Grenze als Erfahrung und Diskurs
Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen
1218
2017
978-3-7720-5638-3
978-3-7720-8638-0
A. Francke Verlag
Hermann Gätje
Sikander Singh
Die Frage nach der Dynamik von Grenzziehungs- und Grenzverschiebungsprozessen sowie die Wechselbeziehung von Grenzen und Ordnungen werden seit einiger Zeit von der geistes- wie der sozialwissenschaftlichen Forschung in den Blick genommen: Einerseits konstituieren Grenzen Ordnungen und Sinnstrukturen. Andererseits produzieren Ordnungen Grenzen. Der Umstand, dass Grenzen seit dem Einsetzen der Moderne im 19. Jahrhundert in eine beschleunigte Bewegung geraten sind, schlägt sich zudem in einer Vielzahl aktueller Debatten nieder.
Die geschichts- und literaturwissenschaftlichen Beiträge des interdisziplinär ausgerichteten Bandes nehmen aktuelle politische Entwicklungen wie neuere Forschungsbewegungen gleichermaßen auf. Das Phänomen des Exils wird dabei in empirischer wie in methodischer Hinsicht nicht von seinen Zentren, sondern von den Grenzen aus in den Blick genommen.
<?page no="0"?> Die Frage nach der Dynamik von Grenzziehungs- und Grenzverschiebungsprozessen sowie die Wechselbeziehung von Grenzen und Ordnungen werden seit einiger Zeit von der geisteswie der sozialwissenschaftlichen Forschung in den Blick genommen: Einerseits konstituieren Grenzen Ordnungen und Sinnstrukturen. Andererseits produzieren Ordnungen Grenzen. Der Umstand, dass Grenzen seit dem Einsetzen der Moderne im 19. Jahrhundert in eine beschleunigte Bewegung geraten sind, schlägt sich zudem in einer Vielzahl aktueller Debatten nieder. Die geschichts- und literaturwissenschaftlichen Beiträge des interdisziplinär ausgerichteten Bandes nehmen aktuelle politische Entwicklungen wie neuere Forschungsbewegungen gleichermaßen auf. Das Phänomen des Exils wird dabei in empirischer wie in methodischer Hinsicht nicht von seinen Zentren, sondern von den Grenzen aus in den Blick genommen. HERMANN GÄTJE, SIKANDER SINGH (HRSG.) Grenze als Erfahrung und Diskurs PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT Grenze als Erfahrung und Diskurs Gätje • Singh (Hrsg.) www.francke.de ISBN 978-3-7720-8638-0 <?page no="2"?> Grenze als Erfahrung und Diskurs <?page no="3"?> Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 2 <?page no="4"?> Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Grenze als Erfahrung und Diskurs Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-7720-5638-3 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Literarische Perspektivierungen Johannes F. Evelein Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze. Bertolt Brechts Grenzbetrachtungen im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Hermann Gätje Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns. Polysemantik und Deutungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Heike Klapdor Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited. Zur Aktualität literarischer Grenzerfahrung aus dem Exil . . . . . . 35 Sikander Singh Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische. Über die Grenze in Gustav Reglers Erinnerungsbuch Das Ohr des Malchus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Sascha Kiefer Über Grenzen. Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen . . . . . . . 63 Günter Häntzschel Grenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette Kolb. . . . . . . 77 Christiane Solte-Gresser Träume(n) an der Grenze. Politik und Poetik in Charlotte Beradts Das Dritte Reich des Traums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Reinhard Andress Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Philippe Humblé, Arvi Sepp „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“. Alexander Lenard’s Narratives of Brazilian Exile. . . . . . . . . . . . . . 115 <?page no="7"?> 6 Inhaltsverzeichnis Olena Komarnicka „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ Brief als wichtiges Medium im Exil am Beispiel des Briefwechsels der Familie Kollisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Historische Perspektivierungen Anna Corsten Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit. Gerda Lerners (geschichts)wissenschaftliches Wirken als gesellschaftspolitisches Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Tininiska Zanger Montoya Ambivalente Rückkehr. Kollektive Kämpfe um Rückkehr und individuelle Perspektiven im Fall kolumbianischer politischer Exilierter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Swen Steinberg Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil. Der deutsch-tschechoslowakische Grenzraum als politischer Ort, 1920 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Angela Boone Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden. Änderungen in der Politik der niederländischen Regierung zwischen 1914 und 1950. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Germaine Goetzinger Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Joachim Schlör „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ Die Überschreitung der deutschen Grenze in Emigrationsberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 7 Vorwort Die Frage nach der Dynamik von Grenzziehungs- und Grenzverschiebungsprozessen wird seit einiger Zeit von der geisteswie der sozialwissenschaftlichen Forschung fokussiert. Diese gehen davon aus, dass es eine folgenreiche Perspektivenverschiebung und damit verbunden einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ermöglicht, kulturelle, soziale, wirtschaftliche und rechtliche Phänomene von den Prozessen der Grenzziehung aus zu betrachten. Zugleich rückt die Wechselbeziehung von Grenzen und Ordnungen ins Zentrum wissenschaftlicher Überlegungen: Einerseits konstituieren Grenzen Ordnungen und Sinnstrukturen. Andererseits produzieren Ordnungen Grenzen. Die Tatsache, dass Grenzen mit dem Einsetzen der Moderne im 19. Jahrhundert in eine beschleunigte Bewegung geraten sind, schlägt sich heute in einer Vielzahl von aktuellen Terminologien nieder. Die Frage danach, welche Auswirkungen von derartigen Veränderungen für die Ordnungen ausgehen, in denen wir leben, beschreibt dabei einen wesentlichen Punkt des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses des vorliegenden Bandes. Im Zuge der momentanen Flüchtlingsbewegungen hat das Thema der Grenze - in seiner historischen Dimension - zudem an politischer Brisanz gewonnen. Menschen harren wartend vor den Grenzen Europas aus. Die Politik und Gesellschaft diskutieren Maßnahmen der „Grenzsicherung“ bzw. die Frage nach der „Durchlässigkeit“ von Grenzen. Die geschichts- und literaturwissenschaftlichen Beiträge dieses interdisziplinär ausgerichteten Bandes nehmen diese aktuellen politischen Entwicklungen wie neueren Forschungsbewegungen gleichermaßen auf. Das Phänomen des Exils wird dabei in empirischer wie in methodischer Hinsicht nicht von seinen Zentren, sondern von den Grenzen aus in den Blick genommen. Ausgehend von einem regionalen Schwerpunkt auf das Saargebiet (Territoire du Bassin de la Sarre), den das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass als Archiv der Großregion Saar-Lor-Lux wissenschaftlich aufarbeitet, diskutieren die hier versammelten Aufsätze Darstellungen von und über den Gang in das Exil, seien es Landwege nach Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, die skandinavischen Länder, in die Sowjetunion, die Tschechoslowakei oder Überseereisen nach Großbritannien, Mittel- und Lateinamerika oder die Vereinigten Staaten von Amerika. Mit seinen Grenzen zu Deutschland und Frankreich war das Saargebiet, das seit 1920 als Mandatsgebiet vom Völkerbund verwaltet wurde, für zahlreiche Verfolgte des Nationalsozialismus bis zum Jahr 1935 ein erstes Ziel ihres Exils und diente oftmals als Durchgangsstation. Zudem fungierte die Region in dieser Zeit als eine Schnittstelle für die Organisation des illegalen Widerstands gegen <?page no="9"?> 8 Vorwort den Nationalsozialismus im Deutschen Reich und war dabei - wie auch andere Grenzregionen - selbst ein Ort des Exils: Die geringe Entfernung zur deutschen Grenze evozierte - charakteristisch für grenznahe Exilräume - eine ambivalente Gefühlslage. Die Nähe zur verlassenen Heimat kontrastierte mit der Bedrohung, die von derselben ausging. Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes gemeinsam mit der Gesellschaft für Exilforschung e. V. im März 2017 nach Saarbrücken eingeladen hat. Die Herausgeber danken der Gesellschaft für Exilforschung e. V., insbesondere ihrem Vorstand, für die ebenso vertrauensvolle wie in jeder Hinsicht konstruktive Zusammenarbeit. Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung und die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Das Gustav-Regler-Archiv Merzig, Frau Annemay Regler-Repplinger, hat die Durchführung der Tagung ebenfalls finanziell gefördert. Ihnen gilt der besondere Dank der Herausgeber. Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und - nicht zuletzt - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz. Saarbrücken, im Januar 2018 Hermann Gätje und Sikander Singh <?page no="10"?> Vorwort 9 Literarische Perspektivierungen <?page no="12"?> Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze 11 Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze Bertolt Brechts Grenzbetrachtungen im Exil Johannes F. Evelein, Hartford / CT AN DIE DÄNISCHE ZUFLUCHTSSTÄTTE Sag, Haus, das zwischen Sund und Birnbaum steht: Hat, den der Flüchtling einst dir eingemauert Der alte Satz DIE WAHRHEIT IST KONKRET Der Bombenpläne Anfall überdauert? I. Überlegungen zum Grundmotiv der Grenze Ich aber ging über die Grenze lautet der Titel eines frühen Gedichts von Stefan Heym. „Über die Berge, da noch der Schnee lag, / auf den die Sonne brannte durch die dünne Luft. / Und der Schnee drang ein in meine Schuhe“. 1 Das Gedicht, in dem Heym (geboren Helmut Flieg) seine Flucht aus Nazideutschland in die Tschechoslowakei verdichtet, hält paradigmatisch fest, wie tief Exil und Grenze miteinander verbunden sind. Der eigentliche Beginn des Exils geht mit dem Moment der Grenzüberschreitung einher, welche die Gleichzeitigkeit von Ende und Anfang, Ausstieg und Einstieg konkretisiert. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Grenze eines der wichtigsten und bedeutungsträchtigsten Grundmotive der Exilliteratur ist. In Mythos und Sachlichkeit - Beobachtungen zur Grenze in der Exilliteratur stellt Markus Bauer fest: Vor dem Exil liegt die Grenze. Sie trennt und verbindet auf vielfältige Weisen. Für die Literatur wirkt dieses oft grausame Leben jenseits der Grenze beflügelnd, zieht es doch von den ‚Tumulten der Welt‘ ab (oder gerade in sie hinein), gibt der Klage Form, macht das Gesicht der Gewalt kenntlich. 2 1 Stefan Heym: Ich aber ging über die Grenze. Frühe Gedichte. Hg. von Inge Heym. München 2013, S. 53-55. 2 Markus Bauer: Mythos und Sachlichkeit: Beobachtungen zur Grenze in der Exilliteratur. In: Markus Bauer / Thomas Rahn (Hg.): Die Grenze: Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, S. 207-233, hier S. 207. <?page no="13"?> 12 Johannes F. Evelein An dieser trennend-verbindenden Grenze führt kein Weg vorbei: sie ist nicht neutral, man muss sich ihr stellen, mit ihrer konkreten Sperrkraft ringen und ihrer Einladung zur Kontemplation Gehör leisten. Sie zwingt den Grenzüberschreitenden zu einer Gegenüberstellung von hier und dort, gestern und heute. Mag dies für Reisende eine philosophische Übung sein, für Flüchtlinge ist es eine existentielle Herausforderung, eine Krise , die radikaler nicht sein könnte. In seinem Lob der Grenze stellt der Philosoph Konrad Paul Liessmann eine Verbindung zwischen „Grenze“ und „Krise“ her, indem er Letztere auf das griechische Verb krínein zurückführt, das er mit „trennen“ oder „unterscheiden“ übersetzt und auf dessen etymologische Verwandtschaft mit „Kritik“ er hinweist. Grenzen wie Krisen haben somit gemein, dass sie Unterschiede bloßlegen und Distanz ermöglichen. Kritik und Krise stammen aus derselben sprachlichen Wurzel, und sie markieren Grenzen. Nur während wir in der Kritik Unterscheidungen vornehmen, werden wir in der Krise von Unterscheidungen getroffen. Krise ist vorab ein Synonym für Differenzerfahrungen. Es ändert sich etwas, und es steht zu erwarten, dass nachher nichts mehr so sein wird wie vorher. 3 Exil, Grenze und Krise erweisen sich als Teil eines Bedeutungs- und Erfahrungsspektrums, in dem die Trennung vom Vorherigen und die daraus resultierende Notwendigkeit einer Neuverortung und -gewichtung im Mittelpunkt stehen. Diese Erfahrung der exilbedingten Grenzüberschreitung als existentieller Krise findet in einem der ersten Exilgedichte Bertolt Brechts ihren besonders prägnanten Ausdruck. Kurz nach seiner Flucht ins dänische Exil 1933 schreibt Brecht: „Der du zu fliehen glaubtest das Unertragbare / Ein Geretteter trittst du / In das Nichts“. 4 Diese erste Gedichtstrophe hält den Augenblick einer multiplen Grenzüberschreitung fest: aus der Gefahrenzone in die vermeintliche Freiheit; aus einer vertrauten Sphäre in eine für den Fliehenden noch nicht existente Welt; und aus der Fiktion der lebensverheißenden Rettung in eine wohl möglich existenzbedrohende neue Wirklichkeit, die es nun aus dem Nichts aufzubauen gilt. Die Grenzüberschreitung ist zudem performativ, indem sie sich als „Tritt“ in einen neuen Raum gestaltet, gleichzeitig aber ist auch die Grenze selber handlungstragend: die Trennlinie zwischen Flucht und Rettung ist messerscharf und hat eine bleibende, trennende Kraft inne. Beim Überschreiten der Grenze wird die Flucht - als Bewegung - zum Exil in der Fremde. Hinzu kommt, dass es sich 3 Konrad Paul Liessmann: Lob der Grenze: Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Wien 2012, S. 8. 4 Bertolt Brecht: Der du zu fliehen glaubtest das Unertragbare. In: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt am Main 1981, S. 413. <?page no="14"?> Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze 13 auch um eine territoriale Grenze handelt, eine staatlich festgelegte Linie, die sich kartografisch markieren lässt. In ihrem Sammelband Cartographies of Exile versteht Karen Elizabeth Bishop das Exil deshalb grundsätzlich als eine Krise, deren geografische Koordinaten sich festlegen lassen, die sich in ihrer Entortung an erster Stelle räumlich gestaltet, von der neuen Umgebung betroffen ist und diese gleichzeitig auch ganz konkret prägt: „Exile is fundamentally a cartographical condition, concerned with space and place, how they are ordered and what they order or, perhaps, disorder in the process“. 5 Durch das Exil, als staatlich erzwungene Ausgrenzung sowie auch als existentielle Schicksalserfahrung, entstehen Trennlinien, Markierungen, Schwellen und Schranken, Schmugglerrouten und Passagen, asylverheißende und -verneinende Orte: eine Topografie des Exils, die sowohl behördliche Maßnahmen als auch individuelle Entscheidungen widerspiegelt. Das Exil tritt als geografisches Liniennetzwerk in Erscheinung: „Exile drafts these lines - the scrapes and scratches we use to describe our earth - as tools of exclusion and punishment, markers of dislocations and longing, and means of moving nations and reshaping territories that limit who belongs and who does not“. 6 Das Exil schreibt sich in die Landschaft ein, was Bishop als Wesenszug des Lebens in der Verbannung betrachtet: „The cartographic imperative inherent in the exilic condition“. 7 Die zweifellos bedeutungsträchtigste Linie in der Exiltopografie ist die Staatsgrenze: mit ihrer Überschreitung wird das bis dahin nur gedankliche Konstrukt des - vielleicht noch abwendbaren - Exils zur Wirklichkeit, in der man sich nun einzurichten hat. In ihrer aus Sperrvorrichtungen, Mauern, Stacheldraht und Grenzschranken bestehenden Formsprache macht die Grenze das Exil sichtbar. Sie ist das letzte Hindernis, das es zu überwinden gilt. Erst der gelungene Grenzübertritt erlaubt den Rückblick auf das Überstandene und eine erste Bestandsaufnahme des Bevorstehenden, des Brecht’schen „Nichts“. Die Biografie vieler deutschsprachiger Exilanten zeigt jedoch, dass für die meisten nach der ersten Grenzüberschreitung - vom Dritten Reich ins benachbarte Dänemark, Holland, Frankreich, Österreich, Polen, in die Schweiz oder Tschechoslowakei - noch weitere, mitunter noch gefahrvollere, folgen sollten. Somit setzt das Exil das Überwinden neuer Grenzen voraus und macht den Exilanten zum permanenten Grenzgänger, ständig auf der Suche nach benötigten Papieren, Reisepässen, Aufenthaltsgenehmigungen, Visen, sauf conduits, Immigrantenbürgschaften. Markus Bauers Feststellung, vor dem Exil liege die Grenze, ist gewiss zutreffend, 5 Karen Elizabeth Bishop: The Cartographical Necessity of Exile. In: dies. (Hg.): Cartographies of Exile. New York 2016, S. 1-22, hier S. 1. 6 Ebd. 7 Ebd. <?page no="15"?> 14 Johannes F. Evelein doch müsste man erweiternd sagen, dass die Grenze auch im Exil schicksalsträchtig bleibt. Insbesondere bei den deutschsprachigen Exilschriftstellern, deren Biografie vom mehrfachen Grenzübergang gekennzeichnet ist, zeigt sich das Grenzmotiv in erstaunlich differenzierter Ausprägung. Dies soll im Folgenden exemplarisch am Beispiel von Bertolt Brechts Gedichten, Korrespondenz und Tagebucheinträgen dargelegt werden. II. Der den Backstein mit sich trug Das wohl bekannteste exilbezogene Gedicht von Brecht Über die Bezeichnung Emigranten spiegelt die zentrale Bedeutung der Grenze nicht nur in ihrer Überschreitung, sondern vorrangig als kollektive Positionsbestimmung des „wir“ im Exil wider: „möglichst nahe den Grenzen / Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste / Veränderung / Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling / Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend“. 8 Es gilt, die Grenze scharf im Auge zu behalten, da sie dem Exilanten als Seismograf dient, dessen akribische Aufzeichnungen aufschlussreich sowohl für die Lage in der Heimat als auch für die Dauer des eigenen Verbleibs im Exil sind. Die Grenze wird somit zum erkenntniserweiternden Instrument, in dem jeder Grenzgänger zum Datenträger wird, dessen Informationen sofort eingeholt und sorgfältig ausgelotet werden. Doch bereits der Grenzgang selbst, als exilinitiierende Handlung, ist bedeutungsschwer und lässt sich in die Semiotik des Exils einfügen: „Sind wir doch selber / Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen / Über die Grenzen. Jeder von uns / Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht / Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt“. 9 Im „Nichts“, das den Exilanten nach der Flucht über die Grenze erwartet, lässt es sich nicht leben, doch ist die Grenze nicht an erster Stelle eine Trennlinie zwischen „sein“ oder „nicht sein“, sondern vielmehr zwischen „haben“ und „nicht haben“, wobei das „nicht länger haben“, der materielle Verlust, für die Missstände im eigenen Lande steht. Das materielle Besitztum ist bei Brecht jedoch nicht neutral, sondern weist über das Dingliche hinaus auf die ökonomischen und politischen Zustände im Land. Auf das „Haben“ hatte er ein Recht, es stand ihm zu. Das Exil bedeutet materielle Entbehrung durch Diebstahl, was dem Verlust des Materiellen eine moralische Dimension verleiht. Die Dinge, die einem im Exil abhanden gekommen sind, zeugen auf beiden Seiten der Grenze von Verbrechen: in ihrem enteigneten kontinuierlichen Dasein wie auch in ihrer Abwesenheit. So auch in Brechts Gedicht Ich habe lange die Wahrheit gesucht : 8 Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 718. 9 Ebd. <?page no="16"?> Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze 15 Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich: Mehr als mein Haus brauche ich die Wahrheit. Aber ich brauche auch mein Haus. Und seitdem Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen. Und man hat sie genommen. 10 Die Wahrheit ist in den Dingen: in ihrer Brauchbarkeit und im Besitzverhältnis zu ihnen. „Die Wahrheit ist konkret“, heißt es auch im Gedicht An die dänische Zufluchtsstätte . 11 Umso schwerwiegender ist der Akt des „Nehmens“, der Enteignung, die paradigmatisch für Rechtsverstoß, Verlust, Ausgrenzung und Exil steht. Im Exil werden die Dinge in ein neues Licht gerückt und das Verlorengegangene, dessen Fortbestehen jenseits der Grenze umso mehr schmerzt, wird wahrheitsstiftend. „Dem gleich ich“, schreibt Brecht 1938 im Motto zur Steffinischen Sammlung , „der den Backstein mit sich trug / Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah“. 12 Dieses Haus findet sich immer wieder in den Exilgedichten zurück und gestaltet sich mitunter als ein paradiesischer Ort, aus dem man verstoßen wurde. Brechts Gedicht Zeit meines Reichtums schildert das Haus in bewusst idyllischen Tönen, insbesondere den umringenden Garten mit Teich, weißen Rhododendrenbüschen und alten Bäumen. „Wir sahen uns um: von keiner Stelle aus / Sah man dieses Gartens Grenzen alle“. 13 Das Gedicht ist eine Elegie auf das verlorene Paradies, wobei auch hier das Besitzverhältnis hervorgehoben wird: „Vom Ertrag eines Stückes erwarb ich / Ein Haus in einem großen Garten“. 14 Doch ihm sind nur sieben Wochen in diesem Paradies gegeben: Eine runde, biblische Zahl, die gleichzeitig die Zeit unmittelbar vor dem Exil festhält. Der Vertreibung aus dem Paradies und der Trennung von Hab und Gut folgt der Eintritt in das - materielle - „Nichts“. Der Kontrast zwischen „haben“ und „nicht (mehr) haben“ könnte stärker nicht sein: „Nach sieben Wochen echten Reichtums verließen wir das / Besitztum, bald / Flohen wir über die Grenze“. 15 Die Schlusszeile des Gedichts, insbesondere die Verwendung des Verbs „fliehen“, betont das jähe Ende der paradiesischen Zustände und die Unabdingbarkeit des bevorstehenden Exils. Haften dem „Tritt“ des Geretteten ins Exil und der „Fahrt“ über die Grenze noch eine gewisse Autonomie an, deuten „Flucht“ und „Entkommen“ auf den Zwang, dem der Exilant zur Rettung der eigenen Haut nachgeben muss. 10 Bertolt Brecht: Ich habe lange die Wahrheit gesucht. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 414. 11 Bertolt Brecht: An die dänische Zufluchtsstätte. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 820. 12 Bertolt Brecht: Steffinische Sammlung. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 815. 13 Bertolt Brecht: Zeit meines Reichtums. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 419. 14 Ebd. 15 Ebd. <?page no="17"?> 16 Johannes F. Evelein III. Vom Fliehen über die Grenzen Die Flucht lässt kein sorgfältiges Planen zu: auf der Flucht überkommt einen das Exil, das nun agiert und mit dessen Unberechenbarkeit sich der Exilant abzufinden hat. Dieser Flucht über die Grenze lässt sich jedoch auch Gutes abgewinnen, wie auch das Gedicht 1940 zeigt, das Brecht kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Dänemark schrieb: „Auf der Flucht vor meinen Landsleuten / Bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde / Die ich gestern nicht kannte, stellten ein paar Betten / In saubere Zimmer“. 16 Die Flucht schafft Abhängigkeit, macht aus dem Exilanten einen Schutzbedürftigen, doch dieses Ausgesetztsein bietet gleichzeitig auch neue Möglichkeiten menschlichen Kontakts. Die - hier finnischen - Freunde gibt es bereits, doch erst die Not der Flucht fördert ihre Freundschaft zu Tage. Sie eröffnet eine Topografie menschlicher Wohlgesinnung und Hilfsbereitschaft weit über die eigenen Landesgrenzen hinweg, unbekannte Orte erweisen sich als schutzbringend, und die zur Verfügung gestellten sauberen Zimmer ergeben eine Art „underground railroad“ von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Allmählich entsteht eine geografische Karte des Exils, die Fluchtwege verzeichnet, Hilfsnetzwerke markiert, und auf der das scharfe Auge des Fliehenden auch die letztmöglichen und unwahrscheinlichsten Schlupflöcher erahnt: „Neugierig / Betrachte ich die Landkarte des Erdteils. Hoch oben in / Lappland / Nach dem Nördlichen Eismeer zu / Sehe ich noch eine kleine Tür“. 17 Die Verlässlichkeit dieser Karte beruht nicht zuletzt auf die dem Exilanten zur Verfügung stehenden Informationen: Über Friedensbeteuerungen, Kriegsvorbereitungen und -erklärungen, Gebietsgewinne oder -verluste, Kapitulationen und Besatzungen. Brecht trug auf seiner Flucht ein Radiogerät mit sich, das ihm erlaubte, mit Nazideutschland in Funkkontakt zu bleiben und so nicht zuletzt die eigenen Fluchtentscheidungen auf die Berichterstattung abzustimmen. Die Stimme des Rundfunksprechers begleitet ihn, und die Bedeutung seiner Worte - ironischerweise die Worte des Feindes - erleichtert das Gewicht des mitzutragenden Radios. Brecht widmet dem Gerät das vierzeilige Gedicht Auf den kleinen Radioapparat : „Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug / Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen / Besorgt von Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug / Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen“. 18 Was braucht der Flüchtling, dem das Überschreiten der Grenze - vielleicht sogar Grenzen - bevorsteht? Die Exilgedichte Brechts ergeben insgesamt eine Art 16 Bertolt Brecht: 1940. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 819. 17 Ebd. 18 Bertolt Brecht: Auf den kleinen Radioapparat. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 819. <?page no="18"?> Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze 17 Inventur: mag der „Backstein“ in seiner ganzen Konkretheit nur metaphorisch zu verstehen sein, das Radiogerät trug Brecht tatsächlich mit sich. In seinem Gedicht Die Pfeifen , in dem er festhält, dass er „die Bücher, nach der Grenze hetzend / den Freunden ließ“, 19 formuliert Brecht eine Art Fluchtmaxime, die er aber mit dem Mitbringen seines Rauchzeugs sofort verletzt: „Des Flüchtlings dritte Regel: Habe nichts! “ 20 Die ersten zwei Regeln lassen sich nur erraten, doch Leichtigkeit ist auf der Flucht das Gebot der Stunde. „Habe nichts“ fungiert weiter auch als Kontrastposition zum vorexilischen Leben, das sich nicht zuletzt auch in den Besitztümern - im Wagen, Haus und Garten - manifestierte. Nun wird im Exil das Nichthaben zum kategorischen Imperativ erhoben. So wie die Wahrheit, die sich in den Dingen zeigt, ist auch die Flucht über die Grenze konkret. In Brechts Flüchtlingsgespräche heißt es zynisch, der Pass sei „der edelste Teil des Menschen“, denn er werde anerkannt „wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird“. 21 Diese wertschöpfende Anerkennung trifft natürlich auch auf Devisen zu, weshalb zu des Flüchtlings drei Regeln neben der Beschaffung von gültigen Papieren wohl auch das Mitbringen von Geld zählen mag. In seinem Reisejournal erinnert sich Brecht an seine in einem Moskauer Krankenhaus gestorbene Mitarbeiterin und Geliebte Margarethe Steffin, kurz Grete, die in ihrem Hang zu schönen Dingen immer wieder gegen die Brecht’sche Flüchtlingsmaxime verstößt. Doch auch sie, so erfährt er erst später, hat sich die Grenze - als Erfahrungsbereich, als Praxis - zu eigen gemacht, hat von den zurückliegenden Grenzüberschreitungen gelernt und will auf den nächsten Grenzgang vorbereitet sein. Ich sehe häufig Grete mit ihren Sachen, die sie immer wieder in die Koffer packte. Das seidene Tuch mit dem Porträt, von Cas gemalt; die hölzernen und elfenbeinernen kleinen Elefanten aus den verschiedenen Städten, in denen ich war; den chinesischen Schlafmantel; die Manuskripte; das Leninfoto; die Wörterbücher. Sie verstand schöne Dinge, wie sie sprachliche Schönheiten verstand. Als ich sie in Moskau aus dem Hotel in die Klinik brachte, lag sie mit dem Sauerstoffkissen; aber sie regte sich auf, daß ich ihren braunen finnischen Kapuzenmantel mitnähme, und war erst ruhig, als ich ihn ihr zeigte. In diesem Mantel, erfuhr ich später, hatte sie 15 englische Pfund, seit Jahren gespart und versteckt, über die Grenzen geschmuggelt: das sollte ihr Freiheit verleihen. Ich liebte sie sehr, als ich das erfuhr. 22 Für den Exilanten ist die Grenze eine existentielle Bedrohung, doch die Bemühungen, sie zu überwinden und den ihr innewohnenden Gefahren zu ent- 19 Bertolt Brecht: Die Pfeifen. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 820. 20 Ebd. 21 Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche. Frankfurt am Main 1961, S. 7 f. 22 Bertolt Brecht: Reisen im Exil 1933-1949. Frankfurt am Main 1996, S. 138 f. <?page no="19"?> 18 Johannes F. Evelein kommen, machen auch schlau. Gretes Mantel versinnbildlicht die praktische Klugheit, die ein routinierter Grenzüberschreitender - der Schmuggler - an den Tag legt, um die Grenze zu überlisten, so wie ein Schriftsteller beim geschickten Täuschen der Zensurbehörde, braucht er für das Schreiben der Wahrheit doch die List sie zu verbreiten. Brecht mag in Gretes Sorgen um ihren Mantel auch eine Parallele zu seiner 1939 - auch in Moskau - erschienenen Kurzgeschichte Der Mantel des Nolaners gesehen haben, 23 in der sich Giordano Bruno trotz Einkerkerung und bevorstehender Todesstrafe um die Rückgabe seines Mantels bemüht, den er von einer Schneiderin hatte anfertigen lassen, doch für den er zu bezahlen nicht mehr in der Lage ist. Wie in der Geschichte Brunos zeigt sich auch bei Grete die wahre Größe in der Tat, im konkreten Handeln und im Verantwortungsbewusstsein über das eigene Schicksal hinweg. Gretes über Jahre herangesammelte und sorgfältig im Mantelsaum eingenähte Pfund deuten zudem auf ihre handfeste, pragmatische Einschätzung der bevorstehenden Bewährungsprobe im Exil. Auch hier ist die Wahrheit konkret. IV. Grenzüberschreitende Briefe Wahr ist, dass der Flüchtende Geld braucht und sich nun in der Fremde neue Einkommensquellen schaffen muss. Dementsprechend steht die von Exilanten geführte Korrespondenz in nicht unerheblichem Maße im Zeichen der finanziellen Not und zeigt die Entstehung und Pflege eines regen, länderübergreifenden schriftlichen Verkehrs, in dessen Mittelpunkt immer wieder die Erkundung potentieller Arbeitsmöglichkeiten rückt. Das Grenzschicksal des Exils wird auch hier erwartungsgemäß zum Thema, wie Brechts Briefwechsel im Frühjahr 1939 mit dem schwedischen Schriftsteller und Übersetzer Henry Peter Matthis zeigt. Der seit 1933 im dänischen Exil lebende Brecht, den Matthis zu einer Vortragsreise durch Schweden eingeladen hat, weist auf das Faktum Grenze hin - dessen Aktualität aufgrund drohender Kriegsgefahr ständig wächst - und erhofft sich von Matthis die benötigte Hilfe bei der behördlichen Abhandlung seiner Überquerung der dänisch-schwedischen Staatsgrenze. Datiert 4. März 1939 schreibt er aus Svendborg, unter seinem „dänischen Dach“, an Matthis: Wenn wir auch den Zeitpunkt für den Beginn der Vorträge im Augenblick noch nicht bestimmen wollen, so wäre es doch richtig, meiner Frau und mir die Möglichkeit, die Grenze zu übertreten, sogleich zu verschaffen, so daß dann nicht daran alles scheitern kann. Wie ich höre, benötigen wir dazu Grenzempfehlungen, am besten von im 23 Die Geschichte ist besser bekannt in ihrer um vier Abschnitte erweiterten Version, die den Titel Der Mantel des Ketzers trägt. <?page no="20"?> Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze 19 öffentlichen Leben stehenden Persönlichkeiten. Ich glaube, wir bekämen die Erlaubnis, wenn Sie dem schwedischen Konsulat in Kopenhagen mitteilen könnten, welche Leute mich in Schweden haben wollen. 24 Mag ihm an der Vortragsreise viel gelegen sein, Brechts Hauptanliegen ist ohne Zweifel die gesicherte Fahrt nach Schweden, die Matthis mittels seiner „Grenzempfehlungen“ in die Wege leiten soll. Auch nach sechsjährigem Aufenthalt im benachbarten Dänemark und trotz seines Rufs in Schweden ist Brecht auf die Hilfe Wohlgesinnter angewiesen. In seinem Brief bezieht er sich auf das Vorhaben prominenter Schweden, ein „Nationalkomitee Freies Deutschland“ zu gründen, das jedoch am Beharren der schwedischen Regierung auf ihrer politischen Neutralität im Zweiten Weltkrieg scheitern sollte. Brecht betont das grenzübersteigende Potenzial einer solchen Hilfsorganisation in einer Zeit, die von immer größer werdenden Einschränkungen der Bewegungs- und Gedankenfreiheit gekennzeichnet ist: „Darf ich Ihnen sagen, daß ich Ihre und Herrn Brantings Idee, dieses Komitee zu gründen, jetzt in dieser Zeit, wo jedem freien geistigen Austausch immer mehr ganz mittelalterliche Schranken gesetzt werden, außerordentlich finde? “ 25 Diesen unzeitgemäßen Einschränkungen, dem Aufwerfen von Grenzen müsse man entschlossen entgegentreten, so Brecht: die Grenze fordert den Menschen heraus und gebietet praktisches Handeln, damit sie überwindbar bleibt. Die Zeit wird kommen, schreibt Brecht in Gedanken über die Dauer des Exils , dann „Wird der Zaun der Gewalt zermorschen / Der an der Grenze aufgerichtet ist / Gegen die Gerechtigkeit“. 26 Gegen die Tyrannei der Grenze, die den Ausgestoßenen von Land und Leuten abtrennt, stemmt sich das Briefeschreiben, das im Exil eine Hochkonjunktur erfährt. Brecht selber ist unermüdlicher Briefeschreiber, dessen Briefe in der Regel mit einer Bitte um schnelle Rückmeldung enden. Im Gedicht Zufluchtsstätte , das sein Haus am Skovsbostrand beschreibt, heißt es: „Die Post kommt zweimal hin / Wo die Briefe willkommen wären“. 27 Auf über 2000 Seiten erschließen Hermann Haarmann und Christoph Hesse in Briefe an Bertolt Brecht im Exil, 1933-1949 die Korrespondenzflut, die in den Exiljahren auf Brecht zukam und insgesamt etwa 1600 Briefe betrug. 28 Durch die häufig undurchsichtige Lage im Exil, die sich auf der Flucht ständig ändernden Postadressen, Störungen 24 Brecht: Reisen (Anm. 22), S. 38. 25 Ebd. 26 Bertolt Brecht: Gedanken über die Dauer des Exils. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 719. 27 Bertolt Brecht: Zufluchtsstätte: In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 720. 28 Hermann Haarmann / Christoph Hesse (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil, 1933-1949. Berlin 2014. <?page no="21"?> 20 Johannes F. Evelein im internationalen Postverkehr und die daraus resultierende Drohung der Unzustellbarkeit von Briefen gewinnt das Briefeschreiben im Exil an Bedeutung. Briefe sind außerdem handfest, mitunter sogar intim, in der Handschrift des Senders und gedanklich auf den Empfänger hin verfasst. Somit wohnt Briefen nicht selten eine stellvertretende Kraft inne: Im Briefwechsel sind Schreiber und Empfänger präsent. Bei seiner Ankunft im finnischen Helsinki Anfang Mai 1940 erwarten Brecht zwei Briefe seines Freundes Hans Tombrock, wofür Brecht sich umgehend bedankt und gleichzeitig den hohen Stellenwert des freien Briefverkehrs betont, den er kausal zwingend als gefährdet sieht: Lieber Tombrock, besten Dank für die Briefe und Fotos. Deine Briefe waren die ersten und einzigen, die wir hier erhielten, und das gab ihnen etwas Festliches. Ich fürchte, etwas, was bei der ‚Neuordnung Europas‘ abgeschafft werden wird, ist die Post. Ohne ihre Abschaffung bleiben alle Versuche, die Kultur endgültig zu beseitigen, nur halbe Maßnahmen. 29 Solange die Möglichkeit zur Korrespondenz besteht, bleiben auch die Grenzen der Barbarei porös, denn im schriftlichen Austausch tauscht sich die Kultur selbst aus. Die „ganz mittelalterlichen Schranken“ zeigen sich somit nicht zuletzt in der modernen Postüberwachung, die mit der europäischen Machtausdehnung des Dritten Reiches einhergeht: die Dichte seiner Außengrenzen manifestiert sich im Abreißen des Briefverkehrs bis hin zur vollständigen Briefstille. V. Grenzwässer In Ein Zeitalter wird besichtigt schildert Heinrich Mann rückblickend seine Reise per Zug von Frankfurt am Main nach „Straßburg, geschrieben Strasbourg“, 30 mit der sein eigentliches Exil beginnt. Die Reise hätte unscheinbarer nicht sein können, mit Regenschirm, in Begleitung seiner Ehefrau und mit den Gepäckstücken im Netz, doch von der Rheinüberquerung ins benachbarte Frankreich geht erhebliche Symbolkraft aus: „So sieht, will es scheinen, der Rubikon aus. Hinter dem verhängnisvollen Fluß, den ich wähle, liegt das Exil“. 31 Der Rhein ist ein Grenzfluss, wie der Rubikon, den Cäsar auf dem Feldzug nach Rom überquerte und von dem es kein Zurück mehr geben sollte: „alea iacta est“. Während für Mann die Verbannung permanent ist - „Wer Emigrant ist, muß Emigrant bleiben“ 32 -, betrachtet Brecht das Exil als Provisorium, ein Strohdach, 29 Bertolt Brecht: Briefe. Hg. von Günter Glaeser. Frankfurt am Main 1981, S. 413. 30 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Berlin 1982, S. 349. 31 Ebd., S. 347. 32 Ebd., S. 348. <?page no="22"?> Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze 21 das dem Flüchtling nur kurzzeitig eine Bleibe sein soll. Doch auch ihn trennt das Wasser von der Heimat, der dänische Øresund, dem er in den Exilgedichten große Bedeutung beimisst. Seine Grenze ist eine Wassergrenze, seine Exilstätte ein Haus am Strand einer Insel, wie er auch in seiner Korrespondenz immer wieder erwähnt. So schreibt er 1934 an den Maler George Grosz: „Seit einigen Monaten haust Dein Freund in einem strohgedeckten, länglichen Hause auf einer Insel mit einem alten Radiokasten. Wie so manchen andern hat auch ihn der Zorn des Volkes hinweggespült.“ 33 Von der braunen Flut vertrieben, bietet ihm der Sund sowohl Schutz vor als auch Nähe zu den Feinden daheim. „Auf, betritt das Schiff“, so lädt er Grosz ein, „Nirgends sitzest Du näher an Deiner Heimat! “ 34 Das umringende, trennend-verbindende Wasser wird zur tragenden Metapher exilischen Seins, und die Exilinsel bietet dem „Gestrandeten“ Schutz. 35 Nun gilt es zu lernen, auch von den Schicksalsgenossen; Schiffbrüchigen, die das Exil auf die Insel verschlagen hat. So auch im Gedicht Bericht über einen Gescheiterten , das schildert, wie der Havarie des Exils Lehrreiches abzugewinnen sei: Als der Gescheiterte unsere Insel betrat Kam er wie einer, der sein Ziel erreicht hat […] Aus den Erfahrungen seines Schiffbruchs Lehrte er uns das Segeln. Selbst Mut Brachte er uns bei. Von den stürmischen Gewässern Sprach er mit großer Achtung, wohl Da sie einen Mann wie ihn besiegt hatten. Freilich Hatten sie dabei viel von ihren Tricks verraten. Diese Kenntnis würde aus uns, seinen Schülern Bessere Männer machen. 36 Die Insel erweist sich somit als Ort des Lernens, dessen erkenntniserweiternde Lage von der Nähe zur Grenze bestimmt wird. Wenn nicht sichtbar, so ist sie doch hörbar und stellt eine auditive Verbindung zum Terrorregime in der Heimat her. „Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! “ heißt es in Über die Bezeichnung Emigranten . „Wir hören die Schreie / Aus ihren Lagern bis hierher“. 37 Der Lernende weiß, dass die idyllische Ruhe trügt und sich über den Wässern eine Klanglandschaft des bevorstehenden Krieges ausbreitet: Gedanken über die Dauer des Exils verleiht dieser Klangbühne besonders bildhaft Ausdruck: 33 Brecht: Briefe (Anm. 29), S. 207. 34 Ebd., S. 208. 35 Bertolt Brecht: Auf einen Emigranten. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 622. 36 Bertolt Brecht: Über einen Gescheiterten. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 623. 37 Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 718. <?page no="23"?> 22 Johannes F. Evelein Über das gekräuselte Sundwasser Läuft ein kleines Boot mit geflicktem Segel. In das Gezwitscher der Stare Mischt sich der ferne Donner Der manövrierenden Schiffsgeschütze Des Dritten Reiches. 38 Brecht entflieht den „Schlachtflotten des Anstreichers“ 39 auf dem Seeweg, über blaue Grenzen hinweg von Dänemark über Schweden und Finnland nach Russland, währenddessen er zurückblickend - wie der Engel der Geschichte seines Freundes Walter Benjamin - die Opfer des Dritten Reiches verzeichnet: „Flüchtend vom sinkenden Schiff, besteigend ein sinkendes - / noch ist in Sicht kein neues -, notiere ich / Auf einen kleinen Zettel die Namen derer / die nicht mehr um mich sind“. 40 Unter den Gegangenen ist auch Benjamin, dessen Todesnachricht Brecht kurz zuvor erreicht hatte und dessen Resignation die existenzgefährdende Bedrohung der Grenze betont: „An der unübertretbaren Grenze / Müde der Verfolgung, legte er sich nieder / Nicht mehr aus dem Schlaf erwachte er“. 41 VI. Laotses Grenzgang Brechts wohl bedeutendste literarische Auseinandersetzung mit dem Motiv des Grenzübertritts ins Exil ist die knappe, auf dreizehn Strophen belaufende Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration . 42 Brecht hatte bereits 1920 den taoistischen Philosophen kennengelernt, „und der stimmt mit mir so sehr überein, daß er immerfort staunt“. 43 Fast zwanzig Jahre später und nun seit über fünf Jahren im dänischen Exil widmet er dem pazifistischen Lehrmeister ein Gedicht, dessen unmittelbarer Gegenwartsbezug hervorsticht, das aber gleichzeitig die Verbannung im „wieder einmal“ als transhistorisches Schicksal darstellt: der Siebzigjährige sieht sich gezwungen, seine Heimat zu verlassen, „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich / 38 Bertolt Brecht: Gedanken über die Dauer des Exils. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 816. 39 Bertolt Brecht: 1940. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 817. 40 Bertolt Brecht: Die Verlustliste. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 829. 41 Ebd. 42 Bertolt Brecht: Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. In: ders.: Gedichte (Anm. 4), S. 660-663. Siehe auch Heinrich Detering: Brecht und Laotse. Göttingen 2008. 43 Bertolt Brecht: Tagebücher 1920-1922; Autobiographische Aufzeichnungen 1920-1954. Hg. von Herta Ramthun. Frankfurt am Main 1978, S. 66. <?page no="24"?> Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze 23 Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu“. 44 Das Brecht’sche Exilgebot „Habe nichts“ spiegelt sich in Laotses Grenzgang wider, dessen „Pfeife, die er immer abends rauchte“ stilisierend den Bezug zur eigenen Flucht ins Exil herstellt. Auch hier erweist sich die Grenzüberquerung als Schwellenereignis, das den Grenzgänger herausfordert und ihn zur Stellungnahme auffordert. Den Dialog mit der Grenze ermöglicht der Zöllner, dessen Aufgabe es ist, in Erfahrung zu bringen, ob „Kostbarkeiten zu verzollen“sind. 45 Die Weisheit des Alten, wenn auch kostbar, lässt sich nicht ohne weiteres verdinglichen, doch die Frage des Zöllners gebietet eine Antwort, und so steigt Laotse von seinem Ochsen und erstellt in sieben Tagen, zusammen mit seinem Knaben, die einundachtzig Sprüche, aus denen das Tao Te King , das Buch vom Sinn und Leben, besteht. Wäre da nicht der Zöllner gewesen, hätte es die Grenze nicht gegeben, so hätte der Anreiz zum Niederschreiben der Weisheit gefehlt. Die Grenzüberschreitung hat eine auslösende Kraft und fungiert gleichsam als geburtshelferisches Instrument, dem Rechnung zu tragen ist und Achtung gebührt: Aber rühmen wir nicht nur den Weisen Dessen Name auf dem Buche prangt! Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt. 46 Die Grenze fordert das Gedankliche an den Tag, macht das Abstrakte konkret und übt im Entreißen und Abverlangen eine produktive Gewalt aus. Die Grenze bewegt, stimmt zur Besinnung und verleiht dieser auch eine Form. „Schreib mirʼs auf! “, ruft der Zöllner. „So was nimmt man doch nicht mit sich fort“. 47 Der Exilant ist letztendlich der ultimative Grenzgänger, dessen Grenzerfahrungen lebendig bleiben und immer wieder nach Ausdruck verlangen. Die Grenze reizt zur dauerhaften kritischen Auseinandersetzung, zur krisenbewussten Kritik im Sinne Liessmanns, und wird so zum Wesensmerkmal des Exils. Vor dem Exil liegt die Grenze, doch trägt der Exilant die Grenze auch mit sich in die Verbannung. „Die Grenzpfähle“, so lautet ein 1938 entstandenes Gedichtfragment von Brecht, „Sind zum Herumtragen. / Die da schweigen zu den Schreien der Gequälten / Werden selber schreien und nicht gehört werden“. 48 44 Brecht: Legende (Anm. 42), S. 660. 45 Ebd., S. 661. 46 Ebd., S. 663. 47 Ebd., S. 662. 48 Bertolt Brecht: Gedichte aus dem Nachlaß 2: Gedichte, Gedichtfragmente und -entwürfe. In: ders.: Gesammelte Werke, Supplementband IV. Hg. von Herta Ramthun. Frankfurt am Main 1982, S. 291. <?page no="26"?> Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns 25 Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns Polysemantik und Deutungsperspektiven Hermann Gätje, Saarbrücken Heinrich Mann gilt als Schriftsteller der Widersprüche und Spannungen, die Meinungen über ihn klaffen auseinander. Kaum ein Autor der deutschen Literatur polarisiert in dieser Weise. Das Spektrum der Urteile über sein Werk ruft das Bild eines Grenzgängers zwischen Kunst und Kitsch hervor. Einige Romane von ihm gelten als Meisterwerke, andere werden als Kolportage abgetan. In der Summe seiner politischen Aktivitäten und Positionierungen lassen sich einerseits humane Überzeugungen, frühe und kluge Einsicht in manche fatale Entwicklungen und andererseits verblendete Fehleinschätzungen sowie irrationales Wunschdenken pointiert gegenüberstellen. Heinrich Mann hat persönlich und in seinen Werken Grenzen zwischen den Nationen und Kulturen, zwischen den sozialen Klassen überschritten und thematisiert. Schon daher liegt es nahe, sein Schaffen und Wirken mit dem Begriff des „Grenzübertritts“ sinnbildlich zu charakterisieren. Zugleich hat er als Autor des Exils zahlreiche tatsächliche Grenzübertritte vollziehen müssen, die für ihn existenzielle Bedeutung hatten und die er in seinen Texten reflektiert hat. Es überrascht daher kaum, dass vom Begriff „Grenze“ abgeleitete Topoi in der Literatur zu Heinrich Mann häufig auftauchen. Die Charakterisierung als Grenzgänger findet sich in Bezug auf zahlreiche Aspekte seiner Persönlichkeit. Doerte Bischoff sieht ihn und seinen Bruder Thomas als „Grenz-Gänger eines Europa-Diskurses“, 1 Marcel Reich-Ranicki formuliert, dass Gottfried Benn Heinrich Manns Romantrilogie Die Göttinnen „als etwas gänzlich Neuartiges“ ansah, „einen Vorstoß, der weit über die Grenzen der am Anfang des Jahrhunderts dominierenden erzählenden Prosa (etwa vom ‚Stechlin‘ bis zu den ‚Buddenbrooks‘ von Paul Heyse bis zu Ricarda Huch und Eduard von Keyserling, Emil Strauss und Hermann Hesse) führe und somit den Bereich der Literatur kühn und kraftvoll ausdehne.“ 2 Reich-Ranicki selbst hingegen attestiert den Göttinnen Nähe zur Trivialliteratur, und da er nur ein paar Zeilen nach der eben zitierten Stelle in 1 Doerte Bischoff: Repräsentanten für Europa? Thomas und Heinrich Mann als Grenz- Gänger eines Europa-Diskurses in ihren Essays 1914-1933. In: Jürgen Wertheimer (Hg.): Suchbild Europa. Künstlerische Konzepte der Moderne. Amsterdam 1995, S. 18-37. 2 Marcel Reich-Ranicki: Thomas Mann und die Seinen. Frankfurt am Main 1990, S. 121. <?page no="27"?> 26 Hermann Gätje seinen Ausführungen schreibt, Heinrich Mann „haperte“ es an „Geschmack“, 3 evoziert er unweigerlich die Wortassoziation, dass Heinrich Mann die Grenzen des guten Geschmacks häufig überschritten habe. Gemäß der Thematik „Grenze als Erfahrung und Diskurs“ möchte ich im Folgenden die persönliche Erfahrung des Grenzübertritts bei Heinrich Mann mit dem Topos der „Grenze“ in seinem literarischen Schaffen im Hinblick auf seine zahlreichen Bedeutungsimplikationen in Beziehung setzen. Anhand von Textstellen aus verschiedenen Schaffensphasen soll exemplifiziert werden, dass in seinem Werk die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Grenze“ in den unterschiedlichsten Facetten auftauchen und sich dabei strukturelle Zusammenhänge aufzeigen lassen. Inspiration und Ausgangspunkt meiner Ausführungen ist die Schilderung der Flucht über die Pyrenäen in seiner Autobiografie Ein Zeitalter wird besichtigt , die 1946 erstmals erschien. Die Textpassage ist eine Schlüsselszene in seiner Lebensbeschreibung und lässt sich sinnbildlich für seinen Lebensweg und seine Persönlichkeit deuten. Mann beschreibt ausführlich den wagemutigen Fußweg über die Pyrenäen von Frankreich nach Spanien im Jahr 1940. Im autobiografischen Rückblick rekurriert er auf seine Kindheit, parallelisiert das Geschehen sinnbildlich einerseits als wiederkehrendes Muster seines Lebensnarrativs, als neuen Aufbruch, andererseits stellt er das Bedrohliche, Abweichende dieses Ereignisses heraus, indem er diese Flucht mit Bergwanderungen der Jugend kontrastiert: Den frischen Wind dieses Morgens fühle ich noch. So kann ich die Luft verschiedener, sehr verschiedener Morgenstunden zurückrufen, wenn ich einst aufbrach und hatte vor Freude nicht geschlafen, oder vor Unruhe nicht, vor Sehnsucht. Oder ich war wundervoll ausgeruht, weil nur das Vertrauenswürdige bevorstand, ein grüner Berg, zweitausend Meter hoch. […] Der kalte Hauch meines Aufbruchs von Marseille befremdete eigentümlich. Ohne weiter zu insistieren, brachte er Nachricht aus künftigen Tagen, die nichts mehr von Belang zu melden hatten. 4 Der mehrdeutige Kapiteltitel Über den Berg versinnbildlicht den Berg als Grenze und wirft die Frage auf, ob es im Werk Heinrich Manns raumsemantische Konstanten gibt, also Textstellen, in denen geografische Entitäten wie Berge oder auch Gewässer wie Meere, Flüsse, Seen Grenzen darstellen bzw. symbolisieren und Analogien zu der Textpassage aus seiner Autobiografie aufweisen. Die Rolle des Meeres in seinem Werk wurde von der Forschung bereits hervorgehoben, 3 Ebd., S. 122. 4 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Erinnerungen. Frankfurt am Main 1988 [Heinrich Mann: Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. von Peter-Paul Schneider], S. 477 f. <?page no="28"?> Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns 27 auch in dieser Passage erscheint es: „Wir ergingen uns am Meeresstrand, zehn Uhr vormittags, in der Meinung bis übermorgen hierzubleiben.“ 5 Die Erzählung des mühevollen Fußmarsches zur Grenze wird zur Reflexion über Alter und Jugend. Heinrich Mann kann diesen Weg nur mit Hilfe seiner Frau und seines Neffen Golo bewältigen. In der Reflexion über diesen nimmt er Bezug auf das Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation und verknüpft den Grenzübertritt mit lebensphilosophischen Überlegungen. Die „Dornen“ auf den Pfaden verweisen nicht nur auf das unwirtliche Gelände, sie stehen in ihrer christlichen Symbolik für den Lebens- und Leidensweg des Exilanten. Ich erging mich auf meinem Dornenweg noch immer wie Gott in Frankreich. Ob ich die Grenze des anderen Landes in zwei Stunden oder nie mehr überschritt, ich durfte es dem Lauf der Welt anvertrauen. 6 In dieser Szene lässt sich die Polysemantik der Grenze im Chronotopos der Flucht über den Berg fassen. Einerseits schildert Mann einen tatsächlichen Grenzübertritt, andererseits verweist er auf die Aufbrüche seiner Jugend. Letztere versinnbildlichen im autobiografischen Kontext die eigenen Anfänge und Lebensziele als Mensch, Schriftsteller und Politiker, den Ausbruch aus bürgerlichen Konventionen, den Einsatz für die Republik, den Kampf gegen den Nationalsozialismus. So liegt es nahe, auch das Lebensmotto Manns als permanenten Aufbruch zu Grenzüberschreitungen zu begreifen. Doch die geschilderte Grenzüberschreitung von 1940 gelingt ihm nur noch mit letzter Kraft. Die Flucht aus Europa vor Hitler wird angesichts der militärischen Erfolge des Deutschen Reichs in einem resignativen Gestus erzählt, der durch die Reflexion über die Gebrechlichkeit des Alters unterstrichen wird. Analogien zu dieser Textstelle finden sich in der frühen Romantrilogie Die Göttinnen , die Ende 1902 erschien. Die Protagonistin, die dalmatinische Herzogin von Assy, drängt wie der junge Heinrich Mann nach Taten und politischer Umwälzung. Sie zettelt eine politische Revolte an und muss über das Meer nach Italien fliehen: Noch in der Nacht sollte der Staatsstreich geschehen; stattdessen fand die Nacht sie, mit Mühe der Verhaftung entgangen, weit draußen im Meer. Ihr Tag hatte im Harem begonnen und in einer Volksrede gegipfelt; sie beschloß ihn auf dem Hinterdeck einer schwerfälligen Segelbarke, allein und flüchtig. 7 5 Ebd., S. 478. 6 Ebd., S. 480. 7 Heinrich Mann: Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy. Düsseldorf 1976 [Heinrich Mann: Werkauswahl in 10 Bänden], S. 85. <?page no="29"?> 28 Hermann Gätje Die Beschreibung der Fahrt übers Meer weist Ähnlichkeiten mit der Überwindung des Berges in der Autobiografie auf. Einerseits eröffnet das Meer den Weg der Flucht, andererseits birgt es Gefahren, die bewältigt werden müssen. Während der Überfahrt geht der Sohn des Begleiters der Herzogin Pavic spurlos über Bord. Die Bedrohlichkeit der See wird bildlich veranschaulicht: Einmal, als sie die Augen öffnete, hatte das Meer die Finsternis durchbrochen, von der es gebannt gehalten war. Eine graue Schlange, krümmte es sich um sie her und wollte sie ersticken. 8 Wie Heinrich Mann in der Autobiografie ruft die Herzogin während der Überfahrt das Vergangene zurück und zieht die Bilanz ihrer politischen Aktivitäten: ‚Wo die Sonne aufgeht, liegt das Land, das ich verlassen habe. […]‘ 9 ‚Gestern abend beim Einsteigen habe ich noch gelacht. […] Ich weiß nicht einmal, ob ich Feste gab, um eine Revolution anzuzetteln, oder ob ich durch Verschwörung und Umsturz meine Geselligkeit beleben wollte. […]‘ 10 „Über Schönheit und Stärke ein Reich der Freiheit aufzurichten: welch ein Traum! “ 11 Die Überfahrt glückt schließlich: In der Dunkelheit begegneten sie heimkehrenden Fischerbooten. Und endlich landeten sie. „[…] in die Stadt dürfen wir uns nicht getrauen.“ „Warum nicht? “ meinte sie. „Hoheit, wir sind politische Flüchtlinge.“ Sie standen ratlos am Strande. […] Sie wanderten an einer Dorfmauer hin; es war ein Passionsweg darauf gemalt. 12 Die Erwähnung des Passionswegs kann hier ähnlich interpretiert werden wie die Dornen in der Schilderung der Überquerung des Berges in der Autobiografie. Die Flucht übers Meer und der symbolistische Schluss der Roman-Trilogie Die Göttinnen sind sinnhaft miteinander verknüpft. Das Sterben der Herzogin wird unterlegt von einem Bild, mit dem der Maler Jakobus ihren Tod antizipiert und künstlerisch stilisiert, eindeutig eine Anspielung auf Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel : 8 Ebd., S. 87. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 88. 11 Ebd., S. 89. 12 Ebd., S. 90. <?page no="30"?> Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns 29 Und in der weißen Helle, sah die Herzogin in das plötzlich entschleierte Bild ihrer letzten Verwandlung. Sie stand im hohen Kahn auf dem Nebelmeer, die Brust flach unter dem fahl gleißenden Panzer, schwarzes Haar am Rande des Helmes, der matt herausschien aus Wolken, und die müde, blasse Hand auf den Schwertknauf gestreckt. Sie war die Jungfrau, die, von allen Gewalten des heißen Lebens verwüstet, im Glanze einer anderen, unangreifbaren Reinheit von dannen fuhr. Ihr Maler hatte mehr gemalt als ihr Sein und ihr Vergehen. Aus diesem weißen Gesicht, das kühl erhoben über das Leben hinwegsah, grüßten im Verscheiden die großen Träume von Jahrhunderten. 13 Die Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod spielt auch in der 1905 entstandenen Novelle Heldin aus der Sammlung Stürmische Morgen eine zentrale Rolle. Der Text greift wie viele andere Werke des Schriftstellers den kulturellen Gegensatz zwischen nördlich-germanischem und südlich-romanischem Temperament auf. Die Handlung spielt in einer Stadt an einem See in Italien, der unmittelbar die Grenze zum Norden bildet. Der Ort bleibt ungenannt und ist daher als typologische Stilisierung, als Sinnbild der Grenze zu verstehen. Es wird auf die Nähe des Sees zur anderen Seite verwiesen: „Sehen Sie, Fräulein Lina, am Ende dieser engen, wimmelnden Gasse den Turm, den stillen grauen Wachtturm am Hafen? Seit tausend Jahren steht er dort: hinter sich die Stadt, vor sich den See in seinen blauen Luftschleiern, worin der Umriß des Gebirges sich verstrickt, aus denen sonst, wie aus der Ewigkeit, Feinde auftauchten, und in die sie, abgeschlagen, zurücksanken. Wie viele Geschlechter haben dem alten Wachtturm ihr Heil verdankt. […]“ 14 Die Novelle unterlegt eine tragisch endende Dreiecksgeschichte zwischen den einheimischen Mädchen Grete und Lina, die unterschiedliche Frauentypen verkörpern, und dem deutschen Studenten Roland. Am Schluss steht der Selbstmord der sensiblen Lina. Der Handlungsort ist von seiner Grenznähe geprägt, „Lastträger, Zolleute, Schiffer“ bestimmen das Stadtbild, „die Finanzwache zerrte einen Schmuggler aus seiner Kajüte hervor“. 15 Das hier im Zusammenhang mit der Grenze angesprochene Gebirge weist motivische Ähnlichkeiten zu den Pyrenäen in Ein Zeitalter wird besichtigt auf. Auch ein Gewässer, hier der See, stellt eine Grenze dar. Die Kulisse des Ortes, seine Grenznähe ist in der Komposition nicht zufällig: 13 Ebd., S. 699. 14 Heinrich Mann: Stürmische Morgen. Novellen. Frankfurt am Main 1991 [Heinrich Mann: Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. von Peter-Paul Schneider], S. 13. 15 Ebd., S. 14. <?page no="31"?> 30 Hermann Gätje Der Scheinwerfer, der die Ufer des Sees nach Schmugglern durchsuchte, schoß von Zeit zu Zeit sein grellweißes Licht durch den Garten. Einmal verweilte es auf Lina; und sie legte die Augen in die Hand und fühlte ihr Gesicht noch heißer werden. […] Wie sie sich geborgen fühlte in der dunklen Flut, unter dem dunklen Himmel. […] Da machte der Strahl des Scheinwerfers eine jähe Wendung und traf grell die Badehütte. 16 Das Licht enthüllt ein Stelldichein von Grete und Roland, was auslösendes Moment für Linas Freitod wird. Ein wesentliches Thema in Heinrich Manns Werk ist die Frage der Grenzüberschreitung im Hinblick auf soziale Klassen und Normen. Cheng Hui-Chun überträgt Lotmanns Raummodell und seinen Grenzbegriff auf den Aufsteigerroman Im Schlaraffenland von 1900: Im Sinne von Lotmans Raummodell bei der Erzählanalyse wird Andreas Zumsee durch seinen unkonventionellen Charakter zu einer „bewegten Figur“ in dieser sujethaften Erzählung, welche klassifikatorische Barrieren leicht überschreiten kann. Er ist Grenzgänger zwischen der „feinen Gesellschaft“ des Romans und seiner eigenen sozialen Situation. Andreas Zumsee ändert seinen Stand - zuerst infolge der Regie von Köpf und danach auf Anweisung von anderen Schlaraffianern - und steigt von einem besitzlosen Studenten zu einem Mitglied des Schlaraffenlands auf. 17 In Professor Unrat (1904) finden sich einige explizite Erwähnungen des Begriffs Grenze, die das Exzessive des Romans als „Grenzübertritte“ in mehrfacher Bedeutung signalisieren: Da ging Unrat unter in der schwindelnden Panik des Tyrannen, der den Pöbel im Palast und alles verloren sieht. In diesem Augenblick war ihm jede Gewalttat recht, er kannte kaum noch Grenzen. 18 Aber er konnte sie [die Schüler] nicht zwingen, schön zu finden, was nach seinem Ermessen und Gebot schön war. Hier war vielleicht die letzte Zuflucht ihrer Wider- 16 Ebd., S. 27 f. 17 Cheng Hui-Chun: Das Gesellschaftsbild in Heinrich Manns frühen Romanen: „Im Schlaraffenland“, „Professor Unrat“ und „Die kleine Stadt“. München 2010 [Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität], S. 64. URL: https: / / edoc.ub.uni-muenchen.de/ 11991/ 1/ Cheng_Hui-Chun.pdf (zuletzt abgerufen am 9. August 2017). 18 Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Roman. Berlin und Weimar 1966 [Heinrich Mann: Gesammelte Werke. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Band 4], S. 53. <?page no="32"?> Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns 31 setzlichkeit. Unrats despotischer Trieb stieß hier auf die äußerste Grenze menschlicher Beugungsfähigkeit … Er ertrug es kaum. 19 Die Furcht vor ihrem Treiben [der Schüler] ließ ihm allmählich das Äußerste tunlich und alle zwischen den Menschen gesetzten Grenzen überschreitbar erscheinen. 20 Die Frage nach der Überschreitung der „Grenzen des moralisch Zulässigen“ steht im Zentrum einer Gerichtsverhandlung. 21 In dem Roman Ein ernstes Leben von 1932, der in Teilen auf die Biografie seiner Freundin und späteren Frau Nelly Kröger zurückgreift, schwingt die soziale Mobilität und der Wunsch nach dem Ausbruch aus bescheidenen Verhältnissen mit; ebenso impliziert die Kriminalhandlung die Überschreitung von sozialen Normen. Der oben skizzierte Bedeutungskontext des Meeres als Grenze lässt sich hier mit der Bedeutung der Grenze im Hinblick auf soziale Klassen und Normen in Beziehung setzen. Die Hauptfigur Marie wächst unter einfachsten Verhältnissen in einem Ort an der Ostsee auf, das Meer symbolisiert in dem Roman Begrenzung, Bedrohung durch die Flut (das Elternhaus wird zerstört) und zugleich den Wunsch nach Flucht und Ausbruch aus den Verhältnissen. Als Marie durch ein wohlhabendes Haus, in dem sie arbeiten soll, geführt wird, heißt es: „Dort aber hing eine Erdkarte, mit allen Meeren - einzig ihretwegen blieb Marie stehen. ‚Was machen Sie denn? ‘ fragte Lissie ausnahmsweise verwundert. ‚Ich zeige Ihnen eine ganz große Klasse nach der andern, und hier kieken Sie! ‘“ 22 Der sinnbildliche Charakter dieser Stelle ergibt sich in der Romanhandlung daraus, dass Maries Freund Mingo auf See ist, um vor Strafverfolgung zu fliehen. Als Marie das Haus endgültig verlässt, denkt sie: „Ich gehe noch einmal in das Pingpongzimmer, zu der Karte mit den Weltmeeren.“ 23 Der Roman zeigt die verschiedenen Bedeutungen des Meeres als Grenze auf: es kann Begrenzung, Bedrohung und zugleich Flucht- und Rettungsweg sein. Auch wenn der Roman auf Nelly Krögers Herkommen aus einem Ort an der Ostsee Bezug nimmt, ist es im Kontext der Bedeutung des Meeres als Grenze wichtig, auf Heinrich Manns Herkunft aus der Seestadt Lübeck zu verweisen, die gewiss nicht ohne Einfluss auf diese Bildlichkeit gewesen ist. Die Affinität des Schriftstellers zu Italien und Frankreich verleiht seinem Werk eine weitere Nuance der Grenzüberschreitung. Bereits seine frühen Texte kon- 19 Ebd., S. 97. 20 Ebd., S. 110. 21 Ebd., S. 160. 22 Heinrich Mann: Ein ernstes Leben. Roman. Frankfurt am Main 1991 [Heinrich Mann: Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. von Peter-Paul Schneider], S. 123. 23 Ebd., S. 154. <?page no="33"?> 32 Hermann Gätje trastieren südliche Lebensart und Temperament mit dem nördlichen, deutschen Wesen und Charakter. Dieses Moment wurde in den Ausführungen zur Novelle Heldin bereits erwähnt und trägt konzeptionell den Italien-Roman Zwischen den Rassen (1907), in dem sich eindeutige Bezüge zu seinen brasilianischen Wurzeln mütterlicherseits finden. Mit der französischen Literatur hat er sich in zahlreichen Essays beschäftigt. Die Texte der 1931 erschienenen Sammlung Geist und Tat sind von dem Ideal getragen, die Grenze zwischen Denken und sozialer bzw. politischer Wirkmächtigkeit aufzulösen. In französischen Autoren wie Zola, Flaubert oder Anatole France, ihrem Engagement und ihrer Rezeption, sah Mann diese Synthese nahezu idealtypisch verwirklicht. Dieser zentrale Ansatz sowie seine Liebe zu Frankreich und südlicher Lebensart finden Ausdruck in seinem opus magnum, den beiden voluminösen Romanen ( Die Jugend des Königs Henri Quatre , 1935; Die Vollendung des Königs Henri Quatre , 1938) um den französischen König Heinrich IV. Das im Exil entstandene, vielschichtige historische Epos beschwört am Beispiel des guten Königs das Ideal von „Geist und Tat“, zugleich zeigt es die Grenzen seiner Verwirklichung auf. Der Text verweist auf die Historie und spiegelt zugleich die Gegenwart, stellt fundamentale herrschaftstheoretische und -soziologische Fragen, lässt auch Lebensgefühl, Autobiografisches und Wunschdenken des Autors einfließen. Sein Bruder Thomas schrieb in einem Brief vom 2. März 1939: „Résumé Deines Lebens und Deiner Persönlichkeit.“ 24 Schauplatz ist das Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts im Zeitalter der Glaubenskriege, das Züge einer Heterotopie in der Vergangenheit trägt. In diesem Erzähl-Chronotopos wird das Leben Heinrichs IV . geschildert. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Grenzen in der räumlichen Strukturierung des Romans signifikant sind und welche übertragenen Bedeutungen der Begriff der Grenze im Roman annimmt. Als Summe des Lebens und Werks seines Autors finden sich in den beiden Romanen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien zu den hier aufgezeigten Aspekten, die in der Komplexität der Texte unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Auffallend ist, dass der Begriff der Grenze in den beiden Romanen an zentralen Textstellen wörtlich erscheint. Als Sohn des katholischen Königs von Navarra Anton von Bourbon und der protestantischen Jeanne d’Abret personifiziert Heinrich IV . das heikle Verhältnis der Konfessionen im damaligen Frankreich. Sein Leben ist von zahlreichen Wechseln zwischen katholischem und protestantischem Bekenntnis gezeichnet. Im Roman symbolisiert eine Szene aus der Kindheit Heinrichs antizipierend, wie er schon sehr früh in dieses Spannungsfeld gerät: 24 Zitiert nach Wilfried F. Schoeller: Heinrich Mann. Bilder und Dokumente. München 2 1991, S. 71. <?page no="34"?> Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns 33 [E]inige protestantische Herren erschienen darin und verkündeten, der Admiral Coligny sei im Hause, […]. Der König von Navarra sogar neigte den Kopf vor diesem alten Mann und damit auch vor der Partei, die er führte. […] Der zweite der Pastoren stimmte einen Choral an. […] Denn wo sangen sie so laut, wo behaupteten sie dreist ihre Sache? Im eigenen Hause der Könige von Frankreich! Sie konnten es wagen, sie wagten es! Coligny erhob mit beiden Armen den Prinzen von Navarra [Henri] über alle Köpfe, er ließ ihn dort einatmen für sein Leben, was vorging, was diese alle waren. […] Dies alles waren recht gefährliche Überschreitungen der erlaubten Grenzen, Jeanne sah es nachher von selbst ein, ihr Gatte brauchte sie nicht lange zu warnen. 25 Ein merkwürdiger Besucher, der sich am Schluss der Szene als der legendäre Astrologe Nostradamus entpuppt, sieht Heinrich visionär als kommenden König und Einheitsstifter: Dies ist ein Kind, es ist das Unerfüllte, Grenzenlose, es hat, so schwach es ist, mehr Macht und Gewalt als alle, die schon gelebt haben. Es verspricht Leben und ist daher groß. Es ist das allein Große. Welch ein tapferes Gesicht! sieht er, als Henri grade am meisten Furcht hat. „Er ist es! “ spricht er laut […]. 26 Die von König Karl IX . angeregte, der Aussöhnung dienende Hochzeit seiner katholischen Schwester mit dem Protestanten Heinrich gerät zu einem spannungsvollen Zusammentreffen zwischen Katholiken und Hugenotten: [D]ie Katholiken drängten die Protestanten bis gegen die Ränder des Saales. An der unsichtbaren Grenze aber, die um die Königin gezogen war, ballten sie sich selbst zu einem Haufen, der sehr wachsam schien. 27 Henri, der die Hände frei bekam, sah sich um. Den Haufen an der unsichtbaren Grenze fand er verändert, nicht mehr nur neugierig oder wachsam. 28 Die eigentlichen geografischen Grenzen Frankreichs spielen in den Romanen auch eine Rolle, sie werden häufiger explizit erwähnt, meist im Zusammenhang mit Konflikten, Bedrohungen von außen. Ihre Nennung signalisiert Gefahr und Unruhe: „Schon die Reise an die Grenze hatte etwas von Unordnung.“ 29 Zugleich wird auf die Differenz zwischen territorialen Grenzen und universellen 25 Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre. Roman. Frankfurt am Main 1991 [Heinrich Mann: Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. von Peter-Paul Schneider], S. 37 f. 26 Ebd., S. 58. 27 Ebd., S. 225. 28 Ebd., S. 227. 29 Ebd., S. 382. <?page no="35"?> 34 Hermann Gätje menschlichen Werten verwiesen: „Der Glaube kannte keine Grenzen von Land und Sprache, und wer für die Wahrheit ist, der ist mein Bruder und Freund.“ 30 Heinrich wird als guter König geschildert, charakterisiert als Überwinder hergebrachter Grenzen: „Mein Reich beginnt an der Grenze, wo die Menschen weniger dumm und nicht mehr ganz unglücklich sind. Mit Gott, erobern wir’s! “ 31 oder „Henri hatte niemals so viele Bettler gezählt; seine Lage machte ihn hellsichtig, die Grenze zwischen dem Übermut und Elend wurde auf einmal furchtbar schroff.“ 32 Auch die Verteidigung seines Reiches impliziert mehr als die Verteidigung der Territorialität, die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Grenze wird deutlich: Eine regelmäßige Mehrheit findet zusammen, sie folgt dem ungewöhnlichen König. Läßt es nicht hierbei, sondern eilt voraus. Wo er auftritt, wird gerufen: „An die Grenze! “ […] An die Grenze, um den Staat zu verteidigen, wie du ihn gemacht hast. 33 Am Ende der Vollendung , in der Ansprache des Henri Quatre , „gehalten von einer Wolke herab“, zieht der König selbst posthum - nach seinem letzten Grenzübertritt - Bilanz seines Königtums: Ein König, den man „groß“ genannt hat - und sicherlich ahnte man nicht, wie treffend der Ausdruck war -, gewahrt zuguterletzt den ewigen Frieden und eine Gesellschaft christlicher Prägung. Womit er die Grenzen seiner Macht und selbst seines Lebens überschreitet. Größe? Aber sie ist nicht von dieser Welt; man muss gelebt haben und dahingeschieden sein. 34 30 Ebd., S. 71. 31 Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Roman. Frankfurt am Main 1991 [Heinrich Mann: Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. von Peter-Paul Schneider], S. 391. 32 Ebd., S. 415. 33 Ebd., S. 794. 34 Ebd., S. 942. <?page no="36"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 35 Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited Zur Aktualität literarischer Grenzerfahrung aus dem Exil Heike Klapdor, Berlin „Geh’ sein’s fesch und schreiben’s ein zeitloses Zeitstück.“ 1 Dazu fordert der Direktor den Dramatiker auf im ersten Akt eines Zeitstück [ s ] in drei Akten . Ödön von Horváth hatte dieses Dramolett Ohne Titel 1933 in einer Sondernummer der Literarischen Welt über das „Theater von heute“ publiziert. Im zweiten Akt fordern ein männlicher und ein weiblicher Star Szenen, in denen sie ihre „Limusinen“ vorfahren können, im dritten findet ein Kritiker das Stück „nicht unbegabt“, aber „zwa Limusinen […] zuviel“. Dem Dramatiker fehlen zu Beginn im Theaterbüro nur noch der Schluss seines Stückes und ein Titel, den Anfang und die Mitte arbeite er gerade um, und eigentlich sei er kein Dichter, sondern ein Politiker, dem die „gräßliche Hungersnot in China“ nicht aus dem Kopf wolle - „Vorhang“. Der mittlerweile erfolgreiche, große, 1931 mit dem Kleistpreis ausgezeichnete Bühnenautor Horváth - die Berliner Theater hatten 1931 die Italienische Nacht und die Geschichten aus dem Wiener Wald und 1932 Kasimir und Karoline herausgebracht - stellte diese kleine, böse Parodie über das zeitgenössische Theater am künstlerischen Abgrund vor den Prospekt seiner theaterästhetischen Konzeption, die er 1932 eine Gebrauchsanweisung nannte: „Alle meine Stücke sind Tragödien - sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind.