32 Butler: Haß spricht, S. 13. 33 Keutzer: Filmanalyse, S. 13. dieses Sprechens zu erleiden. In diesem vernichtenden Augenblick wird gerade die Unbeständigkeit des eigenen ›Ortes‹ innerhalb der Gemeinschaft der Sprecher sichtbar. Anders gesagt: Man kann durch dieses Sprechen ›auf seinen Platz verwiesen‹ werden, der aber möglicherweise gar keiner ist.« 32 Die verletzende Anrede nach der Geburt, der rhetorische Tod wird perpetuiert durch die Adoptiveltern respektive Adoptivmutter. Miranda ist von Anfang an »ohne Platz«. Es verwundert gewissermaßen, dass der geplante Selbstmord Mi‐ randas just in dem Moment in einen Mord an Mutter-Vater-Sohn umgelenkt wird, als der leibliche und geliebte Sohn Tobi den Schauplatz betritt: »aber dann kam Tobi reingelaufen« (K 01: 18: 14). Das Eintreten Tobis fungiert als unmittel‐ barer Auslöser der tödlichen Familientragödie, wobei der Vater den Sohn zu schützen versucht. Kontrastiert wird dadurch ein Modell des Schutzes, der Sorge, der Positionalität und Teilhabe mit Mirandas Ver-Einzelung und De-Po‐ sitionalität. Spielen die Perspektiven Mirandas und die filmische Inszenierung zusammen oder auseinander? Als Grundregel gilt, dass eine Untersicht Figuren als heroisch, souverän und überlegen konnotiert, während Figuren, die aus einer Aufsicht beobachtet werden, unterlegen, schwach, lächerlich wirken 33 . Miranda be‐ richtet, wie sie früher in Analogie zu Märchen davon ausging, einer Prinzessin gleich verhext zu sein. Metaleptisch werden vergangene Zeit und Gegenwart kombiniert. Miranda ist als kleines Mädchen neben Anna Janneke als Kommis‐ sarin zu sehen. Die dabei in der Kameraführung vorherrschende Aufsicht kann als Verlächerlichung von Miranda, ihren Märchen und ihrem ›Irrglauben‹ be‐ trachtet werden. Mirandas Perspektive und der Kamerastandpunkt führen hier auseinander (K 01: 12: 06). Gleichzeitig könnte die Kameraführung auch als ein Mittel betrachtet werden, das performativ die von Miranda erfahrene Abwertung durch leibliche Familie und Adoptiveltern wiederholt, um eine empathische Reaktion des Zuschauers zu provozieren. Wenn nämlich daraufhin Anna Janneke betont, dass sie Mi‐ randas Perspektive versteht, und dabei keine Aufsicht vorhanden ist (K 01: 12: 21), dann spielen Kamera, Kommissarin und Mirandas kindliche Perspek‐ tive zusammen. Die Mehrdeutigkeit des Kamerastandpunktes erhöht die Komplexität und vermeidet das Fällen eines endgültigen Urteils. Butler verbindet nun gerade Verurteilung und fehlende Anerkennung: 5.1 Chiastisch-antithetische Familienkonstellation und fehlende familiale Positionalität 195 <?page no="196"?> 34 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 65. 35 Die Unterscheidung zwischen »narrationalen Analepsen« und figurengebundenen »Erinnerungssequenzen« geht auf Kuhn zurück, siehe also Kuhn: Filmnarratologie., S. 289-292. »Somit dient uns die Verurteilung dazu, den Anderen zum Nichtanerkennbaren zu machen« 34 Die durch die Mehrdeutigkeit des Kamerastandpunktes bewirkte Vermeidung einer Verurteilung Mirandas kann als filmische Strategie betrachtet werden, die eine Anerkennung Mirandas durch die Zuschauer_innen fördert. Miranda er‐ fährt auch dadurch erzählerische Anerkennung, dass - als sie bereits tot ist, ein Leben lang rhetorisch getötet und zuletzt physisch durch eine Polizeikugel - ihre Stimme erneut zu hören ist. Es ist Mirandas Stimme, die überlebt: »Ich wollte klingeln und ihr sagen, wer ich bin. Sie in die Arme schließen, aber dann hab ich Angst bekommen. Sie hatte ihr eigenes Leben, eine eigene Familie. Hab ich da noch Platz? Wie reagiert sie auf mich? Warum hat sie mich weggegeben? Ist meine Mutter ein guter Mensch? Bin ich gut genug für sie? « (K 01: 23: 29). Strukturell handelt es sich dabei um eine Wiederholung bereits gesagter Worte (K 00: 45: 50). Zum ersten Mal sind die Worte hörbar, als Miranda Brix und Jan‐ neke über ihre Nachforschungen analeptisch informiert, nachdem die leibliche Verwandtschaft diegetisch aufgedeckt wurde. Es erweist sich als ein nicht zu unterschätzendes Strukturmerkmal, dass vor dem Teilsatz »eine eigene Familie« (K 00: 46: 01) wieder in die diegetische Rede überführt wird. Miranda als Tochter kann nicht viabel in die Ebene Lydias wechseln. Damit korrespondiert bei‐ spielsweise auch, dass in der Metadiegese Lydia und Miranda nicht gemeinsam eindeutig erkennbar wären (K 00: 45: 40). Insgesamt wird durch die unmögliche Erkennbarkeit von Mutter und Tochter in der Metadiegese und den (raschen) Ebenenwechsel der unerreichbare Eigenanteil Lydias in ihrer Position als Mi‐ randas Mutter veranschaulicht, denn in ihrer Position als Mutter der Kinder, die Miranda betreut, ist eine gemeinsame Begegnung möglich. Mirandas Stimme am Ende fungiert - so meine These - als hörenswerte Stimme verworfener (Adoptiv)Kinder, denen keine familiale Position zukam. Ferner ist ihre Erzählung eine sehenswerte. Dafür spricht auch das vollständige Fehlen von figurenungebundenen Rückwendungen (»narrationalen Ana‐ lepsen«) zugunsten von an Miranda gebundene »Erinnerungssequenzen« 35 . Damit ist mitnichten gemeint, dass empathisch für Miranda Partei ergriffen würde (gegen eine solche Parteinahme spricht auch das fast völlige Fehlen von 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 196 <?page no="197"?> 36 Zum Begriff »point of view shot«, ibid., S. 140-141. point of view shots 36 ). Kurz vor der (narrativierten) mörderischen Bluttat wird aus einer Aufsicht (K 01: 18: 12) metaleptisch ihre planmäßige Durchtriebenheit fokussiert, die sich auch in ihren bewussten Lügen, ihrer bestimmten Anwei‐ sung an Anna Janneke, der Entführung Jules und dem Schuss auf Janneke zeigt. Mirandas Stimme ist in erster Linie sehenswert und hörenswert. Der bespro‐ chene Tatort ist in einer Gesamtsicht ein Medium, das viele Problemhorizonte als Problemhorizonte verhandelt. Als problemorientiertes Echo ist der Umgang mit Wissen / Unwissen und richtig-leiblicher Mutterschaft anzitiert, wobei leib‐ liche Verwandtschaft von Miranda als inkommensurabel erfahren wird. Es lässt sich gerade kein Fazit formulieren: Weder lassen sich generalisierbare Aussagen über soziale Elternschaft noch über biologisch-leibliche Verwandt‐ schaft machen. Jeder schlussfolgernde Gestus ist filminhärent ausgekurbelt. 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität Grundlage des folgenden Abschnitts ist der Erstlingsroman Lasse (2015) von Verena F. Hasel. In diesem Roman geht es um Kindstötung. Die Protagonistin Nina tötet ihr Baby. Die Diskrepanz zwischen mütterlicher Wunschvorstellung und ›Realität‹ zeigt sich in der Namensgebung des Sohnes, der ursprünglich Lasse heißen sollte, jedoch aufgrund der Abweichung vom erwünschten Ver‐ halten in Felix umbenannt wird. Bevor nun der Roman Lasse analysiert wird, erfolgt ein beispielorientierter Einstieg in die Thematik der Kindstötung. Die der Aufklärung von Straftaten gewidmete Reihe Aktenzeichen XY ungelöst thematisiert die Inkommensurabi‐ lität von Kindstötung. Was in der dokumentarischen Darstellung auffällt, ist das sicherlich auch genrebedingte Fehlen jedweden Kontextes. Die Absenz eines Kontextes ist dadurch zu erklären, dass die Kindstötung an sich noch nicht auf‐ geklärt ist. Daneben erscheint allerdings auch in der kommentierenden Dar‐ stellung die Kindsmörderin an sich als Monster. Die Dokumentation betrachtet Kindstötung als nicht weiter erklärungsbedürftige Grausamkeit. In dem Spiel‐ film So viele Jahre liebe ich dich hingegen wird ein Problemhorizont entfaltet, der die Gewissheit hinterfragt, dass die Kindsmörderin - im Kontext betrachtet - ausschließlich böse ist. 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 197 <?page no="198"?> 37 Ausgestrahlt wurde der Beitrag als visuelle Inszenierung in der Juli-Sendung 2015 auf ZDF, Nr. 496. Insgesamt wurde der Fall schon einmal verbal (nicht visuell) in der Sep‐ tember-Sendung 2014 thematisiert. Das erneute Aufgreifen kann als Indiz dafür be‐ trachtet werden, dass dieser Fall gesamtgesellschaftlich relevante Fragen aufwirft. 38 Harbort, Stephan: Vorspann I: Mörderinnen - von der Gattenbis zur Serientötung, in: Lee, Hyunseon und Queipo, Isabel Maurer (Hrsg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Vergehen, Bielefeld 2013, S. 17-38, hier: S. 22-23. 39 Mauerer: Medeas Erbe, S. 27. 40 Lee, Hyunseon und Queipo, Isabel Maurer: Einleitung, in: Lee, Hyunseon und Queipo, Isabel Maurer: (Hrsg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weib‐ licher Vergehen, Bielefeld 2013, S. 11-16, hier: S. 11. Die dokumentarische Inszenierung einer realen Kindstötung im August 2014 auf einem Rastplatz im Landkreis Vechta bei Aktenzeichen XY ungelöst 37 (Deutschland 1967-, Securitel. Film + Fernsehproduktions- und Verlagsgesell‐ schaft; TV ( ZDF )), könnte nicht eindringlicher arrangiert sein. Die Darstellerin, die als Polizistin agiert, ringt deutlich um Worte. Stephan Harbort konturiert die vollends inkommensurable Tat der Kindstötung innerhalb eines antithetischen Bezugssystems: »Es vergeht mittlerweile keine Woche, in der nicht über den Fund einer Babyleiche berichtet oder eine ganze Serie von Kindestötungen aufgedeckt wird. Jedes Mal sind Entsetzen und Empörung besonders groß, verständlicherweise, berechtigterweise. Die Vorstellung, dass die Mutter, der man sein Leben verdankt, dieses auch böswillig aus‐ löschen kann, dass sie sich an wimmernden und wehrlosen kleinen Menschenwesen vergreift und qualvoll tötet, widerspricht unseren Erwartungen und unserer Lebens‐ erfahrung so deutlich und erschüttert unser mütterliches Urvertrauen so heftig, dass das Bedürfnis nach Aufklärung besonders groß ist.« 38 Die im Zitat artikulierte düster-negative Exzeptionalität der Kindstötung, jenes »entsetzlichen Ereignisses« (00: 14: 49) (so der Moderator bei Aktenzeichen) ma‐ nifestiert sich auch im Interview des reellen Ermittlers, der diesbezüglich von einer herausgehobenen Ermittlungsarbeit spricht: »Als Polizeibeamte sind wir natürlich bemüht, jeden Fall, jede Straftat zu klären, diese aber natürlich ganz besonders« (00: 15: 19). Letztlich ist es unvorstellbar, dass eine Mutter ihr Kind tötet 39 . Weibliche Ver‐ brechen werden als Normverletzungen im ethischen, juristischen oder huma‐ nitären Sinn wahrgenommen und vor allem als solche gegen Gendernormen 40 . Im Film So viele Jahre liebe ich dich (Il y a longtemps que je t’aime, Frankreich 2008, Regie: Claudel Philippe, UGC YM ; DVD ) wird allerdings ein Wahrneh‐ mungshorizont einer Kindstötung offeriert, nicht aufgedrängt, der zeigt, dass 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 198 <?page no="199"?> 41 Preußer, Heinz-Peter: Heroinen, Giftmischerinnen und verzweifelt Liebende. Eine kleine Typologie mordender Frauen in Literatur und Film von der Antike bis zur Ge‐ genwart, in: Lee und Queipo: Mörderinnen, S. 51-88, hier: S. 62. Ich verweise darauf, dass Preußer sich hier nicht auf die Figur Juliette bezieht. Ich wende seine typologischen Überlegungen also auf den Film So viele Jahre liebe ich dich an. 42 Preußer: Eine kleine Typologie mordender Frauen, S. 62. die »Frau als Mutter […] nur scheinbar die gesellschaftlichen Konventionen [verlässt], wenn sie tötet.« 41 Juliette, die nach ihrer Haft mehrfach dafür ver‐ worfen und erniedrigt wird, hat - so bietet es der Film an - ihren Sohn aufgrund einer unheilbaren Krankheit getötet, um Leid zu verhindern. »Sie tut es für ihr Kind« 42 , sie leidet, wird verworfen und erniedrigt um ihres Kindes willen. In‐ wieweit in So viele Jahre liebe ich dich tradierte Mutterideale konstruiert oder dekonstruiert werden, lässt sich nicht endgültig auf der Objektebene beant‐ worten. Der Kindsmord wird jedoch durch und in einem derartigen Wahrneh‐ mungshorizont verrückbar. Während in So viele Jahre liebe ich dich die Tat in der diegetischen Vergangenheit spielt und erst sukzessive diese und deren Hin‐ tergründe aufgeklärt werden, erfolgt im Roman Lasse die Kindstötung präsen‐ tisch am Ende. Kindstötung ist im Roman Lasse in ein Konfliktfeld eingebettet. Welche Konflikthorizonte werden aber nun arrangiert? Die Studentin Nina wird von Lennart, mit dem sie keine Beziehung hat, schwanger. Lennart ist von Anfang an gegen das Kind, er organisiert eine Ab‐ treibung, die jedoch nicht zustande kommt. Eindringlich und unbehaglich wird gegen Ende des Romans die Kindstötung inszeniert: »Ich bin am Ende, total am Ende, verstehst du, bin mutterseelenallein in diesem Haus und höre Tag für Tag nur dein Gebrüll, höre es manchmal sogar dann, wenn du gar nicht schreist, die ganze Zeit brüllt es in meinem Kopf. Nie, nie, nie habe ich mir ein Leben mit Kind so vorgestellt, so nicht, niemals. Und weißt du was? Noch nicht mal dein Vater will dich haben, verstehst du, was das bedeutet? Dein Vater will dich nicht haben, und ich will dich auch nicht, ich habe einen Fehler gemacht, einen schreckli‐ chen Fehler, aber soll ich nun ewig dafür büßen? Ich habe es satt, hörst du mich, ich habe es so satt! Ich mache das nicht mehr mit! Jetzt ist Schluss, hörst du, jetzt ist Schluss! « (L S. 190) »Und Felix’ Kopf fliegt vor und zurück, als würde eine Gummipuppe Headbanging machen« (L S. 190). So ist es vollends verständlich, dass die Rezensentin Teresa Bücker nach ihrer Lektüre des Romans »benommen« und »überrumpelt« zurückbleibt: »Die Er‐ 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 199 <?page no="200"?> 43 Bücker, Teresa: Wenn Mütter ihre Kinder umbringen, in: https: / / editionf.com/ lasse-roman-verena-hasel-kindstoetung (zuletzt aufgerufen am 25. 04. 2016). 44 Stephan, Inge: Medea. Multimediale Karriere eine mythologischen Figur, Köln u. a 2006, S. 73. 