“ 2 Unheimlich ja, aber nicht komisch, war 1933 ein pompös-theatralischer „Vorhang“ vor einem politischen Abgrund aufgegangen. In diesen Abgrund fallen die mit Aufführungsverbot auf deutschen Bühnen belegten Stücke Horváths, Heinz Hilperts Berliner Uraufführung von Glaube Liebe Hoffnung kommt 1933 nicht mehr zustande. Dem Abgrund weicht der Autor Ende 1934 nach Wien aus, 1938, nach dem so genannten Anschluss Österreichs, trifft er nach Stationen in Prag, Zürich, Brüssel und Amsterdam Ende Mai in Paris ein. Hier fällt wenige Tage später am 1. Juni der letzte „Vorhang“ für den 37 Jahre jungen Autor. 1 Die Literarische Welt, Sondernummer: Jenseits der Bürgerlichkeit. Theater von heute 9. Jg., Nr. 1 / 2 (1933). (Zit. nach: Traugott Krischke / Hans F. Prokop [Hg.]: Ödön von Horváth. Leben und Werk in Dokumenten und Bildern. Frankfurt am Main 1972, S. 100.) 2 Ödön von Horváth: Gebrauchsanweisung. (Zit. nach: Traugott Krischke [Hg.]: Materialien zu Ödön von Horváth. Frankfurt am Main 1970, S. 55.) <?page no="37"?> 36 Heike Klapdor Im selben Jahr, 1933, beginnt Horváth die Arbeit an dem vorläufig Die Brücke genannten Stück Hin und her , es markiert ebenso wie Die Unbekannte aus der Seine den Übergang zu seinem Spätbzw. Exilwerk. Lässt sich diese Komödie, des ironischen Bonmots für das Theater am Ende der Weimarer Republik entkleidet, als „zeitloses Zeitstück“ verstehen? Wäre die Komödie heute mehr als dramatischer Zeitgeist, also das, was Horváth in seinem Dramolett dem Weimarer Theater attestierte? Was wäre ihr ästhetisch-kritisches Potential in einem aktuellen politischen Kontext? Würde es, gegen Heinz Lunzers auf den zeitgeschichtlichen Kontext bezogene Interpretation, der „Aktualität des Themas Heimat- und Staatenlosigkeit“ gerecht? 3 Siegfried Kienzle hat Horváths Stück als eine „bewußt zeitlose Kömödie“ bezeichnet, die „Zeitbezüge“ enthalte. 4 Es verhandelt laut dem Dramatiker „das Schicksal eines Mannes, der aus einem Staat ausgewiesen […], aber in den Nachbarstaaten nicht eingelassen [wird] und […] nun gezwungen [ist], eine Zeitlang auf der Brücke zu hausen […], die über einen Fluß gelegt ist, der die Grenze zwischen den beiden Staaten darstellt“. 5 Eine biographische und eine produktionsästhetische Dimension des zeitgenössisch aktuellen grenzpolitischen Bezugs lassen sich ausmachen: 1933 lief Horváth Gefahr, seine Staatsangehörigkeit zu verlieren, denn Ungarn verlangte seit 1921 mit dem Gesetz zur Regelung der ungarischen Staatsbürgerschaft, dass im Ausland lebende Staatsbürger ihre Staatsbürgerschaft alle zehn Jahre durch einen Staatsbürgerschaftsnachweis erneuern mussten. Horváth reiste am letzten Tag vor Ablauf der amtlichen Frist am 10. Dezember 1933 nach Budapest. 6 Ein grenzpolitischer Bezug findet sich auch in einer Zeitungsmeldung, die Horváth in einem Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung erwähnt. Im Bericht vom 14. September 1933 über die geplante Premiere des Stücks am Deutschen Volkstheater Wien nennt Horváth einen authentischen Grenzkonflikt, den er einer „Zeitungsmeldung“ entnommen habe, einen „unwahrscheinlich[en]“, aber „wortwörtlich wahr[en]“ „Zufall“: „[E]in Mann [war] aus der Tschechoslowakei abgeschoben [worden], aber in Posen, wohin man ihn abschob, nicht eingelassen worden. Auch die Brücke kam in dem Telegramm vor und es hieß, daß dieser Mann mehrere Nächte auf dieser Brücke schlafend zubringen mußte.“ 7 Die eskapistische Geste des Autors, in sei- 3 „Der Aktualität des Themas Heimat- und Staatenlosigkeit wurden der Volksmärchenton und das Happy End mit zwei Hochzeiten nicht gerecht.“ (Heinz Lunzer [u. a.]: Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg 2001, S. 122.) 4 Siegfried Kienzle: Ödön von Horváth. Berlin 1977, S. 58. 5 Wiener Allgemeine Zeitung, 14. September 1933. (Zit. nach: Lunzer: Schriftsteller [Anm. 3], S. 122.) 6 Vgl. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden. Hg. von Traugott Krischke, Bd. VII. Frankfurt am Main 2001, S. 460 f. 7 Ebd. <?page no="38"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 37 nem Stück sei „[…] freilich von Phantasiestaaten die Rede, es ist dabei an keinen der existierenden Staaten speziell gedacht“, 8 hat allerdings nicht verfangen: Die am Wiener Deutschen Volkstheater für Dezember 1933 geplante Uraufführung unter der Regie von Karl Heinz Martin kam aufgrund einer Pressekampagne von rechts nicht zustande. Einen Tag nach dem Interview in der Wiener Allgemeinen Zeitung polemisierte das Wiener 12-Uhr-Blatt gegen den „berüchtigte[n]“ Autor, „der Österreich vor den Augen des Auslands in den Kot gezerrt und den Berlinern den Österreicher als kretiniertes Wesen vorgestellt hat.“ 9 Statt in Wien kommt Hin und her am 13. Dezember 1934 am Zürcher Schauspielhaus unter der Leitung von Gustav Hartung und im Bühnenbild von Teo Otto heraus. Noch nicht sein Autor - Horváth hält sich zu der Zeit in Berlin auf, empfiehlt sich als Filmautor -, aber das Stück ist schon emigriert. „[E]ine der schönsten Persiflagen auf die Herrschaft des bedruckten und gestempelten Papiers über den Menschen“, 10 „gewiss nicht gestriger, menschlich sympathischer Fall“ 11 und „wirklich bester Komödienstoff“, 12 hat gleichwohl keinen Erfolg: Die „prächtige Idee“ werde „so zerdehnt, dass ihre komödienhafte Wirkung allmählich verlorengeht, sich in Posse verflüchtigt“. 13 Der „auseinanderstrebende Komödienkuchen“ 14 mit „halb possierliche[n], halb reflexive[n] Situationen“ 15 ennuierte den Premierengast Thomas Mann, der ein „minutenweise komisches, aber zu einfallsarmes Singspiel“ 16 gesehen hatte. Nach nur zwei Aufführungen wurde das Stück abgesetzt. Martin Stern hat dieses Scheitern aus dem Genrecharakter in der Tradition der Wiener Posse und insbesondere ihres Vertreters Johann Nestroy erklärt, auf dessen Stück Hinüber - Herüber (1844) schon der Horváth’sche Titel anspielt und von dem er zum Beispiel das Handlungselement der Belohnung für die Verhaftung von Dieben übernimmt. Handlungsführung und die finale Versöhnung, vor allem aber ein assoziativer Sprachgebrauch seien 8 Ebd. 9 Zit. nach: Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 441. 10 Programmheft der Zürcher Inszenierung. (Zit. nach: Lunzer: Schriftsteller [Anm. 3], S. 122.) 11 ism. In: ‚Volksstadt’, Zürich, 17. Dezember 1934. (Zit. nach: Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition. Hg. von Klaus Kastberger. Bd. VI.: Die Unbekannte aus der Seine / Hin und her. Hg. von Nicole Streitler-Kastberger / Martin Vejvar. Berlin und Boston 2012, S. 184. 12 wti. In: Neue Zürcher Zeitung, 14. Dezember 1934. (Zit. nach: ebd., S. 183.) 13 Ebd. 14 -nn. In: Neue Zürcher Nachrichten, 15. Dezember 1934. (Zit. nach: ebd.) 15 anonym. In: Die Fledermaus, Wien, 22. Dezember 1934. (Zit. nach: ebd., S. 184.) 16 Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1977, S. 586. <?page no="39"?> 38 Heike Klapdor an ein Wiener Publikum adressiert gewesen. 17 Horváth selbst hatte im Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung zugestanden, dass seine Posse mit Gesang „in mancher Hinsicht an Nestroy und Raimund“ erinnere. 18 Johanna Bossinade sah die Anforderungen an das „Modell ‚Posse‘“ jenseits des grenzpolitischen Themas und Konflikts „nachgerade übererfüllt“. 19 Trotz dieses formtraditionellen Potentials wurde Hin und her nach 1945 in Österreich kaum aufgeführt, wie überhaupt Horváths Dramen im Kontext personeller und ästhetisch konservativer Kontinuitäten nach der nationalsozialistischen Kapitulation kaum gespielt wurden. 20 Die erste Inszenierung 1946 am Wiener Theater in der Josefstadt in der Regie von Christian Möller traf auf eine „völlig veränderte Rezeptionssituation. Vor dem Hintergrund der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Flüchtlingsproblematik, insbesondere der kontroversiellen Frage der Displaced Persons, reagierte nun die Kritik […] sehr gemischt.“ 21 Während die österreichischen Kommunisten von „Mitleidspropaganda für Vertriebene“ sprachen, 22 beeindruckte den Rezensenten der Arbeiter-Zeitung Otto Koenig die „durch die Ereignisse […] unheimlich aktualisierte Posse.“ 23 Dieser zeitgenössische politische Kontext von Auffanglagern für Displaced Persons bildete auch den Hintergrund der einzigen Verfilmung von Horváths Stück aus dem Jahr 1947. 24 Der mit Horváth seit gemeinsamen Filmarbeiten 1934 bekannte Schauspieler und Regisseur Theo Lingen transponierte Plot und Motiv auf eine Weise, die mit dem Herr-und-Diener-Motiv, Verwechslun- 17 Martin Stern: Nestroy und Horváth oder: Happy End für Staatenlose. Zu Text und Uraufführung von „Hin und her“. In: Nestroyana 22. Jg., Heft 1 / 2 (2002). 18 Lunzer: Schriftsteller (Anm. 3), S. 122. 19 Johanna Bossinade: Vom Kleinbürger zum Menschen. Die späten Dramen Ödön von Horváths. Bonn 1988, S. 148. 20 Kurt Bartsch: Frühe Horváth-Aufführungen in Österreich nach 1945. In: Klaus Kastberger (Hg.): Unendliche Dummheit - dumme Unendlichkeit. Wien 2001, S. 140 ff.; ders.: Volks- und österreichfeindlich? Zu den Horváth-Aufführungen in Österreich zwischen 1945 und den frühen sechziger Jahren. In: Helmut Koopmann / Manfred Misch (Hg.): Grenzgänge. Studien zur Literatur der Moderne. Paderborn 2002, S. 251 ff. 21 Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe, Bd. VI (Anm. 11), S. 185. 22 Bartsch: Frühe Horváth-Aufführungen (Anm. 20), S. 264. 23 Otto Koenig. In: Arbeiter-Zeitung, Wien, 8. September 1946. (Zit. nach: Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe, Bd. VI [Anm. 11], S. 186.) 24 hin und her , Österreich 1947, Uraufführung 1948 in Linz, deutsche Erstaufführung 1951, Drehbuch und Regie: Theo Lingen, mit Uschi Lingen, Curd Jürgens, O. W. Fischer, Theo Lingen. Der Film wird vom Bundesarchiv / Filmarchiv, Berlin aufbewahrt (BA / FA 4015-1 / 1). Die Autoren der Theo Lingen-Biographie erwähnen das Lager für ‚displaced persons‘ und Vorkommnisse im steiermärkischen Admont. Die alliierte Zonengrenze verlief in der Mitte der Brücke über die Enns. Rolf Aurich / Wolfgang Jacobsen: Theo Lingen. Das Spiel mit der Maske. Berlin 2008, S. 324. <?page no="40"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 39 gen und Doppelrollen und der romantischen Liebe von Königskindern feindlicher Phantasiestaaten an Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena (1836) erinnert. Zugleich politisierte Lingen in hin und her den Stoff auf satirische Weise: Gleichermaßen korrupt und autokratisch, unterscheidet sich die Monarchie Lappalien nicht von der Republik Bagatello, deren feudale Herrschaftsarchitektur im einen Fall alpenländisch dekoriert und im anderen Fall im Stil der Mussolinischen Moderne überformt ist. Beide Regierungen verfolgen jeden Oppositionsgeist, für ihre Vorstellung vom idealen Untertan blendet der Film eine Kuhbzw. Schafsherde ein. Musikkapellen übertönen öffentliche politische Rede, das ist „ein altes Rezept“. 25 Aus Horváths Protagonisten Havlicek wird der (von Theo Lingen gespielte) politisch verdächtige Fotograf Peter Vogel, dem man, der Republik verwiesen, die Einreise in seine Heimat Lappalien verweigert. Eine Künstlerfigur mit einem „romantischen Schicksal“, 26 führt der Staaten- und Heimatlose eine Bohème-Existenz, er will sich „nicht als Lappalie behandeln und auch nicht bagatellisieren“ lassen, 27 er lebt „in einem selbst gezimmerten Häuschen unterhalb der Brücke auf eigenem Hoheitsgebiet und somit exterritorial. Er ist verfolgt und geduldet zugleich.“ 28 Nicht Liebe und nicht - verhinderte - Attentate, sondern die dramaturgische deus ex machina- Figur eines plötzlich geerbten Vermögens scheint den Konflikt zu lösen, denn nun wird der Protagonist „von beiden Staaten als Steuerzahler begehrt.“ 29 Die Lösung wird aber in einem Aus-Weg gefunden, den Horváths Stück nicht erwägt: Dem in der Schlusseinstellung von einer Eulenspiegel-Figur, seinem alter ego, geratenen „Gib’s auf, Peter, fang neu an“ folgt die Hauptfigur und fährt mit einem Motorboot davon. „Wohin? […] Dahin, wo mir das nicht passieren kann, was mir hier passiert ist.“ 30 Erstmals ein größeres Publikum findet Hin und her im Rahmen der Wiener Festwochen 1960, die bundesdeutsche Erstaufführung bringt das Hessische Staatstheater Wiesbaden 1965 heraus. Beide Male setzen sich Text und Inszenierung dem Vorwurf der politischen und ästhetischen „Verharmlosung“ aus im Kontext der innerdeutschen Grenze 31 und im Kontext eines sich herausschälenden Gegenwartstheaters, zu dem es nicht passe, „im Grenzübergang einen Operettenstoff zu sehen.“ 32 25 Zit. nach hin und her (Anm. 24). 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Aurich / Jacobsen: Theo Lingen (Anm. 24), S. 323. 29 Ebd., S. 324. 30 Zit. nach: hin und her (Anm. 24). 31 Österreichische Neue Tageszeitung, 2. Juni 1960. (Zit. nach: Wiener Ausgabe, Bd. VI [Anm. 11], S. 187.) 32 Uwe Schultz. In: Süddeutsche Zeitung, 3. Januar 1966. (Zit. nach: ebd., S. 188.) <?page no="41"?> 40 Heike Klapdor Die Wiener Schriftstellerin Hazel Rosenstrauch hat anlässlich der Verleihung des Theodor Kramer Preises im September 2015 gefragt, „wie man die Gedanken und Gefühle der Exilautoren von damals aus der Büchse holen [kann], damit sie auch die Gegenwart beleuchten und womöglich Unruhe stiften können? “ 33 Vor dem ‚Wie‘ theatraler Versuche der Gegenwart aber sollte deutlicher werden, was Hin und her dafür anbietet: Der Plot ist inzwischen hinreichend deutlich geworden: Aufgrund fehlender Papiere aus dem einen Staat ausgewiesen und in den anderen nicht hineingelassen, bewegt sich der alleinstehende, bankrotte und „heimatlose“ Ferdinand Havlicek auf der die beiden Staaten trennenden bzw. verbindenden Brücke über den Grenzfluss „hin und her“, bis er am Ende aufgrund positiver Wendungen im Besitz einer Einreiseerlaubnis ist und eine Zukunft als Ehemann und Gastwirt hat. Der Titel stellt den Bewegungscharakter der Handlung ins Zentrum, ein die Gattung Komödie konstituierendes dynamisches szenisches Spiel, das in allen Spielarten dramatische Aktion aus ihrer physischen Dimension gewinnt. Tragisch gewendet als begrenzte Bewegung einer physisch beschädigten Figur, die als „Krüppel“ allenfalls „hin und her“ gehen kann, hat sie in Horváths frühem Stück Niemand (1924) eine leitmotivische Funktion. Von der Sehnsucht ihrer Überwindung geprägt, korrespondieren hier die physisch und räumlich begrenzte Bewegung und die metaphysischen Bewegungen der psychologischen Unruhe und der philosophischen Reflexion auf Schicksal und Determination. 34 Wie das Treppenhaus in Niemand fokussiert der Schauplatz von Hin und her die Brücke als „Nicht-Ort“, 35 als Zwischen- und Aufenthaltsraum. Die Brücke und die sie links und rechts begrenzenden Brückenköpfe machen den Gegensatz von Grenzraum und Grenze, wie ihn Norbert Wokart definiert hat, sinnfällig: Ein Grenzraum selber ist keine Grenze, vielmehr hat er Grenzen, zwischen denen sich Sachverhalte überlappen und durchdringen. Er wirkt dadurch wie ein Rand; denn Ränder sind diffus und fransen leicht aus, und man weiß bei ihnen nicht immer ganz 33 Hazel Rosenstrauch: Ein Preis für Schreiben über Menschen in Exil und Widerstand. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands 32. Jg., Heft 4 „Auf der Flucht“, Dezember 2015, S. 22. 34 Ödön von Horváth: Niemand. Tragödie in sieben Bildern (1924). Wien o. J. Das erst kürzlich als Typoskript aufgetauchte und bis dato unbekannte Stück wurde im September 2016 am Wiener Theater in der Josefstadt in der Regie von Herbert Föttinger uraufgeführt, deutsche Erstaufführung im März 2017 am Berliner Deutschen Theater, Regie: Dusan David Parizek. Das Stück spielt in einem Treppenhaus, in dem sich die Bewohner eines Mietshauses begegnen. Der Protagonist ist „[…] Herr Lehmann, Hausherr […] und Pfandleiher / der kann hier nie hinaus, denn er kann nicht die Treppe herunter / so humpelt es oft im Treppenhause: hin und her / […].“ (S. 13) 35 Henrieke Beuthner im Programmheft „Hin und Her“, Schauspiel Frankfurt am Main, 11. Oktober 2015, S. 3. <?page no="42"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 41 exakt, ob man noch bei diesem oder schon bei jenem ist. Dagegen bezeichnet eine Grenze immer einen harten und eindeutigen Schnitt. 36 In der Dynamik des Grenzraums, der sich nicht mit geopolitischen Markierungen deckt, etabliert sich historisch wie literarisch der so genannte Kleine Grenzverkehr. 37 Die Brückenköpfe, an denen in Horváths Stück die beiden Grenzorgane ihres Amtes walten und die einer „Baracke“ bzw. einer „halbverfallenen Ritterburg“ gleichen, liegen „etwas abseits“ in einer idyllischen Gegend mit „schöne[n] Wolken“. 38 Die hinter den Brückenköpfen liegenden Staaten sind wie ihre Regierungsrepräsentanten namenlos und zeitenthoben. Die unspezifische und reduzierte Eigenart von Zeit und Raum hebt den experimentellen Charakter des Spiels hervor. Die Zuschauer beobachten im übersichtlichen Rahmen der aristotelischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung einen Fall, den der Protagonist selber „interessant“ findet und verfolgt. 39 Das Thema des Stückes - Heimat- und Staatenlosigkeit - verknüpft individuelle, subjektive und kollektive, politische Identität ex negativo und wird durch das - exilbzw. migrationsrelevante - Motiv des ‚fehlenden Ausweis‘ konkretisiert. Der verlangte „Grenzschein“ 40 bedingt die „Rede- und Handlungsabläufe des ganzen Stücks“. 41 Am Ende erhält der Protagonist keinen regulären Pass, der das Pendant des ‚fehlenden Ausweis‘ wäre, sondern ihm öffnet sich aufgrund einer „außertourliche[n] und außerinstanzliche[n] ministerielle[n] Verfügung“ die Grenze. 42 Die einmalige Einreiseerlaubnis verdankt er einer „menschlichen Tat“ des Regierungschefs, sie ist kein politischer, sondern ein humaner Akt. 43 Weitere Motive dramatisieren den identitätsphilosophisch-politischen Kern des Stücks: Das Motiv der Grenze hat eine räumliche Dimension, die die Unterscheidung 36 Norbert Wokart: Differenzierungen im Begriff ‚Grenze‘. In: Richard Faber / Barbara Neumann (Hg.): Literatur der Grenze - Theorie der Grenze. Würzburg 1995, S. 284. 37 Der Begriff des Kleinen Grenzverkehrs meint erleichterte Zollformalitäten innerhalb eines unmittelbaren Grenzgebietes zwischen benachbarten Staaten, er bot lokalen Händlern, Wanderarbeitern oder Schmugglern Erwerbschancen. Im grenznahen Gebiet zwischen Deutschland und Österreich siedelte der 1933 mit Publikationsverbot belegte Schriftsteller Erich Kästner seine 1938 publizierte, „komödienhafte“ und politisch unverfängliche Erzählung „Der kleine Grenzverkehr“ an: „Mein alter Schulatlas hat mich davon überzeugt, daß Reichenhall und Salzburg keine halbe Bahnstunde auseinanderliegen. […] Der Paß ist in Ordnung. So werde ich denn für meine Person den sogenannten kleinen Grenzverkehr permanent gestalten.“ (Erich Kästner: Der kleine Grenzverkehr oder Georg und die Zwischenfälle. Köln und Hagen 1949, S. 23.) 38 Ödön von Horváth: Hin und her. In: Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 75 ff. 39 Ebd., S. 87. 40 Ebd., S. 84. 41 Bossinade: Kleinbürger (Anm. 19), S. 141. 42 Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 146. 43 Ebd., S. 148. <?page no="43"?> 42 Heike Klapdor von „dort“ und „hier“ markiert, eine normative Dimension für die Konstruktion Staat durch Gesetz, von dem abzuweichen „unmöglich“ 44 ist und dem das Individuum unterworfen ist: „(Konstantin) Gesetz ist Gesetz. / (Ferdinand Havlicek) Aber solche Gesetze sind doch unmenschlich … / (Konstantin) Im allgemeinen Staatengetriebe wird gar oft ein persönliches Schicksal zerrieben. / (Havlicek) Schad.“ 45 Die identifikatorische Dimension der Grenze im Sinne der Abgrenzung wirkt im sozialen Gefüge von (Nicht)Zugehörigkeit, von aufgewertetem „wir“ und abgewerteten „Feinde[n]“ 46 und ist paradox, „da sich der Mensch ihrer [der Identität, H. K.] nicht anders versichern kann als im Rückgriff auf andere“: 47 Das Grenzorgan Thomas Szamek hält in der ersten Szene fest, „daß wir da aufhören und dort drüben ein anderer Staat beginnt“. 48 Position und Person und Tat treten im Handlungsverlauf auseinander: Das Grenzorgan Konstantin nennt die Grenze eine „blöde Grenz“ 49 und „privat“ tue ihm der Staatenlose leid. Der mächtige, aber nicht betroffene Regierungschef nennt die Grenze eine „Plage“: 50 „(X) Wir leiden unter unseren Grenzen.“ 51 Im „Finale mit Gesang“, 52 einem langen musikalischen Epilog, wird nicht etwa die Grenze, sondern ihr Begriff semantisch geöffnet, 53 die Figuren reflektieren Grenze als Begrenzung, sie übertragen die Begrenztheit des Lebens auf die notwendige Zügelung der Triebnatur, die sozial sinnvolle Einschränkung der Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Sie stimmen - im doppelten Sinn - ein in Grenze als Natur, als Kultur, als Ordnung und damit als Glück. Der aufbegehrende Protagonist passt sich an: „(Havlicek) Ich seh schon ein, daß es muß geben / Gar manche Grenz, damit wir leben.“ 54 Von der normativen Dimension der ‚Grenze‘ unterscheidet sich die formelle Dimension des Motivs Heimat dann, wenn sie als Geburtsort aufgefasst wird - „(Mrschitzka, ein Gendarm) Wohin man geboren ist, dorthin ist man zuständig! “ 55 Die identifikatorische Dimension von Heimat wird, abseits der Übereinstimmung mit nationaler Herkunft, aus kultureller Erfahrung gewonnen. Dem 44 Ebd., S. 101 und S. 103. 45 Ebd., S. 85. 46 Ebd., S. 79. 47 Wokart: Differenzierungen (Anm. 36), S. 279. 48 Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 77. 49 Ebd., S. 107. 50 Ebd., S. 114. 51 Ebd., S. 113. 52 Ebd., S. 150 ff. 53 Vgl. hierzu die Konnotationen des Wortfeldes bei Wokart: Differenzierungen (Anm. 36), S. 285. 54 Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 153. 55 Ebd., S. 82. <?page no="44"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 43 Protagonisten ist die „Heimat“, die er als Kind verließ, fremd: „(Havlicek) Ich war überhaupt noch nie drüben -“, 56 der Staat, der ihn als Fremden ausweist, ist ihm im Verlauf seines Lebens vertraut geworden: „(Havlicek) Wissens, es schaut nämlich einfacher aus, als wie es ist, wenn man so weg muß aus einem Land, in dem man sich so eingelebt hat, […] es hängen doch so viel Sachen an einem, an denen man hängt.“ 57 Cornelia Krauss hat Heimat eine „existentielle Metapher“ im Spätwerk Horváths genannt. 58 In der Tat bekennt sich der Schriftsteller durch die zu Empathie fähige Figur Eva zu einem Heimat-Begriff als Erfahrung von Identität und Alterität: „(Eva) So ohne Heimat möchte ich nicht sein. Überall fremd, überall anders -“. 59 Eine personifizierte Heimat rahmt refrainartig das „Finale mit Gesang“: „O Heimat, die ich nicht kennen tu / Bring mir den Frieden, bring mir die Ruh! “ 60 Havliceks Evokation von Heimat ruft deren aus dem 19. Jahrhundert stammende kulturpolitische Konstruktion und ästhetische Gestalt auf - Mondschein, (Todes-)Sehnsucht („O Heimat, wie bist du so schön / In dir möchte ich sein und vergehn! “), 61 Mythos („voll Märchen und voll Sagen“), 62 in der Vorstellungswelt präsent als „Ansichtskarte“, 63 also nicht als individuelle Wahrnehmung, sondern als geronnenes, sentimentales Bild. Trotz der signifikanten Kombination der Signalwörter entbehrt diese Heimatvorstellung der mit Heinrich Heine und dem Horváth der Zwischenkriegszeit assoziierten ironischen Distanzierung. Noch 1929 hatte Horváth seine Heimatlosigkeit begrüßt, denn sie befreie ihn von „unnötiger Sentimentalität“. 64 Der Exilkontext des 19. wie des 20. Jahrhunderts (wie überhaupt) kündigt Heimat dem zum Objekt gewordenen Subjekt auf, die räumliche Distanzierung geht mit einer ideellen Annäherung einher. Andere Motive beleben das Thema der Heimat- und Staatenlosigkeit. Die Motive Täuschung und Schein und Sein kommen ins Spiel mit einem gefälschten Pass 65 und dem Incognito-Auftritt der Regierungschefs. Der erlaubt Verwirrung durch Verwechslung, wenn X Havlicek auf der Brücke im Dunklen für den anderen Regierungschef Y hält oder wenn Rauschgift-Schmuggler als harmlose 56 Ebd. 57 Ebd., S. 127. 58 Cornelia Krauss: „‚Heimat‘? Ich war noch nie drüben“. Zu einer existentiellen Metapher im Spätwerk Ödön von Horváths. In: Ute Karlavaris-Bremer [u. a.] (Hg.): Geboren in Fiume. Ödön von Horváth 1901-1938. Lebensbilder eines Humanisten. Wien 2001. 59 Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 104. 60 Ebd., S. 150 und S. 156. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 155. 63 Ebd. 64 Krischke / Prokop: Ödön von Horváth. Leben und Werk (Anm. 1), S. 13. 65 Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 111. <?page no="45"?> 44 Heike Klapdor Reisende angesehen werden. Indem sie ihre Absichten betrügerisch durch Verkleidung verbergen, bilden sie den Kontrast zum offen zutage liegenden Fall des Protagonisten und dessen authentischer Absicht. Das aus dem Unterhaltungsgenre stammende Element des Kriminellen, des Diebs oder Schmugglers zieht dem Geschehen das Spannungs-Motiv von Jäger und Gejagtem ein, auch der Protagonist ist ein Gejagter, und mit ihm bekommt die als harmloses Kinderspiel von „Räuber und Gendarm“ 66 gespiegelte Kriminalhandlung eine politische Dimension. Spätestens hier muss auf die zeitgenössische Filmproduktion verwiesen werden: Der politisch aufgeladene Kriminalfilm ist ein populäres Genre des Weimarer Kinos. 1933 kommt ein Schmuggler-Krimi in die Filmtheater mit dem Titel schüsse an der G renze . 67 Aus Horváths allein finanziell motivierten Verbindungen mit der Filmbranche 1933-1934 sind für den Kontext Hin und her folgende Aspekte interessant 68 : In einem Brief an den Filmdramaturgen Rudolph S. Joseph vom 30. Oktober 1933 bezeichnet er die Posse mit Gesang als „höhere[n] Blödsinn“ und „Geblödel“, 69 die erstmalige Verwendung von Liedeinlagen (Komposition: Hans Gál) ist ein Tribut an das beliebte und erfolgreiche Genre der Tonfilmoperette, an dem Horváth im Falle der Nestroy-Verfilmung das einmaleins der liebe 70 beteiligt war, sein Notizbuch verzeichnet fünf Filmprojekte, darunter eines mit dem Titel „Zwischen den Grenzen“. 71 Die Grenzorgane Thomas Szamek und Konstantin und der Staatenlose Ferdinand Havlicek verkörpern Jäger und Gejagten. Die Grenzorgane sichern die Macht der personifizierten und mit den Regierungschefs der Staaten konkurrierenden bzw. ihnen übergeordneten Grenze („auf den sich die Grenz verlassen kann“). 72 Ihre Loyalität („unser Staat“, „unsere Wohlfahrtspflegerei“) 73 gefährden Langeweile und schlechte Bezahlung, 74 ihre professionelle Kompetenz, die sie 66 Ebd., S. 80. 67 Regie: Johann Alexander Hübler-Kahla, die Hübler-Kahla Film produzierte 1947 Theo Lingens Filmadaption hin und her . 68 Vgl. zu Horváths Tätigkeit als Filmautor: Evelyne Polt-Heinzl / Christine Schmidjell: Geborgte Leben. Horváth und der Film. In: Kastberger: Unendliche Dummheit (Anm. 20), S. 193 ff. 69 Zit. nach ebd., S. 242 f. 70 1934 / 1935, nach dem Bühnenstück von Johann Nestroy „Einen Jux will er sich machen“, Regie: Carl Hoffmann, Musik: Theo Mackeben, mit Luise Ullrich, Paul Hörbiger und Theo Lingen. Horváths Name steht samt Berliner Adresse „An der Rehwiese“ auf der Liste des Aufnahmestabes aus dem Drehbuch, das im Schriftgutarchiv der Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin liegt. 71 Ebd., S. 254. Im Brief an Rudolph S. Joseph erwähnt Horváth „ein paar Ideen für Filme“, ebd., S. 243. 72 Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 78. 73 Ebd., S. 81. 74 Ebd., S. 79. <?page no="46"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 45 über ihr „gewissenhaft[es]“ und „pflichtbewusst[es]“ Handeln hinaus unter Beweis stellen, als sie den falschen Pass entlarven, 75 gefährdet Mitgefühl; Konstantin unterscheidet, er sei ein „Grenzorgan und kein Mensch“. 76 Der Staatenlose ist Gegenstand politisch-administrativen Handelns, ein entindividualisiertes Objekt, den man einen „amtlichen Fall“ nennt, 77 einen „Niemand“, 78 einen „Irrtum“, 79 einen „Witz“. 80 Der Autor variiert die sprachlichen pronominalen Negationen für die Auslöschung des Subjekts. Der abwertenden Semantik der Entwürdigung korrespondiert die Semantik der Aufwertung, wenn der Protagonist von anderen ein „Engel“ genannt wird. 81 Der „Ausgewiesene“ 82 ist ein „Fachmann in puncto Ungerechtigkeit“, 83 denn er ist nicht etwa ein Verbrecher, sondern bloß ein 50 Jahre alter Drogist, dem das „Unglück“ des Bankrotts widerfahren ist. Unfähig zu kriminellem Handeln - er versäumt es, die Regierungschefs, in deren heimliches Treffen er zufällig hineingerät, zum Zweck einer Einreiseerlaubnis zu erpressen -, 84 zeichnet er sich im Gegenteil durch Höflichkeit, Bildung und Einfühlung aus. 85 Seine rhetorische Begabung, sein Einfallsreichtum („Idee“) 86 und seine Anteilnahme behaupten die Subjekthaftigkeit der Figur gegen ihren Objektstatus, seine Flexibilität - er übernimmt Kurierdienste für Eva und Konstantin und bezeichnet sich als „wanderndes Billetdoux“ 87 -, seine Zähigkeit - er gibt nicht auf - und Handlungsfähigkeit - er befreit Konstantin und Eva - qualifizieren ihn sogar dazu, „unser aller Retter“ zu sein, 88 seine Großzügigkeit - er überlässt Konstantin die Hälfte des Kopfgeldes für die Festnahme der Schmuggler - beschämt. Der Staatenlose ist ein „braver Mann“, 89 mit einem Wort: gesetzlicher und individueller Status widersprechen sich. Eingebettet in eine achsensymmetrisch angeordnete Figurenkonstellation - auf jeder Seite agieren Grenzorgan, Regierungschef und weibliche Figur -, führt das Spiel die Handlung in Parallelen und Spiegelungen vor: Die Grenzüberschreitung hat im Falle der Schmuggler einen kriminellen Beweggrund, im Falle des Staaten- 75 Ebd., S. 111. 76 Ebd., S. 106. 77 Ebd., S. 87. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 90. 80 Ebd., S. 96. 81 Ebd., S. 101. 82 Ebd., S. 81. 83 Ebd., S. 146. 84 Ebd., S. 128. 85 Ebd., S. 104. 86 Ebd., S. 100. 87 Ebd., S. 96; vgl. Szene 6, 9, 13, 17. 88 Ebd., S. 145. 89 Ebd., S. 146. <?page no="47"?> 46 Heike Klapdor losen einen existentiellen. Der Konfrontation der ausführenden Grenzorgane steht der Versuch einer diplomatischen Annäherung der politisch Verantwortlichen gegenüber. Die Konfrontation der Grenzorgane wird unterlaufen durch die Liebesverbindung von Eva, der Tochter des Grenzers Thomas Szamek zur Linken, und Konstantin, dem Grenzer zur Rechten. So wie Eva zwischen Vater und Geliebtem steht, steht Havlicek zwischen zwei Staaten. Zwei Konflikte, ein privater und ein politischer: Liebes- und Landeszugehörigkeit, werden also übereinander geschoben. Zugleich repräsentieren die weiblichen Figuren im Verhältnis zu den männlichen ein gender-spezifisches Motiv: Der den Männern eigenen Antipathie und Gleichgültigkeit für den Protagonisten stehen Sympathie und Mitgefühl der Frauen für den heimatlosen Ausgewiesenen gegenüber: „(Frau Hanusch) Armer Mensch! Macht übrigens einen ganz einen sympathischen Eindruck“; 90 „(Eva) Komisch seid ihr Männer.“ 91 Der Gender-Aspekt kreuzt sich mit einem migrationsspezifischen Motiv: Der Zuneigung der verwitweten Postwirtin Frau Hanusch - Evas Pendant auf der rechten Seite - und dem ihr drohenden Konkurs korrespondiert Havliceks prekäre ökonomische Lage, sie verbindet also materielle Interessen, für die eine Heirat als Lösung erscheint, sie „passen zusammen“: 92 Eine Eheschließung wäre für den Staatenlosen gleichbedeutend mit einer Einreise und einer beruflichen Zukunft als Gastwirt, für die Wirtin gleichbedeutend mit einer Dienstleistung - „(Frau Hanusch) Ein Mann ist schon was Notwendiges, wenn er auch nur repräsentiert.“ 93 - und einer privaten Zukunft, die sich die am mangelnden männlichen Begehren leidende Frau von der Heirat verspricht. Übersetzt in den Aufbau, gleicht das „Lustspiel in zwei Teilen“ 94 einer Sinuskurve, die sich auf der horizontalen „Brücken“- Achse „hin und her“ bewegt und auf der vertikalen Achse am Ende des ersten Teils ihren Tiefpunkt erreicht, als Havlicek in der Nacht alleine auf der Brücke steht, nur in Gesellschaft des Mondes und des neutestamentarisch als Verrat und Tod identifizierten krähenden Hahnes. 95 Der zweite Teil mündet in der Morgendämmerung in ein „sichtbar konstruierte[s]“ Happy End“, 96 in dem alle Figuren vereint und alle Konflikte gelöst sind - ein märchenhaftes „Ende gut, alles gut! “ 97 Eines, das die Physik allerdings gefährdet, denn alle befinden sich am Ende auf 90 Ebd., S. 104. 91 Ebd., S. 108. 92 Ebd., S. 128. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 75. 95 Ebd., S. 119. 96 Theatergruppe babylon der Universität Regensburg, Inszenierung 2006, Programm. (http: / / www.uni-regensburg.de/ zentrum-sprache-kommunikation/ daf/ babylon/ alt/ her/ index.html; zuletzt abgerufen am 28. April 2017) 97 Horváth: Werkausgabe (Anm. 6), S. 149. <?page no="48"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 47 einer (der linken) Seite der Brücke. Die Dramentektonik unterminiert die glückliche Auflösung, das Happy End ist aus Gründen der Statik riskant, die Utopie ist gefährdet durch die physische Wirklichkeit. Und gefährdet durch die politische Wirklichkeit, die „Realität der Grenzziehung und Grenzposten auf dieser Welt.“ 98 Vor dem Hintergrund globaler Migration und internationaler bzw. nationaler Asylpolitik haben deutschsprachige Bühnen Horváths Stück Hin und her in der Perspektive von Aktualität und Parallelität entdeckt. Seit 2006 lassen sich acht Inszenierungen in Regensburg (2006), Wien (2009, 2016), München (2010), Hall in Tirol (2015), Frankfurt am Main (2015), Freiburg (2016) und Braunschweig (2017) verzeichnen. 99 Für alle gibt es „kaum ein zeitgemäßeres Stück“ für ein „drängendes“, 100 „brandaktuelles Thema“, 101 ein Stück von „geradezu beschämende[r] Aktualität“, 102 das deswegen „mühelos den Sprung in unsere Zeit schafft.“ 103 Die Theater verstehen das Stück als „Spiegel“, 104 sie lesen es als eine „knochentrockene realistische Studie“. 105 „Die erschreckenden Parallelen zu unserer Gegenwart […] lassen nicht lange 98 Theatergruppe babylon (Anm. 96). 99 Theatergruppe babylon der Universität Regensburg, Zentrum für Sprache und Kommunikation, Lehrgebiet Deutsch als Fremdsprache, Regie: Christine Kramel, Andreas Legner, Premiere 22. Juni 2006. - Theater Scala, Wien, Regie: Rüdiger Hentzschel, Oktober 2009. - Akademietheater. Produktion der Theaterakademie August Everding, München, Regie: Antje Schupp, Februar 2010. - Schauspiel Frankfurt am Main, Regie: Katrin Plötner, Premiere 11. Oktober 2015. - Projekttheater Hall in Tirol (Amateurtheater), Regie: Hermann Freundenschuss, Herbst 2015. - Schlüterwerke, Wien, Regie: Markus Kupferblum. Die für Januar 2016 projektierte Inszenierung kam „trotz der immensen Aktualität des Stückes“ (Markus Kupferblum in einer E-Mail an die Verfasserin H. K.) aufgrund nicht bewilligter staatlicher Fördermittel nicht zustande. Die in der Inszenierung eingesetzten Masken, die alle Schauspieler außer dem Protagonisten tragen, entstammen der balinesischen Bondres Tradition. - Theater der Immoralisten, Freiburg, Regie: Manuel Kreitmeier, Premiere 14. Juli 2016. - Staatstheater Braunschweig, Regie: Babett Grube, Premiere 30. März 2017. 100 Theater der Immoralisten, Freiburg, 2016. (http: / / www.immoralisten.de; zuletzt abgerufen am 28. April 2017) 101 Projekttheater Hall, 2015. (http: / / www.projekttheater-hall.at/ portfolio/ hin-und-her; zuletzt abgerufen am 28. April 2017) 102 Schlüterwerke, Wien, Januar 2016. (http: / / www.schlüterwerke.at/ projekte/ hin-und-her; zuletzt abgerufen am 28. April 2017) 103 Staatstheater Braunschweig, 2017. (http: / / staatstheater-braunschweig.de/ nc/ schauspiel/ produktion/ details/ hin-und-her; zuletzt abgerufen am 28. April 2017) 104 Katrin Schmitz: Der „Vorfall Havlicek“. Heimat, Grenzschutz, Staatenlosigkeit - mit Humor. In: Programmheft der Inszenierung des Staatstheaters Braunschweig, 2017, S. 5. Das Freiburger Theater der Immoralisten spricht von einem „Spiegelbild unserer Gegenwart“. 105 Cornelie Ueding: Posse über Grenzpolitik. Rezension der Inszenierung des Schauspiels Frankfurt am Main, Deutschlandfunk, 11. Februar 2016. (http: / / www.deutschlandfunk. de/ posse-ueber-grenzpolitik-stueck-von-erstaunlicher.691.de, zuletzt abgerufen am 28. April 2017) <?page no="49"?> 48 Heike Klapdor auf sich warten, zu präsent sind die Bilder in den Medien und zum Teil bereits vor unserer Haustür.“ 106 Um „die Gegenwart [zu] beleuchten und womöglich Unruhe [zu] stiften“ (Hazel Rosenstrauch), haben die Bühnen Horváths exil- und migrationsrelevantes Thema in einem identifikatorischen Ansatz von Studenten aus sechs Ländern spielen lassen (Theater babylon, Universität Regensburg), unterhaltend in der Tradition des Volksstücks gegeben (Freiburg, Hall in Tirol), intertextuell geöffnet auf Jean Paul und Elfriede Jelinek (Schauspiel Frankfurt am Main), aus einem kritischen Genreansatz das Groteske fokussiert (Akademietheater München) und in einem intermedialen Verfahren moderne musikalische Kompositionen hinzugefügt (Schlüterwerke, Wien). Von einem wirkungsästhetischen Ansatz der Verfremdung durch Kostümstrategien gehen die Wiener und Braunschweiger Inszenierungen aus, die Schlüterwerke setzen ihn um mit balinesischen Masken; in Braunschweig arbeitet man mit Wolfsfellen, assoziiert die wölfische Natur des Menschen und räumt in den symbolisch aufgeladenen Bildern von Wald und Wolf, die sie für ihre Versuchsanordnung aufrufen, mit der Vorstellung von der Natur als Gegenwelt auf. Das Potential literarischer Grenzerfahrung, das in Hin und her steckt, hat Steven Spielberg filmisch aktualisiert. Seinem Film terminal (2004) liegt wie bei Horváth eine authentische Begebenheit zugrunde, auch hier verknüpft sich der Plot mit dem Genre der Komödie. Spielberg griff den Fall des Iraners Mehran Karimi Nasseri auf, der seit 1988 mehr als sechs Jahre auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle gelebt hat. Der amerikanische Regisseur erzählt den Fall im Kontext des Narrativs von den Vereinigten Staaten als Einwandererland und vor dem Hintergrund von „9 / 11“. Er interpretiert den Fall als unterhaltsame Fabel. Ödön von Horváths komisches und unheimliches „zeitloses Zeitstück“ ist ein hochartifizieller Text über den Begriff ‚Grenze‘. Sein Potential literarischer Grenzerfahrung lässt sich so umreißen: Politische Grenzen sind mit Jürgen Osterhammel „physische Vergegenständlichung des Staates und Orte der symbolischen und materiellen Verdichtung von Herrschaft.“ 107 Globale Migration verflüssigt den Begriff der Grenze, hebt Grenze als Indiz und Zeichen der Territorialisierung von Macht auf. Im Spiegel transnationaler Grenzforschungsprojekte, die zum Beispiel in Berlin und Frankfurt an der Oder etabliert sind, 108 dient Horváths Stück diesseits des slapstick-Ele- 106 Henrieke Beuthner: Programmheft (Anm. 35). 107 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 177. 108 Forschungsverbund „Crossing Borders“. Interdisziplinäres Zentrum für transnationale Grenzforschung“, Humboldt Universität Berlin, seit 2017. „B / Orders in Motion“. Interdisziplinäres Grenzforschungszentrum, Europa Universität Viadrina, Frankfurt / Oder, seit 2013. <?page no="50"?> Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited 49 ments des „hin und her“, der Konstruktion einer Welt und der Empörung, also diesseits von Komödie, Fiktion und Moral, als Muster politischer Methoden und als Handlungsmodell. Der Protagonist ist eine ‚displaced person‘, er ist ein Flüchtling nach der Definition des „Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge“, das die UN -Sonderkonferenz 1951 beschloss. Die Auffassung der Genfer Flüchtlingskonvention, die den passiven Objektstatus betont, wird in der Kritischen Migrationsforschung durch den Begriff des Migranten als Akteur abgelöst. Kristina Schulz (Bern) und Irene Messinger (Wien) sprechen von „Subjektivierung der Migration“, die an die Stelle der Viktimisierung (Opfer) und der Kriminalisierung (Täter) trete. MigrantInnen als aktive, handelnde Subjekte zu begreifen, heißt, nach ihren „sozialen Praktiken in und zwischen Herkunfts- und Zielländern“ zu fragen. 109 Horváths handlungsfähiger Protagonist kann hierfür als Typus gelten. Das Stück bietet exemplarische Lösungsstrategien bzw. Lösungen und alternative Deutungen an: Es trennt den Begriff ‚Heimat‘ von (ethnischer) Herkunft (Geburtsort) und spricht stattdessen von kultureller Erfahrung und Praxis. 110 Es öffnet die physische Konnotation der ‚Grenze‘ auf metaphysische und zugleich gesellschaftlich wirkungsmächtige Differenzierungen von ‚eingrenzen‘ / ‚ausgrenzen‘, ‚begrenzt‘ (Territorium) / ‚unbegrenzt‘ (Solidarität). Es hebt die Dichotomie auf von exterritorialem und territorialem Raum, statt abgeschottet zu sein, kann ein (Flüchtlings)Lager als integraler Aufenthaltsort installiert werden. Der zwischen Migranten und Einheimischen liegende Raum kann wie die Horváthsche „Brücke“ ein Ort der Versöhnung statt der Trennung sein. Es rückt vor administratives, normatives Handeln 111 individuelles, konkretes Verhandeln, 112 vor prinzipielle Distanz 113 individuelle Hilfsbereitschaft und Nähe. 109 Kristina Schulz / Irene Messinger: Neue Ansätze im interdisziplinären Austausch von Exil- und Migrationsforschung. Interdisziplinäres Forschungskolloquium Hildesheim, 29. Oktober 2016. 110 Vgl. Szene 6. 111 Vorschlag, ein Gesuch einzureichen, vgl. Szene 8. 112 Vgl. Szene 17, 33. 113 Gesetze, vgl. Szene 18. <?page no="51"?> 50 Heike Klapdor Es stellt die Kriminalität bzw. Kreativität von Lösungen zur Debatte wie: illegaler Grenzübertritt, 114 gefälschter Pass, 115 Erpressung und Aggression, physische Gewalt. 116 Denn Gesetz produziert Gesetzesverstoß. Es wertet den pejorativen Begriff Schein-Ehe im Sinne einer Interessengemeinschaft auf. Die formaljuristische, auf Täuschung bzw. Betrug rekurrierende Auffassung von Schein-Ehe entbehrt einer belastbaren Nachweisbarkeit. 117 Seiner gezähmten Märchenhaftigkeit entkleidet, birgt die ethische Dimension des utopischen Schlusses ein Lösungs- oder Rettungspotential, das der Dramatiker 1933 im Rückgriff auf idealistische und individualistische Konzepte formulierte: 118 Humanität. Seine „Absicht“, so Horváth 1933 gegenüber der Wiener Allgemeinen Zeitung , sei es zu zeigen, „ […] wie leicht sich durch eine menschliche Geste unmenschliche Gesetze außer Kraft setzen lassen.“ 119 Solidarität, „Schlüsselwort für das Spätwerk Horváths“ 120 und ‚conditio humana‘, provoziert, über wohlfeile Moralität hinaus, soziale Praxis. Die radikale Dimension des Stückes liegt in seinem Modellcharakter. Diesseits des konstruierten Happy Ends vollzieht sich ein Experiment auf Zivilität. Konfrontation, Unverständnis, Befremden, Irritation, Panik: Wie wenn es von Heinrich von Kleist stammte, überdeckt der Akt der Versöhnung fröhlich laut, was davor geradezu grausam vorangetrieben wurde. Die Grenzüberschreitung von Natur und Kultur legt bloß, wie fragwürdig die Emanzipation vom Naturzustand des Menschen ist. 114 Vgl. Szene 3, 18. 115 Vgl. Szene 31. 116 Vgl. Szene 11, 12 / II. 117 Vgl. Szene 9, 19, 7 / II, 20 / II. 118 „Horváths Rückgriff auf alte idealistische und individualistische Konzepte, Werte, Vorstellungs- und Gefühlsmuster der bürgerlichen Weltanschauung, die er zwischen 1928 und 1933 ironisch entlarvte, bekämpfte und sicherlich überwunden zu haben meinte.“ Jürgen Schröder: Das Spätwerk Ödön von Horváths. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horváth. Frankfurt am Main 1981, S. 134. 119 Wiener Allgemeine Zeitung, 14. September 1933. (Zit. nach: Lunzer: Schriftsteller [Anm. 3], S. 123.) Horváth übergibt die Formulierung seinem Protagonisten in der vorletzten Szene: „(Havlicek) Und überhaupt und eigentlich, wie leicht daß man so unmenschliche Gesetze menschlich außer Kraft setzen kann.“ (Szene 22 / II, S. 148). 120 Bossinade: Kleinbürger (Anm. 19), S. 16. <?page no="52"?> Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische 51 Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische Über die Grenze in Gustav Reglers Erinnerungsbuch Das Ohr des Malchus Sikander Singh, Saarbrücken Während seiner späten Jahre als Reisender hat er viele Grenzen überquert. Der 1898 in Merzig an der Saar geborene Schriftsteller und Journalist, Kommunist und Renegat, Spanienkämpfer und Exilant Gustav Regler hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das er in Mexiko erlebte, nicht mehr in die alte Heimat, das nunmehr befreite Deutschland, zurückgefunden. Darin gleicht sein Lebensweg denjenigen zahlreicher Intellektueller, die zwischen 1933 und 1945 die Einflusssphäre des sogenannten Dritten Reiches verlassen mussten, und denen die Fremde zwar nicht zur Heimat wurde, die Heimat aber zur Fremde. Das für die emigrierten Schriftsteller Problematische hat nicht nur in der Forschung vielfach Beachtung gefunden, auch in Romanen und Erzählungen, Gedichten und Dramen sind diese Erfahrungen und ihre literarischen wie lebensweltlichen Konsequenzen reflektiert worden. 1 Gerade vor diesem Hintergrund zeigt sich jedoch in dem Leben, das Gustav Regler in den Nachkriegsjahrzehnten führte, ein besonderes Moment, das einer Betrachtung wert ist. Dieser Beitrag wird deshalb zunächst einleitend über den Lebensweg des Schriftstellers nachdenken, um nachfolgend einige Gedanken zu seinem 1958 erstveröffentlichten, autobiografischen Lebensroman Das Ohr des Malchus zu entwickeln. Nachdem Regler im Jahr 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, auf der Flucht vor der Gestapo über Worpswede und das Saargebiet - wie im Vertrag von Versailles geregelt, war das Industriegebiet an der mittleren Saar seit 1920 ein Mandatsgebiet des Völkerbundes -, nachdem Regler solchermaßen nach Paris emigrieren musste, war Europa für ihn zu einem Kontinent voller Grenzen geworden. Seine Internierung im Pyrenäenlager Le Vernet als Enemy Alien, als eine Konsequenz aus dem Kriegseintritt Frankreichs im Herbst 1939, dokumentiert dies ebenfalls sehr deutlich. Aber auch Mexiko, wohin er, gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Marie Luise Vogeler, im Jahr 1940, mit einer Zwischen- 1 Vgl. beispielsweise die Studie von Jang-Weon Seo: Die Darstellung der Rückkehr: Remigration in ausgewählten Autobiographien deutscher Exilautoren. Würzburg 2004 [Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft Bd. 470]. <?page no="53"?> 52 Sikander Singh station in den Vereinigten Staaten von Amerika, ausreisen konnte, erwies sich als ein begrenzter Ort. Hier musste er zwar nicht um sein Leben fürchten, aber die Reisemöglichkeiten waren aufgrund der politischen Situation wie aus finanziellen Gründen limitiert. Die Befreiung Deutschlands und Europas durch die Alliierten im Jahr 1945 bedeutete deshalb für ihn, wie für viele Emigranten, eine Befreiung aus dem Ort des Exils. Vor allem zeigt sich diese wieder gewonnene Freiheit in den Reisen, die der Schriftsteller in den folgenden Jahren durch Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Afrika unternommen hat. In einer Welt, in der die politischen und ideologischen Konflikte, die sein Leben über viele Jahrzehnte bestimmt haben, überwunden sind, wird er zu einem Ruhelosen, für den die Reise von Ort zu Ort, über Ländergrenzen und Kontinente zu der einzigen Lebensform wird, die noch möglich ist - gleichsam als wäre die wiederholte Erfahrung der Flucht zu einem Teil seiner Person und seines Wesens geworden. Exemplarisch wird dies in einem späten Brief greifbar, den er am Weihnachtsmorgen des Jahres 1962, also nur wenige Wochen vor seinem Tod, in Beirut verfasste und an seine Schwester Marianne Regler-Schröder sandte: […] wir sind im privaten Wagen eine Woche durch Griechenland gefahren, waren oben in Delphi beim Orakel, fuhren über den Golf von Korinth nach Olympia, waren im uralten Mykenä und kamen über den Isthmus zurück nach Athen, wo wir am Abend das Flugzeug nach Cypern und hier nahmen. Den Weihnachtsabend verbrachten wir in der Luft (was Dir wohl einen Schauder einjagt - solche Heiden! Aber beruhige Dich; der Flugkapitän wünschte alle halbe Stunde von seiner Kabine in allen Sprache[n], auch der von Homer und Sophokles, Merry Christmas , und das Radio war voll von Chorälen und über unserm Abendessen hing eine silberne Glocke mit weissbestreuten Tannenzweigen Ich benutze den frühen Morgen in der Sonne des Mittelmeers, wo man Delphine springen sieht auf alte griechische Weise, Euch unsere Neujahrgrüsse zu senden. […] Unsere nächste Adresse ab 3. I. für mindestens den ganzen Januar ist American Express New Delhi / India. […] 2 Indem er zu Weihnachten, Fest der deutschen Innerlichkeit, an seine Familie in Merzig denkt und schreibt, aber zugleich mit dem Flugzeug von Griechenland über Cypern, den Libanon und die arabische Halbinsel nach Indien unterwegs 2 Gustav Regler an Marianne Regler-Schröder am 25. Dezember 1962. Der Brief ist unveröffentlicht; das handschriftliche Original wird im Gustav-Regler-Archiv in Merzig verwahrt. <?page no="54"?> Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische 53 ist, dokumentiert der Brief das Spannungsverhältnis zwischen der Erinnerung an die Heimat (und das mit ihr Verlorene) und den fortwährenden Grenzverschiebungen, die seine Existenz nunmehr bestimmen. Weil Regler in den Jahren seines mexikanischen Exils einer Kultur begegnete, in welcher sich die ihm seit seiner Kindheit vertraute katholische Religion mit Traditionen und Riten der indianischen Kulturen durchmischte, vermochte das Fremde durch diesem inhärente Momente des Bekannten eine Faszination zu erlangen, die den Schriftsteller - zu einem Substitut für die verlorene Heimat werdend - zu einem Reisenden machten, der fortan auf der Suche war nach dem Eigenen im Fremden und Anderen. Er lebte während dieser späten Jahre in der unausgesprochenen, aber vergeblichen Hoffnung, im Transitorischen etwas Vertrautes zu finden und indem er beständig unterwegs war, bleiben zu können. Seinen Tod als ein Sinnbild dieser Lebensform zu begreifen, ist nicht nur deshalb naheliegend, weil Regler sich - gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau Margaret Paul - auf einer Studienreise durch Indien befand, als er am Nachmittag des 14. Januar 1963 starb. In seiner Autobiografie, die seit den 1940er Jahren in verschiedenen Arbeitsphasen und Fassungen entstanden ist, 3 interpretiert er das eigene Leben einerseits im Sinne einer Zeugenschaft jener politischen Entwicklungen, Umbrüche und Verwerfungen, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt haben. Andererseits erhebt der Text seine Biografie zu einem exemplarischen Lebensweg für die Verlusterfahrungen und Verunsicherungen des Menschen in der Moderne. Die These von der Sinnbildhaftigkeit seines Todes ist also ein Nachklang jener Verschränkung von gelebter Erfahrung und Literatur, die in der Erzählung seiner Lebensgeschichte programmatisch angelegt ist. Diese metaphorische Dimension des 1958 von Kiepenheuer und Witsch in Köln verlegten Erinnerungsbuches wird auch in dem Diskurs über die Grenze sichtbar, von dem das Werk strukturiert und bestimmt wird. Im Ersten Buch des Ohr des Malchus erscheint die Grenze zunächst in dem Sinne jener Bedeutung des Wortes, welche die imaginäre Trennung zweier Territorien, die aus historischen Bedingungen entstanden ist oder in spezifischen Machtverhältnissen ihre Begründung findet, bezeichnet. So erzählt Regler von Spaziergängen, die ihn in der Nähe seines Geburtsortes Merzig, zwischen Hilbringer Wald und Märchengrund, in Begleitung seines Vaters zu der lothringischen Grenze führten. Die programmatisch überformte und literarisch stilisierte Kindheitsbegebenheit hinterfragt das in den Übergängen vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandene 3 Vgl. hierzu Hermann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiographische Schriften: Entstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse. St. Ingbert 2013 [Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 89]. <?page no="55"?> 54 Sikander Singh Konzept des Nationalstaates und dekuvriert auf diese Weise das Normative der Grenzziehung und der daraus resultierenden Distinktionen als Imagination, weshalb es künstlicher Merkmale und Kennzeichnungen bedarf, diese sichtbar und dauerhaft verifizierbar zu machen. Ostern zog er [der Vater] mit uns über die Felder und Hügel und lehrte uns die „wichtige Umgebung“ kennen […]. Wenn wir dann „ganz am Anfang“ angelangt waren, wo es keine Geographie mehr gab, lenkte er wohl zur alten viel umstrittenen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich hin und ließ uns an bestimmten Stellen Blumen pflücken oder das Fallobst von verschiedenen Bäumen probieren; unvermittelt fragte er uns: „Welcher Apfel ist französisch? “ Wir hielten die angebissenen Äpfel still vor unsern Mündern und sahen auf die Baumallee, die aus dem Unendlichen zu kommen schien und sich in das Unendliche fortsetzte. Wir verstanden ihn früh: er glaubte nicht an Grenzen. 4 Auch wenn Regler seine Heimatstadt bereits früh verlassen hat und lediglich im Kontext des Abstimmungskampfes der Jahre 1933 bis 1935 für längere Zeit in das Saargebiet - er selbst nennt es das „kleine Niemandsland zwischen dem Dritten Reich und Frankreich“ 5 - zurückkehrte, bewies sich die Erfahrung der französischen und der deutschen Traditionen, die in dieser Grenzregion einander sowohl wechselseitig durchdringen und ergänzen als auch gegeneinander streiten, als bestimmend für sein literarisches Werk wie sein politisches Engagement. Die Episode, von der er in jenen einleitenden Kapiteln seiner Autobiografie erzählt, die der Kindheit und Jugend in Merzig gewidmet sind, überführt darüber hinaus dieses große Thema seines Lebens in ein literarisches Bild. So ist die vom Vater anschaulich vermittelte Einsicht in das Konzept der Grenze als Konstrukt der Hintergrund für die Beschreibung eines Lebens im Spannungsfeld der nationalistischen Verwerfungen und ideologischen Konflikte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie grundiert die Erfahrungen des Krieges, die Reglers private wie literarische Existenz wesentlich bestimmt haben: Nach dem Abitur wurde er als Infanterist zum kaiserlichen Heer eingezogen und erlitt an der Westfront eine Gasvergiftung. In Das Ohr des Malchus inszeniert er sich demnach als Angehörigen einer vom Krieg gezeichneten und deshalb geistig ortlosen, verlorenen Generation. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als Politischer Kommissar bei den Internationalen Brigaden gegen die von General Francisco Franco angeführten spanischen Faschisten; auch dort wurde 4 Gustav Regler: Werke. Hg. von Gerhard Schmidt-Henkel [u. a.]. Frankfurt am Main / Basel 1994 ff., Bd. X, S. 36 f. 5 Ebd., S. 366. <?page no="56"?> Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische 55 er schwer verwundet. Schließlich zwang ihn der vom nationalsozialistischen Deutschen Reich entfesselte Krieg, Europa zu verlassen und nach Mexiko zu emigrieren. Sein Erinnerungsbuch erzählt von diesen Erlebnissen und betrachtet die politischen und ideologischen Positionen, in deren Gravitationsfeldern sich das Leben des Schriftstellers bewegt hat. Der intellektuelle Internationalismus, den das Werk vertritt, erlangt durch den Rückbezug auf die Herkunft aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet eine Beglaubigung durch das eigene Leben: Indem das erzählte Ich bereits als Kind versteht, dass Grenzen gedachte Linien sind, dass sie politische und ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zwar beeinflussen und wesenhaft prägen, aber dennoch nur als Konstrukte zu verstehen sind, indem die für den Verlauf der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert so wesentliche Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ein integraler Bestandteil der Lebenserzählung ist, verweist der Text auf das Metaphorische, das in den Bildern der Grenze und den Diskursen über Grenzverläufe zugleich angelegt ist. Dieses Moment des Sinnbildhaften kontrastiert in der Autobiografie mit der Beschreibung realer Grenzen, die das erzählte Ich zu überqueren bzw. zu überwinden hat. So berichtet das Vierte Buch von einer Zugfahrt, die im Jahr 1933 aus dem Saargebiet, dem „Niemandsland des Völkerbundes“, nach Trier führte. 6 Obwohl er sich des Riskanten und Gewagten bewusst ist, schließt er sich einer Gruppe von Gläubigen an, die in die Domstadt pilgern, um den Heiligen Rock zu sehen. Täglich fuhren Pilgerzüge das Saartal hinunter, ohne sich um die Grenze zu kümmern. In den wenigen Monaten des Exils war mir der Gedanke in Fleisch und Blut übergegangen, daß das Dritte Reich identisch sei mit Terror, Gewalt und Verfolgung. Niemand von uns konnte sich getrauen, ins Reich zurückzukehren, ohne den Tod zu riskieren. Würden die Pilger die veränderte Luft riechen, wenn sie aus dem liberalen Saarland ins Reich der Diktatur fuhren? Ich wollte es selbst feststellen und schloß mich unter einem anderen Namen einem der Pilgerzüge an. 7 Der Text inszeniert das Gefahrvolle des Grenzübertrittes mit retardierenden Momenten, indem der Erzähler von der Landschaft, den Pilgern im Zug und schließlich einem stattgefundenen Gespräch über die Passion Jesu Christi berichtet. 8 Signifikant ist die Schilderung der Zugreise deshalb, weil der Gedanke der „veränderte[n] Luft“, den der Erzähler - zwischen Soliloquium und 6 Ebd. 7 Ebd., S. 367. 8 Vgl. ebd., S. 368 f. <?page no="57"?> 56 Sikander Singh rhetorischer Frage die Balance haltend - formuliert, als eine Kontrafaktur auf den Spaziergang des Knaben mit dem Vater bezogen ist. 9 Betont dieser das Immaterielle von Grenzen sowie die Fragwürdigkeit, die Schnittstellen zwischen Nationen durch Markierungen sichtbar und damit erst unterscheidbar zu machen, bezeichnet die Grenze hier die Differenz zwischen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes, und der Herrschaft der Gewalt und Willkür im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Solchermaßen inszeniert der Erzähler den Kontrast zwischen der Liberalität seines Denkens, die in Herkunft und Erziehung gründet, und seiner Epoche, die - das Trennende zwischen den Völkern und Staaten betonend - von dem (Un)Geist des Nationalismus bestimmt wird und zwei Weltkriege hervorgebracht hat. Die rhetorische Frage, welche die autobiografische Darstellung in das Zentrum dieser Zugfahrt rückt, dekuvriert den Internationalismus des Intellektuellen jedoch als eine schöne, aber vergebliche Hoffnung. Im Fluchtpunkt dieser Erzählung liegt das Bild, das die Autobiografie von dem Tag zeichnet, an dem das Ergebnis der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 bekannt gegeben wurde. Das erzählte Ich hat auf Seiten der kommunistischen Partei für den Erhalt der bestehenden Rechtsordnung und damit für den Verbleib des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes gekämpft. Die sogenannte „Rückgliederung“ an das Deutsche Reich, für die über neunzig Prozent der Bevölkerung gestimmt hatte, bezeichnet deshalb einerseits die Niederlage einer humanistischen Idee; andererseits dokumentiert sie den progredienten Zerfall der europäischen Friedensordnung in der Zwischenkriegszeit. Für den politischen Schriftsteller, der seit dem November 1934 den Nationalsozialisten als Staatsfeind galt und deshalb verfolgt wurde, bedeutete sie auch die Notwendigkeit einer erneuten Flucht nach Frankreich. Das Symbolische, das in diesem Grenzübertritt liegt, der ein weiteres Mal ein Gang in das Exil ist, wird in der Darstellung durch das erzählende Ich in besonderer Weise herausgearbeitet. Über den Abend des 14. Januar 1935 heißt es in Das Ohr des Malchus : Ich entkam in der Nacht durch die Wälder von Forbach, über den Berg von Spichern nach Lothringen. Als ich am deutschen Soldatenfriedhof vorbeikam, fiel mir ein, daß 1870 mein Großvater hier gegen die Franzosen gekämpft hatte; Vater aber hatte uns vor den gleichen Gräbern immer gesagt, die Soldaten seien für eine Chimäre gefallen, es gebe keine Grenzen, wenn man genau hinschaue, nur Grabsteine, aus denen die Menschen nichts lernen. Auch daran dachte ich in diesem Augenblick. 10 9 Ebd., S. 367. 10 Ebd., S. 385. <?page no="58"?> Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische 57 Die Flucht führt das erzählte Ich nicht nur über die räumliche Grenze nach Lothringen, in das sichere Frankreich, sondern auch über eine zeitliche in die Vergangenheit. Beide Bewegungen erscheinen im Text simultan; und beide vollziehen sich vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Geschichte, deren Folgen auch die Gegenwart des Erzählers noch bestimmen. Die Erinnerung an den Krieg des Jahres 1870 / 1871, die mit dem Verweis auf den Großvater und dem Bild des Soldatenfriedhofes evoziert wird, deutet nur sekundär auf die sogenannte Reichsgründung nach dem Sieg der deutschen Staaten über die zweite französische Republik. Sie rekurriert primär auf die Haltung des Vaters, den Glauben seiner Epoche wie das Sinn- und Identitätsstiftende der Grenzen zu hinterfragen. In dem nächtlichen Grenzübertritt des erzählten Ich überlagern sich also zum einen zeitliche und räumliche Dimensionen, zum anderen die Flucht Gustav Reglers aus dem Saargebiet im Januar 1935 und die retrospektive, autobiografische Betrachtung bzw. Verortung derselben. Der nachfolgende, das Kapitel beschließende Abschnitt nimmt weitere Aspekte der Grenz(land)thematik auf und setzt diese mit den zuvor genannten in Beziehung: Ganz nah schon der Grenze fiel mir Kaganowitsch ein, der mich für den Fall unseres Sieges zu einem Fest nach Moskau eingeladen hatte. Es war eine sternenklare, kalte Nacht. Der große Bär stand über dem Warndt, dort, wo die Maginot-Linie unterbrochen war. Ich begegnete weder einem Grenzwächter noch einem Nazi. Sie feierten alle. Aus dem Tal von Saarbrücken schossen Raketen; vom Winterberg glühte ein Freudenfeuer. 11 Indem der einsame Weg, den das erzählte Ich durch Nacht und Kälte nimmt, mit den Bildern der Feiernden, der Raketen über dem Tal und dem leuchtenden Feuer über der Stadt kontrastiert, veranschaulicht der Text die Verlassenheit, die mit dem Gang in die Emigration verbunden ist. Der Grenzübertritt erscheint in dieser Lesart auch als ein Schritt in die soziale Isolation. Das Pathos, mit dem dies inszeniert wird, unterstreicht den Aspekt zusätzlich. Zugleich wird das Persönliche, das in diesem Erleben liegt, mit dem Zeitgeschichtlichen in ein Verhältnis gesetzt. Denn die Nennung der von dem französischen Verteidigungsminister André Maginot zwischen 1930 und 1940 errichteten Verteidigungsanlage verweist auf die konfliktgeladenen deutschfranzösischen Beziehungen in dem Jahrzehnt, das dem Zweiten Weltkrieg vorausging. Aber noch eine weitere Dimension der Erfahrung von Grenze wird in diesem Textabschnitt sichtbar: Die imaginäre Linie der politischen Landkarte, die Nationen, Macht- und Einflusssphären voneinander scheidet, aber 11 Ebd. <?page no="59"?> 58 Sikander Singh keine Entsprechung in der Topografie der Landschaft hat, ist mit diesem Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg und dem Deutschen Reich dinghaft geworden. Dass der Erzähler bei seinem nächtlichen Grenzübertritt um eine Stelle weiß, „wo die Maginot-Linie unterbrochen war“, kann deshalb als ein Sinnbild für die Position des Schriftstellers zwischen Deutschland und Frankreich gelesen werden. 12 Während die Natur solchermaßen von der Kultur verdrängt und überformt worden ist, richtet sich der Blick des erzählten Ich in dem Bericht über seine nächtliche Flucht auf den weiten, unbegrenzten Sternenhimmel. Vor dem Hintergrund politischer Ideologien, kriegerischer Auseinandersetzungen und lebensgeschichtlicher Krisen verweist Reglers Erinnerungsbuch damit auf den Widerspruch zwischen der Existenz in der realen Geschichte und den idealen Möglichkeiten des Seins, die der Mensch zu denken vermag. Diese Ausweitung der Perspektive, die literaturwie ideengeschichtlich in der Nachfolge der Dichtungen Matthias Claudius’ steht, ist daher auch als eine Metapher für die Vergeblichkeit einer Littérature engagée in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. 13 Aus der Retrospektive der Nachkriegszeit unternimmt Gustav Regler den Versuch einer Einordnung seiner Arbeit als politischer Schriftsteller. Die metaphorische Funktion, welche die Grenze im Zusammenhang seiner Lebenserinnerungen hierbei gewinnt, hebt die Einsicht hervor, dass allem Trennenden stets ein Moment von Gewalt immanent ist. Einer Gewalt, mit der Menschen die Möglichkeiten anderer Menschen (aber auch ihre eigenen) einschränken und beschränken; einer Gewalt, die sowohl eine schirmende, schützende Funktion hat als auch limitierend wirkt. Durch das Zeugnis des eigenen Erlebens verleiht der Schriftsteller diesem humanistischen Gedanken eine Beglaubigung. Dass die autobiografische Darstellung zu Teilen von der historischen Wahrheit abweicht, sie verdichtet und überformt, stilisiert und inszeniert, ist für die Aussage wie Programmatik der literarischen „Lebensgeschichte“, wie Regler sein Werk im Untertitel charakterisiert, unerheblich. 14 Der Diskurs über die Grenze, die paradoxe Mehrdimensionalität ihrer Bedeutungen sowie ihre politischen wie literarischen Implikationen bestimmen auch die weitere Gestalt des Erinnerungsbuches. Dieser Beitrag wird deshalb abschließend zwei Schilderungen betrachten, die weitere Aspekte des Themenkomplexes beleuchten. Da ist zunächst jener Abschnitt zu Beginn des ersten 12 Ebd. 13 Vgl. beispielsweise das Gedicht Die Sternseherin Lise . In: Matthias Claudius: Werke. Asmus omnia sua secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. Hg. von Urban Roedel. Stuttgart 1954, S. 665. 14 Regler: Werke (Anm. 4), Bd. X, S. 9. <?page no="60"?> Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische 59 Kapitels des Fünften Buches anzuführen, in dem das erzählte Ich von einem Grenzübertritt von Frankreich nach Spanien berichtet. Im September des Jahres 1936 verlässt er mit anderen Freiwilligen Paris, um auf Seiten der Republik gegen den Staatsstreich der spanischen Faschisten zu kämpfen. In dem Weg, der ihn über die Pyrenäen zu den Internationalen Brigaden führt, wiederholt sich der Weg, den er, ebenfalls als Freiwilliger und ebenfalls von Paris kommend, in seine alte Heimat, an die Saar, genommen hat. Das Ohr des Malchus ist nach dem narrativen Prinzip der Spiegelungen aufgebaut. Jede Erfahrung, jede Szene und jede Begegnung hat eine Entsprechung, die in einem Korrespondenzverhältnis zu ihr steht; die Abschnitte und Stationen des erzählten Lebensweges kommentieren einander. In diesem Sinne sind die politische Agitation im Saarkampf und das militärische Engagement im Spanischen Bürgerkrieg aufeinander bezogen. (Dies zeigt sich auch in der Rolle der kommunistischen Partei, über die das Buch in der Darstellung beider Lebensabschnitte nachdenkt und zu der das erzählte Ich seine eigenen Positionen in ein Verhältnis zu setzen sucht.) Während die Begegnung mit der „SA auf dem Bahnsteig“ sowie mit Polizisten mit Hakenkreuzbinden in Serrig an der Saar als ängstigend und einschüchternd geschildert wird, hat die Szene mit dem französischen Douanier eine humoristische Qualität: 15 Wir sahen schon den spanischen Milizionär hinter dem Grenzbaum stehen und fühlten, wir müßten vorwärtspreschen in seinen Schutz hinein, aber wir gehorchten dann doch dem Wink des französischen Zöllners und hielten. Er prüfte lange unsere Papiere. Dann kam die Mittagszeit, in der jeder Franzose von Kultur nur noch die Stimme des Magens hört. […] Unser Beamter trat vor die Tür des kleinen Häuschens. „Ich fahre zum déjeuner “, sagte er. „Was während der Mittagspause hier geschieht, geht mich nichts an.“ 16 Die Darstellung spielt nicht nur mit klischeehaften Vorstellungen nationaler Eigenart, die seit dem späten 18. Jahrhundert tradiert worden sind. Indem der Grenzbeamte seinen persönlichen Ermessensspielraum nutzt, um dem erzählten Ich und seinen Gefährten zur Ausreise zu verhelfen, zeigt die autobiografische Erzählung Möglichkeiten eines notwendigen, weil moralisch richtigen Ungehorsams auf. Auf diese Weise veranschaulicht der Text eine der übertragenen Bedeutungen des Grenz-Begriffs: Das Zusammenleben von Menschen in sozialen Gemeinschaften wird durch Gesetze und Normen reguliert, welche die Entfaltung des Einzelnen einerseits befördern, andererseits limitieren. Die 15 Ebd., S. 371. 16 Ebd., S. 446. <?page no="61"?> 60 Sikander Singh humane Haltung, die hinter der Genreszene in Reglers Erinnerungsbuch aufscheint, sieht im Wohlergehen des Menschen den Maßstab sittlichen Handelns: Grenzen und Begrenzungen sind lediglich dann sinnhaft, wenn sie eine Funktion im Hinblick auf den Menschen haben; kehrt sich diese Relation um, werden sie zu einem Instrument totalitärer Herrschaft. Inwiefern die Frage nach der Freiheit des Individuums im Kontext des Diskurses über Grenzen fassbar wird, zeigt ein Abschnitt aus dem Sechsten Buch der Autobiografie. Dem erzählten Ich ist es - vornehmlich durch die Fürsprache namhafter Freunde - gelungen, Europa zu verlassen. Bevor er jedoch in die Vereinigten Staaten von Amerika einreisen darf, muss er einige Tage auf Ellis Island verbringen, jener der Stadt New York vorgelagerten Insel im Mündungsgebiet des Hudson River, auf der die Einwanderungsbehörde über die Einreiseerlaubnis für Immigranten entscheiden musste. Sowohl die Schiffspassage über den Atlantik als auch der Aufenthalt auf der Insel werden verkürzt wiedergegeben; der Erzähler fokussiert nicht die Erlebnisse der Reise, sondern ihr Ergebnis: Acht Tage später waren wir in Ellis Island; ein Gefängnis, aber kein Luftalarm mehr; Eisengitter, aber kein Maschinengewehr davor. Manhattan leuchtete wie ein Versprechen. Luxusessen, nachts saubere Decken, am Morgen heiße Bäder. Nach zwei Tagen waren wir frei! 17 An der Grenze der Vereinigten Staaten macht das erzählte Ich zwar die Erfahrung einer erneuten Gefangenschaft. Indem diese aber mit den Gefahren und Begrenzungen des europäischen Kontinents verglichen wird, verliert sie als ein transitorischer Zustand ihren Schrecken. Der letzte Grenzübertritt, von dem Das Ohr des Malchus erzählt, bezeichnet den Weg des erzählten Ich aus dem durch Grenzen zerschnittenen, zerteilten, zergliederten Europa in das freie, grenzenlose Amerika. Wenngleich diese Darstellung von einer ahistorischen Stilisierung bestimmt wird, zeigt sie die Funktion der Grenze als eine Zone des Übergangs. In diesem positiven Bild liegt die Einsicht, dass Grenzen als materialisierte Schnittstellen zwischen Staaten nicht nur Paradigmen der Spaltung, der Teilung und Trennung sind, sondern, indem sie dazu beitragen, Identität und Selbstbild einer Nation zu stabilisieren, Freiheit ermöglichen. In der Erzählung seiner Lebensgeschichte denkt Gustav Regler über Grenzen als symbolische Repräsentationen nach, über das Recht des Einzelnen und die Begrenzungen seiner Möglichkeiten, über die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit als bestimmende Größe seiner Epoche. Schließlich regt die Autobiografie einen kritischen Diskurs über das Unrecht an, das jedem Versuch immanent ist, das kulturell Gemachte einer Grenzziehung absolut zu setzen. 17 Ebd., S. 595. <?page no="62"?> Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische 61 Regler ist damit auch in der ideengeschichtlichen Tradition Jean-Jacques Rousseaus zu lesen, der in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 1755 die Regelung von Besitzverhältnissen - und das Setzen von Grenzen ist sichtbarer Ausdruck derselben - als eine Abkehr vom Prinzip der Natur auffasst. In der Ver- und Aufteilung von Land, das - nach Rousseau - in dem glücklichen Urzustand des Menschen Gemeingut war, an dem alle Menschen gleichermaßen partizipierten, liegt der Beginn der „bürgerlichen Gesellschaft“, ihrer limitierenden Vorstellungen von Eigentum und Wert. 18 Das Ohr des Malchus begegnet dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts und seinen Folgen, aber auch den Ideologien des 20. Jahrhunderts mit dieser aufgeklärten Denkfigur und unterstreicht auf diese Weise den Anspruch und die fortwährende Notwendigkeit einer Littérature engagée. 18 „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‘“ ( Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Hg. von Heinrich Meier. Paderborn 2008, S. 173.) <?page no="64"?> Über Grenzen 63 Über Grenzen Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen Sascha Kiefer, Saarbrücken Der Titel meines Beitrags ist von kalkulierter Mehrdeutigkeit. Die Begriffe ‚Grenzen‘ und ‚Grenzüberschreitungen‘ beziehen sich sowohl auf symbolische und moralische Grenzen als auch auf räumliche, regionale bzw. territorial-politische. Die Formulierung ‚über Grenzen‘ zielt zum einen darauf, dass sowohl Irmgard Keun als auch die Protagonistinnen ihrer Romane Grenzen überschreiten, zum anderen aber auch darauf, dass sie Grenzen thematisieren, also über Grenzen schreiben bzw. reflektieren. Dabei erscheint die Denkfigur der Grenze zwar ausgesprochen geeignet, um sich sowohl an die empirische Autorin Irmgard Keun als auch an die Protagonistinnen ihrer Romane anzunähern, doch das impliziert keineswegs eine biografische oder gar biografistische Interpretation der fiktionalen Texte. Diese Vorbemerkung scheint nötig, denn gerade die Keun- Forschung hat oft gegen den literaturwissenschaftlichen Allgemeinplatz verstoßen, dass die literarischen Figuren einer Autorin nicht mit dieser selbst zu identifizieren sind und dass auch eine Teilidentifikation keinen literaturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn mit sich bringt. 1 Eine offensichtliche Dimension von Grenze, die im Hinblick auf die Autorin Irmgard Keun in jedem Fall relevant ist, aber trotzdem nur kurz angesprochen werden soll, hängt mit ihrer Position als schreibender Frau in den frühen 1930er Jahren zusammen. Auch am Ende der Weimarer Republik ist die schreibende Frau noch ein Grenzfall im männlich dominierten literarischen Feld. Was für schreibende Frauen im Allgemeinen gilt, wird in Bezug auf Irmgard Keun geradezu exemplarisch deutlich in der Rezension ihres Erstlingsromans Gilgi - 1 Vgl. dazu z. B. die kritischen Anmerkungen von Beate Kennedy: Irmgard Keun: Zeit und Zitat. Narrative Verfahren und literarische Autorschaft im Gesamtwerk. Berlin 2014, S. 14-16. - Während die biografistische Phase der Forschung weitgehend überwunden scheint, wurde eine einseitig an der Lebensgeschichte der Autorin orientierte Breitenrezeption zuletzt wieder gefördert durch den Erfolg von Volker Weidermanns Ostende (Köln 2014); die 2016 bei Kiepenheuer & Witsch erschienene Neuauflage von Kind aller Länder vermerkt im Klappentext explizit und werbewirksam: „Gleichzeitig ist dieser Roman, erstmals erschienen in Amsterdam 1938, ein anrührendes Porträt des Paars, das Joseph Roth und Irmgard Keun einmal waren, und von dem Volker Weidermann in seinem Buch Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft so lebendig erzählt hat“. <?page no="65"?> 64 Sascha Kiefer eine von uns durch Kurt Tucholsky. Weil sie an der Oberfläche nachdrücklich positiv ist, wird diese Rezension in der Keun-Forschung oft zitiert („bis zur Unkenntlichkeit“, 2 wie Hiltrud Häntzschel anmerkt). Keun selbst hat rückblickend bestätigt, dass sie „ungeheuer stolz“ darauf gewesen sei, gleich mit ihrem literarischen Debüt in der Weltbühne gelobt zu werden. 3 Aus gendersensibler Perspektive ist allerdings nicht zu übersehen, wie sehr Tucholskys Formulierungen im Spannungsfeld von Grenzüberschreitung und Grenzziehung angesiedelt sind: Sternchen; weil diese Dame gesondert betrachtet werden muß. Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an! […] Wenn Frauen über die Liebe schreiben, geht das fast immer schief: sauer oder süßlich. Diese hier findet in der ersten Hälfte des Buches den guten Ton. […] Diese hier findet in der zweiten Hälfte weder den richtigen Ton noch die guten Gefühle. Da langts nicht. […] Flecken im Sönnchen, halten zu Gnaden. Hier ist ein Talent. Wenn die noch arbeitet, reist, eine große Liebe hinter sich und eine mittlere bei sich hat -: aus dieser Frau kann einmal etwas werden. 4 Tucholsky weist der Autorin eine Sonderrolle zu, und das sogar in der Materialität seines Textes, indem er zuvor ein ‚sonderndes‘ Sternchen setzt. Doch diese Anerkennung partieller Grenzüberschreitung dient letztlich der Stabilisierung von Grenzen: Keun erscheint nur als partielle Ausnahme von der behaupteten Regel, dass die Kategorie ‚schreibende Frau‘ weder mit der Kategorie ‚Humor‘ noch mit der Kategorie ‚gelingendes Schreiben über Liebe‘ vereinbar sei. Diese Dialektik der Überschreitung und Bestätigung von Gender-Grenzen ist sicher ein oft zu beobachtendes Phänomen; hier wird es aber besonders greifbar, verstärkt auch durch Tucholskys gönnerhaften Ton und den übergriffigen Gestus, mit dem der männliche Rezensent hier ein ganzes Lebensmodell entwirft, das der jungen Autorin den Weg zu künstlerischer Reife eröffnen soll. Wie sehr Irmgard Keun ihre literarischen Figuren durch Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen konturiert, wird im Folgenden an den Protagonistinnen der Romane Gilgi - eine von uns , Das kunstseidene Mädchen , Nach Mitternacht und Kind aller Länder erläutert. 5 Dass hier jeweils unterschiedliche Dimensionen des Begriffs ‚Grenze‘ im Vordergrund stehen, ist zumindest zum Teil aus 2 Hiltrud Häntzschel: Irmgard Keun. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 31. 3 Zitiert nach Ingrid Marchlewitz: Irmgard Keun - Leben und Werk. Würzburg 1999, S. 72. 4 Kurt Tucholsky [Peter Panter]: Auf dem Nachttisch. [Die Weltbühne, 2. Februar 1932]. In: ders.: Texte 1932 / 1933. Hg. von Antje Bonitz. Reinbek bei Hamburg 2011, S. 34-40, hier S. 39 f. 5 Leider lag die dreibändige, kommentierte Neuedition der Werke Irmgard Keuns, herausgegeben von Heinrich Detering und Beate Kennedy (Göttingen: Wallstein 2017), bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Daher wird im Folgenden nach den Ausgaben des Claassen-Verlags zitiert, die für die Wiederentdeckung der Autorin seit Ende der siebzi- <?page no="66"?> Über Grenzen. Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen 65 dem Entstehungskontext und der Handlungszeit dieser Romane zu erklären: Irmgard Keun schreibt konsequent Gegenwartsliteratur, und selbstverständlich gewinnt der Begriff der ‚Grenze‘ in ihren im Exil spielenden oder den Übergang ins Exil thematisierenden Romanen eine andere Bedeutung als in den frühen Werken, die noch in der Spätphase der Weimarer Republik angesiedelt sind. Doch schon die beiden ersten Romane Gilgi - eine von uns und Das kunstseidene Mädchen sind nicht nur von „eigenwilliger zeitdiagnostischer Prägnanz“, 6 sondern nehmen auch in vielfältiger Weise auf Figuren der Grenzziehung und Grenzüberschreitung Bezug. Im Mittelpunkt stehen jeweils Protagonistinnen, die untrennbar mit dem damals aktuellen Weiblichkeitsdiskurs verbunden sind. Gisela und Doris verkörpern in vielen Details die sogenannte neue Frau, sie stehen, wie schon die bewusst verallgemeinernden Titelformeln „eine von uns“ und „das kunstseidene Mädchen“ signalisieren, stellvertretend für viele. Wenn Gisela Kron, genannt Gilgi, von ihrer Autorin als Repräsentantin eines aktuellen Frauentyps konstruiert wird, geschieht das zu Beginn des Romans ganz entscheidend über Gesten der Grenzziehung und Abgrenzung. Auf der Ebene der narrativen Struktur teilt sich dieser Prozess vielleicht deshalb so deutlich mit, weil Keun hier noch heterodiegetisch erzählt: Denn Gilgi wird zwar durch den Titel mit einem gewissen homodiegetischen Einschlag als „eine von uns“ eingeführt, doch gerade am Beginn des Romans ist der heterodiegetische Erzähler sehr präsent und schafft dadurch eine stärkere Distanz zur Protagonistin als in den späteren, homodiegetisch bzw. autodiegetisch erzählten Romanen. 7 Das erste Kapitel zeigt den Kölner Alltag der 20jährigen Stenotypistin Gilgi. Zahlreiche Detailschilderungen lassen an die Fallstudien in Siegfried Kracauers kurz zuvor erschienener Studie Die Angestellten denken, 8 aber auch die Anknüpfungspunkte an den zeitgenössischen Weiblichkeitsdiskurs liegen auf der Hand. 9 Ausdrücklich wird schon im ersten Satz des Romans vom „Mädchen“ Gilgi gesprochen und damit ein Bezug zur Girl-Kultur hergestellt. Gilgi wird eingeführt als hochgradig disziplinierte, magere, sportliche junge Frau, die ihger Jahre eine große Bedeutung hatten, die aber spätestens durch die Neuedition philologisch überholt sein werden. 6 Stefanie Arend / Ariane Martin: Vorwort. In: dies. (Hg.): Irmgard Keun 1905 / 2005. Deutungen und Dokumente. Bielefeld 2005, S. 7-10, hier S. 7. 7 Die mit diesem Erzählverfahren verbundenen und von Keun raffiniert gehandhabten „Strategien der Distanzierung“ analysiert besonders ausführlich Maren Lickhardt: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane. Heidelberg 2009, S. 43-53. 8 Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von Dirk Niefanger: Gilgi und Ginster. Irmgard Keuns Roman mit Kracauer gelesen. In: Arend / Martin: Irmgard Keun (Anm. 6), S. 29-44. 9 Vgl. z. B. Kennedy: Irmgard Keun (Anm. 1), S. 64. <?page no="67"?> 66 Sascha Kiefer ren Arbeitstag mit Frühsport und kalter Dusche beginnt, um sich systematisch abzuhärten. Ihr neusachlich geprägter Habitus spiegelt sich in einem durchorganisierten Alltag, dessen Schilderung auch aus heutiger Perspektive noch erstaunlich ‚modern‘ wirkt: Nein, sie hat keine Zeit zu verlieren, keine Minute. Sie will weiter, sie muß arbeiten. Ihr Tag ist vollgepfropft mit Arbeiten aller Arten. Eine drängt hart an die andere. Kaum, daß hier und da eine winzige Lücke zum Atemholen bleibt. Arbeit. Ein hartes Wort. Gilgi liebt es um seiner Härte willen. Und wenn sie einmal nicht arbeitet, wenn sie sich einmal Zeit zum Jungsein, zum Hübschsein, zur Freude schenkt - dann eben um der Freude, um des Vergnügens willen. Arbeit hat Sinn, und Vergnügen hat Sinn. Mit der Mutter zum Kaffeeklatsch gehen [darum hatte ihre Mutter sie gerade gebeten], wäre weder Vergnügen noch Arbeit, sondern sinnlos verschwendete Zeit. Es gibt nichts, was Gilgi mehr gegen Natur und Gewissen geht. 10 Gilgis auf Selbstoptimierung ausgerichteter, durchstrukturierter Lebensentwurf wird nicht nur über solche Erzählerkommentare, sondern auch über räumliche Strukturen vermittelt. Denn Gilgis Distanzierung vom spießbürgerlich-behäbigen Lebensstil ihrer Eltern (bzw. wie sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: ihrer Adoptiveltern) findet ihren Ausdruck im Anmieten eines „nüchterne[n] Arbeitszimmerchen[s]“ außerhalb der elterlichen Sphäre. 11 Es ist die Gegenwelt zum elterlichen „Plüschzimmer“ 12 mit seiner „Urweltmöblierung“, 13 seinem wuchtigen Büfett, seinen bestickten Tischdecken und dem „[g]rüne[n] Plüschsofa“. 14 In Gilgis Zimmer ist alles funktional und modern, und während sie sich im elterlichen Ambiente „fremd“ fühlt, 15 fühlt sie sich hier „zu Hause“: „Sie bezahlt es, und es gehört ihr“. 16 Die zentralen Einrichtungsgegenstände sind eine „kleine Erika-Schreibmaschine“ und ein „Grammophon“, 17 beides Geräte, die für Gilgis neusachliches, über Arbeit und positiven Technikbezug definiertes Selbstverständnis essentiell sind. So schafft sich Gilgi, die fleißige Angestellte und engagierte Berlitz-Schülerin, den Raum, der ihrem Lebensentwurf entspricht, und gibt sich dort den zeit- und schichttypischen Illusionen hin: „Alles ist genau ausgerechnet und beschlossen. Wenn man drei Sprachen perfekt kann, ist man gegen Stellungslosigkeit wohl so ziemlich gesichert“. 18 10 Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns. Roman. Düsseldorf 1979, S. 13. 11 Ebd., S. 23. 12 Ebd., S. 31. 13 Ebd., S. 8. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 31. 16 Ebd., S. 21. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 22. <?page no="68"?> Über Grenzen. Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen 67 Bald allerdings muss Gilgi erkennen, dass ihr Leben nicht mehr vor ihr liegt „wie eine sauber gelöste Rechenaufgabe“, 19 denn sie verliebt sich in Martin. Die Liebe zu dem über zwanzig Jahre älteren, stellungslosen und an Erwerbsarbeit nicht interessierten Akademiker und Globetrotter ist eine neue Erfahrung. Gilgi selbst verwendet die Metapher der Grenze, um diese neue Erfahrung im Gespräch mit ihrer Freundin zu artikulieren: „Du weißt, ich hab’ Freunde gehabt - zwei - drei … […] Ich fühlte mich immer sauber und klar, ich war meiner sicher und hatte meinen Willen und eine selbstgezogene Grenze, die so selbstverständlich war, daß man nicht drüber nachzudenken brauchte. Und jetzt - - - daß ich einen lieb habe - wirklich lieb - zum erstenmal in meinem Leben […] - das wäre schön - und richtig und - aber […] ich habe keine Grenze mehr und keinen Willen, ich kann von heute auf morgen nicht mehr für mich garantieren.“ 20 Diese Erfahrung von körperlich-seelischer Transgression geht mit räumlicher Delokalisierung einher: Gilgis Beziehung zu Martin, von dem sie ungewollt schwanger wird, führt zum Bruch mit den Adoptiveltern, und auch ihr Arbeitszimmer sucht sie kaum mehr auf. 21 Damit verliert Gilgi die Räume, die ihre Identität durch Abgrenzung oder bewusste Eingrenzung stabilisiert haben. Bei Martin einzuziehen, bietet keine neue Stabilität, denn Martin hat keinen festen Wohnsitz, sondern hütet nur die Wohnung eines Freundes, der sich für längere Zeit in der Sowjetunion aufhält. Die Konsequenz aus Gilgis delokalisierenden Erfahrungen lässt nicht lange auf sich warten: Am Ende des Romans geht sie von Köln nach Berlin. Irmgard Keuns frühe Romane schreiben mit am Berlin- Mythos der 1920er Jahre; das provinzielle Rheinland, auch das regionale Zentrum Köln (mit seinen damals rund 740 000 Einwohnern) bietet keinen Raum für moderne, zeitgemäße Identitätsentwürfe. Eine Grenzüberschreitung zieht die nächste nach sich (eine Beobachtung, die in der Forschung über Transgressionsprozesse oft gemacht wurde). 22 Nur die Übersiedlung von der Provinz in die Metropole scheint Gilgi eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, wobei 19 Ebd., S. 71. 20 Ebd., S. 170 f. 21 Die Adresse ihres Arbeitszimmers will sie Martin bezeichnenderweise nicht mitteilen: „Ich muß - es ist - wegen meiner Selbständigkeit. Ich muß einen Ort zum Arbeiten haben, hier bei dir in der Nähe kann ich’s nicht, und in meinem Zimmer hätt’ ich auch keine Sekunde Ruhe, wenn ich denken müßt’, du könnt’st plötzlich erscheinen“ (ebd., S. 125). 22 Vgl. z. B. die thematisch weit gefächerten Beiträge des Bandes Transgressionen. Literatur als Ethnographie (Hg. von Gerhard Neumann / Rainer Warning. Freiburg im Breisgau 2003). <?page no="69"?> 68 Sascha Kiefer allerdings - wie in fast allen Romanen Keuns - offen bleibt, was aus der Protagonistin werden wird. In ihrem zweiten Roman verfährt Irmgard Keun relativ ähnlich, was die Konstruktion der Hauptfigur angeht. Auch Doris in Das kunstseidene Mädchen ist eine junge Kölnerin aus dem Kleinbürgertum mit ambitionierten Aufstiegsträumen, die in dem nicht weiter präzisierten Ziel gipfeln, „ein Glanz“ zu werden. Im Gegensatz zu Gilgi allerdings hat sich Doris von der Angestellten-Illusion verabschiedet, den sozialen Aufstieg durch Selbstdisziplin, Fleiß und die Berlitz- School erkämpfen zu können. Und während der Debütroman mit Gilgis Einsteigen in den D-Zug Köln-Berlin endet, spielt Das kunstseidene Mädchen zu fast zwei Dritteln in Berlin - die Wahrnehmung der urbanisierten Lebenswelt steht derart im Mittelpunkt, dass man von einem Großstadt-Roman sprechen kann. 23 Auf der erzählerischen Ebene vollzieht Keun zudem den Übergang zur Ich-Erzählsituation, die in Gilgi nur partiell angeklungen war. Im Kunstseidenen Mädchen entwickelt Keun ihr auch für spätere Texte entscheidendes, hochgradig artifizielles Erzählverfahren der „reflektierten Naivität“: 24 Die subjektive Wahrnehmung durch den autodiegetischen Erzähler wird einerseits explizit als unwissend oder naiv dargestellt, andererseits aber wird diese vermeintliche Unwissenheit oder Naivität auch gebrochen, da aus dieser Haltung heraus Beobachtungen und Fragen formuliert werden, die in scheinbarer Beiläufigkeit die Mitmenschen und die gesellschaftlichen Zustände entlarven. Unter dem Gesichtspunkt von Grenze und Transgression möchte ich im Hinblick auf das Kunstseidene Mädchen nur einen Punkt hervorheben: Noch deutlich gravierender als in Gilgi - eine von uns wird die Übersiedlung der Protagonistin nach Berlin als Folge einer Grenzüberschreitung motiviert. Gilgis Grenzüberschreitung erfolgt im emotionalen Bereich, verletzt höchstens die offizielle zeitgenössische Sexualmoral durch die Beziehung zu Martin und die ungewollte Schwangerschaft. Die Grenzüberschreitung von Doris dagegen ist justiziabel: Der erste Teil des Romans, in der als Köln identifizierbaren „mittlere[n] Stadt“ 25 angesiedelt, schließt mit einer kriminellen Handlung, denn Doris stiehlt an der Theatergarderobe einen wertvollen Pelz, einen Feh, der für sie den Inbegriff ihrer Träume von Glanz und Luxus und geradezu einen Fetisch darstellt. Ent- 23 Vgl. z. B. die Verortung, die Doris selbst vornimmt: „Mein Leben ist Berlin, und ich bin Berlin. Und das ist doch eine mittlere Stadt, wo ich her bin, und ein Rheinland mit Industrie.“ (Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman. Düsseldorf 1979, S. 92). 24 Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von Claudia Stockinger: „daß man mit ein bißchen Nachdenken sich vieles selber erklären kann“. Irmgard Keuns Verfahren der reflektierten Naivität. In: Text und Kritik. Heft 183. Irmgard Keun. Hg. von Stefan Scherer. München 2009, S. 3-14. 25 Keun: Das kunstseidene Mädchen (Anm. 23), S. 5. <?page no="70"?> Über Grenzen. Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen 69 sprechend gewinnt die Reise nach Berlin den Charakter einer „Flucht“ 26 vor Entdeckung, strafrechtlicher Verfolgung oder sogar Verhaftung, wie sie sich Doris in ihrem schlechten Gewissen drastisch ausmalt. 27 Schon in ihren Weimarer Erfolgsromanen inszeniert Keun also Fluchten in einen Möglichkeitsraum und lässt dabei in beiden Fällen mindestens offen, inwieweit und für wie lange die großstädtische Lebenswelt einlösen kann, was sich die Protagonistinnen erhoffen. So gesehen radikalisieren die Exilromane Nach Mitternacht und Kind aller Länder lediglich eine Konfliktstruktur, die schon in der Gegenüberstellung von südwestdeutscher Provinz und nordostdeutscher Metropole angelegt war. Keuns erster vollständig im Exil konzipierter Roman Nach Mitternacht stellt erneut eine junge Frau in den Mittelpunkt, die 19jährige Susanne Moder, genannt Sanna. Aus Sannas Perspektive werden die Auswirkungen der nationalsozialistischen Diktatur auf das Leben in Deutschland zwischen 1933 und 1936 geschildert. Individuelle Freiheiten gehen Stück für Stück verloren, der staatliche Eingriff noch in die intimsten Lebensbereiche kennt keine Schutzzonen mehr und belastet alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Die immer strengere Zensur bestimmt, worüber Schriftsteller schreiben dürfen und worüber nicht, die Rassengesetze regeln, wer sich lieben darf und wer nicht, das gesellschaftliche Klima von Ideologie, Fanatismus und Gewalt zerstört jedes positive Gefühl und begünstigt die defizitären Persönlichkeiten, die Zukurzgekommenen, die ihren autoritären Charakter nun auf Kosten der anderen ausleben können. Dieser Prozess gewinnt derart an Dynamik, dass dem Einzelnen letztlich nur noch zwei Möglichkeiten bleiben, um sich ihm zu entziehen: der Selbstmord oder die Emigration, beides radikale Grenzüberschreitungen. In Bezug auf die Raumsemantik verzichtet Irmgard Keun darauf, den urbanen Lebensraum zu diskreditieren. Köln oder Frankfurt am Main stehen in ihren Romanen für mittlere Städte, die gerade groß genug sind, um moderne urbane Lebensentwürfe in Ansätzen zu ermöglichen, aber von den Protagonistinnen der Romane trotzdem als bedrückend eng und provinziell erfahren werden im Vergleich zu den weiten Möglichkeiten Berlins. Es wäre denkbar gewesen, dass Keuns Exilromane an diesem Punkt ansetzen und zeigen, wie der Weg ihrer Protagonistinnen nun aus dem nationalsozialistischen Berlin in die Welt führen 26 Ebd., S. 64. 27 Vgl. ebd., S. 58. - Dass Berlin für Doris neue Freiheiten bereithält, ist zwar nicht zu bestreiten; allerdings gehört es gerade zur Ambivalenz des Kunstseidenen Mädchens , dass die Protagonistin auch immer wieder an Grenzen stößt, nicht zuletzt an Geschlechtergrenzen, wenn sie z. B. versucht, sich die männlich codierte Rolle des großstädtischen Flaneurs anzueignen, als Flaneuse aber nur allzu rasch „auf die Rolle der Prostituierten festgelegt“ wird (Katharina von Ankum: „Ich liebe Berlin mit einer Angst in den Knien“. Weibliche Stadterfahrung in Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“. In: The German Quarterly 67 / 3 (1994), S. 369-388, hier S. 374). <?page no="71"?> 70 Sascha Kiefer muss; das tun sie jedoch nicht. Der Nationalsozialismus macht in Keuns Darstellung vor allem das Leben in der Provinz noch schlimmer und bedrückender, als es schon vor der Machtergreifung gewesen ist, indem er die dort ohnehin eingegrenzten Möglichkeiten des Individuums noch weiter beschneidet und alles dem Primat einer aggressiven, zerstörerischen Politik unterordnet. War es vor 1933 die deutsche Hauptstadt Berlin, die dem Individuum neue Freiheiten zu versprechen schien, ist diese Hoffnung nach 1933 auf die Welt außerhalb der Reichsgrenzen übergegangen, auf das Exil. Abermals folgt die Überschreitung der territorialen Grenzen auf die Überschreitung moralischer Grenzen. Den Ausschlag gibt diesmal ein Tötungsdelikt: Franz, in den sich Sanna früh verliebt hat, ermordet einen nationalsozialistischen Denunzianten, den er für den Tod seines Geschäftspartners und die Vernichtung ihrer beider Existenz verantwortlich macht. Es ist Sannas Verantwortungsgefühl und ihre Liebe zu Franz, die sie in die gemeinsame Emigration treibt; doch die Konfrontation mit zahlreichen durch den Nationalsozialismus brutalisierten Mitmenschen, die Zerstörung ihres gesamten sozialen Umfelds hat Sanna schon zuvor an die Erkenntnis herangeführt, dass ein menschenwürdiges Leben im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr zu führen ist. Von daher ist Sannas Solidarisierung mit Franz auch als Ergebnis eines politischen Erkenntnisprozesses angelegt. Der Grenzübertritt im Nachtzug nach Rotterdam wird von der Protagonistin existentiell erfahren: Ist die Grenze ein Strich, was ist sie? Ich verstehe es nicht. Ein Zug hört auf zu fahren, das ist die Grenze. Männer kommen, machen Koffer auf, suchen und wühlen - Grenze heißt Angst haben. Der Zug fährt wieder, mein Hundertmarkschein fährt, Franz fährt, alles fährt mit, nur die Angst fährt nicht mehr mit. Das war die Grenze. 28 Es ist die erste explizit gemachte ‚reale‘, auf eine politische, territoriale Grenze bezogene Erfahrung in Irmgard Keuns literarischem Werk, und schon hier fokussiert die Erzählinstanz auf die eigentümliche Spannung von Abstraktion und Konkretheit, die dem Begriff der Grenze eingeschrieben ist: ‚Eigentlich‘ ist eine Grenze nur ein künstlicher, abstrakter Strich oder ein Signal, doch ihre konkreten Auswirkungen auf die Emotion und das Leben eines Menschen können von höchster existentieller Relevanz sein - zumindest dann, wenn dieser Mensch ein Flüchtling, ein Exilierter ist. Nach Mitternacht endet an diesem Punkt, der für die Protagonistin den Übergang in eine neue Selbsterfahrung, in einen neuen Lebensraum mit neuen Erfahrungen markiert. Der liminale Zustand, den die 28 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Roman. Düsseldorf 1980, S. 199. <?page no="72"?> Über Grenzen. Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen 71 Protagonistin erfährt, ist notwendig ambivalent, aber doch überwiegend von Erleichterung und Optimismus geprägt. Über das Leben im Exil schreibt Irmgard Keun am ausführlichsten und wirkungsvollsten in Kind aller Länder . Ihre bevorzugte Erzählweise der reflektierten Naivität erfährt hier, wie schon in der kurz zuvor entstandenen Geschichtensammlung Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften , eine weitere Steigerung, indem die Fokalisierung an eine kindliche Wahrnehmungsperspektive gebunden wird. Freilich merken der Leser, die Leserin, dass der kindliche Blick der 10jährigen Kully immer wieder „über die Perspektive eines bestimmten, ‚realistisch‘ gezeichneten Kindes hinausgeht“. 29 Keun ist es nicht um eine psychologisch-realistische Charakterisierung ihrer vorpubertären Ich- Erzählerin zu tun, sondern sie verfolgt eine narrative Strategie, die die Entlarvung der Realität noch weiter treiben kann als das bereits durch die scheinbar naiven Beobachtungen von Doris oder Sanna möglich war, eine narrative Strategie, die vor allem auch den speziellen Gegebenheiten des Exils entspricht. Kully muss sehen, wie sie zurechtkommt, aber als Kind hat sie weder den Überblick über die Situation, wie er von Erwachsenen zumindest gefordert würde, noch die volle Verantwortung für das eigene Handeln. Als Minderjährige ist sie zwar abhängig von der Fürsorge bzw. der mangelnden Fürsorge ihrer Eltern, aber sie ist zugleich entbunden von der aktiven Sorge etwa um Erwerbsmöglichkeiten, Aufenthaltsgenehmigungen oder Visa. Zudem ist Kullys bewusstes Erleben bereits so stark von der Exilerfahrung geprägt, dass diese von dem Kind als Normalfall verarbeitet wird; Kully hat zwar noch Erinnerungen an Deutschland, doch sie verortet ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ nicht mehr als zwei Pole in einem binären System, weil ihr Leben schon zu lange in einem Transitraum stattfindet, der diese Kategorien gar nicht mehr zulässt. Als ein älterer Herr sie fragt, ob sie „nie Heimweh“ habe, weiß sie zuerst nicht, was gemeint ist, und kommt dann zu dem Schluss, dass sie manchmal schon Heimweh habe, „aber immer nach einem anderen Land, das mir gerade einfällt“. 30 Als Kind aller Länder findet Kully zu einer „nomadische[n] Auffassung“ 31 von Heimat und Heim: Alle Gefühle von Zugehörigkeit gründen auf positiven Erfahrungen an den unterschiedlichsten Orten und auf der Nähe zu Mutter und Vater, dem frei beweglichen, „konkreten kleinen Sozialraum, der von den drei Hauptfiguren gebildet wird“. 32 29 Christina Thurner: Der andere Ort des Erzählens. Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigrantinnen und Emigranten 1933-1945. Köln / Weimar / Wien 2003, S. 95. 30 Irmgard Keun: Kind aller Länder. Roman. Düsseldorf 1981, S. 210. 31 Thurner: Der andere Ort des Erzählens (Anm. 29), S. 127. 32 Walter Delabar: Überleben in der kleinsten Größe, Einüben ins Weltbürgertum. Zur Perpetuierung des Exils in Irmgard Keuns Roman „Kind aller Länder“. In: Arend / Martin: <?page no="73"?> 72 Sascha Kiefer Sabine Rohlf hat in einer wichtigen Arbeit die These vertreten, dass gerade Frauen im Exil die Möglichkeiten ergriffen hätten, „ohne Bindung an ausschließende Konzepte der Heimat und der Identität zu leben und zu schreiben“. 33 Ausgehend von dieser Grundthese sieht Rohlf auch Kullys Position durch „selbstverständliche[n] Kosmopolitismus“ gekennzeichnet, der in der Lage sei, „Abschied von nationalen Identitäten“ zu nehmen und damit eher einen „Gewinn“ markiere statt einer Verlusterfahrung. 34 Christina Thurner ist da skeptischer und verweist zu Recht auf die „vielen - wenn auch überspielten - Hinweise auf Trauer und Überforderung der Figuren“, 35 die der Roman durchaus liefert. Es gehört zu Keuns erzählerischem Raffinement, dass Kullys scheinbar so souveräner kosmopolitischer Selbstentwurf auch wieder relativiert wird; er ermöglicht zwar vorübergehende Entlastung und überlebensnotwendige Glücksmomente, ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Exil auch in Kind aller Länder als „endloses Davonlaufen vor den verschiedensten Bedrohungen“ 36 erfahren wird. Die Leistung der speziellen Erzählperspektive liegt gerade nicht in einer eindeutigen Positivierung oder auch nur Milderung der Exilerfahrung (die ja einer Beschönigung und Verharmlosung auch bedenklich nahe käme). Die Leistung der Erzählperspektive liegt darin, dass sich in Kullys kindlicher Beobachterposition die Liminalität der Exilerfahrung spiegelt. Kully ist in mehrfachem Sinn als Grenzfigur, als Schwellengestalt konstruiert. Während ihre Eltern in hohem Maße durch traditionelle Geschlechtsrollenmuster geprägt sind, nimmt die Zehnjährige noch keinen festen Platz in der Geschlechterordnung ein - sie ist keine Frau (und schon gar kein Mann), widerspricht den von ihrer Zeit als typisch mädchenhaften festgelegten Verhaltensmustern, und der einzige Name, unter dem wir sie kennenlernen, ist nicht eindeutig als Abkürzung eines Frauennamens einzuordnen. 37 Kully ist nicht ‚fertig‘, sie ist ständig in Bewegung, auch in sprachlicher Hinsicht, indem sie immer von neuem versucht, sich fremde Sprachen anzueignen, aber zugleich auch immer weiter bemüht sein muss, eine Sprache zu finden und weiterzuentwickeln, „die die Grenzen ihres Irmgard Keun (Anm. 6), S. 205-216, hier S. 215. 33 Sabine Rohlf: Exil als Praxis - Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen. München 2002, S. 10. 34 Ebd., S. 173. - Vor Rohlf hat schon Doris Rosenstein die kosmopolitische Lebenseinstellung Kullys als eine Art „utopische[n] Gegenentwurf zur nationalistischen Beschränktheit des Dritten Reiches“ aufgefasst (Doris Rosenstein: Irmgard Keun. Das Erzählwerk der dreißiger Jahre. Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1991, S. 361). 35 Thurner: Der andere Ort des Erzählens (Anm. 29), S. 129. 36 Ebd., S. 127. 37 Vgl. Rohlf: Exil als Praxis (Anm. 33), S. 175-180. <?page no="74"?> Über Grenzen. Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen 73 eigenen Daseins auslotet“. 38 Gerade ihr notwendig mangelndes Verständnis für die politischen Zusammenhänge, die bürgerliche Ordnung, die historische Dimension des Geschehens eröffnet für den Leser, die Leserin immer wieder neue, überraschende Perspektiven. Gegenstand von Kullys vielfältigen Reflexionen sind jedenfalls auch die für sie hochabstrakten Begriffe von Pass, Visum und Grenze. Die kindliche Perspektive lässt sie da noch weiter denken als die neunzehnjährige Sanna in Nach Mitternacht . Grenze und Grenzziehung als kulturelle Praxis, als performative Handlung werden explizit in bemerkenswerten Passagen ergründet - die wichtigste davon ist schon oft zitiert worden, aber sie passt derart gut in den Kontext dieses Bandes, dass ich nicht auf sie verzichten möchte: Wir haben so viele Gefahren, das alles ist so schwer zu verstehen. Vor allem muß ich lernen, was ein Visum ist. Wir haben einen deutschen Paß, den hat uns die Polizei in Frankfurt gegeben. Ein Paß ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, daß man lebt. Wenn man den Paß verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muß man ’raus, aber in das andere darf man nicht ’rein. Doch der liebe Gott hat gemacht, daß Menschen nur auf dem Land leben können. Jetzt bete ich jeden Abend heimlich, daß er macht, daß Menschen jahrelang im Wasser schwimmen können oder in die Luft fliegen. Meine Mutter hat mir aus der Bibel vorgelesen. Da steht wohl drin, daß Gott die Welt schuf, aber Grenzen hat er nicht geschaffen. Über eine Grenze kommt man nicht, wenn man keinen Paß hat und kein Visum. Ich wollte immer mal eine Grenze richtig sehen, aber ich glaube, das kann man nicht. Meine Mutter kann es mir auch nicht erklären. Sie sagt: „Eine Grenze ist das, was die Länder voneinander trennt.“ Ich habe zuerst gedacht, Grenzen seien Gartenzäune, so hoch wie der Himmel. Aber das war dumm von mir, denn dann könnten ja keine Züge durchfahren. Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’raus muß und in das andere nicht ’rein darf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge ’rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann. Sie ist etwas, das sich mitten im Zug abspielt mit Hilfe von Männern, die Beamte sind. 38 So mit (auf Kully übertragbarem) Blick auf die kindliche Erzählperspektive in Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften Stephanie Waldow: Kindlicher Sprachgestus als sprachreflexive Erzählform: „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“ gelesen mit Walter Benjamin. In: Arend / Martin: Irmgard Keun (Anm. 6), S. 145-159, hier S. 146. <?page no="75"?> 74 Sascha Kiefer Wenn man ein Visum hat, lassen die Beamten einen im Zug sitzen, man darf weiterfahren. […] Ein Visum ist ein Stempel, der in den Paß gestempelt wird. Man muß jedes Land, in das man will, vorher bitten, daß es stempelt. Dazu muß man auf ein Konsulat. Ein Konsulat ist ein Büro, in dem man lange warten und sehr still und artig sein muß. Ein Konsulat ist das Stück von einer Grenze mitten in einem fremden Land; der Konsul ist der König der Grenze. […] Ich muß das alles lernen. Meine Mutter weint manchmal darüber und sagt, früher sei alles leichter gewesen. Ich habe ja früher nicht gelebt, als alles so leicht war. 39 Diese Passage demonstriert exemplarisch die Leistung der sorgfältig konstruierten Perspektive: Das Mädchen Kully realisiert auf seine eigene Weise eine Problematik, die in vielen Romanen der Exilliteratur vor und nach Keun thematisiert wird. Die tragische Absurdität der Exilsituation, die existentielle Bedeutung von Grenzen, Pässen und Visa wird dabei nicht weniger drastisch erfahrbar als etwa in Transit von Anna Seghers. Sie wird aber neu perspektiviert durch den scheinbar naiven Pragmatismus des Kindes, das sich nicht gebunden fühlt an eine Vergangenheit, in der angeblich „alles so leicht war“, sondern dass sich als offen erweist für die Erfahrungen der Gegenwart und diese „mit überraschender Unbekümmertheit“ 40 zu akzeptieren scheint. Die kindliche Perspektive erweist sich als zentrales Mittel, um „nonkonformistisch und mit Ironie auf die Exilsituation“ 41 zu reagieren, ohne den Ernst des Exils zu verharmlosen. Die instabilen Transiträume des Exils werden in Kullys Sicht neutralisiert zu Möglichkeitsräumen, die sich jenseits und zwischen den einerseits absurden und andererseits so wirkungsmächtigen Grenzen ergeben. Insofern entspricht der Raum des Exils strukturell dem Raum der Großstadt, in den sich Keuns Protagonistinnen der Weimarer Republik begeben haben, wenn sie in der Provinz an Grenzen gestoßen sind, die zu übertreten sie durch ihren Selbstentwurf beinahe gezwungen waren. Die urbanisierte Lebenswelt ebenso wie der spezielle Raum des Exils bieten zwar neue Möglichkeiten; doch im Entwurf ihrer Protagonistinnen lässt Keun immer eine pessimistische Lesart zu, die dem oft etwas plakativen, pragmatischen Optimismus der dominanten Figurenperspektive widerspricht: die Möglichkeit des Scheiterns bleibt immer gegenwärtig. Die jungen Frauen Gilgi, Doris und Sanna erfahren eine soziale Delokalisierung, die sie an die Grenzen und über die Grenzen hinaus treibt, die minderjährige, ortlose Kully lebt ohnehin in einem transitären Zwischenraum 39 Keun: Nach Mitternacht (Anm. 28), S. 35-37. 40 Lucia Perrone Capano: Fluchtlinien und Entgrenzungsstrategien in Irmgard Keuns Exilromanen „Nach Mitternacht“ und „Kind aller Länder“. In: transcarpathica 7 / 8 (2008 / 2009), S. 153-163, hier S. 159. 41 Ebd., S. 161. <?page no="76"?> Über Grenzen. Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen 75 und mehrfach codierten Zustand der Liminalität. Erst die literarische Narration rückt diese Protagonistinnen aus einer marginalisierten Position ins Zentrum; sie alle vier hat Irmgard Keun aus dem Spannungsfeld von Grenzen und Grenzüberschreitungen heraus entwickelt. Aus diesem dynamischen Prozess heraus entfalten Keuns fiktionale Texte ein beachtliches transgressives Potential, 42 das Irmgard Keun dauerhaft einen Platz unter den wichtigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts sichern wird. 42 Vor allem auf die sozialkritischen Implikationen dieses transgressiven Potentials bezieht sich die Arbeit von Carme Bescansa Leirós: Gender- und Machttransgression im Romanwerk Irmgard Keuns. Eine Untersuchung aus der Perspektive der Gender Studies. St. Ingbert 2007 [Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 42]. <?page no="78"?> Grenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette Kolb 77 Grenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette Kolb Günter Häntzschel, München Die semantische Vielfalt des Begriffs der ‚Grenze‘ nicht nur in seiner geografischen, territorialen und politischen Dimension, sondern auch in metaphorischer Bedeutung als unsichtbare Grenze zwischen Kulturen, Sprachen, Konfessionen, Geschlechtern, in Befangenheit und Überwindung von Ansichten, Meinungen, Vorurteilen kennzeichnet Annette Kolb und ihr literarisches Werk in vieler Hinsicht. Grenzüberschreitungen und Begrenzungen - wer Annette Kolb und ihr Werk unter diesen beiden konträren Kategorien untersuchen möchte, wird sie wohl spontan der ersten oder nur der ersten, also der Grenzüberschreitung, zuordnen wollen. Ihre Herkunft prädestiniert sie per se dafür: 1870 als Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren, erlebte sie in ihrem Münchner Elternhaus eine Atmosphäre, in der sich der künstlerische Habitus der berühmten Pianistin mit dem bodenständigen Charakter des bayrischen Landschaftsgärtners begegneten, so dass ihr von Kindheit an Grenzüberschreitungen zwischen beiden Ländern und Kulturräumen selbstverständlich waren. Ihr unsteter, umtriebiger Charakter, ihre Kontaktfreude, ihr ebenso unerschrockenes wie unkonventionelles, bisweilen Erstaunen und Befremdung erregendes Zugehen auf prominente Persönlichkeiten der Politik und Diplomatie, der Theologie und Philosophie, ihre Reiselust, ihr ausgedehnter Freundes- und Bekanntenkreis im In- und Ausland bestätigen das Moment der Grenzüberschreitungen. Und dennoch gibt es auch die andere Seite: ein erstaunliches Verharren innerhalb konventioneller Grenzen in ihrer Mentalität, in ihren Ansichten und Äußerungen. Um diese unsichtbaren Grenzen beziehungsweise um die Grenze als Metapher soll es im Folgenden hauptsächlich gehen. Der erste Abschnitt meines Beitrags betrifft Grenzüberschreitungen in pazifistischer Mission, der zweite zeigt begrenzte Ansichten über preußischen Protestantismus, der dritte handelt über Grenzen im Verständnis der Judenfrage und deren Überwindung. <?page no="79"?> 78 Günter Häntzschel I. Grenzüberschreitungen in pazifistischer Mission Aufgrund der politischen Situation war Annette Kolb dreimal gezwungen, die geografischen Grenzen Deutschlands zu überschreiten: 1917 bei ihrer Emigration von München in die Schweiz, 1933 - mittlerweile wieder in München - auf der Flucht über die Schweiz und Luxemburg nach Paris und 1941 von Frankreich über Spanien und Portugal nach New York. Der 1914 ausgebrochene Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, den sie als eine der ganz wenigen vehement verabscheute, machte Annette Kolb zwar nicht „heimatlos“ 1 , denn Grenzen, zumindest geistige, kulturelle, zwischen Deutschland und Frankreich waren der „Deutsch-Französin“ fremd, regte die Pazifistin aber zu einer ebenso ungewöhnlichen wie mutigen Aktivität an. Sie wagte es 1915, mitten im Krieg, in einem öffentlichen Vortrag vor der Literarischen Gesellschaft in Dresden gegen den militärischen Krieg und gegen den ebenso fatalen und nachhaltigen Verleumdungskrieg der öffentlichen Hetzpresse auf beiden Seiten anzukämpfen, an die Vernunft beider Völker zu appellieren und zur Einstellung der jeweils vergifteten Beziehungen aufzurufen. Der emphatische Friedenswunsch schockiert ihr kriegsbegeistertes, gegen Frankreich aufgehetztes Publikum ebenso wie ihre hybride Perspektive, dass allein von den „Halbgermanen Frankreichs“ und den „Halbromanen Deutschlands“ das starre Polaritätsdenken zu überwinden sei. 2 Allein diese „Sonderstellung“ 3 könne den derzeitigen Zustand überwinden, in dem „die eingestürzten Häuser unserer Grenzorte, die, wechselseitig umstritten, von den Kugeln beider Gegner zerschossen daliegen“, anzeigen, wie „wir in uns selber zusammengestürzt“ sind. 4 Der von entrüsteten Zwischenrufen unterbrochene und in einem öffentlichen Eklat endende Vortrag wird in der deutschen Presse empört besprochen und bringt Annette Kolb den Vorwurf des Landesverrats ein, so dass sie nur mit Hilfe Walter Rathenaus, der ihr zu einem Pass verholfen hatte, 1917 heimlich über die Grenze bei Lindau in die Schweiz emigrieren kann. Zuvor hatte sie den umstrittenen Vortrag noch in ihren 1916 erscheinenden Briefen einer Deutsch- Französin und der ins Französische übersetzten Version der Lettres d’une Franco- Allemande veröffentlichen können. Diese Schrift fand neben scharfer Kritik aus unverhohlen nationalistischem Denken und Hass auf Frankreich doch auch Zuspruch bei einigen Rezensenten, die Annette Kolbs Mut bewunderten, wenngleich sie ihre persönlich-emotionale Argumentation als peinlich empfanden. 1 Annette Kolb: Briefe einer Deutsch-Französin. Berlin 1916, S. 13. 2 Ebd., S. 144. 3 Ebd., S. 148. 4 Ebd., S. 20. <?page no="80"?> Grenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette Kolb 79 Der Dresdener Vortrag bildet den entscheidenden Auftakt für Annette Kolbs weitere mit Elan betriebene grenzüberschreitende Tätigkeit in pazifistischer Mission, die sie weder in Deutschland noch in Frankreich, wohl aber in der neutralen Schweiz vertreten kann, wo sie die nach Kriegsende virulent auflebende Spionage- und Kriegsgewinnerszene in ihrem 1921 veröffentlichten Buch Zarastro schildert. Der mit Annette Kolb befreundete Schriftsteller Romain Rolland ist zwar von den Lettres d’une Franco-Allemande beeindruckt, schränkt aber in seinen unter dem Titel Zwischen den Völkern erschienenen Aufzeichnungen den Wert ihrer Argumentation ein: „Alles in allem […] ist sie eine zwiefache Patriotin, einmal eine deutsche und einmal eine französische. Sie hat nichts Nationales. Darin sind wir sehr verschieden. Mich berührt das Elend jeden Volkes gleich stark, und ich glaube nicht an die Überlegenheit unserer beider Völker auf Erden …“. 5 Rollands Terminus ‚Patriot‘ ist ambivalent zu verstehen. Er bezeichnet nicht, wie heute mehr und mehr üblich, das Äquivalent eines ‚Nationalisten‘ oder gar ‚Chauvinisten‘, der im Glauben an die Überlegenheit der eigenen Nation die übrigen abwertet, hat aber auch nicht mehr allein die im 18. Jahrhundert geläufige Bedeutung eines Patrioten, der das Beste seines eigenen Staats gleichwertig auf alle übrigen übertragen möchte, ohne gegen sie zu Felde ziehen zu wollen, im Sinn, sondern verbleibt semantisch in der Schwebe. Romain Rollands kosmopolitischem Denken kann die allein auf Deutschland und Frankreich fixierte Annette Kolb nicht genügen. Ähnlich, doch ironisch äußert sich Hugo von Hofmannsthal: „Sie sind halt eine Pazifistin, […] Wenn ich zwei so großen Nationen angehörte wie Sie, ich wäre vormittags begeistert deutsch und nachmittags begeistert französisch.“ 6 Tatsächlich hat sich ja Annette Kolb zur europäischen Frage eher beiläufig und essayistisch geäußert 7 und selbst den von ihr bereisten Ländern England, Irland, Italien, Luxemburg, Österreich, den USA nur relativ wenig politische Aufmerksamkeit geschenkt. 5 Romain Rolland: Zwischen der Völkern. Aufzeichnungen und Dokumente aus den Jahren 1914-1919. Aus dem Französischen. Stuttgart 1955, Bd. II, S. 240. 6 Annette Kolb: Wenn Ideen triumphieren. In: Das Tageblatt 7 (1926), Sp. 1752-1756, hier Sp. 1754. 7 Vgl. Anne-Marie Saint-Gille: Die Deutsch-Französin und die Politik. In: „Ich habe etwas zu sagen“: Annette Kolb 1870-1967. Ausstellung der Münchner Stadtbibliothek. Hg. von Sigrid Bauschinger. München 1993, S. 44-49. <?page no="81"?> 80 Günter Häntzschel II. Begrenzte Ansichten über preußischen Protestantismus In ihrem in der Schweiz verfassten Stimmungsbericht über die skrupellose, politisch labile Nachkriegszeit Zarastro verbindet Annette Kolb das Kriegsthema mit diffamierenden Bemerkungen über Protestantismus und Preußentum. Ihre Empörung über jenen „Karfreitagsmorgen, an welchen eine oberste Heeresleitung, wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von Paris nicht unterbrach, eine Kirche während des Kultes einstürzte und die Anwesenden unter sich begrub“, mündet in eine heute befremdlich wirkende Auslassung, wenn sie diesen „Karfreitagsvolltreffer“ als Zeichen „wüstete[n] Protestantismus“ deutet: Luther galt mir nur deshalb als einer der Ahnherren des Krieges, weil sein Auftreten das Übergewicht des nördlichen über das westliche und südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, unkünstlerisches, unmusisches und humorloses Element in den Pulsen der Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit und Unmusik. […] Der Protestantismus stak damals in seinen ersten Anfängen, noch belebt von der Wärme des Stammes, von dem er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus gedieh erst in den letzten Dezennien zu der vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. Die fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an Architektur, was in der Welt zu sehen ist, sind Geist von seinem Geiste. Alle unfrohe Geschmacklosigkeit, den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, […] danken wir ihm. […] Ihr verdanken wir das verständnislose Abrücken von der lateinischen und abendländischen Welt, das ein südliches, fränkisches, und westliches Deutschland nie herbeigeführt hätte. 8 Obwohl Annette Kolb unter der rigiden katholischen Erziehung ihrer in einem Kloster verbrachten Schuljahre empfindlich zu leiden hatte und sie befreit aufatmete, „als die schweren Klosterriegel auf immer hinter mir zufielen“, 9 ist die kritische Katholikin zeit ihres Lebens der Konfession eng verbunden geblieben und hat mit intoleranten, ja boshaften Diskriminierungen des Protestantismus nicht gespart. Reformen innerhalb der katholischen Kirche steht sie skeptisch gegenüber. Als sie in der Nachkriegszeit der fünfziger Jahre bei einem Gottesdienst in der Münchner Dreifaltigkeitskirche eine deutsche Messe hört, empfindet sie eine derartige Abweichung von der katholischen Liturgie als „Anbiederung“, sie sei „schrecklich“: „Sie ist kein Weg und könnte nur zu Verwirrungen führen. Denn es gibt keine deutsche, keine französische, keine englische, es gibt nur eine lateinische Messe. Auch kein deutsches Requiem gibt es, Brahms oder nicht 8 Annette Kolb: Zarastro. Westliche Tage. Berlin 1921, S. 154 f. 9 Annette Kolb: Klosterleben. In: dies.: Blätter in den Wind. Frankfurt am Main 1954, S. 7-16, hier S. 16. <?page no="82"?> Grenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette Kolb 81 Brahms.“ 10 Und ihre Verehrung Konrad Adenauers in den sechziger Jahren entspringt neben dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag seiner katholischen Konfession. 11 In ihrem 1934 aus dem französischen Exil veröffentlichten, in der Zeit des Vorkriegs spielenden Roman Die Schaukel gestaltet sie das protestantische Preußen und das katholische Bayern als Gegensätze. Sie verteilt ihr Personal auf zwei Familien, von denen die bürgerliche Münchner Familie Lautenschlag katholischer Konfession sich in moralischen, ethischen und konfessionellen Fragen von der in enger Nachbarschaft lebenden preußisch-protestantischen Familie von Zwinger abgrenzt. Da Annette Kolb Die Schaukel als einen „Roman“, „der aber in Wirklichkeit die Biographie meiner Familie ist“, 12 bezeichnet, lässt sich der Text, so weit er die Familie Lautenschlag betrifft, als Selbstaussage verstehen, während die konfrontative Familie von Zwinger, obwohl sie teilweise auf der mit Kolbs befreundeten Familie von Ranke gründet, in fiktiven Übertreibungen geschildert ist. Hinsichtlich der Grenze zwischen bayrisch-katholischer und preußischprotestantischer Lebenswelt knüpft Die Schaukel an die aus Zarastro zitierte Passage an und bildet, zwischen Ernst und Ironie jonglierend, deren erzählerische Fortsetzung. Die sprechenden Namen kennzeichnen die gegensätzlichen Charaktere. Klingt in der Münchner Familie „Lautenschlag“ das Musikalische und Künstlerische sowie das dem Adjektiv ‚lauter‘ innewohnende Klare, Reine, Natürliche, Schlichte an, so spricht aus dem preußischem „von Zwinger“ eine gezwungene, pedantische, korrekte Haltung. Mathias, die vorwitzige Tochter Lautenschlags, „der Snob der Familie“, 13 eine die Geschlechtergrenzen transzendierende Kunstfigur, in der Annette Kolb sich satirisch selbst porträtiert, 14 überschreitet zwar die familialen Grenzen, exponiert aber gerade damit die Unterschiede beider Seiten um so krasser. 10 Annette Kolb: Münchner Albumblätter. 1950-1953. In: Neue literarische Welt. Zeitung der Akademie für Sprache und Dichtung 3 (1953) Nr. 15 vom 10. August 1953, S. 4. 11 Vgl. Annette Kolb: Zur vierten Wahl Konrad Adenauers. September 1961. In: dies.: 1907-1964. Zeitbilder. Frankfurt am Main 1964, S. 185 f. 12 Annette Kolb: Ein Selbstportrait. In: Hannes Reinhard (Hg.): Das Selbstporträt. Hamburg 1967, S. 177-189, hier S. 180. 13 Annette Kolb: Die Schaukel. Roman. Berlin 1934, S. 45. 14 Heidy Margrit Müller: „Maricleé“, „Flick“ und „Mathias“. Verbindungen zwischen Privatleben und Romanfiguren bei Annette Kolb. In: „Ich habe etwas zu sagen“: Annette Kolb 1870-1967 (Anm. 7), S. 39-43; Isabelle Stauffer: Transgressive Inszenierungen von Geschlecht bei Annette Kolb und Franziska zu Reventlow. In: Caroline Bland / Elisa Müller- Adams (Hg.): Schwellenüberschreitungen. Politik in der Literatur von deutschsprachigen Frauen 1780-1918. Bielefeld 2007, S. 99-116. <?page no="83"?> 82 Günter Häntzschel Herr von Zwinger, Medizinprofessor, wegen seiner Verdienste geadelt, ein Preuße aus Berlin, ist zwar „ein von hohem Pflichtgefühl getragener Mann“, verhält sich aber „unmusisch und unangenehm“. 15 „Wo er in Frage kam, nahm die Gemütlichkeit […] ein Ende.“ 16 Er „gehörte zu jenen autoritätsfreudigen Deutschen, die Berlin als den Sitz staatsmännischen Weitblicks und staatsmännischen Taktes erachteten und der jeweils der dort amtierenden Person ein durch nichts als durch ihren etwaigen Sturz zu erschütterndes Vertrauen entgegenbrachten.“ Seine Devise lautet: „Vorwärts mit Gott, Luther und Vaterland.“ 17 Für Frau von Zwinger steht „über dem protestantischen Gemahl […] nur noch der protestantische Gott und später der protestantische Himmel.“ 18 Madame Lautenschlag dagegen kennt keinen „Rigorismus“, „für sie war die Welt, wie Balzac, Flaubert, Mauspassant sie schildern, kein Buch mit sieben Siegeln. Aber nicht nur, daß bei Zwingers von solchen Romanen keinerlei Kenntnis genommen wurde, man wußte auch wirklich nichts von Schlechtigkeit und nichts von Niedertracht.“ 19 „Die Verschiedenheit der Temperamente, des Charakters, hing […] mit der Verschiedenheit der Konfession zusammen.“ 20 Als Candida, eine Tochter Zwingers, in einem Streitgespräch über die Konfessionen Mathias gegenüber den Protestantismus verteidigt, erwidert diese: „Wir wären auch ohne euch nicht stehengeblieben, während ihr euch festgefahren habt. Und auch nicht eine einzige schöne Kirche ist von euch. Eine jede habt ihr noch verpatzt, die ihr uns weggenommen habt. […] Ich möchte nicht der Luther gewesen sein.“ 21 Die Quintessenz: „Wie viel schöner alles gewesen sei im Bayernland, bevor es unter den preußischen Stiefel geriet.“ 22 „1870 war nicht nötig. Wir verdanken es den Pr[eußen]. Immer fester an sie gekettet. Leider.“ 23 Auch später bleibt Annette Kolb dem Protestantismus und Preußen gegenüber in Vorurteilen befangen und muss sich von einem guten Freund sagen lassen: „Diese Antinationalistin war z. B. was Bayern anbetrifft, eine ausgesprochene Chauvinistin“. 24 Das ist vielleicht doch zu stark, aber dass die ‚Patriotin‘ sich hier einer Lokalpatriotin annähert, trifft gewiss zu. 15 Kolb: Die Schaukel (Anm. 13), S. 14. 16 Ebd., S. 82. 17 Ebd., S. 83. 18 Ebd., S. 40. 19 Ebd., S. 40 f. 20 Ebd., S. 89. 21 Ebd., S. 24. 22 Ebd., S. 65. 23 Ebd., S. 73. 24 Elazar Benyoetz: Aufklärung findet immer im Dunkeln statt. Drei Briefe Annette Kolb und die Juden betreffend. In: „Ich habe etwas zu sagen“: Annette Kolb 1870-1967 (Anm. 7), S. 27-38, hier S. 30. <?page no="84"?> Grenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette Kolb 83 1950 bedauert die Katholikin, dass Bayern nach dem Krieg nicht von den Franzosen besetzt wurde und dass in der jungen, noch von der nationalsozialistischen Ideologie durchtränkten Bundesrepublik Bayern keine führende Position einnehmen konnte. „Würde sich Bayern durchsetzen, so wäre ein Schritt getan, der aus einer gefährlichen Stickluft hinauswiese. Bayern hätte eine große und segensreiche Rolle inmitten der deutschen Lande zu spielen, aber es steht allein, […].“ 25 III. Grenzen im Verständnis der Judenfrage und deren Überwindung Die Schaukel bietet auch ein Beispiel für die teils innerhalb alter Vorurteilsgrenzen verbleibenden, teils diese überschreitenden Autorin. Ein dort plaziertes überhebliches Gespräch der Lautenschlag’schen Kinder über Juden und deren vermeintliche äußeren Merkmale hat Annette Kolb offenbar bereut und sie zu einem ganz ungewöhnlichen Einfall gebracht: 26 Sie fügt - mittlerweile im französischen Exil - ihrem Roman eine Anmerkung bei, die der Vorabdruck des Romans in der Frankfurter Zeitung noch nicht enthalten hatte. Deren komplizierter, den abschätzigen Textpassus kompensierender Wortlaut endet mit dem Satz: „Wir sind heute in Deutschland eine kleine Schar von Christen, die sich ihrer Dankesschuld dem Judentum gegenüber bewußt bleibt.“ 27 Im nationalsozialistischen Deutschland des Jahres 1934 ist das eine mutige Tat, die sogleich auf heftigen Widerstand stieß, so dass ihr Verleger Samuel Fischer die Anmerkung in den folgenden Auflagen wieder tilgen musste. Die Korrektur zeigt exemplarisch, wie ihr unschlüssiges Verhalten dem Judentum gegenüber sich aus Kritik zu Anerkennung und Wertschätzung wandelt. Nach eigner Aussage will Annette Kolb die Judenfrage schon als Siebenjährige beschäftigt haben, als sie bei einer Begegnung mit einem jüdischen Mädchen etwas von einer Ungleichheit bemerkte, die sie fasziniert, ohne sie sich erklären zu können. 28 In ihrem Aufsatz Venedig 1922 spekuliert sie irritiert über „das jüdische Problem“, ohne dessen Existenz näher ergründen zu können, und kommt zu ebenso ratlosen wie enigmatischen Thesen: „Vielleicht sind gewisse typische Christusmenschen jüdischer Abkunft das Unverjudetste, was es gibt.“ Und zu- 25 Annette Kolb: Gelobtes Land - gelobte Länder. In: Hochland 43 (1950 / 51), S. 274-287, hier S. 286. 26 Kolb: Die Schaukel (Anm. 13), S. 183 f. 27 Ebd., S. 176. 28 Annette Kolb: Torso. In: Die Neue Rundschau 16 (1905), S. 727-745. <?page no="85"?> 84 Günter Häntzschel gleich erscheinen ihr die „Haken-Kreuzler [als] das Verjudetste, was es heute gibt.“ 29 Im Briefwechsel mit ihrem Freund René Schickele, der aus seiner antisemitischen Einstellung kein Hehl macht, lässt sich auch Annette Kolb zu verächtlichen Äußerungen hinreißen. Hier spricht sie ihre Vorurteile direkt aus. So zum Beispiel am 4. Mai 1933: „Ach, René, kein Wort gegen Juden kommt heute über meine Lippen, aber unter uns. Judenfrauen sind mir, mit […] ganz wenigen Ausnahmen geradezu furchtbar.“ 30 Am 16. August desselben Jahres: „Theoretisch steht man zu den Juden, und großartig ist ihre Aufnahme für Spitäler und wissenschaftliche Institute. Gesellschaftlich will man nichts von ihnen wissen.“ 31 Angesichts der vielen Juden, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Frankreich geflohen waren, schreibt sie am 29. Oktober aus Paris: „Der Antisemitismus nimmt überall immer mehr zu. Nicht nur in der Schweiz. Auch hier! “ Erstaunlicherweise geht sie aber nicht auf die Ursache der Massenflucht ein, sondern macht die Betroffenen für ihre dortige Aufnahme verantwortlich: „Die Juden sind hier bereits unten durch, grossenteils, wie es scheint, durch ihre Schuld.“ 32 Unsicherheit im Urteil und eine gewisse Verächtlichkeit sprechen aus einem Brief aus Zürich vom 13. August 1934: „Die Stühle, zwischen welchen ich sitze, sind nicht mehr zu zählen. Vielleicht lerne ich Zitherspielen u. ziehe mit der Lasker-Schüler nach Jerusalem. Judennasen kann man gewiss kaufen, und polnische Locken unterm Hut werden mir auch gut stehen.“ 33 Annette Kolbs Einstellung zur Judenfrage offenbart sich besonders deutlich in ihrem Buch Glückliche Reise von 1940 und dessen späterer Überarbeitung. Hatte sie 1939 in ihrem Interview Vernichtete Existenzen empört über die unmenschliche Behandlung der Juden in den Konzentrationslagern geschrieben, 34 so lässt sie sich in Glückliche Reise , dem Bericht ihrer Reise nach New York 1939 auf Einladung zur Tagung der amerikanischen Sektion des PEN -Clubs von dessen Präsidentin Dorothy Thompson, stellenweise zu erstaunlich judenfeindlichen Äußerungen hinreißen. Obwohl sie die schwierige Lage der exilierten jüdischen Schriftsteller bedauert, deren Notsituation erlebt, über den Freitod Ernst Tollers bestürzt ist, scheint ihr kaum bewusst geworden zu sein, dass 1939 mit der Queen Mary, ihrem Schiff, noch die letzten Juden ihrer drohenden Vernichtung 29 Annette Kolb: Venedig 1922. In: dies.: Wera Njedin. Erzählungen und Skizzen. Berlin 1925, S. 135-149, hier S. 145 f. 30 Annette Kolb - René Schickele. Briefe im Exil 1933-1940. In Zusammenarbeit mit Heidemarie Gruppe hg. von Hans Bender. Mainz 1987, S. 58. 31 Ebd., S. 70. 32 Ebd., S. 80. 33 Ebd., S. 146. 34 Annette Kolb: Vernichtete Existenzen. In: Sozialistische Warte 14 (1939), H. 24, S. 574-578. <?page no="86"?> Grenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette Kolb 85 in Deutschland entflohen. Auffallend kühl spricht sie über die ungewisse Zukunft der aus NS-Deutschland vertriebenen Juden. Auf ein jüdisch aussehendes, verschüchtertes Geschwisterpaar aufmerksam geworden, „das in seinen Gemächern blieb“ - „Es war, als hätte der Schiffsboden sie aufgeschluckt“ -, stellt sie Erwägungen über einen künftigen jüdischen Staat an, würdigt die jüdischen „Leistungen in Kunst und Wissenschaft, ihren Kunstsinn und ihre Geistigkeit“, äußert sich jedoch abschätzend über „einige ihrer Exponenten - hießen sie Lilienstamm oder Veilchenduft - deren Auftreten, deren aufreizende Erscheinung Bazillenträger des Antisemitismus waren“, und stellt verallgemeinernd fest: „Die Juden sind wirklich das Volk der Jakobsleiter, die unter der Erde anhebt, wo fern dem Licht jüdische Frechheit, jüdische Tricks und jüdische Hysterien treiben.“ 35 In Washington sei „die Stellung der Juden eine andere wie in New York, wo es deren zu viele gibt. Ihnen gehörte auch unser Hausherr an, und es war alles wie im schönsten Berlin. Wie lange ist’s her? Noch keine sieben Jahre, als dort bei den Friedländer-Fulds, den Mendelssohns usw. solche Empfänge stattfanden, die Männer hochgeachtet, vielfach Halb- oder Vierteljuden gar, also schon auf dem Wege, gar keine mehr zu sein, die Frauen ‚arisch‘.“ 36 Unsensibel übernimmt sie nicht nur die nationalsozialistische Terminologie, sondern sogar die nationalsozialistische Einschätzung der Juden, der zufolge die minderwertigen Juden sich ‚verbesserten‘, je mehr sie sich dem ‚Arier‘ annähern. Im New Yorker Aufbau von 1940 monierte Max Brod: „So also schreibt einer von jenen deutschen Menschen, von den wir immer glaubten, dass sie von jedem Anflug ungerechter Beurteilung des Judentums himmelweit entfernt sind. Es gibt doch kein Volk der Welt, das so tief antisemitisch veranlagt ist wie die Deutschen.“ 37 Nachdem Annette Kolb sich in ihrem Essay Gelobtes Land - gelobte Länder von 1950 / 51 noch einmal selbstkritisch mit dem jüdischen Problem, „das stachligste, das es gab“, auseinandergesetzt, ihre Vorurteile überdacht, sie zu revidieren gesucht hatte und sich von dem 1948 gegründeten Staat Israel eine Lösung der Judenfrage versprach, hat sie in einem Exemplar der Glücklichen Reise den Text zum Einrichten einer gekürzten Fassung für ihre Lebensbeschreibung Memento von 1960 bearbeitet und neben vielem anderen die abschätzigen Urteile über die Juden getilgt und damit die Grenze ihrer judenfeindlichen Äußerungen endgültig überschritten. Mit dem israelitischen Schriftsteller Elazar Benyoëtz - Annette Kolb lernte ihn 1963 persönlich in München kennen, wo er sich bei seinen Recherchen für 35 Annette Kolb: Glückliche Reise. Stockholm 1940, S. 27. 36 Ebd., S. 99. 37 Max Brod: Letzte Bücher aus Europa. Czokor - Alma Mahler - Annette Kolb. In: Aufbau, Bd. 6, Nr. 40 vom 4. Oktober 1940, S. 17 f. <?page no="87"?> 86 Günter Häntzschel eine jüdische Bibliografie Auskünfte von ihr erhoffte - blieb sie bis zu ihrem Tod innig verbunden. Ihre Korrespondenz zeigt ein wachsendes Verständnis für das Judentum und erweckt in ihr den Wunsch einer Reise nach Israel, die nach vielen Schwierigkeiten erst in ihrem Todesjahr 1967 zustande kam. So konnte sie die schon in ihrer Glücklichen Reise von 1940 ausgesprochene Idee eines jüdischen Staats in die Realität umgesetzt erleben und ihre judenfeindlichen Vorurteile, die Benyoëtz nach ihrem Tod zu verstehen sich bemühte, überwinden. 38 Spuren in ihrem Werk finden sich davon allerdings nicht mehr, sie starb 1967 in ihrem 97. Lebensjahr. Die im Ausschreibungstext der Tagung Grenze als Erfahrung und Diskurs gestellte Frage, welche Auswirkungen die Wechselbeziehungen von Grenzen und Ordnungen erreichen, lässt sich bei Annette Kolb etwa so beantworten: Ihre ‚Ordnung‘, wenn man darunter ihre Gestimmtheit, ihr Temperament, ihr Empfindungswesen, ihre Verfassung versteht, dynamisiert sich, indem die kriegsbedingte strikte Abgrenzung zwischen Deutschland und Frankreich bei ihr eine pazifistische Entgrenzung bewirkt; andererseits perpetuieren sich ihre begrenzten lokalpolitischen Urteile hinsichtlich des protestantischen Preußens, während sie sich zögerlich von ihren begrenzten Ansichten über das Judentum löst und zu einer unvoreingenommenen Haltung gelangt. 38 Elazar Benyoëtz: Annette Kolb und Israel. Heidelberg 1970; ders.: Treffpunkt Scheideweg. München 1990; ders.: Aufklärung findet immer im Dunkeln statt (Anm. 24). <?page no="88"?> Träume(n) an der Grenze 87 Träume(n) an der Grenze Politik und Poetik in Charlotte Beradts Das Dritte Reich des Traums Christiane Solte-Gresser, Saarbrücken I. Traumprotokolle als Exilliteratur Ich lebe auf dem Meeresgrund, um unsichtbar zu bleiben, nachdem die Wohnungen öffentlich geworden sind. 1 Ich träume oft, ich fliege über Nürnberg, fische mit einem Lasso Hitler mitten aus dem Parteitage heraus und versenke ihn zwischen England und Deutschland im Meer. Manchmal fliege ich weiter nach England und erzähle der Regierung, zuweilen Churchill selbst, wo Hitler geblieben ist und dass ich es getan habe. 2 Diese beiden so unterschiedlichen Träume stammen aus der Traumprotokoll- Sammlung der Journalistin Charlotte Beradt (1907-1986), die seit 1939 im Exil lebt. In ihnen geht es jeweils um Raumgrenzen; und zwar um Grenzen, die im unmittelbaren Kontext der nationalsozialistischen Diktatur erfahren werden. Mit ihnen lässt sich daher einleitend das Thema dieses Beitrags umreißen, der versucht, die komplexen Zusammenhänge zwischen kollektiven politischen Grenzerfahrungen und individuellem Traumerleben auszuloten. Der Traum vom Leben auf dem Meeresgrund wird geträumt von einem deutschen Arzt, der 1934 die Erfahrung macht, dass seine eigenen vier Wände ihn nicht mehr vor der Bespitzelung durch das totalitäre Regime schützen können. Hier taucht also jemand buchstäblich ab, weil das Private keinen Rückzugsort mehr bietet. Als einzig möglicher Lebensraum erscheint eine Unterwasserwelt, weitab von der sichtbaren Oberfläche; der Weg, wie es in der Traumsammlung interpretierend heißt, in die „innere Emigration“. 3 Der Traum vom Hitlerattentat hingegen inszeniert Grenzüberschreitungen in entgegengesetzter Richtung. Das Meer ist hier kein Schutzraum, in dessen Innerem sich der Träumer verborgen hält, sondern Ort der Vernichtung und Befreiung von außen. Hier geht 1 Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Mit einem Nachwort von Reinhart Koselleck. Frankfurt am Main 1981, S. 20. 2 Ebd., S. 85. 3 Ebd., S. 20. <?page no="89"?> 88 Christiane Solte-Gresser es nicht um die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem und den Zusammenbruch von individuellen Schutzmauern gegen ideologische Propaganda und sich ausbreitenden Terror. In Frage stehen vielmehr geografische und politische Grenzen, die fliegend überwunden werden. Der Träumer haust daher nicht unten im Meer, sondern er nähert sich ihm von oben, um direkt in das Weltgeschehen einzugreifen. Von hieraus bewegt er sich anschließend in ein Land, in dem er sicher ist und womöglich als Held gefeiert wird. Zweierlei scheint kaum verwunderlich: erstens, dass dieser Traum im Exil geträumt wird. Er stammt von einem Journalisten, der nach Prag emigriert ist, der also, um Beradts Formulierung zu verwenden, „Traumfreiheit“ genießt; 4 und zweitens, dass Tyrannenmorde und gelingende Grenzüberschreitungen innerhalb der Traumsammlung die große Ausnahme darstellen. Die grundsätzliche Thematik dieser Träume jedoch, nämlich Grenzen, die Fluchtträume eröffnen oder verhindern, und Grenzen, die gewaltsam eingerissen werden bzw. die sich gegen den eigenen Willen auflösen, sind allerdings ein durchgängiges, geradezu leitmotivisch auftauchendes Phänomen. Dies haben die Traumprotokolle mit zahlreichen anderen aufgezeichneten Träumen gemeinsam, die im Kontext von Flucht, Verfolgung und Exil entstanden sind; seien es autobiografisch beglaubigte oder fiktive Traumnotate. Als eines der jüngsten Beispiele kann das Buch der Träume von Bogdan Bogdanovic gelten: Die grüne Schachtel enthält Hunderte von Traumnotizen und Traumreflexionen des Architekturprofessors und ehemaligen Bürgermeisters von Belgrad. 5 Seit 1993 von Milosevic verfolgt, sendet er, verborgen an einem geheimen Ort, vor Zensur und Selbstzensur versteckte Botschaften an sich selbst, indem er seine Traumnotizen in einer verschlossenen Schachtel sammelt und später im österreichischen Exil ordnet, ausführlich kommentiert und als Buch veröffentlicht. 6 Räume und ihre Grenzen, ihre Verschachtelungen, ihr Zusammenbrechen und ihre Neukonstruktionen sind in mehr oder weniger allen Traumprotokollen präsent. Politisch gedeutet und als spezifische Exilerfahrungen kategorisiert werden diese Architektenträume freilich erst nachträglich vom Verfasser selbst: Er nutzt die Fragmente zur ausführlichen Reflexion über Form und Funktion des Exiltraumes. Und er nutzt sie hierbei auch zur Selbstinszenierung als unschuldiges Verfolgungs-Opfer, mutiger Widerstands- Aktivist, wenn nicht gar als Prophet der Kriegsereignisse des Balkankonflikts. Um auf den Kontext von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zurückzukommen, wären weitere wichtige Sammlungen zu nennen, die bislang noch 4 Ebd., S. 85. 5 Bogdan Bogdanovic: Die grüne Schachtel. Buch der Träume. Wien 2007. 6 Ebd., S. 7-10. <?page no="90"?> Träume(n) an der Grenze 89 wenig systematisch unter dem Aspekt der Traumformen und Traumfunktionen erforscht sind. Einen Sonderfall bilden freilich Traumprotokolle und autobiografische Berichte, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Shoah stehen: etwa von KZ -Überlebenden wie Robert Antelme, Jean Cayrol, Anna Langfus, Charlotte Delbo oder Primo Levi. Deren Träume und Traumreflexionen bieten gerade für die Frage nach Grenzerfahrungen besonders abgründiges Material. 7 Was Exilträume im engeren Sinne betrifft, so zählt Rudolf Leonhards Traumbuch des Exils sicherlich zu den umfangreichsten Veröffentlichungen. 8 Zwischen 1941 und 1944 verfolgt, mehrfach interniert und ins Exil geflüchtet, notiert und sammelt Leonhard mehr als 2500 Träume, die unter dem Titel In derselben Nacht publiziert werden und zutiefst von den politischen Erfahrungen seiner Zeit geprägt sind. 9 Die Besonderheit dieser Exilträume zeigt sich gerade in der Abgrenzung zu Bogdanovic: Die Träume, deren omnipräsente Grenzthematik zweifellos eine eingehende Untersuchung verdient, 10 sind chronologisch angeordnet. Sie werden jedoch gänzlich unkommentiert und ungedeutet präsentiert. 11 In einem vergleichbaren Zusammenhang, nämlich als autonome Textsorte, wären auch Paula Ludwigs Träume zu verstehen, die größtenteils ebenfalls im Exil entstanden sind, keinerlei Kontextualisierung oder Interpretation erfahren und in vielfacher Weise Grenzen und Behausungen zum Thema haben. 12 Was Charlotte Beradts Projekt betrifft, Träume aus der nationalsozialistischen Diktatur zu protokollieren, so stellt sich natürlich zunächst die Frage, inwiefern es sich hier überhaupt um eine Exilthematik handelt. Aus der Exilsituation heraus werden hier Träume zwischen 1933 und 1939 aus dem Inneren 7 Auch wenn sie zum Teil im Exil entstanden sind, sollen sie hier jedoch - nicht zuletzt weil sie einen besonderen methodischen Zugang erfordern - ausgespart werden. Vgl. hierzu weiterführend Christiane Solte-Gresser: Cauchemars concentrationnaires. Écrire l’expérience historique à travers le rêve: Approches d’une poétique onirique (1953-1963). In: Bernard Dieterle / Manfred Engel (Hg.): Historizing the Dream / Le Rêve du point de vue historique. Würzburg 2017 (in Vorbereitung). 8 Rudolf Leonhard: In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils. Berlin 2011. 9 Steffen Mensching: Somnio ergo sum. Das Lager als Traumfabrik. Nachwort in: Leonhard: In derselben Nacht (Anm. 8), S. 493-516, hier S. 510. 10 Für eine ausführliche Einzelanalyse bieten sich in diesem thematischen Kontext, neben vielen anderen, besonders die Traumnotate 106, 155 und 188 an. 11 Zur Gattungsgeschichte des Traumnotats vgl. Manfred Engel: Traumnotate in Dichter- Tagebüchern (Bräker, Keller, Schnitzler). In: Bernard Dieterle / Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream / Écrire le rêve. Würzburg 2016, S. 211-237. 12 Paula Ludwig: Träume. Aufzeichnungen aus den Jahren zwischen 1920 und 1960. Ebenhausen bei München 1962. Vgl. hierzu auch Nadja Lux: „Alptraum Deutschland“. Traumversionen und Traumvisionen vom „Dritten Reich“. Freiburg im Breisgau 2008, S. 359-390. <?page no="91"?