45 Ibid. 46 Correll, Lena: Anrufungen zur Mutterschaft, S. 158-159. Siehe auch ihren Aufsatz: Cor‐ rell, Lena: »Es ruft nichts nach mir«. Frauen ohne Kinder und der gesellschaftspolitische Ruf nach Elternschaft, in: Villa, Paula-Irene und Thiessen, Barbara (Hrsg.): Mütter - Väter: Diskurse, Medien, Praxen, Münster 2009, S. 259-274. zählung lässt mich benommen zurück, ich fühle mich von ›Lasse‹ überrum‐ pelt« 43 . Medienkulturgeschichtlich wird mit Nina auch die Figur der Medea aufge‐ rufen, allerdings im Roman Lasse bar jeder Antikisierung, Mythologisierung oder vordergründigen Traditionalisierung des Inhalts. In der Rezeptionsgeschichte Medeas wurde die blutige Rache verschieden interpretiert, beispielsweise als wahnhafte Verkennung von Tätern und Opfern, schmerzhafte Selbstschädigung oder als heroische Tat, durch die Medea die von ihr erfahrenen Demütigungen rächt 44 . In der Frauenbewegung nach 1968 wird Medea zur Ikone der Emanzipation, den postkolonialen Bewegungen der Ge‐ genwart erscheint sie als Vorbild im Befreiungskampf 45 . Wenn ich im Folgenden von Medea spreche, dann fokussiere ich - sofern nicht anders vermerkt - nicht auf eine konkrete Ausgestaltung des Medea-Stoffs, sondern eher auf medienkulturgeschichtlich tradierte Facetten der Medea-Figurationen. Lena Correll zeigt in ihrer Dissertation Anrufungen zur Mutterschaft, wobei Anrufung im Sinne Althussers gedacht wird, die persistente Verzahnung von Frausein und Muttersein und fasst ihre These wie folgt zusammen: »Frauen werden im familienpolitischen Diskurs durchgehend zur biologischen Mut‐ terschaft aufgerufen und die vorherrschende Subjektposition bleibt die Frau = Mutter […] Durch den bevölkerungspolitischen Fokus der Familienpolitik während der letzten Dekade verschärfen sich die Anrufungen zur Mutterschaft.« 46 Neben einer Gleichsetzung von biologischer Mütterlichkeit und Weiblichkeit spitzen sich Correll zufolge jüngst die Anrufungen zur Mutterschaft zu. Ich werde zeigen, dass die Kindstötung in dem Roman Lasse ein Reflexionsfeld eröffnet, welches weibliche Intelligibilität der Gegenwart problematisiert. Der 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 200 <?page no="201"?> 47 Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang, dass Inge Stephan mit dem Terminus »Chiffre« gerade im Zusammenhang mit Medea-Rezeptionen des 20. Jahrhunderts ar‐ beitet. So fungiert Medea beispielsweise als Chiffre für misslungene ›jüdische Assimi‐ lation‹ in Deutschland (S. 174) oder als Chiffre in den Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern (S. 176), siehe dazu Stephan: Medea. Ich betrachte dagegen - nicht figuren-, sondern tatbezogen - die Kindstötung als Chiffre. 48 Kneuper betrachtet Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett als Initiationsritual, Kneuper: Mutterwerden, S. 175. 49 So ist dem Glossar von Villas Einführung zu Judith Butler zu entnehmen: »Mit Intelli‐ gibilität ist bei Butler das gemeint, was sozial sinnvoll, verstehbar, (über-)lebensfähig ist. Das, was intelligibel ist, ist sozial anerkennbar und anerkennungswürdig«, S. 173. Kindsmord in diesem Werk ist eine Chiffre 47 des Scheiterns einer weiblichen Intelligibilität, die ausschließlich verengt-abhängig ist. Ninas Identität ist inso‐ fern verengt-abhängig, als erst qua Schwangerschaft eine intelligible (nicht minder prekäre) Position eingenommen werden kann: »und auch die Frauen blicken zum ersten Mal in meinem Leben mit Wohlwollen auf mich. Selbst die Bäckersfrau, die sonst nur das Nötigste mit mir geredet hat, wünscht mir jetzt immer einen schönen Tag, so als sei ich kraft meines Bauches aufgenommen in ihre Welt« (L S. 43). Schwangerschaft erscheint als wertvolles Initiationsritual 48 . Sozial anerkennbar, anerkennungswürdig, intelligibel 49 ist Nina nur mit Bauch respektive Baby. So deutet gerade auch die mit der Schwangerschaft sich verändernde erotische Wirkung auf die Bauarbeiter eine Steigerung im Ansehen bzw. eine Verschie‐ bung im Status an: »und seitdem die vielen Bauarbeiter hier in der Gegend sehen, dass mein Körper nicht bloß zum Sex was taugt, sondern auch Leben schenken kann, stoßen sie, wenn ich vorbeilaufe, nicht mehr gellende Pfiffe aus, sondern schauen ehrerbietig und ein wenig scheu« (L S. 43). Nina steigt sozial auf vom sexuellen, sexualisierten und objektivierten Körper zum ehrwürdigen (allerdings nicht weniger objektivierten) Körper, der repro‐ duziert, der Leben schenkt. Es zeigt sich also im Roman ein diskursives Feld, welches weibliche Intelligibilität verengt-abhängig an Schwangerschaft bindet, an Zwei-Einheit. Wie instabil und prekär allerdings der soziale Aufstieg ist, zeigt sich bereits 60 Seiten später. Nina ist (mit eigenem Zutun) wieder sexualisiertes Objekt: »beuge mich aber, als ich Felix in den Wagen lege, so weit runter, dass der Bauarbeiter mir zumindest in den Ausschnitt gucken kann. ›Mannomann, nochmal Baby sein, das 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 201 <?page no="202"?> 50 Kneuper: Mutterwerden, S. 266. 51 Sander, Julia C.: Zuschauer des Lebens. Subjektivitätsentwürfe in der deutschspra‐ chigen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2015; die Autorin hält fest: »In den untersuchten literarischen Texten werden Perspektiven einer relationalen Subjektivität angedeutet oder entworfen, die grundsätzlich eingebunden und zugleich distanziert ist, der aber, in aller Ambivalenz, Möglichkeiten einer gelingenderen Verbundenheit eingeschrieben sind«, S. 309. wär’s doch‹, sagt er, und ich streichele Felix’ Wange, so dass er noch ein bisschen länger gucken kann, und das muss dann Dank genug sein« (L S. 106). Entsprechend schwindet auch mit Felix’ Älterwerden das Interesse der anderen Mütter an Nina (L S. 123). So ist mit Kneuper davon auszugehen, dass Muttersein in Deutschland eine Schwächung der Position bedeutet 50 . Daneben - so meine Annahme - wird im Roman ein Modell der weiblichen Selbstkommunikation und Selbstwahrnehmung problematisierend angeboten, das die verengt-abhängige Intelligibilität als Bedingung auch der Selbstanerken‐ nung vollends internalisiert hat. Die dargebotene Abhängigkeit ist dabei der konfliktär-verengte, exklusivierte Partitiv stets vorhandener Relationalität - wie unter anderem Judith Butler und Emmanuel Lévinas gezeigt haben. Julia C. Sander hat beispielsweise jüngst herausgearbeitet, wie relationale Sub‐ jektivität in literarischen Texten der Gegenwart verhandelt wird 51 . Zusammenfassend kann gesagt werden, dass einerseits verengte Fremdwahr‐ nehmungen - der sozialen Anerkennung wert ist Nina nur während ihrer Schwangerschaft - und andererseits verengte Selbstwahrnehmung - anerken‐ nungswürdig erscheint sich Nina selbst nur in Abhängigkeit - problematisiert werden. Nina versteht sich ausschließlich in Abhängigkeit zu Lennart. Erst in dieser exzeptionellen Abhängigkeit verleiht sich Nina einen Wert. Nur in Verbindung mit Lennart schreitet Nina aktiv durchs Leben. Der Kindsmord stellt in der von mir vorgeschlagenen Lesart genau die Chiffre des Scheiterns jener weiblichen Intelligibilität dar, die verengt-abhängig ist. Um die These zu plausibilisieren, werde ich herausarbeiten, wie und ob der Kindsmord motiviert wird, wie die Kindsmörderin Nina identitär, familiär und personell gezeichnet wird. Daneben charakterisiere ich die (Paar)Dynamik zwischen Lennart, dem Vater des Kindes, und Nina. Fokussiert wird ferner auch auf die Darstellung von Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft sowie auf deren Einbettung in die jeweiligen Biogra‐ phien. Nina begegnet Lennart erstmals im Krankenhaus, wobei Nina als Patientin und Lennart als Arzt agiert. In relativ hohem Tempo werden auf den ersten Seiten elliptisch und intern fokalisiert zentrale Themen angerissen. Sexualität 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 202 <?page no="203"?> 52 Ott: Dividuationen. 53 Zur Beziehung zwischen Puck und Lennart siehe L S. 23-26. 54 Zwischendurch schimmert auch einmal der Wunsch nach dualer Gemeinsamkeit mit Puck durch: »und für einen Moment stelle ich mir vor, wie wir zusammen fortgehen und Felix gemeinsam großziehen«, L S. 135. und Schmerz (L S. 5), Ninas Antriebslosigkeit als Studierende (L S. 5), Diskrepanz zwischen kognitivem Wunsch und ›Realität‹ (L S. 8), Sehnsucht nach erwiderter Liebe (L S. 14), dissonante Einschätzung der (Paar)Dynamik und infantile Re‐ gression (L S. 17-18). Berücksichtigt man die ersten Sätze und stellt die wenigen Handlungsmo‐ mente in einen interpretativen Zusammenhang, dann lässt sich erkennen, dass die schöne Studentin Nina als eine adoleszente Figur mit unterschiedlichen Sehnsüchten inszeniert wird, wobei durchaus schon konfliktäre Momente in Bezug auf interpersonelle Bindungen erkennbar sind. Gefühle und Bindungs‐ wünsche sind von Anfang an nicht reziprok. Während sich Nina eine gemein‐ same Zukunft kognitiv ausdenkt, fehlen vergleichbare Entwürfe und Wünsche bei Lennart. Nina erscheint als Figur, deren körperliche Grenze für Lennart buchstäblich durchlässig ist. In einem allgemeinen Sinn ist Nina eine »Dividuation« 52 . Zur Konfiguration Ninas gehören die medial-technischen (E-Mail-Schriftverkehr), topogra‐ fisch-räumlichen (die Lotte: Name des Hauses, in dem Nina mit ihren Freund_innen lebt) und jugendkulturellen Teilhaben / Dividuationen (L S. 8-12). Neben den zeitgenössischen Dividuationen erscheint auch Ninas konsti‐ tutiv-prekäre Abhängigkeit: »Er [Lennart, M. P.] kann auf eine Weise allein sein, wie ich es nicht vermag« (L S. 21). Nina fetischisiert und hymnisiert alle mit Lennart verbundenen Objekte, was umso tragischer erscheint, als Lennart keine verbindenden Medien mit Nina, sondern mit seiner Ex-Freundin Puck 53 besitzt (L S. 21-22). Im Laufe des Romans wird die (grenzmäßige) Konstituierung von Ninas Iden‐ tität immer prekärer: »Ich bin nicht mehr dicht, ich laufe aus, und zugleich dringt alles ungehindert in mich ein, das Schreien der Kinder auf der Straße, der Lärm der Bagger und Betonmischer auf unserem Hof« (L S. 101). Je stärker die Sehnsucht nach Lennart 54 wird, desto ›offener‹ wird Nina für Be‐ züge, die negativ-gewaltvoll und mit Schmerzen verbunden sind. Erneut werden Sexualität und Schmerzen gekoppelt: »Es wird zwar weh tun, aber es wird auch etwas bedeuten« (L S. 126). In zugegebenermaßen freier Reminiszenz erscheint in Lasse jenes Medea-Motiv der Bindung / Verbindung / Konnexion, das deutlich 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 203 <?page no="204"?> 55 Eichelmann, Sabine: Der Mythos Medea. Sein Weg durch das kulturelle Gedächtnis zu uns, Marburg 2010, S. 47, ebenso: »Das Motiv der Kette und des Bindens durch Knoten taucht in Klingers Medea unablässig auf«, ibid., S. 52. 56 Klinger, Friedrich M.: Medea in Korinth, in: Klinger, Friedrich M.: Medea in Korinth. Medea auf dem Kaukasos. Aristodymos. Historisch-kritische Gesamtausgabe 7. He‐ rausgegeben von Hartmann, Karl-Heinz; Profitlich, Ulrich; Schulte, Michael; Berlin und Boston 2012, S. 7-89, hier: S. 48. Inge Stephan verweist auf den mittelalterlichen Text Liet von Troye von Herbort von Fritzlâr (um 1195), in dem Jason der Geliebten öffentlich unter den Rock greift und Medea in eine Verwirrung stürzt, »in der die Unterschei‐ dungen zwischen ihrem Selbst und dem Geliebten verschwimmen«, Stephan: Medea, S. 105. Zu Herbort siehe auch Sieber, Andrea: »Medea-Morphosen«: Zur mittelalterli‐ chen Rezeption einer antiken Figur, in: Kasten, Ingrid und Sieber, Andrea (Hrsg.): En‐ comia-deutsch. Sonderheft 2 der deutschen Sektion der ICLS, Berlin 2002, S. 143-157. Sieber stellt dabei die Frage: »Wird hier nicht ironisch durchgespielt, wie stark Liebe die menschliche Identitätswahrnehmung stören kann? «, S. 156. in Friedrich M. Klingers Medea in Korinth (1786) vorhanden ist. Sobald das dünne Band, das sie mit den Menschen teilte, zerrissen ist, wird Medea zur rächenden Zauberin 55 . Die Klingersche Medea beschwört regelrecht die Bindung zu ihren Kindern. Jedoch erscheint diese - in Abhängigkeit zu Jason - als Gegenmittel zur Rache: »Laß mich mit ihnen fliehen! mit ihnen in eine Höhle kriechen! Laß mich hier einsam mit ihnen verborgen leben! Die süßen Knaben sollen die Rache besiegen, die ich fühle, da du Kreusa zu deinem Weibe machst. Sie sey dein Weib, nur nicht meiner Kinder Mutter! Mit ihrem unschuldigen Geschwätze sollen sie alle empörende, giftige Ge‐ danken niederlallen. Die Gluth der Eifersucht mit ihren Blicken kühlen! Die Allmacht Medeens durch ihre Liebe feßeln! Zerstöhre den Bund nicht ganz, den ich durch dich mit den Menschen machte! « 56 Wie die Klingersche Medea - allerdings im zeitgenössischen Kontext - hängt auch Nina am seidenen Faden, den sie mit Lennart geknüpft hat. Von diesem heißt es jedoch: »Von Lennart gibt es keine Nachricht. Keinen Anruf. Nichts« (L S. 28). Nina wartet nicht nur vier Stunden auf Lennart im Hausflur, sondern sie hofft auch vergeblich darauf, mit ihm gemeinsam zur Geburtstagsfeier seiner Mutter zu reisen. Nach diesen einseitigen Bindungsangeboten, die Lennart im Keim er‐ stickt (»Aber Nina, wir sind doch auch nicht …« (L S. 30)), eskaliert die Situation erstmals. Nina artikuliert sich in Medea-Manier - Zornausbrüche, die als Vor‐ boten des Verbrechens gedeutet werden können - und verliert die Beherrschung (L S. 31). Erneut begehrt Nina einen Platz in Lennarts Leben: 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 204 <?page no="205"?