> 90 Christiane Solte-Gresser des ‚Dritten Reichs‘ wiedergegeben. Das Material selbst stammt also gerade nicht aus dem Exil. Diese Traumtexte selbst haben allerdings oftmals Grenzen und Räume zum Gegenstand, die sich unschwer mit Flucht und Exil in Verbindung bringen lassen. Entscheidender ist jedoch, dass die Anordnung, Einbettung und Deutung der Träume in ihrer ästhetischen und politischen Dimension aus einem beträchtlichen zeitlichen und räumlichen Abstand heraus erfolgt. Da diese Exilperspektive der Publizistin für das Verständnis des Buches eine bedeutsame Rolle spielt, sollen im Folgenden zunächst einige Stationen aus der Entstehungsgeschichte der Sammlung rekonstruiert werden. Denn hier stellen sich Grenzfragen in autobiografischer, editionsgeschichtlicher und gattungstheoretischer Hinsicht. II. Entstehungsgeschichtliche Grenzfragen Die Journalistin Charlotte Beradt stammt aus einer jüdischen Familie und ist in den 1920er und 1930er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands. Ab 1933 wird sie aufgrund einer Denunziation vorübergehend inhaftiert und unmittelbar darauf mit einem Berufsverbot belegt. 13 Seit Beginn der Machtergreifung befragt sie mehr als dreihundert Bekannte, Freunde und weitere Personen in ihrem Umfeld nach deren politischen Träumen. Ungefähr fünfzig davon notiert sie vollständig, und zwar in verschlüsselter Form, versteckt sie und schickt sie schließlich, als Briefe getarnt, ins Ausland, bevor sie mit ihrem Ehemann 1938 über London nach New York flieht, wo sie ab 1939 bis zu ihrem Tode bleibt. 14 1943 publiziert sie in der Zeitschrift Free World den Essay „Dreams under Dictatorship“, 15 in dem sie einen Teil des gesammelten Materials zum ersten Mal für eine öffentliche Leserschaft aufbereitet und kommentiert. 16 Barbara Hahn hat pointiert die Unterschiede zwischen der Präsentation des Materials in Essay und Buch herausgearbeitet: Der historische Abstand von gut 20 Jahren führt dazu, dass die Träumenden in der späteren Ausgabe mit ihrer extremen Emotionalität, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit 13 Janosch Steuwer: „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern. 1933-1939. Göttingen 2017, S. 534. 14 Kelly Bulkeley: Dreaming in a Totalitarian Society: A Reading of Charlotte Beradt’s “The Third Reich of Dreams”. In: Dreaming 4 / 2 (1994), S. 115-125, hier S. 115. 15 Charlotte Beradt: Dreams under Dictatorship. In: Free World (October 1943), S. 333-337. 16 Er findet sich in der Übersetzung von Barbara Hahn in der Neuausgabe Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Hg. von Barbara Hahn. Frankfurt am Main 2016, S. 137-147. <?page no="92"?> Träume(n) an der Grenze 91 fast vollständig zurücktreten. 17 Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten in der späteren Publikation Informationen voran, die allgemeine Identitätskategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der Träumenden festhalten und die Bedeutung der berichteten Träume oftmals vorwegnehmen. 18 Sie fügt außerdem zahlreiche Träume zu ganzen thematischen Serien und Variationen desselben Grundmotivs zusammen und nimmt damit einen sehr weitgehenden strukturierenden Eingriff in das Material vor. Dieser erfolgt, wie Janosch Steuwer kritisch anmerkt, aus der spezifischen Perspektive der Totalitarismus- und Nationalsozialismus-Forschung der 1960er Jahre. Denn Beradt ist in den USA viele Jahre lang eng mit Hannah Arendt befreundet, deren Origins of Totalitarianism von 1951 sie intensiv rezipiert. 19 Damit wird in der Sammlung Beradts eine ganz bestimmte Sichtweise auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Nationalsozialismus präsentiert und forciert. 20 In einem literaturwissenschaftlichen Kontext ist die Sammlung insofern von Bedeutung, als die Traumaufzeichnungen von der Herausgeberin nicht nur programmatisch in einen literarischen Kontext eingebettet werden. Aufgrund ihrer eigenen literarischen Qualitäten, die Beradt ausführlich erörtert, führen die Traumerzählungen gerade den Modus fiktionaler, ästhetischer Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit als Zugangsmöglichkeit zu den kaum realistisch darstellbaren Dimensionen der zunehmenden Ideologisierung, Terrorisierung und Gleichschaltung vor Augen. 21 17 Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt. Frankfurt am Main 2016, Kapitel: Das Dritte Reich des Traums, S. 32. 18 Hahn stellt für den Essay insgesamt eine Anordnung nach den Gesichtspunkten der Freud’schen Traumdeutung fest; vgl. ebd., S. 36. 19 Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. New York 1951. 20 Steuwer: „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“ (Anm. 13), S. 538 ff. 21 Vgl. Hans-Walter Schmidt-Hannisa: Nazi Terror and the Political Potential of Dreams: Charlotte Beradt’s „Das Dritte Reich des Traums“. In: Gert Hofmann [u. a.] (Hg.): German and European Poetics after the Holocaust. Rochester / NY 2011, S. 107-121, hier S. 121. Darüber hinaus dienen Beradts Traumprotokolle bis heute als Inspirationsquelle für zahlreiche spätere Beschäftigungen mit dem Verhältnis von Traum und Politik, insbesondere für Überlegungen zum Einfluss politischer Gewalt auf individuelle Erfahrungswelten und subjektive Wahrnehmungsmuster. So finden sich einige der von Beradt notierten Träume, die mittlerweile eine besondere Bekanntheit erlangt haben, in Durs Grünbeins autobiografischem Werk Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop (Berlin 2015). Sie bilden ferner den Ausgangspunkt für das von W. Gordon Lawrence entwickelte Konzept des „Social Dreaming“ (vgl. W. Gordon Lawrence: Experiences of Social Dreaming. London 2003 und Alastair Bain: The Organization as a Container for Dreams. In: W. Gordon Lawrence [Hg.]: Infinite Possibilities of Social Dreaming. London 2007, S. 148-161) oder für das Projekt der Theaterperformance-Gruppe Helfersyndrom (Helfersyndrom: Die Träume von uns. Traumprotokolle. Mit Zeichnungen von Zeljko Vidovic. Lohmar 2015). <?page no="93"?> 92 Christiane Solte-Gresser Zur berechtigten Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverständlich und unvermeidlich, dass die Träume in der Erzählung durch die Träumenden selbst „retouchiert“ wurden. 22 Hier verweist sie auf das Grundproblem jeder Traumerfahrung, die nicht als solche, sondern nur rückblickend in Worte, Bilder und Narrative transformiert, vermittelt werden kann. 23 Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und hinsichtlich der Erzählstruktur ausgesprochen homogen. Diese Bemerkungen sollten bereits deutlich gemacht haben, dass sich das Buch auch, was die Gattungszuordnung betrifft, auf einer recht durchlässigen Grenze bewegt. Beradt bezeichnet ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“, 24 die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit [zu] deuten“. 25 Es finden sich ferner die Gattungsbezeichnungen „Fabeln“, 26 „Parabeln“ 27 - Formen uneigentlichen Sprechens also. Aber auch von „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ ist die Rede, 28 die stets in auffälliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren. 29 In jedem Falle demonstriert Beradt in ihren Kommentaren einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial des Traums. 30 Ihre Präsentation der 22 Beradt: Das Dritte Reich des Traums (Anm. 1), S. 11. 23 Vgl. hierzu Christiane Solte-Gresser: „Alptraum mit Aufschub“. Ansätze zur literaturwissenschaftlichen Analyse von Traumerzählungen. In: Susanne Goumegou / Marie Guthmüller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. Würzburg 2011, S. 239-262, v. a. S. 239-244 und grundlegend Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. München 2014. 24 Beradt: Das Dritte Reich des Traums (Anm. 1), S. 10. 25 Ebd. Um solche Strukturen der Wirklichkeit, also die spezifische Form des Traumes, geht es Elisabeth Lenk in ihrer Studie zur unbewussten Gesellschaft, in der sie unter anderem Beradts Traumtexte ausdrücklich gegen eine psychoanalytische Deutung verteidigt. Vgl. Elisabeth Lenk: Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum. Berlin 1983, hier v. a. S. 9, 294 f. und S. 385-387. 26 Beradt: Das Dritte Reich des Traums (Anm. 1), S. 112-113. 27 Ebd., S. 15 und S. 61 u. a. 28 Ebd., S. 14. 29 Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“ (ebd., S. 15 und S. 20). 30 Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der Träume Friedrich Huchs als eigenständige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa: Nazi Terror and the Political Potential of Dreams [Anm. 21], S. 111). Damit stellt er die besondere Literarizität der Notate in den Fokus seiner Betrachtungen. Diese führt er auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den <?page no="94"?> Träume(n) an der Grenze 93 Traumprotokolle zeigt, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen. 31 Was die komplexe Gesamtanordnung der Sammlung angeht, 32 der man, nicht ganz zu Unrecht, antisemitische und misogyne Züge vorgeworfen hat, 33 macht Barbara Hahn eine Struktur aus, die von der Entstehungsgeschichte des Buches über die Entwicklungsstationen des totalitären Regimes bis zum beginnenden Holocaust verläuft. 34 Jedes Kapitel wird durch einen Titel eröffnet, der das zentrale Thema der im Folgenden jeweils präsentierten Träume benennt. Darauf folgen ein kurzes, prägnantes Zitat eines Träumers und zwei Motti. Hierbei handelt es sich um eine, wie Hahn treffend bemerkt, „waghalsige Mischung“; nämlich eine „spannungsgeladene Vielfalt“ 35 aus Zitaten des Alten und Neuen Testaments, von NS-Historikern, Erzählern und Dichtern sowie Propagandisten der nationalsozialistischen Ideologie. Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt, 36 mit den Verfahren literarischer mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück (vgl. ebd., S. 107 f.). 31 Beradt: Das Dritte Reich des Traums (Anm. 1), S. 15. 32 Vgl. hierzu ausführlicher Christiane Solte-Gresser: „Das Dritte Reich des Traums“ (Charlotte Beradt). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“, 2017. URL: http: / / traumkulturen.uni-saarland.de/ Lexikon-Traumkultur/ index.php/ %22Das_Dritte_Reich_des_Traums%22_(Charlotte_Beradt) (zuletzt abgerufen am 25. Juli 2017). 33 Kurz vor dem Ende wird sie durch einen Teil zu den widerständig handelnden Träumern unterbrochen, bevor sie mit zwei deutlich aus der Reihe fallenden Kapiteln endet: einem über Frauen, deren Träume als zumeist beschämende Wunschträume, sich mit Hitler oder anderen NS-Größen zu vereinigen, gelesen werden, sowie einem letzten Kapitel über „träumende Juden“. Auch wenn diese Anordnung mit der besonderen Stellung der Juden im Nationalsozialismus erklärt wird, die im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung „von Anfang an offenem Terror“ unterlagen (Beradt: Das Dritte Reich des Traums [Anm. 1], S. 100), so fällt doch auf, dass kein anderes Kapitel einer Kategorisierung nach Geschlecht oder Rasse bzw. Religion folgt. Vgl. hierzu auch Irmela von der Lühe: „Das Dritte Reich des Traums: i racconti onirici di Charlotte Beradt sotto la dictatura“. In: Hermann Dorowin: La sfuggente logica dell’anima: Il sogno in letteratura. Studi in memoria di Uta Treder. Perugia 2014, S. 317-327, hier S. 320 und Barbara Hahn: „Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus“. In: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Frankfurt am Main 2016, S. 148-155, hier S. 152 f. 34 Zur Deutung des gesamten Buchtitels, der den Zusammenhang zwischen politischer Entwicklung und der Geschichte des Traumwissens hervorhebt, siehe Barbara Hahn: „Chaque époque rêve la suivante“, or: How to Read a „Bilderatlas“ of the Twentieth Century. In: Barbara Hahn / Meike Werner (Hg.): The Art of Dreams: Literature. Philosophy. Dance. Theatre. Amsterdam 2013, S. 85-95, hier S. 90-92. 35 Hahn: Geschichte des Totalitarismus (Anm. 34), S. 148-155, hier S. 153. 36 Beradt: Das Dritte Reich des Traums (Anm. 1), S. 15. <?page no="95"?> 94 Christiane Solte-Gresser Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alb-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T. S. Eliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und / oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Volksliedern, aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist aber wohl, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen. Auf dieser Grundlage lassen sich nun in einem weiteren Schritt Motive und Topoi der Grenzziehungen, Grenzverwischungen oder Grenzauflösungen näher betrachten. III. Grenzen als Motive und Topoi Welches Bild entsteht, wenn Grenzen als Traumerfahrungen vergleichend und systematisierend in den Blick genommen werden? Das Material lässt sich differenzieren in Träume über äußere, geografische, und innere, subjektive Grenzlinien. Damit entsteht im Folgenden eine Lektüre-Bewegung von nationalpolitischen Grenzen über Raumgrenzen des Privaten und Persönlichen bis hin zu den seelischen und körperlichen Grenzen des einzelnen träumenden Ich. Auffallend sind im Rahmen von Grenzdiskursen zahlreiche Träume, in denen sich die Figuren aus Deutschland weg in andere Länder begeben - oder zu begeben versuchen. Dass ein Träumer, wie im eingangs zitierten Beispiel, im Flug über das Meer Deutschland verlässt und ein anderes Land erreicht, stellt Beradt zufolge einen Sonderfall dar. 37 Zumeist fungieren Nationalgrenzen als Sperren; Kontrollen sind Zurückweisungen, Grenzposten werden zu Fluchtverhinderern, zur Bedrohung für Leib und Leben. Die Träumer sind in Deutschland eingeschlossen, das Land hinter der Grenze erweist sich als unerreichbar. 37 Ebd., S. 85. <?page no="96"?> Träume(n) an der Grenze 95 Pässe und andere Papiere, verräterisches Verhalten und verdächtige Mitreisende bilden dabei auffällig oft unüberwindliche Hindernisse. Menschen exilieren nach China 38 oder schwimmen durch’s Meer nach Dänemark, wo alle „Nasenverdächtigen“ aussortiert und erschossen werden. 39 Sie fliehen über das Gebirge; beispielsweise mit der jüdischen Mutter auf den Schultern, deren ebenso gefürchteter wie herbeigesehnter Tod den Weg in die Freiheit eröffnet; 40 oder auch mit gestohlenem Pass in die Tschechoslowakei, bevor in Prag ein SS-Mann zum Verhör erscheint, der die Fliehenden von Anfang an belauscht hatte. 41 Ein anderes Beispiel verknüpft nationalpolitische mit sprachlich-kulturellen Grenzen: Über die Grenze nach Marokko wird man nur gelassen, wenn man ins Französische übersetzt, der Träumer aber weigert sich und singt stattdessen „O Täler weit, o Höhen“. 42 Eine Art Übergang von diesen Grenzträumen zu solchen, in denen Gegenstände des täglichen Gebrauchs deutlich machen, dass kein privater Rückzugsraum mehr existiert, bildet der Briefmarkentraum: An einem Postschalter wird dem Wartenden der Kauf von Briefmarken verweigert, weil er mit dem Ausland kommunizieren will; nur ein Engländer kann sich für den Briefeschreiber beim Postbeamten über diese Drangsalierung beschweren, der selbst sprachlos bleibt. 43 Darüber hinaus finden sich mehrere Erzählungen von Ausweisungen ohne Ziel, die mit Traumerfahrungen von versperrten Fluchtwegen kombiniert werden. Diese reichen vom ahasverischen Fluch („Sie sollen nirgends mehr wohnen […] das soll ihr Dasein sein“), 44 über die beschämende Ausweisung aus einem Konzertsaal, während die Musik (offensichtlich aus dem Deutschen Requiem von Brahms) intoniert: „Wir haben hier keine bleibende Statt“, 45 bis hin zum Versuch, durch Lappland in ein Reich zu gelangen, das einzig als „das letzte Land, in dem die Juden noch gelitten sind“ bekannt ist, wo schließlich ein Marzipanschweinchen-artiger Grenzbeamter den Pass in Eis und Schnee versenkt. 46 38 Ebd., S. 79. 39 Ebd., S. 64. 40 Ebd., S. 53. 41 Ebd., S. 80. 42 Ebd., S. 110. Liedtexte, Verszeilen oder Bibelzitate bilden eine ganz eigene Thematik der Traumsammlung. Es bedürfte einer gesonderten Analyse, mit welchen Verfahren diese in Zusammenhang mit der Nazi-Ideologie gebracht werden, die in Zeitungen, Lautsprecherparolen und Plakaten ihren allgegenwärtigen Ausdruck findet (vgl. hierzu die knappen Ausführungen ebd., S. 33). 43 Ebd., S. 46. 44 Ebd., S. 106. 45 Ebd., S. 103. 46 Ebd., S. 107. <?page no="97"?> 96 Christiane Solte-Gresser Häufiger sind jedoch Träume, in denen nicht der Grenzübertritt nach außen verwehrt, sondern die privaten Grenzen, Schutzmauern und Rückzugsorte überwältigt oder untergraben werden; und zwar von Mitläufern und Spitzeln oder offiziellen Repräsentanten der Ideologie und des Terrors. Berühmt geworden ist jener Traum, in dem Goebbels in die Fabrik eines Direktors eindringt und den Träumer inmitten seiner eigenen Leute bloßstellt. 47 Vergleichbare Beispiele wären etwa ein Traum, in dem sich spitzelnde Handwerker und Boten mit offenen Rechnungen Zugang zur Wohnung verschaffen und die Träumerin einzingeln. 48 In einer Opernloge ist eine Maschine installiert, die erkennt, dass die Zuhörerin beim Erscheinen des Teufels auf der Bühne an Hitler gedacht hat, 49 ein Zahnarzt will sich zum Feierabend mit einem Buch auf dem heimischen Sofa niederlassen und stellt fest, dass seine Wohnung keine Wände mehr hat, während aus einem unsichtbaren Lautsprecher der Erlass zur Abschaffung von Wänden verlesen wird. 50 Auf ähnliche Strukturen verweist das „Schulungsamt zum Einbau von Lauschern in der Wand“ 51 oder die „Dienststelle zur Überwachung von Telefongesprächen“, 52 deren bedrohliche Anrufe beim Träumer demütigendes Betteln und Flehen auslösen. Die neben dem Fliegertraum einzige gelungene Flucht wird in einem Traum inszeniert, der wiederum räumliche Grenzen mit sprachlichen zusammenschließt: Es geht bezeichnenderweise um das Untertauchen in einem Trappistenkloster „irgendwo auf der Welt“, in das sich „alle Leute geflüchtet haben, die sowieso nie wieder sprechen können“. 53 Dass sich Ideologie, Propaganda und Terror unaufhaltsam im Allerinneresten der privaten Räumlichkeiten ausgebreitet haben, macht insbesondere der Traum vom sprechenden Ofen deutlich, der ähnlich wie ein Märchen funktioniert: Ein SA -Mann steht im Wohnzimmer und öffnet die Tür des Kachelofens, um den sich die Familie allabends versammelt. „Dieser fängt mit schnarrender, durchdringender Stimme zu reden an, jeden Satz, den wir gegen die Regierung gesagt, jeden Witz, den wir erzählt haben“. 54 Auch andere Alltagsgegenstände erweisen sich als Denunzianten; allen voran die Nachtischlampe, „die ans Licht bringt, was [die Träumerin] nachts im Bett gesagt hat“. 55 Von besonderer Bedeutung ist gerade dieser Traum nicht zuletzt, weil er eine Meta-Ebene besitzt; eine selbstreferenzielle Dimension, mit der die Träumerin die Bedeutung ihres Traums im 47 Ebd., S. 7. 48 Ebd., S. 24. 49 Ebd., S. 22. 50 Ebd., S. 19. 51 Ebd., S. 32. 52 Ebd., S. 31. 53 Ebd., S. 109. 54 Ebd., S. 31. 55 Ebd., S. 39. <?page no="98"?> Träume(n) an der Grenze 97 Traum selbst auf den Punkt bringt: Träumend schlägt sie in einem Traumbuch die Bedeutung von Lampe nach, findet die Erklärung „schwere Krankheit“ und stellt nach der ersten Erleichterung verzweifelt fest, dass dies die Deckbezeichnung für Verhaftung ist. 56 Vielleicht lassen sich überhaupt Meta-Träume, die also selbst bereits eine Reflexion über das Träumen unter den Zwängen der nationalsozialistischen Diktatur enthalten, als letzte Steigerung einer Aufhebung von inneren Abgrenzungs- und Schutzmechanismen verstehen. Hierzu einige Beispiele: Ich will eine Bekannte aufsuchen, die […] „Klein“ heißt, entdecke aber auf der Straße, daß ich ihre genaue Adresse vergessen habe. Ich gehe in eine Telefonzelle, um sie nachzuschlagen, schlage aber aus Vorsicht unter einem ganz anderen Namen nach […], was ja sinnlos war. 57 Ich träume, daß ich im Traum vorsichtshalber Russisch spreche […], damit ich mich selbst nicht verstehe und damit mich niemand versteht, falls ich etwas vom Staat sage […]“. „Ich erzähle einen verbotenen Witz, aber aus Vorsicht falsch, so daß er keinen Sinn mehr hat. 58 Ich träume, dass ich nur noch von Rechtecken, Dreiecken, Achtecken träume, die alle irgendwie wie Weihnachtsgebäck aussehen, weil es doch verboten ist zu träumen. 59 Hans-Walter Schmidt-Hannisa hebt in solchen Berichten das subversive Potenzial des Traumes hervor, das er in dezidierter Weise mit den Verfahren und Strategien der Literatur in Zusammenhang bringt. 60 Sicherlich, solche Träume lassen sich als kreative Reaktionen auf zunehmende ideologische Einengung und politischen Terror verstehen; als deren „Seismographen“. 61 Indem hier aber der innere Widerstand nicht von außen gebrochen, sondern vom Träumer selbst in einen Prozess der Anpassung überführt wird, erweisen sich die Beispiele bei aller Originalität und Pointiertheit des Traumgeschehens wohl eher als erschütternde Produkte der Selbstzensur. Es sind jedenfalls Träume vom Zusammenbrechen der Individualität, vom Zerbrechen der Würde, von Scham und Demütigung. Vor allem aber ist Reinhard Koselleck zuzustimmen, der feststellt, dass in den Träumen vom nationalsozialistischen Terror die Grenze zwischen 56 Ebd. 57 Ebd., S. 41. 58 Ebd., S. 41. 59 Ebd., S. 42. Von diesem Traum lassen sich sinnfällige Verbindungslinien zu gegenstandlosen Konzentrationslagerträumen ziehen, die der KZ-Überlebende Jean Cayrol als „rêves de salut“ bezeichnet ( Jean Cayrol: Les rêves lazaréens. In: Lazare parmi nous. Paris 1950, S. 15-66, hier S. 39 f.). Eine ganz andere Haltung nimmt demgegenüber etwa Robert Antelme ein, vgl. Robert Antelme: L’Espèce humaine [1947]. Paris 1957, S. 34 und S. 46. 60 Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror and the Political Potential of Dreams (Anm. 21), S. 111. 61 Beradt: Das Dritte Reich des Traums (Anm. 1), S. 10. <?page no="99"?> 98 Christiane Solte-Gresser manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken so gut wie aufgehoben ist. Die Träume liefern also gewissermaßen ihre eigene Deutung gleich mit. Eine weniger überzeugende Kritik der Sammlung gegenüber formuliert Bruno Bettelheim, der moniert, dass die zur Deutung notwendige Kindheitsgeschichte und die freien Assoziationen der Träumenden nicht systematisch mit in die Sammlung aufgenommen worden seien und die Traumprotokolle mithin keine Interpretation zuließen. 62 IV. Träume als Grenzphänomene Die in Beradts Sammlung wiedergegebenen Träume lassen sich damit als Grenzphänomene auf mehreren Ebenen auffassen. In ihrer paradoxen Ambivalenz oszilliert die Grenzerfahrung in den Träumen selbst zwischen Faszination und Bedrohung: Ob verlockende und verhinderte Grenzüberwindungen nach außen, beängstigende und gegen den Willen selbst vollzogene Grenzauflösungen nach innen; die Träume führen jeweils vor Augen, wie die Trennlinien zwischen Öffentlichem und Privatem, Kollektivem und Individuellem, 63 Politisch-Ideologischem und widerständig Subjektivem verwischen, zusammenbrechen oder gewaltsam aufgebrochen werden. Als Texte loten die Träume die schillernden Grenzen aus zwischen Erfinden und Erinnern, Bewusstem und Unbewusstem, Erleben und Erzählen, Erfahrung und Imagination. Wie Nadja Lux überzeugend feststellt, 64 verwässern auch die zeitlichen Grenzziehungen; nämlich diejenigen zwischen der Gegenwart des Traumgeschehens, der Vergangenheit - die etwa in Form von Tagesresten unmittelbar, und in literarischen, biblischen, mythologischen Präfigurationen mittelbar ihre Spuren im Traum hinterlässt -, und der Zukunft als seismografische Vorwegnahme im Traum, die in offensichtlichem Gegensatz zu klassischen Vorhersehungen und Prophezeiungen in politischen Herrscherträumen steht. Nadja Lux sieht die herausragende Bedeutung von Charlotte Beradts Traumsammlung unter anderem in der Tatsache, dass die individuellen und kollektiven Erfahrungswelten des Nationalsozialismus weder aus der „Perspektive des Exils, noch aus der erinnerten Rückschau innerer Emigranten nach 1945 vermittelt [werden], sondern im Spiegel zeitgenössischer Traumerzählungen 62 Vgl. Bruno Bettelheim: Essay. In: Charlotte Beradt: The Third Reich of Dreams. Translated from the German by Adriane Gottwald. With an Essay by Bruno Bettelheim. Chicago 1968, S. 149-170. 63 Vgl. hierzu auch Renate Böschenstein: Der Traum als Medium der Erkenntnis des Faschismus. In: Renate Böschenstein / Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Frankfurt am Main 1997, S. 131-148, hier S. 131. 64 Lux: „Alptraum Deutschland“ (Anm. 12), S. 12 und S. 17. <?page no="100"?> Träume(n) an der Grenze 99 aus dem Innenraum der Diktatur [erfolgen]“. Die Einsichten in die „Strukturen und Funktionsweisen totalitärer Herrschaft lassen sich also explizit aus der ästhetischen Form ableiten“. 65 In eine vergleichbare Richtung zielt auch Georges Didi-Huberman. Dieser sieht in seiner kunstphilosophischen Studie Survivance des lucioles in eben der ästhetischen Dimension der Träume Beradts ein geheimes Wissen in Bildern aufgehoben, dessen widerständiges Potenzial er in besonderem Maße hervorhebt. 66 Indem die Träume nicht die äußere Wirklichkeit zeigen, wie sie sich in der alltäglichen Wahrnehmung bietet, sondern die individualitätszersetzende Struktur, die in dieser Wirklichkeit verborgen ist, enthüllen die erzählten Traumgeschichten „die geheimen Antriebskräfte und Einpassungszwänge“ der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie „bezeugen - als fiktionale Texte - den Terror, zugleich aber sind sie Vollzugsweisen des Terrors selbst“. 67 Die Nähe der Träume zu literarisch-ästhetischen Formen mit ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generiert also, um der Argumentation Kosellecks weiter zu folgen, ein spezifisches Wissen über Totalitarismus, das keine andere Textsorte in dieser abgründigen Vieldeutigkeit bietet. Damit haben sie nicht nur wesentlich Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird. 68 Sie erlangen auch eine besondere Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten; etwa den gegenwärtigen Diskussionen um die gesellschaftlichen Funktionen von Literatur und anderen Künsten. Innerhalb dieses Kontextes liefern die von Beradt zusammengetragenen Traumnotate besonders eindrückliche Aufschlüsse über das poetische wie politische Potenzial des Träumens zur Erschließung historischer Wirklichkeit, insofern sich der Traum als erzählte Erfahrung stets auf der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation bewegt. 65 Beide Zitate ebd., S. 15. 66 Georges Didi-Huberman: Images: Faire apparaître des rêves: Charlotte Beradt ou le savoir-luciole. Témoignage et prévision. L’autorité du mourant. In: Survivance des Lucioles. Paris 2009, S. 115-120, hier S. 117 und S. 118. 67 Alle Formulierungen Kosellecks bei Beradt: Das Dritte Reich des Traums (Anm. 1), S. 117-132, hier S. 127 und S. 128. 68 Ebd., S. 126. <?page no="102"?> Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher 101 Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher Reinhard Andress, Chicago / IL Robert(o) Schopflochers Integration in sein Exilland Argentinien mag uns außergewöhnlich erscheinen. Einerseits war sie angesichts des beruflichen Erfolges als Siedlungsverwalter, Kaufmann und als in Spanisch schreibender Autor erfolgreich. Andrerseits blieb die Eingliederung begrenzt, denn so tief waren die in der Kindheit und Jugend gewachsenen deutsch-jüdischen Wurzeln, dass sie ihn nicht losließen und letztendlich seine Reintegration als Schriftsteller in Deutschland bedingten und ermöglichten. Dabei prägte das Überschreiten kultureller, sprachlicher und historischer Grenzen sein Werk bis hin zu einer Rolle als Kulturvermittler. Anhand seines Lebensweges, des schriftstellerischen Werdegangs und seiner Texte sollen die folgenden Ausführungen diese Entwicklung des Autors nachvollziehen. Schopflocher kam 1923 als Jude in Fürth zur Welt und starb 2016 hochbetagt in Buenos Aires. 1 Dazwischen liegt ein reichhaltiges Leben, dessen Wurzeln im liberalen, relativ vermögenden und assimilierten Bildungsbürgertum seiner Eltern lagen. Als Hitler 1933 die Macht ergriff, wurde der elfjährige Sohn wegen des Arierparagrafen aus dem Humanistischen Gymnasium Fürths verwiesen und auf das Jüdische Landschulheim Herrlingen geschickt, mit dem der Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) verbunden war. Dort konnte er eine Zeitlang jüdisches, unkorrumpiertes deutsches und allgemeines Bildungsgut weiter in sich aufnehmen, bis die Auswanderung nach Argentinien 1937 stattfinden musste, die durch die Geschäftsverbindungen des Vaters möglich wurde. Als Fünfzehnjähriger in Buenos Aires war Schopflocher zwar von dem andersartigen Leben in der Metropole fasziniert, wurde aber diesem Leben zunächst nicht unmittelbar ausgesetzt. Denn er konnte seine Schulausbildung auf Deutsch in der 1934 gegründeten Pestalozzi-Schule fortsetzen, die - so Roberto 1 Die biografischen Ausführungen beruhen auf den folgenden Quellen: Robert Schopflocher: Weit von wo. Mein Leben zwischen drei Welten. München 2010, einem am 26. September 2009 in Buenos Aires geführten Gespräch und Lauren Nussbaum: Robert(o) Schopflocher’s Adaptive Response: Via the Argentine Soil Back to His German Roots. In: Helga Schreckenberger (Hg.): Die Alchemie des Exils. Exil als schöpferischer Impuls. Wien 2005, S. 167-178. <?page no="103"?> 102 Reinhard Andress Bein - als „Bollwerk der Demokratie gegen den Faschismus konzipiert“ wurde. 2 Somit blieb Schopflocher deutsches und deutsch-jüdisches Kulturgut erhalten und wurde erweitert. Darüber hinaus las er „wahllos“ - wie er es formulierte - solche Schriftsteller wie Stefan und Arnold Zweig, Hesse, Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann, Kästner, Rilke, Brod und Werfel. 3 Zwar waren es nur eineinhalb Jahre, die Schopflocher auf der Pestalozzi-Schule verbrachte, in dem Alter jedoch eine Zeitspanne, die seine geistige Entwicklung stark prägte. Überhaupt lebte Schopflocher damals auf „eine[r] deutsche[n] Kulturinsel in Buenos Aires“, wie er es einmal beschrieb. 4 Zwischen 1933 und 1945 gab es schätzungsweise 30 000 bis 45 000 deutschsprachige, vor allem jüdische Emigranten in Argentinien, von denen sich etwa 95 % in der Hauptstadt niedergelassen hatten. 5 Das zog soziokulturelle Konsequenzen nach sich. Die jüdischen Einwanderer gründeten z. B. bereits 1933 einen Hilfsverein deutschsprechender Juden , 1937 eine Jüdische Kultur-Gemeinschaft , Synagogen, darüber hinaus Sportvereine, in denen Schopflocher z. T. aktiv war. Erwähnenswert ist auch die erfolgreiche Freie Deutsche Bühne mit insgesamt 215 Premieren und 750 Aufführungen. Deutsche Zeitungen wie die Jüdische Wochenschau und das Argentinische Tageblatt - Letzteres erscheint noch heute - trugen ebenso zum kulturellen Leben bei. Saint Sauveur-Henn resümiert die Integration der deutschsprachigen und vor allem jüdischen Einwanderer während der Nazizeit folgendermaßen: Bei der ersten Generation fand keine Integration in das argentinische Milieu statt. Die deutsch-jüdischen Emigranten in Buenos Aires blieben im eigenen Kreis, verkehrten in eigens geschaffenen religiösen und kulturellen Gemeinden […]. 6 Diese Entwicklung traf auch auf Schopflocher zu, wie er selbst ausführte: Der durch die Auswanderung bedingte Entwicklungsprozess meiner Sprache setzte nicht schlagartig mit der Ankunft in Argentinien ein. Zwar versuchte ich natürlich, wie jeder Neuankömmling, sofort nach der erfolgten Einwanderung die Landesspra- 2 Roberto Bein / Regula Rohland de Langbehn: Deutschsprachige Emigration in Argentinien: Sprache, Schule und Literatur als (verlorene und neue) Heimat. In: Georg Kremnitz / Joachim Born (Hg.): Lenguas, literaturas y sociedad en la Argentina. Diálogos sobre la investigación en Argentina, Uruguay y en países germanofónicos. Wien 2004, S. 280. 3 Robert Schopflocher: Verfremdung der Heimatssprache. Schreibtischerfahrungen eines ‚Exil-Schriftstellers. In: Spiegel Spezial 4 (2002). URL: http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ spiegelspecial/ d-25361994.html (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). 4 Ebd. 5 Zur Situation der Emigranten damals in Argentinien vgl. Bein / Rohland de Langbehn: Deutschsprachige Emigration in Argentinien (Anm. 2). 6 Anne Saint Sauveur-Henn: Exotische Zuflucht? Buenos Aires, eine unbekannte und vielseitige Exilmetropole. In: Metropolen des Exils. Exilforschung 20 (1983), S. 251 f. <?page no="104"?> Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher 103 che zu erlernen, doch beschritt ich den verschlungenen Weg, der mich vom Deutschen bis hin zum Spanischen und von dort zurück zur Sprache meiner Kindheit führte, eigentlich erst vier Jahre später. Denn erst zu diesem Zeitpunkt musste ich mich in einem exklusiv Spanisch sprechenden Milieu zurechtfinden. Vorher blieb ich auch in Argentinien dem deutschen Kultur- und Geistesleben verhaftet, dem ich nie ganz den Rücken kehrte. 7 In diesem deutsch-jüdischen Kulturkreis hätte sich der junge Schopflocher gern schriftstellerisch betätigt, doch überzeugte ihn der Vater davon, einen praktischen Beruf zu ergreifen. So setzte der erwähnte Weg zum Spanischen 1939 ein, als Schopflocher ein Jahr als Praktikant auf einer Obstplantage in Nordpatagonien verbrachte, gefolgt von einem Agronomie-Studium in Córdoba. Dort lebte er zwar zusammen mit Argentiniern in einem Internat, doch als Ausgleich zum Studium war es immer noch das deutsch-jüdische Kulturgut, das ihn in seinen Bann zog. Auch in Córdoba las er viele deutsche Bücher, unternahm erste Schreibversuche und bewegte sich im intellektuellen Kreis des Schweizer Germanisten Alfredo Cahn, der als Stefan Zweig-Übersetzer ins Spanische einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte. 1940 kam es sogar zu einer folgenreichen Begegnung mit Zweig, dem Schopflocher zwei Erzählungen, auf sein Urteil hoffend, geschickt hatte. In der Tat hatte Zweig sie gelesen und gab ihm Ratschläge, die in der „Kunst des Weglassens“ beim Schreiben lagen. 8 So blieben neben dem Studium die Verbindungen zur deutschen Sprache und Literatur erhalten und wurden weiterhin gefestigt und ausgebaut. Schopflochers erste Arbeitsstelle nach dem Studium führte ihn von 1945 bis 1951 als Siedlungsverwalter der Jewish Colonization Association in die Provinz Entre Ríos. Einige der Siedlungen dort waren nach 1891 vom Philanthropen Baron Moritz von Hirsch gegründet worden, um verfolgten russischen Juden eine sichere Bleibe in der Landwirtschaft außerhalb Russlands zu verschaffen. 1925 lebten etwa 35 000 Juden in solchen Siedlungen, in denen ihre Shtetl-Kultur z. T. überlebte und in denen zwar auf Spanisch, jedoch ebenfalls auf Jiddisch gesprochen wurde. In dieser ostjüdischen Form erlebte sie noch Schopflocher. Zwischen 1936 und 1939 nahmen die Siedlungen noch zusätzlich ungefähr 2000 von den Nazis verfolgte Westjuden auf, die zu einem großen Teil Deutsch sprachen und die Schopflocher u. a. in der Siedlung Avigdor kennen lernte. Zu seinen Erfahrungen schrieb Schopflocher 1998: „Der innere Reichtum, der mir durch den engen Kontakt mit den jüdischen Siedlerfamilien und mit der 7 Robert Schopflocher: Verfremdung (Anm 3). 8 Schopflocher: Weit von wo (Anm. 1), S. 38. <?page no="105"?> 104 Reinhard Andress argentinischen Provinz überhaupt beschert wurde, begleitet mich seitdem.“ 9 Zu diesem Reichtum gehört sicher auch, dass er die Bremerin Ruth de Levie kennen lernte, eine der Nazi-Flüchtlinge, die 1947 seine Frau wurde. Im Gespräch mit dem Verfasser dieser Arbeit betonte Schopflocher, dass Deutsch seine „Ehesprache“ wurde, das man auch mit den zwei Söhnen sprach. 10 So verlor Schopflocher auch in dieser Zeit keinesfalls den Kontakt mit der deutschen Sprache und erweiterte seine Kenntnisse des west- und ostjüdischen Kulturguts, das seine Entwicklung als Schriftsteller entschieden prägen sollte. Mit der Geburt des ersten Sohnes übersiedelte die Familie 1951 nach Buenos Aires, wo Schopflocher als Importkaufmann in das Geschäft des Vaters einstieg und es 1961 übernahm. Geschäftliche Korrespondenz auf Deutsch und Geschäftsreisen nach Deutschland trugen auch dazu bei, dass die deutsche Sprache bei Schopflocher lebendig blieb. Allerdings fing er auch an, wissenschaftliche Werke auf Spanisch zu schreiben, so Avicultura lucrativa (Lukrative Geflügelzucht), das zu einem Bestseller wurde. Angesichts des beruflichen und wissenschaftlichen Erfolges mag es angebracht sein, zu diesem Zeitpunkt von Schopflochers funktionaler Akkulturation zu sprechen, während aber die subjektive und persönliche Seite davon wegen der starken Verbindungen zum deutsch-jüdischen Kulturgut weiterhin begrenzt blieb. Was zu dieser limitierten Integration auf wesentliche Weise beitrug, war, dass Schopflocher kein glücklicher Kaufmann war. Eigentlich zog es ihn in die Kunst. Er besuchte Abendkurse für Philosophie und Literatur, malte und fertigte Holzschnitte an, die national und international ausgestellt wurden, eine künstlerische Tätigkeit, die er aufgab, als er schließlich mit etwa 57 Jahren den Weg in die Literatur fand. Dabei vertraute er, wie er sagte, seinem „inneren Kompass, der immer wieder in Richtung Literatur wies.“ 11 Auf Spanisch veröffentlichte er unter dem hispanisierten Vornamen Roberto Erzählbände, u. a. Fuego fatuo (Irrlicht, 1980), Ventana abierta (Offenes Fenster, 1983), Acorrolado (Eingezäunt, 1984) oder Venus llega al Pueblo (Venus kommt im Dorfe an, 1986), die Romane Mundo fragil (Fragile Welt, 1986) und Extraños negocios (Seltsame Geschäfte, 1996) und das Theaterstück Las ovejas (Die Schafe, 1984). Dafür gab es auch Literaturpreise, z. B. 1980 die Faja de Honor der Sociedad Argentina de Escritores für Fuego fatuo . Wenn Schopflocher auch durch die literarischen Veröffentlichungen in spanischer Sprache ein höheres Maß an Akkulturation gewann, entfremdete ihn dieser Prozess keineswegs von der deutschen Sprache und dem deutsch-jü- 9 Robert Schopflocher: Über dieses Buch. In: ders.: Wie Reb Froike die Welt rettete. Göttingen 1998, S. 178 f. 10 Vgl. Anm. 1. 11 Schopflocher: Weit von wo (Anm. 1), S. 120. <?page no="106"?> Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher 105 dischen Kulturgut - und das, obwohl er den größten Teil seines Lebens in Argentinien verbracht hatte. Letzten Endes führte er die Verbundenheit mit der Kultur Deutschlands auf die Stärke der Kindheits- und Jugendeindrücke zurück, wie er es in den späten Neunzigerjahren in seinem Gedicht GESTÄNDNIS zum Ausdruck brachte: Seit sechzig Jahren in Argentinien, aber beim Worte ‚Baum‘ fällt mir zunächst und noch immer die Dorflinde Rannas ein, in der Fränkischen Schweiz, gelegentlich auch eine Eiche oder ein Tannenbaum; nie dagegen oder doch höchst selten ein Ombú der Pampa, ein Paraíso in Entre Ríos ein Ñandubay, Lapacho oder Algarrobo, wie sich’s doch geziemen würde schon aus Dankbarkeit dem lebensrettenden Land gegenüber. Aber ‚Frühling‘ bedeutet mir noch immer Mörikes blau flatterndes Band. Schiller, Goethe und die Romantik, Jugendstil, Bauhaus und Expressionismus, prägten mir ihre Siegel auf, nicht weniger als der deutsche Wald, der deutsche Professor. Ja, selbst der fragwürdige Struwwelpeter, Karl May, Hauff, die Grimm’schen Märchen, Die Schwab’schen Heldensagen oder Max und Moritz, diese beiden, rumoren weiter in mir und lassen sich nicht ausrotten. 12 In der Beziehung zur deutschen Sprache und Kultur gab es dann einen qualitativen Sprung, als der inzwischen fast sechzigjährige Schopflocher literarisch erzählend den Weg in die Muttersprache fand. In seiner Autobiografie Weit von wo (2010) umriss er diesen Punkt folgendermaßen: „Als mir zu Bewusst- 12 Zitiert nach dem Abdruck des Gedichts in Robert Schopflocher: Wahlheimat und Heimatwahl. Fürth 2002, S. 22. <?page no="107"?> 106 Reinhard Andress sein kam, dass ich, trotz aller in Spanisch verfassten Bücher und Essays, in meiner Traumwelt weiterhin dem Deutschen verhaftet geblieben war, zog ich meine Konsequenzen.“ 13 Eine Seite der Konsequenzen waren drei Erzählbände auf Deutsch, die z. T. Schopflochers auf Spanisch geschriebene Kurzgeschichten in eigener Übersetzung enthielten: Wie Reb Froike die Welt rettete (1998), Fernes Beben (2003) und Spiegel der Welt (2006). 14 Ferner veröffentlichte er 2012 einen Gedichtband mit dem Titel Hintergedanken , die erwähnte Autobiografie und zwei Romane: Die verlorenen Kinder (2013) und Das Komplott zu Lima (2015). Für seine deutsche Prosa fehlte in Deutschland auch nicht die Anerkennung: Bereits im Jahr 2008 wurde Schopflocher mit dem Fürther Jakob-Wassermann- Literaturpreis ausgezeichnet. Geprägt sind seine sowohl auf Spanisch als auf Deutsch geschriebenen Texte von einem Panoramablick auf die Schicksale von Menschen aller Altersgruppen und Zeitalter im Land am Río de la Plata. Dabei fühlte sich der Autor den verfolgten Juden der kolonialen Inquisition, der russischen Pogrome und des Nationalsozialismus besonders verpflichtet und untersuchte bzw. beobachtete genau die argentinischen Ausprägungen ihres Kulturguts und das ihrer Nachkommen. Die Identität der Juden ist also ein zentrales Thema. Dabei liegt Schopflochers Beitrag zur Literatur darin, wie anfangs angedeutet wurde, kulturelle, sprachliche und historische Grenzen zu überschreiten, um eine Rolle als Kulturvermittler einzunehmen. Wenden wir uns nun einigen Texten des Autors zu, um das näher zu erläutern. Im erwähnten Roman Extraños negocios gehört der Protagonist Marcos Silberman einer großen jüdischen Familie an. Den vielen Aspekten des Judentums in Argentinien, wie sie im Roman geschildert werden, können diese Ausführungen nicht gerecht werden, doch mag die folgende Textstelle einen Einblick geben. In der Passage schildert der Erzähler Burdanek seinen eigenen Großvater in einer der Hirsch-Siedlungen, bezieht sich aber auch auf den von Silberman, nämlich Reb Abraham: Ha de saberse, que mi abuelo se aferraba al Shuljan Aruj , compendio que regula la vida de los judíos conforme con la Ley de Moisés, tal como fue codificada por los talmudistas. Como era lógico, contaba con el apoyo incondicional de nuestro shoijet , mientras que el gerente de la cooperativa integraba un dúo apóstata con el maestro hebreo. Ninguno de los dos pertenecía al círculo íntimo de los viejos, y eso no sólo por ser de otra generación. El maestro detestaba la rigidez de las leyes rabínicas que, según él, estaban asfixiando las fuerzas vitales de los judíos, a los que únicamente el 13 Schopflocher: Weit von wo (Anm. 1), S. 267. 14 Hierzu vgl. den Artikel des Verfassers dieser Arbeit: Robert(o) Schopflocher als Selbstübersetzer. In: Ibero-amerikanisches Jahrbuch der Germanistik 11 (2011), S. 157-172. <?page no="108"?> Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher 107 retorno a las fuentes vivas en la vieja-nueva patria podría redimir. Y según el gerente, todas las religiones no eran más que opio para los pueblos. Recuerdo como los dos instaron a mi abuelo para que diera cumplimiento a las leyes de la Torá, lapidando sin más trámite a todas las adúlteras que conocía. El abuelo de Marcos se abstenía de intervenir en semejantes disputas. Según supe años más tarde, prefería enfrascarse en el estudio de Jemdat yamin , e ilustrarse así sobre cómo seguir una vida conforme con la Cabalá. A decir la verdad: nunca llegué a comprender los argumentos esgrimidos por los bebedores de té. Pero sí recuerdo la música de sus voces: la estridencia belicosa de mi irritable abuelo y el profundo cántico tranquilizador de Reb Abraham. 15 Was diese Textstelle faszinierend deutlich macht, ist die Spannbreite von orthodoxen bis hin zu atheistischen Juden, die sich alle innerhalb dieser kleinen jüdischen Kulturgemeinschaft und Siedlung in Argentinien versammelten. In der nur auf Deutsch vorliegenden Titelerzählung des Bandes Wie Reb Froike die Welt rettete gelingt es dem Protagonisten, dem genannten Reb Froike, einen deutsch-jüdischen Nazi-Flüchtling, eine leicht verkrüppelte Frau, die allein reist, in Buenos Aires vom Schiff herunterzuholen, obwohl sie eigentlich in Argentinien nicht einreisen darf. Reb Froike arrangiert aber die Immigration der Frau mit charmanter Raffinesse. Dabei ist die Frau eine entfernte Verwandte eines deutsch-jüdischen Professors, den der Nationalsozialismus ebenfalls in die Provinz Argentiniens verschlagen hatte, wo er merkwürdige Schabbat-Abende abhält, wie wir vom allgegenwärtigen Erzähler erfahren: 15 Roberto Schopflocher: Extraños negocios. Buenos Aires 1996, S. 20 f. Übersetzung des Verfassers dieser Arbeit: Man muss wissen, dass sich mein Großvater am Shuljan Aruj festhielt, am Kompendium, das das Leben der Juden in Übereinstimmung mit dem Mosaischen Gesetz regelt, so wie es von den Talmudisten kodiert wurde. Logisch hatte er die bedingungslose Unterstützung unseres shoijet , während der Verwalter des Kooperativs ein abtrünniges Duo mit dem Hebräischlehrer bildete. Keiner von den beiden gehörte zum intimen Kreis der Alten, und das nicht nur, weil sie aus einer anderen Generation waren. Der Lehrer verabscheute die Starrheit der rabbinischen Gesetze, die seiner Meinung nach die vitalen Kräfte der Juden erstickten, die wiederum nur die Rückkehr zu den lebendigen Quellen des alt-neuen Vaterlandes erlösen könnte. Und dem Verwalter nach waren alle Religionen nichts mehr als Opium für das Volk. Ich erinnre mich, wie die beiden meinen Großvater dazu drängten, die Tora-Gesetze zu erfüllen, indem er jede Ehebrecherin, die er kannte, ohne weitere Formalitäten steinigen lassen sollte. Marcos’ Großvater weigerte sich, in solche Streitgespräche einzugreifen. Wie ich Jahre später erfuhr, zog er es vor, sich in das Studium der Jemdat yamin zu vertiefen und sich so zu veranschaulichen, wie ein Leben in Übereinstimmung mit der Kabbala zu führen ist. Um ehrlich zu sein, ich habe es nie geschafft, die ausgefochtenen Argumente der Teetrinker zu verstehen. Doch erinnre ich mich an die Musik ihrer Stimmen: an die streitsüchtige Schrillheit meines reizbaren Großvaters und den tiefen, beruhigenden Lobgesang Reb Abrahams. <?page no="109"?> 108 Reinhard Andress Von draußen drang das Muhen der eingepferchten Milchkühe an unser Ohr. Unweit der niedrigen Stube mit dem Fußboden aus gestampfter Erde begann das dornige Gestrüpp unseres Montes, dessen ungebrochene Wildheit irgendwie in unseren Kreis drang, mit seinen vielfältigen Gerüchen und Lauten und mit den uns umschwirrenden Insekten. Zwischen zehn und zwanzig Siedler fanden sich Woche für Woche ein, um sich mit angestrengter Miene anzuhören, was der Herr Professor vortrug. Ein wenig salbungsvoll sprach der alte Herr schon, wie mir vorkam. Gern hätte ich gewusst, was wohl in den Köpfen dieser ehrbaren Siedler vorging, die wochentags fleißig ihre Felder bestellten, die ihr Vieh aufzogen und ihre Kleinindustrien aufbauten, indem sie Wurstwaren und Gänseleberpastete, Gemüsekonserven, Marmeladen und Pralinen herstellten, und die am Freitagabend zusammenkamen, gewaschen und sauber gekleidet, wenn auch manchmal mit schwarzen Rändern unter den Fingernägeln ihrer schwieligen Hände, um sich vom Herrn Professor über Plato, Goethe und den Wochenabschnitt belehren zu lassen, um gemeinsam Gebete abzusingen und um, umsprungen von den kleinen Enkeln des Professors, am Kiddusch, der Heiligung von Brot und Wein, teilzunehmen. 16 Auch in diesem Zitat entsteht ein Bild vom Judentum in Argentinien, das zwar die Tradition des Schabbats wahrt, doch z. T. aufgelöst und von nicht-jüdischen Elementen durchzogen ist, wobei sich das alles gegen den Hintergrund der Natur in der argentinischen Provinz abspielt. In der Erzählung Seltsam vertraut reist der Protagonist Jack, der als Geschäftsmann in Buenos Aires lebt, in die Hirsch-Siedlung seiner Kindheit zurück, wobei das Dorfleben von damals in seinem geistigen Auge wieder entsteht. Eine Heuschreckenplage hatte zur Landflucht des Protagonisten geführt, zu einem getriebenen, in vielerlei Hinsicht moralisch fragwürdigen Leben in der Großstadt, bei dem er sich nicht wohlfühlt. Deshalb sucht er Anschluss an die als rein empfundene Kindheitszeit, die den jüdischen Glauben einschließt. Es kommt zu einem Friedhofsbesuch, wobei sich auch in dessen Kultur die Entwicklung des Judentums in Argentinien zeigt: Die neueren Steine in den vorderen Reihen waren alle rechteckig geschnitten und trugen ein emailliertes Foto des darunter Ruhenden. So war es Landesbrauch. Die Grabsteine der hinteren Reihen dagegen wiesen die klassische Form der Gesetzestafeln auf, wie sie, gemäß der Überlieferung, Moses am Sinai empfangen hatte. Fotos waren nicht auf ihnen angebracht, denn „du sollst dir kein Bildnis machen, kein Ab- 16 Robert Schopflocher: Wie Reb Froike die Welt rettete. In: ders.: Reb Froike (Anm. 9), S. 60. <?page no="110"?> Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher 109 bild dessen, was im Himmel droben, oder was auf Erden unten, oder was im Wasser unter der Erde ist.“ 17 So wie es diese Trennung zwischen altjüdischer und neuer Friedhofskultur gibt, ist Jack von seinen jüdischen Wurzeln getrennt. Insgesamt ist es eine Reise, bei der sich Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Vorstellungen vermischen, Vorstellungen, wie ein alternatives Leben frei von moralischer Korruption in der Nähe der jüdischen Wurzeln hätte aussehen können, ein Leben, das jedoch nicht mehr zu erreichen ist, zu weit hat sich Jack davon entfernt. Ein Zurück in das fragwürdige Großstadtleben scheint auch nicht möglich, und so bleibt nur ein trauriger, anonymer Tod am Straßenrand, der ebenfalls die Ferne von den jüdischen Wurzeln bezeugt: Den alten Dorfbewohnern, die ihn auffinden, kommt er nur „seltsam vertraut“ 18 vor, mehr können sie nicht mit ihm anfangen, womit der Kreis zum Erzählungstitel geschlossen wird. Es ist mehr ein bildlicher Tod: Zu weit von seinen jüdischen Wurzeln entfernt hat der Protagonist keine Identität mehr und deshalb kein Leben mehr. Nicht nur diese Texte Schopflochers gehen auf die Entwicklung der jüdischen Auswandererkultur ein, eingebettet in die besondere Landschaft Argentiniens. Wie deutlich wurde, entsteht dabei das Bild eines von alten und neuen Elementen vermischten jüdischen Kulturraumes, den es in dieser Form nur in der Provinz Argentiniens gibt. Indem er jüdische Kulturgrenzen überschritt, machte der Autor mehrere Schichten von jüdischem Auswandererleben der Peripherie, d. h. in den Pampas, den in Buenos Aires lebenden Juden vertraut. Er ließ die Familiengeschichte(n) dieses jüdischen Lebens wieder aufleben und rettete sie vor Vergessenheit. Dabei nahm er die Rolle eines Kulturvermittlers ein, die sich über das Judentum hinaus auch auf die Argentinier nicht-jüdischer Herkunft erstreckt, die seine Texte auf Spanisch lesen. Es ist eine Vermittelungsrolle, die dann letztendlich eine zusätzliche Erweiterung dadurch erfuhr, dass der Autor diesen besonderen jüdischen Kulturraum wiederum dem deutschen sichtbar machte, indem er die sprachliche Grenze zurück in seine Muttersprache überschritt und darin veröffentlichte. Die kulturvermittelnden Grenzüberschreitungen setzen sich in Schopflochers zwei letzten Romanen fort, die hier noch abschließend kurz betrachtet werden sollen. In Die verlorenen Kinder geht es um die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte Argentiniens, vor allem mit dem dunklen Kapitel der Desaparecidos (Verschwundenen). Der Roman erzählt die Geschichte des jungen Phytogenetikers Enrique Miliani, der 2006 nach einem siebenjährigen USA -Aufenthalt in 17 Robert Schopflocher: Seltsam vertraut. In: ders.: Fernes Beben. Frankfurt am Main 2003, S. 45 f. 18 Ebd., S. 68. <?page no="111"?> 110 Reinhard Andress sein schwieriges Heimatland Argentinien zurückkehrt. Mit seiner Ziehtante María Inés in Buenos Aires verwickelt er sich in lange Gespräche über die komplexe polnisch-deutsch-jüdische Auswanderergeschichte der Familie seit den 1930er Jahren. Manches verschweigt die Tante zunächst, z. B. ihre Vergewaltigung als Dienstmädchen auf einem Landgut, was Enrique aber langsam aus der Tante herausbekommt, abgesehen von Besuchen bei seinen Eltern und Begegnungen mit den anderen Romanfiguren, die jeweils das langsam erstellte Bild Argentiniens ergänzen. Der eigentliche Erzählanlass des Romans sind aber das Verschwinden und die Ermordung von María Inés’ Kindern Fecundo und Adriana während der Militärdiktatur, wobei das Schicksal der Tochter und ihres zwangsadoptierten Sohnes Pablo im Vordergrund steht. Dieser wird in der Erzählgegenwart aufgefunden. In Argentinien findet Enrique zwar Arbeit in einem Laboratorium für forensische Genetik, doch am Romanende kehrt er in die Staaten zurück. Anhand einer Reihe von Erzählstrategien wie der tragischen Dramatisierung, zeitlichen Diskontinuitäten, der vielstimmigen Mehrdimensionalität und der subjektiven Perspektive der Figuren entsteht ein an Widersprüchen reiches Bild von Argentinien. Dadurch, dass uns Schopflocher dieses Bild in deutscher Sprache vermittelte, überschritt er die Kulturgrenze zwischen Argentinien und der deutschsprachigen Welt und zwingt uns als Leser, unsere Klischeebilder dieses Landes - etwa Diktaturen, gute Steaks, Tango, kurz: Andrew Lloyd Webbers Musical Evita (1976) - aufzubrechen, zu hinterfragen und komplex zu ergänzen. Das stark differenzierte Bild Argentiniens mündet in einen gewissen Schwebezustand, der auf den Schwierigkeiten des Erinnerungsvermögens der Figuren beruht. Weitere Leitmotive des Romans sind Illusionslosigkeit, bedingt durch ein fortwährend krisengeschütteltes Land, Dankbarkeit Argentinien gegenüber für die Aufnahme vieler Emigranten, Argentinien als hoffnungserweckendes Land der Zukunft und der abwartende, beobachtende und sehnsuchtsvolle Blick der Auslandsargentinier auf ihr Land. In der letzten Instanz bleibt aber eine zum Ausdruck gebrachte Irrationalität für die Geschichte Argentiniens motivartig bestimmend. Der nach Argentinien ausgewanderte Max Adler im Roman, in Berlin damals ein angesehener Chirurg, bringt es auf den Punkt: „Der Mensch als rationales Wesen ist lediglich ein theoretisches Konstrukt.“ 19 Das gibt uns über die argentinische Geschichte hinaus einiges zu bedenken und hebt den Roman in seiner Aussagekraft ins Allgemeingültige. 19 Robert Schopflocher: Die verlorenen Kinder. München 2013, S. 160. Vgl. auch den ausführlichen Artikel des Verfassers dieses Artikels zum Roman: „Der Mensch als rationales Wesen ist lediglich ein theoretisches Konstrukt“: die Literarizität in Robert Schopflochers Roman „Die verlorenen Kinder“. In: Ibero-amerikanisches Jahrbuch der Germanistik 10 (2016), S. 139-149. <?page no="112"?> Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher 111 Schließlich hat Schopflocher in seinem letzten Roman, Das Komplott zu Lima , mehrere historische Grenzen in eine tiefe Vergangenheit überschritten und führt uns in die Atmosphäre der kolonialen Inquisitionszeit mit ihrem ganzen Terror ein. Anhand der erfundenen Geschichten einer Reihe von stark individualisierten Figuren wird die damalige Geschichte vielfach fassbar, wozu auch hier die Literarizität des Textes erheblich beiträgt. Der Inquisition in Europa entkommen, glaubt die Familie Acosta in Buenos Aires Rettung gefunden zu haben, wo sie 1619 zusammen mit der aufgeweckten Tochter Elvira eintrifft. Von Zuflucht kann aber nicht die Rede sein, denn bald werden sie zum Spielball der dortigen wirtschaftlichen und kirchlichen Machtinteressen. Die Familie flieht weiter nach Córdoba, Santiago de Chile und landet schließlich in Lima, wo sie und ihr gesellschaftliches Umfeld verstärkt in die Mühlen der Inquisition geraten. Elvira kommt als angebliche Jüdin zwei Jahre in die Inquisitionskerker, bevor sie unter absoluter Anerkennung des katholischen Glaubens freikommt und dann das historisch verbürgte Autodafé von 1639 miterlebt. Diesem fällt ihr Mann Juan zum Opfer, indem er zu vier Jahren Galeerendienst, Verbannung aus den Kolonien und nach Beendigung des Ruderdienstes zu lebenslänglicher Kerkerhaft in Sevilla verurteilt wird. Sie sieht ihn nie wieder, auch ihren Sohn Enriquillo nicht, der kurz vor ihrer Verhaftung aufs Land gerettet wird. In der Suche nach ihrem Sohn irrt Elvira in den Kolonien herum, nimmt sich zweier Waisenkinder an und landet schließlich als alte Frau wieder in Buenos Aires, wo sie in einem Dämmerzustand dem Tod entgegen geht. Schopflochers Gang in die Inquisitionszeit der südamerikanischen Kolonialgeschichte lässt uns im scheinbar Fremden der Vergangenheit Vertrautes erkennen. Wollte Arendt den nordeuropäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts als Voraussetzung für die brutalen Regime des 20. Jahrhunderts festlegen, 20 zeigt uns Schopflocher implizit in seinem Roman, dass die koloniale Inquisition ebenfalls Merkmale der Bürokratisierung und des rassistischen Denkens aufweist, die eine Kontinuität gewisser historischer Vorgänge zum Vorschein bringt. Es ist eine Kontinuität der Grässlichkeiten, die sich Menschen im Namen rassistischer Ideologien antun. Das Komplott zu Lima ist zwar ein historischer Roman, doch zeigen uns hier Schopflochers Grenzüberschreitung und Kulturvermittlung, dass er nicht der traurigen Aktualität entbehrt. 21 Es waren letzten Endes drei Kulturen, zwischen denen sich Schopflocher bewegte und deren Grenzen er immer wieder überschritt, was sich im Untertitel 20 Vgl. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. New York 1951. 21 Vgl. den ausführlichen Artikel des Verfassers zum Roman: Roberto Schopflochers historischer Roman „Das Komplott zu Lima“: Literarizität und Aktualität der Inquisition, der im Dezember 2017 in den Monatsheften für deutschsprachige Literatur und Kultur erscheint. <?page no="113"?> 112 Reinhard Andress seiner Autobiografie zeigt: Mein Leben zwischen drei Welten . Dazu äußerte sich Schopflocher folgendermaßen: Drei Welten sind es, denen ich zeitlebens verhaftet blieb, in die ich hineinwuchs und in denen ich ein und aus gehe. Erstens, allen negativen Erfahrungen zum Trotz, die deutsche Kultur und Lebensart - romantisch, idealistisch gefärbt. Zweitens, ein Judentum, das, allerdings stark agnostisch durchsetzt, mit keinem regelmäßigen Synagogenbesuch verbunden ist. Diese Parallelwelten verdanke ich meiner Kindheit in Mittelfranken und der Pestalozzi-Schule in Buenos Aires, dem Jüdischen Landschulheim in Deutschland und schließlich dem Kontakt mit den russischen Juden in den Baron-Hirsch-Siedlungen, wo ich meine Berufslaufbahn begann. Meine dritte Welt wurde das lebensrettende Argentinien mit seinen herrlichen Landschaften und seiner liebenswerten Bevölkerung. Dort erhielt ich meine Ausbildung als Diplomlandwirt, gründete meine Familie, kamen meine Kinder, Enkel und Urenkel zur Welt, und dort bin ich, mit kurzen Unterbrechungen, seit über siebzig Jahren zuhause. Mein Leben lang bemühte ich mich um die Balance dieser permanent fluktuierenden Dimensionen, ohne mich eindeutig auf eine derselben festlegen zu können. Das von vielen Exilanten beschriebene Gefühl der Heimatlosigkeit lernte ich in dieser Form nie kennen, obwohl ich mich weder als Deutscher betrachte noch als Argentinier. 22 Die Entwurzelung und die damit einhergehende Entfremdung in der Exilsituation sollen hier keinesfalls einer Geringschätzung unterliegen. Doch gab es dabei auch Lernprozesse, die schöpferisch produktiv wurden, was Schopflocher anzudeuten scheint. Egon Schwarz, ein sehr bekannter und anerkannter Literaturwissenschaftler und Jahre lang Mitexilant Schopflochers in Südamerika, brachte es in seiner Autobiografie Keine Zeit für Eichendorff (1992, 2005 als Unfreiwillige Wanderjahre neu erschienen) auf den Punkt: Zu verkünden, daß Hitler für mich gut war, wäre eine Verhöhnung der Millionen, die er auf dem Gewissen hat und zu denen ich, in jeder Phase des faschistischen Vernichtungszuges durch die Welt, leicht hätte gehören können. Dennoch ist es eine Tatsache, daß ich durch die explosionsartigen Ausbrüche des Hitlerismus in die freie Luft geschleudert wurde, wo ich einen längeren Atem und einen weiteren Ausblick gewonnen habe, als wenn ich in der heimatlichen Enge geblieben wäre. 23 Ähnlich war es bei Schopflocher: Aus Deutschland vertrieben, doch der deutschen und deutsch-jüdischen Kultur verwurzelt, ebenfalls aber auch nicht vollständig in Argentinien integriert, konnte er einen weiteren Blickwinkel der Kul- 22 Schopflocher: Weit von wo (Anm. 1), S. 19. 23 Egon Schwarz: Unfreiwillige Wanderjahre. Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente. München 2005, S. 233. <?page no="114"?> Grenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher 113 turvermittlung einnehmen, der sich im Überschreiten kultureller, sprachlicher und historischer Grenzen in seinen Werken niederschlug - ein großer Gewinn für ihn und für die argentinische und deutsche Literatur. <?page no="116"?> „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ 115 „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ Alexander Lenard’s Narratives of Brazilian Exile Philippe Humblé, Brussels and Arvi Sepp, Brussels/ Antwerp I. Introduction This chapter seeks to map the wider coordinates of the relation between the experience of exile and literary writing by the Jewish-Hungarian writer Alexander Lenard (1910-1972). Lenard’s literary works have been scarcely researched, although he published a significant number of books in Germany, mainly in the sixties of the twentieth century. Before calling himself Alexander Lenard, his name was originally Sándor Lénárd and, before that, Sándor Levy. He lived as an exile for most of his life, moving from one country to another, always fleeing from war. “Die Kriege haben mein Leben bestimmt,” he writes in Die Kuh auf dem Bast (1963). 1 This, his best-known book, which is also the focus of this chapter, tells the story of a small German community in an outlandish Brazilian setting, the confined space of Lenard’s exile. This contribution is interested in how the effects of exile and migration fundamentally shape literature and the writer’s textual relationships with the region and the world. We will ask how language practices in Die Kuh auf dem Bast signify the German-language Jewish-Hungarian experience of exile and the conflicting cultural allegiances after the Second World War. Alexander Lenard’s narrative of exile - set within a German settlers’ community in Brazil - offers a peripheral view of the discourse on German and Brazilian national and regional history. In the first part of this chapter, we will give a brief overview of the most important geographical stations in Lenard’s autobiography, essential to comprehend the centrality of border-crossing and exile in his writings. In the second part, we will focus on major genre-specific tendencies in his literary production. Finally, we will interpret a number of selected passages from his novel Die Kuh auf dem Bast . 1 Alexander Lenard: Die Kuh auf dem Bast. Stuttgart 1963, p. 8. <?page no="117"?> 116 Philippe Humblé and Arvi Sepp II. Migration and Exile Hungary Born in 1910 in Budapest, Sándor Lenard was the first child of Jenő Lénárd, born in Krefeld as Eugen Isak Levy. 2 His father changed his name into Lenard, for obvious reasons. “Inside each book, Sándor and his parents had meticulously transformed their obviously Jewish surname Levy to a more Hungarian Lenard,” as his niece Lynne Sachs has it. 3 The family subsequently converted to Protestantism. 4 During the war, Sándor’s father, who was himself a polyglot just like Sándor would be, volunteered in the Austrian-Hungarian Army. He would be held captive as a prisoner of war till January 1919, after which the family emigrated to Austria. Austria The family moved to Vienna, where Sándor, or Alexander, Lenard would spend all of his school time. In 1925, Sándor’s beloved father and mentor dies. When he chose to go to university, Lenard is torn between Philosophy, Philology and Natural Sciences. 5 Lenard would indeed study Medicine in Vienna for fourteen semesters, but it is not entirely clear if he really finished his study. In Am Ende der Via Condotti , translated from the Hungarian and recently published by DTV Verlag, he writes: “Hier in der Apotheke kann ich so vieles besser lernen, als wenn ich die Universität mit Lorbeerkranz absolviert hätte.” 6 It is, however, certain that at various times of his life he practiced as a doctor. It is equally certain that he taught himself many other skills and languages, in the libraries where he spent much of his time during his exile in Italy. While in Austria, Lenard 2 See Péter Siklós: Von Budapest bis zum Tal am Ende der Welt. Sándor Lénárds romanhafter Lebensweg. URL: http: / / mek.oszk.hu/ kiallitas/ lenard/ cv/ indexde.html (last access July 7, 2017). 3 Lynne Sachs: Alexander Lenard. A Family Correspondence. In: The Hungarian Quarterly 199 (2010), p. 93-104, here p. 94. Sachs also made an experimental documentary film, The Last Happy Days (2009), in which Lenard’s life as an exile is represented. 4 See Siklós: Von Budapest (footnote 2). 5 See Lenard: Die Kuh (footnote 1), p. 10. 6 Sándor Lénárd: Am Ende der Via Condotti Römische Jahre. Translated by Ernö Zeltner. München 2017, p. 173. This recent publication seems to attest a recent renewal of interest in Lenard’s work. In 2013 a Portuguese translation of Die Kuh auf dem Bast was published (Sándor Lénárd: O Vale Do Fim Fo Mundo. Translated by Paulo Schiller. S-o Paulo 2013) and in the same year an English translation of the Hungarian original of Am Ende der Via Condotti (Sándor Lénárd: Stories of Rome. Translated by Baczoni Márk. Budapest 2013). <?page no="118"?> „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ 117 married and had a son. With the Anschluss in 1938, however, Lenard deemed it safer to flee to Italy, leaving his ‘Aryan’ wife and son behind. Italy Lenard settled in Rome. 7 He learned Italian, but also Spanish, Dutch and Norwegian. In the beginning, everything seemed like a new adventure, and Lenard analyses it very lucidly, as the following quote illustrates: Ein neues Leben beginnen! Wer hat nicht schon einmal den Entschluss gefasst, sein Leben ganz neu anzufangen? […] Wenn du wirklich ein neues Leben beginnen willst, so packe dein Köfferchen und geh in ein fremdes Land. Geld nimm keines mit, denn früher oder später kaufst du dir damit doch nur dein altes Leben: besorgst dir deine Lieblingsbücher, die vertrauten Noten, korrespondierst mit alten Freunden, richtest dir deine Bleibe so ein, wie du sie schon immer gern mochtest. Du wirst wie daheim einen Schreibtisch haben, dazu die passende Lampe, und die gleiche Tinte benutzen, die gleichen Medikamente schlucken und Pflanzen um dich haben, deren Blüten dir auch früher gefielen. Hängst dir die Fotos der Eltern an die Wand, und deine alten Tagebücher wirst du natürlich bei dir haben. Aus den Gegenständen, die dich bisher begleiteten und die deine treuen Diener waren, steigt dein früheres Leben auf und stranguliert dein neues. 8 This was how Lenard saw his exile at first, as an opportunity to start his life all over again. If the start might have had something idyllic, soon the reality of having to live in a fascist state would catch up with him, even more so when the Nazis invaded Rome and Mussolini had lost control. During the whole of the war Lenard would be careful never to put his name on any piece of paper that would testify to his presence in Italy, a fact to which he would later attribute his survival. He hid working at the Vatican Library, doing research and translating from Latin. Being an intellectual jack of all trades, Lenard characterized his professionally unstable his life in Italy as follows: I was a kitchen boy; I measured blood pressure, going from house to house; I was the doctor of the Hungarian Academy in Rome; I was a beggar; I served as an anthro- 7 This part of the biography on the roman period of Alexander Lenard draws on Zsuzsanna Vajdovics (2005), who had personal contact with his widow. See in this context Zsuzsanna Vajdovics: Gli anni romani di Sándor Lénard. In: Annuario. Studi e Documenti Italo-Ungheresi. Roma-Szeged (2005). URL: http: / / docplayer.it/ 285414-Gli-anni-romanidi-sandor-lenard-in-annuario-studi-e-documenti-italo-ungheresi-roma-szeged-2005. html (last access: July 7, 2017). 8 Lénárd: Am Ende (footnote 6), p. 4-5. <?page no="119"?> 118 Philippe Humblé and Arvi Sepp pologist for the American Army, reassembling skeletons from tiny pieces at the foot of Machiavelli’s vineyard next to picturesque Mount Vesuvius … In addition, I wrote art history, archaeological, and medical dissertations behind the thick brick walls of the Biblioteca Nazionale and the Vatican Library […]. For a while, I played piano duets with a director of a bank in exchange for dinner, while his cook--who was more sensitive to my situation--stole potatoes for me from his pantry so that I would have something to eat the following day, too. I was the translator of the first post-war congress of dog-breeders. I had many patients […]. I treated the varicose veins of a bishop and ordered insoles for the flat feet of a superior when the founding saint of the order wasn’t willing to help … [Translation Helga Lénárt-Cheng] 9 Lenard fell in love with an Italian woman, Andrietta Arborio di Gattinara 10 , got involved in the Italian Resistance Movement but managed to survive the war unharmed. His brother, who had stayed in Austria, would not survive a death march at the end of the war. Andrietta Arborio bore Lenard a son in 1946. At the time, he was working in Naples for the U. S. Army as an interpreter and an anthropologist for the Graves Registration Service, identifying the remains of American soldiers killed in the war. He also wrote a number of vulgarizing books on medical topics, such as Il bambino sano e ammalato (1947) and Partorire senza dolore (1950). As Lenard himself would state in a letter to Klára Szerb, widow of Antal Szerb: “I lived in Rome for fifteen years, almost twice as long as in Budapest … and I know it INSIDE OUT .” 11 Zsuzsanna Vajdovics had the opportunity to ask Lenard’s widow about his relationship with the Italians: An exile without papers, illegal and indictable he seeks the company of his fellows, other exiles and émigrés, Hungarians and Austrians, Germans. He knows them well, 9 Helga Lénárt-Cheng: A Multilingual Monologue: Alexander Lenard’s Self-Translated Autobiography in Three Languages. In: Hungarian Cultural Studies 7 ( January 9, 2015), p. 337. 10 Lenard’s wife describes their first encounter as follows: “Un bel giorno mi apparve in ufficio uno strano tipo, molto scuro, con un vecchio loden e un cappellaccio tutto sformato. Il volto era quasi nascosto dai baffi, ma gli occhi … oh, i suoi occhi ardenti, teneri, dolorosi, indimenticabili. Era Sándor. Veniva a prendere dei testi da tradurre. Si trattava di didascalie da mettere sotto alle riproduzioni di radiografie dei polmoni, nella dispensa di un docente medico. […] Già la seconda volta che ci siamo visti, mi porge muto un foglio manoscritto con una poesia in tedesco, gira i tacchi e se ne va.” (Andrietta Arborio di Gattinara, quoted in Vajdovics: Gli anni [footnote 7], p. 3.) 11 Péter Siklós: The Klára Szerb - Alexander Lenard Correspondence. In: The Hungarian Quarterly 189 (2008), p. 42-61, here p. 53. For more information on Lenard’s biography, also see the interview with Klára Szerb: László Rapcsányi / Klára Szerb: Who Was Alexander Lenard? An Interview with Klára Szerb. In: The Hungarian Quarterly 189 (2008), p. 26-30. <?page no="120"?