> »Ich möchte zu Lennart, zumindest zu ihm nach Hause, möchte an seinem Tisch sitzen, will auf sein Klo gehen und in seinem Bett liegen. So dringend will ich in seine Woh‐ nung […] dann schlüpfe ich unter Lennarts Bettdecke, als gehörte ich dorthin« (L S. 34). Ninas ›Ich‹ geht rhetorisch in Lennart als Possessivum über. Wie wird nun Schwangerschaft bzw. diagnostizierte Schwangerschaft dar‐ gestellt? Der Ultraschall fungiert als Medium der (intensivierten) Kontaktauf‐ nahme, als Medium der Verbindung von Embryo und Mutter, als Medium der visualisierten Zwei-Einheit: »›Schauen Sie da besser nicht hin, wenn Sie abtreiben wollen‹, sagt der Arzt, und ich sehe trotzdem hin, erkenne aber kaum was, außer einem Fädchen, das zappelt, als ertrinke es gleich. Später entschuldigt sich der Arzt für seine Bemerkung. Er habe ja nicht gewusst, sagt er, er habe nur gedacht, schließlich hätte ich geweint. Ich weine noch immer, als er das sagt. ›Vor Freude‹, murmele ich« (L S. 35). In der folgenden Textpassage zeigt sich bereits die prekäre, verengt-abhängige Subjektivierung Ninas. Letztere, Lennart und das Embryo sind in ein komplexes Bindungsverhältnis verwoben, welches markiert, dass Ninas Selbstanerken‐ nung, Selbstkommunikation und grenzmäßige Konstitution stets verengt, in diesem Beispiel über die Schwangerschaft, codiert ist. Obwohl vom Arzt die anfänglichen Gefahren beschrieben werden, trotzt Nina (entgegen ihrer bishe‐ rigen Charakterisierung durch eher passive Züge) diesen und strotzt regelrecht vor Entschlossenheit und Selbstbewusstsein: »Es könne noch viel passieren, sagt er dann, gerade in diesen ersten Wochen, es sei ja alles noch ganz frisch, aber ich bin fest entschlossen, dass nichts passieren wird und ich alles richtig machen werde« (L S. 35). Die Schwangerschaft verschiebt allerdings in der intrakorporalen Verbindung nur scheinbar die Sehnsucht nach Lennart: »Im Buchladen kaufe ich mir ›Das glücklichste Kind der Welt‹ und in der Apotheke Vitaminpräparate und dabei habe ich die ganze Zeit das Handy aus, überhaupt kann ich es nun häufiger ausschalten, ich muss ja nicht mehr darauf warten, dass Lennart sich meldet, muss nicht mehr fürchten, dass ich nie wieder von ihm höre, muss nicht mehr überlegen, wie ich ihm einen Grund geben könnte, es noch einmal mit mir zu versuchen. Von nun an braucht er einen guten Grund, um es nicht [sic! ] tun« (L S. 35). Selbstwahrnehmung und Selbstsorge (Einnahme von Vitaminpräparaten) sind bei Nina an ihre Schwangerschaft gebunden. Ninas Selbstakzeptanz ist durch‐ wegs verengt und in Abhängigkeit zur Schwangerschaft gezeichnet. Die kom‐ 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 205 <?page no="206"?> 57 Stephan: Medea, S. 47. munizierte Zweierbeziehung mit Lennart (»mein Mann«), wie sie in einem Ge‐ spräch durch die Verwendung eines Possessivartikels und einer sprecherbezogenen Personaldeixis im Plural (»wir«) greifbar wird, ist schlichtweg eine Farce. Angesichts der Tatsache, dass Lennart von der Schwan‐ gerschaft noch nicht in Kenntnis gesetzt ist und zudem mit Puck liiert ist, handelt es sich dabei um eine ›realitätsferne‹ mentale Wunschvorstellung: »Sage ihr, dass mein Mann und ich übereingekommen sind, dass ich den Bugaboo zwar mal Probe fahren werde, wir aber am Ende wahrscheinlich doch einen anderen Wagen nehmen« (L S. 36). Repetitiv erscheint der Wunsch nach Gemeinsamkeit: »und immer habe ich mich gefragt, ob mir eines Tages auch mal jemand folgen würde« (L S. 41). Nina wird regelrecht neu geboren, wenn sie an die Verbindung mit Lennart denkt: »Und vielleicht ist es jetzt endlich so weit. Lennart kommt mir auf die Straße nach, Lennart läuft mir hinterher, Lennart ruft meinen Namen. Und wenn er das tut, dann kann noch alles mögliche andere passieren, dann kann es sogar sein, dass ich bald nicht mehr die ewige alte Nina bin, sondern eine neue - die, die Lennart ›meine Freundin‹ nennt« (L S. 41). Als Lennart von Abtreibung spricht, wird Nina zur zornigen Medea: »und ich schreie, bis mir Speichelfetzen aus dem Mund fliegen« (L S. 42). Die Medea des Mythos und auch Nina sind alles andere als gefühllos und kaltherzig. Medeas Mord mag geplant gewesen sein, was ihm aber an Empfindungen vorausging, ist alles andere als kaltherzig. Nina / Medea ist vielmehr eine Frau, die mit ihrem Kind stark emotional verkapselt ist. Nina will das Kind: »mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm hinterherzurennen und das, was ich eigent‐ lich ihm zugedacht hatte, selbst zu sagen: nämlich dass ich es nicht übers Herz bringe, abzutreiben und das Kind bekommen will« (L S. 50). Medea / Nina verkörpert entgegengesetzte emotionale Möglichkeiten 57 . Wie bereits mehrfach thematisiert, wird Nina erst qua Schwangerschaft zum sich selbst anerkennenden und von anderen anerkannten »Körper von Ge‐ wicht« (Butler): »Ich bin in diesen Wochen mehr als ich jemals zuvor war, denn in mir drinnen ist eine geheime Macht wirksam« (L S. 51). 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 206 <?page no="207"?> 58 Siehe zu Medeas ›Ortlosigkeit‹ auch Stephan: Medea, S. 241. Schwangerschaft als Medium der Selbstinitiation überwindet nur scheinbar (denkt man an die oben zitierte Passage kurz vor der Kindstötung, in der aus‐ drücklich das Wort »mutterseelenallein« (L S. 190) gebraucht wird) den sozialen Status des Alleinseins: »alle sind mir egal, denn da unterm Herzen, wo sonst diese Leere aufklaffte, dieses Sehnen, bin ich nun bewohnt. Bin nie mehr allein, in keiner Nacht, und genieße die Müdigkeit und die innere Schwere, genieße es, dass meine Füße anschwellen und ich ein Gewicht vor dem Körper habe, das mich fest auf den Boden stellt, genieße es auch, dass ich mit einem Mal so viel zu tun habe und mein Stundenplan in diesen Wochen und Monaten voller als zu Studienzeiten ist« (L S. 57). Nina wird als fürsorgliche und informierte Mutter gezeichnet, die beispielweise eine Rassel aus Holz (statt aus Plastik) für ihren Sohn besorgt (L S. 59-60). Nina ist durch und durch medial vorbereitet oder konditioniert: »Besonders wichtig, so steht es in meinen Büchern, ist die Geburt. Sie bestimmt übers Lebensgefühl des Kindes, gibt Vertrauen oder zerstört es« (L S. 60). Die Geburtsvorbereitung wird zum Wettbewerb: »Schon jetzt mache ich die Entspannungsübungen besser als all die anderen, und meinen Lasse werde ich im Wasser gebären, ganz ohne PDA oder sonstige Betäubung, und die ganze Geburt wird eine wunderschöne und unvergessliche Erfahrung sein« (L S. 60-61). Geburt wird zum Echtheitserlebnis stilisiert, zur Beglaubigung von Individua‐ lität, obwohl (oder gerade weil) sie medial vermittelt ist: »Mit Musik, hatte ich im Klinikprospekt gelesen, könne man jedem Geburtserlebnis eine besondere Note geben, und das Wort Geburtserlebnis, das klang so schön, nach Aufregung und Glück, nach Erlebnis eben, und ich dachte, ich würde dabei bestimmt ganz euphorisch sein und alles so gut machen, dass man danach noch lange von mir reden würde« (L S. 69). Letztlich erweisen sich alle Wunschvorstellungen als Kompensationen der ei‐ genen Bindungs- und Ortlosigkeit - wobei Letztere nicht untypisch für Medea ist 58 -, denn gerade kurz vor der Geburt wird die Ortlosigkeit Ninas sicht- und fühlbar: »Einen sicheren Ort habe ich nie gefunden, und auch jetzt fällt mir keiner ein« (L S. 64); »Nur ich laufe, ich stehe, ich beuge mich allein, ich gehe zurück in mein Zimmer und heule« (L S. 66). 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 207 <?page no="208"?> 59 Butler: Haß spricht, S. 46-47. Im Roman wird ein diskursives Feld entworfen, indem Nina erst durch ihre Schwangerschaft intelligibel wird. So ist sie beispielsweise vom Eintrittsgeld in ein Schwimmbad befreit: »Die Frau am Einlass schüttelt den Kopf, als ich be‐ zahlen will, und winkt mich so durch. ›Alles Gute‹, ruft sie mir hinterher« (L S. 61). Nina ist sichtbar und wird im Schwimmbad angeredet: »Im Gras liege ich dann neben zwei älteren Frauen, die Sonne sengt vom Himmel, ich schlage ›Das glücklichste Kind der Welt‹ auf, Kapitel ›Das Urvertrauen‹, die zwei Frauen reden über die Mückenplage in diesem Sommer, dann wenden sie sich mir zu. Wann es denn so weit ist, fragt die eine, in vier Wochen würde sie schätzen? ›Eine Woche noch‹, korrigiere ich sie« (L S. 61). Im Roman werden immer wieder Anredeszenen inszeniert, in denen sich weib‐ liche Intelligibilität qua Schwangerschaft konstituiert. Diese entsprechen dem Muster, welches Butler in Anlehnung an Althusser herausgearbeitet hat: »In der berühmten Anrufungsszene, die Althusser anführt, ruft ein Polizist einem Passanten ›Hallo, Sie da! ‹ zu. Der Passant, der sich selbst wiedererkennt und sich umwendet, um auf den Ruf zu antworten - d. h. fast jeder -, existiert im strengen Sinne nicht vor diesem Ruf. […] Indem der Passant sich umwendet, erhält er eine bestimmte Identität, die sozusagen um den Preis der Schuld erkauft ist. Der Akt der Anerkennung wird zu einem Akt der Konstitution; die Anrede ruft das Subjekt ins Leben.« 59 Die selbstanerkennende Konstitution Ninas wird bereits während der Geburt prekär. Selbstzweifel und Todesgedanken durchziehen den inneren Monolog: »Und angenommen, ich sterbe jetzt, was passiert dann? Werden sie ein Loch in meinen Bauch machen und Lasse endlich rausholen? Und wird Lennart ihn dann zu sich nehmen und gemeinsam mit Puck großziehen, wenn er herausge‐ schält ist aus dieser Hülle, die offenbar so wenig taugt? « (L S. 70) Die postnatale Phase ist geprägt von zwei bedeutenden Verwechslungsme‐ taphern. Kot und Kind geraten durcheinander (L S. 71) und schließlich entsteht auch Ninas Verdacht einer Verwechslung des Kindes: »Und sobald mir klarwird [sic! ], dass auch hier so ein Irrtum vorliegt, tut mir das Kind, das neben mir liegt, mit einem Mal furchtbar leid. Es kann ja nichts dafür, dass es nicht sonderlich süß ist, wahrscheinlich fühlt es sich mit mir genauso fremd wie ich [sic! ] mit ihm, bestimmt will es möglichst schnell zu seiner Mama, und genauso wird es auch meinem Baby gehen, und bei dem Gedanken an den kleinen Lasse, der irgendwo 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 208 <?page no="209"?> 60 Zur Rolle der Blicke in Boccaccios und Grillparzers Medea-Rezeption, siehe Stephan: Medea, S. 105-108. in diesem Krankenhaus bei einer anderen Frau liegt und sich nach mir sehnt, zieht sich mein Bauch zusammen« (L S. 73). Ihre fremden und anderen, ihre unbotmäßigen Gefühle werden als Folge einer Verwechslung interpretiert. Das Kind, das bei Nina liegt, wird nicht als eigenes und somit teilhabeberechtigt begriffen. Das gesellschaftlich normale »Bonding« (L S. 73) passiert nicht. Die Differenz zwischen kognitiver Wunschvorstellung und ›Realität‹ manifestiert sich in der veränderten Namensgebung. Bezeich‐ nungspraxis fungiert hier als Zeichen der Dissonanz, denn der vorgesehene Name (Lasse) wird zugunsten eines anderen Namens (Felix-Otto (L S. 77)) auf‐ gegeben, der sich in Lennarts Genealogie einschreibt. Otto ist der Name des Vaters von Lennart. Immer wieder schimmert das Einsamkeitsmotiv durch. Der Topos des Alleinseins (L S. 79-80, S. 81, S. 82) und der Wunsch nach Gemein‐ schaftlichkeit ergänzen sich wechselseitig. Bereits kurz nach der Geburt, Nina ist alleine, zeigt sich das Scheitern der Zwei-Einheit: »doch da ist kein Versinken in den Augen des anderen, kein Überschwappen und kein Einswerden, stattdessen mustert er [das Baby, M. P.] mich so skeptisch« (L S. 84). Insgesamt sind die Augen, der Blick und das wechselseitige Anblicken als Me‐ dium der wechselseitigen Verzahnung, der interpersonellen Verbindung, der reziproken Vergewisserung und Subjektivierung unterminiert: »als habe er [das Baby, M. P.] sich ganz bewusst entschieden, mich nicht mehr anzu‐ schauen« (L S. 84). Nina weicht dem Blick des Kindes geradezu aus: »Schon wieder dieser eindringlich forschende Blick, der auf jeden Fall nicht vom Besten ausgeht, und ich schaue schnell weg« (L S. 84) In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Nina kurz nach dem Tod ihres Sohnes einen Blickschutz arrangiert: »stattdessen liegt er nun auf einer alten Picknickdecke, und drum herum habe ich Kissen gelegt, wie einen Schutz‐ wall« (L S. 191 60 ). Konstitutiv werden der Wunsch nach Beziehungsmäßigkeit und dessen Per‐ siflage vermittelt: »Einmal, als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich mir zu Weihnachten ein Küken gewünscht. Ich hatte gehört, dass Küken das erste Wesen, das sie sehen, für 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 209 <?page no="210"?> 61 Wiese, Annegret: Mütter, die töten. Psychoanalytische Erkenntnis und forensische Wahrheit, München 1993, S. 110. Siehe dazu auch: Bücker: Wenn Mütter ihre Kinder umbringen. 62 Ott: Dividuationen, S. 19. 63 Bezeichnenderweise meldet sich noch eine andere Frau zu Wort, die vermittelt, dass aktuellen Studien zufolge keine Lebensmittel verboten sind, L S. 94. ihre Mama halten, und so stellte ich mir voller Sehnsucht vor, wie ich die Mama von einer flauschigen tschilpenden Kugel wäre, denn es gibt doch nichts Schöneres als jemanden, von dem du weißt, dass er zu dir gehört und du zu ihm und nichts und niemand auf der Welt euch trennen kann. Doch leider habe ich so ein Küken nie bekommen« (L S. 85). Im Bild des Kükens und seiner fürsorgenden Mutter zeigt sich der Wille und Wunsch Ninas, eine gute Mutter zu sein: »Trotzdem habe ich noch oft daran gedacht, wie es wäre, so ein Küken zu haben, das mir überallhin folgen würde, selbst auf die Straße, und manchmal, wenn es mir nicht schnell genug hinterher käme, flehentlich piepsen würde, woraufhin ich natürlich sofort zu ihm zurückkehren und es hochnehmen würde, denn ich wäre ja eine gute Mutter, und unter meinen Fingern würde ich das Pochen seines Herzens spüren« (L S. 85). In diesem Sinn konstatiert auch Wiese, dass »die Mutter, die ihre Kinder tötet, sehr oft lieber eine gute Mutter sein [möchte]«, und »erst die Unmöglichkeit, diesen Wunsch zu erfüllen, läßt sie letztlich ihr Kind töten. Das Kind wird dann aus Liebe getötet.« 61 Nina partizipiert am »Märtyrerinnenmodell« und opfert sich auf: »denn wenn es um mein Kind geht, bin ich zu jedem Opfer bereit« (L S. 94). Wenn Nina kraft Mutterschaft gesehen wird, teilhat und Aufmerksamkeit erfährt, dann zeigt sich darin eine ambivalente Logik, die auch in Kontrolle umschlagen kann. Teil‐ habe - so Ott - ist ambivalent, sie verschafft gewünschte Verbindungen, Wis‐ senstransfer, Allianz und Präsenz an anderen Orten, allerdings auch bio- und sozio(techno)logische Zwangsvereinnahmungen und ungewünschte Präsenz Anderer 62 . So ermahnt eine Mutter Nina, während der Schwangerschaft auf fri‐ sche Säfte zu verzichten 63 (L S. 93). Während nun alle Frauen Nina mustern und beobachten, wird in Ninas Monolog der gewaltvolle und internalisierte Kon‐ trollmechanismus erkennbar: »Wie gern würde ich ihnen sagen, dass ich das natürlich weiß und nur für einen Moment vergessen habe, wie gern würde ich ihnen versichern, dass ich mich in der 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 210 <?page no="211"?