> „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ 119 after two exchanged phrases he knows what their political position is and if he can trust them. With Italians it was not so easy, and therefore, as a precaution, not knowing if they were Italian fascists or not, he tried to avoid them. His Italian friends are from the people: the barber, certain patients, the pharmacist, and later the comrades of the resistance, excellent people, but not men of letters. [Translation P. H. and A. S.] 12 True as this might be, it does cause some surprise that Lenard had no contact with the Italian intelligentsia. This would remarkably repeat itself in his next country of exile, Brazil. By 1951, and because of the Korean War, Lenard was convinced that a Third World War was looming. He, whose life had been shattered twice by war, did not want to take any risk and in spite of an offer to become a professor of History of Medicine in Budapest, he decides to emigrate: “I will not fight again / And I will stay, during the next war, absolutely neutral.” (Translation P. H. and A. S.) 13 Lenard had come to the conclusion that, even after the defeat of the Nazis, “[r]ace hatred not only survived, but also came out stronger than ever. Europe and the world found a new and holy pretext for hate.” 14 Brazil With his wife and his son, Lenard decides to emigrate to Brazil. The fact that he worked for the International Refugee Organization would make this decision easier. He worked for some time in a lead mine in Paraná as a male nurse, since his medical degree was not recognized, or inexistent. The story goes that he had to teach Latin to the children of a French chief-engineer and had the idea to translate Milne’s Winnie the Pooh into Latin. Not for long: “My idyllic existence came to an end when I was fired. I had suggested to the lead-poisoned miners and smelters to get the hell out of the place and that was not what the superintendent wanted me to do.” 15 He had previously used Winnie the Pooh to teach 12 “Un esule senza documenti, illegale e perseguitabile cerca la compagnia dei suoi simili, quindi di altri esiliati o emigrati, ungheresi o austriaci, tedeschi, p. li conosce bene, dopo due frasi scambiate sa perfettamente qual è la loro posizione politica e se può fidarsi di loro. Con gli italiani non era così facile, e quindi, per precauzione, non sapendo se si trattasse di italiani fascisti o meno, cercava di evitarli. Gli amici italiani sono del popolo, p. il barbiere, certi pazienti, il farmacista, e più tardi i compagni della resistenza, ottima gente, ma non uomini di lettere.” (Andrietta Arborio di Gattinara, quoted in Vajdovics: Gli anni [footnote 7], p. 7.) 13 “Io però questa volta non combatterò più/ E rimango, nella prossima guerra, assolutamente neutrale.” (Vajdovics: Gli anni [footnote 7], p. 8.) 14 See Sachs: Alexander Lenard (footnote 3). 15 Alexander Lenard: A Few Words About Winnie Ille Pu. In: The Hungarian Quarterly 199 (2010), p. 87-92, here p. 91. <?page no="121"?> 120 Philippe Humblé and Arvi Sepp English to an Italian member of the Resistance during the war. Lenard would work on this translation for seven years. When it was finally published and Lenard had already moved to a small village in the interior of the State of Santa Catarina, he writes to a cousin in the United States: Dear Cousin William, […] by the strangest chance of the world, I have become a best-selling author - or at least translator. Thanks to Winnie ille Pu. LIFE magazine has published an article about my life and work. […] For the first time since 1938, I dream about a settled life. At present, this is only a dream, because even after the publication of 84,000 copies in the USA , I have not received a contract for the book, let alone a cent. 16 Not only would the money for his translation eventually come. It was probably not a coincidence that in the remote village where Lenard had set up house, there happened to live a large community of German settlers, prosperous offsprings of the Germans who had immigrated in the midst of the nineteenth century, mainly from the Hunsrück region. 17 Thanks to a Bach contest, a composer of whom he knew a great deal, he was able to earn a money prize sufficient to buy a pharmacy, where he could practice as a doctor “sub specie apothecarii”. 18 In a letter to a family member in the US in 1970, Lenard confesses how, in spite of all his written manifestations of happiness with his new home, homesickness is never far away: Dear William, My son tells me that you are all living near to one another. Almost all of my life was a series of headaches and the rest was longing and homesickness. My headaches have passed but longing and homesickness are here more than ever and I envy those who can say “We are all at home.” - Abrasos [sic], Sándor. 19 In the context of this homelessness, intellectual reflection, reading, writing and learning, played an important role in attempting to come to terms with this continuous movement as a kind of mobiler Schreibtisch , an intellectual incarnation of a spiritual Heimat . 16 Ibid., p. 96. 17 See Jo-o Carlos Mosimann: Catarinenses: Gênese E História. Florianópolis / SC 2010. For more information on German settlers in Brazil, see Sebastian Kroener (Ed.): Das Hospital auf dem Palmenhof. Pionierarbeit im Siedlungsgebiet deutscher Einwanderer in Südbrasilien. Norderstedt 2016. In Karl Ilg’s appraisal of German-language pioneers in Brazil (and Peru), Lenard’s novel Die Kuh auf dem Bast is shown as an example of typical settler life. See Karl Ilg: Pioniere in Brasilien. Innsbruck / Wien / München 1972, p. 36. 18 Lenard: Die Kuh (footnote 1), p. 80. 19 Sachs: Alexander Lenard (footnote 3), p. 98. <?page no="122"?> „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ 121 III. The Performativity of Writing in Exile Alexander Lenard was a highly prolific writer. Being an outsider to the countries of exile made him crisply aware of their cultural specificities and differences. Indeed, the exilic condition of alterity and alienation forced him to view society in new, other ways. The experimental character of writing in exile, as Paul Michael Lützeler has it, is one of the major features of literary exile: Es ist das Außenseitertum, das den Blick für Neues schärft, die Experimentierfreude zur zweiten Natur macht, dazu befähigt, neue Fragen zu stellen und ungewöhnliche Wege zu gehen. Das Außenseitertum trug zur Vertreibung aus der Heimat bei, und es verliert sich nur selten im Exil. 20 In his numerous translations, poems, essays, and autobiographical novels, which will be presented below, Alexander Lenard voices the experience of cultural and linguistic plurality, seeking physical sovereignty and intellectual liberation in exile. 21 In Culture and Imperialism (1993), Edward Said highlights that liberation as an intellectual mission is very much incarnated by the migrant and he states that the consciousness of liberation “is that of the intellectual and the artist in exile, the political figure between domains, between forms, between homes, and between languages.” 22 20 Paul Michael Lützeler: Migration und Exil in Geschichte, Mythos, und Literatur. In: Bettina Bannasch / Gerhild Rochus (Eds.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur: Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin / Boston 2013, p. 3-25, here p. 7. 21 Alexander Lenard has hitherto encountered little interest in the literary field. Nevertheless, we would like to draw the reader’s attention to two text anthologies, in which Lenard is represented. Three poems of his are gathered in an anthology on Austrian exile poetry in Miguel Herz-Kestranek / Konstantin Kaiser / Daniela Strigl (Eds.): In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Lyrik des Exils und des Widerstands. Wien 2007 [Series Volume 21: Antifaschistische Literatur und Exilliteratur], p. 310-311. Additionally, one article (with an excerpt from Lenard’s Roman Stories and an unpublished poem, “For C.”) in an anthology of polyglot European writers is dedicated to Lenard in Kató Lomb: Harmony of Babel. Profiles of Famous Polyglots of Europe. Translated by Ádám Szegi. Edited by Scott Alkire. Berkeley / Kyoto 2013, p. 64-69. The prominent Hungarian novelist and dramatist György Spiró emphasizes in an interview how Lenard’s experience of exile has inspired him in his dramatic work: “He [Alexander Lenard] is a big guy whose tragic life gave me the theme for my latest play.” (György Spiró / Eve Maria Kallen: No politics, no ideology, just human relations. In: Hungarian Lettre 92 [2014], p. 4-7, here p. 6.) 22 Edward Said: Culture and Imperialism. New York 1993, p. 332. <?page no="123"?> 122 Philippe Humblé and Arvi Sepp Translations Lenard was active as a translator for the best part of his life. Among his translations we can mention Milne’s Winnie the Pooh into Latin, the Hungarian poets Petöfi, Babits and Heltai into German, Goethe’s Faust into Hungarian. German medicine books into Italian, Bonjour Tristesse by Françoise Sagan into Latin, Antal Szerb’s A királyné nyaklánca ( The Queen’s Necklace ) from Hungarian into German. He also translated György G. Kardos’s novel Avraham Bogatir hét napja ( Seven Days in the Life of Abraham Bogatir ) into German. 23 However, his most successful translation would become Winnie-the-Pooh , translated into Latin under the title Winnie Ille Pu , of which initially only 300 copies were printed in S-o Paulo by a Hungarian linotypist. Eventually 150,000 copies would run off the press. Translating would be of the utmost importance to Lenard’s intellectual survival or, as Zsuzsanna Vajdovics states: “Toute la vie de Lenard sera une succession de déplacements à la recherche de deux choses parmi les trois plus importantes: la paix et l’indépendance, mais au risque de perdre la troisième, la culture européenne. Traduire, c’est s’attacher à cette culture.” 24 Indeed, for Lenard, translation meant communicating the diversity of European culture. Poetry In a document with the title My Evolution as a Poet , written in 1946 in Hungarian and translated by Zsuzsanna Vajdovics into English, Lenard makes a slightly immodest reference to his poetical achievements. He states that he is convinced to be the greatest German poet of his time, but he adds: “Ady and Babits tower high above me. In Hungarian literature I would be a man of second or third category.” 25 Although Lenard wrote poetry for the best part of his life, his poetry was mostly of a romantic nature. Lenard always seemed to need a ‘muse’ to be poetically active. Remarkably, all of his poetry seems to have been written in German: Ex Ponto (1947), Orgelbuechlein (1947), Andrietta , Asche (1949), Die Leute sagen (1949), and Zwischen den Geistern und den Utopien (1951). 26 23 See the following article by Zsuzsanna Vajdovics for an enumeration of most of his translations: Zsuzsanna Vajdovics: Alexander Lenard: Portrait d’un traducteur émigrant. In: Atelier de Traduction 9 (2008), p. 185-191. 24 Ibid., p. 189. 25 “Ady e Babits torreggiano sopra di me. Nella letteratura ungherese sarei un uomo di secondo o di terz’ordine”. (Vajdovics: Gli anni [footnote 7], p. 6). Endre Ady (1877-1919) and Mihály Babits (1883-1943) were important Hungarian poets. 26 Ibid. <?page no="124"?> „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ 123 Essays Lenard was also an essay writer. Die römische Küche (1963), a book on Roman cuisine, can be considered as such an essay, since each section of recipes is accompanied by an unconventional and very high-brow introduction. 27 Lenard loved languages, a by-product of his lifelong wanderings. In Sieben Tage Babylonisch (1964), Lenard writes on seven ‘languages’, of which three refer directly to the Die Kuh auf dem Bast : Katharinensisch, Brasilianisches Portugiesisch and Botokudisch . The language which Lenard calls ‘Katharinensisch’ refers to the variety of German spoken in the already mentioned Brazilian state of Santa Catarina, colonized by German settlers as early as 1830. 28 Autobiographical novels Lenard surely made of his own life the main source of inspiration for his novels. In Die Kuh auf dem Bast he underlines that in light of the many upheavals in Europe, in light of displacement and dislocation, of war and dictatorship, European lives have turned into true odysseys: “Das Leben eines jeden Europäers ist in unserem Jahrhundert ein fertiger Roman, es muss nur jemand kommen, der ihn schreibt.” 29 Lenard’s books surely contain fictional elements, but these seem to be limited to the changing of proper names. In Die Kuh auf dem Bast , for instance, few of the place names really exist, but they are easily recognizable as possible fictional worlds. The mode of narrating can surely be described as realistic in their degree of accuracy, authenticity and detail. The widow of Antal Szerb, Klára Szerb, with whom Lenard maintained a longstanding correspondence, had encouraged him to write down his experiences in Rome before and during the war. A collection of reminiscences appeared as Római történetek, and was published, as mentioned earlier in this chapter, in a German translation from 2017 under the title Am Ende der Via Condotti . 30 Subsequently, Szerb urged him to describe a typical day in Brazil. 31 These reminiscences became Ein Tag im unsichtbaren Haus , sketching the author’s daily life in his house in Brazil. He wrote the book first in Hungarian, then translated it himself into German, as he used to do. Lenard’s most famous work, however, would be Die Kuh auf dem Bast . In 1963, Alexander Lenard published a collection of anecdotes on the village of his voluntary exile. Bast is a word used by 27 See Alexander Lenard: Die römische Küche. München 1963. 28 See Mosimann: Catarinenses (footnote 17). 29 Lenard: Die Kuh (footnote 1), p. 77. 30 See Lénárd: Am Ende (footnote 6). 31 Siklós: Klára Szerb (footnote 11), p. 48. <?page no="125"?> 124 Philippe Humblé and Arvi Sepp the German settlers in Brazil to indicate a ‘meadow’, the Portuguese word for ‘meadow’ being pasto . One of the focal points of the book is the transformation a language undergoes as soon as it crosses its cultural and linguistic borders. According to Helga Lénárt-Cheng (2015), Sándor Lenard’s niece, he wrote a first version of Die Kuh auf dem Bast in 1960 and the text would appear in instalments in the Stuttgarter Zeitung , to be eventually published by the Deutsche Verlags-Anstalt in 1963. In the same year, Lenard translated his book into English and Robert Graves, as a friend Latinist, would write an introduction. The English title The Valley of the Latin Bear was a reference to his translation of Winnie the Pooh , which had been on the New York Times bestseller’s list for twenty weeks. Four years after the German edition, a retranslation into Hungarian was published under the title Völgy a világ végén (Valley at the end of the world). 32 The Hungarian version of Die Kuh auf dem Bast was apparently very successful. In March 1967 Klára Szerb wrote to Lenard: “In this shop on Bartók Béla Road there were 50 copies just five days ago—today they had two left, but only because I rang to have them put aside for me. They asked whether I had any news of you, as you had ‘flown off the shelves! ’” 33 The village of Dona Emma, location of Die Kuh auf dem Bast , and which in the book is called Dona Irma, is about three hundred kilometres away from the state capital Florianopolis. It was founded by settlers of the Hanseatische Kolonisationsgesellschaft . Almost all its inhabitants are descendants of Germans up to this day and to some extent they still speak this particular form of German, Katharinensisch. In Sieben Tage Babylonisch , Lenard gives a few examples of this language: Nach dem Botschen gehen wir in die Wende, trinken Cachaça (lies: kaschassa) und essen einen Churrasco (Schurraskoh), und wenn gerade Domingueira (Domingeira) ist, tanzen wir. So ein Satz enthüllt uns schon die Entstehungsgeschichte der Sprache: „Wir gehen in das Geschäft, wir trinken Zuckerrohrschnaps und essen einen Braten, und wenn es eine sonntägliche Tanzunterhaltung gibt, dann tanzen wir“ - wollte der junge Deutschbrasilianer sagen und ist auch innig davon überzeugt, es gesagt zu haben: er hat ja gesprochen, wie er es von Maio und Paio, von Mutter und Vater, gelernt hat, und das waren doch Kinder deutscher Eltern! 34 There is no doubt that Lenard loves to live among the Hunsrückers surrounding him, but intellectually they are no match. This shows in their language: 32 Ibid., p. 43. 33 Siklós: Von Budapest (footnote 2), p. 43. 34 Alexander Lenard: Sieben Tage Babylonisch. Stuttgart 1964, p. 24. <?page no="126"?> „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ 125 Es ist für den Menschen, der gewohnt ist, in zehn- oder zwanzigtausend Wörtern zu denken, ein unschätzbares Experiment, sich längere Zeit einer Sprache von fünfhundert Wörtern zu bedienen. Es lehrt überzeugend, was wesentlich ist. Es lehrt eine subtile Ökonomie des Ausdrucks. Es lehrt, die Entfernungen abzuschätzen, die eine Sprache zurücklegen muss, bis sie eine Literatur besitzt. 35 The conclusion is that Lenard throws his own linguistic borders between the villagers and himself. In intellectual terms, none of the settlers is a valid interlocutor. Lenard, however, would write lyrically about his new Brazilian home, both in Die Kuh auf dem Bast and in Ein Tag im unsichtbaren Haus . Nevertheless, it is doubtful that he ever felt completely integrated. According to Lynne Sachs, a niece of the author who read the correspondence between Lenard and her father, Alexander Lenard was never able to adjust to the new world in Brazil and remained profoundly anchored in European culture: Always an exile, a victim of a kind of human “continental drift”, my cousin never felt “at home” in the synthesized postwar euro-culture he found in Brazil. Building a harpsichord on which to play Bach, reading thirteen languages and translating Winnie the Pooh into Latin allowed him to stay connected to an old-world life to which he would never return. 36 Indeed, Lenard’s forced displacement made him aware that homes are always provisional. In the context of exile, Edward Said states that borders and barriers can be means of oppression but also of safety, depending on the vantage point. Exiles, such as Lenard, reflect on the meaning and implications of geographical and political boundaries: “Borders and barriers, which enclose us within the safety of familiar territory, can also become prisons, and are often defended beyond reason or necessity. Exiles cross borders, break barriers of thought and experience.” 37 Exile, home, borders How must we understand Lenard’s stance towards his exile? Did he see himself as an exile or as someone who simply refused to go home? The word ‘exile’ does not appear in the German version even once. It does, however, in the English translation, by Lenard himself, on two occasions. In the first one, he speaks about the Hungarian poet Endre Ady: 35 Ibid., p. 40. 36 Sachs: Alexander Lenard (footnote 3), p. 94. 37 Edward Said: Reflections on Exile and Other Essays. Cambridge / MA 2000, p. 170. <?page no="127"?> 126 Philippe Humblé and Arvi Sepp Hungarian literature is represented by only one poet: Ady. He accompanies many a Hungarian in exile. He is, like the language itself, a common secret of those born on a linguistic island. It is impossible to translate a single line of his poems. In small doses he acts as an antidote against those symptoms of abstinence you note in visiting Hungarians who for some time have had no chance to speak their mother tongue, and which seem to me similar to the symptoms dope addicts describe if deprived of their drug. 38 This passage features in the Hungarian version as well. On another occasion, he speaks about Hungarian exiles, considering himself as one of them: Many Hungarians were forced into emigration by prewar and postwar persecution and had to earn a living. In exile one cannot live on diplomas, privileges, acquired rights, or inherited property. One has to rack one’s brain and invent a trade for himself. 39 It was, of course, true that Lenard could have gone back, probably not to communist Hungary, but still to Austria or Italy. There was most certainly a sense of homesickness and longing for a lost Heimat , as can be seen in the following examples from Die Kuh auf dem Bast : “Man lernt eine besondere Art der Erleichterung kennen, wenn man von den Tropen in die Subtropen kommt, und wenn man dort auf fünf-, sechs-, siebenhundert Meter ansteigt. Es fallen Lasten von den Schultern, es lösen sich Fesseln in den Lungen, und das Heimweh lässt nach.” 40 It might not be immediately clear what ‘climbing seven hundred metres’ can do to ease one’s longing for home, but we understand that Sehnsucht can surface all of a sudden. A smell could have the same effect: “Eine Königin bleibt immer Königin, der Rose ist zwischen Kuhstall und Weg die Krone nicht vom Haupte gefallen. Die lichtgelbe Teerose duftet so, dass sie das Heimweh stillt.” 41 Lenard does not miss a particular country, but European culture as a whole, represented in music, literature and science: “Das Heimweh verblasst in den Bibliotheken und verklingt auf der Orgelbank. Ich besitze die ‚Kunst der Fuge‘ und alle 48 Präludien und Fugen.” 42 There are a few other examples in the English version, that do not occur in the German version: I stop and take a deep breath, talking about my house, and I have to convince myself, first, that I am writing the truth. The house is not a dream. It stands two hundred 38 Alexander Lenard: The Valley of the Latin Bear. New York 1965, p. 80. 39 Ibid., p. 106. 40 Lenard: Die Kuh (footnote 1), p. 38. 41 Ibid., p. 39. 42 Ibid., p. 131. <?page no="128"?> „Die Kriege haben mein Leben bestimmt“ 127 paces from the road; there is a pasture in front of it; there are orange trees around it. The land belongs to me as far as the serra - four hectares, which have already borne good aipi and now have a handful of olive trees, a small vineyard, and a nut tree. To go with these I am going to plant red orange, chestnut, pear, and apple trees - all the fruits that can cure homesickness. 43 However, for Lenard to go back is not an option, and to praise one’s own situation is the next best choice: “Ich mag mein Holzhaus gerne, und ich wüsste keinen besseren Platz für jemand, der sich gleichzeitig nach Italien und nach Mitteleuropa sehnt.” 44 Lenard was obsessively convinced that a new war was threatening Europe and that this was a sufficient reason to stay away. Borders play an important role in this constant fleeing of man from threatening circumstances. They play an important role in Die Kuh auf dem Bast , although Lenard prefers to call it ‘periphery’. He translates both Grenze and Peripherie as ‘borders’ in The Valley of the Latin Bear . The threat, in other words, comes from the centre, from ‘civilization’, where paradoxically also many good things come from: Latin, Bach, Tiepolo, Rome. Civilization produces the nourishment of the mind, but harbours in its bosom its own destruction. There is a passage in the English version that is absent in German: “Now the outskirts of civilization are in even remoter areas; perhaps Donna Irma is one of them.” 45 The Mennonites, who live in Witmarsum, which Lenard renamed ‘Neu-Jericho’, have understood that they must keep away from the State by all means. In the book they are called the ‘Russians’, because they emigrated from Siberia to Latin America after the Bolshevist revolution: “Die ‚Russen‘ gehören nicht zu jenen, die etwas an die Peripherie geworfen hat; sie sind jene, die es an die Peripherie treibt.” 46 The Mennonites have no culture, have no Bach or Latin, but they understood that one has to live near a border, so as to be able to cross it when need arises, when the State threatens to take over: “Es essen nur jene Teile Brasiliens - und ist es anderswo anders? - die das tägliche Brot täglich erzeugen. Die Peripherie schützt vor dem Ungeheuer Staat, das Weizenfeld vor dem Ungeheuer Hunger.” 47 43 Lenard: The Valley (footnote 38), p. 157. 44 Lenard: Die Kuh (footnote 1), p. 155. 45 Lenard: The Valley (footnote 38), p. 170. 46 Lenard: Die Kuh (footnote 1), p. 175. 47 Ibid. <?page no="129"?> 128 Philippe Humblé and Arvi Sepp IV. Conclusion What is finally Lenard’s stance on borders as an intellectual outsider? Borders appear in two forms in Die Kuh auf dem Bast . Literally, as the boundary between one country and another. These borders protect people, as they protected Lenard when he left Austria for Italy. However, one has to cross them in time and be prepared to cross them again. Secondly, borders appear under the form of ‘peripheries’, the borders between civilization and non-civilization. These borders are the safest ones, because they allow people to remain invisible. In Rome, Lenard stayed on the periphery by avoiding to leave any trace with the official papers and documents that keep modern citizens tied together within the ‘imagined community’ of the State. Lenard went to look for a second ‘periphery’ when he sought shelter in the Brazilian hinterland. From this hindsight perspective, the story which Lenard tells about the Mennonites is significant. He slightly looks down on them for their lack of culture, but he admires them for their instinctive understanding that only by staying at the borders of civilization, they can preserve their distance from tyrants and war. When arriving in Rome at first, he thought that to start all over again, it was sufficient to cross a border and not take anything with you. Yet, he was confronted with the unattainability of this idea. In this context, in his 1993 Reith Lectures, Edward Said emphasizes how the exile is never able to be “fully adjusted” or to feel at home in the new countries of residence: “Exile for the intellectual […] is restlessness, movement, constantly being unsettled, and unsettling others. You cannot go back to some earlier and perhaps more stable condition of being at home; and, alas, you can never fully arrive, be at one in your new home or situation.” 48 Alexander Lenard’s autobiographical narratives of exile, especially in Die Kuh auf dem Bast , elucidate how the author’s longing for a sense of at-homeness was never to be fulfilled as he remained bound to an idealized concept of Europe and thus stayed at the margins of his host country Brazil. 48 Edward Said: Representations of the Intellectual: The 1993 Reith Lectures. New York 1994, p. 39. <?page no="130"?> „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 129 „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 1 Brief als wichtiges Medium im Exil am Beispiel des Briefwechsels der Familie Kollisch Olena Komarnicka, Poznan Dein lieber Brief war mir ein Trost aus tiefer Kümmernis. Margarete Kollisch an Otto Kollisch 2 I. Im Folgenden geht es darum, die Bedeutung des Briefes im Exil anhand des Briefwechsels der Familie Kollisch zwischen August 1939 und April 1940 zu veranschaulichen. Ihre Korrespondenz befindet sich in der Margarete Kollisch Collection und der Peter Kollisch Collection im Leo Baeck Institute in New York. 3 Des Weiteren betrachtet der Artikel den Brief einerseits als autobiografisches Zeugnis und zudem als wichtiges Medium bei der räumlichen Trennung der Gesprächspartner. Briefe sind die persönlichste Mitteilungsform. Bis zum 18. Jahrhundert war der Brief eine durch rhetorisch-stilistische Normen und Regeln fest konstituierte, hoch angesehene literarische Gattung. Briefeschreiben galt als eine Kunst, wie Dichtkunst und Redekunst. Unter dem Brief versteht man eine Mitteilung, die in einer schriftlichen Form von einer Person, dem Sender, an eine andere, den Empfänger, übermittelt wird. Eine räumliche Distanz, die den mündlichen Austausch unmöglich macht, veranlasst den Sender, selbst intime Inhalte in schriftlicher Weise mitzuteilen. Moritz Csaky betont, dass die Art der Anrede, bestimmte Floskeln, die verwendet werden oder die abschließende Grußformel die konkrete Lebenswelt einer ganz bestimmten Zeit reflektieren. Schreiber und Empfänger befinden sich in einem gemeinsamen Kommunikationsraum und tauschen sich in schriftlicher Form aus. Beide benutzen zum Teil unbewusst eine Metaphorik bzw. Codes, die 1 Brief vom 17. August 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 2 Ebd. 3 Mimi Grossberg half Eva Kollisch dabei, die Briefe des Vaters an die Mutter zu entziffern. <?page no="131"?> 130 Olena Komarnicka beiden geläufig sind und von beiden dekodiert werden können. Sie rekurrieren auf Personen oder Ereignisse, die nur beiden bekannt sind und berichten über Empfindungen und Gefühle. Briefe sind mehrdeutige Texte. Einem Tagebuch ist der Brief in dem Sinne ähnlich, als er unterschiedliche Ereignisse sorgfältig registriert. Zudem bietet der Brief Einblicke in die Prozesshaftigkeit von Gedanken und Überlegungen. Die unterschiedlichen Bedeutungen demonstrieren die kulturelle Aufladung von Texten, deren Schreiber sich im Prozess der Identitätskonstruktion befindet. Csaky weist auch auf die doppelte Re-Kontextualisierung im Zusammenhang des Mediums hin: Einerseits sind die Aussagen in ihrem sozial-kulturellen Kontext zu lesen, andererseits dienen sie als Material für die Rekonstruktion des Kontextes. Daraus resultiert ein intellektuelles und sozialbiografisches Netzwerk des Nicht-Ausgesprochenen, das den Brief kennzeichnet. 4 Für alle Formen des Briefes ist die Kommunikation zwischen räumlich getrennten Partnern ausschlaggebend. Man unterscheidet u. a. Geschäftsbrief, Privatbrief, Reisebrief oder Leserbrief. 5 Beim Privatbrief steht häufig die sachliche Mitteilung im Vordergrund, die aber eine vom Schreiber individuell geprägte Form enthält. Oft ist auch die Funktion der sachlichen Mitteilung mit einer Appell- und - vor allem - Bekenntnisfunktion gekoppelt: In seinen Briefen appelliert der Briefschreiber an die Einsicht und Vernunft des Empfängers oder befiehlt ihm sogar und versucht auf seine Handlungen einzuwirken. Privatbriefe werden von der Individualität des Briefschreibers geprägt. Zu betonen ist ferner, dass der private Mitteilungsbrief nach Inhalt und Zweck die Sphäre des Persönlichen manchmal überschreitet. Dies erfolgt durch die Erörterung allgemein menschlicher, weltanschaulicher, philosophisch-ästhetischer oder politischer Probleme. In solchem Fall macht der Verfasser von den der Briefform immanenten Möglichkeiten der Literarisierung Gebrauch. Zu beantworten ist auch die Frage, welche spezifischen Möglichkeiten der Wertung die Briefform, im Vergleich zur Abhandlung und zum Aufsatz, anbietet? Der Brief ist einerseits intimer, andererseits unverbindlicher als eine Abhandlung und erlaubt eine persönlich gefärbte, aber objektive Darstellung eines Themas. Als eine der Untergattungen des Briefs ist der Bekenntnisbrief zu nennen. In ihm steht der Schreibende als Bekennender im Vordergrund. Er benutzt diese Kommunikationsform als Medium der Selbstdarstellung. Für viele Menschen war der Brief die einzige Form schriftlicher Äußerung. Das Bekenntnis im Brief kann ebenfalls Ventilfunktion für den Schreibenden gewinnen. In Zeiten der 4 Moritz Csaky: Zwischen Oralität und Literalität. Überlegungen zum Brief aus einer kulturtheoretischen Perspektive. In: Andras F. Balogh / Helga Mitterbauer (Hg.): Der Brief in der österreichischen und ungarischen Literatur. Budapest 2005, S. 17-28. 5 Mehr dazu Horst Belke: Literarische Gebrauchsformen. Düsseldorf 1973, S. 142-157. <?page no="132"?> „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 131 Isolation und der Not, in Ausnahmesituationen, wie Emigration, Unterdrückung oder Krieg, ist der Brief oft das einzige verbleibende Ausdrucks- und Kommunikationsmittel. Er erlangt hierdurch einen hohen Grad an Authentizität und kann für den Adressaten zum Spiegel der Persönlichkeit des Briefschreibers werden. 6 Diese Funktion des Bekenntnisbriefes, privateste und intimste Form schriftlicher Äußerungen zu sein, erweckt oft das Interesse von Außenstehenden, insbesondere wenn es sich beim Verfasser um eine berühmte Persönlichkeit handelt. So kann es auch dazu kommen, dass die Briefe gegen den Willen ihres Schreibers bereits zu dessen Lebzeiten veröffentlicht werden. Es gibt auch postume Veröffentlichungen, die durch ein primäres Sachinteresse legitimiert werden. Dazu gehören Privatbriefe von Schriftstellern, Malern, Wissenschaftlern; sie können das übrige Œuvre ergänzen oder erläutern. Bei der Interpretation eines Briefes sind folgende Fragen von großer Bedeutung: Wer war der Briefschreiber? Wer war der Empfänger? Unter welchen Umständen entstand der Brief ? Vermittelt der Brief Informationen über den Briefschreiber, den Empfänger und die historischen Begebenheiten? Der Brief ist nicht nur etwas Persönliches und Subjektives. Briefe beinhalten auch Informationen über das soziale, politische, historische und kulturelle Umfeld des Senders, über Weltansichten der Zeit, in der dieser Brief verfasst wurde. Sie sind unbewusste Zeugen der ganz konkreten Lebensumstände und der spezifischen, kulturellen Lebenszusammenhänge. Briefe geben die authentische Situation des Schreibers wieder und vermitteln etwas von seinen individuellen Sorgen. Briefe beinhalten mehr, als sie konkret auszusagen scheinen. „Es ist der Vorzug und der Nachteil des Briefes“, so Georg Simmel, „prinzipiell den reinen Sachverhalt unseres momentanen Vorstellungslebens zu geben und das zu verschweigen, was man nicht sagen kann oder will.“ 7 Diese gattungstheoretischen Überlegungen sind auch für den Brief im Kontext von Exilerfahrungen bedeutsam: Der Gang ins Exil traf die Betroffenen meistens vollkommen unerwartet und unvorbereitet. Von heute auf morgen fanden sich die Exilanten, materiell meistens ungenügend abgesichert, in einem anderen Land wieder, in fremder Umgebung, einer völlig neuen Situation ausgesetzt. Die Verbindung zur Heimat war abgebrochen und eine rasche Rückkehr nicht zu erwarten. In dieser Situation bekam der Brief eine neue Bedeutung. Um Bericht zu geben von dem eigenen Schicksal, um zu erfahren, ob Freunde und Bekannte in Deutschland, bzw. Österreich (oder anderen besetzten Gebieten) 6 Vgl. ebd. 7 Georg Simmel: Exkurs über den schriftlichen Verkehr. In: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1908, S. 287. <?page no="133"?> 132 Olena Komarnicka geblieben sind, um die bedrückende Gegenwart bewältigen zu können, blieb oftmals lediglich die Möglichkeit der brieflichen Äußerung. Der Brief erhielt somit einen neuen, höheren Stellenwert; und es verwundert nicht, dass im Exil die Zahl der Briefe rapide stieg. Dabei änderte sich nicht nur der Stil der jeweiligen Verfasser, sondern auch der Inhalt. Im Exil schrieb man nicht anders, aber man schrieb andere Briefe. 8 Der Brief war ein Medium, das einem Emigranten half, verschlossene Grenzen zu überschreiten. Materielle Not und akute Lebensgefahr drängten viele Emigranten dazu, verzweifelte Bemühungen zu unternehmen, in ein anderes Land auszuwandern. Auf der Suche nach erträglichen Lebensbedingungen richteten sie den Blick über die jeweiligen Grenzen, sandten Briefe an Bekannte und Verwandte, von denen sie sich Kontakte, Auskünfte und sonstige Hilfestellungen erhofften. Solche Briefe aus dem Exil, so unterschiedlich sie ihrem Anlass oder ihrer Diktion nach auch sind, haben etwas gemeinsam: Ihre Verfasser, häufig Schriftsteller, sind durch ihr künstlerisches Werk bekannt geworden; ihre Briefe sind aus diesem Grund erhalten und wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der größte Teil der im Exil geschriebenen Briefe stammt jedoch von Menschen, deren Namen uns nicht bekannt sind, die ihr Schicksal erlebten und durchlitten, ohne dass Spuren davon geblieben sind. Dies gilt vor allem für den Teil der Bevölkerung, der emigrieren musste, weil er wegen seiner jüdischen Herkunft verschiedenen Verfolgungen ausgesetzt war. Die Auswanderung bzw. Flucht vollzog sich in mehreren Phasen. In jedem Fall aber bedeutete die Entscheidung, das angestammte soziale Umfeld zu verlassen, die Trennung von Familien - oft für immer. Häufig sind die Briefe erhalten oder bekannt geworden, die diese Trennung reflektieren. Wo sie vorliegen, erweisen sie sich als erschütternde Dokumente, aus denen Not, Schmerz und Angst sprechen, die eine in „brutalster Konsequenz der Gewalt und der Vernichtung verhaftete Politik über unschuldige Menschen brachte.“ 9 II. Margarete Kollisch, geb. Moller, „eine der besten deutschsprachigen Dichterinnen Amerikas - wenn nicht die beste“, kam am 8. Dezember 1893 in Wien zur Welt. 10 Sie besuchte das Mädchengymnasium, studierte acht Semester Germa- 8 Zum Briefwechsel im Exil siehe Frank Wende: Briefe aus dem Exil. In: Klaus Beyrer / Hans-Christian Täubrich (Hg.): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Heidelberg 1996, S. 172-183. 9 Ebd., S. 182. 10 „Vollendung der spätromantischen Lyrik“. In: Baltimore Correspondent, 21./ 22. Juni 1975. <?page no="134"?> „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 133 nistik, Anglistik und nebenbei Romanistik an der Universität Wien. Während des Ersten Weltkrieges tat sie Dienst als freiwillige Krankenschwester. 1923 heiratete sie den 1881 geborenen Architekten Otto Kollisch. 11 Bald kam der erste Sohn Stephan (später Stephen genannt) zur Welt, im Jahr 1925 die Tochter Eva und 1928 der jüngste Sohn Peter. Die Kollischs zählten zu den wohlhabenden Familien, wenngleich sie versuchten, diesen Wohlstand nicht zu zeigen, um den Neid der Nachbarn nicht unnötig zu erregen. An die Beziehung zwischen den Eheleuten erinnerte sich Eva Kollisch folgendermaßen: „Ich dachte, dass mein Vater meine Mutter liebte, auf seine Weise. Er bewunderte und verehrte sie; für ihn war sie die ‚Intellektuelle, Spirituelle‘ - die Dichterin.“ 12 Die Tochter ist der Meinung, dass ihre Mutter in der Ehe eher unglücklich war. In ihrem autobiografischen Roman Der Boden unter meinen Füßen schreibt sie: Die Aufgabe meinen Vater zu kritisieren, blieb mir überlassen: Ich war der „Hofnarr“, von meiner Mutter mit der Erlaubnis ausgestattet, die Wahrheit zu sagen. Ihr gegenüber konnte ich ihn laut als Tyrannen und Unterdrücker der Hausmädchen anklagen. Niemals stimmte sie zu oder widersprach. Ihr Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck, und sie sagte nie etwas, so nahm ich natürlich an, dass ich ihre Gefühle aussprach. 13 Otto Kollisch hatte zahlreiche Beziehungen mit anderen Frauen und war nur selten zu Hause. Nicht zu bezweifeln ist aber, dass er große Anstrengungen unternahm, um seiner Ehefrau nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich die Ausreise zu ermöglichen. Während der Novemberpogrome des Jahres 1938 erschienen SA -Männer in der Wohnung der Familie, um nach „jüdischen Büchern“ und Waffen zu suchen. 14 Auf Schritt und Tritt war die Judenfeindlichkeit zu spüren; insbesondere hatten jüdische Kinder in der Schule unter Erfahrungen der Ausgrenzung und Stigmatisierung zu leiden. Sie wurden ausgelacht, geschlagen, hatten Angst den 11 Eva Kollisch schrieb über ihren Vater: „Mein Vater war ein Tyrann […]. Um mich selbst anzuspornen sage ich solche Dinge wie: Hitler war Österreicher, mein Vater auch. Hitler war klein, mein Vater auch. Er hatte einen Schnurrbart, mein Vater auch. Hitler gestikulierte wild mit den Händen in der Luft, mein Vater auch. Natürlich weiß ich, dass dieser Vergleich absurd ist. […] Denn als ich 1933 oder 1934 die ersten Bilder von Hitler in der Wochenschau sah, wie er sich aufplusterte wie ein Hahn, schreiend, das Gesicht verzerrt, erinnerte er mich an meinen Vater.“ (Eva Kollisch: Der Boden unter meinen Füßen. Wien 2010, S. 72). 12 Ebd., S. 74. 13 Ebd., S. 75. 14 Vgl. ebd., S. 22. <?page no="135"?> 134 Olena Komarnicka Unterricht zu besuchen. Auch die Dichterin hat den Antisemitismus am eigenen Leib erlebt. 15 Die Tochter erinnerte sich an folgende Situation: Bald nach diesem Tag in den Bergen wurde meine Mutter geholt, um den Boden der Synagoge aufzuwaschen, bevor diese zu einem Pferdestall gemacht wurde. Das war ein lokaler Zeitvertreib geworden. Jeden Tag wurde eine Handvoll Jüdinnen von ihren Nazi-Nachbarn zusammengetrieben, um dieses Schauspiel zu bieten. Es galt als amüsant, diese wohlhabenden Damen, von denen die meisten arische Dienstmädchen gehabt hatten, auf Händen und Knien zu sehen. 16 Der Familie Kollisch wurde sehr schnell klar, dass eine Flucht die einzige Rettung war. Die Lyrikerin bereitete sich auf die Emigration vor, indem sie vom 1. Dezember 1938 bis 1. Juli 1939 einen Massagekurs besuchte. 17 Die Eltern brachten Eva und Peter in jüdische Internate, um während dieser Zeit Visa und Affidavits für die Ausreise zu besorgen. 18 Ein Verwandter, der schon früher in die Vereinigten Staaten ausgereist war, ermöglichte auf diese Weise die Einreise in das Land. Die Geschwister wurden im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach England gebracht. Die Zeit zwischen August 1939 und April 1940 war besonders schwierig für die Familie. Wie bereits erwähnt, gelangten die Kinder mit einem Kindertransport nach England. Otto Kollisch kam als erster nach England; die Dichterin musste leider in Baden warten, weil sie vom Britischen Konsulat noch keinen Pass erhalten hatte. Aus den Briefen der Dichterin sprechen jedoch Tapferkeit und Mut. In den Briefen ihres Mannes ist Menschlichkeit dominantes Gefühl. Neben der Angst um das Leben seiner Ehefrau, findet man auch Nachrichten über den Besuch bei den Kindern, die von großer Liebe und Zuneigung zeugen. Die Briefwechsel zwischen den Eheleuten und der Kinder mit den Eltern stellen unter Beweis, wie schwer und sehnsuchtsvoll diese Monate für alle Familienmitglieder waren. Der Brief war das einzig mögliche Kommunikationsmedium; nur durch ihn konnten die getrennt Lebenden Lebenszeichen übermitteln. Private Briefe voller Hoffnung und Intimität waren nicht für ein Publikum bestimmt, sie enthielten viele persönliche Informationen. Die Briefe der Dichterin sind voller Zuversicht, dass die Ausreise doch noch gelingen und die Familie 15 Die Situation hat die Dichterin in einer Kurzgeschichte I scrubbed for the Nazis beschrieben (Short Stories - English; Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 36, LBI). 16 Kollisch: Der Boden (Anm. 11), S. 21. 17 Zeugnis des Altersheims der israelitischen Kultusgemeinde Wien, befindet sich im Nachlass der Dichterin (Official Papers and Letters of Reference, 1911-1939. Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 10, LBI). 18 Stephan war bereits vierzehn Jahre alt und damit zu alt, um in die Schule zu gehen. <?page no="136"?> „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 135 wieder vereint sein könnte. In einem Schreiben vom 21. August 1939 teilte Margarete ihrem Ehemann mit: Ich bin froh, dass Du und unsere süßen Schätze dort seid, ob ich noch hinkomme ist fraglich, aber mit Gottes Hilfe werden wir uns wiedersehen. […] Wie Du wohl weißt, arbeitet das hiesige Brit. Cons. derzeit nicht. Dabei liegt mein Pass samt Schiffskarte seit Montag dort. Man versprach mir die Papiere rek. zu senden. […] und will die Hoffnung nicht aufgeben, meine Papiere wiederzubekommen. 19 Die Autorin verbrachte den Kriegsanfang in der Heimat. Auch der Bruder Leopold Moller machte sich Sorgen um seine Schwester, so offerierte er seinem Schwager unter anderem auch finanzielle Hilfe: Die Ereignisse überstürzen sich u. ich habe leider nicht viel Hoffnung, dass Du morgen die arme Gretl in die Arme wirst schließen können. […] Es gehen noch einige Dampfer nach Amerika. Ich rate Dir dringendst, Dich um eine Fahrkarte schnellstens zu bemühen; was Dir an Geld fehlen sollte, will ich Dir gern schicken. Ich halte das für ganz dringend, denn in England wirst Du interniert, aller Voraussicht nach, u. auch wenn Du nach einiger Zeit herauskommen solltest, kann es sehr lange dauern, bis Du nach USA kommst. […] Bitte, überlege Dir das ganz genau und schnellstens, es ist der einzige u. beste Rat, den ich Dir geben kann, auch im Interesse Deiner Kinder. 20 Poldi Mollers Brief entstand am 1. September 1939, dem Tag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. 21 Mit den unterstrichenen Wörtern „dringendst“, „ganz dringend“ und „schnellstens“, wusste der Absender anzudeuten, dass es die letzte Chance war, das Land zu verlassen und nach Amerika auszureisen. 22 Wenn es seiner Schwester nicht gelänge, aus Österreich zu fliehen, würde Otto Kollisch allein die Flucht antreten, damit den Kindern wenigstens ein Elternteil blieb. 19 Brief vom 21. August 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 20 Brief vom 1. September 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 21 Die Familienmitglieder nannten ihn Poldi. 22 Auch Eva Kollisch hat in dem Brief vom 2. September 1939 den Vater gebeten, London so schnell wie möglich zu verlassen. Schon zwei Tage später äußerte sie ihre Angst, dass der Vater nach Amerika fährt, mit folgenden Worten: „Papa, ich hab so Angst, weil Du nach Amerika fährst. Hast Du nicht gehört, daß die Deutschen heute ein Passagierschiff, das von England nach N. Y. geht, versenkt haben.“ (Brief vom 4. September 1939 [Children - Peter, Stephen and Eva Kollisch -, 1939-1940. Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 16, LBI].) <?page no="137"?> 136 Olena Komarnicka Eva Kollisch bezweifelte in ihrer Autobiografie eine tiefe emotionale Verbundenheit zwischen ihren Eltern. 23 Sie kritisierte ihren Vater und äußerte die Vermutung, dass die Mutter mit ihm nicht glücklich war. Die Briefe zwischen den Eheleuten bezeugen aber das Gegenteil. Sie sind stets liebe- und hoffnungsvoll. In einem Schreiben äußerte Margarete Kollisch die Hoffnung auf das baldige Wiedersehen mit folgenden Worten: „Mein g. Ki.! Lebʼ wohl, ich kann Dir nichts mehr sagen als, bleibʼ gesund und hoffentlich, hoffentlich, auf Wiedersehen! ! ! “ 24 Auch in den Briefen von Otto Kollisch sind Liebe und Sehnsucht zu spüren: „Sei innigst umarmt und geküsst, und küsse mir die Kinder und komm rasch und gesund hierher.“ 25 An anderer Stelle heißt es: Ich habe doch die stille Hoffnung, dass Du doch rechtzeitig nach Holland gelangen kannst. Wie weiß ich zwar nicht, aber man hofft ja immer. […] Nun wollen wir zu Gott hoffen, dass diese Prüfung für alle Menschen vorübergehe und wir bald wieder vereint sind. 26 In vielen der hier angeführten Auszüge wendet sich die Dichterin an Gott. Für sie kann einzig Gott die Welt von der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten befreien. Die ersten Septemberwochen des Jahres 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen haben die Bevölkerung Europas und die Menschheit insgesamt überrascht. 27 Kaum einer hat erwartet, dass der Krieg lange dauern würde. Einige Wochen später hat sich diese Erwartung für Familie Kollisch, wie für viele andere, als Illusion erwiesen. Auch Otto Kollisch hat eine solche Entwicklung der Ereignisse nicht erwartet und schreibt an seine Frau - bereits an Bord des U. S. 23 Eva Kollisch scheint aber zu einem anderen Schluss gekommen zu sein: „Und ich, die ich diese Sätze meiner Eltern niederschreibe, aufmerksam für jede Pause, jeden Beistrich, jedes Wort, das gesagt oder nicht gesagt wurde, höre sie plötzlich wie nie zuvor, liebe sie, verstehe sie, bewundere sie und fühle mich schäbig wegen all des vergangenen Zornes, den ich nicht loslassen konnte, besonders meinem Vater gegenüber, im Licht solch herzzerreißender Zeugnisse der Liebe - ihrer Liebe zueinander und ihrer Liebe zu uns Kindern.“ (Eva Kollisch: Der Boden unter meinen Füßen. Wien 2010, S. 137.) 24 Brief vom 21. August 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 25 Brief vom 10. Oktober 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 26 Brief vom 2. September 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 27 Eva Kollisch schrieb ihrem Vater nach dem Kriegsanfang: „Alle Leute hier sagen, daß dieser Krieg 6 Monate höchstens ein Jahr dauern wird. Dann wird das Altreich aufgeteilt u. Österreich bleibt das alte. Vielleicht kommen wir dann wieder zurück.“ (Children - Peter, Stephen and Eva Kollisch -, 4. September 1939. Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 16, LBI.) <?page no="138"?> „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 137 Schiffes American Merchant : „14 Tage sind seit dem Zusammenbruch aller Hoffnungen der Menschheit vergangen und das Schreckliche ist eingetreten, woran wir nicht glauben konnten und wollten.“ 28 Aus diesen Zeilen spricht nicht nur die Trauer über die entstandene Lage, sondern auch tiefe Bitterkeit über eine Welt, die dem Untergang entgegenstrebt und sich dessen noch rühmt. Die Sorgen um die Ehefrau und Gewissensbisse, sie alleine zurückgelassen zu haben, kommen in der Korrespondenz Otto Kollischs zum Ausdruck: Ich sah das alles ein, wenn sich auch alles in mir sträubte, die Reise allein, ohne Dich, anzutreten, und zunächst gar nichts für Dich tun zu können. […] So wirst Du wenigstens beruhigt sein, dass ich alles was in meinen schwachen Kräften steht, tun werde und tun will, um Dich und meine Kinder baldigst wiederzusehen. 29 Auch in den folgenden Briefen macht er sich Vorwürfe, nicht bei seiner Ehefrau geblieben zu sein, obwohl die Entscheidung in die USA zu reisen, gut für die Kinder war: 30 Dein Cabel vom 1. Oktober war mir eine Erlösung von der quälenden Ungewissheit und den Selbstvorwürfen, dass ich nicht, (wie ich erst wollte) in London blieb und gleich für Dich alles eingeleitet hätte. Wir hätten uns beide viel Kummer und Leid ersparen können. 31 Die Lyrikerin versuchte, ihren Ehepartner zu beruhigen, indem sie Folgendes schrieb: „Also, mein Lieb, habʼ keine Sorge um mich, eines Tages werde ich Dir s. G. w. in die Arme fliegen.“ 32 Die Tochter Eva machte sich ebenfalls große Sorgen um die Mutter. Gegenüber dem Vater bekannte sie: „Sag Papa gibt es keine Möglichkeit mehr um die Mutti rauszukriegen, wirklich keine? […] Kann sie nicht irgendwie über Italien raus, da müssen doch Züge gehen.“ 33 Sie war auch um die Gesundheit des Vaters besorgt, so heißt es weiter: „So furchtbar schwer es auch Dir und uns allen fällt, 28 Brief vom 17. September 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 29 Brief vom 17. September 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 30 Eva schrieb dem Vater in einem Brief: „Bitte Papsch mach Dir keine Vorwürfe, das ist doch Blödsinn, es ist absolut nicht Deine Schuld, daß unsere Mopsch nicht kommen kann.“ (Brief vom 4. September 1939. [Children - Peter, Stephen and Eva Kollisch -, 1939-1940. Margarete Kollisch Collection, AR 25058, box 1, folder 16, LBI].) 31 Brief vom 10. Oktober 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 32 Brief vom 28. August 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 33 Brief vom 2. September 1939 (Children - Peter, Stephen and Eva Kollisch -, 1939-1940. Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 16, LBI). <?page no="139"?> 138 Olena Komarnicka Du darfst Dich nicht zu viel aufregen, weil wir 3 einen gesunden u. für seine Jahre jungen Vater brauchen und die Mutti braucht einen gesunden Mann.“ 34 Anfang Oktober 1939 war die Emigrantin bereits in Amsterdam und ihr Mann auf Staten Island. 35 Sie konnte sich ein wenig beruhigen, weil sich Otto Kollisch bereits in Amerika befand und sie ebenfalls das Deutsche Reich verlassen hatte. Allerdings bedeutete der Aufenthalt in Holland nur relative Sicherheit. 36 Mit großer Ungeduld wartete sie auf die Ausreise: „[…] nur die Sehnsucht ist namenlos. Wenn ich nur schon bei Dir sein könnte! […] Gebe Gott dass wir doch in absehbarer Zeit wieder alle vereint werden.“ 37 Jede Nachricht von ihrem Geliebten war für sie ein Hoffnungsfunke. 38 Otto Kollisch antwortete: „[…] aber nun scheint mir die Sonne wieder hell, und ich schreibe Dir sofort, wenn ich auch nicht weiß, ob Dich diese Zeilen noch erreichen werden.“ 39 Ihre Hoffnung auf Besserung der Lage erfüllt sich schließlich: Mitte Oktober gelang es auch der Dichterin, den europäischen Kontinent zu verlassen. Ein weiteres Problem, das die Familie zu lösen hatte, war die Ausreise der Kinder aus England. Auch die Geschwister wollten so schnell wie möglich in die Vereinigten Staaten einreisen. Eva berichtete ihrem Vater: „Ich bin fast gar nicht traurig, weil ich doch weiß, daß ich entweder nach Amerika oder nach 34 Ebd. 35 Die Dichterin beschrieb die Stadt wie folgt: „Amsterdam ist eine schöne Stadt, ein nordisches Venedig mit lieben alten Giebelhäusern an den Grachten, herrlichen Lebensmittelgeschäften und wahnsinnig viel Radfahrern. Hier radelt alles, Krankenschwester, alte Damen, Liebespärchen fahren eingehängt, Schulmädeln halten sich bei der Hand, alle sehen aus als ob sie viel Zeit hätten.“ (Brief vom 12. Oktober 1939 [Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI].) 36 Otto Kollisch war sich dessen auch bewusst und bestand darauf, dass die Autorin so schnell wie dies möglich wäre, das Land verließe: „Eben kommt Viktor nach Hause […] und nach erhaltenen Informationen empfiehlt, alles daranzusetzen, um mit dem nächsten Schiff abzureisen, egal, was und wie. Es könnte sein, dass Du sonst keine Möglichkeit mehr hast herüberzukommen, weil hier Besorgnis entstand, dass Holland nicht mehr lange neutral sein wird. Man spricht vom Ende dieses Monats.“ (Brief vom 10. Oktober 1939 [Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI].) 37 Brief vom 5. Oktober 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 38 Den letzten Brief von Margarete Kollisch an ihren Geliebten fasst sie mit folgenden Worten zusammen: „Mein Bericht lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Hoffnung, Enttäuschung, Sehnsucht.“ Brief vom 12. Oktober 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). 39 Brief vom 10. Oktober 1939 (Correspondence between Margarete and Otto Kollisch, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). <?page no="140"?> „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 139 Bristol komme“. 40 Obwohl die Kinder versuchten, ihre Eltern zu beruhigen und ihnen einzureden, dass sie sich in den Gastfamilien wohl fühlten und es ihnen gut ginge, spürt man in den Briefen, insbesondere denen der Tochter, die große Sehnsucht nach den Eltern und einem gemeinsamen Leben. Eva schrieb an ihre Eltern: „Ich weiß nicht was ich noch schreiben soll, außer, daß ich sehr viel an Euch denke u. stark hoffe, bald mit Euch vereint zu sein.“ 41 Sie schrieb öfter als ihre Brüder. Der jüngste Sohn Peter hat vorwiegend Englisch geschrieben, da er in deutschsprachigen Briefen viele Fehler machte. Als sich das Ehepaar bereits gemeinsam auf Staten Island befand, versuchte die Autorin ihren Kindern so oft wie möglich zu schreiben, um sie zu unterstützen. Schließlich lebten die Kinder in einem fremden Land unter den fremden Menschen. Eva Kollisch schrieb in ihrem autobiografischen Roman, dass ihre Brüder das Glück hatten, von einer wohlmeinenden Familie aufgenommen worden zu sein, während sie von ihrer Gastfamilie wie ein Dienstmädchen behandelt wurde. 42 Später übersiedelte sie nach Bristol und konnte so in der Nähe der Brüder leben; vor allem aber wurde sie von der neuen Gastfamilie freundlicher behandelt. 43 In ihren Briefen versuchte die Autorin, die Kinder auf das Leben in den USA vorzubereiten. Sie suchte Freunde und eine Schule für sie und betonte die Vorteile der neuen Heimat. Sie verglich den neuen Ort mit der Heimatstadt, um die Kinder mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. In einem Brief hieß es: „Unsere Straße erinnert bei Schnee an den obern Teil der Dörflergasse oder an die Dunbargasse.“ 44 Auch plante die Familie, sich der jüdischen Gemeinschaft anzuschließen. So teilte Margarete Kollisch ihren Kindern mit: 40 Brief vom 24. August 1939 (Children - Peter, Stephen and Eva Kollisch -, 1939-1940. Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 16, LBI). 41 Brief vom 14. Oktober 1939 (Children - Peter, Stephen and Eva Kollisch -, 1939-1940. Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 16, LBI). 42 „Für gewöhnlich behandelten sie mich wie eine Dienerin; sie gaben mir kaum Essen, gaben mir die Hühnerflügel, die verbrannte Toastrinde. Ich musste auf dem Dachboden schlafen, im selben Bett wie die uralte Großmutter, obwohl es im Haus leere Zimmer mit Betten gab, und, da Frühling war, die Heizung nicht wirklich ein Problem gewesen sein konnte.“ (Eva Kollisch: Der Boden unter meinen Füßen. Wien 2010, S. 78.) 43 In einem Brief berichtete Eva ihren Eltern: „Also mir geht es wie ihr ja jetzt immer hören könnt ausgezeichnet. Ich hab keine Lust Euch jetzt wieder von Mrs. B. vorzuschwärmen aber sie ist genau so nett wie früher.“ (Brief vom 7. Dezember 1940 [Children - Peter, Stephen and Eva Kollisch -, 1939-1940. Margarete Kollisch Collection. AR 25058, box 1, folder 16, LBI].) 44 Brief vom 18. Februar 1940 (Correspondence between Margarete Kollisch and children, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). <?page no="141"?> 140 Olena Komarnicka In unserer Nähe ist der Jewish Center, ein hübsches Gebäude mit Gymnasium u. swimming pool, Vortragssälen, Bühne, etc. Falls wir uns leisten könnten Mitglieder zu werden, hättet Ihr dort vielerlei Anregungen und Vergnügen. Es hat keinerlei Ähnlichkeit mit der Grabengasse. 45 Im April 1940 überquerte Peter mit den Geschwistern den Atlantik. Ihr Traum ging in Erfüllung: die Familie war auf Staten Island vereint. Wichtig ist es, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Briefe nicht nur als Quellen zur Rekonstruktion einer Biografie verstanden werden können, sondern als Medien, die Räume der Selbstinszenierung eröffnen und damit die Konzeptualisierung von Ich-Identität ermöglichen. An ihrem Beispiel zeigt sich auf beklemmende Weise, wie der Brief für Menschen in der Not und Isolation des Exils zum einzig verbliebenen Mitteilungsweg wird. Auf den ersten Blick scheint die hier vorgestellte Korrespondenz aus ganz normalen Briefen zu bestehen, wie sie zwischen engen Verwandten immer und überall geschrieben wurden. Zwischen den Zeilen sind jedoch der unausgesprochene Wunsch nach einem Ende der Trennung und die Hoffnung auf ein Wiedersehen deutlich zu erkennen. 45 Brief vom 18. Februar 1940 (Correspondence between Margarete Kollisch and children, 1939-1940. Peter Kollisch Collection. AR 10717, box 1, folder 4, LBI). <?page no="142"?> „Immer sind meine Gedanken bei Dir.“ 141 Historische Perspektivierungen <?page no="144"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 143 Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit Gerda Lerners (geschichts)wissenschaftliches Wirken als gesellschaftspolitisches Engagement Anna Corsten, Berlin und Gießen Denn die einen sind im Dunkeln Und die anderen sind im Licht. Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht. 1 I. Historikerin auf Umwegen-- Einleitung Nicht nur für die Frauenrechtsbewegung war es ein langer Weg, bis sie ihre Forderung nach der Emanzipation der Frauen durchsetzen konnte. Auch innerhalb der Geschichtswissenschaft wurde die Rolle der Frauen lange Zeit unterschätzt. Der Prozess, an dessen Ende die Frauen als Teil der US -amerikanischen Geschichtsschreibung betrachtet und anerkannt werden sollten, war langwierig und hart umkämpft. Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess nahm die Historikerin Gerda Lerner (1920-2013) ein, die seit mehreren Jahrzehnten als Patin, häufig sogar als Pionierin, der Frauengeschichte genannt wird. 2 Mit sechsundvierzig Jahren begann Lerners Karriere als Historikerin, nachdem sie bereits als Verkäuferin, Schneiderassistentin, Hausmädchen und Röntgenassistentin gearbeitet hatte und nach der Geburt ihrer beiden Kinder als Hausfrau tätig war. Als Gerda Hedwig Kronstein wurde sie 1920 in Österreich während der Wirren der Nachkriegszeit als erste von zwei Töchtern in eine wohlhabende, jüdische Apotheker-Familie hineingeboren. Sie verbrachte eine behütete Kindheit und Jugend in Wien, rebellierte allerdings bereits früh gegen die Zwänge, die ihr 1 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. Nach John Gays „The Beggarʼs Opera“. Berlin 1980, S. 109. 2 Vgl. Eileen Boris / Nupur Chaudhuri (Hg.): Voices of women historians. The personal, the political, the professional. Bloomington / IN 1999; Barbara Schaeffer-Hegel: Gerda Lerner (geb. 1920). In: Hans Erler / Ernst L. Ehrlich / Ludger Heid (Hg.): „Meinetwegen ist die Welt erschaffen.“ Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums 58 Portraits. Frankfurt am Main / New York 1997, S. 505-512. <?page no="145"?> 144 Anna Corsten Vater ihr aufgrund des Standes der Familie auferlegt hatte. 3 1938 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Liechtenstein. Ein Jahr später folgte sie ihrem Verlobten Bobby Jensen in die Vereinigten Staaten. 4 Als sie 1943 die US -amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, trat sie der Kommunistischen Partei ( KP ) und dem Congress of American Women ( CAW ) bei. Während sie die KP nach einigen Enttäuschungen verließ, setzte sie sich weiterhin in der Frauenbewegung und später in der Bürgerrechtsbewegung ein. Was bewegte Lerner dazu, sich mit sechsundvierzig Jahren dem Studium der Frauengeschichte zuzuwenden? In welchem Verhältnis steht ihr politisches Engagement, das weit früher begann, zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit? Welche Rolle spielen ihre Erfahrungen als von den Nationalsozialisten verfolgte Jüdin und als Immigrantin in den USA für ihr späteres Wirken? Der vorliegende Beitrag beleuchtet Lerners Lebensgeschichte ausgehend von dem Beginn ihrer Karriere. Im Vordergrund stehen ihre Leistungen und ihr Wirken innerhalb der US -amerikanischen Geschichtswissenschaft, wobei ein besonderer Fokus auf ihrer Entwicklung zur Pionierin im Bereich der Frauengeschichte liegt. Während in den USA verschiedene Artikel (besonders in Form von Nachrufen) zu Gerda Lerner erschienen sind, existiert im deutschsprachigen Raum nur eine Handvoll Aufsätze. 5 Dabei liegen die Schwerpunkte der englisch- und der deutschsprachigen Arbeiten in der Regel auf ihrem wissenschaftlichen Schaffen und ihren politischen Aktivitäten. Dieser Beitrag interpretiert Lerners wissenschaftliches und gesellschaftliches Wirken vor dem Hintergrund ihrer biografischen Erfahrungen. Dazu wird auf den in der Schlesinger Library des Radcliffe Institute for Advanced Study an der Harvard University verfügbaren Nachlass von Gerda Lerner und den Teilnachlass ihrer Familie im Leo Baeck Institute in New York sowie auf autobiografische Schriften zurückgegriffen. Auf diese Weise soll ihr persönlicher und wissenschaftlicher Werdegang vor dem historiografischen Standpunkt als Geschichte der „women as force in history“ (Mary Beard) gelesen werden. 6 3 Vgl. Gerda Lerner: Feuerkraut. Eine politische Autobiografie. Wien 2014, S. 30-36. 4 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Biographical Statements, o. D., MC 769, Box 1, Folder 3, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 5 Vgl. Alice Schwarzer: Alice Schwarzer porträtiert. Vorbilder und Idole. Köln 2003; Schaeffer-Hegel: Gerda Lerner (Anm. 2); Annette Kuhn: „Worauf es in der Geschichte ankommt.“ Die Historikerin und Feministin Gerda Lerner. In: Beate Kortendiek / Senganata Münst / Sigrid Metz-Göckel (Hg.): Lebenswerke. Porträts der Frauen- und Geschlechterforschung. Opladen 2005, S. 80-99. 6 Vgl. Gerda Lerner im Gespräch mit Alice Schwarzer, „Ich bin ein Alien“. 1. Mai 2000. URL: http: / / www.emma.de/ artikel/ gespraech-mit-gerda-lerner-ich-bin-ein-alien-266112 (zuletzt abgerufen am 17. Juni 2017). <?page no="146"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 145 II. Gerda Lerner als Patin der Frauengeschichte Everything that explains the world has in fact explained a world that does not exist, a world in which men are at the center of the human enterprise and women are at the margin „helping“ them. Such a world does not exist - never has. 7 Gerda Lerner machte es sich zum Ziel, die aktive Rolle von Frauen in der Geschichte hervorzuheben. Frauen waren für sie keine Opfer oder Randfiguren der Geschichte, im Gegenteil: „Gerda believed women could change the world, and that idea proved to be contagious.“ 8 Bereits als Jugendliche hatte sie sich gewünscht, nach dem Matura zu studieren, doch der „Anschluss“ Österreichs und die notwendige Emigration ließen dies nicht zu. Als sie 1939 in New York ankam, war das dringlichste Ziel, eine Arbeit zu finden, um genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. 9 Zwanzig Jahre später sollten ihre finanzielle Situation und die fast erwachsenen Kinder es ihr erlauben, das lang ersehnte Studium aufzunehmen. Unmittelbarer Anlass war ihr Gefühl, als Schriftstellerin nicht genug erreicht zu haben - den Wunsch Schriftstellerin zu werden, hatte sie bereits als Jugendliche gefasst. Zwar konnte sie einige Kurzgeschichten und einen Roman veröffentlichen; Letzterer erschien aber zunächst 1953 nur im deutschsprachigen Raum unter dem Pseudonym Margarete Rainer, nicht in den Vereinigten Staaten. Alle fünfzehn Verlage in den USA , an die sie das Manuskript von No Farewell (der deutsche Titel lautet Es gibt keinen Abschied ) gesendet hatte, lehnten dieses mit der Begründung ab, der Faschismus sei bereits oft genug Thema von Romanen gewesen. Da es Lerners Ziel war, eine US -amerikanische Schriftstellerin zu werden, empfand sie dies als Niederlage. Nachdem kein Verleger ihren zweiten Roman, in dem sie sich bewusst dem „amerikanischen“ Thema der Rassenintegration im New Yorker Wohnungswesen zugewandt hatte, veröffentlichen wollte, beschloss sie, zusätzliche Fähigkeiten zum Schreiben zu erlangen. 10 Lerner begann ab 1959, Abendkurse an der New School for Social Research zu belegen, wobei sie sich zunächst besonders für englischsprachige Literatur und Grammatik interessierte. Auf diese Weise wollte sie ihren Schreibstil ver- 7 Gerda Lerner: Gerda Lerner on the Future of Our Past (September 1981). Ms.(HQ1101. M55) 10: 94, 95. 8 Nancy Isenberg: Life with Gerda. In: Journal of Women’s History 26 (2014), S. 24-26, hier S. 26. 9 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 20. Mai 1981, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 10 Vgl. Lerner: Feuerkraut (Anm. 3), S. 498-503. <?page no="147"?> 146 Anna Corsten bessern. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich vorgenommen, einen historischen Roman über die Schwestern Sarah Moore Grimké (1792-1873) und Angelina Emily Grimké (1805-1879), zwei Pionierinnen der Anti-Sklaverei- Bewegung in South Carolina, zu schreiben. Nach und nach belegte sie daher auch Geschichtskurse, um das notwendige Handwerkszeug zu erlernen. 11 Ihre Karriere als Historikerin begann also eher zufällig; aber bald zeichnete sich ein besonderes Interessensfeld Lerners ab. In ihren Hausarbeiten in den Fächern Geschichte und Anthropologie entschied sie sich fast ausnahmslos für Einzelstudien im Bereich der Frauengeschichte. 12 Sie untersuchte beispielsweise die Stellung von Frauen in materlinear und paterlinear organisierten tribes oder innerhalb der Ibo-Bevölkerung Nigerias. Lediglich in einer Arbeit beschäftigte sie sich mit den Ursprüngen der Anti-Sklaverei-Ideologie. Neben einem frauengeschichtlichen Ansatz bildete sich ein Interessensschwerpunkt im Bereich der afroamerikanischen Geschichte heraus, besonders nahm sie die Geschichte von Afroamerikanerinnen in den Blick. Dieser Fokus erwies sich an der New School als unproblematisch, da es sich um eine liberale Institution handelte. Noch als Studentin bat Lerner den zuständigen Dean, 13 einen Kurs zu Frauengeschichte anbieten zu dürfen, was dieser gestattete. Dabei handelte es sich um die zweite Veranstaltung, die im Bereich der Frauengeschichte an einer US -amerikanischen Universität angeboten wurde. 14 Lediglich Mary Beard, Lerners Vorbild, hatte zu Beginn der 1950er Jahre einen ähnlichen Kurs am Radcliffe College in Cambridge / MA gegeben, dessen Institutionalisierung jedoch gescheitert war. 15 Bis 1965 hielt Lerner regelmäßig ein Seminar zur Frauengeschichte an der New School. 16 11 Vgl. ebd., S. 507-511. 12 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Education Term Papers, MC 769, Box 6, Folder 1a, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA.; Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Education Term Papers, MC 769, Box 6, Folder 1b, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA.; Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Education Term Papers, MC 769, Box 6, Folder 2, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA.; Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Education Women Papers, MC 769, Box 6, Folder 3, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 13 Das Amt entspricht etwa der Funktion eines Dekans in Deutschland. 14 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 20. Mai 1981, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 15 Vgl. Gerda Lerner: Frauen finden ihre Vergangenheit. Grundlagen der Frauengeschichte. Frankfurt am Main / New York 1995, S. 28. 16 Vgl. Gerda Lerner Curriculum Vitae, January 2002, Box 1, Folder 1; Gerda Lerner Family Collection; AR 25149; Leo Baeck Institute, New York. <?page no="148"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 147 Nach ihrem Bachelorabschluss im Jahr 1963 entschloss sie sich auf Anraten einer Dozentin dazu, ihre Promotion an der Columbia University fortzusetzen. Während des Bewerbungsgespräches wurde sie, da es nicht üblich war, dass sich eine Frau mit Mitte vierzig einem Graduiertenstudium zuwandte, nach ihrem Motiv dazu gefragt: „And I said, without blinking an eyelash, I said because I want to make women’s history respectable. So they said, ‚what is women’s history‘.“ 17 Diese Aussage ist charakteristisch für den Stand der Frauengeschichte in der Mitte der 1960er Jahre, die zwar durch die Frauenbewegung langsam Aufwind erhielt, an den Universitäten jedoch nicht etabliert war. 18 An der Columbia University wichen die Reaktionen auf Lerners Zuwendung zur Geschichte von Frauen stark von denen an der New School ab. Wenn sie in Seminaren die Rolle von Frauen in der Geschichte hinterfragte und dafür plädierte, dass Frauen nicht nur als das passive Geschlecht anzusehen seien, begegneten ihr oftmals Sarkasmus und Feindseligkeiten. 19 Was Lerner bereits als Studentin interessierte, war der Umstand, dass Frauen trotz ihrer gesellschaftlichen Rolle, von der Geschichtsschreibung ausgeklammert wurden. Sie wandte sich gegen das männerdominierte Geschichtsbild von großen Helden und zeigte, dass auch Frauen die Geschichte signifikant beeinflusst hatten. Als grundlegendes Problem innerhalb der Frauengeschichte sah sie nicht das Fehlen von Quellen, sondern den Mangel an Konzepten. 20 Lerner promovierte bei den Professoren Robert Cross und Eric McKitrick. Beide ließen ihr einige Freiheiten in ihrer Arbeit, allerdings „neither they nor any of my other teachers shared my interest in Women’s History. The only exception was visiting professor Carl Degler whose course in U. S. social history included a section on women.“ 21 So war sie zumindest inhaltlich weitgehend auf sich allein gestellt, erhielt allerdings Unterstützung von Miriam Holden, die eine private Bibliothek mit Sammlungen zur Frauengeschichte aufgebaut hatte. Holden gestattete ihr, die Bibliothek für ihre Forschung zu nutzen. 17 Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 20. Mai 1981, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 18 Vgl. Jean H. Quataert / Leigh A. Wheeler: Tributes, Politics, and Innovations in Women’s and Gender History. In: Journal of Women’s History 26 (2014), S. 7-11. 19 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 21. September 1978, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 20 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 25. März 1981, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 21 Gerda Lerner: A Life of Learning. Charles Homer Haskins Lecture for 2005. In: ACLS Occasional Papers 60 (2006), S. 1-21, hier S. 11. <?page no="149"?> 148 Anna Corsten 1966 wurde Lerner promoviert; anschließend arbeitete sie zwei Jahre an der Long Island University in Brooklyn, wo sie bald zum Rang eines Associate Professor aufstieg. Hier unterrichtete sie Sozialgeschichte, ohne einen Schwerpunkt auf die Geschichte der Frauen zu legen, ganz wie es Professor McKitrick ihr nach ihrer Promotion empfohlen haben soll: „When you go into the job market, don’t tell anyone about your exotic specialty. You’re a good social historian; let it go at that.“ 22 Lerner ließ sich von diesem Rat jedoch nicht (lange) zurückhalten, sondern bemühte sich darum, das Manuskript ihrer Dissertation über das Leben der Schwestern Grimké zu publizieren. Nachdem es von vierundzwanzig Verlagen häufig mit der Bemerkung abgelehnt worden war, dass es sich bei den Schwestern lediglich um verbitterte und in ihrer Ehe unglückliche Frauen handele, entschied sich der Verlag Houghton Mifflin zur Veröffentlichung. 23 Schließlich konnte ihr erstes wissenschaftliches Buch 1967 in den USA erscheinen. Von diesem Zeitpunkt an begann für Lerner eine steile Karriere, die auch von der aufkommenden Bürgerrechts- und Frauenbewegung begünstigt wurde. Am Sarah Lawrence College in New York, wo sie ab 1967 unterrichtete, war sie maßgeblich an der Etablierung eines Studienprogramms in Women Studies beteiligt. Obwohl das College eine Institution für Frauen war, wurde die Rolle von Frauen in den Geisteswissenschaften auch hier ignoriert. Lerner engagierte sich bereits ab ihrem ersten Semester dafür, dies zu ändern. Nachdem sie mehrere Vorlesungen zum Thema Frauengeschichte gehalten und ein Seminar angeboten hatte, für das sich deutlich mehr Teilnehmerinnen registrierten als vorgesehen war, 24 verfassten Studentinnen eine Petition, damit entsprechende Kurse in das Curriculum aufgenommen wurden. Während sich alle siebenundzwanzig Frauen im Kollegium für diesen Vorschlag aussprachen, unterstützte der überwiegende Teil der männlichen Kollegen Lerner nicht. Nach einem langen Kampf gelang es ihr im Jahr 1972 ein erstes Masterprogramm im Bereich der Frauengeschichte in den USA zu etablieren. 25 Sieben Jahre später bot sie gemeinsam mit Alice Kessler-Harris und Amy Swerdlow das erste „Women’s History Summer Institute“ an, das ebenfalls am 22 Diesen Vorfall gibt Gerda Lerner viele Jahrzehnte später wieder. Vgl. ebd. 23 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 9. Juni 1981, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 24 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Family Correspondence, Brief von Gerda Lerner and Nora Kronstein, 23. Juni 1969, MC 769, Box 16, Folder 10, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 25 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 25. März 1981, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. <?page no="150"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 149 Sarah Lawrence College stattfand. Aus diesem Sommerkurs entwickelte sich die Idee einer „National Women’s History Week“, die mehrere Teilnehmer nach dem Ende des Workshops vorantrieben. Ein entsprechender Beschluss des Kongresses und die Zustimmung von Präsident Jimmy Carter wurden im Jahr 1980 erwirkt. 1987 erfolgte die Ausweitung zum „National Women’s History Month“, der bis heute gefeiert wird. 26 An der University of Wisconsin in Madison, an der Gerda Lerner ab 1980 unterrichtete, gelang es ihr den ersten Promotionsstudiengang für Frauengeschichte in den USA zu etablieren. Durch die Institutionalisierungen sowohl am Sarah Lawrence College als auch in Madison nahm sie wesentlichen Einfluss auf nachwachsende Generationen von Historikern: Whatever one’s location among the generations of women’s historians, all have been influenced by Gerda Lerner. She was a true pioneer, one who shaped the field from its beginnings in the U. S. academy late in the 1960s, continued to inspire through her many publications over the decades, and trained and mentored several generations of scholars. 27 Lerner setzte sich nicht nur für ihre Studenten ein, sondern kämpfte auch für die fachliche Gleichstellung weiblicher und männlicher Kollegen. Sie übte bei verschiedenen Anlässen Kritik daran, dass Frauen weder in Verlagen und Zeitschriften noch in geschichtswissenschaftlichen Organisationen Führungspositionen einnahmen. In der Regel waren sie nicht einmal Teil der beratenden Gremien. Im Kontext der American Historical Association Convention 1969 organisierten vierzehn Frauen daher ein Coordinating Committee on Women in the Historical Profession ( CCWHP ). Diese Gruppe wurde von Lerner und Berenice Carroll geleitet. Ihr Ziel bestand darin, gegen eben diese Diskriminierung von Frauen innerhalb der Geschichtswissenschaft zu kämpfen und Forschungen zur Frauengeschichte stärker zu fördern. Als Lerner 1982 als erste Frau innerhalb von fünfzig Jahren zur Präsidentin der Organization of American Historians ( OAH ) gewählt wurde, war dies ein Höhepunkt ihres Engagements für Gleichberechtigung, nicht, weil sie in eine Machtposition aufgestiegen war, sondern weil es sich hierbei um einen entscheidenden Schritt im Kampf für die akademische Emanzipation der Frauen handelte. 28 26 Vgl. Jewish Womenʼs Archive (Hg.): Pioneering womenʼs history summer institute. Jewish Womenʼs Archive. URL: https: / / jwa.org/ thisweek/ jul/ 18/ 1979/ gerda-lerner (zuletzt abgerufen am 9. Juni 2017). 27 Quataert / Wheeler: Tributes, Politics, and Innovations (Anm. 18), S. 7. 28 Vgl. Lerner: A Life of Learning (Anm. 21), S. 14; Clinton Catherine: Gerda Lerner. In: Robert A. Rutland (Hg.): Clioʼs favorites. Leading historians of the United States, 1945-2000. <?page no="151"?> 150 Anna Corsten Doch nicht nur als akademische Lehrerin und Wissenschaftspolitikerin prägte Lerner über vier Jahrzehnte die Frauengeschichte. Pionierarbeit leistete sie auch durch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, mit denen sie Frauen ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte geben wollte. Dabei ging es zunächst um eine theoretische Begründung der Notwendigkeit, die Rolle von Frauen in der Geschichte in den Blick zu nehmen. 29 Darüber hinaus versuchte sie deutlich zu machen, dass durchaus verschiedene Quellenarten existierten, mit denen die Geschichte der Frauen in die Geschichtsschreibung eingefügt werden konnte und die gleichzeitig im Schulunterricht studiert werden könnten. 30 Allerdings ging es ihr nicht primär darum, die Geschichte privilegierter Frauen zu untersuchen, sondern die der Benachteiligten, als die sie sich selbst sah, stärker zu berücksichtigen. Das Konzept der Klasse wurde daher für Lerner essentiell. 31 Eng damit verbunden ist außerdem die Pionierarbeit, die Lerner im Bereich der Geschichte afroamerikanischer Frauen leistete. Sie war eine der ersten Historikerinnen, die farbige Frauen in die Historiografie einbezog. 32 Auch die Geschichtsschreibung zu jüdischen Frauen hat sie sukzessive vorangetrieben. 33 Gleichzeitig untersuchte sie das Aufkommen eines Bewusstseins für die gesellschaftliche Ungleichstellung von Frauen seit dem Mittelalter. 34 Nicht zuletzt beschäftigte sie sich mit den Ursachen für die Unterdrückung von Frauen und der Frage, welche Mechanismen hinter dieser Unterdrückung standen. Aufgrund ihrer Forschungen gilt Lerner heute als wichtige Vordenkerin der US -amerikanischen Frauengeschichte, die nicht nur fachlich, sondern auch öffentlich einflussreich war: 35 Columbia / MO 2000, S. 98-110. 29 Siehe Gerda Lerner: The majority finds its past. Placing women in history. Chapel Hill / NC 2005. 30 Siehe Gerda Lerner: Black women in white America. A documentary history. Princeton / NJ 2005. 31 Vgl. Alice Kessler-Harris: The So-What Question. In: Frontiers: A Journal of Women Studies 36 (2015), S. 12-16. 32 Siehe Gerda Lerner: The creation of patriarchy. New York / Oxford 1986; Eva Cyba: Patriarchat: Wandel und Aktualität. In: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden 2010, S. 15-21. 33 Vgl. Joyce Antler: The journey home. Jewish women and the American century. New York 1997. 34 Siehe Gerda Lerner: The creation of feminist consciousness. From the Middle Ages to eighteen-seventy. New York 2011. 35 Vgl. Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte. Frankfurt am Main 2010, S. 124; Gisela Bock: Geschlechtergeschichten der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis. Göttingen 2014, S. 376. <?page no="152"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 151 Gerda Lerner had a remarkable career as a public intellectual. No historian is more identified with the field of women’s history, which Gerda wrote about prolifically in a series of books that have had extraordinary influence in conceptualizing the field. 36 Lerner kämpfte für die wissenschaftliche Gleichstellung der Frau und übernahm zugleich eine Pionierrolle in einer Disziplin, die konservativ und von Männern dominiert war. Dabei konnte besonders diese Vorkämpferrolle zur Belastung werden: I’m tired. I am tired to being the pioneer, the example for this or that. I’m tired of answering the same arguments for 23 years and of being applauded by people who don’t hear what I’m saying. I’m tired of men telling me, with a friendly smile, they came to please their wives. Above all, I’m sick of being treated as a deviant freak - no matter to what high level I pitch my presentation, in the end I’m forced to be brash, assertive, snappy, just so I can keep some kind of control over the content. That’s the setup … well you can’t expect to make a serious critique of the male academic bastion without them howling and kicking back - but I guess I’m tired of being the one up front. 37 Der Brief an ihre Tochter entstand im Jahr 1984 nach einem Vortrag an der Columbia University. Besonders die an ihren Vortag anschließenden Diskussionen hatten sie erzürnt, weil diese keinen Bezug auf die Fragen nahmen, die sie behandelt hatte. Lerner fühlte sich deshalb von der Columbia University instrumentalisiert: Die Universität versuchte sie als Produkt der Institution darzustellen, als das sie sich selbst nicht sah. 38 Während Lerner zuweilen das Gefühl hatte, dass sie mit ihrer Arbeit etwas für die Gleichberechtigung der Frauen erreichen konnte, hob sie auch hervor, dass „other times […] I feel like Sisyphus, pushing the boulder up the hill only to see it roll down again, over and over.“ 39 Was genau bewegte sie dazu, trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen, weiterzukämpfen und dabei in Kauf zu nehmen, sich wie Sisyphos zu fühlen? Ihr Kampfgeist und ihre Entscheidung, sich wissenschaftlich der Frauengeschichte zuzuwenden, sind sicherlich auch vor dem Hintergrund ihres politischen und gesellschaftlichen Engagements zu verstehen. 36 Joyce Antler: History and Gender. In: Frontiers: A Journal of Women Studies 36 (2015), S. 16-21, hier S. 21. 37 Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Stephanie Lerner Lapidus, 1959-1989, Brief von Gerda Lerner und Stephanie Lerner Lapidus, 6. Mai 1984, MC 769, Box 17, Folder 11, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 38 Vgl. ebd. 39 Ebd. <?page no="153"?> 152 Anna Corsten III. Gerda Lerner als politische Aktivistin That is the main difference between my generation and those before me: For us politics is life, because our life is in almost every respect dependent on the shape and aspects of our society. 40 Gerda Lerners politisches Engagement begann gut drei Jahrzehnte vor ihrer wissenschaftlichen Karriere. In ihrer Autobiografie Feuerkraut berichtet sie, dass sie sich bis in die Jugend als Außenseiterin verstanden hat. Die bürgerliche Welt mit den dazugehörigen Spielkameraden, in die sie sich laut ihrem Vater einfügen sollte, interessierte sie nicht. Den Umgang mit Kindern aus einer unteren Schicht, mit denen sie gerne spielen wollte, verbat der Vater ihr. Eine enge Freundin fand sie erst in der Mitschülerin Martha, einem serbischen Flüchtlingsmädchen, das die Vierzehnjährige davon überzeugte, eine illegale Zeitung zu verteilen, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte. Lerner hatte bereits als junges Mädchen versucht, sich gegen das aufzulehnen, was sie als ungerecht wahrnahm. Als sie sich auf ihre Bat Mitzwa vorbereitete, wurde ihr bewusst, dass Frauen an der synagogalen Liturgie nicht auf die gleiche Art wie Männer teilnehmen durften. Sie entschied deshalb, an der Zeremonie nicht teilzunehmen. 41 Bereits früh hatte das Mädchen ein spezifisches Gerechtigkeitsempfinden ausgebildet; sie revoltierte gegen die bürgerliche Mittelschichtskultur, in die ihr Vater sie hineindrängen wollte. Gerda beharrte jedoch auf ihren Ideen und die neue Freundin bestärkte sie darin. Nach den Februarkämpfen des Jahres 1934 brachte sie Gerda dazu, Geld zu sammeln für die sozialdemokratischen Opfer der Auseinandersetzung zwischen der Regierung um Engelbert Dollfuß und dem Republikanischen Schutzbund (auf der einen Seite) und den Sozialdemokraten (auf der anderen Seite). 42 Dieses Engagement gab Lerner das Gefühl, dazuzugehören; es wurde zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Selbstwahrnehmung und Identität. Selbst als sich Österreich unter der nationalsozialistischen Herrschaft befand, gab Lerner diese engagierte Haltung nicht auf, obwohl für solche Aktivitäten eine Gefängnisstrafe drohte. Nach ihrer Emigration in die USA fand sie sich in einem inneren Konflikt wieder. Eine politische Tätigkeit auszuüben, sah sie als Prozess ihrer eigenen Amerikanisierung an. Auf der anderen Seite hatte sie bereits früh beschlossen, dass 40 Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Family Correspondence, Brief von Gerda Lerner an Iloana Kronstein, 25. August 1939, MC 769, Box 15, Folder 4, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 41 Vgl. Lerner: Feuerkraut (Anm. 3), S. 55-57. 42 Vgl. ebd., S. 82-86. <?page no="154"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 153 sie in den Vereinigten Staaten bleiben wollte, weshalb sie bestrebt war, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Ein politisches Engagement in kommunistischen Organisationen, zu denen sie sich hingezogen fühlte, konnte dies jedoch gefährden. 43 Sie entschied sich zunächst dafür, Abstand von politischen Organisationen zu halten, was aufgrund ihrer zweiten Ehe mit dem US-amerikanischen Filmeditor Carl Lerner (u. a. Twelve Angry Men ), der selbst Mitglied der Kommunistischen Partei war, erschwert wurde. Stattdessen befasste sie sich mit den theoretischen Grundlagen ihrer politischen Überzeugung. Sie studierte Karl Marx’ Das Kapital und beschäftigte sich insbesondere mit der Mehrwert- und Gewalttheorie. 44 Nachdem sie 1943 US -amerikanische Staatsbürgerin geworden war, wurde sie in mehreren Frontorganisationen aktiv. Drei Jahre später trat sie der KP bei. Nach und nach beschäftigte sie sich mit der Situation von Frauen in der ( US -amerikanischen) Gesellschaft. 1947 zählte sie zu den Gründermüttern des Congress of American Women ( CAW ) in Los Angeles. 45 Wenn ich heute auf dieses Ereignis zurückblicke [die Gründung des CAW ], dann scheint mir, dass mein eigenes Interesse an der Geschichte der amerikanischen Frauen sowie auch meine zukünftige Karriere als Historikerin ihre Wurzeln in dieser Periode haben und auf die Art zurückzuführen sind, in der der CAW beständig und konsequent die Frauenarbeit in seine Arbeit einbezog. 46 Die Interessen des CAW boten verschiedene Anknüpfungspunkte zu Lerners Engagement in der KP . Gemeinsam mit ihrer Verbündeten und langjährigen Freundin Virginia Brodine initiierte sie eine Kampagne gegen Sexismus in der Partei. Nachdem sie ihre Forderungen zur Gleichstellung der Frauen präsentiert hatten, wurde ihnen jedoch mitgeteilt, dass ihr Anliegen zu früh käme und zu diesem Zeitpunkt nicht weiterverfolgt werden könne. Dies war eine der ersten Enttäuschungen Lerners innerhalb der KP . Während sie sich von der KP distanzierte, überzeugte die Arbeit des CAW sie weiterhin. Ihr Engagement wurde jedoch durch die einsetzende Skepsis gegenüber dem CAW in den Jahren der McCarthy-Ära gehemmt. Im Oktober 1949 begann das „House Committee on Un-American Activities“ ( HUAC ) eine Untersuchung gegen das CAW , die dazu führte, dass das CAW als subversive Organisation gekennzeichnet wurde. Mitgliederzahlen sanken, der CAW muss- 43 Vgl. ebd., S. 218 f. 44 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Journal 1942, Exzerpte, MC 769, Box 7, Folder 1, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 45 Vgl. Daniel Horowitz: Feminism, Womenʼs History, and American Social Thought at Midcentury. In: Nelson Lichtenstein (Hg.): American capitalism. Social thought and political economy in the twentieth century. Philadelphia / PA 2006, S. 191-209, hier S. 194 f. 46 Lerner: Feuerkraut (Anm 3), S. 352. <?page no="155"?> 154 Anna Corsten te sich schließlich von der WIDF (The Womenʼs International Democratic Federation) lossagen. Da Lerner sich und ihre Familie nicht in Gefahr bringen wollte, entschloss sie sich, ihre Unterlagen zum CAW zu vernichten. Sie deutete diesen Akt als Symbol der Unterdrückung und Niederlage. Zudem erkannte sie Parallelen zur Zeit des Nationalsozialismus in Österreich: Damals hatte sie ebenfalls sämtliche Unterlagen aus ihrer Aktivität im Untergrund vernichten müssen. 47 Die McCarthy-Ära bezeichnet sie deshalb in ihrer Autobiografie als eine Neuauflage des Faschismus. 48 Ab den 1960er Jahren engagierte sich Lerner in der Bürgerrechtsbewegung. Dabei sympathisierte sie stark mit dem Kampf Farbiger gegen Diskriminierung, wofür sie durch das Leben in einer „Black Community“ sensibilisiert worden war. 49 Ihre politischen Erfahrungen und die gesellschaftlichen Probleme, auf die sie aufmerksam wurde, veranlassten Lerner dazu, sich in den 1960er und 1970er Jahren wissenschaftlich mit dem Phänomen von Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen auseinanderzusetzen. Sie war der festen Überzeugung, dass die gesellschaftliche und wissenschaftliche Gleichberechtigung von Frauen und Afroamerikanern miteinander einhergehen müsste und nur erreicht werden könne, wenn die Wurzeln der Diskriminierung aufgearbeitet und damit ein Bewusstsein für diese Ungleichbehandlung geschaffen würde. Auf diese Weise beeinflusste ihr politisches Engagement ihr wissenschaftliches Interesse und ihre wissenschaftliche Schwerpunktsetzung bestärkte wiederum ihr politisches Verhalten: „Wenn ich auf die Geschichtswissenschaft Einfluss nehmen konnte, so war dies nicht nur durch meine Forschung bedingt, sondern auch durch meine Organisationstätigkeiten.“ 50 Lerner sah ihr politisches Engagement als wesentlichen Teil ihres Lebens, weil sie selbst erfahren hatte, dass ihr Leben von der politischen Gestaltung der Gesellschaft abhing. 51 Entscheidend für ihre Arbeit als Aktivistin in der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung war wiederum ihre Erfahrung als diskriminierte und verfolgte Jüdin in der Zeit des Nationalsozialismus. 47 Vgl. ebd., S. 272-274. 48 Vgl. ebd., S. 277. 49 Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Family Correspondence, Brief von Gerda Lerner an Nora Kronstein, 31. Juli 1967, MC 769, Box 16, Folder 10, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 50 Gerda Lerner: Living with History / Making Social Change. Chapel Hill / NC 2009, S. 1. 51 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Family Correspondence, Brief von Gerda Lerner an Ilona Kronstein, 25. August 1939, MC 769, Box 15, Folder 4, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. <?page no="156"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 155 IV. Flüchtling, Arbeiterin, Hausfrau, Historikerin-- Gerda Lerners Entwicklung zur politischen Aktivistin und Pionierin der Frauengeschichte Für mich ist jede Art von Diskriminierung ein Übel. Ich kann sie nicht ertragen. 52 Gerda Lerner hat ab den 1980er Jahren sowohl über ihr gesellschaftliches als auch über ihr wissenschaftliches Engagement reflektiert. In ihren Gedanken, die sie in verschiedenen Interviews und Publikationen öffentlich gemacht hat, beschäftigt sie besonders die Frage, wie ihre politische und wissenschaftliche Arbeit miteinander zusammenhängen: „Ich wollte den Menschen zeigen, dass alles, was ich als Historikerin und als Theoretikerin der Frauengeschichte zum Studium der Sache der Frauen beitragen konnte, aus meinen eigenen praktischen Lebenserfahrungen hervorgegangen ist.“ 53 Lerner bezieht sich hier nicht nur auf ihr politisches Engagement, das, wie bereits gezeigt wurde, in engem Zusammenhang mit der Arbeit als Wissenschaftlerin gesehen werden kann. Vielmehr spricht sie von der „praktischen Lebenserfahrung“, was auch auf persönliche Erlebnisse verweisen kann. Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich veränderte ihr Leben grundlegend. Kurz vor der Maturaprüfung wurde sie im Sommer 1938 gemeinsam mit ihrer Mutter von der Gestapo festgenommen. Die Inhaftierung erfolgte nicht, wie Lerner zunächst befürchtet hatte, aufgrund ihrer Aktivitäten im Untergrund, vielmehr sollte ihr Vater erpresst werden, seinen Besitz - u. a. eine Apotheke - an die Nationalsozialisten zu überschreiben. Robert Kronstein befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Liechtenstein, da er einen Hinweis von einem Arbeitskollegen und NSDAP -Mitglied erhalten hatte, dass er verhaftet werden sollte. 54 In den Monaten vor der Festnahme Lerners hatten sie und ihre Familie bereits zunehmende Diskriminierungen erfahren. Ihre Verhaftung bildete den Höhepunkt dieser Schikanen. Im Gefängnis wurde sie von ihrer Mutter getrennt und ohne Verhör wochenlang festgehalten. Für Lerner stand in dieser Zeit die Angst im Vordergrund, die anstehende Maturaprüfung zu verpassen. Sie begann mit Unterstützung einiger ihrer Lehrer eine Kampagne für ihre Freilassung, die schließlich erfolgreich war. Einen Tag vor ihrer Prüfung 52 Lerner: Feuerkraut (Anm. 3), S. 442. 53 Papers of Gerda Lerner, 1950-1995, Gerda Lerner im Interview mit der New York Times vom 20. Juli 2002, 75-37--96-M8, Box 1 Folder 2, Arthur and Elizabeth Schlesinger Library on the History of Women in America, Radcliffe Institute for Advanced Study, Harvard University, Cambridge / MA. 54 Vgl. ebd., S. 76-80. <?page no="157"?> 156 Anna Corsten kamen Lerner und ihre Mutter frei. Kurze Zeit später emigrierte die Familie nach Liechtenstein, wo Lerner als Gouvernante für einen Freund ihres Vaters arbeitete, bis sie 1939 ihrem Verlobten Bobby Jensen nach New York folgte. 55 Ihre Erfahrung im Gefängnis sowie die erlittene Willkür und Ungerechtigkeit begründeten eine besondere Sensibilität gegenüber verschiedenen Arten von Diskriminierung. Dies sollte im Kontext ihrer Arbeit als Aktivistin und Historikerin offensichtlich werden. Zunächst versuchte sie jedoch, die Erlebnisse in einer Kurzgeschichte zu verarbeiten, die sie im US -amerikanischen Exil verfasste. 1941 wurde die autobiografische Erzählung The Prisoners in dem Literaturmagazin The Clipper veröffentlicht. 56 Lerner war als Minderjährige ohne Familie gezwungen, ihren Verlobten innerhalb von einer Woche nach Ankunft in den Vereinigten Staaten zu heiraten; sie ließ sich jedoch nach zwei Jahren Ehe von dem angehenden Mediziner scheiden. In New York machte sie in den nächsten Jahren die Erfahrung von Armut. Sie arbeitete hart, zunächst in verschiedenen ungelernten Berufen, etwa als Verkäuferin und Kellnerin, und machte später eine Ausbildung zur Röntgenassistentin. Trotzdem fühlte sie sich in ihrer neuen Heimat wohl und fasste den Entschluss, nach Kriegsende nicht nach Europa zurückzukehren, 57 obwohl ihre Familie trotz aller Bemühungen kein Visum für die USA erhielt. 58 Lerners Leben als Jugendliche und junge Erwachsene ist geprägt von Erfahrungen der Diskriminierung: Als Jüdin in Österreich, als „enemy alien“ in den USA (während des Zweiten Weltkrieges) und später als Kommunistin. Die Bedeutung der Flucht sowie der Anfangsjahre im Exil bilden eine lebenslaufspezifische Übergangserfahrung, die die kommenden Jahre im Aufnahmeland prägten. Lerner sieht diese frühen biografischen Erfahrungen in Kontinuität zu ihrem späteren Wirken: How have race, gender, and so on affected me? Well, I’m a woman, right? And I’m a Jew, and I have suffered persecution at the hand of the Nazis. I have, therefore, understood very early that you can’t win any kind of rights and freedoms if you tolerate measures for dividing people […]. When I came to America, I became very interested in the situation of people of color, because they are the primary victims of racism here in this country, whereas in Europe, Jews were the primary victims of racism. Because 55 Vgl. Kathryn Kish Sklar: Gerda Lerner. 1920-2013. URL: https: / / jwa.org/ encyclopedia/ article/ lerner-gerda (zuletzt abgerufen am 9. Juni 2017). 56 Vgl. Gerda Jensen: The Prisoners. In: The Clipper! 2 (1941), S. 19-22. 57 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Journal 1942, Exzerpte, MC 769, Box 7, Folder 1, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 58 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Correspondence Family, Exzerpte, MC 769, Box 15, Folder 4, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. <?page no="158"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 157 I understood that, I was interested from the start in struggling against racism and in linking the two issues. 59 Aufgrund ihrer eigenen Diskriminierungserfahrung als Jüdin in Europa erkannte und verstand Lerner die Parallelen zwischen der Position der Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten und der jüdischen Position in Europa. Diskriminierung wurde für sie zu einer Erscheinung mit vielen Gesichtern, die es gleichermaßen zu bekämpfen galt: I would also like to see us conduct the fight against racism, sexism, nationalism, and anti-Semitism as if they were connected rather than separated issues. There is no way that we can abolish any of these evils unless we abolish them all. 60 Lerner bezog sich nicht nur auf den Kampf gegen Rassismus, sondern plädierte auch für die Notwendigkeit eines Engagements für die Gleichberechtigung von Frauen. Besonders prägend für sie war dabei ihre Mutter, die sie bereits als Kind mit feministischen Idealen konfrontiert hatte. 61 Gleichzeitig gewann Lerner durch ihre Mutter einen Zugang zum kreativen Arbeiten: „From the start, […] she opened the world of imagination, of creativity, of images and poetry to me.“ 62 Den Grund dafür, dass sie Historikerin wurde, schrieb sie dagegen ihrer Erfahrung als Jüdin während des Nationalsozialismus zu; wobei das Wissen, dem Holocaust knapp entkommen zu sein, eine besondere Rolle für ihre Haltung zur Geschichte einnahm: After the Holocaust, history for me was no longer something outside myself, which I needed to comprehend and use to illuminate my own life and times. Those of us who survived carried a charge to keep memory alive in order to resist the total destruction of our people. History had become an obligation. 63 Konkret hielt Lerner weiter fest: „I am a historian because of my Jewish experience.“ 64 Wie für viele Angehörigen der sogenannten zweiten Generation 59 Papers of Gerda Lerner, 1950-1995, A Transformational Feminism, Gerda Lerner, Interview mit women of power, S. 177-184, hier S. 179, 75-37--96-M8, Box 1 Folder 2, Arthur and Elizabeth Schlesinger Library on the History of Women in America, Radcliffe Institute for Advanced Study, Harvard University, Cambridge / MA. 60 Ebd. 61 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Stephanie Lerner Lapidus, 1959-1989, Notizen Gerda Lerners, 20. August 1970, MC 769, Box 17, Folder 11, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 62 Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Stephanie Lerner Lapidus, o. D., Notizen Gerda Lerners, n. D., MC 769, Box 17, Folder 13, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. 63 Lerner: Living with History / Making Social Change (Anm. 50), S. 12. 64 Ebd., S. 5. <?page no="159"?> 158 Anna Corsten von deutschsprachigen Exilhistorikern, spielte ihre eigene Erfahrung im Zusammenhang mit dem Wissen um den Holocaust eine wichtige Rolle für die spätere Entwicklung als Historikerin. Allerdings unterscheidet sie sich von einem großen Teil der zweiten Generation, indem sie sich wissenschaftlich nicht mit der Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocaust beschäftigte. 65 Stattdessen wandte sie sich einer weiteren marginalisierten Gruppe zu, wobei sie sich innerhalb dieses Themenkomplexes zwar mit der europäischen, nicht aber spezifisch mit der deutschen Geschichte auseinandersetzte. Deutlich wird dabei, wie entscheidend nicht nur ihre persönliche Exilerfahrung, sondern auch ihre politische und gesellschaftliche Arbeit in den USA waren. Lerner hat damit ihre Vergangenheit in die Gegenwart ihres neuen Lebenskontextes übertragen. Das Thema Faschismus und Genozid transformierte sie auf die Frauengeschichte und die Diskriminierung der Afroamerikaner in den USA . V. Der Einfluss der Grenzerfahrung auf das Wirken Gerda Lerners-- ein Fazit Es ist geradeso, als ob Feuerkraut einen Wald erschaffen könnte. 66 Gerda Lerner ist keine regelmäßige Grenzgängerin zwischen dem deutschsprachigen Raum und den USA im Sinne einer Kulturvermittlerin. Sie kehrte nicht, wie andere Exilanten, beispielweise Hans Rosenberg, Hajo Holborn oder Fritz Stern, regelmäßig in ihr Herkunftsland zurück, um auf den wissenschaftlichen Diskurs zu wirken oder Studenten auszubilden. Lerner flog in der Regel für private Besuche oder wissenschaftliche Ehrungen nach Österreich. Der österreichischen Vergangenheitsbewältigung stand sie kritisch gegenüber. Sie bemängelte, dass sich das Land jahrzehntelang als erstes Opfer Deutschlands dargestellt habe. Sie hatte die von vielen Österreichern geteilte Begeisterung für den Nationalsozialismus und den damit verbundenen Antisemitismus kennengelernt. 67 65 Vgl. Andreas Daum: Refugees from Nazi Germany as Historians. Origins and Migrations, Interests and Identities. In: Andreas Daum / Hartmut Lehmann / James Sheehan (Hg.): The Second Generation. Émigres from Nazi Germany as Historians. With a Biobibliographic Guide. New York / Oxford 2016 (Studies in German History 20), S. 1-52; Doris L. Bergen: Out of the Limelight or In. Raul Hilberg, Gerhard Weinberg, Henry Friedlander, and the Historical Study of the Holocaust. In: ebd., S. 229-243. 66 Lerner: Feuerkraut (Anm. 3), S. 510. 67 Vgl. Gerda Lerner im Gespräch mit Renata Keller. In: Renata Keller: Warum Frauen Berge besteigen sollten. Eine Reise durch das Leben und Werk von Dr. Gerda Lerner. Fridolfing 2016. <?page no="160"?> Zukunft gestalten aus der eigenen Vergangenheit 159 Auch wenn sich Lerner nicht als kulturelle Mittlerin 68 über die österreichische und US-amerikanische Grenze hinweg engagierte, so war ihr Leben und Wirken von der Erfahrung des Exils, symbolisiert durch den Grenzübertritt, beeinflusst. Mit dem Überschreiten der Grenze 1938 verlor sie die Heimat, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Mit dem erneuten Gang über die Grenze ließ sie 1939 nicht nur das Exil in Liechtenstein samt ihrer Familie hinter sich, sondern auch Europa und damit die räumliche Nähe zu ihrem Herkunftsland. Gleichzeitig bot das Exil in den Vereinigten Staaten ihr die Möglichkeit der interkulturellen Begegnung. Sie fühlte sich in den USA weit weniger als Außenseiterin als in Österreich. 69 Während der Zeit, als sie in Queens, New York und in Los Angeles lebte, schloss sie sich den örtlichen Gruppen der KP und des CAW an, wo sie auf Gleichgesinnte traf. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA , die Diskriminierung der Afroamerikaner sah Lerner mit den Augen eines jüdischen Flüchtlings. Sie erkannte Parallelen zu ihrer eigenen Erfahrung und Außenseiterrolle in Österreich, wodurch sie sich mit der Situation der Afroamerikaner verbunden fühlte. An Lerner wird somit deutlich, dass nicht nur das Exil an sich eine Grenzerfahrung darstellt, sondern auch die Erlebnisse vor dem Exil, die Diskriminierung, Verfolgung und Vertreibung Teil dieser Grenzerfahrung sind. Lerner hat, wie andere Exilwissenschaftler auch, die Bedeutung dieser Erfahrungen auf ihr späteres Wirken selbst konstruiert. Dabei erscheint es plausibel, dass die genannten Erfahrungen der Ausgrenzung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie oder zu einem Geschlecht die Entscheidung beeinflussen, sich auf verschiedenen Ebenen gegen jegliche Art von Diskriminierung und Marginalisierung einzusetzen. So kann dieser Zusammenhang erklären, weshalb Lerner sich in einem solchen Maß und trotz Rückschlägen für die Durchsetzung ihrer ideellen Werte engagierte. Lerner war sich darüber hinaus bewusst, dass ihr Schaffen wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre, wenn 68 Der hier verwendete Mittlerbegriff folgt der einschlägigen Definition für den deutschfranzösischen Raum. Siehe Katja Marmetschke: Mittlerpersönlichkeiten. Neuere biografische Arbeiten zur Mittlerfunktion zwischen Frankreich und Deutschland. In: Lendemains 25 (2000), S. 239-257; Katja Marmetschke: Feindbeobachtungen und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil (1878-1964) in den deutsch-französischen Beziehungen. Köln 2008; Hans M. Bock: Dossier Mittler. Vom Beruf des kulturellen Übersetzens zwischen Frankreich und Deutschland, oder, Verzagen die Mittler? In: Lendemains 86 / 87 (1997), S. 8-19; Hans M. Bock: Kulturelle Wegbereiter politische Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tübingen 2005. 69 Vgl. Gerda Lerner Additional Papers, 1916-2013; Oral History Columbia, 20. Mai 1981, MC 769, Box 8, Folder 12, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge / MA. <?page no="161"?> 160 Anna Corsten sie zehn Jahre früher damit begonnen hätte. 70 Berücksichtigt werden muss also stets auch der jeweilige gesellschaftspolitische Kontext. Im Falle Lerners spielte die in den 1950er und 1960er Jahren aufkommende Frauenbewegung eine entscheidende Rolle für das wachsende Interesse an ihrer Arbeit. Lerner hat die „Lehren“ aus ihrer eigenen biografischen Erfahrung in Österreich auf ihre spätere Lebenssituation in den USA übertragen, rekonfiguriert und reaktualisiert. Schon als Gymnasiastin lernte sie in ihrer Freundschaft zu einem serbischen und kommunistisch denkenden Flüchtlingskind die Stärken im Aufbegehren der vermeintlich Schwachen kennen. Diese Rolle erkannte sie auch in den Biografien der Schwestern Grimké. Lerner selbst zeigte sich in ihrem Leben widerständig, anpassungsfähig und kampfbereit. Damit ist das Symbol des Feuerkrauts, das sie für den Titel ihrer Autobiografie wählte, charakteristisch für ihre eigene Entwicklung nach der Emigration, durch die sie die Zukunft der Frauen- und Geschlechtergeschichte wie das gesellschaftliche Bewusstsein für die Marginalisierung von Frauen und Farbigen maßgeblich mitgestaltet hat. 70 Vgl. ebd. <?page no="162"?> Ambivalente Rückkehr 161 Ambivalente Rückkehr Kollektive Kämpfe um Rückkehr und individuelle Perspektiven im Fall kolumbianischer politischer Exilierter Tininiska Zanger Montoya, Frankfurt an der Oder I. Einleitung In Bogotá haben [meine Tochter] und ich uns immer, wenn es geregnet hat, unter die Markisen von Geschäften gestellt und dort gewartet bis der Regen vorüberzog. Als Paula mich mit neun Jahren, als wir schon im Exil waren, fragte warum wir denn nicht in Kolumbien, in der Heimat seien, habe ich geantwortet: „Kolumbien ist Bogotá und Deutschland ist die Markise. In Bogotá tobt ein heftiger Sturm, der Paramilitarismus. Deswegen müssen wir eine Zeit lang unter der Markise Zuflucht suchen und warten bis der Sturm vorüberzieht, bevor wir in die Heimat zurückkehren …“ 1 Politisches Exil und Rückkehr sind transnationale Felder, in denen durch (erzwungene) Grenzüberschreitungen verschiedene Formen politischer und individueller Grundentscheidungen entstehen. 2 Abhängig vom Fluchtmoment, des ideologischen Hintergrundes, des Ziellandes und der individuellen Erfahrungen positionieren sich die Exilierten im transnationalen Raum. Die Analyse verschiedener Narrationen von Personen mit Exilerfahrungen über ihre Rückkehrperspektiven ist ein notwendiger Schritt, um die Bedeutung des Phänomens „Rückkehr“ in seiner Komplexität begreifen zu können. Dieser Beitrag widmet sich Bedeutungen, die kolumbianische politische Exilierte der Rückkehr nach Kolumbien zuschreiben sowie den Vorstellungen, existentiellen Konflikten und politischen Auseinandersetzungen, die damit einhergehen. Die folgenden Seiten sind Zwischenergebnisse einer ethnografischen Feldforschung in Kolumbien, Deutschland und Spanien im Rahmen meiner kulturanthropologischen Dissertation über die Rückkehr von kolumbianischen Exilierten in ihr Herkunftsland. Meine Gesprächspartner_innen sind Personen, die sich auf unterschiedliche Weisen als Aktivist_innen für Menschenrechte 1 Einzelgespräch Manuela A., 2016; alle Gesprächspartner_innen wurden anonymisiert (Übersetzung T. Z. M.). 2 Vgl. Steven Vertovec: Conceiving and Researching Transnationalism. In: Ethnic and Racial Studies 22 / 2 (1999), S. 447-462. <?page no="163"?> 162 Tininiska Zanger Montoya in Kolumbien engagierten und infolgedessen aufgrund von Drohungen, Folter oder Inhaftierungen das Land verlassen mussten. Viele sind bzw. waren Mitglieder der kolumbianischen Kommunistischen Partei und der Partei Unión Patriótica ( UP , dt. Patriotische Union) 3 sowie der 2012 gegründeten linken sozialen Bewegung Marcha Patriótica (dt. Patriotischer Marsch). Einige befinden sich weiterhin in verschiedenen Ländern Europas im Exil, andere sind in den letzten Jahren nach Kolumbien zurückgekehrt. Derzeit leben zwischen drei und fünf Millionen Kolumbianer_innen dauerhaft außerhalb des Landes. Dies entspricht etwa zehn Prozent der nationalen Bevölkerung. 4 Laut dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) befanden sich Ende 2015 ca. 347 145 Kolumbianer_innen auf der Suche nach internationalem Schutz im Ausland. 5 Kolumbien nimmt offiziell weltweit den achten Platz der Länder mit den meisten Personen mit Flüchtlingsstatus ein. Schätzungen über die tatsächliche Anzahl fallen jedoch weitaus höher aus, da viele der fliehenden Personen aufgrund fehlender Informationen oder Angst vor Verfolgung im Ausland keinen Asylantrag stellen. 6 Zuletzt hat sich die Menschenrechtssituation in Kolumbien trotz der erfolgreichen Friedensgespräche zwischen FARC Rebellen und Regierung nicht gebessert. 2016 wurden achtzig Aktivist_innen ermordet, neunundvierzig wurden Ziel von Attentaten und über dreihundert wurden bedroht. 7 Zwischen Januar und März 2017 wurden zwanzig weitere ermordet. 8 Die derzeitige Regierung 3 Seit ihrer Gründung im Jahr 1985 im Rahmen eines 1983 gestarteten Friedensprozesses bis zu ihrer Auflösung 2002 wurden zwischen 3500 und 5000 Mitglieder von paramilitärischen Gruppen in Zusammenarbeit mit der damaligen Regierung ermordet. 2013 bekam sie ihre Rechtspersönlichkeit wieder und nimmt seitdem erneut an Wahlen teil. Vgl. Roberto Romero Ospina: Unión Patriótica. Expedientes contra el Olvido. Bogotá 2012, S. 11. 4 Anastasia Bermúdez Torres: El Campo Político Transnacional de los Colombianos en España y el Reino Unido. In: Ángeles Escrivá [u. a.] (Hg.): Migración y Participación Política. Estados, Organizaciones y Migrantes Latinoamericanos en Perspectiva Local- Transnacional. Madrid 2009, S. 125-152. 5 United Nations High Commissioner for Refugees 2017 statistics. URL: http: / / popstats. unhcr.org/ en/ overview (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). 6 Diana Ortiz / Sergio Kaminker: Suramérica y los Refugiados Colombianos. In: REMHU - Revista Interdisciplinar da Mobilidade Humana 22 / 43 (2014), S. 35-51, hier S. 45. 7 Diana Sánchez / Carlos A. Guevara (Hg.): Programa Somos Defensores: Contra las cuerdas. Informe Anual 2016. Sistema de Información sobre agresiones contra defensores de DDHH en Colombia. Bogotá 2017, S. 28. URL: https: / / www.somosdefensores. org/ attachments/ article/ 144/ Contra%20las%20cuerdas.%20Informe%20Anual%20 Espan%CC%83ol%20220217227p.pdf (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). 8 Diana Sánchez / Carlos A. Guevara (Hg.): Programa Somos Defensores. Boletín trimestral. Sistema de Información sobre agresiones contra defensores de Derechos Humanos en Colombia. Bogotá 2017, S. 2. URL: https: / / www.somosdefensores.org/ attachments/ <?page no="164"?> Ambivalente Rückkehr 163 erkennt darin jedoch keine Systematik und leugnet die Existenz von paramilitärischen Gruppen. 9 Eine Rückkehr für politische Aktivist_innen ist alles andere als sicher. Einige Exilierte, die nach Kolumbien zurückgekehrt sind, wurden nach ihrer Ankunft in Kolumbien ermordet und im Juni 2017 wurde in dem Briefkasten eines Exilierten eine von einer paramilitärischen Gruppe unterzeichnete Morddrohung gefunden. 10 Sie richtet sich konkret gegen ein in Spanien exiliertes Mitglied der kolumbianischen Kommunistischen Partei sowie gegen alle Mitglieder der Partei in Spanien. 11 II. Exil als Zwischenraum Anknüpfend an den Politikwissenschaftler Yossi Shain verstehe ich politische Exilierte als Personen, die, wie alle Exilierte, aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen mussten, jedoch weiterhin aus der Ferne versuchen, Einfluss auf die Politik des Heimatlandes auszuüben. 12 Ein lang anhaltendes Engagement in Homeland Politics muss nicht als ausschließlich politisch und ideologisch motiviert gesehen werden. 13 Es erweist sich auch als ein zentraler sinnstiftender Mechanismus im Prozess der Bewältigung von Fluchterfahrungen. Kollektive, auf die „Heimat“ ausgerichtete, transnationale, politische Aktivitäten bekommen einen erhöhten Stellenwert. Durch diese Aktivitäten werden Kämpfe um die Veränderung der Fluchtursachen gegen das vertreibende Regime sowie um die Anerkennung des erfahrenen Unrechts ausgetragen, sinnstiftende Selbstentwürfe des Lebens im Exil kreiert und Schuldgefühle gegenüber Zurückgebliebenen getilgt. article/ 145/ Boletin%20Enero-Marzo%20SIADDHH%202017.pdf (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). 9 Revista Semana: ONU preocupada por asesinato de líderes sociales. URL: http: / / www. semana.com/ nacion/ articulo/ onu-preocupada-por-asesinato-de-lideres-sociales/ 518741 (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). 10 Pedro Menéndez: El Gobierno Toleró el Espionaje Colombiano contra Activistas y Refugiados en Asturies (2013). URL: https: / / www.diagonalperiodico.net/ asturies/ gobiernotolero-espionaje-colombiano-contra-activistas-y-refugiados-asturies.html (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). 11 URL: http: / / www.marchapatriotica.org/ index.php/ 82-ddhh-denuncias/ 4264-amenazande-muerte-a-nelson-javier-restrepo-arango-vicepresidente-de-la-constituyente-deexiliados-as-perseguidos-as-por-el-estado-colombiano (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). 12 Yossi Shain: The Frontier of Loyalty. Political Exiles in the Age of the Nation State. Middletown / CT 1989, S. 14. 13 Vgl. Eva K. Østergaard-Nielsen: Transnational Practices: Turks and Kurds in Germany. London 2003. <?page no="165"?> 164 Tininiska Zanger Montoya Das Engagement von kolumbianischen Exilierten in Homeland Politics, so meine These, ist zugleich ein Bewältigungsmechanismus für das Exiliert-Sein von dem Herkunftsland und ein Hindernis für die Einbindung im Aufnahmeland . Hier erscheint mir die Figur der „Liminalität“ von Victor Turner äußerst hilfreich. Er definiert, in Anlehnung an Arnold van Gennep, Liminalität als eine Übergangsphase, in der das Individuum sich zwischen zwei Strukturen, also in einem Zwischenraum , befindet. 14 Beispielsweise gibt es Exilierte, die ein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft im Aufnahmeland haben, sich jedoch, unabhängig von den Vorteilen, die eine Staatsbürgerschaft mit sich bringt, gegen diese entscheiden; sie möchten sich weiterhin als Verfolgte und Exilierte erkennen und aus dieser Position für das Land kämpfen. Sie verweilen also ‚freiwillig‘ in einem Zwischenraum. Sie sind, ähnlich wie Parkʼs marginal man, an den Grenzen zweier Welten ‚gefangen‘. Sie befinden sich in einer lang andauernden Übergangsphase, 15 die zu Enttäuschungen und Frustrationen führen, aber auch Spielräume für konstruktive Lösungsansätze öffnen kann. III. Rückkehr als Narration Der einzige Ausweg aus diesem transitorischen Zeit-Raum scheint oftmals die Rückkehr zu sein, das heißt, viele Exilierte verstehen Rückkehr als das einzige mögliche Ende des Exils. Eine Rückkehrorientierung prägt, unabhängig von einer tatsächlich vollzogenen Rückkehr, das Leben im Exil auf individueller (existentieller) und kollektiver (politischer) Ebene maßgeblich. Somit konstituiert sich das Feld der Rückkehr ebenfalls aus Aushandlungen von Rückkehrgedanken und -möglichkeiten, selbst wenn eine physische Rückkehr nicht stattfindet. Ursula Mihciyazgan zufolge dient die Rede von der Rückkehr einer Loyalitätsbekundung zur eigenen Gruppe. Diese erfüllt eine identitätsstabilisierende Funktion, ist hiernach also nicht nur als räumliche Kategorie, sondern auch als Metapher zu verstehen, welche die Lebenswelt der Migrant_innen, die von 14 Die liminale Phase ist durch Ambiguität charakterisiert: Der ‚liminale Mensch‘ hat seinen Status verloren und noch keinen neuen erlangt. Vgl. Victor Turner: Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites du Passage. In: William Lessa / Evon Vogt (Hg.): Reader in Comparative Religion. New York 1979, S. 234-243, hier S. 235 und S. 237. Vom Ritualkontext gelöst und auf das Exil übertragen, kann man die Zeit im Exil als eine verstetigte liminale Phase deuten. Die Exilierten hoffen jedoch, anders als bei Turner, nach der liminalen Phase (dem Exil) ihren früheren Status (ihre Heimat , ihr soziales und politisches Kapital) zurückzuerlangen. 15 Robert Ezra Park: Human Migration and the Marginal Man. In: The American Journal of Sociology 33 / 6 (1928), S. 881-893. <?page no="166"?> Ambivalente Rückkehr 165 dem „Entfernt-Sein“ bedroht ist, erhält. 16 Diese Loyalitätsbekundungen sind bei exilierten Kolumbianer_innen sowohl durch das Bekenntnis zur kolumbianischen Identität als auch durch die Rede über Rückkehr zu erkennen. Den Gedanken an die Rückkehr aufzugeben, würde eine Distanzierung vom Herkunftsland implizieren. IV. Rückkehr als kollektive Forderung In den letzten Jahren haben sich im Rahmen des Friedensprozesses zwei große Exil-Gruppierungen von Kolumbianer_innen konsolidiert, die viele kleinere bereits bestehende Aktivist_innengruppierungen zusammenfügten. Im Allgemeinen verfolgen sie drei Zwecke. Sie fungieren erstens als Sprachrohr für Aktivist_innen in Kolumbien und suchen die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft über Menschenrechtsverletzungen im Lande. Zweitens unterstützen sie den Friedensprozess aus dem Ausland. Drittens bemühen sie sich um Anerkennung und Wiedergutmachung von staatlicher Seite. Sowohl in Kolumbien als auch in den Aufnahmeländern wird die Existenz von Geflüchteten, Asylsuchenden und / oder Exilierten auf einer diskursiven Ebene, in Hinblick auf kolumbianische Emigration, in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Die Unsichtbarkeit der massiven Vertreibungen basiert auf der Grundlage, dass diese unter einer demokratischen Regierung stattgefunden haben, 17 welche den politischen Charakter des Konflikts lange Zeit negiert hat. 18 Im Jahr 2010 erließ Präsident Juan Manuel Santos das „Opfergesetz“, welches symbolische und ökonomische Wiedergutmachungen für Personen, die im Kontext des kolumbianischen Konflikts Menschenrechtsverletzungen und / oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts seit 1985 erlitten haben, vorsieht. 19 Der Schwerpunkt dieses Gesetzes liegt auf Landrückgabemaßnahmen für natio- 16 Ursula Mihciyazgan: Rückkehr als Metapher. In: Hans Barkowski / Gerd Hoff (Hg.): Berlin Interkulturell: Ergebnisse einer Konferenz zu Migration und Pädagogik. Berlin 1991, S. 267-277, hier S. 275. 17 Es handelt sich um eine von den Bürger_innen gewählte Regierung und nicht um eine Militärdiktatur, die viele Menschen ins Exil gezwungen hat, wie es in Chile, Argentinien oder Brasilien in den 1970er Jahren der Fall war (Scott Mainwaring / Anibal Pérez Liñán: Democracies and Dictatorships in Latin America, Emergence, Survival and Fall. New York 2013, S. 66 f.). Das Augenmerk wurde in Lateinamerika lange Zeit nicht auf diese repressive Praxis gelegt, weil davon ausgegangen wurde, dass diese mit dem Ende der Diktaturen aufgegeben worden war. 18 Die Existenz eines bewaffneten Konflikts in Kolumbien wurde erst 2010 unter der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos anerkannt (Ortiz / Kaminker: Suramérica y los Refugiados Colombianos [Anm. 6], S. 37). 19 Ley 1448 / 11 Ley de Víctimas y Restitución de Tierras. <?page no="167"?> 166 Tininiska Zanger Montoya nal Vertriebene. 20 Es bezieht nur implizit jene Opfer ein, die sich außerhalb des Landes befinden. An Rückkehrer_innen (jeglicher Art) ist die Ley de Retornos (dt. Rückkehrgesetz) gerichtet. 21 Hier werden eine ganzheitliche Begleitung für Rückkehrende sowie finanzielle, zoll- und steuerrechtliche Anreize für sie vorgesehen. Der Text geht jedoch nicht auf eine tatsächliche Umsetzung ein und ist bisher auch noch nicht in Kraft getreten. Die Exilgruppen kämpfen in diesem Kontext für tatsächliche Anerkennungs- und Wiedergutmachungspolitiken für Kolumbianer_innen im Ausland. Ein großer Teil der Forderungen widmet sich der Reform der Opfergesetze, damit die Opfer außerhalb des Landes einen tatsächlichen Einlass in diese finden. Im Allgemeinen suchen sie die Ermöglichung einer sicheren und würdevollen Rückkehr sowie Entschädigungen und Sicherheit für diejenigen, die sich gegen eine Rückkehr entscheiden. 22 Bei diversen Veranstaltungen von Exil-Gruppierungen in Spanien und in Deutschland erschien die Rückkehr immer wieder als zentrale Komponente ihrer politischen Kämpfe: Wir, die vom Staat verfolgten Exilierten, müssen eine staatliche Politik der würdevollen Rückkehr verlangen, mit allen Schutz- und Sicherheitsgarantien für unsere körperliche Unversehrtheit, sowie mit all denjenigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechten, die wir als Staatsbürger verdienen. 23 Ein schwerwiegender Konflikt um die Rückkehr tritt im Rahmen der institutionellen Anerkennung auf. Bei einem Treffen der Gruppe Exiliados perseguidos por el Estado Colombiano (dt. Vom kolumbianischen Staat verfolgte Exilierte) im März 2017 war die Frage, ob ihre Mitglieder sich als Opfer im Registro único de víctimas (dt. zentrales Opferregister) einschreiben sollten ein zentraler Diskussionspunkt. Eine Registrierung im Opferregister ist Voraussetzung, um sich für einen Platz an der Mesa Nacional de Víctimas (dt. der Nationale Opfertisch), dem Sprachrohr der Opfer bei der Implementierung der Friedensverhandlungen, bewerben zu können, sowie um an den in den Opfergesetzen vorgesehenen Entschädigungen teilhaben zu können. Die Opfer im Ausland müssen sich in den Konsulaten der Städte, in denen sie sich befinden, registrieren. Viele Exilierte haben Vorbehalte, in die Konsulate zu gehen, da diese als kolumbianisches Ter- 20 Kolumbien ist mit über 7,4 Millionen Binnenflüchtlingen das Land mit der höchsten Zahl an Binnenflüchtlingen weltweit (vgl. UNHCR (Anm. 5); David Graaff [u. a.] (Hg.): Kolumbien: vom Failing State zum Rising Star? Ein Land zwischen Wirtschaftswunder und humanitärer Krise. Berlin 2013, S. 11 und S. 105). 21 Ley 1565 / 12 Ley de Retornos. 22 Vereinzelt treten in letzter Zeit Fälle auf, in denen Aufenthaltsgenehmigungen nicht verlängert wurden, weil Kolumbien sich formell in einer Post-Konflikt Situation befindet. 23 Auszug aus der Internetseite der Gruppe Constituyente de Exiliad@s 2017 (Übersetzung T. Z. M.). URL: http: / / exiliocolombiano.org/ (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). <?page no="168"?> Ambivalente Rückkehr 167 ritorium gelten und sie dort zumindest theoretisch verfolgt oder festgenommen werden könnten. Eine Frau erklärte zudem: Das ist total widersinnig, warum müssen wir unsere Leidensgeschichte nochmal erzählen, um von der Regierung anerkannt zu werden? Die Aufnahmeländer, das internationale Recht hat uns ja schon als Opfer anerkannt, sonst hätten wir keinen Asylstatus, oder? Das müsste doch reichen! Wir müssen die Täter darum bitten, uns als Opfer anzusehen und die Entscheidungsmacht liegt in deren Händen. Das heißt, man muss sich vor dem Täter verbeugen. Diese Option ist aber alternativlos, da wir sonst nicht als Teil der Verhandlungen miteinbezogen werden. 24 Zudem steht im Opfergesetz, dass eine Anerkennung als Opfer keine Anerkennung der Verantwortung von staatlicher Seite bedeutet, 25 und um eben diese Verantwortungsübernahme kämpft die Gruppe. Die Gruppe sieht die Opfergesetze demnach als eine Strategie der Regierung, um, ohne eine konkrete Verantwortungsübernahme, dennoch in einem positiven Licht zu erscheinen. Aus pragmatischen Gründen wurde letztlich dennoch beschlossen, dass eine Registrierung der Einzelpersonen gerechtfertigt sei. V. Individuelle Perspektiven im Konflikt Die Rückkehr als zentrale Forderung der Exil-Gruppen ist als eine politische Strategie zur Eröffnung eines Möglichkeitsraums zu verstehen. So sind auch individuelle Bekundungen eines Rückkehrwunsches nicht als naive, konkrete Absichten, sondern als Äußerung eines Zugehörigkeitswunsches zu einer gewissen Gruppe zu verstehen. 26 In Einzelgesprächen wurden verschiedene individuelle Konflikte, aber auch Auseinandersetzungen zwischen Zurückgekehrten und Exilierten in Hinblick auf Rückkehr ersichtlich. Im folgenden Abschnitt skizziere ich verschiedene Narrationen von Exilierten zu Rückkehr. Irma war Mitglied der UP und verließ 1989 aufgrund von Drohungen Kolumbien. Nach sechsundzwanzig Jahren im Exil kehrte sie 2015 nach Kolumbien zurück. Dort kandidierte sie für die Regionalwahlen in einer Region Kolumbiens und repräsentiert gegenwärtig die aus den Friedensverhandlungen heraus gegründete linke Partei Voces de Paz (dt. Friedensstimmen) im Abgeordnetenhaus. Nach ihrer Rückkehr wurde sie Opfer eines Attentats bei einer Versammlung verschiedener kommunistischer Aktivist_innen in ihrer Region, aus dem sie 24 Einzelgespräch Luisa O., 10. Januar 2017 (Übersetzung T. Z. M.). 25 Ley de Víctimas 1448 / 11 § 9. 26 Cord Pagenstecher: Die „Illusion“ der Rückkehr. Zur Mentalitätsgeschichte von „Gastarbeit“ und Einwanderung. In: Soziale Welt 47 / 2 (1996), S. 149-179, hier S. 168 f. <?page no="169"?> 168 Tininiska Zanger Montoya jedoch unverletzt entkam. Sie war im April 2017 bei einer Veranstaltung des Foro Internacional de Víctimas (dt. Internationales Opferforum) anwesend und hielt dort eine Rede, in der sie unter anderem über ihre Rückkehrentscheidung sprach: Meine Familie ist erneut zersplittert worden, weil ich vorerst alleine zurückgekehrt bin […]. An einem Tag in Schweden, da waren mein Mann und ich schon in Rente, kamen einige Briefe zu Hause an, die uns zu verschiedenen Aktivitäten für Pensionierte einluden […]. Ich nahm alle drei Briefe und bekam so eine Art Existenzangst, ging ins Wohnzimmer zu meinem Mann […] und sagte zu ihm: denkst du, dass wir den Rest unserer Tage so hier verbringen werden? Indem wir den Alltag mit solchen Dingen unterhalten, während der Tod uns aufsucht? Ich werde nicht sitzend auf den Tod warten, der Tod soll mich dort, in Kolumbien überraschen, während ich versuche, das Land zu verändern, ich gehe! 27 Diese Anekdote stellt ihre Entscheidung als etwas Emotionales, Unüberlegtes und relativ einfach dar. Sie bezieht sich auch auf ihre Kinder und weist implizit darauf hin, dass ihre persönlichen Verhältnisse kein Hindernis für ihre Rückkehr waren, jedenfalls geht sie (weder zu dem noch zu einem späteren Zeitpunkt) nicht weiter darauf ein. Sie weist auch darauf hin, dass man nicht versucht, das Land zu verändern, wenn man im Aufnahmeland bleibt. Während der Veranstaltung ergriff ein Mann aus dem Publikum das Wort und sagte, dass eine Rückkehr schwierig sei, dass viele nach Jahrzehnten zurückgekehrt seien und sich in Kolumbien wie Immigranten fühlen. Irma schüttelte den Kopf, nahm das Mikrofon an sich und antwortete: „Es ist nicht schwierig, man kehrt nicht zurück, um ein Fremder im eigenen Land zu sein. Man kehrt zurück, um sich das Land erneut anzueignen und um dafür zu arbeiten“, und weiter: Dieses Land braucht mich, es braucht Euch alle. Um zu arbeiten, um Gewissen zu generieren, um etwas aufzubauen. Die Zeit, die wir im Exil verbracht haben, hat uns ohne Zweifel geholfen, um uns zu beruhigen, um eine andere Sichtweise auf das Land zu bekommen, eine optimistischere und kreativere Sichtweise. Und ich rufe Euch alle auf, um ernsthaft über eine Rückkehrmöglichkeit nachzudenken. Wir sind dort notwendig, unabhängig von unserem akademischen Status, unserem Alter oder der spezifischen Lebenslagen. Unsere Gegenwart ist zwingend erforderlich. Das Genozid gegen die UP und das Exil haben dem Land eine ganze Generation von Menschen, die politische Verantwortung hatten, genommen. Dort gibt es niemanden, mit dem man arbeiten kann, es gibt keine Militanten. Die jungen Menschen aus den Unis kennen das 27 Vortrag Irma D., 8. April 2017 (Übersetzung T. Z. M.). <?page no="170"?> Ambivalente Rückkehr 169 Land nicht, kennen unsere Geschichte nicht, so wie Ihr alle sie kennt. Wir werden dort benötigt! […] Wir können nicht da sitzen und darauf warten, dass die Regierung uns in der Schweiz anruft und fragt ob wir zurückkehren wollen oder nicht, ob wir Entschädigungen wollen oder nicht. Wir können nichts von der Regierung erwarten. 28 Diese Aufforderung zur Rückkehr verdeutlicht, dass aus der Ferne nicht viel Einfluss auf die politische Landschaft des Herkunftslandes möglich sei. Allerdings bezeichnet sie die Exilierten als „die Richtigen“ für einen politischen Wandel, aber nur, wenn sie zurückkehren. Aufforderungen zur Rückkehr werden von Exilierten nicht unkritisch hingenommen. Sie verweisen auf die Schwierigkeiten einer Rückkehr und darauf, wie gewisse Privilegien eine Rückkehr erleichtern können: Also eine Sache ist die Rückkehr von jemandem […] [mit] Möglichkeiten, also, sie ist zurückgekehrt, aber sie hat die […] Staatsangehörigkeit [des Aufnahmelandes]. Sie ist zurückgekehrt, nachdem sie in Rente gegangen ist. Sie kehrte zurück, um für einen wichtigen Posten zu kandidieren. Sie hat Sicherheitsgarantien und Leibwächter. Die große Mehrheit von uns wird solche Möglichkeiten jedoch nicht haben, es gibt da große Schwierigkeiten … 29 Man kann nicht in eine Region kommen, in ein Land kommen, als ob man nie gegangen wäre … Außerdem schau mal, alle meine Freunde sind tot, sie existieren nicht … man hat dort keinen Horizont. Also, klar, man kennt die Straßen, man orientiert sich, es ist nicht, wie als wir hier angekommen sind, aber trotzdem hat man keinen Horizont mehr. 30 Ähnlich wie in anderen Ländern mit einer Exilgeschichte, werden auch in Kolumbien die Exilierten oftmals von Mitstreiter_innen als Personen konstruiert, die das Land verlassen haben, als sie dort gebraucht wurden. Sie hätten sich eine Art „goldenes Leben“ im Exil gegönnt, während die Zurückbleibenden trotz Armut, Unsicherheit und Repression weiterhin im Lande geblieben seien: Die Leute dort wollen nicht, dass man zurückkehrt. Es gibt Ängste und Räume, die andere besetzt haben, sie wissen, dass es gefährlich ist, dass man die Räume zurückerobern könnte. Also ein Tag oder zwei freuen sie sich sehr, aber nach einer Woche wollen sie, dass man wieder geht. Sie denken ja auch, wir seien feige, Verräter, sie denken, dass man hier Millionär geworden ist und großen Spaß hatte. Wir werden als die Verwöhnten dargestellt, die alle Garantien hatten, ein total falsches Konzept. 31 28 Ebd. 29 Interview Wilson M., 20. April 2017 (Übersetzung T. Z. M.). 30 Interview Bettina G., 19. April 2017 (Übersetzung T. Z. M.). 31 Ebd. <?page no="171"?> 170 Tininiska Zanger Montoya Bettina, eine Exilierte, die seit 1996 in der Schweiz lebt, beschrieb auch ein fehlendes Heimatgefühl als eine Schwierigkeit im Fall einer Rückkehr. Dabei bezog sie sich auf ihre erste Rückkehr nach Kolumbien, als sie vor einigen Jahren anderthalb Monate dort verbrachte. Der Geschmack verändert sich auch, obwohl man denkt, er wird immer der Gleiche bleiben … Das merkt man, wenn man die alten Sachen isst. Und es ist schwierig in die Stadt zurückzukehren, von der man denkt man kennt sie, und dann merkt man, dass das keine Heimat mehr ist […]. Außerdem ist es wegen den Kindern schwierig, wegen der Arbeit, der sozialen Sicherheit, der Gefahr. Uribe [ehemaliger Präsident Kolumbiens, gegenwärtiger Senator und Gründer einer neuen rechtsextremen Partei] erwähnt mich ja bei Interviews immer noch. 32 Die Aufforderung, sich für eine Rückkehr zu entscheiden wird kritisch rezipiert. Dennoch spielt politische Verantwortung in vielen Fällen eine zentrale Rolle in Rückkehrnarrationen. Die Angst, also früher hatte man keine Angst. Obwohl, wenn man zurückkehrt und dort ein Jahr verbringt, dann ist man wieder vollkommen dabei, das fasziniert einen, ich meine, die Politik ist in unserer Genetik … Ich sage ja, dass ich nicht in Kolumbien in die Politik zurückkehren möchte, sondern in den sozialen Bereich, weil die Jungen, die dort sind, die sollen die Politik machen, die dort geblieben sind. Aber das sage ich hier, wenn ich dort hingehe, kann es etwas anderes sein. Ich möchte schon zurückkehren, in diesem politischen Kontext. 33 Ich denke schon, dass man schon eine Rückkehr planen sollte. Weil wir lebendig sind, müssen wir den kolumbianischen Prozess unterstützen. Egal ob als Politiker oder nicht … Und wir haben ja auch hier eine andere Weltsicht bekommen, wir haben viel von Europa gelernt. […] Ich habe die Hoffnung noch nicht verloren, ich glaube an den Frieden und daran, dass wir vorankommen können. Und vielleicht brauche ich eine Weile für die Rückkehr, vielleicht auch nicht. 34 Für Bettina ist der Rückkehrgedanke stark im Kopf verankert. Gefühle der Zugehörigkeit oder „Heimweh“ scheinen nicht ausschlaggebend für eine Rückkehr zu sein. Freunde und Bekannte seien verstorben, die meisten ihrer ehemaligen Mitstreiter_innen würden sich ihre langfristige Rückkehr nicht wünschen, und ihre entfernte Familie würde sie auch nicht vermissen. Zentral scheint in ihrem Fall ein Gefühl der Verantwortung mit dem historischen Moment, das Kolumbien gegenwärtig erlebt, zu sein. Es sei verantwortungslos, nicht in Kolumbien 32 Ebd. 33 Einzelgespräch Bettina G., 9. April 2017 (Übersetzung T. Z. M.). 34 Interview Bettina G., 19. April 2017 (Übersetzung T. Z. M.). <?page no="172"?> Ambivalente Rückkehr 171 zu sein, um den Friedensprozess zu unterstützen. Insgesamt schien sie überzeugt davon, eine (gut vorbereitete) Rückkehr sei das Richtige. Ängste spielen natürlich eine große Rolle, dürften aber nicht ausschlaggebend für das eigene Handeln werden. Eine gegensätzliche Perspektive nahmen verschiedene exilierte Frauen ein. Bei mehreren Veranstaltungen verwiesen sie emphatisch darauf, dass es sehr wichtig sei, auch würdevolle Entschädigungsmechanismen für diejenigen Personen, die nicht zurückkehren wollen, einzufordern: „Man muss auch über die Nicht-Rückkehr als Option nachdenken. Man muss diejenigen unterstützen, die nicht zurückkehren, die im Ausland bleiben wollen, allein schon wegen unserer Kinder! “ 35 Besonders bei Frauenorganisationen kam dieser Fokus mit einem Appell gegen die Schuldgefühle zur Geltung, das heißt, dass niemand den Druck verspüren solle, er oder sie müsse zurückkehren und dass es keine richtige und keine falsche Entscheidung gäbe. Die Aktivitäten der Frauengruppen zielen zu großen Teilen auf die Verarbeitung der traumatischen Fluchterfahrung, also auf eine psychosoziale Bewältigung in den Aufnahmeländern. Oft waren es Männer, die während der Veranstaltungen aufsprangen und laut verkündeten, dass „jeder sofort zurückkehren würde, wenn die Sicherheitsgarantien gewährleistet wären“. Ich hörte solche Aussagen auch von Frauen, aber Letztere schienen insgesamt, jedenfalls auf einer diskursiven Ebene, das Thema pragmatischer anzugehen und sich praxisorientierte Gedanken über die Möglichkeiten und Probleme einer Rückkehr zu machen. Ich habe mir fünf oder sechs Jahre für eine Rückkehr vorgenommen. Ich will ein wenig hin- und herreisen, um zu beobachten wie es aussieht. […] Ich möchte es sehr langsam machen, und mit Ruhe, und wenn ich zurückkehre, dann an dem Tag, wenn ich denke, dass es angemessen ist, und wenn die Umstände es erlauben. Ohne die Eile, in der wir aus Kolumbien geflohen sind. Aber der Friedensprozess öffnet uns die Türen. 36 VI. Schluss Abschließend können Rückkehrentscheidungen aus zahlreichen Faktoren als hoch komplex und ambivalent charakterisiert werden. Auf einer kollektiven Ebene werden Anerkennung und Wiedergutmachung als Voraussetzung für eine Rückkehr eingefordert. Diese Forderungen sind aufgrund des erläuterten Kontextes des Landes in naher Zukunft schwer zu erreichen. Zudem entsteht 35 Einzelgespräch Andrea B., 15. Mai 2017 (Übersetzung T. Z. M.). 36 Interview Bettina G., 19. April 2017 (Übersetzung T. Z. M.). <?page no="173"?> 172 Tininiska Zanger Montoya durch die hohe Zahl an Opfern des Konfliktes eine Hierarchisierung der Opfer, in der die Exilierten nicht vorrangig einer Wiedergutmachung bedürfen; sie werden in Kolumbien vermehrt als „privilegierte Opfer“ wahrgenommen. Rückkehrentscheidungen liegen also weiterhin in individuellen Motivationen, die nicht in erster Linie durch staatliche Anerkennung bedingt sind. Auf individueller Ebene spielen in der Rückkehrentscheidung Ängste vor Arbeitslosigkeit und / oder sozialem Abstieg, sowie Entfremdung vom Herkunftsland und im Aufnahmeland verankerte Lebensentwürfe eine wichtige Rolle. Die weiterhin stattfindenden Verfolgungen politischer Aktivist_innen erschweren es, den Entschluss zu einer Rückkehr zu fassen. Die emotionale Sehnsucht nach Heimat wird realistisch reflektiert und ist in vielen Fällen nicht ausschlaggebend für eine Rückkehrentscheidung. Der Wunsch nach Anerkennung bleibt jedoch ein relevanter Beweggrund. Von Seiten der politisch Gleichgesinnten in Kolumbien gibt es eine starke Erwartungshaltung, dass die Exilierten zurückkehren. Da die kolumbianische Politik für viele Exilierte zentral in ihren Lebensentwürfen ist, und sie die Involvierung darin nicht aufgeben wollen bzw. können, entstehen im aktuellen Kontext der Friedensverhandlungen Schuldgefühle, „nicht dabei zu sein“, sowie der Wunsch in diesem historischen Szenario einen politischen Beitrag zu leisten. Für Charles Taylor sind Anerkennung und Identität in der modernen Welt eng miteinander verbunden. Die Identität eines Menschen, so Taylor, ist sein Verständnis über sich selbst und seine individuellen Eigenschaften. Da Identität stets in einem dialogischen Verhältnis entsteht sind significant others notwendig für die eigene Identitätskonstruktion. So ist Anerkennung oder das Fehlen eben dieser Anerkennung grundlegend für die Konstruktion von Identität, Selbstwahrnehmung und Selbstachtung eines Individuums. 37 Die Fluchterfahrung und die Jahre außerhalb Kolumbiens haben den Exilierten ihre Zugehörigkeit zur imaginierten Gemeinschaft der Heimat beraubt. In vielen Fällen entwickelte sich kein Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft. Dies führt zu einem erhöhten Stellenwert der Zugehörigkeit auf einer politischen Ebene. Sie wird jedoch von ihren significant others in Frage gestellt, sollten sie sich in diesem wichtigen historischen Moment gegen eine Rückkehr entscheiden. Eine Nicht- Rückkehr würde die Loyalität zu dem politischen Projekt in Kolumbien in Frage stellen, und eben diese Loyalität ist zentral für die Exilierten. Allerdings spielen die ambivalenten Narrationen der Exilierten als individuelles und kollektives Subjekt eine große Rolle im tatsächlichen Entscheidungs- 37 Vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main 1994; Charles Taylor: The Politics of Recognition. In: Amy Gutmann (Hg.): Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition. Princeton / NJ 1992, S. 25-73. <?page no="174"?> Ambivalente Rückkehr 173 prozess für oder gegen eine Rückkehr. Die mögliche eigene Entfremdung von dem heutigen Kolumbien, aber auch die drohende Nicht-Akzeptanz der eigenen Exilgeschichte machen den Schritt in die „Heimat“ zum Wagnis. Nicht zuletzt muss die besondere Rolle der Exilierten im transnationalen Raum berücksichtigt werden. Ihre transnationale Teilhabe an den Homeland Politics ist teils über Jahrzehnte sinn- und identitätsstiftendes Element auf individueller Ebene des Subjekts geworden. Auf kollektiver Ebene sind die Exilierten Multiplikatoren des historischen Friedensprozesses in Kolumbien. Inwieweit eine Rückkehr und damit ein (Teil-)Verlassen des transnationalen Raumes die ersehnten Veränderungen im Leben von Exilierten bringen und welche neuen Hybridräume sie dabei betreten, werden der andauernde Friedensprozess und die vielfältigen, individuellen Lebensentscheidungen zeigen. <?page no="176"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 175 Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil Der deutsch-tschechoslowakische Grenzraum als politischer Ort, 1920 bis 1938 Swen Steinberg, Dresden Borderland Studies und die Netzwerkanalyse haben in den vergangenen Jahren ein gesteigertes Interesse in der Geschichtswissenschaft gefunden. 