> 64 Bücker: Wenn Mütter ihre Kinder umbringen. 65 Eine Ausnahme stellen Tag 2 und Tag 3 nach der Begegnung mit Puck dar. In dieser Zeit kommt es zu einem gesteigerten Aktionspotenzial Ninas, L S. 139. Schwangerschaft immer ganz genau daran gehalten habe, was man essen darf und was nicht« (L S. 93-94). Wie gewaltvoll und physisch vernichtend eine derartige Anklage sein kann, zeigt sich in den User-Kommentaren der Netzmamas (L S. 184-185), die Ninas Isolation verstärken 64 . Die zweite Hälfte des Buches ist geprägt von kognitiven Episoden, in denen der Wunsch nach Beziehungsmäßigkeit Ninas Selbstakzeptanz unterläuft: »Nach Hause kommen, das könnte auch schön sein. Falls eine Jacke am Haken hinge, die nicht von mir ist, ein Fenster auf wäre, das vorher geschlossen war« (L S. 105); »denn da draußen sind sie überall zu zweit, sitzen zu zweit mit ihren Babys im Café, schieben sie zu zweit durch die Straßen« 65 (L S. 131). Sogar all‐ tägliches Handeln ist nur mehr möglich in Abhängigkeit von Lennart. Erst als kognitiv der Entschluss steht, Lennart in seiner Vorlesung zu besuchen, putzt Nina die Wohnung und geht einkaufen (L S. 106, ebenso S. 127). Die Beziehung zu Felix ist ohne Bezug zu Lennart widersprüchlich: »dass ich zwar ein Kind, aber nicht die passenden Gefühle dazu habe, und dass es mir deshalb so eine Angst macht, ohne Lennart zu sein, so eine schreckliche Angst, vor mir und vor Felix, uns beiden zusammen und miteinander allein [Hervorhe‐ bung M. P.]« (L S. 109). Parasitär und transgressiv inkorporiert sich Nina in Lennart: »Und ich schaue mit und versuche, Felix mit Lennarts Augen zu sehen, und tatsächlich sieht er ganz niedlich aus, wie er so daliegt, die schwarzen Haare, die leicht geöffneten Lippen, die kleinen Hände, ausnahmsweise mal nicht zu Krallen geformt« (L S. 112). Metaphorisch kann man »mit den Augen eines anderen Menschen« sehen, und letztlich deutet sich darin der Versuch einer identischen Wahrnehmung an. Al‐ lerdings sind die gesteigerte Abhängigkeit Ninas und die daran gekoppelte ge‐ fühlsmäßige Beobachtung des eigenen Kindes - so zeigt es die weitere Hand‐ lung - prekär und tödlich. Dass Nina an Lennart hängt, wird buchstäblich inszeniert: »ich kann gar nichts sagen, seitdem Lennart dieses Wort gesagt hat, getrennt, denn das hieße ja, dass er nicht zurückkommt, aber das kann er nicht ernst meinen, wir haben doch miteinander geschlafen, wir sind doch jetzt Vater, Mutter und Kind, und 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 211 <?page no="212"?> 66 Stephan: Medea, S. 148. das sage ich ihm auch und muss ihn festhalten dafür. ›Lass los‹, sagt er, aber ich hänge mich mit aller Kraft an seinen Arm« (L S. 128). Für Lennart sind Nina und das Baby eine schmerzliche physische und psychische Belastung (L S. 107). Vaterschaft ist für Lennart potenziell losgelöst von leib‐ lich-biologischer Verwandtschaft. Leiblich-biologische Verwandtschaft, repro‐ duktive Zeugung führt für ihn nicht automatisch zu Vaterschaft: »ich lasse mich nicht zum Vater dieses Kindes machen, ich bekomme meine Kinder mit Puck, und wenn wir adoptieren müssen« (L S. 134). Liebe und darin eingekapselt emotionale Bereitschaft codieren hingegen echte, freiwillige Elternschaft, die als partitiv-possessiv (»meine Kinder«) zu charak‐ terisieren ist. Repetitiv taucht das Moment der fehlenden Grenzkonturierung Ninas auf. Nina ist parasitär eingenommen, regelrecht unterworfen und vereinnahmt: »dass es sowieso schon schlimm ist und dann alles noch schlimmer wird und andere Menschen tun und lassen können, was sie wollen, selbst in meinem Kopf« (L S. 153-154). Identitäre Momente sind in der Biographie Ninas von Anfang an ausgehöhlt. Besonders augenfällig ist die fehlende elterliche Präsenz (Selbstmord der Mutter, Absenz des Vaters (L S. 154-155)), wobei daran zu denken ist, dass auch Medea in der Rezeption zur Identifikationsfigur des von seiner Mutter verlassenen Mädchens wurde 66 . In Lasse verschränken sich in der Analogie zwischen Schwimmen und Run‐ dendrehen die prekäre töchterliche und mütterliche Position Ninas buchstäb‐ lich: »›Schscht‹, mache ich, ›schscht‹, laufe mit ihm [Felix / Lasse, M. P.] auf dem Arm um den Küchentisch und zähle dabei: einmal, zweimal, dreimal. Genauso habe ich früher im Schwimmbad meine Bahnen gezählt, dreißig Bahnen, dann wird sich meine Mutter beruhigt haben, sagte ich mir anfangs, doch schon bald erhöhte ich die Anzahl, weil es meist doch länger dauerte« (L S. 150). Selbstantrieb und Selbstaktivität sind storniert, nahezu ausgetrieben, und zwar in dem Moment, in dem jegliche Anrede unterbleibt. Nina existiert dann nicht mehr, und ihr Ich wird zum aufgeschobenen Konjunktiv: 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 212 <?page no="213"?> 67 Butler: Haß spricht, S. 47. »Ich kann mich ebenso wenig rühren wie er [Felix / Lasse, M. P.], kann an diesem leeren, langen Tag nur hinter den dunklen Planen liegen und mir vorstellen, was ich täte, wenn ich eine andere wäre« (L S. 155). Die Leere speist sich also daraus, dass Nina von niemandem angeredet wird. Im Zuge der zunehmenden Unsichtbarkeit und Reduzierung Ninas (»Felix wird immer mehr und ich jeden Tag weniger« (L S. 166)) weitet sich ihre Sehnsucht nach Beziehungsmäßigkeit aus und löst sich von Lennart als Referenz: »und wie dann jemand hereinkäme, nicht unbedingt Lennart, nur irgendeiner, der nicht ich ist, eine zweite Kraft in diesem Leben« (L S. 155). Ausgelöst respektive motiviert wird die Katastrophe, die Kindstötung - so meine These - durch die Kombination einer fehlenden Anrede und einer ge‐ waltvollen Anrede. Beides vernichtet. Wenn »die Anrede […] das Subjekt ins Leben [ruft]« 67 , dann bewirkt fehlende Anrede das Gegenteil, nämlich rhetorische Tötung. Aufgehoben sind im Roman verschiedene Anreden. Unterbrochen ist die gesellschaftlich-soziale Anrede Ninas: »Und vielleicht passiert es genau aus diesem Gefühl heraus und weil ich für einen Moment nicht aufpasse, sondern mich entspanne, dass ich auf ihre [eine Frau im Café, M. P.] Frage aus Versehen die Wahrheit sage - nämlich dass es bei mir so war, dass Lennart ganz entsetzt war und unbedingt wollte, dass ich abtreibe. Danach rühren alle noch eine Weile in ihren Tassen und loben den Kuchen, aber aufessen tun sie ihn trotzdem nicht, sondern wollen lieber schnell nach Hause. Ich versichere ihnen, dass inzwischen alles anders und Lennart ein begeisterter Vater geworden ist, aber auch das hilft nichts, an einem Tisch mit dem Unglück will keiner sitzen« (L S. 164). Ebenso unterbleibt die gewünschte sicherheitsstiftende Anrede: »In der Ferne suche ich das Krankenhaus, in dem Felix geboren wurde. Es ist der letzte Ort, an dem ich mit ihm nicht allein war, und liegt sicher wie eine Festung in der Nacht. Ich zähle die Fenster ab, siebter Stock, drittes Fenster rechts von der Treppe, dort lag ich, dort brennt jetzt das Licht, und ich wünschte, ich könnte tauschen mit der Frau, die jetzt da ist« (L S. 166). Beendet wird auch die situativ-solidarische Anrede unter vordergründig Gleich‐ gesinnten (»Club der Mütter«): »Ich glaube, es ist besser, wenn du auch morgen nicht kommst« (L S. 168). 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 213 <?page no="214"?> Das wohl am schmerzlichsten erfahrene Fehlen speist sich aus der abgespro‐ chenen emotional-familialen Anrede (auch von Lennarts Mutter): »Schicken Sie mir ein Bild von ihm. Aber rufen Sie bitte nie wieder an« (L S. 188). Nina verflüssigt sich physisch (L S. 170) und wird in einem sozialen Netzwerk vernichtend angeredet, nachdem sie dort in einem Forum für Mütter ihre Ab‐ neigung gegenüber ihrem Sohn öffentlich kommuniziert hat: »Immer mehr von ihnen kommentieren meinen Beitrag, Steff_auf_dem_Lande [Nick‐ name einer Teilnehmerin am Chat, M. P.] sagt, ich sei nicht nur kaltherzig, sondern auch noch zutiefst undankbar […] und Albertinchen [ibid.] schreibt, wenn sie so etwas wie mein Posting lese, glaube sie, man müsse ernsthaft darüber nachdenken, einen Eltern-TÜV einzuführen, und die Smileys, die die Netzmamas hinter ihre Antworten setzen, lächeln und hüpfen nicht wie sonst in diesem Forum, sondern schütteln ihre Köpfe und heben die Zeigefinger« (L S. 185). Als alle Anreden wegfallen oder gewaltvoll codiert sind, sucht Nina den Abstand zu ihrem Sohn: »Wir gehen uns jetzt ein bisschen aus dem Weg, er und ich. Ein bisschen Abstand. Das tut uns gut« (L S. 191). Zu diesem Zeitpunkt ist Felix allerdings schon tot und der nun vorhandene kognitive Wunsch des Neuanfangs irreversibel verunmöglicht: »So ist es gut. So brauchen wir das jetzt. Und wenn etwas Zeit vergangen ist, können wir noch einmal neu anfangen« (L S. 191). Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass die Kombination einer fehlenden Anrede und einer gewaltförmigen Anrede die Kindstötung im Roman Lasse bedingen. Verunmöglicht ist ein Neuanfang auch deshalb, weil eine tolerante, freundliche, respektvolle und anerkennende Anrede und damit Subjekt-Konstitution, also Intelligibilität zu spät kommt. Nachdem Nina das unsensible Verhalten eines Vaters gegenüber seinem Sohn durchaus mit Autorität und öffentlich kritisiert hat, erfährt sie eine respektvolle und anerkennende Anrede von einer jungen Frau: »Danach kam eine Frau auf mich zu, ungefähr in meinem Alter, und sagte, wie toll sie es finde, dass ich diesem Mann die Meinung gesagt hätte, sie habe das Gleiche gedacht, aber hätte sich niemals getraut, es laut zu sagen« (L S. 193). Die Kindstötung, die im Roman im Konfliktfeld fehlender / gewaltvoller Anrede situiert wird, ist eine Chiffre des Scheiterns weiblicher Intelligibilität in der Ge‐ genwart, die sich als verengt-abhängig erweist. Ganz bewusst habe ich in freier medienkulturgeschichtlicher Assoziation von Nina als Medea gesprochen, denn ein vordergründiges Verweisungsverhältnis 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 214 <?page no="215"?> 68 Anouilh, Jean: Medea, in: Schondorff, Joachim (Hrsg.): Medea. Euripides, Seneca, Cor‐ neille, Cherubini, Grillparzer, Jahnn, Anouilh, Jeffers, Braun, München und Wien 1963, S. 319-346, hier: S. 324. 69 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982, S. 25. 70 Siehe also Tesmar, Ruth: Medea-Mythen, Berlin 1997. 71 Stephan: Medea, S. 260, die ganze Auseinandersetzung von Stephan mit den Werken Tesmars ibid. S. 259-265. scheint es nicht zu geben. Dennoch kann in Ninas Sehnsucht nach Beziehungs‐ mäßigkeit ein echoähnliches Strukturmerkmal ausgemacht werden, das einige explizite Bearbeitungen des Medea-Stoffs auszeichnet. In Jean Anouilhs Medea (1946) wird die verengte Beziehungsmäßigkeit Medeas gegen eine selbstbezo‐ gene und letztlich mordende Medea ausgespielt. So verkündet Medea: »Ich höre ihre Musik nicht mehr. Ich höre nur noch meinen Haß … Oh, welche Süße! … Was hat er aus mir gemacht, Amme, mit seinen großen, warmen Händen? Er mußte nur in den Palast meines Vaters gehen und sie auf mich legen. Zehn Jahre sind vorüber, und Jasons Hände lassen mich frei! Ich finde mich wieder. Habe ich geträumt? Ich bin es, Medea. Es ist nicht mehr die Frau, dem Geruch eines Mannes verfallen, nicht mehr die kauernde Hündin, die wartet. Schande! Unendliche Schande! Meine Wangen brennen, Amme. Den ganzen Tag wartete ich auf ihn, bereit, ihn in mir zu empfangen. Demütig erwartete ich ihn, mit meinem fiebernden Leib, der ihm gehörte. Ich konnte nichts als ihm gehorchen. Ich mußte lächeln und mich schmücken, um ihm zu gefallen, denn er verließ mich jeden Morgen, mein eigenes Ich mit sich tragend. Und jeden Abend war ich glücklich, als er kam und mich mir selbst zurückgab [Hervorhe‐ bungen M. P.].« 68 Der wiedererlangte selbstbezogene Ich-Zustand Medeas (»Ich finde mich wieder«, »Ich bin es, Medea«) konterkariert jene wartende Medea, die sich stets in Abhängigkeit zu Jason sieht, deren »eigenes Ich« bezüglich ist, so wie es Luhmann in Liebe als Passion formuliert: »Nicht Totalität, sondern Universalität des Bezuges wird erwartet im Sinne einer lau‐ fenden Mitbeachtung des Partners in allen Lebenslagen; man könnte auch sagen: einer laufenden Mitanreicherung des Informationsgehalts aller Kommunikation durch den ›für ihn‹-Aspekt.« 69 Inge Stephan setzt sich am Ende ihrer Monografie mit dem aus zwanzig Bildern bestehenden Zyklus Medea-Mythen 70 von Ruth Tesmar auseinander. Diese be‐ arbeitet den Medea-Stoff nicht figürlich und szenisch, sondern sie zitiert den Mythos abstrakt über Gegenstände, Zeichen und Farbmontagen 71 . Diese Bilder erinnern an »den Schmerz, die Angst, den Verlust und die Trennung, die Gewalt 5.2 Kindsmord als Chiffre des Scheiterns einer verengt-abhängigen Intelligibilität 215 <?page no="216"?> 72 Ibid., S. 260. und das Begehren und die Sehnsucht nach Vereinigung« 72 . Die Themenkom‐ plexe Verlust, Trennung, Bindung und Vereinigung stehen im Medea-Mythos wie im Roman Lasse gleichermaßen im Mittelpunkt. Dabei ist festzuhalten, dass letzteres Werk zeitgenössisch spezifisch in weiterem Sinn an der Medea-Rezep‐ tion teilhat - wenn auch in freier Reminiszenz. Dennoch besteht ein wesentli‐ cher Unterschied zwischen Medea und Nina hinsichtlich des Kindsmordmotivs. Medeas Tötung der Kinder fungiert überwiegend als Rache an Jason. Es handelt sich dabei um eine Vernichtung dessen, was von dem Verflossenen ein Teil von ihr geworden ist. Ninas Tötung des Kindes ist keine Rache an Lennart, sondern die Vernichtung des von Lennart nicht gewollten Teils. Es ist die nachträgliche Vollstreckung seines Abtreibungswunsches. Wenn denn Kindsmord - insbe‐ sondere derjenige der Medea - überhaupt als »Befreiung« gesehen werden kann, muss eine solche Lesart hier scheitern. Denn noch in diesem Akt erweist sich Nina als restlos abhängig von Lennart. Zusammenfassung Die zentrale Frage lautete: Welche Konfliktfelder und Konfliktkontexte werden medienkulturell im Zusammenhang mit Familienbildung und Familienzusam‐ mensetzung angeboten? Anhand der Tatort-Episode Kälter als der Tod konnten familiale Problemho‐ rizonte als Problemhorizonte diskutiert werden. Da sich hinsichtlich dieses Films keine endgültigen Aussagen über soziale Elternschaft oder biologisch-leibliche Verwandtschaft machen lassen, wurde bewusst auf ein Fazit verzichtet. Familie erscheint als katastrophales Monster. Familiale Monstrosität speist sich aus Ausgrenzung und Entgrenzung, Gewalt, Idealität, Naturalisierung, Macht, Ver‐ schleierung und Maskerade, Verleumdung, Perfektion und Bürgerlichkeit. Im Hinblick auf Kälter als der Tod lässt sich zumindest festhalten, dass in dieser Episode sichtbar gemacht wird, wie fehlende familiale Positionalität tödlich enden kann. Unter Bezugnahme auf die Butlersche Lévinas-Lektüre konnte er‐ mittelt werden, dass auch die gemeinhin als populär geltende Tatort-Reihe zen‐ trale philosophisch-ethische Fragestellungen verhandelt. Auf unterschiedliche Weisen wird auf das ›Gesicht des Anderen‹ (Lévinas) emphatisch verwiesen und damit auf die Verletzlichkeit des Lebens. Medienkulturell zeigbar - nicht etwa in den Medien - sind Formen relationaler Abhängigkeit und Verletzlichkeit. 5. Familiendrama: Konfliktäre Familienkonstellationen in unserer Medienkultur 216 <?page no="217"?> Auf der Grundlage des Romans Lasse wurde ein Konfliktfeld diskutiert, in dem weibliche Intelligibilität verengt-abhängig ist. Die Identität der Protago‐ nistin ist insofern verengt-abhängig, als erst Schwangerschaft für eine intelli‐ gible (nicht minder prekäre) Position verantwortlich zeichnet. Der Roman ent‐ faltet eindrucksvoll das prekäre Zusammenspiel zwischen gesellschaftlich-diskursiven und subjektbezogenen Konfliktfeldern. Lasse bietet hinsichtlich der weiblichen Subjektkonstitution ein Modell der Selbstkommu‐ nikation und Selbstwahrnehmung problematisierend an, das die verengt-ab‐ hängige Intelligibilität auch als Bedingung der Selbstanerkennung gänzlich in‐ ternalisiert hat. Letztlich erweist sich der an bestimmte Medea-Stoffe anknüpfende Kindsmord im Roman als eine Chiffre des Scheiterns einer wei‐ blichen Intelligibilität, die ausschließlich verengt-abhängig ist. Betrachtet man nun mit Blick auf die oben gestellte Frage Kälter als der Tod und Lasse in einer Gesamtschau, dann lässt sich formulieren, dass prekäre, also machtförmige und gewaltvolle sowie einseitige und verengte familiale Abhängig‐ keiten als tödlich-katastrophal angeboten werden. Zusammenfassung 217 <?page no="218"?> 1 Zum Spiel als Vorstufe des Witzes siehe Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, S. 143-144. 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen: Du bist die Mutter, ich bin der Vater - Kind haben wir einfach keins! « Im April 2016 hörte ich auf einem Kinderspielplatz, wie ein ca. dreijähriger Junge ein älteres Mädchen (ca. 7 Jahre) dazu aufforderte, gemeinsam zu spielen. Der Junge schlug dem Mädchen folgendes Spiel vor: »Lass uns VaterMutterKind spielen: Du bist die Mutter, ich bin der Vater - Kind haben wir einfach keins! « Die anwesenden Eltern lachten daraufhin. Welche Elemente von Familialität werden in der Aufforderung des Jungen zum Ausdruck gebracht? Und was ist hingegen aus einer Erwachsenenperspektive an diesem Szenario zum Lachen? Für den Jungen scheint es eine distinkte familiale Einheit zu geben, und zwar bestehend aus einer Mutter, einem Vater und einem Kind. Unmittelbar evident ist für den Jungen, dass das Mädchen die Mutterrolle und er selber die Vaterrolle einzunehmen hat. Die wissenschaftlich proklamierte ›neue Unübersichtlich‐ keit‹ (Beck-Gernsheim) bei Fragen rund um Familialität findet sich in der Auf‐ forderung des Jungen nicht wieder. Das Mädchen ist eine potenzielle Mutter, und der Junge kann nur der potenzielle Vater sein. Mütterliche und väterliche Position sind geschlechtlich und eindeutig markiert. Bis hierhin könnte man sagen, dass der Junge gängige Stereotype im Umfeld von Familie reproduziert. Indem er buchstäblich zum Spiel auffordert, wird jedoch weiterhin erkennbar, dass die Muster des bekannten Familienlebens und -handelns bewusst nachge‐ ahmt werden. Es ist wohl die aktive Nachahmung von gängigen Handlungs‐ mustern, also das inszenatorische Spiel, das Spaß macht 1 . Es geht dem Jungen nicht darum, ein Vater zu sein, sondern die bekannte Rolle des Vaters als solche aufzuführen. Es ist davon auszugehen, dass der Junge bewusst in die Rolle des Vaters schlüpft. Somit kann geschlussfolgert werden, dass familiale Positionen der Gegenwart nicht beliebig zu besetzen sind. Nicht alles kann per se als fami‐ lial-distinkte Einheit betrachtet werden. Nicht jede_r kann unter allen Um‐ ständen jede familiale Position einnehmen. Jedoch ist eine an Voraussetzungen <?page no="219"?> 2 In diesem Sinne betont Freud gerade, dass innerhalb des Sozialisationsprozesses die Parameter Kritik und Vernünftigkeit dem Spiel ein Ende machen. Dieses wird als sinnlos oder widersinnig verworfen, ibid., S. 144. Die Kerntechnik des Witzes besteht folglich darin, das Wirken der Kritik zu verhindern: »Die dem Witz eigentümliche und ihm allein zukommende Technik besteht aber in seinem Verfahren, die Anwendung dieser lustbereitenden Mittel gegen den Einspruch der Kritik sicherzustellen, welcher die Lust aufheben würde«, ibid., S. 146. 3 Zum Witz in Form von Zweideutigkeit siehe ibid., S. 41. gebundene familiale Variabilität beobachtbar. Diese viable Variabilität zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die konkrete Umsetzung des Konzepts VaterMutterKind auf das Kind verzichten kann. Das Konzept VaterMutterKind funktioniert unter den Bedingungen eines Spiels und in der Perspektive des Jungen ohne den dritten Bestandteil, ohne das Kind. Die Relationalität zwischen weiblicher Mutter und männlichem Vater sowie das korrekte Einhalten der damit verbun‐ denen bekannten Handlungsmuster konstituieren das Konzept VaterMutter‐ Kind hinreichend und notwendig. In der Sichtweise des Jungen sind es also die zitierten Handlungsmuster, die das Konzept VaterMutterKind konfigurieren, und nicht die elementare Vollständigkeit (Mutter, Vater, Kind). Weshalb lachen nun die Eltern? Aus einer Erwachsenenperspektive erscheint es wohl nicht möglich, ein Konzept durchzuspielen, und dabei auf eines der zentralen Elemente zu verzichten. Der Junge begeht demnach einen logischen Irrtum 2 . Daneben ist wohl die Aufforderung des Jungen an das ältere Mädchen insofern erheiternd, als der Jüngere die Ältere auffordert, zumal entgegen kul‐ turellen Stereotypen der Junge (und nicht das Mädchen) zur spielerischen Fa‐ miliengründung auffordert. Daneben lässt sich auch festhalten, dass der Phra‐ seologismus ›Vater-Mutter-Kind spielen‹ aus einer Erwachsenenperspektive eine zweideutige 3 , ja sexuelle Konnotation enthält, die auf Sexualität ohne Ab‐ sicht zur Fortpflanzung rekurriert. Im Voraussetzungszusammenhang des Jungen bedeutet ›Vater-Mutter-Kind spielen‹ die aktive und variable Inszenie‐ rung respektive Nachahmung eines ihm bekannten Familienkonzepts. Dabei ist die unterschiedliche Reaktion des Jungen und der Erwachsenen interessant. Während die Erwachsenen über die Variabilität lachen, erscheint diese für den Jungen normal. Ich erinnere hier noch einmal an den Anfang der vorliegenden Arbeit, wo erwähnt wurde, dass die kleine Melanie ganz selbstverständlich die Salami in den Familienverbund aufgenommen hat, während die Eltern darüber (distanziert) lachten. Das Lachen in beiden Fällen ergibt sich aus dem Vergleich zwischen einem standardisierten Maßstab (hier: Vater-Mutter-Kind) und dessen komischer Abwandlung (VaterMutterKind - ohne Kind). Nach Freud kann »bei der Vergleichung der Kontraste sich eine Aufwanddifferenz heraus[stellen], welche, wenn sie keine andere Verwendung erfährt, abfuhrfähig und dadurch 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 219 <?page no="220"?> 4 Ibid., S. 215. 5 Ibid., S. 254-255. 6 Dreysse geht vom Modellcharakter der bürgerlichen Kleinfamilie aus. Obwohl eine Er‐ weiterung von Familialität beobachtet werden kann, »ist die bürgerliche Kleinfamilie nach wie vor das Modell, das zwar keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr bean‐ sprucht, aber an dem sich die Diskussionen um Familie ausrichten und die Politik sich orientiert, an dem sich reale Familien abarbeiten und andere Formen von Verwandt‐ schaft gemessen werden«, Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 12-13, beispielsweise auch ibid., S. 123. Lustquelle wird.« 4 Dem Jungen geht das Gefühl für diese Komik ab. Erst die Erziehung des Kindes bewirkt die Standardisierung von Mutter-Vater-Kind 5 , und damit die notwendige familiale Konstituierung aus Mutter, Vater und Kind. Was sich anhand dieser erneuten anekdotischen Passage zeigen lässt, ist die gleichzeitige Existenz von standardisierten Familienkonzepten und deren Vari‐ abilität 6 . Für den Jungen auf dem Spielplatz verweist ›VaterMutterKind spielen‹ auf ein Konzept, welches aus einer mütterlichen und väterlichen Position sowie einer Relationalität zwischen beiden besteht und offensichtlich eine bestimmte Qualität aufweist, die es nachzuahmen lohnt. Gleichzeitig ist die konkrete Um‐ setzung des Konzepts des Jungen variabel. Es lässt sich vermuten, dass die si‐ tuative Variabilität des Jungen sich aus pragmatischen Gründen speist. Da nur ein Mädchen und ein Junge auf dem Spielplatz sind, entfällt die dritte Position des Kindes einfach. Es lässt sich zusammenfassend formulieren, dass man über Familie nicht ohne Konzept sprechen kann. Um über Familialität sprechen zu können, muss ein Konzept bemüht werden. Konzeptuelle Variabilität ist aber möglich! Es kann nicht verschwiegen werden, dass der vorliegenden Arbeit wohl auch (unbewusst) ein Konzept von Familie zugrunde lag. Wenn ich nun rückblickend die eigene Arbeit auf eine solche grundlegende Familienkonzeption hinterfrage, dann taucht ganz basal die Komponente der abhebenden Beziehungsmäßigkeit auf. Familialität ist hier an eine distinkte Beziehung mindestens zweier, nicht näher bestimmter Teilnehmer_innen gebunden. Die Beziehungsmäßigkeit voll‐ zieht sich entgegen anderen Beziehungsmäßigkeiten (etwa Nachbarschaft, Kol‐ legium etc.), jedoch autokonstitutiv in Voraussetzungszusammenhängen. Nicht verschwiegen werden soll, dass jene familiale Beziehungsmäßigkeit in meiner Konzeption unterschiedliche Vorzeichen haben kann. Kurz: Wenn ich allgemein Assoziationen von Familialität zu einem Terminus verknüpfen müsste, dann wäre dieser: Familienbande. Familie konnotiert dann ein Gemeinsamkeit stif‐ 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 220 <?page no="221"?> 7 Exklusion und Selbstvergewisserung bedingen ja (wie eingangs im Rekurs auf das Zitat von Carolin Emcke erwähnt) die Nähe zu Termini wie etwa Volk und Nation. Zur Kon‐ stitution von Familie als geschlossener Einheit, die sich nach außen und gegenüber Andersartigkeit abgrenzt siehe auch Dreysse: Mutterschaft und Familie, beispielsweise S. 152 oder S. 335. 8 Siehe hierzu The Walking Dead: Am Abzug (00: 38: 32, Triggerfinger). Es handelt sich dabei um die neunte Folge der zweiten Staffel. Dieser Themenkomplex wird besonders ab 00: 37.29 verhandelt. 9 http: / / www.mumdadandkids.eu/ de (zuletzt aufgerufen am 01. 07. 2016). tendes Band, eine Abgrenzung zu anderen Beziehungsmäßigkeiten, aber auch ein Schuld- und Verbrechermotiv 7 . In welche Voraussetzungszusammenhänge ist der Phraseologismus ›Vater‐ MutterKind spielen‹ in unserer Medienkultur weiterhin eingebettet? »VaterMutterKind spielen« 8 hat für den Antagonisten Shane ( Jon Bernthal) aus der Serie The Walking Dead ( USA 2010-, AMC Film Holding; AMAZON VIDEO ) zwangsläufig einen unechten und pejorativen Charakter. In Shanes Voraussetzungszusammenhang erscheint dieses Spiel nicht nur vollends unan‐ gebracht, sondern wird geradezu zu einer tödlichen Kraft. ›VaterMutterKind spielen‹ bedeutet für Shane die gefühllose Instrumentalisierung eines vorgege‐ benen und idealistischen Konzepts, welches eher ein überkommenes Wunsch‐ denken darstellt als die überlebenswichtige Liebesbeziehung. Jene liebesorien‐ tierte Beziehungsmäßigkeit zeichnet sich entgegen der biologischen Einheit ›Vater, Mutter, Kind‹ durch andere Positionen aus. Das Kind ist einfach die jüngste Einheit, aus Vater und Mutter werden schlichtweg Mann und Frau, die einander begehren. Zusammen bilden sie erneut eine distinkte Einheit, die in der Sicht Shanes der überkommenen Einheit ›Vater, Mutter, Kind‹ qualitativ übergeordnet ist. Anhand dieser Episode aus The Walking Dead lässt sich erneut das Zusammen- und Auseinanderspiel von Konzept und abgewandelter Umset‐ zung erkennen. Eine andere Bedeutung des Phraseologismus ›Vater, Mutter, Kind‹ zeigt sich in der »Europäische[n] Bürgerinitiative zum Schutz von Ehe und Familie« 9 . ›Vater, Mutter, Kind‹ ist den Anhänger_innen dieser Initiative zufolge eine schützenswerte und heilige Einheit, die keine Variabilität zulässt: »Die Europäische Union braucht daher dringend eine klare und präzise Begriffsbe‐ stimmung von Ehe und Familie. Und selbstverständlich muss im Sinne der europä‐ ischen Einheit diese einheitliche Begriffsbestimmung das zum Ausgangspunkt nehmen, was auch heute noch nicht nur in allen Mitgliedstaaten, sondern der ganzen 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 221 <?page no="222"?> 10 http: / / www.mumdadandkids.eu/ de/ unsere-initiative (zuletzt aufgerufen am 01. 07. 2016). 11 Siehe hierzu Californication: Die Huren Babylons (00: 26: 33, The Whore of Babylon). Es handelt sich hierbei um die dritte Folge der ersten Staffel. Menschheit als Grundlage dient: die Einsicht in die Wirklichkeit, dass nur ein Mann und eine Frau zu gemeinsamer Elternschaft befähigt sind.