1 Die Befassung mit Grenzregionen entwickelte sich dabei zu einem eigenständigen Teilsegment der Area Studies, die als Geschichte mit Regionenfokus territoriale Verbünde jenseits des Nationalstaats untersuchen. Die Borderland Studies folgen diesem Konzept, befassen sich aber vor allem mit grenzübergreifenden Regionen, die sie auf ihre inneren Zusammenhänge und Verbindungen jenseits nationaler Rahmungen hin untersuchen - hier beispielsweise das Saarland, das Elsass oder Tirol. Und eben den deutsch-tschechoslowakischen Grenzraum, für den Caitlin Murdock 2010 mit Changing Places eine grundsätzliche Studie vorgelegt hat: sie charakterisierte das sächsisch-böhmische Grenzland als fluiden bzw. semipermeablen Raum, der zwischen 1871 und 1938 in sich verbunden und mobil war, mit einer „shared culture, family ties, landscapes, and economic interests“. Vor allem in dieser Region geht sie von „overlapping political and social spaces“ aus, die zudem durch Netzwerke geprägt waren: familiale Netzwerke, wie auch ökonomische und eben politische - „even nationalists built crossborder poilitical networks“. Dem folgend kommt sie zu dem Schluss: 1 Vgl. hierzu exemplarisch zur Einführung und zur Anwendung Ulrike Kaden Roose: Three Perspektives on Borderland Research. How Borderland Studies Could Exploit its Potential. In: Advances in European Borderland Research 7 (2017), S. 35-45; Benjamin Bryce / Alexander Freund (Hg.): Entangling Migration History: Borderlands and Transnationalism in the United States and Canada. Gainesville 2015; Marten Düring / Ulrich Eumann: Historische Netzwerkforschung. Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften. In: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013) 3, S. 369-390; Morten Reitmayer / Christian Marx: Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft. In: Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung. Wiesbaden 2010, S. 869-880; Birgit Schäbler: Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte. Wien 2007; Madeleine Hurt (Hg.): Borderland Identities. Territory and Belonging in Central, North and East Europe. Eslöv 2006; Rosemary A. King: Border Confluences. Borderland Narratives from the Mexican War to the Present. Tucson / AZ 2004. <?page no="177"?> 176 Swen Steinberg „Transnational analysis means examining borderland as a network of relationships among interest groups, populations, and institutions.“ 2 Diesem Blickwinkel folgt der vorliegende Beitrag am Beispiel der sächsischen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien und Organisationen und zeigt Verbindungslinien zwischen der politischen Emigration aus dem Deutschen Reich bzw. speziell aus Sachsen und den Widerstandsaktivitäten ab 1933 sowie die dazugehörigen Vorgeschichten auf: Denn für viele Funktionäre bis auf die lokale Ebene war das Exil zweifelsohne eine von Verlusten geprägte Erfahrung - teils der Familie, in jedem Fall des sozialen Umfeldes, des Berufs, Eigentums. 3 Für die meisten Angehörigen dieser Gruppen vor allem aus Sachsen war aber, das ist zumindest die These dieses Aufsatzes, diese Emigration alles andere als eine ‚zufällige Situation‘, konnten sie doch auf die Einbindung in eben jene grenzübergreifenden Netzwerke aus der Zeit vor 1933 zurückgreifen: 4 Ansätzen der Historischen Netzwerkforschung folgend, die vom „strategischen Einsatz“ von Netzwerken, der „historischen Einbettung“ ihrer Akteure und deren „Fähigkeit zur Ressourcenmobilisierung“ ausgehen, 5 vermochten es diese Gruppen, sich rasch neu zu organisieren. Zudem bewegten sie sich in Nordböhmen ohnehin in einem politisch wie ideologisch ähnlich strukturiertem und mithin deutschsprachigem Raum. 6 Dieser erweiterte, die Zeit der Weimarer Republik berücksichtigende Blickwinkel dürfte deswegen neue Erkenntnisse für die Interdependenz solcher Grenzräume liefern. Für den sächsisch-böhmischen 2 Caitlin E. Murdock: Changing Places. Society, Culture, and Territory in the Saxon-Bohemian Borderlands, 1870-1946. Ann Abour / MI 2010, S. 4 f., S. 8 und S. 12. 3 Vgl. zum Aspekt des Abschieds Marita Krauss: Grenze und Grenzwahrnehmung bei Emigranten der NS-Zeit. In: Andreas Gestrich / dies. (Hg.): Migration und Grenze. Stuttgart 1998, S. 61-82, hier S. 68-70. 4 Vgl. hierzu Swen Steinberg: How to Become Isolated in Isolation? Networks in the German Political and Trade Union Exile after 1933. In: Helga Schreckenberger (Hg.): Networks of Refugees from Nazi Germany. Continuities, Reorientations, and Collaborations in Exile. Amsterdam 2016, S. 89-108 sowie generell die Beiträge zum Zusammenhang von Netzwerken und Exil in diesem Band. 5 Reitmayer / Marx: Netzwerkansätze (Anm. 1), S. 870. 6 Vgl. hierzu exemplarisch Thomas Oellermann: Der Arbeiter- Turn- und Sportverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. In: Marek Waic (Hg.): Deutsche Turn- und Sportvereine in den tschechischen Ländern und in der Tschechoslowakei. Prag 2008, S. 327-346; Andreas Luh: Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung. München 2006; Andreas Reich: Von der Arbeiterselbsthilfe zur Verbraucherorganisation. Die deutschen Konsumgenossenschaften in der Tschechoslowakei 1918-1938. München 2004. <?page no="178"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 177 Grenzraum gilt dies umso mehr, da die Forschung etwa zum Widerstand in den böhmischen Ländern lange sehr verengt nur auf die Zeit ab 1933 fokussiert war. 7 Im ersten Teil des Beitrags wird kurz der sächsisch-böhmische Grenzraum in seiner Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert vorgestellt. Danach wird in einem zweiten Teil beispielhaft auf grenzübergreifende sozialdemokratische Netzwerke und Aktivitäten eingegangen, die sich hier in den 1920er Jahren identifizieren lassen. Aufbauend darauf geht es im dritten Teil dann um die Bedeutung der politischen Arbeit der deutschen Emigration in diesem Grenzraum. In diesen beiden Teilen wird auch der zeitgenössische Begriff der „Grenzarbeit“ eine Rolle spielen, und mithin das Thema des vorliegenden Bandes: nämlich inwiefern diese Grenze für die hier vorgestellten Protagonisten mit Erfahrungen verbunden war und wie diese reflektiert wurden. Und wie die Grenze selbst als Erfahrungsraum vor allem ab 1933 thematisiert wurde. 8 I. Der sächsisch-böhmische Grenzraum Der etwa 300 Kilometer messende und maßgeblich durch das Erzgebirge markierte sächsisch-böhmische Grenzraum war, dies hat Caitlin Murdock in der oben angeführten Studie herausgearbeitet, 9 trotz der Entstehung der Nationalstaaten und ihrer Grenzregime im 19. Jahrhundert ein Raum mit hoher Durchlässigkeit: vor dem Ersten Weltkrieg gab es beispielsweise starke Bewegungen der Arbeitsmigration von Böhmen nach Sachsen, in weiten Teilen war die sächsische Industrialisierung ohne diese Gruppe nicht denkbar. 10 Hinzu kam der zumeist lokale kleine Grenzverkehr über die in weiten Teilen nicht gesicherte grüne Grenze, der für einige Regionen im Grenzraum teils erhebliche wirt- 7 Allerdings führte die Aufarbeitung vor allem in den 2000er Jahren auch dazu, dass die ‚anderen Deutschen‘ in das tschechische Geschichtsbild integriert werden konnten. Vgl. hierzu Alena Wagnerová (Hg.): Helden der Hoffnung. Die anderen Deutschen aus den Sudeten 1935-1989. Berlin 2008; Zdeňka Kokošková (Hg.): Schicksale der vergessenen Helden. Geschichten der deutschen Antifaschisten aus der ČSR. Prag 2008; Tomáš Okurka (Hg.): Vergessene Helden. Deutsche NS-Gegner in den böhmischen Ländern / Zapomenutí hrdinové. Němečtí odpůrci nacismu v českých zemích. Ústí nad Labem 2008. 8 Vgl. hierzu die anregenden Ausführungen bei Krauss: Grenze (Anm. 3). 9 Vgl. zum Folgenden Murdock: Places (Anm. 2), S. 17-180. 10 Vgl. hierzu jüngst Kathrin Lehnert: Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert. Leipzig 2017 sowie Sönke Friedreich: Fremd bleiben. Perspektiven auf Nahmobilität und Pendelmigration zwischen Böhmen und Dresden im 18. und 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Europäische Ethnologie 3 (2009) 4, S. 149-164; ders.: Ganz fremde Männer. Böhmische Hausierer in Dresden und Chemnitz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 50 (2008), S. 135-155. <?page no="179"?> 178 Swen Steinberg schaftliche Bedeutung hatte und sich bis hin zur Heirat auch in die Sozialbeziehungen verfolgen lässt. Darüber hinaus war mit dem im frühen 20. Jahrhundert entstehenden Tourismus etwa in der bereits für die wandernden Romantiker zentralen und ebenso grenzübergreifenden Sächsischen Schweiz, im Zittauer Gebirge und im Erzgebirge eine eigene Entwicklung verbunden. Im Gefolge der Heimatbewegung entdeckte sich diese Region dann gewissermaßen selbst neu und vermarktete sich vor allem mit hölzerner Heimatkunst, deren Tradition auch keine Grenzen kannte. 11 Mobilität und Mehrsprachlichkeit, Marktanbindung und Zugang zu Arbeitsplätzen, soziale und familiale Netzwerke - all dies spielte in der Lebenswelt der Menschen im sächsisch-böhmischen Grenzraum eine große Rolle und führte zu Aushandlungsprozessen, zu einer „Balance“ zwischen Nation, föderalem Staat und lokalen Interessen. Hinzu kommt, dass sich der für das späte 19. Jahrhundert als bestimmend angenommene Nationalismus als ‚einfache Antwort‘ in der Grenzregion Erzgebirge erst nach dem Ersten Weltkrieg einer „wider popular acceptance“ erfreute und sich gar erst in den 1930er Jahren durchsetzte: 12 der deutsche ‚Heimat-Nationalismus‘ und die deutschen Nationalisten beeinflussten auch den böhmischen Grenzraum weniger, als lange angenommen - die Gemengelage aus habsburgischer und deutsch-böhmischer Prägung führte hier zu einer eigenen Entwicklung. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete diese Sondersituation relativ schnell; dies nicht zuletzt, da umgehend und vorderhand mit Blick auf die Aushebung von Soldaten das Grenzregime verstärkt wurde. Nach der Revolution von 1918 und der Gründung der Weimarer Demokratie sowie des demokratischen Staates Tschechoslowakei ( ČSR ) nahmen beide Staaten diplomatische Beziehungen auf, auch kehrte man zum alten Grenzverhältnis zurück. Allerdings schlug in Sachsen die Stimmung gegen die aus Böhmen stammenden Arbeiter - jenseits des Internationalismus der Arbeiterbewegung - in antitschechische Ressentiments durch, die spätestens nach der Wirtschaftskrise 1922 / 23 im gesamten ‚Grenzraum‘ zu beobachten waren: Menschen beiderseits der Grenze bezeichneten sich nun als „foreigners, opportunists, and hypoccrites“. 13 Suchte man nach der restriktiven Grenzsicherung im Ersten Weltkrieg, die Ende 1915 lediglich in eine Lockerung des „kleinen Grenzverkehrs“ gemündet hatte, spätestens ab 1920 wieder an die Vorkriegsverhältnisse anzuknüpfen, so 11 Vgl. hierzu Sönke Friedreich: Die Entstehung des Heimatgedankens aus der Mobilität. Das historische Beispiel des sächsischen Erzgebirges. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne. Leipzig 2010, S. 87-101; Caitlin Murdock: Tourist Landscapes and Regional Identities in Saxony, 1878-1938. In: Central European History 40 (2007) 4, S. 589-622. 12 Murdock: Places (Anm. 2), S. 156. 13 Ebd., S. 119. <?page no="180"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 179 setzte sich nach der Hyperinflation die Meinung durch, dass die Behandlung der Grenzregion als „distinct terriories“ besser sei für beide Seiten als die „beneficial coexistence“. 14 Zwar bestanden weiterhin wirtschaftliche Kontakte und Austauschprozesse; auch arbeiteten die in diesem Beitrag vorgestellten politischen Gruppen intensiv und gegen die genannten Vorurteile zusammen. Spätestens die Weltwirtschaftskrise 1929 ließ die wirtschaftlichen Kontakte aber immer mehr abnehmen. Stattdessen setzte sich insbesondere in Sachsen eine aggressivantislawische Grenzlandrhetorik durch, die auch von den Nationalsozialisten bedient wurde. Allerdings, und dies war für viele deutsch-böhmische Nationalisten eine Überraschung und ein herber Rückschlag, führte die Machtübernahme der Nationalsozilisten weder nach 1933 zu deren Bevorzugung als Arbeitskräfte in Sachsen - sie standen im Verdacht, gegebenenfalls doch Anhänger des demokratischen tschechoslowakischen Staates zu sein, hinzu kamen konstruierte rassistische Argumente. Und auch nach der Besetzung Nordböhmens im Oktober 1938 blieb die Unterscheidung zwischen „Reichsdeutschen“ und „Sudetendeutschen“ erhalten, hinzu kamen massive wirtschaftliche Einbrüche: Mit dem Wegfall der Grenze im Norden konnte zwar der deutsche Absatzmarkt leichter erschlossen werden. Infolge der neuen Grenze im Süden brachen jedoch die Märkte und - weitaus zentraler - die internationalen Absatzmärkte weg. Das sächsisch-böhmische „Grenzland“, das bis zum Ersten Weltkrieg und in weiten Teilen auch noch in den 1920er Jahren vor allem von seiner Offenheit ‚in mehrere Richtungen‘ profitiert hatte, geriet endgültig in eine Isolation, an dessen Ende seine eigene Auflösung stand. 15 II. Politische Grenznetzwerke in den 1920er Jahren Den Beginn der Zusammenarbeit von politischen Parteien, ihren Vorfeldorganisationen und auch von Gewerkschaften auf einen Anfang zu datieren, ist selbstverständlich schwierig, lässt sich vereinzelt aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg beobachten. Das im Folgenden Vorgestellte beruht dabei auf ersten Befunden, die es entsprechend zu systematisieren gilt. Wesentlich scheint vor allem, dass sich intensivere Kontakte und Netzwerke zwischen Sachsen und Nordböhmen offenbar nicht sofort nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entwickelten. Vielmehr scheinen sich erst im Jahr 1924 die Kontakte intensiviert zu haben. Dieser Befund sei im Folgenden kurz am Beispiel des Netzwerks der sozialdemokratischen Dresdner Volkszeitung ( DVZ ) erläutert. 14 Ebd., S. 119 f. 15 Vgl. hierzu ebd., S. 181-211. <?page no="181"?> 180 Swen Steinberg Von wesentlicher Bedeutung für die grenzübergreifende Kooperation dürfte für diese Gruppe von Redakteuren der Kontakt zu Josef Hofbauer gewesen sein, der von 1919 bis 1921 Chefredakteur der in Teplitz (Teplice) erscheinenden Freiheit. Sozialdemokratisches Tageblatt war und danach die ebenfalls dort erscheinende Sozialistische Jugend herausgab. Spätestens seit April 1922 erschienen in der Teplitzer Freiheit Artikel des DVZ -Chefredakteurs Robert Grötzsch und seines Redaktionskollegen Edgar Hahnewald; Grötzsch war später der „Sachsenkorrespondent“ der Freiheit , in der auch dessen Märchenbücher positiv besprochen und teilweise sogar nachgedruckt wurden. 16 Diese Kontakte in die ČSR intensivierten sich ab 1924: am 3. August 1924 hielt Hofbauer beispielsweise mit Sozialdemokraten aus Großbritannien und Frankreich auf der „Kundgebung gegen Krieg, für Völkerverständigung“ im Dresdner Zirkus Sarrasani eine Rede, Anlass war der zehnte Jahrestag des Kriegsausbruchs. Überdies sprach Robert Grötzsch ebenfalls 1924 gemeinsam mit dem Vorsitzenden des deutschen Sozialistischen Jugendverbandes in der Tschechoslowakei, Ernst Paul, im ostsächsischen Bautzen auf einer Kundgebung zum Volkstrauertag. Kurz zuvor hatte Grötzsch bereits im ebenfalls in Teplitz erscheinenden Arbeiter-Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ( DSAP ) veröffentlicht, das auch Hahnewald in den folgenden Jahren mit sozialkritischen Wander- und Landschaftsbeschreibungen bestückte. In den Jahren darauf erschienen dort also weitere Beiträge von beiden, 1931 wurde zudem am Neuen Stadttheater Teplitz-Schönau (Teplice-Šanov) Grötzschs Theaterstück Dykerpotts Erben aus dem Jahr 1917 aufgeführt. Aus solchen persönlichen Netzwerken, die auch zwischen den Redaktionen der DVZ und des Prager Sozialdemokrat bestanden, entwickelten sich weiterführende Kontakte: so waren Funktionäre und Organisationen der deutschböhmischen Sozialdemokraten immer wieder in Sachsen präsent, insbesondere in Zeiten des Wahlkampfes. Im Juni 1932 sprachen beispielsweise die DSAP - Funktionärinnen und Parlamentarierinnen Irene Kirpal und Fanny Blatny auf den Feiern zum Internationalen Frauentag in Ostsachsen. Im Januarwahlkampf 1933 hielt neben Grötzschs Redaktionskollegen Hans Finsterbusch auch der deutschböhmische Sozialdemokrat Anton Schäfer auf einer Veranstaltung der Eisernen Front in Kötzschenbroda eine Rede, in Dresden sprach am selben Tag der sozialdemokratische Abgeordnete Josef Bělina aus Prag (Praha). Auch Paul und Hofbauer waren noch im Reichstagswahlkampf 1933 in Sachsen als „Wahlhelfer“ präsent, letzterer sprach beispielsweise am 1. März 1933 in Dresden. 16 Vgl. hierzu und zum Folgenden Swen Steinberg: „Karl Herschowitz kehrt heim“. Der Schriftsteller-Journalist Edgar Hahnewald zwischen sächsischer Identität und der Heimat im Exil. Berlin 2016, S. 98-104. <?page no="182"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 181 Folglich bestand bis in den März 1933 hinein offenbar eine rege personelle Zusammenarbeit zwischen sächsischer und deutschböhmischer Sozialdemokratie. Diese Zusammenarbeit wurde zudem von den Partei-Jugendorganisationen in „Grenzlandtreffen“ flankiert, entsprechende Veranstaltungen erreichten teils erhebliche Quantitäten: auf dem ersten „Reichsjugendtag“ der DSAP in Teplitz waren beispielsweise im Mai 1924 „rund 4000 sächsische Jugendgenossen zu Gast“. Im Mai 1927 gelang es zudem den sächsischen Naturfreunden, mit der tschechoslowakischen Regierung den Grenzübertritt zu vereinfachen. In der Folge fanden jährlich „Sonderzugsfahrten nach Nordböhmen“ statt, bei denen 1928 und 1929 je etwa 1000 sächsische Naturfreunde mit den deutschböhmischen Naturfreunden zu einer gemeinsamen Wanderung zusammenkamen, im Vorfeld ließ man die deutschböhmischen Genossen auch in den sächsischen Organen zu Wort kommen. Umgekehrt waren es dabei den Vorfeldorganisationen nahe stehende Funktionäre wie Edgar Hahnewald, die schon vor 1933 auch die Grenze und den Grenzraum beschrieben und an ihrem Beispiel die Gefahren des Nationalismus aufzeigten. In einem seiner Texte über das Riesengebirge (Krkonoše) und den tschechoslowakischen Grenzraum nach Schlesien hieß es dem folgend 1929, „Grenzpfähle und Zollhäuser“ stünden „da als atavistische Trennungszeichen, um derentwillen sich schlimmstenfalls die Menschen gegenseitig erschlagen“. 17 Generell scheinen die Vorfeldorganisationen eine eigene Scharnierfunktion an der Grenze besessen zu haben, die mit Blick auf die „Naturfreude“ durch die Infrastruktur in Form von Bauden und Hütten beiderseits der Grenze ermöglicht wurde - hier gab es schlicht Begegnungsorte im Grenzraum, die hierarchie- und ideologiefreie Natur wurde eine gemeinsame politische Heimat. Auch in der Gewerkschaftsarbeit und der Zusammenarbeit der Konsumvereine lassen sich vielfältige Verflechtungen vermuten, die neben der Naturfreundebewegung im Arbeitersport und hier vor allem im Arbeiterfußball mit seiner Regelmäßigkeit der Spielpläne einen weiteren Ort fand. 18 Diese lässt sich zugleich bei anderen politischen Gruppen und hier vor allem bei den sächsischen Kommunisten beobachten, die mit der 1930 gegründeten Vereinigten Kletter-Abteilung eine vor allem in der Sächsischen Schweiz aktive, grenzübergreifende Organisation aufbauten, welche dann 1933 eine wesentliche Basis für eine ebenfalls grenzüber- 17 Edgar Hahnewald: Elbquellen im Schnee. In: Arbeiter-Jahrbuch 1929, S. 149-152, hier S. 149. 18 Vgl. hierzu exemplarisch die zahlreichen Beispiele für einen deutsch-böhmischen Arbeiterfußballklub bei Thomas Oellermann: Gleichheit Weißkirchlitz. Die Geschichte eines sudentendeutschen Arbeiterfußballklubs 1914-1918 im Spiegel der Teplitzer „Freiheit“. In: Dietmar Neutatz / Volker Zimmermann (Hg.): Von Historikern, Politikern, Turnern und anderen. Schlaglichter auf die Geschichte des östlichen Europa. Festschrift für Detlef Brandes zum 75. Geburtstag. Leipzig 2016, S. 287-305. <?page no="183"?> 182 Swen Steinberg greifende und vor allem mit der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) zusammenarbeitende Widerstandsgruppe bilden sollte 19 - wie keine andere Widerstandsgruppe an dieser Grenze erhielten diese später als „Rote Bergsteiger“ apostrophierten sächsischen Kommunisten in der DDR ein eigenes Kapitel in der Eigengeschichtsschreibung. 20 Ein Zwischenfazit könnte folglich lauten: Entgegen der allgemeinen Entwicklung, die im sächsisch-böhmischen Grenzraum bereits in den späten 1920er Jahren deutliche Anzeichen einer Separation zeitigte, blieb dieser Grenzraum vor allem für die politisch linken Gruppen weitgehend fluide, ihre Arbeit machte die Grenze mehr oder minder unsichtbar; im internationalistischen Diskurs dieser Gruppen war sie ohnedies überflüssig beziehungsweise, wie Hahnewald 1929 schrieb, gar gefährlich. Der trennende Charakter der Grenze war bei diesen Gruppen folglich erst ein Ergebnis des März 1933. 21 III. Grenzexil und Grenzarbeit Das Jahr 1933 brachte natürlich einen massiven Einschnitt bzw. Eingriff in die politischen Freiheiten und Strukturen im Deutschen Reich bzw. in diesem Beispiel hier in Sachsen mit sich. Entsprechende Funktionäre und Mitglieder von politisch linken Parteien und ihren Vorfeldorganisationen hatten aber offenbar in der Tschechoslowakei regelrechte Anlaufpunkte, die sie aufgrund der weitgehend ungesicherten ‚grünen Grenze‘ auch erreichen konnten. 22 Dies gilt für die genannten Redakteure Grötzsch und Hahnewald, ebenso für Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, für Leiter und Angestellte von Konsumvereinen oder für Arbeitersportfunktionäre. Beflügelt wurde diese Entwicklung, die freilich vor allem in der ersten Phase und im Jahr 1933 von Fragen der Flüchtlingshilfe dominiert wurde, aber von dem Umstand des aufkommenden Nationalsozialismus auch in den böhmischen Ländern. Schließlich kämpfte man diesseits und jenseits des die Grenze markierenden Erzgebirgskamms durch die 19 Vgl. hierzu Barbara Weinhold: Eine trotzkistische Bergsteigergruppe aus Dresden im Widerstand gegen den Faschismus. Köln 2004. 20 Neben Kinderbüchern und Romanen strahlte das Fernsehen der DDR 1967 die dreizehnteilige Serie Rote Bergsteiger aus, in der der Widerstand - etwa das Schmuggeln von Drucksachen oder das Schleusen von Menschen - dieser Gruppe an der sächsisch-böhmischen Grenze im Mittelpunkt stand. 21 Vgl. hierzu wie auch zum Aspekt des Grenzübertritts Krauss: Grenze (Anm. 3), S. 63-65 und S. 73-80. 22 Vgl. zur Tschechoslowakei als Emigrationsland vor allem Peter Heumos: Tschechoslowakei. In: Claus-Dieter Krohn / Patrik von zur Mühlen / Gerhard Paul / Lutz Winckler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration. Darmstadt 1998, Sp. 411-426; Kateřina Čapková / Michal Frankl: Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933-1938. Köln / Weimar / Wien 2012. <?page no="184"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 183 in Nordböhmen erstarkende nationalsozialistische Bewegung Konrad Henleins gewissermaßen gegen denselben Feind. 23 Die nun entstehende Struktur der politischen Emigration und hier vor allem der sozialdemokratischen Exilorganisation Sopade ist zumindest im Grundsatz bekannt, entlang der Grenze zu Bayern, Sachsen und Schlesien wurden in Neuern (Nýrsko), Mies (Stříbro), Karlsbad (Karlovy Vary), Bodenbach (Podmokly), Reichenberg (Liberec) und Trautenau (Trutnov) sogenannte Grenzsekretariate aufgebaut. 24 Labe/ Elbe Elbe Jizera/ Iser Neiße Moldau Horní Blatná Deutsches Reich Schlesien Sachsen Tschechoslowakei Pec pod Sn ě žkou Pec pod Sn ě žkou Trutnov Trutnov Špindler ů v Mlýn Špindler ů v Mlýn Liberec Liberec Hradec Králové Hradec Králové Kolín Kolín Prag Prag Kladno Kladno Teplice Teplice Boží Dar Boží Dar Karlovy Vary Karlovy Vary Grenzsekretariat der Sopade Grenzsekretariat der Sopade Grenzstelle der SAP Grenzstelle der SAP Grenzstelle der KPD Grenzstelle der KPD Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften Naturfreudehütte Naturfreudehütte Hütte des Arbeiter-Turn- und Sport-Bundes Hütte des Arbeiter-Turn- und Sport-Bundes Františkovy Lázn ě Františkovy Lázn ě Cheb Cheb Mariánské Lázn ě Mariánské Lázn ě Harrachov Harrachov Abb. 1: Karte des Erzgebirgskamms mit der Infrastruktur des Grenzwiderstandes, Stand 1934 (Karte: Googlemaps, Grafik: Ronny Geißler). 23 Vgl. hierzu Jörg Osterloh: Sudetendeutsche Heimatfront. In: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. V: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. Berlin / Boston 2012, S. 591-594. 24 Das Sopade-Grenzsekretariat war dabei kurzzeitig auch ein Zentrum der Revolutionären Sozialisten gewesen. Vgl. Lewis Joachim Edinger: Sozialdemokratie und Nationalsozialismus. Der Parteivorstand der SPD im Exil von 1933 bis 1945. Hannover / Frankfurt am Main 1960, S. 47-49 und S. 130 f. Vgl. hierzu zudem die anschauliche Grafik bei Manuel Gogos: Mut der Verzweiflung - Die deutsche Sozialdemokratie 1933 bis 1945. In: Anja Kruke / Meik Woyke (Hg.): Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung. 1848-1863-2013. Berlin 2012, S. 158-167, hier S. 164. <?page no="185"?> 184 Swen Steinberg Auch die Linksabspaltung SAP unterhielt in Biela (Bělá u Děčína) eine nach Sachsen wirkende Grenzstelle; 25 die KPD hatte bislang weiter nicht untersuchte Grenzstellen bzw. Abschnittsleitungen in Grottau (Hrádek nad Nisou) und Eulau ( Jílové), die nach Sachsen ausstrahlten. Dass diese Strukturen aber zumeist schon im Sommer 1933 arbeiteten, deutet eben nicht nur auf die Identifikation eines gemeinsamen politischen Gegners hin, sondern vielmehr auch auf durch Netzwerke aus der Zeit vor 1933 mobilisierte Ressourcen, für die das sozialdemokratische Druck- und Verlagshaus „Graphia“ in Karlsbad ein einschlägiges Beispiel ist: das Exil als Möglichkeit in Betracht ziehend verhandelten die deutschen Sozialdemokraten schon im Spätherbst 1932 mit den Genossen in der Tschechoslowakei über die Nutzung der „Graphia“, 26 hier erschienen ab dem Frühjahr 1933 politische Drucksachen wie Otto Friedländers Selbstmord einer Demokratie 27 und Tarnschriften oder die Exilzeitungen Neuer Vorwärts und Sozialistische Aktion , die zentral waren für die „Grenzarbeit“ im Widerstand an der sächsisch-böhmischen Grenze. Und genau für diese politische Arbeit an der Grenze stellte die deutschböhmische Arbeiterbewegung ihre Immobilien zur Verfügung: die Naturfreundehäuser Morbach-Hütte in Graupen (Krupka), Rennersdorf (Rynartice), Königshöhe (Královka) und Neuhammer (Nové Hamry) fungierten beispielsweise als Treffpunkte und Umschlagplätze für die genannten Drucksachen, auch die Sportbund-Hütte in Böhmisch-Zinnwald (Cínovec) taucht in den Quellen immer wieder auf. 28 Dies verweist auf die bereits ausgeführte Breite der Vorfeldorganisationen, in denen sich bereits in den 1920er Jahren Grenznetzwerke ausgebildet hatten, welche nun zum Tragen kamen: zu nennen ist hier etwa die von Heinrich Schliestedt 1934 in Komotau (Chomutov) aufgebaute Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften, die auf den Zusammenhang von internationaler Gewerkschaftsarbeit vor 1933 sowie den Kontakten bis auf die Betriebsebene nach 1933 verweist. 29 Zu nennen sind hier auch Organisationen wie die erst in der Emigration gegründete „Kampfgemeinschaft für den deutschen Arbeitersport“, die gleich den Grenzsekretariaten der Sopade zumindest bis 1935 / 36 enge Kontakte zu Kleingruppen etwa in Leipzig, Chemnitz und Dresden hatte - aber 25 Vgl. hierzu Walter Pöppels Erinnerungen an die Arbeit in der SAP-Grenzstelle in Walter Pöppel: Deutschlands verlorene Jahre 1933-1945. Betrachtungen aus der Emigration. Stockholm 1986. 26 Vgl. Marlies Buchholz / Bernd Rother (Hg.): Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade. Bonn 1995, S. XXVII und S. XXXVII. 27 Vgl. Otto Friedrich [Otto Friedländer]: Selbstmord einer Demokratie. Karlsbad 1933. 28 Vgl. Steinberg: Herschowitz (Anm. 16), S. 119. 29 Vgl. Willy Buschak: Arbeit im kleinsten Zirkel. Gewerkschafter im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Essen 2015, S. 309-320. Vgl. hierfür zudem das Beispiel des illegalen Textilarbeiternetzwerkes in Sachsen und Thüringen, welches ebenfalls grenzübergreifend arbeitete, in ebd., S. 270-274. <?page no="186"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 185 deutlich jenseits der bislang untersuchten Parteiorganisationen agierte und deswegen von der Forschung kaum berücksichtigt wurde. 30 Zu nennen sind hier zudem jene Gruppen, die durch ihren Beruf grenzübergreifend arbeiteten, zugleich aber politisch organisiert waren - Berichte sind etwa für die Belegschaften der Elbeschiffe und der Bahngesellschaften überliefert, die sich am Schmuggel von Drucksachen in das Deutsche Reich und am Austausch von Informationen beteiligt haben. 31 Letztere Aktivitäten waren natürlich nicht auf Sozialdemokraten beschränkt, wobei die Zusammenarbeit mit der tschechoslowakischen - und nicht nur der deutsch-böhmischen - kommunistischen und sozialdemokratischen Partei bei diesen Aktivitäten ebenfalls noch der detaillierten Untersuchung harrt. Anhand der genannten Redakteure Grötzsch und Hahnewald sei an dieser Stelle nur exemplarisch aufgezeigt, wie eng das Verhältnis zwischen der Gruppe der in die Tschechoslowakei geflüchteten politischen Funktionäre und den aufnehmenden Organisationen auf der mittleren und unteren Ebene werden konnte, versuchte doch die DSAP beispielsweise auch, Arbeitsstellen zu schaffen. 32 Hiervon profitierten vor allem die Angehörigen der ‚schreibenden Zunft‘, die zu den Gruppen gehörten, die nach dem sonst überaus liberalen tschechoslowakischen Asylrecht überhaupt arbeiten durften. 33 Grötzsch und Hahnewald flüchteten Mitte März 1933 aus Dresden über die grüne Grenze und schrieben schon für die ersten Nummern von Exilzeitungen wie dem Neuen Vorwärts und für die Zeitungen der deutschen Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei. 34 Dabei spielte ihr Wissen über den Grenzraum eine zentrale Rolle, dieses transformierte sich in einen eigenen Wert im Kontext der „Grenzarbeit“. Und die Grenze selbst wie die Arbeit an ihr wurde zum Thema auch der schriftstellerischen Arbeit, Hahnewald hielt dies etwa im Januar 1935 in der im Neuen Vorwärts veröffentlichten Kurzgeschichte Homocord 4-2293 fest: In einem Gasthof an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze wartete eine Gruppe Emigranten auf einen „Boten“, ein 30 Vgl. hierzu Eicke Stiller. Karl Bühren - Arbeitersportler und Sportfunktionär. Vor Hitler geflohen - unter Stalin getötet. Berlin 2007, S. 96-110. 31 Vgl. hierzu die zahlreichen abgedruckten Beispiele bei Adolf Hasenöhrl (Hg.): Kampf Widerstand Verfolgung der sudetendeutschen Sozialdemokraten. Dokumentation der deutschen Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakei im Kampf gegen Henlein und Hitler. Stuttgart 1983, S. 74-108, vor allem S. 77 und S. 79. 32 Vgl. hierzu Martin K. Bachstein: Die Beziehungen zwischen sudetendeutschen Sozialdemokraten und dem deutschen Exil: Dialektische Freundschaft. In: Peter Becher / Peter Heumos (Hg.): Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933-1939. München 1992, S. 41-52, hier S. 42-47. 33 Die Arbeit von Schriftstellern, Künstlern und Journalisten war die einzige Tätigkeit, die vom für Emigranten geltenden Verbot abhängiger Erwerbsarbeit in der Tschechoslowakei ausgenommen war. Vgl. hierzu Heumos: Tschechoslowakei (Anm. 22), Sp. 414; Čapková / Frankl: Zuflucht (Anm. 22), S. 90-94. 34 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steinberg: Herschowitz (Anm. 16), S. 104-130. <?page no="187"?> 186 Swen Steinberg „Genosse von drüben“, von „Patrouillen“ und anderen teils erheblichen Gefahren der „Grenzarbeit“ wird dort berichtet, etwa von der Übergabe von „verbotenen Druckschriften“ - „das Dritte Reich hat Angst vor Druckschriften, die dem Volke die Wahrheit sagen.“ 35 Diese „Grenzarbeit“ ist in ihrer Thematisierung in der Exilpublizistik der Tschechoslowakei noch nicht in der Breite untersucht. Jenseits von Kurzgeschichten und journalistischer Berichterstattung fand sie aber offenbar auch eine lyrische Verarbeitung, wie beispielsweise das 1936 entstandene Gedicht Der Zeitungskoffer von Kurt Doberer zeigt. 36 Führt man sich zudem vor Augen, dass eben der Neue Vorwärts nach Sachsen und ins Deutsche Reich geschmuggelt wurde, so zeigt sich, dass das Grenzexil in diesem Grenzraum vermutlich weniger durch Trennung, als vielmehr durch Zirkulationseffekte zu beschreiben ist. 37 Wie stark zudem die Netzwerke aus den 1920er Jahren hier von Bedeutung waren, kann ebenfalls an Edgar Hahnewald nachvollzogen werden, der 1935 aus Teplitz und damit aus dem Grenzraum nach Prag zog und beim Sozialdemokrat Anstellung fand, hier war er bis 1938 auch für die Beilage Frauenwelt zuständig. Und es war der Chefredakteur des Sozialdemokrat Josef Hofbauer, der Hahnewald nach Prag holte - beide kannten sich vermutlich seit ca. 1922 persönlich. Die Grenznetzwerke selbst scheinen aber ab ca. 1935 in Auflösung begriffen gewesen zu sein: zum einen infiltrierten die nationalsozialistischen Verfolgungsbehörden und -organisationen die entsprechenden Strukturen immer mehr, insbesondere in den großen Städten Sachsens waren bis 1936 nahezu alle größeren und kleineren Gruppen der Sozialdemokraten und Kommunisten aufgedeckt und zerschlagen worden, die meist über Kuriere Drucksachen aus Böhmen bezogen und verteilt hatten. Hinzu kamen gezielte und zumeist grenzverletzende Anschläge und Entführungsversuche, die Grenzarbeit war zunehmend auch mit Spitzeln unterwandert. 38 Zum anderen änderte sich mit dem Amtsantritt von Edvard Benes auch die Innenpolitik den deutschen Flüchtlingen gegenüber, deren Arbeit vor allem 35 Ediert abgedruckt in ebd., S. 355-358. 36 Vgl. Kurt Doberer: Der Zeitungskoffer. In: Sozialistische Warte. Blätter für kritisch-aktiven Sozialismus (1936) 10, S. 237. Vgl. zu Doberers Exilwerk Swen Steinberg: Todesstrahlen, Dampfbomber, Geo-Mimikry. Kurt Doberer, das Exil und das Wissen über moderne Kriegstechnologie. In: Inge Hansen-Schaberg / Hiltrud Häntzschel / Claudia Glunz / Thomas F. Schneider (Hg.): Exil im Krieg (1939-1945). Göttingen 2016, S. 47-56. 37 Prozesse wie diese lassen sich mit den Ansätzen der modernen Wissensgeschichte beschreiben, die Verbindung von Migration und Wissen wurde jüngst angeregt in Simone Lässig / Swen Steinberg: Knowledge on the Move. New Approaches toward a History of Migrant Knowledge. In: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017) 3, S. 1-34. 38 Vgl. Mike Schmeitzner: Ausschaltung - Verfolgung - Widerstand. Die politischen Gegner des NS-Systems in Sachsen 1933-1945. In: Clemens Vollnhals (Hg.): Sachsen in der NS-Zeit. Leipzig 2002, S. 183-199, hier S. 190-192. <?page no="188"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 187 in den Grenzgebieten und auf Druck des Deutschen Reiches immer mehr eingeschränkt wurde: 39 Das tschechoslowakische Innenministerium verfolgte beispielsweise ab Juli 1937 den Plan, die deutschen Emigranten in einer Art „Flüchtlingsreservat“ im Gebiet der böhmisch-mährischen Höhe (Vysočina) und damit in der Mitte der Tschechoslowakei anzusiedeln. 40 Das tschechoslowakische Kernland und hier vor allem Prag wurde nun auch für kleinere und mittlere Funktionäre immer mehr ein Anlaufpunkt. Dieser Prozess der Binnenmigration war dabei zugleich mit Phänomenen verbunden, für die sich die Exilforschung in den vergangenen Jahren verstärkt interessiert hat: die sinkende Bedeutung der politischen „Grenzarbeit“ war in vielen Fällen flankiert von einer identifikatorischen Neuorientierung, 41 die etwa Robert Grötzsch 1936 in seinem Roman Wir suchen ein Land. Roman einer Emigration 42 oder auch Edgar Hahnewald in Karl Herschowitz kehrt heim. Eine Geschichte aus unserer Zeit thematisierten - denn die Heimkehr von Karl Herschowitz in die Tschechoslowakei des Jahres 39 Vgl. Rainer Eckert: Emigrationspublizistik und Judenverfolgung. Das Beispiel Tschechoslowakei. Frankfurt am Main 2000, S. 30 f. Vgl. zudem zur Pressekampagne der nationalsozialistischen Propaganda gegen die Tschechoslowakei 1937 / 38 Angela Hermann: Der Weg in den Krieg. Quellenkritische Studien zu den Tagebüchern von Joseph Goebbels. München 2011, S. 137-165. 40 Vgl. Čapková / Frankl: Zuflucht (Anm. 22), S. 220-238. 41 Vgl. hierzu Peter Heumos (Hg.): Heimat und Exil. Emigration und Rückwanderung, Vertreibung und Integration in der Geschichte der Tschechoslowakei. München 2001; Sabine Rohlf: Exil als Praxis - Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen. München 2002; Orm Øverland: Visions of Home: Exiles and Immigrants. In: Peter I. Rose (Hg.): The Dispossessed. An Anatomy of Exile. Northampton 2005, S. 7-26; Wulf Koepke: On Time and Space in Exile - Past, Present and Future in a No-Man’s Land. In: Johannes F. Evelein (Hg.): Exile Traveling. Exploring Displacement, Crossing Boundaries in German Exile Arts and Writing 1933-1945. Amsterdam / New York 2009, S. 35-49; Sabina Becker / Robert Krause: Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933. In: dies. (Hg.): Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933. München 2010, S. 1-16; Wolfgang Benz: Wann endet das Exil? Migration und Akkulturation. Überlegungen in vergleichender Perspektive. In: Doerte Bischoff/ Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin / Boston 2013, S. 71-82; Jenny Kuhlmann: Exil, Diaspora, Transmigration. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (2014), S. 9-14. 42 Vgl. Robert Grötzsch: Wir suchen ein Land. Roman einer Emigration. Bratislava 1936. Vgl. zum Exilwerk Grötzschs zudem Swen Steinberg: Tormann Bobby: Biografie, Netzwerke und Identität in Robert Grötzschs Exil-Arbeiterjugend- und Sportroman von 1938. In: Susanne Blumesberger / Jörg Thunecke (Hg.): Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur während der Zwischenkriegszeit und im Exil. Frankfurt am Main 2017, S. 231-275; Gertraud Gutzmann: Zwischen Marseille und den Pyrenäen. Der Schriftsteller Robert Grötzsch, das amerikanische Hilfswerk und die sozialdemokratische Flüchtlingshilfe im Südfrankreich der Jahre 1940-41. In: Wulf Koepke / Jörg Thunecke (Hg.): Preserving the Memory of Exile. Festschrift for John M. Spalek on the Occasion of his 80th Birthday. Nottingham 2008, S. 180-193. <?page no="189"?> 188 Swen Steinberg 1936 war auch die von Edgar Hahnewald selbst, die nunmehr trennende Grenze und die dahinter befindliche rettende neue Heimat in Freiheit war auch Gegenstand der Umschlagillustrationen der beiden Bücher. 43 43 Vgl. hierzu Steinberg: Herschowitz (Anm. 16), S. 159-178. <?page no="190"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 189 Abb. 2a und b: Die von Georg Hans Trapp gestalteten Umschläge von Wir suchen ein Land und Karl Herschowitz kehrt heim aus dem Jahr 1936. Die Figur des Karl Herschowitz steht dabei auf der deutsch-tschechoslowakischen Grenze des Erzgebirgskamms und jubelt in die Freiheit des böhmischen Beckens, im Hintergrund ist der markante Milleschauer (Milešovka) zu erkennen (Robert Grötzsch: Wir suchen ein Land. Roman einer Emigration. Bratislava 1936, Umschlag; Edgar Hahnewald: Karl Herschowitz kehrt heim. Eine Geschichte aus unserer Zeit. Bratislava 1936, Umschlag. Fotos: Swen Steinberg, privat). <?page no="191"?> 190 Swen Steinberg Wie stark die hier vollzogene Entfernung von der Grenze dann wirkte, zeigte eine Erinnerung Hahnewalds in der schwedischen Emigration 1939: „Prag hat uns die Heimat ersetzt. Es ist uns eine zweite Heimat geworden“, schrieb er damals. 44 Dies aber blieb Episode: Denn die Münchner Konferenz machte die Hauptstadt an der Moldau 1938 zuerst zu einer Transitzone der deutschen Emigration, die keine Sicherheit mehr bot. Im März 1939 besetzten deutsche Truppen auch das tschechoslowakische Kernland mit Prag selbst. 45 IV. Fazit Die deutsche Okkupation Nordböhmens im Oktober 1938 zerstörte nicht nur das historisch gewachsene, multinationale und bilinguale sächsisch-böhmische Grenzland. Sie zerstörte auch die politischen Netzwerke, die ab 1933 ihre Arbeit aufnehmen konnten: sächsische politische Emigranten konnten ihre bestehenden Verbindungen und mithin das politische Wissen über den Raum erfolgreich einsetzen - für sich ganz persönlich und die Integration in neue Strukturen wie auch für die Arbeit im Widerstand. Die eingangs genannten Parameter zur Beschreibung von Netzwerken - ihr strategischer Einsatz, ihre historische Einbettung und ihr Potential der Ressourcenmobilisierung - lassen sich folglich an dieser politischen Emigration idealtypisch aufzeigen. Und sie verweisen auf die Perspektive, den sächsisch-böhmischen Grenzraum bzw. generell das Grenzgebiet zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei in dieser langfristigen und die Grenze als permeablen Raum einordnenden Perspektive zu analysieren, was Aufgabe zukünftiger Forschung bleibt: wo, auf wessen Initiative und auf welchen Ebenen bildeten sich diese Netzwerke in den 1920er Jahren heraus? Wie agierten Sozialdemokraten und Kommunisten vor und nach der Emigration miteinander, gab es Formen der Kooperation? In welchem Verhältnis standen hier Partei und Vorfeld - waren es gerade die Kultur- und Freizeitorganisationen, die Kontakte und Kooperation in besonderem Maße beflügelten? Welche Rolle spielten dann genau diese Organisationen in der Widerstandsarbeit, etwa die politischen Infrastrukturen auf den Gebirgskämmen bzw. an der Grenze selbst? Und wie ordneten die jeweiligen Protagonisten ihre Tätigkeit eigentlich selbst ein, wann und wo entwickelten sich hier Binnen- und Gruppenidentitäten? Die detaillierter ausgeführten Beispiele Grötzsch und Hahnewald deuten zudem an, dass sich bei den entsprechenden Protagonisten in der langfristigen Perspektive auch das Verständnis davon än- 44 Ebd., S. 178. 45 Vgl. hierzu vor allem die Beiträge in Jürgen Zarusky / Martin Zückert (Hg.): Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive. München 2013. <?page no="192"?> Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil 191 derte, was diese Grenze war - in den 1920er Jahren ein verbindender Raum über die Grenze, 1935 etwas grundsätzlich Trennendes. Weitergefragt schließt dies auch ein, wie strukturierend die hier vorgestellten Netzwerke dann waren - für die weitere Arbeit im Exil nach der Weitermigration, ebenso aber auch nach 1945. Eine besondere konzeptionelle - aber auch analytische - Perspektive sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt: die transnationalen Aktivitäten der südsächsischen und nordböhmischen Funktionäre und Parteimitglieder in den 1920er und 1930er Jahren werden in den Quellen mit dem Begriff „Grenzarbeit“ beschrieben - einerseits von den Akteuren selbst; andererseits war „Grenzarbeit“ auch eine Tätigkeitsbeschreibung in Urteilen vor nationalsozialistischen Gerichten. Diese Beobachtung scheint anschlussfähig etwa an Marcel van der Lindens Konzept einer „Transnationale Labor History“ 46 - im nationalstaatlich geteilten bzw. definierten Raum leisteten Menschen gemeinsam antinationalistische Arbeit und wiesen zugleich deutlich über Vorstellungen klassischer Erwerbstätigkeit und Beschäftigungsformen hinaus; was sie taten war in deren Selbstverständnis auch „Arbeit“, eben „Grenzarbeit“. Die genannten Perspektiven beschränken sich freilich nicht auf den sächsisch-böhmischen Grenzraum, sondern lassen sich vergleichend in den tschechoslowakischen Grenzregionen zu Schlesien und Bayern ebenso beobachten, wie nach Österreich zumindest bis 1934, ins Saarland bis 1935, nach Polen bis 1939 sowie nach Frankreich, die Benelux-Staaten und Dänemark bis 1940. 47 Die etwa für Dänemark bereits vorliegenden ersten Befunde deuten dabei an, dass dieser über die „Zäsur“ 1933 hinausgehende und die gelegentlich in diesen Emigrations-Kontexten vergessene Weimarer Republik einschließende Blickwinkel 46 Diesen Gedanken formulierte Jan Kiepe auf der Tagung Arbeit in der sich globalisierenden Welt der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung in Bonn, 11. bis 12. November 2010. Vgl. den Tagungsbericht unter URL: https: / / www.h-net.org/ reviews/ showrev.php? id=32035 (zuletzt abgerufen am 10. Juli 2017). Vgl. zudem Marcel van der Linden: Transnational Labour History. Explorations. Aldershot 2003. 47 Vgl. Patrik von zur Mühlen: „Schlagt Hitler an der Saar! “ Abstimmungskampf, Emigration und Widerstand im Saargebiet 1933-1935. Bonn 1979, S. 168-194; Walter Nachtmann: Erwin Schoettle: Grenzsekretär der Sozialdemokraten in Württemberg. In: Michael Bosch / Wolfgang Niess (Hg.): Der Widerstand im deutschen Südwesten 1933-1945. Stuttgart 1984, S. 152-161; Günther Braun: Georg Reinbold: Grenzsekretär der Sozialdemokraten in Rheinland und Pfalz. In: ebd., S. 163-171; Ralf Deppe: Sozialdemokratisches Exil in Dänemark und der innerdeutsche Widerstand: Das Grenzsekretariat Kopenhagen der Sopade - Unterstützung der Widerstandsarbeit in Deutschland. In: Hans Uwe Petersen (Hg.): Hiltlerflüchtlinge im Norden: Asyl und politisches Exil 1933-1945. Kiel 1991, S. 207-214; Ludwig Eiber: Richard Hansen, das Grenzsekretariat der Sopade in Kopenhagen und die Verbindungen nach Hamburg 1933-1939. Ein Fallbeispiel über die Infiltration eines skandinavischen Exilmilieus durch die Gestapo. In: Einhart Lorenz / Klaus Misgeld / Helmut Müssener / Hans Uwe Petersen (Hg.): Ein sehr trübes Kapitel? Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 bis 1950. Hamburg 1998, S. 181-193. <?page no="193"?> 192 Swen Steinberg tatsächlich einen weiterführenden Beitrag zum Verständnis des politischen Exils ab 1933 liefern kann: für die Struktur des Widerstands in den dem Deutschen Reich grenznahen Gebieten. Ebenso aber auch für das Funktionieren von politischen Grenzgesellschaften - für die offenbar deutlich ausgeprägte bzw. alltagsweltlich „normale“ Interpendenz und Kooperation jenseits nationalstaatlicher Rahmung. Diese hier vorgeschlagene Verbindung von historischen Netzwerkansätzen und den Borderland Studies scheint jedenfalls eine vielversprechende Perspektive für die historische Migrations- und Exilforschung. <?page no="194"?> Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 193 Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden Änderungen in der Politik der niederländischen Regierung zwischen 1914 und 1950 Angela Boone, Driebergen In den Niederlanden wurde bis 1967 das Ausländergesetz aus dem Jahr 1849 angewendet. Um zur Einreise in die Niederlande zugelassen zu werden, mussten Ausländer über einen gültigen Pass und ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Ausländer, die keinen gültigen Pass und keine finanziellen Mittel besaßen, konnten auch zur Einreise in die Niederlande zugelassen werden, wenn sie bona fide waren und wenn es für sie Möglichkeiten gab, in den Niederlanden Arbeit zu finden. Ausländer ohne ausreichende finanzielle Mittel konnten aus den Niederlanden ausgewiesen werden. Nach dem deutschen Einmarsch in Belgien am 4. August 1914 kam eine große Anzahl von Flüchtlingen aus Belgien in die Niederlande. Belgische, englische und deutsche Soldaten, die in die Niederlande flohen, wurden in Internierungslagern untergebracht. Zehntausende Flüchtlinge mit unzureichenden finanziellen Mitteln wurden in Flüchtlingslagern untergebracht, diese Lager standen unter Aufsicht der niederländischen Regierung. Flüchtlingen wurde von privaten Organisationen geholfen, die sich im Niederländischen Komitee zur Unterstützung belgischer Opfer zusammengeschlossen hatten. Der Zustrom von Flüchtlingen war so stark, dass die niederländische Regierung auch mithalf, die Flüchtlinge ohne finanzielle Mittel mit Lebensmitteln zu versorgen. Ab Ende August 1914 wurde die Neutralität der Niederlande von den Deutschen offiziell anerkannt. Die Neutralität war der wichtigste Ausgangspunkt der niederländischen Flüchtlingspolitik. Erst als Flüchtlinge sich weigerten, in einem Lager untergebracht zu werden, drohte der Staat mit Ausweisung. 1 Zwischen April und August 1915 wurde von den deutschen Besatzern ein Zaun aus Stacheldraht (genannt Grenzhochspannungshindernis ) von 332 Kilometern Länge an der Grenze zwischen dem besetzten Belgien und den neutralen Niederlanden gebaut, um deutsche Deserteure daran zu hindern, in die Nieder- 1 M. Leenders: God, geld en geweten. De opvang van vluchtelingen in Nederland vanaf de zestiende eeuw tot het begin van de twintigste eeuw. In: Herinneringscentrum Kamp Westerbork: Uitgeweken: De voorgeschiedenis van kamp Westerbork. Hooghalen 1990, S. 33 f. <?page no="195"?> 194 Angela Boone lande zu fliehen. 2 Außerdem sollte damit der Schmuggel bekämpft und verhindert werden, dass Spionagenachrichten über die Niederlande die Alliierten erreichten. Der Zaun stand unter Strom; es wurden nach Schätzung Hunderte von Menschen bei dem Versuch, den Zaun zu überwinden, durch Stromschläge getötet. Die niederländische Regierung wurde erst im Juni 1915 über den Zaun informiert, einen Monat später war der Zaun bereits fertiggestellt; erst in jenem Monat wurde die belgische Bevölkerung darüber informiert. Ein vergleichbarer Zaun war Ende 1914 bereits in kleinem Umfang in der Nähe der Schweizer Grenze getestet worden. Dreizehn Dörfer im Elsass wurden durch einen Zaun von zehn Kilometern von der Schweiz getrennt, sodass deutsche Deserteure die Grenze nicht überschreiten konnten. Die niederländische Regierung protestierte nicht gegen den Bau des Zauns, sondern sah in ihm eine Bestätigung der Neutralität der Niederlande. 1918 wurde der Strom im Zaun abgeschaltet und Teile des Zauns wurden von den Bauern aus der Umgebung abgebaut. Die letzten Teile des Zauns wurden nach dem 11. November 1918 entfernt. 1918 kam ein neuer Flüchtlingsstrom in die Niederlande in Gang als Folge der sich zurückziehenden deutschen Armee. 1918 beantragte der deutsche Kaiser Asyl in den Niederlanden. Er ließ sich in Doorn nieder und bestimmte, dass er nach seinem Tod dort begraben bleiben wollte, bis Deutschland wieder ein Kaiserreich würde. Die Regeln für Ausländer wurden 1918 im Zusammenhang mit den Flüchtlingen und Soldaten, die in die Niederlande kamen, angepasst. Ausländer mussten einen gültigen Pass und ein Visum haben. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Ankunft in den Niederlanden mussten sie sich bei der Polizei melden. Von der Polizei erhielten sie einen Ausweis, den sie ständig bei sich tragen mussten. Diese Politik galt bis 1920, als die Mehrheit der Flüchtlinge die Niederlande wieder verlassen hatte. Die Zuständigkeit für die Flüchtlingspolitik war über verschiedene Ministerien verteilt. Die Flüchtlingsproblematik blieb für jedes dieser Ministerien eine Frage, die anderen Zielsetzungen untergeordnet war. Das Justizministerium hatte eine zentrale Position. Das Innenministerium trug für einen Teil des Polizeieinsatzes, die innere Sicherheit und die Internierung zugelassener Ausländer Sorge. Das Verteidigungsministerium spielte bei der Internierung auch eine Rolle und sorgte für die Grenzbewachung. Die Ministerien für Wirtschaft und Soziales waren an der Pflege guter wirtschaftlicher Beziehungen mit Deutschland (dem größten Exportmarkt der Niederlande) und der Bekämpfung der Konkurrenz von Ausländern auf dem niederländischen Arbeitsmarkt interessiert. Diplomaten des Außenministeriums übernahmen in den Jahren 1933 / 1934 oft 2 Vgl. hierzu URL: https: / / nl.wikipedia.org/ wiki/ De_Draad (zuletzt abgerufen am 3. August 2017). <?page no="196"?> Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 195 kritiklos die Nazipropaganda, von objektiver Information über die Judenverfolgung in Deutschland konnte also keine Rede sein. 3 Im Jahr 1933 hatten die Niederlande keine politische Haltung im Hinblick auf die deutsch-jüdischen Flüchtlinge. In diesem Jahr kamen Tausende jüdischer und Hunderte politischer Flüchtlinge aus Deutschland in die Niederlande, vor allem die besser Situierten und Intellektuellen. Im Februar 1934 wurden in Laren achtzehn Ausländer festgenommen, die dort politisch aktiv waren, was verboten war. Im Auftrag des Bürgermeisters von Laren wurden vier von ihnen direkt der deutschen Grenzpolizei ausgeliefert, einer von ihnen starb einige Jahre später in einem Konzentrationslager, ein anderer wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Einer der verhafteten Ausländer war der spätere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt. Er kritisierte später den schlechten niederländischen Umgang mit machtlosen Emigranten. Nach den Geschehnissen in Laren gab der Justizminister den ausführenden Kräften den Auftrag, künftig nicht mehr ohne seine Zustimmung Ausländer auszuweisen. Im Mai 1934 wurde für Ausländer die Möglichkeit eingeschränkt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zwei Wochen später verschickte der Justizminister ein Rundschreiben: Die Regierung hatte beschlossen, jüdische und revolutionäre Flüchtlinge des Landes zu verweisen, es sei denn, ihnen drohte bei Rückkehr nach Deutschland unmittelbar Lebensgefahr. Am 7. Mai 1938 schickte der Justizminister ein Rundschreiben an alle Beamten, die mit der Umsetzung der Flüchtlingspolitik zu tun hatten. Ein Flüchtling war ab sofort als unerwünschter Ausländer zu betrachten, der an der Grenze abgewiesen, oder, wenn er sich schon in den Niederlanden befand, über die Grenze gebracht werden musste. Ausnahmen durften nur im Falle unmittelbarer Lebensgefahr gemacht werden. Der Minister erklärte gegenüber dem Parlament, dass dieses Rundschreiben als Damm gegen die Gefahr der Überschwemmung gesehen werden müsse, die Niederlande drohten sonst von Flüchtlingen vor dem Naziregime überrollt zu werden. 4 Im November 1938 flohen mehr als fünfzigtausend deutsche Juden in die Niederlande, viele von ihnen wurden an der Grenze abgewiesen. Die niederländische Grenze wurde am 15. Dezember 1938 geschlossen. 5 Im März beschloss das Innenministerium, in der Gemeinde Ermelo ein Flüchtlingslager einzurichten. Königin Wilhelmina teilte als Reaktion darauf mit, dass sie es bedauere, dass das gewählte Gelände so nahe bei ihrem Landsitz in Apeldoorn lag. Infolge 3 J. van Merriënboer: Vluchtelingen voor Hitler ongewenst in Nederland. Het beleid van de Nederlandse regering ten aanzien van Duitse vluchtelingen, 1933-1940. In: Herinneringscentrum Kamp Westerbork (Anm. 1), S. 41 f. 4 Ebd., S. 38-41. 5 Nanda van der Zee: Om erger te voorkomen. Soesterberg 2011, S. 41. <?page no="197"?> 196 Angela Boone der Einwände der Königin gegen den gewählten Standort wurde eine Woche später vom Ministerrat beschlossen, das Flüchtlingslager in der Gemeinde Westerbork zu bauen. Das Lager wurde vom Komitee für jüdische Flüchtlinge bezahlt, unter der Bedingung, dass es ausschließlich auf Arbeit und Ausbildung für eine spätere Auswanderung ausgerichtet sei. 6 Ab dem 9. Oktober 1939 begann die niederländische Regierung mit der Konzentration deutscher Flüchtlinge im Lager Westerbork. Passagiere der St. Louis wurden nach Ankunft in den Niederlanden ins Lager Westerbork geschickt. Indem man die deutschen Flüchtlinge in einem Lager unterbrachte, wurde eine deutliche Grenze zwischen ihnen und der niederländischen Bevölkerung gezogen. Aus Polizeiakten, Lagerberichten, Briefen und Tagebüchern dieser Zeit ist abzuleiten, in welcher Situation sich jüdische Flüchtlinge in den Jahren zwischen 1938 und 1940 in den Niederlanden befanden. 7 Hilfe und Rechtssicherheit für Flüchtlinge wurden der Vorstellung geopfert, dass Flüchtlinge die Neutralität in Gefahr brächten oder der Wirtschaft und der finanziellen Lage der Niederlande schadeten. 8 Nach den Novemberpogromen 1938 kamen im Rahmen der Kindertransporte deutsch-jüdische Kinder in die Niederlande. Ihre Eltern glaubten, dass ihre Kinder in den Niederlanden sicher wären. Sie wurden in Heimen untergebracht (und konzentriert). Aus einem Heim in Utrecht wurden die deutsch-jüdischen Kinder schon im Februar 1942 nach Westerbork deportiert, nur einige von ihnen überlebten den Krieg. 9 Am 10. Mai 1940 begann die deutsche Invasion in die Niederlande, Zehntausende erwachsene Männer deutscher Nationalität wurden interniert. Deutschjüdische Flüchtlinge wurden ebenfalls interniert. Es war Deutschen (darunter Juden) verboten, ihre Wohnungen zu verlassen, sie wurden als Feinde betrachtet. Am 13. Mai 1940 flohen Königin Wilhelmina und die niederländische Regierung nach England. Die Niederlande kapitulierten am 14. Mai 1940. 1942 übernahm die Sicherheitspolizei das Lager Westerbork, in dem zu dieser Zeit bereits viele deutsch-jüdische Flüchtlinge lebten, vom Justizministerium. Im Oktober 1944 wurde der „Beschluss feindliches Vermögen“ rechtskräftig. 10 Dieses niederländische Notgesetz hatte zum Ziel, das gesamte Eigentum von Deutschen in den Niederlanden zu enteignen. Weil kein Unterschied zwischen 6 Corrie K. Berghuis: Tot de verkeerde plek gedwongen. Ontstaan van het vluchtelingenkamp Westerbork. In: Herinneringscentrum Kamp Westerbork (Anm. 1), S. 60-63. 7 Corrie K. Berghuis: Joodse vluchtelingen in Nederland 1938-1940. Documenten betreffende toelating, uitleiding en kampopname. Kampen 1990. 8 Van Merriënboer: Vluchtelingen voor Hitler ongewenst in Nederland (Anm. 3), S. 53. 9 Frans Crone: Voorbijgaand verblijf. Joodse weeskinderen in oorlogstijd. Amsterdam 2005. 10 Staatsblad E 133: Besluit vijandelijk vermogen. 20 oktober 1944. <?page no="198"?> Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 197 Juden und Nicht-Juden gemacht wurde, wurde auch das Eigentum von deutschen Juden enteignet. Sie mussten individuell eine Entfeindungserklärung beantragen, um ihren Besitz zurückzuerhalten. Die niederländische Regierung nahm Zehntausende Verwaltungsbeamte in Dienst, um den ganzen enteigneten deutschen Besitz zu verwalten - bis Juli 1951. Das niederländische Komitee für Gebietserweiterung begann nach der Befreiung 1945 mit der Kampagne Forderung deutsches Grundgebiet! . Das anvisierte Ziel war, als Entschädigung für durch den Krieg erlittene Verluste einen großen Teil von Nordrhein-Westfalen zu annektieren. Über die Kampagne wurde in den Niederlanden die Botschaft verbreitet, dass die niederländische Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten verarmen und wegen Hungersnöten auswandern müsse, falls man jetzt von Forderungen auf deutsche Gebiete absähe. 11 Für deutsche Städte dachte man sich bereits niederländische Namen aus. Die Millionen Deutschen, die in diesem Gebiet wohnten, sollten von den Alliierten entfernt werden; diese sahen jedoch keine Chance für den ehrgeizigen Plan der niederländischen Regierung. Letztendlich mussten sich die Niederlande mit den zwei Grenzdörfern Elten und Tüddern begnügen, von April 1949 bis April 1963 gehörten diese vorübergehend zum niederländischen Staatsgebiet. 12 Im Oktober 1945 verlangte der niederländische Staat von Deutschland einen Schadensersatz von 25 Milliarden Gulden, dies wurde allerdings im Zusammenhang mit den Vereinbarungen über Reparationen auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 zurückgewiesen. Deutsche Juden, die vor dem Krieg in die Niederlande geflohen waren, wurden nach der Befreiung bei ihrer Rückkehr in die Niederlande zusammen mit SS -Leuten und Mitgliedern der niederländischen nationalsozialistischen Partei ( Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland , kurz NSB ) in Lagern interniert und hatten Zwangsarbeit zu leisten. Manche deutsche Juden beschlossen in dieser Situation, wieder den Judenstern zu tragen, um zu betonen, dass sie keine Verräter waren. Ein deutsch-jüdischer Mann, der in einem Lager in Vilt im Süden Limburgs interniert war, beschrieb die Situation als kaum besser als im Lager Bergen-Belsen, wo er hergekommen war. Im befreiten Lager Westerbork wurden am 24. Mai 1945 einige hundert NSB -Mitglieder untergebracht. Die noch im Lager Westerbork anwesenden Juden durften auf Anweisung der Behörden das Lager nicht verlassen. Erst im Juli 1945 durften die deutschen Juden das Lager Westerbork verlassen. 13 11 Diese Botschaft wurde zum Beispiel über Plakate vom Niederländischen Komitee für Gebietserweiterung verbreitet. 12 Fernsehprogramm Andere Tijden: Eisch Duitschen Grond , Folge vom 3. Mai 2001. 13 Michal Citroen: U wordt door niemand verwacht. Nederlandse joden na kampen en onderduik. Utrecht 1999, S. 87-89. <?page no="199"?> 198 Angela Boone Mit dem Ausländerrundschreiben vom 1. Oktober 1945 gab der niederländische Justizminister Kolfschoten allen lokalen Polizeichefs den Auftrag, Deutsche aus den Niederlanden zu entfernen. Das Vorgehen betraf nicht nur Einwohner, die am 4. Mai 1945 die deutsche Nationalität besaßen, sondern auch Staatenlose (sowie deren Kinder), die zuvor deutsche oder österreichische Staatsbürger waren. Deutsche, deren weiterer Aufenthalt in den Niederlanden im niederländischen Interesse lag, konnten für eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung in Betracht kommen. Deutsche, die sich am 10. Mai 1940 rechtmäßig in den Niederlanden aufhielten und sich vor und im Krieg als aufrichtiger Freund des niederländischen Volkes gezeigt hatten, kamen ebenfalls für eine solche Aufenthaltsgenehmigung in Frage. Wenn Deutsche beweisen konnten, dass sie während des Krieges aktiv am niederländischen Widerstand teilgenommen hatten, konnten sie als Zeichen der Wertschätzung eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Deutsche Juden, die aus Konzentrations- und Vernichtungslagern in die Niederlande zurückkehrten, mussten also beweisen, dass sie unverzichtbar für die Niederlande waren, sich während des Krieges als aufrichtiger Freund des niederländischen Volkes gezeigt hatten und dass sie selbst im niederländischen Widerstand aktiv gewesen waren. Für deutsche Juden, die jahrelang in den Niederlanden untergetaucht gelebt hatten, war es ebenfalls schwierig zu beweisen, dass sie sich während der Zeit im Untergrund als aufrichtiger Freund des niederländischen Volkes gezeigt hatten. Niederländer, die während des Krieges Verfolgte aufgenommen und versteckt hatten, mussten zum Beispiel schriftlich erklären, dass dies der Fall gewesen war. Die lokalen Polizeichefs durften die Einwanderungsbehörde beraten, welche Deutsche für weiteren Aufenthalt in den Niederlanden in Betracht kamen und welche nicht. Rechtshilfe bekamen Deutsche nicht, falsche und unbegründete Beschuldigungen mussten sie nach dem Krieg jahrelang duldsam ertragen. Die Alliierten klagten bei der niederländischen Regierung vielfach über die mangelhafte Beweislast gegenüber den Deutschen, die in die britische, amerikanische oder französische Zone deportiert wurden. Ab dem 10. Dezember 1945 gab es Ausführungsvorschriften für die lokalen Polizeichefs in der Form eines Fragebogens, den sie für jeden Deutschen ab sechzehn Jahren ausfüllen mussten. Am 11. September 1946 startete die Operation Black Tulip . Deutsche wurden als unerwünschte „Schwarze Tulpen“ qualifiziert, die gruppenweise aus den Niederlanden entfernt werden mussten. Sie wurden in umgekehrter Reihenfolge der Ankunft in den Niederlanden in spezielle Internierungslager für Deutsche deportiert. Mariënbosch und Avegoor waren die größten Lager in den Niederlanden. Der Lagerkommandant von Mariënbosch war Jacques Schol, der vom <?page no="200"?> Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 199 16. Juli 1940 bis Januar 1943 bereits Kommandant von Westerbork gewesen war (dem Durchgangslager in die Vernichtungslager). Die Nachkriegsdeportationen wurden von ihm auf dieselbe Weise organisiert wie die Deportationen während des Krieges. Wöchentlich wurden Deutsche in großen Gruppen in die britische, amerikanische oder französische Zone in Deutschland deportiert. Avegoor war während des Krieges ein Arbeitslager für jüdische Männer gewesen. Das Hauptgebäude von Mariënbosch ist heute ein Studentenwohnheim und das Hauptgebäude von Avegoor ist jetzt ein Hotel. Nichts erinnert die Besucher dieser Orte heute an die jahrelange Internierung von Deutschen. Abb. 1: Das Hauptgebäude von Lager Mariënbosch ist heute ein Studentenwohnheim. Informationen über die jahrelangen Internierungen und Deportationen von Deutschen nach dem Krieg fehlt an diesem Ort. (Foto: Angela Boone, privat) In den Internierungslagern saßen Deutsche, die schon seit Jahrzehnten in den Niederlanden wohnten, Deutsche, die vor dem Ersten Weltkrieg in die Niederlande geflohen waren, die zwischen den Kriegen aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen in die Niederlande gekommen waren, die kurz vor oder im Zweiten Weltkrieg in die Niederlande geflohen waren. Unter ihnen befanden sich auch Flüchtlinge aus dem Elsass - die Tatsache, dass sie sich selber als <?page no="201"?> 200 Angela Boone Saarländer betrachteten, wurde nicht berücksichtigt. Für Kinder, die in den Niederlanden als Kind eines deutschen Vaters geboren waren, war Deutschland ein unbekanntes Land. Deutsche Frauen, die mit niederländischen Männern verheiratet waren, konnten in den Niederlanden bleiben, aber niederländische Frauen, die mit deutschen Männern verheiratet waren, mussten die Niederlande verlassen. Während Otto Frank 1947 nach einem Verleger für das Tagebuch seiner Tochter suchte, war in den Niederlanden die Nachkriegsenteignung und -deportation der deutschen Juden in vollem Gang. Die jahrelange Enteignung und Deportation von deutschen Juden durch die niederländische Regierung nach dem Krieg wird allerdings in den Autobiografien deutscher Juden aus den Niederlanden nicht thematisiert. Dutzende deutsche Juden aus den Niederlanden, die ihre Lebensgeschichten erzählten, verschwiegen dabei, dass sie nach dem Krieg einen Antrag auf Entfeindung stellen mussten. Von den Autoren wurden sie explizit gefragt, was es für sie (auch nach der Befreiung) bedeutete, deutscher Jude in den Niederlanden zu sein. Sie sagten lediglich, dass sie Jahre nach dem Krieg die niederländische Nationalität beantragt hatten und danach in den Niederlanden geblieben waren. 14 Von deutschen Juden geschriebene Briefe sind allerdings in ihren Personalakten im Nationalarchiv zu finden, die damit zu der wichtigsten Quelle von Egodokumenten über diesen Zeitraum geworden sind. Um ein Bild davon zu bekommen, was mit den deportierten deutschen Juden geschehen ist, ist es notwendig, Informationen aus niederländischen und deutschen Archiven miteinander zu vergleichen. Die Haltung gegenüber den deutschen Juden ist bestürzend, wie aus dem Archivmaterial hervorgeht. Ein deutsch-jüdischer Flüchtling war Anfang 1939 in die Niederlande gekommen. 1944 war er von Westerbork aus nach Theresienstadt deportiert worden, von wo er im Mai 1945 in die Niederlande zurückkehrte. Nach seiner Nachkriegsdeportation aufgrund seiner deutschen Nationalität musste er bei seiner Tochter in Deutschland wohnen. 1951 bat er die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen in Genf ( IRO ) um Hilfe in Bezug auf seine Enteignung und Deportation nach dem Krieg. Die Organisation erklärte, dass diese Sache außerhalb ihres Mandats liege. Einige Jahre später ist dieser Mann gestorben. Eine Deutsch-Jüdin war vor dem Krieg in die Niederlande geflohen und hatte in einer niederländischen Pflegeeinrichtung den Krieg überlebt. Ende September 1946 ersuchte der Innenminister den Außenminister schriftlich um die zügige Abschiebung dieser, laut dem Minister, geisteskranken deutschen Jüdin. 14 Volker Jakob / Annet van der Voort: Anne Frank was niet alleen. Levensgeschiedenissen van Duitse joden in Nederland. Amsterdam 1990. <?page no="202"?> Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 201 Ein anderer deutsch-jüdischer Flüchtling wurde während des Krieges aus dem Lager Westerbork wegen seiner Mischehe entlassen, aber nach dem Krieg auf Basis seiner Nationalität aus den Niederlanden deportiert. Ein deutsch-jüdischer Junge, der in den Niederlanden untergetaucht war und dessen Name auf niederländischen Kriegsdenkmälern genannt wird, kann auf einer Liste mit Überlebenden wiedergefunden werden, die nach dem Krieg in die Niederlande zurückgebracht wurden. Ein deutscher Flüchtling kam 1936 in die Niederlande, nachdem er in Deutschland aus seiner Wohnung geworfen worden war. Gut zehn Jahre später wurde er in den Niederlanden erneut enteignet, in ein Internierungslager gesteckt und nach Deutschland deportiert. 15 Bittere Geschichten sind auch in Zeitungsberichten zu finden. Deutsche wurden aus den niederländischen Internierungslagern von Bewaffneten mit dem Lastwagen ins Flüchtlingslager in Lüstringen transportiert. Eine jüdische Frau in dem Lager erzählt der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung , dass sie sechzehn Monate hinter Stacheldraht gefangen gehalten worden sei, weil sie sich geweigert habe, sich von ihrem deutschen Mann scheiden zu lassen. Ihre sämtlichen Familienmitglieder waren von der Gestapo nach Polen deportiert und dort vergast worden. Eine Sängerin erzählt, dass ihr Mann in den Niederlanden ein berühmter Organist war. Er war seit 1943 im KZ Ravensbrück interniert, seit der Befreiung der Niederlande hatte er in einem Lager gelebt. Kurz nach seiner Rückkehr 1945 starb er infolge von Misshandlungen. Seine Ehefrau bekam vom Lagerkommandanten keine Erlaubnis, seiner Beerdigung beizuwohnen, sondern blieb wegen ihrer pro-deutschen Haltung interniert. 16 Im Oktober 1946 (einen Monat nach Beginn der Operation Black Tulip ) wurde auf Initiative des niederländischen Verteidigungsministeriums vom niederländischen Gräberdienst ein getrennter Friedhof für Deutsche im niederländischen Ort Ysselsteyn angelegt. Auf diesem Friedhof wurden seit dem 15. Oktober 1946 gut 31 500 Deutsche auf einem Gelände von 28 Hektar begraben oder umgebettet. Tausende Deutsche, die hier liegen, sind bis heute nicht identifiziert. Auf dem Gelände sind nicht nur Deutsche begraben, die während des Krieges in den Niederlanden fielen, sondern auch Deutsche, die in der Zeit nach der Befreiung in den Niederlanden starben und Niederländer, die der Kollaboration bezichtigt wurden. Am 1. November 1976 wurde der Friedhof von der niederländischen Regierung an die deutsche Bundesregierung übergeben, seitdem ist der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. für die Verwaltung dieses Friedhofs 15 Diese Information basiert auf eigener Archivforschung in den Niederlanden und in Deutschland. 16 Als „Schwarze Tulpen“ abgeschoben. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 29. Juni 1948. <?page no="203"?> 202 Angela Boone verantwortlich. 17 Am jährlichen Volkstrauertag im November wird auf diesem Friedhof der Kriegsopfer wie der Vertriebenen gedacht, die in der Zeit nach dem Krieg ihre Vertreibung nicht überlebten. Jacques Presser preist sich im Nachwort seiner Studie über die Verfolgung und Vernichtung des niederländischen Judentums glücklich, dass er seine Geschichtsschreibung am 5. Mai 1945 beenden kann und dadurch die lange und schmerzliche Nachgeschichte des Krieges für die Juden, die ihn überlebt hatten, nicht näher zu beleuchten braucht. Juden, die in die Niederlande zurückkehrten, bekamen den enteigneten Besitz von Deutschen (darunter auch Juden) zugewiesen, zum Beispiel ihre Wohnungen und den Hausrat. Wie viele Juden (darunter deutsche Juden) aus den Niederlanden den Krieg überlebt haben, ist bis heute unklar, ihre Anzahl kann nur geschätzt werden. Erst am 2. Juni 1949 begann man mit der Ausstellung von Totenscheinen für Vermisste; bis zu diesem Zeitpunkt stand der Tod der Mehrheit der deportierten Juden noch nicht offiziell fest. Die Erforschung der Nachkriegsenteignung von Juden (und ihres jahrelangen Kampfes für Schadensersatz und Rehabilitation) in den Niederlanden überlässt Presser anderen Forschern, die das können und sich an das Thema wagen. 18 Isaac Lipschits hat sich die Mühe gemacht, die kleine Shoah in den Nachkriegsniederlanden zu analysieren. Den Empfang der Juden nach dem Krieg beschreibt er als kühl, bürokratisch, feindlich und demütigend. Die Beraubung von Juden wurde unter der Regie des niederländischen Staates fortgesetzt. Der Antisemitismus war aus seiner Sicht nach dem Krieg noch heftiger, als er vor dem Krieg gewesen war. Er beschreibt, wie deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden nach dem Krieg als feindliche Untertanen behandelt wurden. Bei ihrer Rückkehr in die Niederlande wurden sie an der Grenze verhaftet. Der Besitz deutsch-jüdischer Flüchtlinge fiel an den niederländischen Staat. 19 Gerard Aalders beschreibt, dass die niederländische Regierung bereits im September 1945 wusste, dass die Politik gegenüber den deutsch-jüdischen Flüchtlingen nicht rechtmäßig war. Der Vorstand des Rates für Wiederherstellung der Rechte beschloss im September 1945 trotzdem, deutsche Juden nicht kollektiv zu entfeinden, sondern dass deutsche Juden individuell einen Antrag auf Entfeindung stellen mussten. 20 17 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.: Faltblatt über den Friedhof in Ysselsteyn. 18 Dr. J. Presser: Ondergang. De vervolging en verdelging van het Nederlandse Jodendom (1940-1945). ’s-Gravenhage 1985, S. 511. 19 Isaac Lipschits: De kleine sjoa. Joden in naoorlogs Nederland. Groningen 2001, S. 70 f. 20 Gerard Aalders: Berooid. De beroofde joden en het Nederlandse restitutiebeleid sinds 1945. Amsterdam 2001, S. 340 f. <?page no="204"?> Deutsch-jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 203 Der Artikel Weg met de Moffen (Weg mit den Moffen) von Melchior Bogaarts gilt immer noch als wichtige Quelle für die Nachkriegsdeportation von Deutschen aus den Niederlanden. 21 Bogaarts schätzt die Anzahl der Deutschen in den Niederlanden zum Zeitpunkt der Befreiung auf ungefähr 25 000; diese Zahl stammt jedoch nicht aus offiziellen Statistiken und ist daher unzuverlässig. Die niederländische Regierung beschloss schon am 6. August 1945, deutsch-jüdische Flüchtlinge, die nach dem 1. Januar 1933 in die Niederlande geflohen waren, nach Deutschland zu deportieren. Bogaarts ging davon aus, dass ab 1946 deutsch-jüdische Flüchtlinge von Enteignung und Deportation verschont blieben, was aber, nach näherer Einsicht in die Archive, in keiner Weise der Fall ist. Bogaarts schätzt die Anzahl der nach dem Krieg deportierten Deutschen auf 3691, aber die Grundlage dieser Schätzung ist unklar. Seine Zahl ist in jedem Fall unrichtig, weil sehr viele Deportationslisten fehlen. Laut Erklärungen von Archivaren wurden diese vernichtet oder sind unauffindbar. Vom Lager Mariënbosch sind die Deportationslisten nur von einigen Monaten teilweise erhalten geblieben. In dieser Zeit wurden aus dem Lager schon mehr Deutsche aus den Niederlanden deportiert, als Bogaarts für mehrere Jahre und aus mehreren Lagern suggeriert. Die nicht belegte Anzahl von 3691 wurde von anderen Wissenschaftlern, ohne dies zu überprüfen, von Bogaarts übernommen. Im Buch Operatie Black Tulip beschreiben die Autoren Jan Sintemaartensdijk und Yfke Nijland, dass aus den Niederlanden deportierte Deutsche behaupteten, nach dem Krieg seien 90 000 Deutsche aus den Niederlanden deportiert worden. 22 Die Autoren halten diese Anzahl für unglaubwürdig, haben sie aber nicht näher untersucht. Die Autoren haben beispielsweise nicht berücksichtigt, dass ab der Befreiung bis zum 11. September 1946 schon eine große Zahl von Deutschen aus den Niederlanden deportiert worden waren und dass sehr viele Deportationslisten aus der Nachkriegszeit vernichtet wurden bzw. unauffindbar sind. Genauso wenig haben die Autoren berücksichtigt, dass die geschätzte Anzahl von Deutschen in den Niederlanden bei der Befreiung unzuverlässig ist. Deutsche Juden, die in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in die Niederlande flohen, wurden mit dreifacher Verfolgung konfrontiert. Vor dem Krieg in Deutschland, während des Krieges in den Niederlanden und nach dem Krieg durch die niederländische Regierung. Dass die Nachkriegsdeportationen in den Niederlanden faktisch länger gedauert haben als die Deportationen während des Krieges, ist vielen nicht bekannt. Die Nachkriegsdeportationen werden in 21 M. D. Bogaarts: Weg met de Moffen. De uitwijzing van Duitse ongewenste vreemdelingen in Nederland na 1945. In: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden (1981), S. 334-351. 22 Jan Sintemaartensdijk / Yfke Nijland: Operatie Black Tulip. De uitzetting van Duitse burgers na de oorlog. Amsterdam 2009, S. 166. <?page no="205"?> 204 Angela Boone Geschichtsbüchern, in Museen und an den Orten ehemaliger Internierungslager verschwiegen. Bis heute gibt es wenige bis gar keine wissenschaftlichen Forschungen darüber. Das Passieren der niederländischen Grenze ist zwischen 1914 und 1950 für Flüchtlinge aus Deutschland sehr emotional gewesen. Durch die Schließung der niederländischen Grenze wurden sie von Deutschland abgeschnitten. Ab 1914 entwickelte die niederländische Regierung in zunehmendem Maße eine Politik, um zwischen Deutschen und Niederländern eine Grenze zu ziehen. Deutsche wurden physisch von Niederländern getrennt, indem man sie in Internierungslagern unterbrachte. In den Medien wurde diese Politik sowohl unterstützt als auch kritisiert. Der Umgang mit Flüchtlingen gründete in den Niederlanden zwischen 1914 und 1950 de facto eher auf wirtschaftlichen als auf humanitären Überlegungen. Die von der niederländischen Regierung gezogene Grenze zwischen Deutschen und Niederländern ist bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein in der niederländischen Gesellschaft spürbar geblieben. Deutsche wurden nach der Befreiung in den Niederlanden noch jahrzehntelang als „falsch“ (also als Feind) qualifiziert und Niederländer als gut; es gab also auch eine moralische Grenze. Die Tatsache, dass deutsche Juden in den Niederlanden nach dem Krieg jahrelang als Feinde der Niederlande abqualifiziert wurden, hat möglicherweise dazu beigetragen, dass sie ihre äußerst schmerzhaften Nachkriegserfahrungen mit der niederländischen Bürokratie verschwiegen haben. Die schwarzen Kapitel der niederländischen Ausländerpolitik im zwanzigsten Jahrhundert sind lange zu wenig beachtet worden, langsam erlangen sie jedoch die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Übersetzung aus dem Niederländischen: Katja B. Zaich <?page no="206"?> Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg 205 Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg Germaine Goetzinger, Luxemburg Seit einiger Zeit werden auch in Luxemburg Stolpersteine verlegt. Sie verweisen auf das Schicksal sowohl der in Luxemburg seit langen Jahren ansässigen Juden als auch auf das Schicksal jener, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg als Emigranten nach Luxemburg kamen. Gleichzeitig wird die unbequeme Frage diskutiert, welche Stellung die luxemburgischen Behörden gegenüber den Juden einnahmen, eine Frage, die bislang zu kurz kam und hinter Themen wie Besatzung, Widerstand, Zwangsrekrutierung und Umsiedlung zurückstehen musste. Mein Beitrag berührt einen Aspekt dieser Thematik, indem er nach der Interaktion bei Kriegsende zwischen deutsch-jüdischen Emigranten und dem Exilland fragt. Nach einem kurzen Blick auf die Spezifizität von Luxemburg als Exilland soll an drei Beispielen aufgezeigt werden, mit welchen Problemen die in Luxemburg Verbliebenen oder nach Luxemburg Remigrierenden nach dem Krieg konfrontiert waren und was für Konsequenzen sich aus dem historisch bedingten Knick ihrer Lebenslinie ergaben. Zudem soll die komplexe Problematik des deutsch-jüdischen Exils in Luxemburg als relevante Forschungsfrage genauer umrissen werden. I. Luxemburg als Exil-, Transit- oder Warteland Luxemburg als Exil-, Transit- oder Warteland hatte in den 1930er Jahren zweifelsohne eine gewisse Attraktivität. 1 Es lag in unmittelbarer Nähe zu Deutschland, war politisch neutral und die Bevölkerung zeigte wenig Sympathie für das in Deutschland sich etablierende Regime. Bis zur nächsten Grenze waren es maximal fünfundvierzig Kilometer, und die Grenzen waren im Allgemeinen recht durchlässig. Wer aus Deutschland oder Österreich nach Luxemburg kam, brauchte auch keine Angst vor Verständnisschwierigkeiten zu haben, denn Deutsch war hier eine der Kommunikationssprachen. Auch konnten Flüchtlinge in Luxemburg auf ein Netzwerk von Fluchthelfern, Schleusern, sogenannten 1 Vgl. Germaine Goetzinger / Gast Mannes / Pierre Marson: Exilland Luxemburg. 1933-1947. Mersch 2007; Vincent Artuso: La „question juive“ au Luxembourg (1933-1941). L’État luxembourgeois face aux persécutions antisémites nazies. Rapport final. Luxemburg 2015. <?page no="207"?> 206 Germaine Goetzinger Passeurs, zurückgreifen, die sie nach Belgien oder Frankreich vermittelten und über die Grenze brachten. Ein beliebter Grenzübergang nach Luxemburg führte durch den Grenzfluss Sauer, der in Wasserbillig in die Mosel mündet. Der österreichische Schauspieler Jacques Arndt beschreibt, wie er 1938 oberhalb von Wasserbillig ans luxemburgische Ufer gelangte. In Trier sollte ich den Touristen spielen. Ich sollte zur Mosel gehen, sie überqueren und am linken Moselufer bis zur Mündung der Sauer wandern. Dem Lauf der Sauer sollte ich ein Stück lang folgen, bis ich außer Sichtweite des an der Mündung gelegenen Ortes wäre. Dann sollte ich auf die Luxemburger Seite schwimmen. Dabei gäbe es zwei Möglichkeiten. Wenn die deutschen Grenzer mich nicht sehen würden, sei ich schnell drüben. Wenn sie mich allerdings sähen, würden sie schießen. Die gesamte Route klappte zunächst. Ich erreichte die Sauer und versuchte rüberzuschwimmen. In der Flußmitte angekommen, knallte es, aber ich wurde nicht getroffen. Ich tauchte unter, und so gelang es mir, das rettende Luxemburger Ufer zu erreichen. 2 Bekannter Fluchthelfer war der sozialdemokratische Politiker Victor Bodson, 3 der seine Jagdhütte in Steinheim an der Sauer als Zwischenstation einer Fluchtroute für Emigranten zur Verfügung stellte. Die Flüchtlinge, die durch die Sauer gekommen waren, wurden dort versorgt, auf Zufluchtsorte verteilt und weitergeleitet. Daneben galt Luxemburg insbesondere seit der Saarabstimmung als Auffangbecken für verfolgte deutsche Politiker und Gewerkschafter, unter ihnen Max Bock, Sekretär des Metallarbeiter-Verbandes und Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes für das Saargebiet, Wilhelm Sollmann, sozialistischer Reichstagsabgeordneter und kurzzeitig Minister des Innern, oder, in Saarbrücken bestens bekannt, der Politiker Johannes Hoffmann. Die Dreiländerecken Schengen im Südosten, Longwy im Südwesten und Ouren im Nordosten ermöglichten nicht nur einen raschen Grenzübergang, sondern waren ideal für konspirative Zusammenkünfte und internationale Kurierdienste. So sind Treffen von Sollmann mit dem Vorsitzenden des deutschen Freidenkerbundes Max Sievers, dem Führer der Untergrund-Organisation Schwarze Front Otto Strasser und dem deutschen Gewerkschaftsführer und Politiker der Zentrumspartei Heinrich Imbusch nachgewiesen, bei denen eine Zusammenarbeit 2 Es ging um deutsches Theater. Der Schauspieler und Regisseur Jacques Arndt. In: ila. Das Lateinamerika-Magazin 224 (1999) S. 40-45, hier S. 42. 3 Für seine Bemühungen um die Exilanten wurde ihm vom Staat Israel der „Titel Gerechter unter den Völkern“ verliehen. Vgl. Paul Dostert: Victor Bodson. 1902-1984. In: 400 Joer Kolléisch. Bd. II: Athénée et ses grands anciens, 1815-1993. Luxemburg 2003, S. 387 f. <?page no="208"?> Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg 207 im innerdeutschen Widerstand und ein umfassendes Bündnis der antifaschistischen Emigrantengruppen ausgelotet wurden. Während es den meisten Politikern und Gewerkschaftern gelang, Luxemburg hinter sich zu lassen, gab es ab Mai 1940, als das Land von Nazideutschland besetzt wurde, eine nicht unerhebliche Zahl von Emigranten, die in der Falle saßen. Sofern sie nicht noch fliehen konnten, wurden sie in das sogenannte jüdische Altersheim von Fünfbrunnen, ein leerstehendes Kloster der Herz-Jesu- Priester, das in Wirklichkeit ein Sammellager war, eingewiesen und von dort nach den Vernichtungslagern des Ostens deportiert. Ausgenommen waren etwa 60 Personen, die in Mischehen lebten. II. Drei exemplarische Fälle Der Fall Heumann Hugo Heumann kam 1939 nach Luxemburg. Seine Textilfabrik in Mönchengladbach war von den Nazis arisiert worden, er selbst wurde am 10. November 1938 verhaftet und zwei Wochen lang in Schutzhaft genommen. Die Einreiseerlaubnis bekam er dank verwandtschaftlicher Beziehungen relativ schnell und problemlos, da sein Neffe Alex Bonn, ein bekannter luxemburgischer Rechtsanwalt, sich für ihn einsetzte und seine Schwester Helene Bonn-Heumann bereit war, für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Als sich dann die Familie Bonn 1941 nach den USA einschiffte, blieben die Heumanns, die armen Verwandten, mittel- und schutzlos in Luxemburg zurück und mussten nach Fünfbrunnen umsiedeln. Am 6. April 1943 schließlich gelangten sie mit dem vorletzten Transport alter und kranker Glaubensgenossen nach Theresienstadt. Über Hugo Heumanns Leben im Vorkriegs-Luxemburg und in Theresienstadt sind wir relativ gut informiert dank eines an seinen in Holland untergetauchten Sohn Walter gerichteten Tagebuches. 4 Nach der Befreiung Theresienstadts durch die Russen stellte sich für die Heumanns die Frage nach dem Wohin. Nach Deutschland wollten sie nicht, nach Luxemburg konnten sie vorerst nicht. Die Rückreise nach Luxemburg mit einer Gruppe von Displaced Persons wurde in Bamberg unterbrochen, als der Luxemburger Verbindungsoffizier Reinsch 15 von ihnen mit der Begründung, 4 Hugo Heumann: Erlebtes - Erlittenes. Tagebuch eines deutsch-jüdischen Emigranten. Hg. von Germaine Goetzinger / Marc Schoentgen. Mersch 2007. <?page no="209"?> 208 Germaine Goetzinger sie seien deutsche Staatsangehörige, die Weiterfahrt verwehrte. 5 Auch wenn ihnen von den Nazis die Reichsbürgerschaft aberkannt worden war, so waren Displaced Persons für die Luxemburger Behörden nach wie vor deutsche Staatsangehörige, für Hugo Heumann eine zweifache Diskriminierung: Ich habe schon immer gesagt, dass es das schlimmste Los auf Erden ist, deutscher Jude zu sein: aus Deutschland hat man uns hinaus geschmissen, weil wir Juden sind, u. in die früheren Zufluchtsländer will man uns nicht wieder hinein lassen, weil wir Deutsche sind oder waren. Was soll nun aus uns werden? 6 Fast zwei Monate müssen die 15 Überlebenden in Bamberg auf Nachricht aus Luxemburg warten. Denn nur wer vor Kriegsausbruch in Luxemburg gelebt hatte, Verwandte in Luxemburg hatte oder die Hinterlegung einer hohen Kaution nachweisen konnte, hatte Aussicht auf einen positiven Entscheid. Am 1. August 1945 stellte dann das Justizministerium eine Aufenthaltsgenehmigung für die Heumanns aus. Die Familie Bonn hatte schriftlich erklärt, für die Verwandten bis an deren Lebensende aufzukommen und eine Kaution von 60 000 Franken hinterlegt. Doch als am 19. August schließlich der luxemburgische Arzt Dr. Henri Cerf mit einem Ambulanzwagen des Roten Kreuzes in Bamberg eintraf, um sie abzuholen, überwogen Erleichterung und Freude. Ende August 1945 trafen die Heumanns in Luxemburg ein, wo sie ihren Sohn Walter wiedersahen, der in der Wohnung seines Werkmeisters Kuiper der Philipps-Werke in Eindhoven ebenfalls den Krieg überlebt hatte. Da sie eine Rückkehr nach Deutschland ausschlossen - Hugo Heumann erklärte der Luxemburger Polizei, staatenlos zu sein und es auch bleiben zu wollen -, beschlossen sie 1948, ihrem Sohn in die USA zu folgen, der in Los Angeles Arbeit als Fernsehelektriker gefunden hatte. Die Tatsache, dass Hugo und Selma Heumann nach 1945 keinerlei Vermögen oder Einkommen hatten und somit weiterhin auf die Mildtätigkeit der Luxemburger Verwandtschaft angewiesen waren, trug sicherlich auch zu ihrem Entschluss bei. Im Mai 1948 trafen sie in Kalifornien ein. Als sie nach fünf Jahren die US -Staatsbürgerschaft erhielten, nahmen sie eine nicht unbedeutsame Namensänderung vor. Sie verzichteten auf die Doppelkonsonanz am Namensende und schrieben sozusagen in einem stillen Protestgestus gegen ihre deutschen Ursprünge Heuman fortan mit einem einzigen ‚n‘. Ähnliches wie die Heuman(n)s erlebt auch der deutsche Schriftsteller Karl Schnog, der schon 1933 über die Schweiz nach Luxemburg emigriert war. Als 5 Archives nationales Luxembourg: C. I. 04: Liste des personnes de Theresienstadt qui ont été retenues à Bamberg. 6 Heumann: Erlebtes - Erlittenes (Anm. 4), S. 84. <?page no="210"?> Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg 209 Mitbegründer der Gruppe Revolutionärer Pazifisten 1929 in Berlin und Verfasser von engagierten, zeitkritischen Gedichten 7 war er stark gefährdet und wurde schon im Mai 1940 festgenommen und kam in die KZ s Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald. Als Buchenwald im April 1945 befreit wurde, wollte Schnog möglichst schnell zu seiner in Luxemburg verbliebenen Familie zurückzukehren. Aber auch für ihn als deutschen Juden gab es keine Rückführung. Zu Fuß machte er sich auf den Weg nach Luxemburg. Es sei „kein leichter Heimweg“ gewesen, schreibt er in seinem Erinnerungsbuch Unbekanntes KZ , doch ein höchst „lehrreicher“. Ohne diese Odyssee habe er nie „so echt und unmittelbar erfahren“, wie es in Deutschland „während der letzten Stunden des Dritten Reiches aussah“. Traurig habe ihn die Tatsache gestimmt, dass die Partikularinteressen so schnell wieder das Leben bestimmt hätten. „Tage vorher waren wir im Lager noch Leidgenossen gewesen. Jetzt, freigeworden, richtete man schon wieder partikularistische Schranken auf.“ 8 Das was als persönliche Demütigung von Hugo Heumann und Karl Schnog empfunden wurde, bestätigte auch der für die Rückführung zuständige Verbindungsoffizier Dr. Henri Cerf, der den Krieg in Baltimore überlebt hatte und im Rang eines britischen Offiziers nach Luxemburg zurückgekehrt war. 9 Nach seinem Dafürhalten erlebten die meisten remigrierenden Juden Luxemburg als „unhappy home“; darum zöge es sie weiter nach anderen Ländern. Er zitiert einen Mann, der gesagt haben soll: „if any Jew comes back here, he is making a mistake; if he comes back with children, he is committing a crime.“ Luxemburgische Juden hätten es schwer, „since their homes, having been taken over by the Germans, are now classified as enemy property, and are being used by the military.“ Noch schwieriger hätten es die ausländischen Juden, „who are now dependent on the Jewish community for assistance.“ Der Fall Ising Derartige Fragen blieben dem Physiker Dr. Ernst Ising, der an dem von Gertrud Feiertag gegründeten Jüdischen Kinder- und Landschulheim in Caputh bei Berlin unterrichtet hatte und dort den Pogromen der Reichskristallnacht ausgesetzt 7 Unter dem Pseudonym Charlie vom Thurm betreute er zwischen 1937 und 1940 im Escher Tageblatt die Chronik in Versen Weltwochenschau . Im Malpaartes-Verlag seines Freundes Evy Friedrich veröffentlichte er 1934 Kinnhaken , Kampfgedichte gegen den Nationalsozialismus , sowie 1937 in Zusammenarbeit mit dem Industriellen Henry J. Leir den utopischen Gesellschaftsentwurf La Grande Compagnie de Colonisation . 8 Karl Schnog: Unbekanntes KZ. Luxemburg 1945, S. 23. 9 Henri Cerf: Nazi fostered anti-semitism in Luxembourg making life difficult for returning jews. In: ITA Daily News Bulletin vom 10. Juni 1945, S. 2. <?page no="211"?> 210 Germaine Goetzinger war, und seiner Frau Johanna Ehmer, einer promovierten Wirtschaftswissenschaftlerin, erspart. Sie verbrachten die ganzen Kriegsjahre in Luxemburg. Sie gehörten zu dem etwa 100 Personen umfassenden Kontingent der sogenannten Heinemann-Juden, die 1939 ins Land kamen, abgesichert durch das Versprechen des belgischen Geschäftsmannes Dannie Heinemann, dauerhaft für ihren Aufenthalt aufzukommen. 10 Mit weiteren Emigranten waren sie bis zum Ausbruch des Krieges im Hôtel des Sept Châteaux in Mersch untergebracht. Durch seine Heirat mit der Nicht-Jüdin Johanna Ehmer war Ernst Ising vorerst von den Deportationen ausgenommen. Ab Dezember 1940 verdiente Ising seinen Lebensunterhalt als Lehrer in der vom Ältestenrat der Juden eingerichteten Schule für die vom öffentlichen Unterricht ausgeschlossenen jüdischen Schüler. 11 Als die Schule geschlossen wurde, half er bei einem Schäfer aus und übernahm 1942 Hilfsarbeiten in Fünfbrunnen und unterrichtete die dort untergebrachten Kinder. Anschließend wurde er mit den anderen in Mischehen lebenden Männern zur Maginot-Linie nach Thionville abbestellt, wo sie Eisenbahnschienen abbauten, die zu neuer Verwendung an die Ostfront gebracht wurden. Hierbei verlor er durch einen Arbeitsunfall einen Finger. Über den Lebensalltag der Isings in Mersch sind wir relativ gut informiert, da Frau Ising einen autobiografischen Bericht Walk on a tightrope or Paradise lasted a year and a half hinterlassen hat, in dem das Merscher Exil einen großen Platz einnimmt. 12 Außerdem liegt ein von Vater und Mutter abwechselnd redigierter Bericht über das Wachsen und Gedeihen des 1939 in Luxemburg geborenen Sohn Thomas vor. 13 So wissen wir zum Beispiel, dass vor der Besetzung Luxemburgs Ernst Ising mit seinen Schicksalsgenossen aus dem Hotel Barthélemy Englisch und Spanisch lernte, während Frau Ising Babykleider anfertigte. Zu Fuß und per Fahrrad erkundeten sie Luxemburg und wagten sich auch an die deutsch-luxemburgische Grenze in Grevenmacher vor, wo sie am jenseitigen Moselufer mit Soldaten überfüllte Züge sahen, die nach Norden fuhren. Trotz ihrer Armut und der Angst vor der ungewissen Zukunft, haderten sie nicht mit ihrem Schicksal. „We were very poor, it’s true. But we were never separated. […] We were simply left alone, not even asked for contributions to the many Nazi 10 Vgl. Liane Ranieri: Dannie Heineman. Patron de la SOFINA. Un destin singulier 1872-1962. Brüssel 2005. 11 Germaine Goetzinger: Ernst Ising, Lehrer an der Jüdischen Schule in Luxemburg. In: Savoirs et engagements. Hommage à Georges Wirtgen. Hg. von Charles Berg. Differdange 2009 [Monographies de la recherche jeunesse 4], S. 15-28. 12 Jane Ehmer-Ising: Walking on a tightrope or Paradise lasted a year and a half (unveröffentlichtes Typoskript, Privatbesitz). 13 Ernst Ising / Jane Ehmer-Ising: Bericht aus dem Leben unseres Sohnes (unveröffentlichtes Typoskript, Privatbesitz). <?page no="212"?> Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg 211 causes, only led a precarious existence, never knowing what the next day would bring.“ 14 Der Kontakt zu den Luxemburgern war gut. Die Hotelbesitzer respektierten die unfreiwilligen Gäste und versuchten ihnen das Gefühl der Ausgrenzung zu ersparen. So waren z. B. alle eingeladen zu der Silberhochzeit der Hotelbesitzer und der gleichzeitigen Verlobung der Tochter Julie. Als Thomas Ising geboren wurde, stellten die Merscher jede Menge Möbel und Babykleider zur Verfügung. Verbindendes Element zwischen den jüdischen Emigranten und der Mehrzahl der Luxemburger Bevölkerung war der Hass auf die Nationalsozialisten. „While we felt as puppets, the strings of which lay in the hands of evil powers above us, we were surrounded by sympathizing Luxembourgians, who suffered from, an hated, the ‘Prussians’ just as we did.“ 15 Damit war jedoch Schluss, als Luxemburg von den Amerikanern befreit wurde. Mit dem Verschwinden des gemeinsamen Feindes und der Abrechnung mit den Kollaborateuren war die Stimmung gegenüber den in Luxemburg verbliebenen Deutschen eine andere geworden. Ungeachtet ihrer Leidensgeschichte wurden sie nun vorwiegend als unliebsame Deutsche wahrgenommen. Opfer dieser Deutschfeindlichkeit wurde auch Frau Ising. Als sie es wagte gegen die Festnahme von Dr. Lenhard, einem Deutschen, der auf Quartiersuche in Mersch war, zu protestieren, schimpfte sie ein Milizmann „Preiss“ und hob die Hand zum Schlag. „I myself have an unpleasant argument with militiaman […] who calls Dr. L. a rogue (Spitzbube) and me a ,Preussin‘ and - his hand lifted to beat me - orders me to go straight home.“ 16 Auch Hannah Schnog berichtete, dass ihre Mutter, die des Luxemburgischen unkundig war, es nicht mehr wagte, einkaufen zu gehen und ihre luxemburgisch sprechende Tochter bat, die Einkäufe zu übernehmen. Eine Rückkehr nach Deutschland kam für die Isings dennoch nicht in Frage. Luxemburg gegenüber empfanden sie zwar Dankbarkeit, doch verleugneten sie keineswegs die interkulturelle Distanz zwischen der deutsch-jüdischen, bildungsbürgerlichen Familie und dem Milieu der vorläufigen Exilheimat. Luxembourg had been good to us. The people were friendly and helpful. The country was beautiful. Our life was simple, but we had the necessities of life and lived close to nature. For Tom to spend the first 7 ½ years of his life there was certainly a blessing. But we also knew and felt that we were guests, that we never would be considered as 14 Ehmer-Ising: Walking (Anm. 12), S. 42. 15 Ebd., S. 43. 16 Ebd., S. 56. <?page no="213"?> 212 Germaine Goetzinger equals. It is a closed community where strangers can never feel quite home. We hoped, that this would be different in America. 17 Im April 1947 verließen die Isings Mersch. Als die Behörden ihnen zur Option stellten, einen deutschen oder einen luxemburgischen Pass zu beantragen, lehnten sie den deutschen Pass ab. Doch als der luxemburgische Passbeamte den Vornamen der Antragstellerin hörte, weigerte er sich, einen Pass auf den Namen Johanna Ehmer auszustellen, denn Johannas gebe es keine in Luxemburg. Schriebe er diesen Vornamen in einen luxemburgischen Pass, so würde sich Großherzogin Charlotte in dem an der Wand hängenden Porträt vor Scham umdrehen. Den Pass stellte er ihr sodann auf den Namen Jeanne Ising aus. Sie wagte nicht zu widersprechen. In den USA aber änderte sie den Vornamen zu Jane. „I found it somewhat strange, that I was living in an English speaking country, a German immigrant with e French first name. […] I am known in America as Jane Ising, but for my German speaking friends I remain Hanna.“ 18 Was hier episodenhaft daherkommt, ist weitaus mehr. Die Geschichte von Hanna / Jeanne / Jane Ehmer-Ising bezieht sich auf die viel komplexere Erfahrung von Grenze, die man in Luxemburg oder einem anderen Exilland machen kann und die Spuren in der persönlichen Identität hinterlässt. Wie die Heumanns ihren Namen um ein n kürzten, zeigt die triglossale Vervielfältigung des Namens hier das zum Teil aufgezwungene, schmerzliche Lavieren eines Emigranten zwischen den Kulturen. Der Fall Grünberg Dr. Eugen Grünberg war Heinemann-Jude wie Ernst Ising. Seine Frau Anne- Marie Majer war Nicht-Jüdin. Als er nach Luxemburg kam, hatte der frühere Fürsorge- und Tuberkulosearzt bei der Landesversicherungsanstalt Berlin schon einen längeren KZ -Aufenthalt in Sachsenhausen hinter sich. Eigenen Aussagen zufolge wurde seine ganze Familie Opfer nationalsozialistischer Politik: Meine Mutter, 80-jährig, fast erblindet, wurde nach Theresienstadt deportiert und ist dort gestorben. […] Drei Brüder sind in K. Z.’s umgebracht worden, eine Schwester ist deportiert und verschollen. So ist meine ganze Familie von diesen Verbrechern ausgerottet worden. 19 Wie Ising war auch Grünberg als Mischehepartner vorerst von der Deportation ausgenommen. 1941 wurde er von den deutschen Machthabern verpflichtet, die 17 Ebd., S. 65. 18 Ebd. 19 Archives nationales Luxembourg: Police des étrangers. Dossier Eugen Grünberg. <?page no="214"?> Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg 213 Gesundheitsfürsorge der in Fünfbrunnen internierten Juden zu übernehmen. Als zusätzliche Arbeit wurde ihm vom Chef der Zivilverwaltung die Vertretung der Mischehen gegenüber den deutschen Behörden, Gestapo, Chef der Zivilverwaltung, Abteilung jüdisches Vermögen und Wirtschaftsamt sowie deren ärztliche Betreuung aufgetragen. Nach der Deportation des letzten Judenältesten Alfred Oppenheimer wurde er als Vorsitzender der Restvereinigung jüdischer Mischehepartner, also der letzten in Luxemburg verbliebenen Juden, aufgefordert, seinen Wohnsitz in Oppenheimers ehemaligen Wohnung zu nehmen. Als besonders schwierig erwiesen sich seine Bemühungen, den von ihm vertretenen Familien Zugang zu ihren Konten zu verschaffen. Anfangs erhielten die einzelnen Familien bis zu Rm. 250, monatlich aus ihrem eigenen Sicherungskonto auf jedesmaligen Antrag, die ich gesammelt einreichen musste. Im Oktober 1943 wurden auch diese Konten ganz gesperrt. Nach langen Verhandlungen erreichte ich, dass das Konto der jüd. Gemeinde von ca. Rm 10 000 freigegeben wurde. Hiervon durfte ich jedoch nur Rm 95, - pro Familie monatlich auszahlen und darüber genaue Abrechnung mit Bankauszügen vorlegen. 20 Darüber hinaus versuchte Dr. Grünberg den Kontakt zu den Deportierten aufrecht zu halten und schickte monatlich an die 150 Liebesgabenpäckchen nach Theresienstadt, Birkenau und Lodz. „Der Inhalt stammte z. T. von Angehörigen und Bekannten, z. T. habe ich mir die Sachen zusammengebettelt“, schrieb er in einem Bericht über seine Tätigkeit als Vertrauensmann der Restvereinigung jüdischer Mischehepartner. 21 Die vorformulierten Antwortkarten mit dem Text „Ich bestätige dankend den Empfang Ihres (Deines) Paketes vom ……“ galten als Beweis dafür, dass der Adressat noch am Leben war. 22 Waren die Karten ausführlicher, so wurde für bestimmte Waren gedankt, z. B. Schuhcreme, Zahnbürste, Zwiebeln, Suppenwürfel oder Dörrgemüse. Allgegenwärtig war der Wunsch, Eugen Grünberg möge auch weiterhin Päckchen schicken. „Herzlichen Dank für Ihre Mühe und Arbeit“, schrieb Alfred Oppenheimer anerkennend aus Theresienstadt. „Es ist für Sie, den Fremden, bestimmt keine Kleinigkeit, das immer zusammen zu bekommen.“ 23 Als Eugen Grünberg nach Kriegsende um Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung nachkam, erhielt er einen negativen Bescheid. Als Nicht-Luxem- 20 Bericht über meine Tätigkeit als Arzt in Fünfbrunnen bei Ulflingen und als Vertrauensmann der Restvereinigung jüdischer Mischehepartner in Luxemburg (Archives du Consistoire israélite. Farde: Récits, Mémoires, Rapports). 21 Ebd. 22 Im Bestand „Consistoire israélite“ des Nationalarchivs gibt es an die hundert solcher Karten (ANLux C. I. 04). 23 Ebd. <?page no="215"?> 214 Germaine Goetzinger burger geriet er in die Mühle der Épuration und des Redressement und sollte des Landes verwiesen werden. Der Bericht von Nikolaus Wampach, Brigadier des öffentlichen Sicherheitsdienstes, an das Justizministerium 24 ist ein widerwärtiges Beispiel von Unterstellungen und Beschuldigungen. So streitet er Grünberg vorerst mal den Status eines Emigranten ab, indem er behauptet, dieser sei „angeblich als Emigrant nach dem Großherzogtum gekommen.“ Aus der Tatsache, dass Grünberg von dem Gestapomann Otto Schmalz mit der Betreuung der Mischehen beauftragt wurde, schließt er, dass Grünberg „ein steter Freund der Gestapo“ war. Dass ihm die Wohnung von Alfred Oppenheimer zugewiesen wurde, ist für Wampach der Beweis dafür, dass man „bei der Gestapo und dem Chef der Zivilverwaltung volles Vertrauen in Grünberg hatte“. Er habe sich fast ausschließlich mit „Mitgliedern der Partei und besonders mit solchen, die in der N. S. D. A. P. eine hervorragende Rolle spielten“ aufgehalten. „Ob Grünberg ein Nazi war, lässt sich bezweifeln, aber deutschbewusst war er immer“, schreibt Wampach in seiner Schlussfolgerung. Er suchte während der deutschen Besatzung sein Bestes herauszuschlagen und hat dies ja auch erreicht. Er konnte als deutscher Emigrant ungeschoren in Luxemburg verbleiben und hatte Beziehungen zum C.d.Z. und der Gestapo. Seine eigenen Mitbürger und Bekenntnisgenossen half er zum eigenen Nutzen verschachern und es kam ihm auf Gut oder Schlecht nicht an, wenn es darum ging, seinen Zweck zu erreichen. Grünberg gehört unter strenge Aufsicht […]. Die Ausübung der Heilkunde ist ihm auf keinen Fall zu gestatten und sobald sich die Möglichkeit bietet, kann dieser lästige und zweifelhafte Ausländer wieder ‚Heim ins Reich‘. Es bedurfte einer Eingabe von Anwalt Maurice Neuman an den Justizminister Victor Bodson, um die drohende Abschiebung rückgängig zu machen. Neumann klagt den Sicherheitsdienst an, dem Minister niedrige Verleumdungen, „des basses calomnies“, statt seriöser Informationen vorzulegen. Dr. Grünberg sei nicht nur „un médecin distingué“, ein ausgezeichneter Arzt, sondern auch „un homme compatissant […] dont la mentalité n’a rien de prussien et répugne nécessairement au nazisme“, sondern auch ein mitfühlender Mensch, dessen Mentalität nichts Preußisches aufzeige und den Nazismus verabscheue. Deshalb fordert er den Minister auf, den Ausweisungsbescheid zurückzuziehen, „non seulement pour épargner à un juif émigré un sort abominable“, nicht nur um einem emigrierten Juden ein abscheuliches Schicksal zu ersparen, „mais encore pour redresser une grave injustice qui est en même temps un outrage immérité pour un homme qui n’a que fait que se dévouer pour ses coreligionnaires“, sondern auch, um eine schwere Ungerechtigkeit wieder gut zu machen, die 24 Archives nationales Luxembourg (Anm. 19). <?page no="216"?> Post-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in Luxemburg 215 zugleich eine unverdiente Verunglimpfung eines Mannes ist, der nichts anderes getan hat, als sich für seine Glaubensgenossen aufzuopfern. 25 Am 8. Juli 1946 gibt Eugen Grünberg auf und meldet sich nach Völklingen im Saarland ab. Er sei auch tatsächlich verzogen, ist nach offensichtlicher Überprüfung in seiner Fremdenpolizeiakte vermerkt. III. Unerwünscht im ehemaligen Exilland und zweiter Aufbruch Die angeführten Beispiele zeigen persönliche Schicksale, die verdeutlichen, dass für deutsch-jüdische Emigranten, die in den 1930er Jahren nach Luxemburg gekommen waren, eine Bleibe in oder eine Rückkehr nach Luxemburg in der unmittelbaren Nachkriegszeit keine Selbstverständlichkeit war. Dieser Befund steht im Gegensatz zu zeitgleichen, offiziellen Verlautbarungen von Staatsminister Pierre Dupong, der sich für eine Rückkehr ausgesprochen hatte. „Les juifs étrangers, qui avaient leur domicile à Luxembourg jusqu’au moment où ils ont dû fuir devant la menace nazie, peuvent, la guerre terminée, retourner et s’établir à Luxembourg“, 26 heißt es in einem Brief an den Delegierten des World Jewish Congress, den luxemburgischen Arzt Dr. Henri Cerf vom 6. Juni 1944. Die Situation sah in der Tat anders aus und war weitaus durchwachsener. So hatte die Libération zum Erstarken eines Luxemburger Nationalismus geführt, infolgedessen besonders deutsche Juden doppelt diskriminiert wurden, als Juden und als Deutsche. Denis Scuto hat am Bespiel der Familien Springut und Grossvogel nachgewiesen, wie auch polnischen Remigranten das Recht nach Luxemburg zurückzukehren abgesprochen wurde. 27 Da eine Rückkehr nach Deutschland für viele Emigranten nicht in Frage kam, hieß es einen zweiten Aufbruch in Kauf zu nehmen. Diese komplexen Exil- und Postexilerfahrungen sind durch die Verschweige- und Verdrängungsprozesse im Nachkriegs-Luxemburg oft verschüttet und deshalb wenig dokumentiert. Erst seitdem die Generation der Nachgeborenen Worte sucht, um Leiden, aber auch Vergehen und Schuld zu fassen, wird der Akzent stärker auf die Bedeutung von multiplen Grenzüberschreitungen gelegt. Will man heute verstehen, gilt es sich anhand der heterogenen, aber lückenhaft überlieferten Quellen zu den persönlichen Schicksalen von Exilanten der Konstruktion einer nuancenreichen Peripher-Perspektive zu stellen, die bis vor 25 Ebd. 26 Archives nationales Luxembourg FD-261-20. 27 Denis Scuto: Libération? Non, la persécution continue: L’affaire Springut. In: Denis Scuto: Chroniques sur l’an 40. Les autorités luxembourgeoises et le sort des juifs persécutés. Luxemburg 2016, S. 171-174; Auf der Suche nach Dina. In: ebd., S. 177-194. <?page no="217"?> 216 Germaine Goetzinger kurzem vom historiografischen Diskurs fast gänzlich ausgeschlossen blieb und im Kontrast zur nationalstaatlich fundierten Kernperspektive steht. Eine solche Marginalposition funktioniert nämlich als Vorwegnahme hybrider Identität und verweist weniger auf eine Mitschuld am Holocaust als vielmehr auf verwischte Grenzen sowie auf das Leiden an Grenzen in einer typisch epochalen und regionalen Ausprägung. Bei dem, was ansteht und hier nur angedeutet werden konnte, geht es um nichts weniger als um die Eröffnung einer begründeten Forschungsperspektive, die, unter Vermeidung von Vereinfachungen, deutsch-jüdisches Exil und das ambivalente Verhältnis zu den überlebenden Exiljuden in der Nachkriegszeit in einer neuen Angemessenheit rekonstruiert. <?page no="218"?> „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ 217 „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ Die Überschreitung der deutschen Grenze in Emigrationsberichten 1 Joachim Schlör, Southampton In der Exil- und Migrationsforschung richtet sich die Aufmerksamkeit seit einigen Jahren, und aus gutem Grund, nicht mehr allein auf die Orte des Abschieds und der Ankunft, sondern auch verstärkt auf Räume und Stationen des Unterwegsseins, der Passage, des Lebens im Dazwischen. 2 Die Wartesäle der Konsulate, die Büros der Hilfsorganisationen, die Bahnhofshallen und Kaffeehäuser der Transitstädte und die Anlegestellen der Schiffe in den Häfen der Emigration gehören zu einem reichhaltigen Netzwerk kultureller Situationen, zu einer Topografie des Auswanderns. Eine ganz zentrale Bedeutung hat dabei das Motiv der Grenze und ihrer Überwindung. „So fungieren“, wie es in der Ankündigung der Saarbrücker Tagung zum Thema „Grenze als Erfahrung und Diskurs“ hieß, „Grenzen und Grenzüberschreitungen als wiederkehrende Motive in zahllosen Schriften des Exils. In Erlebnisberichten, Briefen und Tagebüchern, in autobiografischen, erzählenden, lyrischen und dramatischen Texten wird das Passieren der Grenze zu einer Chiffre für den Verlust der Heimat, die Erfahrung von Alterität sowie für interkulturelle Begegnungen und Entwicklungen.“ 3 Daran anknüpfend untersucht der folgende Beitrag schriftliche Zeugnisse der Grenzüberschreitung im Prozess der Auswanderung deutscher und österreichischer Juden nach 1933 und 1938. 1 Eine frühere Version dieses Beitrags erschien im Jüdischen Almanach: Grenzen. Hg. von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem. Berlin 2015, S. 95-105. 2 Joachim Schlör: „Menschen wie wir mit Koffern.“ Neue kulturwissenschaftliche Zugänge zur Erforschung jüdischer Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Ulla Kriebernegg [u. a.] (Hg.): „Nach Amerika nämlich! “ Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2011, S. 23-54. Im Dezember 2016 veranstalteten Burcu Dogramaci und Elizabeth Otto in München eine Tagung zum Thema Passagen des Exils / Passages of Exile , deren Ergebnisse im Jahrbuch für Exilforschung 2017 publiziert werden. 3 Call for Papers, Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung e. V. 2017 in Kooperation mit dem Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes, 24. bis 26. März 2017: Grenze als Erfahrung und Diskurs URL: http: / / www.exilforschung.de/ _dateien/ call-for-papers/ Exiltagung-2017_CFP.pdf (zuletzt abgerufen am 2. August 2017). <?page no="219"?> 218 Joachim Schlör Der Textdichter Robert Gilbert - geboren als Robert David Winterfeld 1899 in Berlin, gestorben 1978 in Minusio / Schweiz - bildete zusammen mit seinem Freund, dem Komponisten Werner Richard Heymann (1896 bis 1961) in den späten Jahren der Weimarer Republik das dreamteam des Musikfilms. Die großen Schlager aus Die drei von der Tankstelle , Der Kongreß tanzt und Bomben auf Monte Carlo , stammten aus ihrer Feder: Musik Heymann, Text Gilbert. Auch am größten Operettenerfolg der Zeit, dem Weißen Rössl im Großen Schauspielhaus unter der Regie von Erik Charell, war Gilbert mit seinen Liedern beteiligt: Im weißen Rössl am Wolfgangsee , Im Salzkammergut, da kammer gut lustig sein , Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist? Gilberts Akte im Landesentschädigungsamt Berlin - einem traurigen Ort der Aufbewahrung von Dokumenten über unterbrochene und oft zerstörte Karrieren - weist ihn als Bestverdiener seiner Zeit aus. Dabei hätte er selbst, so zeigen es späte Interviews, lieber als Troubadour der Arbeiterbewegung in den Gedächtnissen weitergelebt, von diesen Aktivitäten kennen wir vielleicht noch das Stempellied in der Interpretation von Ernst Busch: Keenen Sechser in der Tasche, bloß’n Stempelschein … Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten musste Robert Gilbert aus Deutschland fliehen, sein Weg führte ihn wie viele Künstlerinnen und Künstler zunächst nach Wien, wo er bis 1938 blieb, um schließlich 1939 über Paris nach New York zu gelangen - über viele Grenzen hinweg, und teils unter abenteuerlichen Umständen; auch das hat er mit vielen Zeitgenossen gemeinsam. 4 Die erste dieser Erfahrungen im Überschreiten von Grenzen hat er in ein Gedicht gefasst, das erst viel später in einem seiner Lyrik-Bände veröffentlicht wurde: Abschied im April (auch: Berlin Ade) Leb wohl Berlin, es muß geschieden sein, Rixdorf, ich muß dich lassen. Anhalterbahnhof, ja da steig ich ein Und zieh dahin mein Straßen. Allüberall die Hakenwimpel wehen, Auch ein SA -Mann sitzt mit im Coupé. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen, am grünen Strand der Spree. Die Lichter schimmern durch die Scheibe noch. Ich kenn’ fast jedes Haus. So grüßt mich 4 Christian Walther: Robert Gilbert - eine zeitgeschichtliche Biografie. Frankfurt am Main 2016. Vgl. auch Joachim Schlör: Leerstelle Berlin 1951: Robert Gilbert und die Folgen dieser heillosen Jahre. In: Nils Grosch / Wolfgang Jansen (Hg.): Zwischen den Stühlen. Remigration und unterhaltendes Musiktheater in den 1950er Jahren. Münster 2012, S. 87-114. <?page no="220"?> „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ 219 Meine alte Bleibe noch zum Städtele hinaus. Hab keinen Dunst, wie lange es dauern wird, und was vom Elbstrom bis zum Rhein aus allen Arbeitern und Bauern wird, Lieb Vaterland und kann nicht ruhig sein. Zollrevision. Devisen. Paßkontrolle. Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen. Da murmelt doch der letzte deutsche Bach, es ist ein Ros’ entsprungen. Da, wo die galgenlangen Pappeln stehen Deutschland ade. Wer weiß, wer weiß, ob wir uns wiedersehn Am grünen Strand der Spree. 5 Das Gedicht bietet eine gute Gelegenheit, grundsätzliche Fragen zu stellen: zum Thema der Grenze und ihrer Überschreitung in den Berichten von Menschen, die nach 1933 Deutschland und nach 1938 Österreich verlassen mussten. „Es muß geschieden sein.“ Das heißt: Die Ausreise geschieht nicht freiwillig. Es heißt auch: Der Abschied von allem Vertrauten fällt schwer. Das sind keine banalen Sätze, sie beschreiben zutreffend das Gefühl im Augenblick der Annäherung an die Grenze. Noch im entscheidenden Moment - im Zug, der sich auf die Grenzstation zubewegt - ist die Bedrohung mit anwesend: „Auch ein SA -Mann sitzt mit im Coupé.“ Und die unsichere Zukunft, vor allem die Frage, ob man jemals wieder wird zurückkehren können, ist schon dieser Situation eingeschrieben. Im Moment der Grenzüberschreitung richtet sich der Blick zugleich in verschiedene Richtungen: zurück auf das Verlorene, voraus auf die neuen Herausforderungen, in die Vergangenheit, aber auch in die unmittelbare Zukunft und sogar in eine Zeit danach, die man sich noch kaum vorzustellen vermag. Im Zuge der erwähnten neuen Orientierung auf die Räume des Dazwischen sind theoretische Arbeiten wieder in den Blick gekommen, die dem vielbesprochenen spatial turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften den Weg bereitet haben: Van Genneps Konzept der Rites de Passage, Turners Überlegungen zur Liminalität, Lefèbvres Postulat der sozialen Produktion von Räumen, oder auch Pierre Bourdieus Konzept der sozialen Räume, die sich im physischen Raum entsprechend nachvollziehbarer sozialer Strukturen abbilden. 6 Gerade Letzteres 5 Robert Gilbert: Abschied im April. In: Meckern ist wichtig - nett sein kann jeder. Berlin 1971, S. 75. 6 Arnold van Gennep: Les rites de passage [1909]. Übergangsriten. Frankfurt am Main 2005; Victor W. Turner: Liminalität und communitas. In: Andrea Belliger / David Krie- <?page no="221"?> 220 Joachim Schlör ist wohl solange überzeugend, wie es statisch bleiben kann: „Jeder Akteur ist charakterisiert durch den Ort, an dem er mehr oder minder dauerhaft situiert ist, sein Domizil […], und durch die Position seiner Lokalisationen […] im Verhältnis zur Position der Lokalisationen der anderen Akteure.“ 7 Wer ohne festen Wohnsitz ist, heißt es hier schon, „besitzt nahezu keine Existenz“, und weiter: „Daraus folgt, daß der von einem Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeigneten physischen Raum hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen Raum abgeben.“ Es ist also sinnvoll, nach der Funktion von Grenzen im Rahmen einer räumlichen Dimension von Geschichte zu fragen. Es ist sicher, auch historisch gesehen, dass (mit Bourdieu) „menschliche Wesen zugleich biologische Individuen und soziale Akteure sind, die in ihrer und durch ihre Beziehung zu einem sozialen Raum oder, besser, zu Feldern als solchen konstituiert werden“; richtig ist auch noch, aber im Hinblick auf die Geschichte der deutsch-jüdischen Emigranten in Tel-Aviv, New York oder Buenos Aires, eben so gerade noch, auch dies: Menschen sind, „wie physische Gegenstände, örtlich gebunden, ([sie] verfügen nicht über physische Ubiquität, die es ihnen erlaubte, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein) und nehmen einen Platz ein.“ Der Prozess der Emigration, der ja aus vielen kleinen Schritten besteht, aus vielen unterschiedlichen Formen dessen, was wir als kulturelle Praxis der Emigration beschreiben können, löst diesen Zustand auf. Mit dem Beginn der Reise ins Unbekannte ereignet sich, in Etappen, was van Gennep mit „Rites de Passage“ beschrieben und Turner weiter ausgearbeitet hat: ein Abschied vom alten Ort und vom bisherigen Selbst, eine Zeit des Unterwegsseins, der Liminalität, eine Ankunft am anderen Ort. Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen bilden wichtige Momente in diesem Prozess. Bourdieu spricht selbst vom „Naturalisierungseffekt“: Die dauerhafte Einschreibung der sozialen Realitäten in die physische Welt vermittelt den Anschein, sie gingen „aus der Natur der Dinge“ hervor, wie etwa im Bild der „natürlichen Grenze“. Was geschieht aber beispielsweise mit Berlin 1933, wenn es, wie Moritz Goldstein in seinen Erinnerungen schreibt, der ger (Hg.): Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998, S. 251-264; Henri Lefèbvre: La production del’espace. Paris 1974; vgl. Christian Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft: Henri Lefèbvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart 2006; Edward W. Soja: Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Hoboken / NJ 1996; Homi K. Bhabha: The Location of Culture. Abingdon 2004; Joachim Schlör: Die Schiffsreise als Übergangserfahrung in Migrationsprozessen. In: Mobile Culture Studies. The Journal 1 (2015), S. 9-22. 7 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985, S. 26. <?page no="222"?> „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ 221 Teufel holt? 8 Der physische Zustand der Stadt verändert sich zunächst nicht. Die vertriebenen Juden gehen, verlassen die Positionen und Lokalisationen, an denen sie eben noch zu finden waren: Das Netz der sozialen Beziehungen im „Raum Berlin“ verändert sich. Die „mentale Struktur“ Berlin verändert sich. Der physische Raum, der bewohnt war und angeeignet scheint, erweist sich als Konstruktion: Die Struktur der räumlichen Verteilung von Machtpositionen (die Produktion des Raums Berlin) verändert sich durch brutalen Eingriff, und die Stadt als Anschauungsobjekt sieht erst einmal so aus, als wäre nichts geschehen. Aber Moritz Goldstein nimmt ein Bild von Berlin mit ins Exil. Und nicht nur er: Eine bestimmte „mentale Karte Berlin“ geht dem physischen Raum Berlin verloren oder wird daraus verstoßen und andernorts wieder erinnert und notiert, in Texten, in Bildern, und oft auch in Karten. Das ist ein langer Prozess - aber als Ereignis hat er einen Ort: die Grenze. Das beschreibt Paul Mühsam. Sein Ich bin ein Mensch gewesen gehört zu den großen Zeugnissen der deutsch-jüdischen Literatur dieses Jahrhunderts: Am 8. September 1933 traten wir vormittags unsere Reise an. Außer unserer Hilde und Trude Wallach hatten sich Bernhard und Luise eingefunden, bei denen wir den vorhergehenden Abend, den letzten in Deutschland, verbracht hatten. Und als sich der Zug langsam in Bewegung setzte, hatte ich das Gefühl, als ließe ich meine Jugend hinter mir liegen und als würde wieder ein Stück von meinem Herzen losgerissen. 9 Eine deutsche Literatur, die diesen Moment nicht kennt - er kann nicht immer thematisiert werden, aber er muss anwesend, spürbar sein -, stiehlt sich aus ihrer eigenen Geschichte davon. „Die Fahrt ging über Leipzig und Weimar, tausend Erinnerungen weckend, Erfurt und Frankfurt am Main nach Karlsruhe“ - und von dort nach Kehl, zur Grenze. An irgendeiner der offenen Stellen musste man die Grenze überschreiten und die „Hölle“ verlassen: „Noch vor einem Jahr hätte ich jeden für einen Verleumder erklärt, der zu behaupten gewagt hätte, ich werde es noch einmal als Glück ansehen, mein Heimatland hinter mir zu lassen.“ 10 Hans Sahl gehörte zur Gruppe derjenigen, die unmittelbar nach der „Machtergreifung“ als politische Gegner von Verfolgung bedroht waren, deren Migration wohl eher als Flucht zu bezeichnen ist, oft unter dramatischen Umständen vollzogen, von Versteck zu Versteck bis zum heimlichen Grenzübertritt, Richtung Prag, Wien, Zürich oder Amsterdam - den Deutschland noch nahen 8 Moritz Goldstein: Berliner Jahre 1880-1933. München 1977 [Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung 25], S. 205. 9 Paul Mühsam: Ich bin ein Mensch gewesen. Lebenserinnerungen. Gerlingen 1989, S. 252. 10 Ebd., S. 253. <?page no="223"?> 222 Joachim Schlör Zentren der ersten Emigration, von wo aus man an eine baldige Rückkehr noch denken mochte. Sahl besteht in seinen Erinnerungen darauf, dass er zunächst nicht „als Jude“, sondern aus politischen Gründen emigrierte. Trotzdem stellt er sich in die Gemeinschaft derer, „die Menschen waren wie ich, Verstoßene, Umherirrende, in der anonymen Landschaft des Exils, die großen und die kleinen Geister, die Plumpen und die Geschmeidigen, die toten Taten des öffentlichen Lebens […], Journalisten ohne Zeitung, Schauspieler ohne Bühne, Schriftsteller ohne Buch.“ 11 Mit ihrem Grenzübertritt begaben sie sich in einen Zwischenraum, in dem die Angst vor Sprach- und Statusverlust ebenso präsent war wie eine Tradition des Findigseins aus Not. „Grenzgebiete“, so Ruth Leiserowitz, „gelten im Allgemeinen als eine Art Seismografen, oder im Gebrauch eines anderen Bildes als Zonen enormer Dynamik. Obwohl Grenzfindung oder Abgrenzung von Bereichen unterschiedlicher Merkmale und Struktur seit langem geübt wird, existiert bisher keine umfassende Theorie der Grenze.“ 12 Auch Irit Rogoff sieht „Borders“ als eine der zentralen analytischen Kategorien (neben „Subjects / places / spaces“, „Mapping“, „Bodies“, und „Luggage“) für eine Arbeit, die sie beschreibt als „setting up an exploration of links between […] the dislocation of subjects, the disruption of collective narratives and of languages in the field of vision”. 13 Sowohl die Historikerin Leiserowitz wie die Kunsthistorikerin Rogoff betonen dabei die Bedeutung der individuellen Erfahrung und ihrer Verarbeitung in Quellen. Ob eine Theorie der Grenze all diese Momente - diese Diskurselemente - einfangen kann, erscheint zweifelhaft. Da die Zahl der Zeitzeugen, die noch von solchen Erfahrungen berichten können, immer geringer wird, ist es besonders wichtig, alle Anstrengungen zu unternehmen, um Tagebücher, Briefe oder Fotoalben aus dieser Zeit nicht nur in etablierten Archiven (wie dem Leo Baeck Institut oder dem Museum für das deutschsprachige Judentum in Tefen / Israel), 14 sondern vor allem bei privaten Familien zu finden und der Forschung zugänglich zu machen. Um ein Beispiel zu nennen: Liesel, 11 Hans Sahl: Das Exil im Exil. Frankfurt am Main 1990, S. 13. 12 Ruth Leiserowitz: Sabbatleuchter und Kriegerverein: Juden in der ostpreußisch-litauischen Grenzregion 1812-1942. Osnabrück 2010, S. 3. 13 Irit Rogoff: Terra Infirma: Geography’s Visual Culture. London [u. a.] 2000, S. 1. 14 So finden sich beispielsweise viele entsprechende Stellen im „Israel-Korpus“ der Interviews, die die Salzburger Germanistin Anne Betten (mit Mirjam du-Nour) in Israel geführt hat und die nach wie vor nach verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet werden können. Hugo Hans Mendelsohn sagte im Interview: „Wir fuhrn * über München, ** Salzburg, die Strecke, und an der Grenze ** wurde ich persönlich […] heut sagt man das sehr schön, gefilzt, früher würde man sagen, Körperuntersuchung, ob ich nich irgendwas bei mir (hatte). Man fand nichts, ich hatgt es, aber das lag im Wagn drin und das sah man nich. und ich kam über die Grenze, der österreichische Schaffner sagte mir, ‚Jetzt können S’ anfangen zu schimpfn‘. ** Und dann kamen wir auf das Schiff […]. (Anne Betten: Die Flucht über das Mittelmeer in den Erzählungen deutschsprachiger jüdischer Migranten <?page no="224"?> „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ 223 die Tochter des Weinhändlers Ludwig Rosenthal und seiner Frau Hermine, verließ ihre Heimatstadt Heilbronn im Mai 1937, im Alter von zweiundzwanzig Jahren. In England baute sie sich ein neues Netzwerk von Bekanntschaften auf, mit dessen Hilfe es ihr gelang, den Bruder Helmut und die Eltern (noch im Frühjahr 1939) aus Deutschland herauszubringen. In den Briefen, die von der Auswanderung der Heilbronner Weinhändlerfamilie nach England berichten, 15 finden sich zahlreiche Berichte von Freundinnen und Freunden aus der Heimatstadt, die inzwischen selbst in Kapstadt, Sydney, in Jerusalem, New York oder Buenos Aires - Irgendwo auf der Welt , um es mit einem Lied von Heymann / Gilbert zu sagen - angekommen waren und mit denen Liesel in reger Verbindung stand. Zu diesen Freunden gehörten Friedel und Lotte Fink aus Frankfurt, die nach Australien ausgewandert sind. Im Zuge meiner Recherchen erhielt ich Ende 2014 einen Brief von Dr. Ruth Latukefu aus Newport Beach in Australien. Die damals siebenjährige Tochter von Friedel und Lotte Fink erlebte den überstürzten Aufbruch ihrer Familie in der Nacht des 10. November 1938 mit: An diesem Wintertag half mir Muttie beim Anziehen. Sie bestand darauf, dass ich zwei Flannelkleider trug, eines über dem anderen, und noch zwei Wollpullover, unter einem dicken Mantel. Sie erklärte mir, dass wir nur einen Koffer in den Zug mitnehmen durften und deshalb so viele Kleider wie möglich tragen mussten. Sie selbst hatte alle ihre Ringe und ihren Schmuck angelegt und trug ihr wärmstes Kleid unter einem langen Kamelhaarmantel. Ich schaute mich in der leeren Wohnung um, die war so leer, dass sie sich nicht mehr wie ein Zuhause anfühlte, alle unsere Möbel waren in Container verpackt, um über Rotterdam nach Australien verschickt zu werden. […] Ich wusste, dass uns eine lange Reise nach Australien bevorstand, ich verstand nicht, warum wir weggehen mussten und auch nicht, dass ich meine Oma Freund, Onkel Hans und die Wohnung in der Gartenstraße, in der ich meine frühe Kindheit verbracht hatte, zum letzten Mal sehen sollte. Papa wartete auf uns am Frankfurter Bahnhof. Die Idee, auf eine lange Reise zu gehen, mit der Dampflokomotive, an Orte, die ich noch nie gesehen hatte, fand ich ganz aufregend. Ich hatte von den Schlössern am Rhein und von der weit entfernten See gehört, aber ich kannte sie nur aus Bilderbüchern. Im Zug waren die Sitze bequem und die Fenster groß, und ich saß mit dem Gesicht an das Glas gepresst, nahm die ganzen neuen Eindrücke wahr und das Rattern der Räder. Es war so unterhaltsam, dass ich kaum bemerkte, wie ernst und still meine Eltern waren, der Nazizeit. Vortrag bei der Tagung Das Mittelmeer im deutschsprachigen Kulturraum: Grenzen und Brücken , Neapel, 9. bis 11. Juni 2016. Manuskript, S. 7.) 15 Diese Briefe wurden mir von Rabbi Baroness Julia Neuberger (London) zur Verfügung gestellt. Sie bilden die Grundlage für ein Buch über ihre Mutter Liesel Rosenthal, das 2015 unter dem Titel Liesel, it’s time for you to leave . Von Heilbronn nach England. Die Flucht der Familie Rosenthal vor nationalsozialistischer Verfolgung beim Verlag des Stadtarchivs Heilbronn erschienen ist. <?page no="225"?> 224 Joachim Schlör und ich habe nicht begriffen, wie große Angst sie auf der ganzen Reise hatten. Als wir nach Emmerich kamen, einem Bahnhof nahe der holländischen Grenze, hielt der Zug an und uniformierte SS -Leute befahlen allen Juden, den Zug zu verlassen. 16 Von diesem Zwischenaufenthalt in Emmerich berichtete Lotte Fink selbst (wie viele der ehemaligen Heilbronner hatte sie sich dafür entschieden, nur noch Englisch zu sprechen und zu schreiben, und auch ihre Tochter so erzogen): Endlich hatten mein Mann und ich alle Papiere erhalten, die es uns erlaubten, Nazi- Deutschland zu verlassen, und wir waren voller Vorfreude auf die ersehnte Freiheit. Aber einige Kilometer vor der holländischen Grenze hielt der Zug plötzlich an und uniformierte SS -Offiziere bestiegen den Zug und befahlen allen Juden, auszusteigen. Dann mussten wir in völliger Dunkelheit über ein Feld marschieren und wussten nicht, was vor uns lag. Wir kamen in eine hell erleuchtete Straße, auf der Leute standen, die uns anschrieen und verfluchten. Manche spuckten von den Fenstern auf uns herunter, als wir auf dem Weg zum Gefängnis waren. Dort hat man uns durchsucht und unser ganzes Gepäck abgenommen, sogar meine Arzttasche mit den Medikamenten. Glücklicherweise kamen wir nach einem Tag und einer Nacht frei, erhielten unser Eigentum zurück und wurden aufgefordert, den nächsten Zug über die Grenze zu nehmen. Nach einigen Stunden waren wir endlich frei! 17 16 Ruth Fink: The Ninth Life. Chapter 2: The Escape from Frankfurt on 10 November 1938 (Manuskript). Im Original [Übersetzung J. S.]: „On that winter’s day, Muttie helped me to dress and insisted that I wear two flannel dresses, one on top of the other, with two woollen cardigans as well, under a thick winter coat. She explained that we were only allowed to bring one suitcase on the train and we must therefore wear as much as possible. She put on all her rings and jewellery and wore her warmest dress under a long camel-hair coat. I looked around the empty apartment, now so bare that it no longer felt like home, as all our furnishings had been packed into crates to be sent to Australia, via Rotterdam. […] I knew we were going on a long journey to Australia, I did not understand why we were leaving or that this was to be the last time I would see Oma Freund, Onkel Hans and the apartment in Garten-Strasse where I had spent my early childhood. Papa was waiting for us at the Frankfurt Railway Station. I was very excited at the thought of going for a long trip on the steam locomotive to places which I had never seen. I had heard of the castles along the river Rhine and of the far distant sea, but only knew about them from picture books. The train had comfortable seats and wide windows and I sat with my face pressed to the glass, taking in all the new sights and listening to the rhythmic clacking of the wheels. It was so enjoyable that I hardly noticed how silent and serious my parents were, nor did I realize how anxious they must have felt throughout this journey. As the train came to Emmerich, a station near the Dutch border, it halted and uniformed S. S. entered the carriages ordering all Jews off the train. “ 17 Interview in dem australischen Radiosender 2GB aus dem October 1939 (so zitiert in The Ninth Life ). Die Dokumente habe ich von Frau Dr. Latukefu erhalten. Im Original [Übersetzung J. S.]: „At long last my husband and I had received the papers which allowed us to leave Nazi Germany and we anticipated glorious freedom. However, a few miles from the Dutch border the train suddenly pulled up and uniformed Nazi S. S. officers boarded, <?page no="226"?> „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ 225 Diese existenzielle Erfahrung, die den Verlust der Heimat, die Ungewissheit über die weitere Entwicklung, zugleich aber auch ein Gefühl der Anspannung und selbst der freudigen Erregung miteinander verbindet und mit dem Ort und dem Moment der endlich erlaubten Passage über die Grenze auf den Punkt bringt, ist im Familiengedächtnis erhalten geblieben. Sie ist aber zugleich schwer zu vermitteln - sowohl den in Heilbronn oder anderswo zurückgebliebenen Verwandten wie den neuen Freunden in England oder Australien. Die Überlegungen zum Thema der Grenze und dem Moment der Grenzüberschreitung fügen sich deshalb in einen weiteren Kontext ein. Lange Zeit wurde die Exilforschung, wie oben angedeutet, unter einem von zwei fast konträren Ausgangspunkten her geschrieben - entweder dem des Abschieds, des Verlusts, jedenfalls im Hinblick auf die Herkunft; oder dem der Ankunft, des Neubeginns, im Hinblick auf die Zukunft. Aber die Emigration ist ein Prozess, in dem sich diese beiden Bezugspunkte immer wieder miteinander verschränken - die Zukunft wird noch im Ort der Herkunft geplant, wenn etwa Atlanten studiert und fremde Länder auf ihre Tauglichkeit als künftige Heimat hin geprüft werden, und an den Orten der Ankunft (oder der Weiterreise) erinnern sich die Entkommenen ihrer Heimat und nehmen auch, sobald möglich, wieder Kontakt mit ihr auf. 18 Oft handelt es sich um einen längeren Prozess, der schon zu Hause beginnt und mit der Ankunft noch lange nicht abgeschlossen ist. Das wird sehr deutlich in den Beschreibungen, die von der Schiffsreise nach Palästina, nach Australien oder in die Vereinigten Staaten berichten: nämlich von einer Erfahrung des Übergangs, der Passage, von einer Art Zwischenzustand, in dem die Regeln der alten Orte nicht mehr und die der neuen noch nicht gelten, in dem man Gelegenheit hat, über das Woher und das Wohin nachzudenken. 19 Aber auch in diesen ausführlicheren Berichten, die zumeist von Erlebnissen aus den Jahren ordering all Jewish passengers out. Then in pitch darkness we were marched over a field, not knowing what lay ahead. We came into a brightly lit street lined with people who jeered and swore at us. Some spat from their windows, as we filed below to the prison centre. There we were searched and stripped of all our luggage, even my doctor’s bag with medicines. Fortunately, after a night and day we were freed, our belongings returned and told to catch the next train across the border. A few hours later we were free at last! “ 18 Joachim Schlör: „Solange wir auf dem Schiff waren, hatten wir ein Zuhause.“ Reisen als kulturelle Praxis im Migrationsprozess jüdischer Auswanderer. In: Voyage. Jahrbuch für Reise-und Tourismusforschung 10 (2014): Mobilitäten! , S. 226-246. 19 Am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz wurde 2014 die Online-Zeitschrift Mobile Culture Studies gegründet; die erste Ausgabe zum Thema „Die Schiffsreise als Übergangserfahrung in Migrationsprozessen“ erschien im Juli 2015. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von David Jünger: An Bord des Lebens: Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina 1933 bis 1938 als Übergangserfahrung zwischen Raum und Zeit. In: Mobile Culture Studies. The Journal 1 (2015), S. 147-163. <?page no="227"?> 226 Joachim Schlör zwischen 1933 und 1938 handeln, als eine Ausreise noch einigermaßen selbstbestimmt zu bewerkstelligen war, stellt der Moment der Grenzüberschreitung eine entscheidende Zäsur dar. Das gilt noch verstärkt für Berichte aus der Zeit nach dem November 1938. Astrid Zajdband hat für ihre Arbeit über die Emigration deutsch-jüdischer Rabbiner nach England solche Berichte zusammengetragen. Auch hier spielt die Station Emmerich eine zentrale Rolle, hier fand die letzte Inspektion durch die SS statt. Beide hier zitierten Rabbiner, Max Dienemann und Max Eschelbacher, kamen erst nach ihrer in der Pogromnacht 1938 erfolgten Verschleppung in Konzentrationslager und nur deshalb frei, weil ihre Familien inzwischen Ausreisepapiere hatten besorgen können. In Dienemanns Reisepass fehlte das inzwischen obligatorische „J“ für „Jude“, so musste er eine Nacht auf der Polizeistation in Emmerich verbringen und am anderen Tag den Stempel besorgen, damit waren auch die letzten zehn Reichsmark verloren. Der Zug brachte die Familie über die Grenze nach Holland: „Die holländische Grenze kam näher, unsere Bitterkeit über all das, was man uns angetan hatte, war viel größer als das Glücksgefühl, das Land der Quälerei und der Schande verlassen zu haben.“ 20 Ganz ähnlich heißt es in den Erinnerungen von Max Eschelbacher: „We had been told that whoever crosses the border initially feels only a sense of unutterable relief. We did not feel that way. We could not sense anything but the certainty of having lost our home and everything that we had loved, that there was no return and nothing in front of us but a dark future.” 21 Beim Zusammentragen solcher Beispiele entsteht ein Mosaik der Grenzerfahrungen, in mehrfacher Hinsicht. Befürchtungen und Ängste sind ihnen ebenso zu entnehmen wie neue Hoffnungen. Diese Ambivalenz sollte das Leben der deutsch-jüdischen Emigrantinnen und Emigranten in den folgenden Jahren - und bis heute - prägen. Auch Robert Gilbert, der zwischen dem April 1933 und dem Oktober 1938 (also sogar in der Zeit nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs) immer wieder zwischen Wien und Berlin hin- und hergefahren war, durchaus unter Gefahr und unter Beobachtung durch die Gestapo, entschied sich nun für den endgül- 20 Esther Zajdband: German Rabbis in British Exile and their Influence on Judaism in Britain. PhD thesis, University of Sussex 2015, S. 67 f. Das Buch ist inzwischen unter dem Titel German Rabbis in British Exile. From ‚Heimat‘ into the Unknown (Berlin 2016) erschienen. Das Zitat stammt aus Maly Dienemann: Max Dienemann (1875-1939), ein Lebensbild. Offenbach 1964, S. 39. In Esther Zajdbands Übersetzung: „The Dutch border came, our bitterness over everything that had been perpetrated against us was much greater than the feeling of happiness to have exited the country of torment and shame.“ 21 Max Eschelbacher: Der zehnte November 1938. Essen 1998, S. 77 (Übersetzung Astrid Zajdband). <?page no="228"?> „Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“ 227 tigen Abschied von Europa. Abgemeldet am 16. Oktober 1938 aus Wien, fuhr er unter nach wie vor nicht ganz geklärten Umständen nach Köln, erhielt dort am 19. Oktober das, wie Christian Walther schreibt, „wahrscheinlich lebensrettende (Transit-)Visum zur Einreise nach Frankreich“, 22 fuhr nach Paris, wo er auf das ersehnte Visum für die USA warten musste. An Rudolf Weys in Wien schrieb er am 17. Januar 1939: Ansonsten halte ich mich hier von einer 14tägigen Prolongation bis zur anderen. Auch kein reines Vergnügen, da diese Préfecture-Warterei eine verfluchte Ähnlichkeit mit Dantes Inferno besitzt - ohne Übertreibung. […] Ich hoffe, dass ich Februar das amerikanische Visum erhalte. Elke und Marianne sind in Zürich, haben auch mit Schwierigkeiten wegen der Aufenthaltsverlängerung zu kämpfen. Überall dieselbe Misere. Ich wollte, ich wäre schon drüben mit ihnen - dann hat wenigstens dieser dauernde Kampf ums Bleiben und Nicht-mehr-Bleiben-Dürfen ein Ende. Mit den reinen Brotsorgen wollen wir dann schon mit all unseren Kräften boxen. 23 Im Februar war es dann soweit, das Visum kam, Gilberts Frau Elisabeth und Tochter Marianne kamen gleichfalls nach Paris, wie sich Marianne Gilbert Finnegan erinnert: Wenige Tage nach unserer Wiedervereinigung in Paris konnten wir mit der letzten Atlantiküberquerung des Passagierdampfers Aquitania die Reise nach Amerika antreten. Wir hatten ein paar Handkoffer, einen Schrankkoffer mit den Manuskripten meines Vaters und dreihundert Dollar, um ein neues Leben anzufangen. Inzwischen hatte ich gelernt, dass man sein Herz nur an so viele Dinge hängen darf, wie in einen Koffer passten, für den Fall, dass man einmal schnell weiterziehen musste. 24 Noch eine Grenze also, für die nächsten zehn Jahre trennte der Atlantik die Emigranten von ihrem Europa, dem nicht nur Robert Gilbert - bei aller Dankbarkeit für die amerikanische Rettung - in Gedichten und Liedern hinterherdachte. Den „grünen Strand der Spree“ sollte er erst Anfang der 1950er Jahre wiedersehen, und auch nach seiner endgültigen Rückkehr nach Europa - wo er eine glänzende zweite Karriere als Texter für Film und Kabarett, vor allem aber als Übersetzer amerikanischer Musicals erleben sollte - entschied sich Gilbert für ein Leben in der Schweiz: jenseits der deutschen Grenze. 22 Christian Walther: Robert Gilbert (Anm. 4), S. 134. 23 Robert Gilbert an Rudolf Weys am 17. Januar 1939 (Nachlass Rudolf Weys, Wien-Bibliothek im Rathaus, Wien). 24 Marianne Gilbert-Finnegan: Das gab’s nur einmal. Verloren zwischen Berlin und New York. Zürich 2007, S. 42. <?page no="229"?> Die Frage nach der Dynamik von Grenzziehungs- und Grenzverschiebungsprozessen sowie die Wechselbeziehung von Grenzen und Ordnungen werden seit einiger Zeit von der geisteswie der sozialwissenschaftlichen Forschung in den Blick genommen: Einerseits konstituieren Grenzen Ordnungen und Sinnstrukturen. Andererseits produzieren Ordnungen Grenzen. Der Umstand, dass Grenzen seit dem Einsetzen der Moderne im 19. Jahrhundert in eine beschleunigte Bewegung geraten sind, schlägt sich zudem in einer Vielzahl aktueller Debatten nieder. Die geschichts- und literaturwissenschaftlichen Beiträge des interdisziplinär ausgerichteten Bandes nehmen aktuelle politische Entwicklungen wie neuere Forschungsbewegungen gleichermaßen auf. Das Phänomen des Exils wird dabei in empirischer wie in methodischer Hinsicht nicht von seinen Zentren, sondern von den Grenzen aus in den Blick genommen. HERMANN GÄTJE, SIKANDER SINGH (HRSG.) Grenze als Erfahrung und Diskurs PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT Grenze als Erfahrung und Diskurs Gätje • Singh (Hrsg.) www.francke.de ISBN 978-3-7720-8638-0