« 10 Elternschaft ist in diesem Beispiel autokonstitutiv und normativ an Heterose‐ xualität und Einheitlichkeit gebunden. Diese eingeschränkt-reduzierte Form von Familialität als ›Vater, Mutter, Kind‹ ist heilsorientiert. Vehement und au‐ toritativ bekämpft werden andere Formen von Beziehungsmäßigkeit. Die Um‐ setzung muss das Konzept strukturäquivalent abbilden. Familie ist für den Protagonisten Hank Moody (David Duchovny) aus der Kultserie Californication ( USA 2007-2014, Showtime; DVD ) gerade exzeptio‐ nell-sinnliche Beziehungsmäßigkeit, ohne vertraglich reglementiert zu sein, wobei das Kind seine leibliche Tochter ist. Die besondere Beziehungsmäßigkeit, also familiale Identität, nimmt gerade im Kontrast zu beziehungsloser und ano‐ nymer Geschlechtlichkeit prägende Gestalt an: »Meine Familie [die Ex-Partnerin Karen und die leibliche Tochter Becca, M. P.] lebt ohne mich weiter, während ich in einem Meer nutzloser Muschis ersaufe.« 11 Die hier ausgeführten Beispiele (der Junge auf dem Spielplatz, die europäische Initiative, The Walking Dead und Californication) verdeutlichen erstens die un‐ terschiedliche Mehrfachcodierung des Phraseologismus ›Vater, Mutter, Kind‹. Zweitens ist allen Aushandlungen von Familienpolitik ein Konzept inhärent. Drittens konturiert sich die inhaltliche Ausgestaltung von ›Vater, Mutter, Kind‹ konstitutiv in Voraussetzungszusammenhängen und entgegen beziehungsmä‐ ßigen Antipoden. Während die Anhänger der europäischen Initiative nur eine bestimmte (reduzierte) Beziehungsmäßigkeit von Familialität zulassen und damit Reinigungsarbeit (Latour) betreiben, konfiguriert sich Familialität in den anderen Beispielen vermischter, jedoch auch entgegen anderen Formen von Be‐ ziehungsmäßigkeit. Es war das Anliegen der vorliegenden Arbeit, beispielorientiert Familialität der Gegenwart, verstanden als Familienpolitik im weiten Sinn, in ihren medi‐ enkulturellen und diskursiven Zusammenhängen zu problematisieren. Die zen‐ trale Frage der Untersuchung lautete: Welcherlei Familienpolitiken manifes‐ tieren sich in unserer gegenwärtigen Medienkultur? Ich habe zur Beantwortung der Leitfrage einen methodologischen Vorschlag erarbeitet. Der Vorschlag der mediensyntagmatischen Herangehensweise ba‐ 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 222 <?page no="223"?> siert auf der Annahme, dass familienpolitischer Diversität nur begegnet werden kann, indem funktional und antipräskriptiv vielfältige Medien berücksichtigt werden. Es war daher gerade nötig, eine weite, in Teilen unorthodoxe, stellen‐ weise anekdotische Objektebene heranzuziehen. Aufbauend auf diesem syste‐ matisch entgrenzenden Ansatz kann als Ergebnis der Arbeit festgehalten werden: • Wir leben gegenwärtig in einer familientechnologischen Gesundheits‐ melancholie. Angehende Mütter und Väter, die ich aufgrund ihres Dienstes an der geltenden Gesundheitsnorm und ihres autoritativen Ver‐ tretens dieser Norm als Gesundheitsminister_innen charakterisiert habe, verleugnen die konstitutive Verbindung zwischen Krankheit und Ge‐ sundheit. Dieser Verdrängungsprozess lässt sich aber nicht restlos auf‐ rechterhalten. Unsicherheit und Schuldgefühle kehren als unbotmäßige Reste wieder. Ich-Verarmung sowie narzisstische und schamlose Selbst-Thematisierungen sind ebenfalls Parameter der Gesundheitsme‐ lancholie. Trauer und Lachen können vorsichtig als subversive Formen der Unterbrechung der Gesundheitsmelancholie betrachtet werden (Ka‐ pitel 3). • »Familienpolitische Diversität ist im Zeitalter medizintechnologischer Bedingungen manifest! « Familiale Mehrdeutigkeit in unserer gegenwär‐ tigen Medienkultur ist bestenfalls tolerante Vielfalt und schlechtestenfalls Oxymorie. Damit wird gerade nicht (wieder) gesagt, dass Familialität eigentlich vielfältig ist. Was facettenreich dokumentiert wurde, ist viel‐ mehr, dass familienpolitische Vielfalt als solche sich in unserer Medien‐ kultur zeigt bzw. zeigbar ist (Kapitel 4). Neben Verweisen auf Vielfalt strukturieren aber auch eingrenzende Reduktionismen familienpolitische Handlungsmuster, die ebenso auffällig beobachtbar sind. Noch einmal soll darauf verwiesen werden, dass jene Verschränkungen sowie jene Reduk‐ tionismen (auch) in alltäglichen und / oder unorthodoxen Medienange‐ boten beobachtbar und daher medienkulturell zeigbar sind. Es geht also nicht (erneut) darum herauszufinden, was in Filmen, in Serien, im Theater oder in der Literatur gezeigt wird, sondern was medienkulturell zeigbar ist. Letzteres Ziel resultiert aus der methodologischen Verschränkung von Medienkulturwissenschaft mit diskursanalytischen Werkzeugen (Ka‐ pitel 2). Ausgehend von der hier entwickelten Methodologie wird dann auch nicht primär gesagt, dass ein Theaterstück »Gefährdetheit« zeigt, 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 223 <?page no="224"?> 12 Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 284. Die Autorin bezieht sich dabei auf Gar‐ denia. 13 Ibid. 14 Ibid., S. 286. 15 Zu Medienangeboten, die Voraussetzungszusammenhänge formulieren siehe Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 139. »indem die Verletzbarkeit des Einzelnen sichtbar gemacht wird« 12 ; oder dass es der Trauer Raum gibt 13 sowie dass »ein Zwischenraum ungesi‐ cherter Geschlechtsidentitäten angehalten und ins Zentrum der Auf‐ merksamkeit gerückt« 14 wird. Wie bereits einleitend angemerkt: Die hier zugrunde liegende Annahme einer konstitutiven Verschachtelung von Medien im weiten Sinn und Kultur als Medienkultur kann nicht auf einen Ansatz hinauslaufen, der sich mit der Untersuchung verschiedener Aus‐ handlungen »in den Medien« begnügt. Vielmehr geht es darum, heraus‐ zufinden, was medienkulturell zeigbar ist. Und medienkulturell zeigbar sind beispielsweise folgende Voraussetzungszusammenhänge 15 von Fami‐ lialität unter medizintechnologischen Bedingungen: Diversität; Hetero‐ genität; Diskursivität; Pluralität; Komplexität; Reduktion und Vermi‐ schung; Situativität; Historizität; Interpretativität; Vielfalt - bestenfalls Toleranz, schlechtestenfalls Oxymorie; konstitutive Beziehungsmäßig‐ keit, Verletzbarkeit und Abhängigkeit des Einzelnen sowie die Leugnung derselben. • Weiterhin kann angenommen werden, dass fehlende familiale Positiona‐ lität (Kapitel 5.1) und auf Reproduktion verengte weibliche Intelligibilität der Gegenwart (Kapitel 5.2) als katastrophal aushandelbar sind. Noch einmal pointiert: Die hier entwickelte Methodologie, die mediensyntag‐ matisch Observanzen von Gewicht in unserer Medienkultur analysiert, beruht auf dem Vorschlag, einem Interessensgegenstand, hier Familienpolitik der Ge‐ genwart, ausgehend von seinen disparaten Erscheinungen zu erfassen. Die Of‐ fenheit für disparate und unorthodoxe Manifestationen von Familienpolitik er‐ möglicht nun neue und andere Erkenntnisse derselben, inkludiert aber auch stets ein Moment des Sprudelns, das gerade eingedenk familialer Vielfalt nicht eingefriedet werden soll. Die Arbeit setzt sich damit einer Kritik aus, die vorab eine Festlegung auf bestimmte ›Orte‹ familienpolitischer Aushandlungen for‐ dert. Die vorliegende Untersuchung mag insofern »gewagt« erscheinen, als eine mehrdimensionale ›Sprunghaftigkeit‹ gerade intendiert wird. Durchweg ist die Arbeit durch Foucaults Charakterisierung des Intellektuellen geprägt: 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 224 <?page no="225"?> 16 Foucault, Michel: Nein zum König Sex. Gespräch mit Bernard-Henry Lévy, in: Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 176-198, hier: S. 198. 17 Siehe hierzu Mann: Das Erscheinen des Mediums. 18 Krämer: Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? , S. 20. 19 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 68. »Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universa‐ lien […], der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er morgen sein noch was er denken wird.« 16 Worin bestehen also der Mehrwert und die Innovation der vorliegenden Arbeit? Die Kopplung von Medienkulturwissenschaft und diskursanalytischen Werk‐ zeugen ist insofern fruchtbar, als aufbauend auf dieser Verschränkung heraus‐ gearbeitet worden ist, was familienpolitisch manifestabel ist. Im Rückgriff auf einen Medienbegriff, der davon ausgeht, dass Medien Dinge zur Anschauung bringen 17 und in der Annahme eines Mediensyntagmas, in dem disparate Medien gleichwertig betrachtetet werden, richtet sich das Hauptaugenmerk hier anti‐ präskriptiv auf familienpolitische Problematisierungen. Anders formuliert: Die erläuterte Methodologie fragt nach familialen Aushandlungen und betrachtet diese als Observanzen von Gewicht, die sui generis relevant sind. Gleichzeitig fragt sie nach den in ihnen präsenten Machtstrukturen, Hierarchien, Konflikt‐ feldern und Ausschlüssen. Im diskursanalytischen Rekurs auf Krämer 18 wurde im Methodologie-Kapitel zusammengefasst: Worauf es ankommt, zeigt sich, aber nicht als ontologische oder präskriptive Innerlichkeit. Das medial Bedeut‐ same stellt sich wie das diskursiv Bedeutsame aus, bei dem es nicht um »innere Konstitution« geht, sondern um »das, was ihm gestattet, in Erscheinung zu treten« 19 . Ich habe also in einer Kopplung von Medienkulturwissenschaft und diskursanalytischen Werkzeugen vorgeschlagen, jene familienpolitischen Aus‐ handlungen zu beobachten und zu problematisieren. Aus der antipräskriptiven Annahme von Observanzen von Gewicht ergibt sich insofern ein Erkenntnis‐ gewinn, als die Aufmerksamkeit sich auf das Erscheinen respektive auf die Zeigbarkeit von familienpolitischen Handlungsangeboten mitsamt ihren macht‐ förmigen Ausschlüssen konzentriert. Die Fokussierung auf die medial-diskur‐ sive Zeigbarkeit von bestimmten familialen Aushandlungen ist alles andere als selbstverständlich, wie ich im Folgenden ausführen werde. Nusser kritisiert in ihrer Arbeit »wie sonst das Zeugen Mode war«. Reproduk‐ tionstechnologien in Literatur und Film eine Inszenierung von Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil von Michael Thalheimer am Deutschen Theater Berlin (Premiere 2005). Sie moniert die »zu kurz greifende Analogisierung von alche‐ mistischer Herstellung des Homunkulus und gentechnischer Erschaffung des 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 225 <?page no="226"?> 20 Nusser: »wie sonst das Zeugen Mode war«, S. 105. 21 Ibid. 22 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 68. 23 Im Jahr 2014 wurden im Rahmen eines Faust II gewidmeten Sommerfestivals des Münchner Residenztheaters im Marstall sechs Faust-Inszenierungen aufgeführt. Ge‐ genstand meiner Analyse ist die Inszenierung Taken from real life. Eine Show. Im Fol‐ genden abgekürzt mit RL. 24 http: / / www.residenztheater.de/ inszenierung/ taken-real-life-eine-show (zuletzt aufge‐ rufen am 01. 07. 2016). Menschen« in der adaptiven Inszenierung von Michael Thalheimer 20 . Diese aus philologisch-hermeneutischer Perspektive sicherlich zutreffende Kritik an einer zu plakativen Aufrufung des Goetheschen Homunkulus im Hinblick auf »Men‐ schenzüchtungsprogramme«, »genetische Interventionen«, die »Vervollkomm‐ nung des Menschen« oder auf den »manipulativen Zugriff« 21 erscheint mir auf der Basis der hier zugrunde liegenden Methodologie eher reduktiv. Ausgehend von der Annahme, dass es nicht tiefenhermeneutisch um die »innere Konstitu‐ tion« eines diskursiv Bedeutsamen geht, sondern um »das, was ihm gestattet, in Erscheinung zu treten« 22 , frage ich nicht nach der inneren Rechtmäßigkeit der medialen Aufrufung der Goetheschen Homunkulus-Figur, sondern be‐ trachte die medial-diskursive Erscheinung schlichtweg als medienkulturell be‐ deutsam und daher als Observanz von Gewicht. Medienkulturell bedeutsam ist auch das Theaterstück Taken from real life. Eine Show 23 (Uraufführung 2014 Residenztheater München / Marsstall, Regie und Konzept: Gregor Turecek, Bühne: Maximilian Lindner, Kostüme: Johanna Hlawica, Choreographie: Johanna Richter, Dramaturgie: Christina Hommel und Götz Leineweber). Es handelt sich dabei um eine Adaption von Goethes Faust II . Tureceks Inszenierung dauert 40 Minuten und - so die Programmbe‐ schreibung des Theaters - thematisiert Fragen rund um die künstliche Erzeu‐ gung eines Menschen: »Die Figur des Homunculus aus dem 2. Akt in Goethes Faust II ist Ausgangspunkt einer Suche nach der Vermarktbarkeit des künstlich geschaffenen Menschen.« 24 Diese jüngere Inszenierung problematisiert also ausgehend von Goethes Faust II , insbesondere der Figur des Homunkulus, Fragen rund um Familialität im Zeitalter familientechnologischer Bedingungen. Zu Beginn der Inszenierung werden die Zuschauer_innen zunächst ein‐ drucksvoll mit einer anderen Folie konfrontiert. Neun Minuten lang singen und 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 226 <?page no="227"?> 25 Ibid. Nusser gibt einen zusammenfassenden und kritischen Überblick über die Betrach‐ tung der Figur des Homunkulus als Antizipation eines Retortenbabys und Vorläufer der In-vitro-Fertilisation sowie in Zusammenhang mit genetic engineering in der Goethe-Philologie. Die jeweiligen ursprünglichen Ausführungen, auf die Nusser ver‐ weist, können der entsprechenden Textpassage entnommen werden, siehe also Nusser: »wie sonst das Zeugen Mode war«, S. 102-106. 26 Zur Thematik der Grenzüberschreitung bei Goethes Faust siehe Schmidt, Jochen: Goe‐ thes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen - Werk - Wirkung, 3. Aufl. 2011, S. 58. Zu obsolet werdenden biologischen Grenzen durch die Reproduktionsmedizin siehe Diekämper: Reproduziertes Leben, S. 287. 27 Zu Fausts Widersprüchlichkeit siehe Schmidt: Goethes Faust, S. 160. 28 Ibid., S. 214. Zur Magie als Chiffre der Naturentfremdung und Naturbeherrschung ibid., S. 232-233. performen »[z]wei Kunstfiguren« 25 den Song Genie in a bottle (1999, Sängerin: Christina Aguilera, Texter_innen: Pam Sheyne; Steve Kipner; David Frank), der große Bekanntheit erlangte und nicht zuletzt zum großen Durchbruch Christina Aguileras führte. Der Song wird in unterschiedlichen Musikstilen (u. a. Pop, Soul, Operette, Swing, Hip-Hop, Rap) inszeniert. Worin besteht der Konnex zwischen Genie in a bottle, Goethes Faust II und den familientechnologischen Bedingungen? Tertium Comparationis zwischen Goethes Faust (I und II ) und den familien‐ technologischen Diskursen ist das Bestreben, gängige Grenzen zu über‐ schreiten 26 . Daneben sind beide Aushandlungen durch eine nicht aufzulösende »Widersprüchlichkeit« 27 gekennzeichnet. Natur und Technik stehen weiterhin in einem komplexen und antagonistischen Verhältnis. Für Faust II betont Schmidt ein Spannungsverhältnis zwischen Natur und Magie: »Im ganzen Faust II bildet die Natur als Inbegriff des Organischen einen wesentlichen Parameter. Alles, was ökonomisch, sozial, militärisch, kolonisatorisch, künstlerisch, wissenschaftlich geschieht, steht im Spannungsfeld von Natur und widernatürlicher ›Magie‹. Die Magie wird zur Chiffre eines manipulatorischen, geschichtlich ebenso unabweisbaren wie verhängnisvollen Verhaltens.« 28 Demnach wird also in Faust II ein Konfliktverhältnis zwischen Grundlegung »Natur« und Anti-Grundlegung »Wider-Natur« angeboten, wobei Letztere dem tendenziösen Vorwurf der verhängnisvollen Manipulation ausgeliefert ist. Ent‐ 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 227 <?page no="228"?> 29 Zur Ambivalenz individuellen Strebens und neuzeitlichen Fortschritts in Faust I und II siehe ibid., S. 215. Es verwundert daher nicht, dass Faust als Folie in biomedizinischen und technischen Auseinandersetzungen fungiert: »Der faustsche Wissensdrang scheint eine beliebte Vorlage für die kritischen und teilweise auch moralinsauren Auseinan‐ dersetzungen mit den Ambivalenzen der neuen biomedizinischen und - technischen Entwicklungen zu bilden, denn Fausts Frage danach, was die Welt in ihrem Inneren zusammenhält, führte gleichzeitig in Goethes Drama zum Gewahrwerden der Grenzen des eigenen Erkenntnisgewinns und auch der -möglichkeiten«, Nusser: Was verbindet Dolly mit Jesus? , S. 224, Fußnote 9. Nusser rekurriert dabei auf den Faustbezug von Leicht, Robert: Das Innerste ist unantastbar, in: Die Zeit 23 (2000), online einzusehen: http: / / www.zeit.de/ 2000/ 23/ 200023.embryonen_ethik_.xml (zuletzt aufgerufen am 07. 07. 2016). 30 Freud unterscheidet bei witzigen doppelsinnigen Ausdrücken zwischen »Zweideutig‐ keit« und »Doppelsinn mit Anspielung«. Letztere zeichnet sich gegenüber zweideu‐ tigen Arrangements dadurch aus, dass eine Bedeutung überwiegt, Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, S. 41-42. wicklung und Fortschritt zeichnen sich zudem durch Ambivalenzen aus 29 . Der familientechnologische komplex-antagonistische Verweisungszusammenhang im Umfeld von Natur und künstlicher Technologie wurde in der vorliegenden Arbeit etwa am Beispiel von Hypnobirthing illustriert. Durch welches Bindeglied ist innerhalb des Kontexts von Faust II und Medi‐ zintechnologie eine Verbindung zum Song Genie in a bottle möglich? Die erste Strophe lautet: »I feel like I’ve been locked up tight, for a century of lonely nights, waiting for someone to release me«. Das singende Ich fühlt sich, als wäre es ein Jahrhundert einsam eingesperrt gewesen, und wartet nun darauf, befreit zu werden. Was ist das für ein Ich? Und wie gestaltet sich die Befreiung? »I’m a genie in a bottle. You gotta rub me the right way«. Das Ich ist ein Flaschengeist, der befreit werden will, indem es auf die richtige Weise gerieben wird. Die sexuelle Konnotation ist nicht allzu schwer heraus‐ zulesen. Der Witz - wenn man denn überhaupt davon sprechen will - ergibt sich aus »dem Doppelsinn mit Anspielung« 30 . Das Ich wird befreit durch sexu‐ elle Penetration. To release in der Bedeutung öffnen ist dann durchwegs eine Metapher für Sex, wobei jene Befreiungsrhetorik seit Foucault auch hinlänglich bekannt ist. Worin besteht aber nun die Verbindung zu Goethes Faust II und zu familientechnologischen Bedingungen? Der Flaschengeist im Song lässt sich etwa mit In-vitro-Fertilisation, also mit jenen ›Reagenzglaskindern‹ assoziieren. Berücksichtigt man diesen Kontext, dann wirkt die Aufforderung zur sexuellen 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 228 <?page no="229"?> 31 Ibid., S. 135. Befreiung des einsamen Flaschengeists wie eine Kritik an der Technik der In-vitro-Fertilisation. Jene Kinder, die außerhalb des Körpers und nicht durch einen Sexualakt entstanden, also ›Flaschengeister‹ sind, fühlen sich einsam und eingeschlossen. Gleichzeitig wird diese Lesart ironisiert, indem der Song Genie in a Bottle grenzverwischt und in ironischer Abwandlung des Textes im Thea‐ terstück mit der Melodie des Schlagers Einen Stern, der deinen Namen trägt unterlegt wird. Es hat sich gezeigt, dass nach der Einpassung des Songs Genie in a bottle in den Schlager die Rezipient_innen laut gelacht haben. Wie lässt sich das Lachen erklären? Mit Freud ist davon auszugehen, dass das Wiederfinden von Bekanntem, hier dem Schlager, lustvoll ist 31 . Insbesondere werden durch die Einpassung des Songs in den Schlager die sexuellen Konnotationen (Reiben, Öffnen) desavouiert. Im Folgenden gebe ich einen Auszug aus Genie in a bottle und die Abwandlung im Modus des Schlagers wieder. Song von Christina Aguilera: »If you wanna be with me, baby there’s a price to pay. I’m a genie in a bottle, you gotta rub me the right way«. Abwandlung in den Schlager: »Wenn du mich willst, Schatz, musst du viel bezahlen, denn ich bin ein Flaschengeist, rubbel mich doch wach! Rubbel, rubbel, rubbel! (RL 00: 07: 39)« Etwas abstrahierend davon, kann somit geschlussfolgert werden, dass das The‐ aterstück Taken from real life einen familienpolitischen Problemhorizont im Umfeld von Medizintechnologie entfaltet. Konfiguriert ist ein Spannungsfeld zwischen Technologie und Natur. Die weibliche Figur (Genija Rykova) lobt ste‐ reotyp die Natur: »Ist das nicht unglaublich und fantastisch, wie die Natur alles so eingerichtet hat, dass du leben kannst? « (RL 00: 08: 36) Die männliche Figur ( Jens Atzorn) zollt stereotyp der Technologie Respekt, wobei - wohl als Hinweis auf (technologische) Globalisierung - in die englische Sprache gewechselt wird: »Sometimes a new technology comes along. It has the capability to transform how we view our world« (RL 00: 10: 37). 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 229 <?page no="230"?> 32 Schmidt: Goethes Faust, S. 231. 33 Zum Fortschritt der Widernatur in Faust II siehe ibid. 34 Zur Ambivalenz von Natur und Naturbeherrschung in Faust II ibid., S. 274-275. Zu‐ sammenfassend hält Schmidt fest: »Die Natur ist ambivalent, und der sich als Natur‐ beherrschung geltend machende Fortschritt ist es ebenfalls«, ibid., S. 275. 35 http: / / www.gregorturecek.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 09/ taken_kritik_sz_214_7_8.pdf (zuletzt aufgerufen am 06. 07. 2016). Wie in Faust II erfolgt auch in diesem Theaterstück die Hervorhebung der »An‐ tithese von Natur und Widernatur« 32 . Fortschritt wird durch die Widernatur bewirkt 33 . Das von Schmidt beschriebene Spannungsverhältnis zwischen Natur und Widernatur als Magie ist auch in Taken from real life. Eine Show integriert, indem die Ankunft von Homunkulus in ein mystisch-zauberhaftes tonales Set‐ ting eingebettet ist (besonders RL ab 00: 17: 38). Eindringlich soll darauf ver‐ wiesen werden, dass in Goethes Faust II und in den gegenwärtigen familienpo‐ litischen Aushandlungen Natur und Widernatur, also etwa Technologie, stets mehrfach und ambivalent codiert sind 34 . Natur und Technik fungieren beide je als positive und negative Quelle. Neben einer recht holzschnittartigen Einbettung von Familialität in ein Ko‐ ordinatensystem aus Natur und Technologie erfolgt auf der Bühne eine Ver‐ schränkung der Thematik Künstliche Erzeugung eines Menschen mit innerhalb eines ökonomischen Nutzenkalküls situierten kybernetischen Rückkopplungs‐ schleifen. Das auf ganzheitliche, also körperliche und kognitive Optimierung angelegte Feedback-Modell, ist verbunden mit künstlicher Reproduktion, und zwar der Reproduktion eines Menschen. Wie wird diese Synthese darstellerisch bewirkt? Die Fokussierung auf den künstlich geschaffenen Menschen, den Ho‐ munkulus, in einer »Labor-Gebärmutter« 35 mündet in eine Episode, in der die beiden Kunstfiguren einen Hamburger zubereiten, wobei ausgiebig das Hack‐ fleisch geknetet wird. Eine Assoziation von Menschenfleisch, das sich formen lässt, drängt sich geradezu auf. Während der Zubereitung des Burgers werden innerhalb des Dialogs mehrere auf Optimierung und Selbstregulierung zielende Rückkopplungsschleifen inszeniert: »Was der Mensch säht, das wird er auch ernten« (RL 00: 14: 17). »Was du heute bist, ist das Resultat deines Handelns in der Vergangenheit. Somit ist alles, was du morgen sein wirst, das Resultat dessen, wie du heute handelst« (RL 00: 14: 31). »Reiche Menschen werden immer reicher. Glückliche Menschen werden immer glück‐ licher. Und gesunde Menschen werden immer gesünder« (RL 00: 14: 44). 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 230 <?page no="231"?> 36 Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Hamburg 2013. 37 Ibid., S. 19. 38 Ibid., S. 98. Die serielle Darbietung von künstlicher Reproduktion und selbstregulierenden Feedback-Mechanismen bewirkt also den assoziativen Konnex zwischen Fami‐ lienpolitik und Kybernetik. Zuvor hatte sich Homunkulus (Andrea Wenzl) bereits zu Wort gemeldet: »Im überstrahlten Weiß ohne den geringsten Schatten riecht es nach erwärmtem Plastik. Durch kleine Löcher in den Apparaten höre ich Stimmen. Sie kommentieren alles, was sich bewegt. Eine Stimme aus den Löchern sagt selbstbewusst, der nächste Apparat macht dich noch attraktiver. Aus Gewohnheit beginne ich mich zu bewegen« (RL 00: 13: 02). Bezüglich der Inhaltsebene kann gesagt werden, dass Homunkulus sich an einem lichtdurchfluteten Ort befindet, wo es keinen Schatten gibt. Es handelt sich dabei um einen Ort, an dem alles gesehen werden kann und alles wie auf einer Bühne ausgestellt und inszeniert ist. Neben dem Sehsinn wird auch der Geruchssinn in das Arrangement inkludiert. Es riecht nach Plastik (wohl ein Sinnbild für Künstlichkeit). Homunkulus kann Stimmen vernehmen, die alles kommentieren, und zwar im Hinblick auf ein optimiertes Aussehen des Men‐ schen. Letztlich handelt es sich um ein panoptisches Setting. Der Schlüssel zum Verständnis der Worte des Homunkulus liegt nun gerade darin, dass es sich bei diesen um ein Zitat handelt. Zitiert wird nicht etwa Goethe, sondern ein Traktat von Hans-Christian Dany mit dem Titel: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft 36 . Bis auf einige Auslassungen, die Ersetzung von »aktiver« durch »attraktiver« und eine kleine Variation werden also dem Homunkulus die Worte aus einer Abhandlung über Kybernetik in den Mund gelegt 37 . Diese Schrift verweist kritisch auf Transparenz, Beobachtung und Kontrolle innerhalb einer kybernetisch strukturierten Kontrollgesellschaft: »Transparenz und Beobachtung haben Priorität im horizontal wuchernden Panop‐ ticon, in dem sich Millionen Punkte mit dem blassen Verlangen, den Spielregeln zu folgen, gegenseitig kontrollieren. […] Jeder kontrolliert jeden, zumindest diese Auf‐ merksamkeit hat man sich verdient.« 38 Die Verschränkung von familienpolitischen Aushandlungen und Kybernetik er‐ folgt also auf verschiedene Weisen. Seriell durch die Verbindung der Fokussie‐ rung auf die »Labor-Gebärmutter« mit einem feedbackorientierten Dialog. In‐ haltlich durch die Konturierung eines Arrangements der Transparenz, 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 231 <?page no="232"?> 39 http: / / www.gregorturecek.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 09/ taken_kritik_sz_214_7_8.pdf (zuletzt aufgerufen am 06. 07. 2016). 40 Krauthausen und Kammer: Gegenwart, gegenwart, S. 151. Selbstregulierung und Kontrolle. Zitathaft durch eine fast wörtliche Übernahme einer Passage aus dem Text Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollge‐ sellschaft. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass in dieser Theaterauffüh‐ rung ein problematisierender Konnex zwischen Familientechnologie und rück‐ kopplungsgesteuerter Selbstregulierung ausgehandelt und hergestellt wird, wobei medienkulturgeschichtlich an Goethes Faust II angeknüpft wird, und zwar sowohl assoziativ als auch zitierend. Bevor Homunkulus sich aus der »rosa Gummimembran einer Labor-Gebärmutter« 39 herauszwängt, wird der bekannte Dialog zwischen Mephistopheles und Wagner im Laboratorium aus dem zweiten Akt verkürzt wiedergegeben: »Weibliche Kunstfigur [bei Goethe Mephistopheles, M. P.]: Was gibt es denn? Männliche Kunstfigur [bei Goethe Wagner, M. P.]: Es wird ein Mensch gemacht. Weibliche Kunstfigur: Ein Mensch? Und welch verliebtes Paar habt ihr ins Rauchloch eingeschlossen? Männliche Kunstfigur: Behüte Gott! Wie sonst das Zeugen Mode war, erklären wir für eitel Possen. Wenn sich das Tier noch weiter dran ergötzt, so muss der Mensch mit seinen großen Gaben doch weitaus höhern, höhern Ursprung haben« (RL 00: 19: 56). Berücksichtigt man nun den Titel der Faust-Adaption Taken from real life. Eine Show, dann ist es möglich ein Fazit zu ziehen: Die Kategorien Echtheit und Inszenierung mit all ihren Konnotationen (beispielsweise Ursprünglichkeit, Au‐ thentizität, Wahrheit, aber auch Natur - Illusion, Unterhaltung, Täuschung sowie Technologie) werden scheinbar widersinnig verschränkt. In dieser Ver‐ schränkung zeigt sich jedoch mehr. Ostentativ hervorgehoben ist, dass famili‐ enpolitische Aushandlungen in der Gegenwart zwischen Echtheit und Inszenie‐ rung, zwischen Natur und Technik verschränkt sind. Diese Verschränkung ist gerade »akut, in kritischer gegenwart« 40 . Daneben zeigt sich, dass Familienpo‐ litiken unumgänglich an mediale Folien, hier Faust II oder Genie in a bottle, an‐ knüpfen. Somit partizipieren sie an der Medienkultur, die eben aus disparaten Medien besteht. Die Dichotomie zwischen real life und Show lässt sich auch bei Fragen rund um Familialität nicht mehr aufrechterhalten. Wenn es um Manifestationen von Familialität geht, die in unserer gegenwär‐ tigen Medienkultur, also im Zusammenhang mit einer als grundlegend anzu‐ nehmenden Verschränkung von Kultur (Lebenspraxis) und Medien (in ihrer ganzen Disparatheit) zu beobachten sind, dann ist es heuristisch erforderlich, 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 232 <?page no="233"?> 41 Zum Motiv der glücklichen Familie siehe Dreysse: Mutterschaft und Familie, S. 48. 42 Zur Darstellung von Zartheit, Abhängigkeit und Verletzlichkeit von Babys oder Kindern auf Postkarten siehe Villa: Judith Butler, S. 133. einerseits antipräskriptiv und andererseits tolerant vielfältige mediale familien‐ politische Erscheinungen zu beobachten. Es soll daher noch einmal abschließend illustriert werden, wie wichtig bei Aushandlungen rund um Familialität im Zeit‐ alter medizintechnologischer Bedingungen die Berücksichtigung der medienkul‐ turwissenschaftlichen Perspektive ist. Ein gängiges Kommunikationsmuster nach der Geburt eines Kindes ist das Verschicken von Glückwunsch-Karten. Welche familienpolitischen Manifesta‐ tionen zeigen sich nun in, mit und durch Glückwunsch-Karten? Augenfällig ist die Präponderanz geschlechtlich markierter Karten. Die Anrufung, das Will‐ kommenheißen des Jungen oder des Mädchens erfolgt entweder über die Farben pink und blau oder über eine eindeutig geschlechtliche Anrede. Glück‐ wunsch-Karten ohne geschlechtliche Anrede sind klar in der Unterzahl. Wie wird die Willkommenheißung auf jenen Karten inszeniert, die auf eine ge‐ schlechtliche Anrufung verzichten? Auffällig ist, dass Letztere zwar Offenheit gegenüber sex und gender des Babys suggerieren, aber ohne einschränkende Anrufung auch nicht auskommen. So profilieren beispielsweise Karten den ausschließlichen Wunsch nach Glück 41 . Dabei handelt es sich um eine ideali‐ siert-verengte und normative Betrachtung von Kindschaft. Und dennoch: Was im Rahmen der hier gewählten Methodologie interessiert, ist die medial-dis‐ kursive Tatsache, dass (verengte) Sichtweisen von Familiengründung unter dem Gesichtspunkt des ausschließlichen Glücks existieren bzw. zeigbar sind. Neben der Einschränkung auf Glück zeichnen sich die Karten, die keine geschlechtli‐ chen Anreden inszenieren, dadurch aus, dass sie Nähe, Geborgenheit, Verbin‐ dung sui generis ausstellen und hervorheben. In Analogie zum Tierreich und / oder in der Zitation jenes bekannten Reinheits- und Natürlichkeitsideals (wir kennen solche Bilder schon im Kontext von Hynpobirthing) wird natürliche Verbindung ausgestellt 42 . Die medienkulturwissenschaftliche Perspektive verdeutlicht, was medial-dis‐ kursiv in unserer Medienkultur zeigbar ist. Das, was zeigbar ist, ist bedeutsam für familienpolitische Aushandlungen, und muss deshalb bei Fragen rund um Familialität im Zeitalter familientechnologischer Bedingungen berücksichtigt werden. Wie wichtig die Berücksichtigung der medienkulturwissenschaftlichen Perspektive im Zeitalter familientechnologischer Bedingungen ist, wird auch ersichtlich, wenn Medien formulieren, dass es unterschiedliche Voraussetzungs‐ zusammengänge (Zierold) gibt, wenn über Familialität gesprochen wird. Es gibt Voraussetzungszusammenhänge, die Werte im Umfeld von Traditionen zitieren. 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 233 <?page no="234"?> Die Inszenierung eines altmodischen Kinderwagens und einer altertümlichen Schrift auf Karten erinnern an jene rechte (natürlich-schmuckhafte) Seite des Schaufensters. Diese schmuckhaft-traditionelle Seite wird von einigen Glück‐ wunschkarten zitiert. Auffällig ist, dass keine der mir zur Untersuchung vorlie‐ genden Karten habituelle Normen à la mode zitiert, die an den mobilen und zukunftsgerichteten Stil der linken (technischen) Seite des Schaufensters erin‐ nern. 6. »Lass uns VaterMutterKind spielen« 234 <?page no="235"?> Siglenverzeichnis Filme, Serien, TV-Sendungen A Almanya. Willkommen in Deutschland (Deutschland 2011, Regie: Ya‐ semin Samdereli, Roxy Film Produktion in Koproduktion mit Infafilm, Concorde Home Entertainment; DVD). B The Big Bang Theory (USA 2007-, CBS, Warner Bros. Entertainment; AMAZON VIDEO). G Am Anfang - Vor der Geburt (Deutschland 2014, Regie: Josephine Links, Produzentinnen: Annekatrin Hendel und Maria Wischnewski, eine Pro‐ duktion von IT WORKS! Medien, der HFF »Konrad Wolf« und Josephine Links. In Koproduktion mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg in Zu‐ sammenarbeit mit ARTE. Gefördert von Medienboard Berlin-Branden‐ burg und Filmförderungsanstalt; TV (ARTE)). K Kälter als der Tod (Deutschland 2015, Regie: Florian Schwarz, Hessischer Rundfunk; TV (ARD)). Tatort-Folge 947. P Die Pinguine aus Madagascar (Penguins of Madagascar, USA 2014, Regie: Eric Darnell und Simon J. Smith, DreamWorks Animation; DVD). S Scrubs - die Anfänger (Scrubs, USA 2001-2010, NBC, Buena Vista Home Entertainment und Touchstone Television; DVD). T Der Traum vom perfekten Kind (Deutschland 2013, Autor / Regie: Dr. Patrick Hünerfeld, Südwestrundfunk; DVD). TT Tagesthemen (Deutschland 1978-, ARD-aktuell; ARD MEDIATHEK). Sendung vom 01. 02. 2016 22: 15 Uhr, online einzusehen: http: / / www.tagesschau.de/ multimedia/ sendung/ tt-4243.html (zuletzt aufge‐ rufen am 02. 02. 2016). W WICK - DuoGrippal, online einzusehen: https: / / www.youtube.com/ watch? v= ehCN4RZdSTw (zuletzt aufgerufen am 19. 02. 2016). Bücher A Harris, Robert: Angst (The Fear Index), München 2011. L Hasel, Verena F.: Lasse, Berlin 2015. <?page no="236"?> Theater RL Taken from real life. Eine Show (Uraufführung 2014 Residenztheater München / Marsstall, Regie und Konzept: Gregor Turecek, Bühne: Maxi‐ milian Lindner, Kostüme: Johanne Hlawica, Choreographie: Johanna Richter, Dramaturgie: Christina Hommel und Götz Leineweber). Kalender WKG Fehling, Maya und Gercke, Ina: 12 Wege zum kindlichen Glück - Ka‐ lender 2016. Siglenverzeichnis 236 <?page no="237"?> Medienverzeichnis Filme, Serien, TV-Sendungen Aktenzeichen XY ungelöst (Deutschland 1967-, Securitel. Film + Fernsehproduktions- und Verlagsgesellschaft; TV (ZDF)). Sendung Nr. 496, 15. Juli 2015. Almanya. Willkommen in Deutschland (Deutschland 2011, Regie: Yasemin Samdereli, Roxy Film Produktion in Koproduktion mit Infafilm, Concorde Home Entertainment; DVD). Am Anfang - Vor der Geburt (Deutschland 2014, Regie: Josephine Links, Produzentinnen: Annekatrin Hendel und Maria Wischnewski, eine Produktion von IT WORKS! Me‐ dien, der HFF »Konrad Wolf« und Josephine Links. In Koproduktion mit dem Rund‐ funk Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit mit ARTE. Gefördert von Medienboard Berlin-Brandenburg und Filmförderungsanstalt; TV (ARTE)). Babys! Kleines Wunder - Großes Glück (Deutschland 2012-, sagamedia. Film- und Fern‐ sehproduktion; TV (RTL 2)). Californication (USA 2007-2014, Showtime; DVD). Die Huren Babylons (The Whore of Babylon, USA 2007, 1. Staffel, 3. Folge). Der Traum vom perfekten Kind (Deutschland 2013, Autor / Regie: Dr. Patrick Hünerfeld, Südwestrundfunk; DVD). Die Pinguine aus Madagascar (Penguins of Madagascar, USA 2014, Regie: Eric Darnell und Simon J. Smith, DreamWorks Animation; DVD). Fast & Furious 7 (USA 2015, Regie: James Wan, Universal Pictures). Gute Zeiten, Schlechte Zeiten (Deutschland 1992-, UFA Serial Drama; TV (RTL)). Betreffende Folgen: überwiegend März 2016, zum Schuldmotiv dezidiert: Folge 5948, 03. März 2016. Günther Jauch (Deutschland 2011-2015, i&u TV im Auftrag der ARD unter redaktio‐ neller Federführung des NDR für Das Erste; TV (ARD)). Eiskalte Karriereplanung - ist Kinderkriegen Chefsache, 26. 10. 2014. Hart aber fair (Deutschland 2001-, Gemeinschaftsproduktion der Produktionsfirmen »Ansager & Schnipselmann« (A&S) und klarlogo im Auftrag des WDR; TV (ARD)). Alzheimer als Komödie - hilft Lachen gegen die Angst? , 02. 02. 2015. How I met your mother (USA 2005-2014, CBS; TV (PRO 7)). Kälter als der Tod (Deutschland 2015, Regie: Florian Schwarz, Hessischer Rundfunk; TV (ARD)). Tatort-Folge 947. <?page no="238"?> Phoenix-Runde (Deutschland 1997-, im Auftrag von ARD und ZDF; TV (phoenix)). Eizellen einfrieren auf Firmenkosten - Skandal oder Chance? , 22. 10. 2014. Report München (Deutschland 1962-, Bayerischer Rundfunk; TV (ARD)). Das Geschäft mit Social Freezing (von Christiane Hawranek und Lisa Schurr), 24. 03. 2015. Scrubs - die Anfänger (Scrubs, USA 2001-2010, NBC, Buena Vista Home Entertainment und Touchstone Television; DVD). Mein Weihnachtswunder (My Own Personal Jesus, USA 2001, 1. Staffel, 11. Folge). So viele Jahre liebe ich dich (Il y a longtemps que je t’aime, Frankreich 2008, Regie: Claudel Philippe, UGC YM; DVD). Tagesthemen (Deutschland 1978-, ARD-aktuell; ARD MEDIATHEK). Sendung vom 01. 02. 2016 22: 15 Uhr, online einzusehen: http: / / www.tagesschau.de/ multimedia/ sendung/ tt-4243.html (zuletzt aufgerufen am 02. 02. 2016). The Big Bang Theory (USA 2007-, CBS, Warner Bros. Entertainment; AMAZON VIDEO). Penny und die Physiker (Pilot, USA 2007, 1. Staffel, 1. Folge). Der Cooper-Hofstadter-Antagonismus (The Cooper-Hofstadter Polarization, USA 2008, 1. Staffel, 9. Folge). Onkel Doktor Cooper (The Cooper Extraction, USA 2013, 7. Staffel, 11. Folge). The Walking Dead (USA 2010-, AMC Film Holding; AMAZON VIDEO). Am Abzug (Triggerfinger, USA 2012, 2. Staffel, 9. Folge). 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Bibliografie 257 <?page no="258"?> Onlineverzeichnis Nach Möglichkeit wurden die folgenden Artikel nach Autor_innen alphabetisch gelistet (1). Daran anschließend folgt eine Listung der übrigen Links und Artikel nach Vorkommen in den einzelnen Kapiteln (2). 1. Bücker, Teresa: Wenn Mütter ihre Kinder umbringen, in: https: / / editionf.com/ lasse-roman-verena-hasel-kindstoetung (zuletzt aufgerufen am 25. 04. 2016). Emcke, Carolin: Friedenspreisrede »Anfangen«, in: http: / / www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/ 1244997/ (zuletzt aufgerufen am 04. 02. 2017). Feindel, Ruth u. a.: Editorial, in: Theater Freiburg. Das Magazin Nr. 11, S. 1-28, in: http: / / www.theater.freiburg.de/ blog/ wpcontent/ uploads/ 2011/ 11/ TF_2297_Magazin_Wunschkinder_print.pdf (zuletzt aufgerufen am 05. 02. 2016). Gasteiger, Carolin: Nachlese zum Frankfurter »Tatort«. 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Vortrag am 03. 02. 2009 im Rahmen der ZeDiS-Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte! ? Perspektiven der Disability Studies«, in: http: / / www.zedis-ev-hochschule-hh.de/ files/ koebsell_geschlecht_ be‐ hinderung.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. 11. 2015). <?page no="259"?> Leicht, Robert: Das Innerste ist unantastbar, in: Die Zeit 23 (2000), online einzusehen: http: / / www.zeit.de/ 2000/ 23/ 200023.embryonen_ethik_.xml (zuletzt aufgerufen am 07. 07. 2016). Maskos, Rebecca: Was heißt Ableism? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft, in: arranca! (2010),in: http: / / arranca.org/ 43/ was-heisst-ableism (zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016). Pitzke, Mark: Donald Trumps Pressekonferenz »Ihr seid Fake News! «, in: http: / / www.spiegel.de/ politik/ ausland/ donald-trump-gibt-pressekonferenz-ihr-seid-fake-news-a-1129595.html (zuletzt auf‐ gerufen am 04.02. 2017). 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Kapitel 3 http: / / www.stern.de/ panorama/ fruchtwasser-embolie--mutter-stirbt--damit-ihr-baby-leben-kann-3244546.html (zu‐ letzt aufgerufen am 04. 03. 2015). http: / / www.perfektegesundheit.de (zuletzt aufgerufen am 10. 03. 2015). http: / / www.fitforfun.de/ beauty-wellness/ gesundheit/ gesund-leben-der-perfekte-tag_aid_14380.html (zuletzt aufgerufen am 26. 09. 2015). http: / / www.gfhev.de/ de/ leitlinien/ LL_und_Stellungnahmen/ 2011_S2-LL-Humangenetik.pdf (zuletzt aufgerufen am 14. 01. 2016). https: / / www.youtube.com/ watch? v=ehCN4RZdSTw (Werbespot zu: »Mütter nehmen sich nicht frei«, zuletzt aufgerufen am 19. 02. 2016). http: / / www.focus.de/ politik/ deutschland/ seine-frau-muss-die-praxis-offenhalten-weil-seine-tochter-krank-ist-sigmar-gabriel-nimmtsich-frei_id_5270126.html (zuletzt aufgerufen am 09. 02. 2016). http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ sigmar-gabriel-nimmt-sich-fuer-kranke-tochter-frei-a-1076329.html (zuletzt aufge‐ rufen am 09. 02. 2016). http: / / www.focus.de/ familie/ rechnen-ist-eine-frage-der-gene-muetter-beeinflussen-mathematik-begabung_id_ 4146586.html (zuletzt aufgerufen am 09. 04. 2015). http: / / www.brigitte.de/ frauen/ stimmen/ cytomegalie-1 233 924/ (zuletzt aufgerufen am 04. 03. 1015). Kapitel 4 http: / / www.heftig.co/ walter-joshua-fretz/ (zuletzt aufgerufen am 16. 03. 2015). http: / / www.heftig.co/ drillingswunder-nach-unfall/ (zuletzt aufgerufen am 20. 04. 2015). http: / / www.zeit.de/ angebote/ buchtipp/ harris/ index (zuletzt aufgerufen am 09. 06. 2016). https: / / www.seed-stroller.com/ media/ image/ SeedBrandStore80796Munchen.jpg (zuletzt aufgerufen am 30. 08. 2016). http: / / www.seed.dk/ de/ unsere-story (zuletzt aufgerufen am 23.04 2015). https: / / www.google.de/ webhp? sourceid=chrome-instant&ion=1&espv=2&ie=UTF-8#q=babywelt%20m %C3%BCnchen (zur Babywelt-Messe, zuletzt aufgerufen am 12. 10. 2015). 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Neben Samenspende und Leihmutterschaft sind auch Begriffe wie Pränataldiagnostik medienkulturell von Bedeutung. Miriam Preußger beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit aktuellen und konflikthaften Fragen rund um die Familie im Zeitalter medizintechnologischer Möglichkeiten. Untersuchungsgrundlage sind Medien wie Literatur, Film, Dokumentation, TV-Serie, Facebook-Kommentar, Schaufenster, Kalender, Nachrichtensendung, Ausstellungsarchitektur und Theater. Es wird dargelegt, wie wichtig die Berücksichtigung medienkulturwissenschaftlicher Perspektiven bei komplexen Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik ist. ISBN 978-3-7720-8636-6 Preußger Medienkulturelle Manifestationen Miriam Preußger Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik